Freiheit und Sicherheit in Deutschland und Europa: Festschrift für Hans-Jürgen Papier zum 70. Geburtstag [1 ed.] 9783428538409, 9783428138401

Am 6. Juli 2013 vollendet Hans-Jürgen Papier sein 70. Lebensjahr. Aus diesem freudigen Anlass widmen ihm Freunde, Kolleg

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Freiheit und Sicherheit in Deutschland und Europa: Festschrift für Hans-Jürgen Papier zum 70. Geburtstag [1 ed.]
 9783428538409, 9783428138401

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Freiheit und Sicherheit in Deutschland und Europa Festschrift für Hans-Jürgen Papier zum 70. Geburtstag Herausgegeben von Wolfgang Durner Franz-Joseph Peine Foroud Shirvani

Duncker & Humblot · Berlin

Freiheit und Sicherheit in Deutschland und Europa Festschrift für Hans-Jürgen Papier zum 70. Geburtstag

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1238

Freiheit und Sicherheit in Deutschland und Europa Festschrift für Hans-Jürgen Papier zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von Wolfgang Durner Franz-Joseph Peine Foroud Shirvani

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: AZ Druck und Datentechnik, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-13840-1 (Print) ISBN 978-3-428-53840-9 (E-Book) ISBN 978-3-428-83840-0 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Am 6. Juli 2013 vollendet Hans-Jürgen Papier sein 70. Lebensjahr. Aus diesem freudigen Anlass widmen ihm Freunde, Kollegen und Schüler diese Festschrift. Sie sprechen ihm damit gemeinsam Anerkennung und Respekt aus. Sie bezeugen ihre Verbundenheit mit einem Wissenschaftler und Richter, der es in der Welt des Rechts zu höchsten Ämtern und zu höchstem Ansehen gebracht hat. Hans-Jürgen Papier wurde in Berlin-Mariendorf geboren. Dort bestand er im Frühjahr 1962 das Abitur. Im Sommersemester 1962 begann er das Studium der Rechtswissenschaft an der Juristischen Fakultät der Freien Universität Berlin. Das Öffentliche Recht erweckte sehr schnell sein Interesse und er wurde Schüler von Karl August Bettermann. Er bestand die Erste Juristische Staatsprüfung im Februar 1967 in Berlin. Im Anschluss daran war er für ein Jahr als Verwalter der Stelle eines wissenschaftlichen Assistenten am Lehrstuhl von Herrn Bettermann tätig. Es folgte ein dreijähriges Referendariat, welches der Jubilar 1971 mit der Großen Juristischen Staatsprüfung abschloss. Im Jahre 1970 erfolgte die Promotion mit „summa cum laude“ als Doktorand Bettermanns durch die Juristische Fakultät der Freien Universität Berlin mit der Arbeit „Die Forderungsverletzung im Öffentlichen Recht“. Nach Abschluss des Referendariats wurde er für drei Jahre Assistenzprofessor für Öffentliches Recht an der Juristischen Fakultät der Freien Universität Berlin. Im Jahre 1973, 18 Monate nach der Ernennung zum Assistenzprofessor, habilitierte sich Hans-Jürgen Papier für die Fächer Staats- und Verwaltungsrecht, Finanz- und Steuerrecht mit der Habilitationsschrift „Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip“ und dem Habilitationsvortrag „Der verfahrensfehlerhafte Staatsakt“. Beide Arbeiten erschienen im Jahre 1973 als Buch. Nach der Habilitation war der Jubilar Vertretungsprofessor an der Juristischen Fakultät der Universität Hamburg. Seine erste Lebenszeitstelle war die eines Wissenschaftlichen Rats und Professors an der Juristischen Fakultät der Universität in Bielefeld; er wurde im August 1974 ernannt. Er war also – für die heutigen Universitätsverhältnisse nicht mehr vorstellbar – bereits im Alter von 31 Jahren und einem Monat Professor auf Lebenszeit. Knapp ein Jahr später erhielt er in Bielefeld sein erstes Ordinariat. In den Bielefelder Jahren war er ein Jahr lang Dekan und das vorhergehende und das folgende Jahr Prodekan. Zudem war er Mitglied des Studienreformausschusses des Deutschen Fakultätentags. Er bekleidete die universitären Ämter „Geschäftsführender Leiter des Instituts für Umweltrecht“ und „Direktor des Zentrums für Wissenschaft und Praxis“ an der Universität Bielefeld. Der Jubilar erhielt sehr ehrenvolle Rufe an die Universität Trier und die Freie Universität Berlin, die er ablehnte.

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Vorwort

Nach mehr als 17-jähriger Tätigkeit in Bielefeld wechselte er mit Wirkung vom 1. 1. 1992 an die Ludwig-Maximilians-Universität in München und lehrte dort bis zu seiner Emeritierung im Herbst 2011. Vor allem seine Seminare, die er in den letzten Jahren in der Akademie für Politische Bildung Tutzing veranstaltete, waren bei den Studierenden sehr beliebt. Der Jubilar war in München nicht nur akademischer Lehrer und Forscher, sondern von 1994 bis 1996 Mitglied des Senats der Universität; an der Juristischen Fakultät war er von 1994 bis 1996 Prodekan. Das in ca. 45 Jahren erarbeitete wissenschaftliche Werk1 erweckt Staunen: 29 Monographien bzw. lange wissenschaftliche Kommentierungen und über 400 Aufsätze oder Abhandlungen in Sammelwerken. Einige Bücher haben mehrere Auflagen erlebt. Wenigstens drei Schwerpunkte seines wissenschaftlichen Interesses lassen sich ausmachen: Einmal die Staatshaftung im weiteren Sinne: Die Dissertation, Kommentierungen und viele Aufsätze haben die Staatshaftung zum Gegenstand. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Grundrechtsdogmatik: Er gibt zusammen mit Detlef Merten das Handbuch der Grundrechte heraus, welches die Grundrechte in Deutschland und Europa behandelt und an dem er auch als Autor beteiligt ist. Als dritter Schwerpunkt sei das Umweltrecht erwähnt: Unter anderem an der Erarbeitung des in Deutschland nunmehr geltenden Altlastensanierungsrechts hat er über viele Jahre durch Beiträge in allen wissenschaftlichen Formen mitgewirkt. Neben der Arbeit an der Universität und für die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht hat Hans-Jürgen Papier eine Vielzahl außeruniversitärer Ämter innegehabt. Das erste Amt war das des Richters im Nebenamt. Er war ab 1977 für zehn Jahre Richter am Oberverwaltungsgericht des Landes Nordrhein-Westfalen in Münster. Ab 1978 war er erst Lehrbeauftragter, ab 1981 Studienleiter der Verwaltungsakademie Ostwestfalen-Lippe in Detmold; diese Tätigkeit endete 1993. Von 1987 bis 1993 war er 1. Vorsitzender der Juristischen Gesellschaft Ostwestfalen-Lippe in Bielefeld. Diese Ämter waren ehrenvoll, aber unpolitisch. Ein politisch höchst brisantes Amt hatte er von 1991 bis 1998 inne: Er war Vorsitzender der Kommission der Bundesrepublik Deutschland zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR. Dieses Amt machte ihn bundesweit bekannt. Die Kommission hatte eine Vielzahl spektakulärer Fälle zu lösen, ihre erfolgreiche Arbeit wird für immer mit dem Namen Hans-Jürgen Papier verbunden sein. Erwähnt seien ferner folgende Ämter: Von 1991 bis 1994 war er Mitglied der sogenannten Professorenkommission zur Erarbeitung eines Besonderen Teils eines Umweltgesetzbuchs; von 1994 bis 1996 Mitglied der Kommission der Bundesrepublik Deutschland zum Versorgungs- und Entschädigungsgesetz; von 1996 bis 1998 Mitglied und stellvertretender Vorsitzender der Ethik-Kommission der Bayerischen Landesärztekammer. Die Krönung seiner beruflichen Laufbahn erreichte der Jubilar am 27. 2. 1998: Er wurde zum Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts ernannt. Die Übernah1

Das Schriftenverzeichnis des Jubilars bildet den Anhang 1 dieses Buchs.

Vorwort

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me der Präsidentschaft erfolgte am 10. 4. 2002. Sie endete im März 20102. Während der Zeit als Vorsitzender des 2. Senats hat dieser eine Reihe wegweisender Entscheidungen gefällt. Einige wichtige Entscheidungen, die der Jubilar als Berichterstatter wesentlich geprägt hat, sind im Anhang 2 dieser Schrift aufgeführt. Nach seiner Emeritierung arbeitet Hans-Jürgen Papier wie gewohnt weiter. Sein Rat ist gefragt. Sehr oft hat er durch Rechtsgutachten an der Lösung verfassungsrechtlicher Fragen mitgewirkt. Die Vortragstätigkeit, der er immer gern nachgegangen ist, setzt er fort. Ein derart erfolgreiches Leben hat Anerkennung durch vielfache Auszeichnungen gefunden. Der Jubilar ist Ehrendoktor der Universität Thessaloniki und der Deutschen Hochschule (jetzt Universität) für Verwaltungswissenschaften Speyer. Zu seinem 65. Geburtstag fand in München ein mit hochrangigen Juristen besetztes Symposion statt, welches sich dem Problem „Reform an Haupt und Gliedern – Verfassungsreform in Deutschland und Europa“ widmete. Auf die außerordentlich liebenswürdigen persönlichen Worte des Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs, Professor Dr. Dr. h c. mult. Vassilios Skouris zum Schluss der Veranstaltung sei ausdrücklich hingewiesen.3 Seine Mitarbeiter widmeten ihm aus Anlass seines Ausscheidens aus dem Bundesverfassungsgericht eine Reihe wissenschaftlicher Beiträge, die 2010 im Heft 4 der „Neuen Zeitschrift für Verwaltungsrecht“ erschienen. Anlässlich seiner Emeritierung würdigte die Ludwig-Maximilian-Universität München den Jubilar durch ein wissenschaftliches Kolloquium zum Thema „Schutz der Freiheit und Gewährleistung von Teilhabe im Sozialstaat“. In ihren Begrüßungsworten dankten der Präsident der Universität und der Dekan der Juristischen Fakultät ihm für seinen außerordentlichen Beitrag zum wissenschaftlichen Ansehen der Universität und der Fakultät4. Der Staat und andere Organisationen verliehen ihm höchste Orden und Ehrenzeichen. Den Jubilar kennzeichnet im persönlichen Umgang eine gewisse Direktheit, verbunden mit Herzlichkeit. Er kann und will den Berliner nicht verleugnen. Im privaten Gespräch mit vertrauten Personen „berlinert“ er gelegentlich. Er ist ein christlichgläubiger Mensch. Er dient der evangelischen Kirche selbstlos in vielen Funktionen. Autoren und Herausgeber dieser Festschrift und der Verlag Duncker & Humblot, dem Hans-Jürgen Papier seit der Publikation der Dissertation und der Habilitationsschrift verbunden ist, danken ihm für Begegnungen, Diskussionen und Förderungen unterschiedlichster Art. Wir wünschen ihm zweierlei: dass er noch viele Jahre die Kraft besitzen möge, für die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht und für die Gemeinschaft der Bürger dieses Landes wertvolle Leistungen zu erbringen, und dass 2

Ein sehr ausführlicher Lebenslauf des Jubilars findet sich in Durner/Peine (Hrsg.), Reform an Haupt und Glidern – Verfassungsreform in Deutschland und Europa, Symposion aus Anlass des 65. Geburtstages von Hans-Jürgen Papier, 2009, S. IX. ff. 3 Ebd., S. 102. 4 Die Vorträge werden als Beiheft zum „Archiv des öffentlichen Rechts“ erscheinen.

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Vorwort

ihm noch viele schöne Jahre im Kreis seiner Familie und seiner Freunde beschieden sein mögen. Und schließlich danken die Herausgeber der Fritz Thyssen Stiftung für eine großzügige Druckbeihilfe und der Hanns Martin Schleyer-Stiftung für eine ebenso großzügige Unterstützung der Feier zur Übergabe der Festschrift im Maximilianeum in München. Wolfgang Durner

Franz-Joseph Peine

Foroud Shirvani

Inhaltsverzeichnis

A. Europäische Einigung und deutscher Föderalismus Ulrich Becker Zulässigkeit und Finanzierung der Erweiterung kommunaler Aufgaben im deutschen Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wolfgang Durner Die europäische Integration, die Wurst und das Bundesverfassungsgericht. Anmerkungen zur Debatte um eine integrationsbedingte Ablösung des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dieter Grimm Subsidiarität und Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

Matthias Herdegen Die Vertiefung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion: der verfassungs- und europarechtliche Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Roman Herzog Zurück zu den Grundfragen der europäischen Integration! . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

Jens Hofmann Repräsentative Demokratie und Bürgerbeteiligung in Deutschland und der EU

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Jens Kersten „System verflochtener Demokratie“. Verfassungsrechtliche Theoriebildung gegen die politische Laufrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Hans Hugo Klein Freies Mandat und Rederecht der Abgeordneten im Wandel der Zeit . . . . . . . . . 121 Stefan Korioth Der deutsche Föderalismus – auf dem Weg zu einem dezentralisierten Einheitsstaat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Norbert Lammert Das Prinzip Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

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Inhaltsverzeichnis

Rupert Scholz Wege zu mehr europäischer Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Vassilios Skouris Transparenz und Offenheit als Grundprinzipien des Handelns der Organe der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Rudolf Streinz Recht und Politik in der Wirtschafts- und Währungsunion der EU . . . . . . . . . . . 177 Andreas Voßkuhle Die Rolle der Landesparlamente im europäischen Integrationsprozess . . . . . . . . 195

B. Freiheit, Sicherheit und Sozialstaatlichkeit Peter Badura Das Unternehmenseigentum unter den Bedingungen der staatlichen Wachstumsvorsorge und der sozialen Arbeitsordnung. Ein Grundriss der Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Martin Burgi Staatssponsoring zwischen zivilgesellschaftlicher Perspektive und Korruptionsgefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Winfried Hassemer Über Transparenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Andreas Heusch Freiheitseinbußen durch staatliche Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Wolfgang Hoffmann-Riem Standards für die Verwirklichung der Versammlungsfreiheit in Europa . . . . . . . 267 Dieter Hömig „Das Leben ist wie ein Fahrrad“ oder: Die Sicherungsverwahrung im Konflikt zwischen Freiheit und Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Peter M. Huber Freiheit braucht Mut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Hans D. Jarass Der Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse . . 321

Inhaltsverzeichnis

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Ferdinand Kirchhof Leistungsurteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte? . . . . . . . . 333 Michael Kloepfer Kann Recht Naturkatastrophen verhindern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Johannes Masing Unionsbürgerliche Kernrechte? Zur Zambrano-Rechtsprechung des EuGH . . . . 355 Detlef Merten Verfassungsklippen einer „Lebensleistungsrente“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Udo Steiner Sozialstaatsfragen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . 389 Christian Waldhoff Bepreisung der Wassernutzung als Freiheitsproblem – am Beispiel der Einführung eines umfassenden bundeseinheitlichen Wassernutzungsentgelts . . . . . . . . 401 Christian Walter Freiheit und Verpflichtung zugleich: Die Elternverantwortung als der zentrale Maßstab für die verfassungsrechtliche Beurteilung der neuen gesetzlichen Regelung zur Beschneidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Hans F. Zacher Annäherungen an eine Phänomenologie des Sozialrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435

C. Eigentum und Staatshaftung Michael Brenner Amtshaftung und Auslandseinsätze der Bundeswehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Rüdiger Breuer Überlegungen zum Baurecht auf Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 Brun-Otto Bryde Obiter Dicta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 Udo Di Fabio Grenzfälle des Eigentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Paul Kirchhof Erbrecht und juristische Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513

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Inhaltsverzeichnis

Moris Lehner Besteuerung und Eigentum im Kontext des innerstaatlichen und des Internationalen Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 Lerke Osterloh Der enteignende Eingriff – ein Relikt auf vorverfassungsrechtlicher Grundlage

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Andreas Paulus Die Immaterialgüterrechte im Zeitalter der Neuen Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 Franz-Joseph Peine Inhalt und Schranken des Eigentums. Die Ausgestaltungsgarantie und die Beschränkung der Bodennutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587 Meinhard Schröder Verfassungsrechtlicher Eigentumsschutz von Genehmigungen . . . . . . . . . . . . . . 605 Foroud Shirvani Abbau von Umweltsubventionen und Grundrechte. Verfassungsrechtliche Überlegungen unter besonderer Berücksichtigung des Eigentums- und Vertrauensschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 Anhang Anhang 1: Publikationen von Hans-Jürgen Papier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 Anhang 2: Zentrale Entscheidungen des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts unter dem Vorsitz von Hans-Jürgen Papier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667

A. Europäische Einigung und deutscher Föderalismus

Zulässigkeit und Finanzierung der Erweiterung kommunaler Aufgaben im deutschen Bundesstaat Von Ulrich Becker I. Einführung 1. Kommunen werden wieder stärker als die Gemeinschaften wahrgenommen, die das unmittelbare Lebensumfeld der Menschen entscheidend prägen. Zum einen ist ihre Rolle im Zusammenhang mit der Gewährleistung existenziell wichtiger Güter und Dienstleistungen, die nach wie vor durchaus zutreffend unter dem Begriff der Daseinsvorsorge zusammengefasst werden können,1 ungebrochen. Die zwischenzeitlich in Mode gekommene Verlagerung der Erbringung auf Private scheint nur noch vorsichtig weiterverfolgt zu werden. Zum Teil ist der Trend umgekehrt worden, von einer „Rekommunalisierung“ ist die Rede.2 Ohne das bewerten zu wollen, weil allgemeine Aussagen dazu oft eher vorurteilsbehaftet als weiterführend sind, lässt sich jedenfalls feststellen: Die politische und rechtliche Verantwortung der Kommunen, die sich ohnehin durch die Einschaltung Dritter nicht auflöst,3 erfährt wieder größere Aufmerksamkeit. Dazu passt die Entwicklung des europäischen Unionsrechts. Zwar enthalten dessen wirtschaftsrechtliche Vorschriften auch Vorgaben für die im Allgemeininteresse liegenden Dienstleistungen. Die Hervorhebung deren Besonderheiten im neuen AEUV4 deutet aber, selbst wenn ihre Funktion sehr umstritten ist,5 auf eine gewachsene Sensibilität hin: Die öffentliche Hand soll zwar transparent und diskriminierungsfrei handeln, aber auch die Erbringung von wirtschaftlichen Dienstleistungen von allgemeinem Interesse sicherstellen können. Das wirkt sich durchaus zu Gunsten der kommunalen Daseinsvorsorge aus.

1 Grundl. E. Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, 1938, S. 6; vgl. auch ders., Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, 1959, S. 22 ff. Zu den wechselnden Hintergründen über die Zeit und zur Beschränktheit des Konzepts, soweit es das Verhältnis zwischen Staat und Bürger angeht, J. Kersten, Die Entwicklung des Konzepts der Daseinsvorsorge im Werk von Ernst Forsthoff, Der Staat 44 (2005), S. 543 ff. 2 Vgl. H. Bauer, Zukunftsthema „Rekommunalisierung“, DÖV 2012, S. 329 (334 f.). 3 Vgl. zu Verantwortungsabstufungen nur E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, 3. Kap., Rdnr. 109 ff. 4 Art. 14 AEUV mit Prot. Nr. 26 zum Lissabonner Vertrag. 5 Vgl. dazu nur A. Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 14 AEUV Rdnr. 9 ff.

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Ulrich Becker

Zum anderen sind Kommunen heute mehr als in den Jahren zuvor gefragt, soweit es um die Gewährung von Sozialleistungen geht. Das hängt zusammen mit einigen neuen sozialpolitischen Ansätzen, die in ihrem Kern zugleich eine Rückbesinnung auf das tragende Grundprinzip der Eigenverantwortung6 enthalten, eine Verantwortung, deren Realisierung vielfach ganz konkreter, in einem Verhältnis der Nähe durchzuführender Unterstützung bedarf. Auch in diesem Zusammenhang spielt eine Neujustierung von „Solidarität einerseits und Subsidiarität und Eigenverantwortung andererseits“, die Hans-Jürgen Papier für den Sozialstaat insgesamt gefordert hat,7 eine Rolle. 2. Allerdings ist die Wahrnehmung dieser vielfältigen und komplexen Aufgaben durch die Kommunen Gefährdungen ausgesetzt. Das liegt an gesetzlichen Vorgaben, mit denen unitarisierend gesteuert wird und die zur Folge haben, dass die Selbstverwaltungsspielräume der Kommunen eingeschränkt werden. Es liegt vor allem aber auch an dem Umstand, dass die Zuständigkeiten für den Erlass von Gesetzen über die kommunale Aufgabenwahrnehmung und die Zuständigkeiten für die Sicherstellung einer ausreichenden Finanzierung kommunaler Aufgaben auseinander fallen. Der zentrale Grundsatz, nach dem derjenige, der Ausgaben veranlasst, für deren Deckung zu sorgen und in diesem Sinne Verantwortung für die Folgen seines Handelns zu tragen hat – oder vereinfacht ausgedrückt: nach dem wer anschafft, zahlt – gilt im deutschen Bundesstaat nicht. Das ist der finanzverfassungsrechtlichen Trennung der Hoheitsräume von Bund und Ländern geschuldet, jedenfalls im Ausgangspunkt. Immerhin wurden aber Schritte unternommen, um die Kommunen vor einer Aufgabenüberlastung zu schützen. Seit der Föderalismusreform I ist dem Bund untersagt, Aufgaben auf die Kommen zu übertragen. Und die Landesverfassungen enthalten mittlerweile durchgängig sog. Konnexitätsvorschriften, nach denen die Übertragung von Aufgaben auf die Kommunen mit einer Kostentragung verbunden werden muss. Ob damit die angesprochenen Gefährdungen ausgeräumt sind, bleibt die Frage. Ihr soll im Folgenden nachgegangen werden. Ausgangspunkt ist eine Bestandsaufnahme der Rolle der Kommunen bei der Gewährung von Sozialleistungen und der dabei zu beobachtenden Verflechtungen8 (unten, II.). Denn die Feststellung des Jubilars, die Beziehungen zwischen den politischen Ebenen im europäisch integrierten Bundesstaat hätte sich zu einem „dichten System der Politikverflechtung entwickelt, das mit seinen schwerfälligen Entscheidungsverfahren und seinen zahlreichen Blockademöglichkeiten die Frage nach der Leistungsfähigkeit der herge-

6 In diesem Sinne schon P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 3, 1913 S. 289; vgl. näher H. F. Zacher, Grundtypen des Sozialrechts, in: Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. 1, 1987, S. 571 ff. 7 H.-J. Papier, Leistungsgrenzen und Finanzierung des Sozialstaats, in: Magiera/Sommermann (Hrsg.), Freiheit, Rechtsstaat und Sozialstaat in Europa, 2007, S. 93 (98 f.). 8 Dazu grundl. aus politikwissenschaftlicher Sicht F. W. Scharpf, Theorie der Politikverflechtung, in: ders./Reissert/Schnabel, Politikverflechtung, 1976, S. 13 ff.

Erweiterung kommunaler Aufgaben im deutschen Bundesstaat

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brachten bundesstaatlichen Strukturen aufgeworfen hat“9, bleibt nicht ohne Folgen für die unterste Ebene, die der Gemeinden und Landkreise. Dieser erste Schritt führt zu der Frage, welche Grundsätze für die Festlegung kommunaler Aufgaben gelten und in diesem Zusammenhang zur Reichweite des angesprochenen Aufgabenübertragungsverbots im Verhältnis zwischen Bund und Kommunen (unten, III.). Soweit die Kommunen danach zur Erfüllung sozialstaatlicher Aufgaben verpflichtet sind und bleiben, rückt zwangsläufig deren Finanzierung in den Fokus, der sich die Ausführungen im dritten und letzten Schritt zuwenden (unten, IV.). II. Die Kommunen als Sozialleistungsträger 1. Sozialpolitische Entwicklungen und deren lokaler Bezug Die Zeiten des ungebremst expandierenden Sozialstaats sind vorbei. Der Sozialstaat befindet sich im „Umbruch“,10 zum Teil auch im Rückbau. Von einem flächendeckenden Rückzug des Staats kann aber nicht gesprochen werden. Das ist nicht nur deshalb so, weil gerade in Krisenzeiten die stabilisierende und integrative Kraft sozialer Interventionen benötigt wird. Vielmehr sind auch die sozialstaatlichen Aufgaben schwieriger geworden. Die eingangs angesprochene Renaissance der Eigenverantwortung ist ohne staatliche Zuwendung nicht durchführbar, der Staat wird „aktivierend“ tätig.11 Weil zugleich die Besorgnis um Schuldenvermeidung und Wettbewerbsfähigkeit zu einer effizienteren Verwendung finanzieller Mittel anhält, wächst das Bemühen um die Verbesserung der Zielgenauigkeit sozialstaatlicher Interventionen. Dabei gilt es, tradierte Grenzen zwischen einzelnen Leistungssystemen zu überwinden und in möglichst umfassender Weise die gewünschten Interventionsziele sicherzustellen.12 Beides lässt sich besonders gut an den sog. „Hartz-Reformen“ und dem damit verfolgten Ziel, alle Erwerbsfähigen in den Arbeitsmarkt zu integrieren,13 zeigen. Mit diesen Reformen sind zugleich die Kommunen angesprochen. Deren Nähe zum Bür9

H.-J. Papier, Die bundesstaatliche Ordnung in Deutschland seit der Wiedervereinigung, in: Festschrift für Heinz Schäfer, 2006, S. 595 (597). 10 Papier (o. Fußn. 7), S. 93. 11 Dazu T. Kingreen, Rechtliche Gehalte sozialpolitischer Schlüsselbegriffe – Vom daseinsvorsorgenden zum aktivierenden Sozialstaat, SDSRV 52 (2004), S. 7 ff. 12 Was insbesondere durch eine „Sozialraumorientierung“, die alle räumlich relevanten Lebensumstände einzubeziehen versucht, zum Ausdruck kommt, vgl. dazu U. Becker, Inklusion und Sozialraum – Aufgaben und Handlungsspielräume der Kommunen, in: ders./Wacker/ Banafsche (Hrsg.), Inklusion und Sozialraum – Behindertenrecht und Behindertenpolitik in der Kommune, 2013, S. ** ff. Kooperationserfordernisse werden auch durch das Bundeskinderschutzgesetz v. 22. 12. 2011 (BGBl. I, 2975) begründet. 13 Vgl. dazu U. Becker, Sozialmodell und Menschenbild in der „Hartz-IV” Gesetzgebung, in: Behrends/Schumann (Hrsg.), Gesetzgebung, Menschenbild und Sozialmodell im Familienund Sozialrecht, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, 2008, S. 39 ff.

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Ulrich Becker

ger begünstigt eine Verhaltenssteuerung. Zudem können sie aufgrund ihrer Kenntnisse der örtlichen Gegebenheiten zur angestrebten Zielgerichtetheit von Eingliederungsmaßnahmen beitragen. Deshalb war auch die Schaffung neuer Träger sinnvoll, in denen die genannten Vorteile der Kommunen mit den speziellen Kenntnissen und Erfahrungen der Bundesagentur für Arbeit hinsichtlich des Arbeitsmarktes miteinander verbunden werden können. Allerdings setzt dies eine sehr enge Zusammenarbeit zwischen kommunaler und föderaler Ebene voraus. Im deutschen Bundessaat sind damit kaum zu übersteigende Hürden zu bewältigen. Weil sich Bund und Länder nicht auf eine saubere gesetzliche Lösung einigen konnten und die Regelungen über die Organisation gleich zweimal in den Vermittlungsausschuss schickten, statt die Verantwortung für die Kompetenzverteilung klar zu regeln, hat das BVerfG die zunächst für die Arbeitsgemeinschaften geltende Vorschrift zu Recht für verfassungswidrig erklärt.14 Ebenfalls zu Recht ist dann aber durch eine Verfassungsänderung die Zusammenarbeit in gemeinsamen Einrichtungen ermöglicht worden.15 Auch inhaltlich belegen jüngere Reformen des Sozialhilferechts gestiegene Anforderungen an die Verwaltungspraxis. Nachdem das BVerfG die ursprünglich im SGB II vorgesehenen Regelsätze ebenfalls für mit der Verfassung unvereinbar erklärt hatte,16 reagierte der Gesetzgeber mit einem Teilhabe- und Bildungspaket17: Sowohl im SGB II als auch im SGB XII18 ist jetzt vorgesehen, dass nicht nur Unterstützungen für Schulveranstaltungen, Lernförderung und Mittagsverpflegung, sondern auch für die „Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft“ als Sach- und Dienstleistungen, insbesondere in der Form „personalisierter Gutscheine“ oder von Direktzahlungen an Anbieter, gewährt werden. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen diese Form der Leistungserbringung bestehen nicht. Jedoch ist das Ziel, die Wirksamkeit der Sozialleistungen sicherzustellen, weil es um die Bildung und damit die Entwicklungschancen von Kindern geht, mit einem erhöhten Verwaltungsaufwand verbunden. Selbst wenn Kommunen nicht in einer strikten Erfüllungsverantwortung stehen, müssen sie doch zumindest grundsätzlich das Vorhandensein ausreichender Angebote und die Geeignetheit der anbietenden Vereine und Einrichtungen für die Erfüllung der von ihnen zu zahlenden Teilhabeangebote gewährleisten.19 14

BVerfGE 119, 331. Einfügung des Art. 91e GG durch Gesetz v. 21. 7. 2010 (BGBl. I, 944); zu den Reformoptionen S. Korioth, Leistungsträgerschaft und Kostentragung bei der Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II), DVBl. 2008, S. 812 ff. Krit. hingegen G. Henneke, in: Schmidt/ Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf (Hrsg.), GG, 12. Aufl. 2011, Art. 91e Rdnr. 75; ebenso ohne Eingehen auf Sachfragen U. Mager, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2012, Art. 91e Rdnr. 13. 16 BVerfGE 125, 175. 17 Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch v. 24. 3. 2011 (BGBl. I, 453). 18 §§ 28 und 29 SGB II bzw. §§ 34 und 34a SGB XII. 19 Dazu näher U. Becker, Der Schutz der Kommunen vor Aufgabenänderungen – Aufgabenübertragungsverbot und Konnexitätsgebot am Beispiel des Bildungs- und Teilhabepakets und des Vormundschaftsänderungsgesetzes, 2012, S. 29 ff. 15

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2. Sozialstaatliche Verflechtungen politischer Ebenen a) Was die Kommunen an Sozialleistungen zu gewähren haben, wird ihnen ganz überwiegend gesetzlich vorgegeben. Das geschieht nicht durch die Länder, zu deren staatlicher Sphäre Gemeinden und Landkreise gehören. Gesetzgeberisch tätig wird vielmehr in den meisten Fällen der Bund. Insbesondere auch im Bereich der sozialen Hilfen und der Förderung beruhen alle wesentlichen Sozialleistungen auf Bundesrecht. Ermöglicht wird das durch ein weites Verständnis der aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG folgenden Bundeskompetenz für die „öffentliche Fürsorge“. Diese Kompetenz erfasst nicht nur die Sozialhilfe einschließlich der Grundsicherung, sondern etwa auch Leistungen zur Förderung von Familien20, präventive Maßnahmen eingeschlossen.21 Ein Zusammenhang zu Sozialleistungen einschließlich der Sozialversicherung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) und zu den Heilberufen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG) erlaubt dem Bund, auch im Schnittfeld zum Bildungsrecht Regelungen zu erlassen.22 Gerade hinsichtlich der Kinderbetreuung wird der Zusammenhang zur sozialen Aufgabe, gesellschaftliche Integration und Teilhabe zu sichern, als entscheidend angesehen23 – mit der Folge, dass der Bund einheitliche Vorgaben setzen darf. b) An dieser Situation wird sich absehbar nichts ändern. Zwar lässt sich über die weite Auslegung der Bundeskompetenzen in Einzelfällen streiten.24 Grundsätzliche Konsequenzen zugunsten einer Entflechtung ergeben sich daraus aber kaum. Anderes wäre verfassungsrechtlich nur durch eine allgemeine Beschränkung der Bundeskompetenzen denkbar, insbesondere über eine strikte Interpretation der „Erforderlichkeitsklausel“ des Art. 72 Abs. 2 GG. Deren inhaltliche, nun nicht mehr auf „einheitliche“, sondern auf „gleichwertige Lebensverhältnisse“ abstellende Fassung beruht auf der Verfassungsreform von 1994 und ist – bis auf die Freistellung einiger Kompetenzen, etwa auch für die Sozialversicherung und die Heilberufe – durch die Reform von 2006 unverändert geblieben.25 Man kann sie als eine Anleitung für die Beurteilung der Frage lesen, wie viel Angleichung der Lebensverhältnisse 20

Vgl. BVerfGE 11, 105; 87, 34. BVerfGE 22, 180; zusammenfassend BVerfGE 106, 62 (134). 22 Näher dazu und zu den Grenzen BVerfGE 106, 62. 23 BVerfGE 97, 332 (342): „Dieser Bildungsbezug entzieht die Regelung aber nicht der Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Die fürsorgerischen und bildungsbezogenen Aufgaben des Kindergartens sind untrennbar miteinander verbunden. Eine Aufspaltung der Gesetzgebungskompetenz anhand dieser Aspekte kommt aus sachlichen Gründen nicht in Betracht … Der Schwerpunkt des Kindergartenwesens, von dem in einem solchen Fall die Bestimmung der Gesetzgebungskompetenz abhängt (vgl. BVerfG, Urteil vom 17. Februar 1998 – 1 BvF 1/ 91 –, Umdruck S. 35), ist nach wie vor eine fürsorgende Betreuung mit dem Ziel einer Förderung sozialer Verhaltensweisen und damit präventiver Konfliktvermeidung.“ 24 Vgl. zum Kindergartenrecht nur S. Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2010, Art. 74 Rdnr. 63 m.w.N.; S. Rixen, Hat der Bund die Gesetzgebung für das Betreuungsgeld? DVBl. 2012, S. 1393 ff. 25 Krit. zu der Neufassung des Art. 72 GG H.-J. Papier, Steuerungsprobleme und die Modernisierung bundesstaatlicher Ordnung, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, Bd. 1, 2012, § 15 Rdnr. 12. 21

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im Bundesgebiet gefordert wird. Das hat insbesondere Bedeutung in unserer älter und kleiner werdenden Gesellschaft, soweit es um die Gewährleistung einer ausreichenden Infrastruktur für die Versorgung der Bevölkerung mit Gütern und Dienstleistungen der Daseinsvorsorge und des sozialen Schutzes geht.26 Insofern lässt sich von einer auf den Raum bezogenen Konkretisierung des sozialstaatlich und für eine Freiheitsentfaltung Notwendigen sprechen. Tatsächlich hat das BVerfG die neue Fassung mittlerweile mehrfach zum Anlass genommen, die maßstabsbildende Bedeutung des Art. 72 Abs. 2 GG zu betonen, und ausgeführt: „Zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse ist eine bundesgesetzliche Regelung erst dann erforderlich, wenn sich die Lebensverhältnisse in den Ländern der Bundesrepublik in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinander entwickelt haben oder sich eine derartige Entwicklung konkret abzeichnet.“27 Diese Rechtsprechung wirkt auf den Gebieten, die traditionell durch Landeszuständigkeiten gekennzeichnet sind, schützt also insofern das „Hausgut“ der Länder. Jedoch ist nicht erkennbar, dass mit ihr zugleich die unitarisierende Wirkung des Sozialleistungsrechts praktisch begrenzt würde. Eine Föderalisierung ist in dieser Hinsicht offensichtlich auch politisch nicht gewollt. Denn die deutsche Gesellschaft verträgt Ungleichheiten in Bezug auf individuelle Ansprüche schlecht, sie ist „an einheitlichen Lebensverhältnissen … orientiert“28. Tatsächlich mag sich das Sozialrecht wenig als Feld für räumliche Differenzierungen eignen, sowohl was die von ihm adressierten Personen als auch seine integrierende Funktion angeht. Selbst aber da, wo solche Differenzierungen nahe liegen, weil Leistungen auf das unmittelbare Lebensumfeld Bezug nehmen, werden sie vermieden. Das betrifft in besonderem Maße denkbare Anpassungen an lokale Verhältnisse und damit die Situation der Kommunen. Die Regelsätze der Grundsicherung für Arbeitsuchende sind bundeseinheitlich festgeschrieben. Lokalen Unterschieden wird nur im Rahmen der Übernahme von Kosten für die Unterkunft Rechnung getragen. § 29 SGB XII erlaubt immerhin Abweichungen durch Landesrecht für die Regelsätze der Sozialhilfe. Hinsichtlich der erwähnten Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben von Kindern und Jugendlichen gilt aber wieder ein bundesweit einheitlicher Betrag von zehn Euro. Auch sonst ist der Bund geneigt, einheitliche Stan26 Dazu U. Becker, Einführung, in: ders./Roth (Hrsg.), Recht der Älteren, 2013, § 1 Rdnr. 26 ff.; vgl. auch J. Kersten, Demographie als Verwaltungsaufgabe, Die Verwaltung 40 (2007), S. 309 (344 f.). 27 BVerfGE 106, 62 (144) (Altenpflege); 111, 226 (253) (Juniorprofessur); 112, 226 (244) (Studiengebühren). 28 H.-J. Papier, Reformstau durch Föderalismus?, in: Merten (Hrsg.), Die Zukunft des Föderalismus in Deutschland und Europa, 2007, S. 123 (129). Vgl. auch ders, Bewährung und Reform der bundesstaatlichen Ordnung, 2011, S. 21, zur „Diskrepanz zwischen dem Loblied der bundesstaatlichen Vielfalt, das dem Föderalismus sonntags gesungen wird, und den Schmähungen, denen er sich werktags ausgesetzt fühlt, wenn sich ein Land einmal tatsächlich anschickt, einen eigenen Weg zu gehen.“

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dards festzulegen. Ein besonders augenfälliges Beispiel dafür entstammt der Kinderund Jugendhilfe. Mit dem Gesetz zur Änderung des Vormundschafts- und Betreuungsrechts29 wurde den Jugendämtern aufgegeben, Kinder oder Jugendliche vor der Übertragung der Aufgaben des Amtspflegers oder des Amtsvormunds mündlich anzuhören, soweit möglich, und es soll ein vollbeschäftigter Beamter oder Angestellter, der nur mit der Führung von Vormundschaften oder Pflegschaften betraut ist, höchstens 50 Vormundschaften oder Pflegschaften führen.30 Damit wird den Kommunen vorgeschrieben, wie sie die entsprechenden Aufgaben durchzuführen haben; zugleich wird ihre Organisationshoheit beschränkt, ohne Raum für lokale Besonderheiten zu lassen.31 Das berührt zugleich die ihnen garantierte Selbstverwaltung. III. Aufgabenfestlegung und kommunale Selbstverwaltung 1. Zum Schutz der Kommunen vor staatlichen Vorgaben Die durch Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG den Gemeinden verbürgte Selbstverwaltung bezieht sich sowohl darauf, alle örtlichen Angelegenheiten in eigener Verantwortung regeln zu dürfen, als auch auf die Möglichkeit, neue Aufgaben des örtlichen Wirkungskreises32 zu begründen. Zur näheren Umschreibung der institutionellen Garantie lassen sich Felder einer hoheitlichen Tätigkeit benennen (sog. Gemeindehoheiten),33 in denen es ein Mindestmaß an eigenverantwortlichem Handeln geben muss, damit von einer Selbstverwaltung gesprochen werden kann. Das gilt auch für die Landkreise, die als Gemeindeverbände durch Art. 28 Abs. 2 S. 2 GG in ähnlichem, aber stärker gesetzlich bedingtem Umfang geschützt werden. Sowohl zugunsten der Gemeinden wie der Landkreise besteht ein Aufgabenverteilungsprinzip, nach dem die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft grundsätzlich in deren Zuständigkeit fallen.34 In die Selbstverwaltungsgarantie der Kommunen wird eingegriffen, wenn die örtlichen Aufgaben durch gesetzliche Vorgaben ausgestaltet werden. Das betrifft etwa Tätigkeiten im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Sozialhilfe, soweit diese nach den Landesgesetzen als Selbstverwaltungsaufgaben durchgeführt werden.35 Nichts anderes gilt, wenn die Erledigung überörtlicher und damit staatlicher Aufgaben zur Pflicht erhoben wird, jedenfalls, wenn ein geänderter Aufgabenzu29

V. 29. 6. 2011 (BGBl. I, 1306). § 55 SGB VIII. 31 Dazu näher Becker (o. Fußn. 19), S. 34 ff. 32 Darunter sind nach BVerfGE 79, 127, 151 (Rastede) die „Bedürfnisse und Interessen, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder auf sie einen spezifischen Bezug haben“, zu verstehen. 33 Dazu nur P. J. Tettinger/K.-A. Schwarz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (o. Fußn. 24), Art. 28 Rdnr. 178 ff. 34 BVerfGE 79, 127 (150 ff.). 35 Vgl. etwa Art. 15 Abs. 1, 80 Abs. 1 BayAGSG. 30

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schnitt die Verwaltungskapazitäten derart stark in Anspruch nimmt, dass die ordnungsgemäße Wahrnehmung eines Mindestbestands an eigenen Aufgaben gefährdet wird.36 Zudem wird oft die Organisationshoheit der Kommunen betroffen sein, die sich inhaltlich kaum auf getrennte Aufgabenbereiche beschränken lässt.37 Gegen staatliche Eingriffe verleiht Art. 28 Abs. 2 GG den betroffenen Gebietskörperschaften ein Abwehrrecht. So wichtig und grundlegend dieses Recht im Zusammenhang mit der Selbstverwaltungsgarantie auch ist, so wenig hat es im Ergebnis die Kommunen vor den vielfältigen sozialrechtlichen Regelungen geschützt, für die vorstehend einige Beispiele genannt wurden. Hintergrund ist zum einen die Kernbereichsdoktrin des BVerfG.38 Danach sind nur die Eingriffe verboten, die den Wesensgehalt der Selbstverwaltung verletzen. Das ist nicht bei jeder Beschränkung einer Gemeindehoheit der Fall, zumal deren Bedeutung für die Selbstverwaltung durchaus unterschiedlich sein kann.39 Entscheidend soll die Aufrechterhaltung der Zuständigkeiten sein, die nach der historischen Entwicklung das Erscheinungsbild der Selbstverwaltung prägen.40 Bei der Beurteilung spielt ganz offensichtlich die Schwere des Eingriffs eine Rolle, so dass die Frage bleibt, ob nicht der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einen geeigneteren dogmatischen Ansatz abgäbe. Zum anderen war dem Bund in der Vergangenheit die Kompetenz eingeräumt worden, die Zuständigkeit der Gemeinden festzulegen und durch „punktuelle Annexregelungen“ – allerdings nur, soweit diese „für den wirksamen Vollzug der materiellen Bestimmungen des Gesetzes“ notwendig waren – sogar den Wirkungskreis der entsprechenden Aufgabe zu bestimmen.41 Das ist für die Kommunen in der Praxis nicht zuletzt dann von spürbarem Nachteil, wenn eine Bundesregelung zu neuen finanziellen Belastungen führt. Denn nach der im Finanzverfassungsrecht nachvollzogenen Trennung der Verfassungsräume von Bund und Ländern ist ein Ausgleich dafür, worauf zurückzukommen ist,42 zumindest unsicher. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat im Zuge der Föderalismusreform I versucht, die daraus folgende Schutzlücke zu schließen. Nun heißt es in Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG und in Art. 85 Abs. 1 S. 2 GG: „Durch Bundesgesetz dürfen Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben nicht übertragen werden.“

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Dazu BVerfGE 83, 363 (383) (Krankenhausumlage); 119, 331 (354 f.) (Arbeitsgemeinschaften nach dem SGB II). 37 Vgl. dazu BVerfGE 83, 363 (382) (Krankenhausumlage). 38 Grundl. BVerfGE 79, 127 (146 ff.). 39 Vgl. etwa zur „von vornherein nur relativen“ Gewährleistung der Organisationshoheit BVerfGE 91, 228 (240). 40 Dazu schon BVerfGE 11, 266 (274). 41 BVerfGE 22, 180 (209 f.) (Jugendhilfe); ebenso BVerfGE 77, 288 (299) (Bauleitplanung). 42 Unten, IV.

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2. Das Aufgabenübertragungsverbot zwischen Bund und Kommunen Diese Formulierung erscheint auf den ersten Blick knapp und klar. Sie wirft aber schwierige Auslegungsfragen auf, von deren Beantwortung bis zu einem bestimmten Grad die Tauglichkeit der Vorschriften als Schutz vor einer kommunalen Aufgabenüberlastung abhängt. Dabei geht es im Wesentlichen darum, was unter einem „Übertragen von Aufgaben“ zu verstehen ist, oder etwas genauer, ob, und wenn ja welche, Aufgabenerweiterungen erfasst werden. Denn in der heutigen Zeit erfindet der Sozialstaat kaum mehr ganze Aufgaben neu. Er ist, wie erwähnt, vor allem mit der Änderung bestehender Aufgaben beschäftigt: mit der Verfeinerung und Weiterentwicklung von Standards, mit der Anpassung von Leistungen an sich wandelnde gesellschaftliche Verhältnisse und die Entwicklungen des Arbeitsmarkts, mit dem Einbau neuer Steuerungsinstrumente. Nur selten war in den letzten Jahren eine Umgestaltung so grundlegend, dass – wie vor allem bei der Einführung des SGB II – von neuen Aufgaben gesprochen werden konnte, wenn auch diese vor allem aus dem Umbau der Sozialhilfe und der Streichung der Arbeitslosenhilfe folgten. a) Die grammatikalische Auslegung erhellt die Aufgabenübertragungsverbote wenig. Wenn von Aufgaben die Rede ist, ist damit die Eröffnung und Ausfüllung von Tätigkeitsbereichen43 gemeint, und zwar im Sinne einer bestimmten Ausrichtung dieser Tätigkeiten.44 Über deren Umfang ist damit nichts gesagt. In sich abgeschlossene Tätigkeitsfelder müssen nicht gemeint sein, und selbst die Annahme, Aufgaben seien gegenständlich konkreter als die mit ihnen verfolgten Ziele,45 ist zweifelhaft. Ebenso wenig enthält das Verb „übertragen“ dazu nähere Anhaltspunkte. Es meint nur, dass der Übertragende dem Beauftragten etwas einräumt oder auferlegt, dass ein zuständiger Träger einen anderen betraut und in dem Umfang der Betrauung zumindest bis zu einem aufhebenden Akt auf eine eigene Zuständigkeitswahrnehmung verzichtet. Das kann sich ohne weiteres auch nur auf die Zuständigkeit beziehen, eine bestimmte Art einer Aufgabenerledigung festzulegen. Ein bestimmtes Maß an neuer Zuständigkeit, eine völlige Aufgabe der alten Zuständigkeit oder ein bestimmter Spielraum für ausgestaltende Entscheidungen des Beauftragten muss damit nicht verbunden sein. Schließlich kann aus der Verbindung des „Übertragen“ mit einer „Aufgabe“ nicht mehr geschlossen werden als aus den einzelnen Worten. Etwas weiter führen die Genese und die Systematik der Aufgabenübertragungsverbote. Sie geben vor allem Aufschluss über deren Zweck. Zu Recht wird er im

43 J. Isensee, Staatsaufgaben, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts (HStR) Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 73 Rdnr. 12. 44 Zur notwendigen Handlungstendenz nur S. Baer, Verwaltungsaufgaben, in: HoffmannRiem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I (GrVwR I), 2. Aufl. 2012, § 11 Rdnr. 11. 45 In diesem Sinne, allerdings mit weiteren Annahmen, M. Burgi, Funktionale Privatisierung, 1999, S. 30.

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Schutz der Kommunen gesehen,46 für dessen Verfolgung ein Zustimmungsvorbehalt zugunsten der Länder nicht ausreichend ist.47 Zwar ist das nicht unbestritten. Auch unter Hinweis auf den Standort des Aufgabenübertragungsverbots48 wird zum Teil angenommen, Art. 84 Abs. 1 S. 7 und 85 Abs. 1 S. 2 GG sollten vor allem dazu dienen, die Zustimmungspflicht der Länder vom Eingriff in die Organisationshoheit abzukoppeln.49 Jedoch besteht kein Grund, dieses Ziel gegen das Bemühen um einen besseren Schutz der kommunalen Selbstverwaltung auszuspielen. Der entstehungsgeschichtliche Zusammenhang der Aufgabenübertragungsverbote mit der vorstehend dargelegten Schutzlücke ist eindeutig. Zwar war zuvor auch über die Schaffung einer „unmittelbaren Konnexitätshaftung“50 zwischen Bund und Kommunen diskutiert worden.51 Dieser Vorschlag wurde jedoch verworfen, weil seine Realisierung die aus der föderalen Trennung der Hoheitsräume folgende finanzverfassungsrechtliche Zweistufigkeit durchbrochen hätte.52 Er wäre wohl auch mit dem bei der Föderalismusreform verfolgten Ansatz, für eine stärkere Trennung rechtlicher Verantwortung

46 Korioth (o. Fußn. 15), S. 814; J. Knitter, Das Aufgabenübertragungsverbot des Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG, 2008, S. 102, 153 ff.; G. Hermes, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 84 Rdnr. 9, 29; F. Kirchhof, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 84 (2011) Rdnr. 152 ff.; A. Dittmann, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 84 Rdnr. 13. 47 S. Burger/M. Faber, Art 84 I 7 GG vor weiterer Bewährungsprobe – Zur Vereinbarkeit des EAG EE mit dem Verbot der Aufgabenübertragung vom Bund auf die Kommunen, KommJur 2011, S. 161, 163 f.; ähnlich A. Ingold, Das Aufgabenübertragungsverbot aus Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG als Hindernis für die bauplanungsrechtliche Gesetzgebung des Bundes?, DÖV 2010, S. 134 ff. 48 K. Engelken, Kommunen und bundesrechtliche Aufgaben nach der Föderalismusreform I, VBlBW 2008, S. 457, 461. 49 B. Pieroth, Das Verbot bundesgesetzlicher Aufgabenübertragung an Gemeinden, in: Festschrift für Friedrich Schnapp, 2008, S. 213, 222; ders./A. Meßmann, Interpretationsprobleme des Art. 84 Abs. 1 GG nach der Föderalismusreform, in: Fachverbände der Behindertenhilfe (Hrsg.), Föderalismusreform und Behindertenhilfe, 2008, S. 9, 46; A. Meßmann, Das Aufgabenübertragungsverbot aus Art 84 Abs. 1 S. 7 GG: Hindernis für die Erweiterung bereits übertragener Aufgaben und die Übertragung von Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft, DÖV 2010, S. 726, 728, jew. unter Verweis auf K. Rauber, Artikel 84 GG und das Ringen um die Verwaltungshoheit der Länder, in: Holtschneider/Schön (Hrsg.), Die Reform des Bundesstaates, 2007, S. 36, 42, der jedoch vor allem auf das übergeordnete Ziel der Entflechtung und Neuverteilung von Gesetzgebungskompetenzen eingeht, nicht aber auf Detailfragen zu Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG. 50 F. Schoch, Verfassungswidrigkeit des bundesgesetzlichen Durchgriffs auf die Kommunen, DVBl. 2007, S. 261 (262). 51 Vorschlag zurückgehend auf F. Kirchhof, Empfehlen sich Maßnahmen, um in der Finanzverfassung Aufgaben- und Ausgabenverantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden stärker zusammenzuführen?, Gutachten D zum 61. DJT, 1996, S. D 66 ff., der von einem „Prinzip der Gesetzeskausalität“ spricht und § 24 SGB VIII als Anwendungsbeispiel erwähnt (D 69). 52 S. Korioth, Entlastung der Kommunen durch unmittelbare Finanzbeziehungen zum Bund?, NVwZ 2005, S. 503, 506 ff.

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im deutschen Bundesstaat zu sorgen, nur schwer vereinbar gewesen.53 Deshalb wurde stattdessen eine negative Kompetenzvorschrift54 geschaffen, die es in dieser Art und Weise zuvor nicht gab.55 Sowohl aus dem Wortlaut der Art. 84 Abs. 1 S. 7 und 85 Abs. 1 S. 2 GG, der auf „Gemeinden“ und „Gemeindeverbände“ im Sinne von Art. 28 Abs. 1 GG Bezug nimmt, als auch aus der Systematik kommt ein enger Zusammenhang der Aufgabenübertragungsverbote mit der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie zum Ausdruck. Diese Verbote sollen die Kommunen vor einer Aufgabenüberlastung schützen und ihnen damit Raum für eigenverantwortliches Handeln lassen. Ihre Verletzung ist deshalb auch im Rahmen einer Kommunalverfassungsbeschwerde rügefähig.56 Denn nach der Rechtsprechung des BVerfG können in diesem Verfahren auch andere Vorschriften des Grundgesetzes als Art. 28 Abs. 2 GG als Prüfungsmaßstab herangezogen werden, wenn sie „ihrem Inhalt nach das verfassungsrechtliche Bild der Selbstverwaltung mitzubestimmen geeignet sind“.57 Diese Formel ist offen58 und auch etwas blumig. Sie stellt aber zu Recht in der Sache klar, dass die Selbstverwaltungsgarantie in einem spezifischen Zusammenhang mit Vorschriften stehen kann, die nicht in dem mit „der Bund und die Länder“ überschriebenen Abschnitt des Grundgesetzes zu finden sind. Entscheidend für die Annahme eines solchen Zusammenhangs ist nicht die Stellung, sondern allein der Schutzzweck einer grundgesetzlichen Vorschrift.59 b) Es würde allerdings zu weit gehen, jegliche Erweiterung kommunaler Aufgaben als unzulässig anzusehen.60 Art. 125a Abs. 1 S. 1 GG räumt dem Bund grundsätzlich auch die Befugnis zur Änderung der Gesetze ein, die nach der Reform wegen der Aufgabenübertragungsverbote nicht neu erlassen werden dürften.61 In die53 Vgl. aber zu der grundsätzlicheren Reformdiskussion im Hinblick auf eine Schaffung der Gesetzes- statt der Vollzugskausalität S. Korioth, Reform der bundesstaatlichen Finanzbeziehungen?, in: Festschrift für Rupert Scholz, 2007, S. 677 (691 f.). 54 G. Henneke, in: Schmidt/Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf (o. Fußn. 15), Art. 84 Rdnr. 25. 55 Kirchhof (o. Fußn. 46), Art. 84 GG Rdnr. 152. 56 Im Ergebnis ebenso Engelken (o. Fußn. 48), S. 468; a.A., aber ohne Begründung, Knitter (o. Fußn. 46), S. 208. 57 Vgl. nur BVerfGE 71, 25 (37) m. w. N. 58 Zu den damit verbundenen Abgrenzungsschwierigkeiten K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, Rdnr. 192. 59 Zum Zusammenhang zwischen Kompetenzen und Selbstverwaltung auch BVerfGE 112, 216 (221) (Gewerbesteuerrecht); zur alten Fassung des Art. 84 GG ablehnend BVerfGE 119, 331 (358) (Arbeitsgemeinschaften des SGB II), wo aber eine andere Einschätzung nach der Reform angedeutet wird, vgl. auch P. M. Huber, Das Verbot der Mischverwaltung – de constitutione lata et ferenda, DÖV 2008, S. 845 (849). 60 So aber G. Henneke, Durch Bundesgesetz dürfen Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben nicht übertragen werden, NdsVBl. 2007, S. 57 (66). 61 Ohne dass es darauf ankäme, ob diese Kompetenz auf Art. 125a GG selbst oder die früher geltenden Kompetenzbestimmungen gestützt werden kann, vgl. dazu H. A. Wolff, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (o. Fußn. 24), Bd. 3, Art. 125a Rdnr. 23.

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ser Befugnis kommt die Verantwortung zum Ausdruck, nicht nur weiterhin für eine ordnungsgemäße Implementierung der bestehenden Vorschriften, sondern – insbesondere bei Sozialleistungsgesetzen – auch für eine Anpassung an geänderte Verhältnisse zu sorgen. Da andererseits die Kompetenz des Bundes Übergangscharakter hat, lässt sich für deren Reichweite die Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 125a Abs. 2 GG62 fruchtbar machen.63 Im Ergebnis sind alle erheblichen Aufgabenerweiterungen zu Lasten der Kommunen durch Bundesgesetz verboten,64 seien sie quantitativer65 oder qualitativer Natur. Das erfasst die Einfügung neuer Leistungen auf Kosten der Kommunen, wenn diese nicht nur eine Anpassung bestehender Leistungen darstellt, ferner die Einführung von Leistungen für neue Personenkreise und von neuen Formen der Leistungsgewährung. Auch darf der Bund, der im Gesetzgebungsverfahren eine Kostenfolgeabschätzung vornehmen muss, nicht ohne Rückübertragung der Zuständigkeit auf die Länder solche Gesetzesänderungen vornehmen, mit denen die Kosten für die Aufgabenerledigung in erheblichem Maße steigen. Dem Bund bleibt aber eine Möglichkeit, dieser Beschränkung seiner Kompetenzen zu entgehen. Er kann nämlich zur Gänze auf eine Zuständigkeitsregelung in Sozialleistungsgesetzen verzichten bzw. bestehende Zuständigkeitsvorschriften streichen. Er ist dann nicht mehr durch die Aufgabenübertragungsverbote daran gehindert, materielle Änderungen entsprechender Gesetze vorzunehmen. Von dieser Lösung hat er für die Kinder- und Jugendhilfe Gebrauch gemacht.66 Ein entsprechender Verzicht auf die Bestimmung der Zuständigkeit vermeidet die aus den Aufgabenübertragungsverboten folgende Kompetenzbeschränkung des Bundes auch dann, wenn Änderungen die Aufgaben betreffen, die herkömmlich von den Kommunen wahrgenommen werden. Art. 84 Abs. 1 S. 7 und 85 Abs. 1 S. 2 GG setzen einen formalen Zusammenhang zwischen Aufgabenübertragung und Zuständigkeitsregelung voraus. Zum einen würden anderenfalls die bestehenden Gesetze versteinern, was besonders, aber nicht nur, in der Sozialpolitik nicht akzeptabel wäre. Zum anderen 62 BVerfGE 111, 10 (31) (Ladenöffnung an Sonn- und Feiertagen); E 112, 226 (250) (Studiengebühren). 63 Näher dazu Becker (o. Fußn. 19), S. 44 ff.; vgl. auch Knitter (o. Fußn. 46), S. 147 ff.; a.A. Pieroth/Meßmann, (o. Fußn. 49), S. 9, 44 ff.; K. Engelken, Zustimmungspflichten bei Bundesgesetzen auf ihren Kern zurückgeführt, BayVBl. 2011, S. 65 (71). 64 Zu einer ausführlichen Begründung Becker (o. Fußn. 19), S. 47 ff. Im Ergebnis ähnlich A. Dittmann, in: Sachs (o. Fußn. 46), Art. 84 Rdnr. 13: Aufgabenerweiterungsverbot, wenn „die materiell-rechtliche bestehender Aufgaben diesen eine wesentlich andere Bedeutung und Tragweite verleiht und die Kommunen entsprechend stärker administrativ und finanziell belastet“; H. Trute, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (o. Fußn. 24), Art. 84 Rdnr. 57: verboten seien „alle Regelungen, die die Zuständigkeit … für eine bestimmte Aufgabe erzeugen oder inhaltlich ändern“; T. Groß, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 4, Stand IV/2007, Art. 84 Rdnr. 22: verboten sei eine „wesentliche Erweiterung“ einer bereits übertragenen Aufgabe. Enger und gegen ein Verbot quantitativer Änderungen C. M. Maiwald, in: Schmidt/Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf (o. Fußn. 15), Art. 125a Rdnr. 3. 65 In diese Richtung deutend, allerdings im Zusammenhang mit Art. 87d Abs. 2 GG, auch BVerfGE 126, 77(105) (Luftsicherheitsgesetz). 66 Mit dem Kinderförderungsgesetz (KiföG) v. 10. 12. 2008 (BGBl. I, 2403).

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zeigen die zuvor dargestellten Zusammenhänge, dass die Aufgabenübertragungsverbote in einem unlösbaren Zusammenhang mit der Finanzierung der Aufgabenwahrnehmung stehen. Der Bund soll nicht anordnen können, was er nicht – jedenfalls nicht zwangsläufig – zahlen muss. Regeln die Länder kommunale Zuständigkeiten, so betrifft das hingegen grundsätzlich auch die ihnen im Bundesstaat zukommende Verantwortung für eine ausreichende finanzielle Ausstattung der Kommunen. Sie werden im Verhältnis zum Bund durch das Zustimmungserfordernis in Art. 104a Abs. 4 GG geschützt. Ob damit schon alle Probleme gelöst sind,67 hängt aber von den finanzverfassungsrechtlichen Vorgaben für Bund und Länder und den landesrechtlichen Garantien für die kommunale Finanzausstattung ab. IV. Zur Finanzierung sozialstaatlicher kommunaler Aufgaben 1. Grundsätze a) Kommunen besitzen zwar mit ihren Steuern, vor allem der Grund- und Gewerbesteuer,68 sowie den Beitrags- und Gebühreneinnahmen selbst regelbare Einnahmequellen, bleiben aber zu einem großen Teil auf staatliche Finanzmittel angewiesen. Dazu gehören ihre Anteile an staatlichen Steuern.69 Das wichtigste Instrument zur Verteilung der Mittel stellen die kommunalen Finanzausgleiche dar. Mit ihnen wird Geld aus Steuerverbünden und dem Landeshaushalt auf die Kommunen sowie im Wege der interkommunalen Umlagen auch zwischen kommunalen Ebenen verteilt, wobei neben dem fiskalischen Ziel der Sicherung finanzieller Leistungsfähigkeit auch Ausgleichseffekte erzielt werden sollen. Die Gewährleistung einer ausreichenden finanziellen Ausstattung der Kommunen70 ist eine verfassungsrechtliche Verpflichtung der Länder. Zwar erkennt nun auch das Grundgesetz die Bedeutung der Finanzausstattung an. Seit 1994 wird in Art. 28 Abs. 2 S. 3, 1. HS GG der Zusammenhang zwischen der Selbstverwaltungsgarantie und den „Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung“ hervorgehoben. Damit wird den Kommunen eine auch im Rahmen der Finanzverfassung zu beach-

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So Korioth (o. Fußn. 52), S. 508. Art. 106 Abs. 6 GG; zur Gewerbesteuer BVerfGE 120, 1, zur Grundsteuer BVerfG, NJW 2009, S. 1868; daneben können örtliche Aufwand- und Verbrauchsteuern erhoben werden, dazu BVerfGE 65, 25; BVerfG, NVwZ 2010, S. 1022 (Zweitwohnungssteuern). 69 Vgl. Art. 106 Abs. 5, 5a und 7 GG i.V.m. dem Gemeindereformgesetz i. d. F. v. 10. 3. 2009 (BGBl. I, 502) und dem Finanzausgleichsgesetz v. 20. 12. 2001 (BGBl. I, S. 3955); zur Verteilung der Einkommensteuer und der Selbstverwaltungsgarantie BVerfGE 71, 25. Art. 106 GG lässt die Gemeinden zugleich zu einer eigenen, mit „Ertragshoheit ausgestatteten Ebene“ werden, so T. M. Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 106 (1978), Rdnr. 77, mit dem Schluss auf eine „Mitverantwortung“ des Bundes (Rdnr. 80 ff.). 70 Dazu BVerwGE 106, 280, 287. Vgl. auch Überblick bei R. Laier, Der kommunale Finanzausgleich, 2008, S. 65 f. 68

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tende Stellung eingeräumt.71 Jedoch folgt daraus keine Finanzierungsverantwortung des Bundes. Sie würde zu der föderalen Trennung der Verfassungsräume von Bund und Ländern nicht passen.72 Deshalb haben sich weiterhin die Länder um die kommunalen Haushalte zu kümmern. Das folgt aus Vorschriften der Landesverfassungen und entspricht der Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte.73 Diese Verpflichtung kann auch erfordern, im Rahmen des Finanzausgleichs auf Länderebene eine Zunahme kommunaler Aufgaben zu berücksichtigen.74 Das gilt selbst dann, wenn Aufgabenerweiterungen auf Bundesrecht zurückzuführen sind.75 Allerdings folgt aus diesen, aus der Selbstverwaltungsgarantie ableitbaren Grundsätzen immer nur ein Anspruch auf eine finanzielle Mindestausstattung.76 Hingegen muss nicht jede Aufgabenerweiterung mit einer Überweisung neuer finanzieller Mittel verbunden werden.77 Die Verpflichtung zu einer solchen Gegenrechnung bedarf vielmehr einer gesonderten rechtlichen Grundlage. b) Eine aufgabenbezogene Übernahme von Ausgaben kann, wenn auch im Umweg über die Länder,78 durch den Bund erfolgen. Denn ausnahmsweise und in Abweichung von der in Art. 104a Abs. 1 GG vorgesehenen Konnexität zwischen Aufgaben- und Ausgabenverantwortung darf auch dieser Kosten tragen, die mit der Verwaltungstätigkeit von Landesbehörden verbunden sind. Das gilt, bezogen auf das Sozialrecht, für Zuschüsse zu den Sozialversicherungen nach Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG und vor allem für Geldleistungen im Sinne von Art. 104a Abs. 3 GG. Die Kostentragung bezieht sich, anders als beim Finanzausgleich i. e. S., auf die Deckung des mit der Erfüllung bestimmter Aufgaben verbundenen Aufwands, auf die Zweckausgaben.79 Davon werden aber nicht die Verwaltungsausgaben berührt, für die mit Art. 104a Abs. 5 GG eine besondere Lastenverteilungsregel gilt. Ausnahmen davon bedürfen einer ausdrücklichen Zulassung,80 was neuerdings zu71 Vgl. BVerfGE 101, 158, 230 (Finanzausgleich): „Diese gestärkte finanzwirtschaftliche Unabhängigkeit und Verselbständigung der Kommunen modifiziert die bisherige Zweistufigkeit der Finanzverfassung.“ 72 Zur weiter bestehenden Zweistufigkeit der Finanzverfassung C. Waldhoff, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: HStR Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 116 Rdnr. 18. 73 Vgl. etwa StGHBW, ESVGH 49, 242; BayVerfGH, E 60, 184; LVerfG M-V, E 17, 297, 318; Nds. StGH, E 3, 136, 164; VerfGH NRW, NWVBl. 2008, 223 ff.; VerfGH Rhld.-Pf., AS RP-SL 29, 75, 82; VGH Saarl., AS RP-SL 34, 1 ff.; Thür.VerfGH, ThürVGRspr 2005, 233. 74 Vgl. VerfGH NRW, OVGE 43, 216. 75 Dazu jetzt im Zusammenhang mit bundesrechtlich veranlassten Sozialausgaben VerfGH Rhld.-Pf. v. 14. 2. 2012, VGH N 3/11. 76 Zu Bayern BayVerfGH, VerfGH 60, 184. 77 Vgl. zum bayerischen Verfassungsrecht nur H. A. Wolff, in: Lindner/Möstl/ders., Verfassung des Freistaats Bayern, 2009, Art. 83 Rdnr. 100. 78 Dazu S. Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 41 ff. 79 Dazu H. v. Arnim, Finanzzuständigkeit, in: HStR Bd. VI, 3. Aufl. 2008, § 138 Rdnr. 20. 80 Wobei die Spezialität des Art. 104a Abs. 5 GG gegenüber anderen Artikeln des GG, insbesondere Art. 91a ff, 104b und 120 GG, fraglich ist, vgl. dazu nur J. Hellermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (o. Fußn. 24), Art. 104a Rdnr. 141 m. w. N.

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gunsten der sog. Optionskommunen bei der Verwaltung des SGB II nach Art. 91e Abs. 2 S. 2 GG vorgesehen ist. Seit der Föderalismusreform I kann der Bund neben den Gemeinschaftsaufgaben in Art. 91a ff. GG auch Investitionen in den Ländern über Art. 104b GG fördern.81 Entsprechende Finanzhilfen sind u. a. im Zukunftsinvestitionsgesetz82 vorgesehen und beziehen sich auch auf die Förderung von Krankenhäusern und von Einrichtungen der frühkindlichen Infrastruktur.83 Selbst wenn diese Hilfen vor allem den Kommunen zugutekommen sollen,84 bleibt es doch insofern bei dem Grundsatz, dass Finanzmittel nicht direkt vom Bund an Gemeinden und Landkreise geleitet werden dürfen.85 Die zuletzt genannten Finanzhilfen sind zudem zwar nicht zur Deckung des allgemeinen Haushalts, wegen ihres Bezugs auf „besonders bedeutsame Investitionen“ aber auch nicht als Gegenleistung für einen Aufgabenzuwachs gedacht. Dafür kommt nur die Kostentragung nach Art. 104a Abs. 3 GG in Betracht. Tatsächlich hat sich der Bund darüber vor allem an neuen Sozialleistungen wie dem Erziehungsund dann dem Elterngeld86, der Grundsicherung für Arbeitsuchende87 und der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung88 beteiligt. Er ist dazu aber nur verfassungsrechtlich verpflichtet. Dementsprechend übernimmt er keineswegs alle von ihm veranlassten Kosten. Wann er das tut, folgt ferner keiner klar erkennbaren Linie, Begründungen für eine Übernahme sind nicht ohne Weiteres immer nachvollziehbar.89 Das ist offensichtlich nicht nur der jeweiligen Kassenlage geschuldet. Denn der Eindruck, es werde nach politischem Kalkül, wenn nicht gar nach jeweils bestehendem Erpressungspotential gehandelt, drängt sich durch besondere Begünstigungen einzelner Länder90 und die kürzlich erfolgten Verhandlungen im Zusammenhang 81 Ergänzt durch die Föderalismusreform II, vgl. zu den frühen Anwendungsproblemen H. Meyer/H. Freese, Konjunkturpaket II: Art. 104b GG als Ärgernis und Garant des Föderalismus, NVwZ 2009, S. 609 ff. Krit. zur Praxis der Finanzhilfen auf der Grundlage der früheren Bestimmung in Art. 104a Abs. 4 GG a.F. H. Siekmann, Finanzzuweisungen des Bundes an die Länder auf unklarer Kompetenzgrundlage, DÖV 2002, S. 629 (636 ff.). 82 ZuInvG v. 2. 3. 2009 (BGBl. I, 416, 428). 83 § 3 Abs. 1 Nr. 1 lit. a und Nr. 2 lit. a ZuInvG; zu der Überwachung durch den Bund § 6a ZuInvG und zu deren Grenzen BVerfGE 127, 165. 84 § 1 Abs. 3 ZuInvG. 85 Vgl. nur H. Kube, in: Epping/Hillgruber (Hrsg,), GG, 2009, Art.104b Rdnr. 3. Eine Ausnahme regelt Art. 106 Abs. 8 GG, die aber eine besondere Ausgabenveranlassung voraussetzt. 86 Früher § 11 BErzGG, jetzt § 12 Abs. 2 BEEG. 87 § 46 SGB II. 88 § 46a SGB XII. 89 So soll bei der Beteiligung an der Grundsicherung für Ältere die Unterhaltsverschonung der Angehörigen eine tragende Rolle spielen, jedoch steht die stark gewachsene und künftig wohl vollständige Kostenübernahme durch den Bund eher im Zusammenhang mit allgemeinen Kostenbelastungen durch gestiegene Sozialhilfeausgaben, vgl. nur die Stellungnahme der Bundesregierung unter: http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2011/10/2011 – 10 – 28-bund-entlastet-kommunen-bei-grundsicherung-im-alter.html. 90 Vgl. § 46 Abs. 5 S. 2 und 3 SGB II.

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mit dem Fiskalpakt91 geradezu auf. Soll aber die Finanzierungsverantwortung für Aufgabenerweiterungen nicht einer politischen Beliebigkeit ausgesetzt bleiben, bedarf es einer klaren Regel, die eine Verbindung herstellt. Zumindest im geltenden Recht92 kommen dafür nur die landesverfassungsrechtlichen Konnexitätsvorschriften in Betracht. 2. Landesverfassungsrechtliche Konnexität Entsprechende Vorschriften haben die Länder nach und nach93 in ihre Verfassungen aufgenommen. Sie verbinden eine Aufgabenübertragung an die Kommunen mit der Gewährung einer ausreichenden Finanzierung.94 Dabei wird im Grundsatz zwischen einer relativen Konnexität im Sinne einer allgemeinen Verpflichtung zur Kostentragung und einer absoluten oder strikten Konnexität im Sinne der Verpflichtung, die mit einer Aufgabenüberlagerung verbundenen Kosten auszugleichen, unterschieden.95 Hier muss nicht auf die einzelnen, zudem je nach Landesverfassung im Detail voneinander abweichenden Voraussetzungen für die Auslösung der Konnexitätsverpflichtung eines Landes eingegangen werden. Vielmehr interessiert nur, in welchem Zusammenhang diese zur bundesrechtlichen Regelung von Sozialleistungen stehen. Dabei sind drei verschiedene Fallkonstellationen zu unterscheiden.96 In der ersten hält der Bund an einer von ihm getroffenen Vorschrift, nach der die Kommunen die zuständigen Sozialleistungsträger sind, fest. Dann nehmen darauf bezogene Ausführungsgesetze die schon bestehende Aufgabenverteilung nur auf 91 In deren Zuge den Ländern eine Bundesbeteiligung an der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen versprochen worden ist, vgl. SZ v. 25. 6. 2012 (http://www.sueddeutsche. de/politik/zustimmung-der-kommunen-zum-fiskalpakt-verstoerendes-politik-geschacher-1. 1392351); demgegenüber hieß es in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage (BT-Drs. 16/808, S. 5) im Jahr 2006 noch: „Die Bundesregierung wird sich insbesondere Forderungen nach einer Umfinanzierung der Kosten der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen zulasten des Bundes nicht zu eigen machen.“ 92 Zur Ablehnung weitergehender, eine Finanzverantwortung durch Veranlassung auf das Verhältnis zwischen Bund und Gemeinden ausdehnender Reformvorschläge oben, III. 2. a). 93 Erste Regelung in Art. 71 Abs. 3 LV BW v. 11. 11. 1953; letzte Regelung Art. 57 Abs. 4 Nds. Verf., eingeführt durch Gesetz zur Änderung der Nds. Verf. und des Gesetzes über den Staatsgerichtshof v. 27. 1. 2006 (Nds. GVBl., S. 58), rückwirkend in Kraft getreten zum 1. 1. 2006. Eine chronologische Darstellung der Einführung von Konnexitätsregelungen in den Landesverfassungen findet sich bei G. Henneke, Die Kommunen in der Finanzverfassung des Bundes und der Länder, 4. Aufl. 2008, S. 139 ff. 94 Überblick über Regelungen und ihre Unterschiede im Detail bei T. Ammermann, Das Konnexitätsprinzip im kommunalen Finanzverfassungsrecht, 2007; K. Engelken, Das Konnexitätsprinzip im Landesverfassungsrecht, 2009. 95 Vgl. auch F. Lohse, Kommunale Aufgaben, kommunaler Finanzausgleich und Konnexitätsprinzip, 2005, S. 169. Zu einer strikten Konnexität verpflichten: Art. 71 Abs. 3 LV BW; Art. 83 Abs. 3 BV; Art. 97 Abs. 3 Brdbg. Verf.; Art. 72 Abs. 3 Verf. M-V; Art. 57 Abs. 4 Nds. Verf.; Art. 78 Abs. 3 Verf. NW; Art. 49 Abs. 5 Verf. Rhld.-Pf.; Art. 85 Abs. 2 Sächs. Verf.; Art. 49 Abs. 2 Verf. S-H. Zur Verpflichtung auf einen „angemessenen Ausgleich“ Art. 87 Abs. 3 Verf. SA und Art. 93 Abs. 1 S. 2 Thür. Verf. 96 Näher dazu Becker (o. Fußn. 19), S. 61 ff.

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und schaffen keine eigenständige Verpflichtung der Kommunen. Der Bund darf aber nach den vorstehenden Ausführungen deren Aufgaben nicht erheblich erweitern, Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG schafft einen ausreichenden Schutz. Wenn hingegen der Bund die schon angesprochene Möglichkeit nutzt, die Zuständigkeiten durch Streichung der entsprechenden Vorschriften freizugeben,97 fällt der grundgesetzliche Schutz aus. Stattdessen können nun landesrechtliche Vorschriften eine eigenständige Bedeutung erlangen.98 Das gilt jedenfalls dann, und das ist die zweite Fallkonstellation, wenn das Land nach der Freigabe der Zuständigkeitsregelung die Kommunen zur Ausführung der Sozialleistungsgesetze bestimmt. Erfolgt eine solche Bestimmung im Zusammenhang mit der bundesrechtlichen Änderung, stellt sie eine Aufgabenübertragung dar.99 Richtigerweise ist dieser Zusammenhang aber nicht entscheidend: Denn es kommt nicht auf die Veranlassung an, sondern nur darauf, ob das Land durch eine ihm zuzurechnende Handlung die Verpflichtung der Kommunen zur Aufgabenwahrnehmung begründet.100 Noch schwieriger und zugleich in der Praxis wichtiger ist die dritte Fallkonstellation: Was soll gelten, wenn das Land ein Ausführungsgesetz, das die Zuständigkeit der Kommunen nur bestätigt hat, unverändert bestehen lässt? Das kann sich auf Aufgabenerweiterungen beziehen, die unmittelbar mit der Streichung der Zuständigkeitsvorschrift durch den Bund verbunden werden. Es kann aber auch später noch relevant werden, wenn nämlich der Bund erst nach dieser Streichung die Sozialleistungsgesetze ändert. Insbesondere ist denkbar, dass der Bund mit Zustimmung der Länder zunächst die bundesrechtliche Zuständigkeitsbestimmung aufhebt, die Länder daraufhin ihre Ausführungsgesetze ändern und erst in einem weiteren Schritt durch den Bund – wiederum unter Zustimmung der Länder – Aufgabenerweiterungen vorgesehen werden. In dieser Konstellation kann die neue Belastung der Kommunen dem Land nicht schon aufgrund eigenen gesetzgeberischen Handelns zugerechnet werden ist. Es wird allerdings vorgeschlagen, die Zurechnung einer bundesrechtlichen Aufgabenerweiterung zum Land auf dessen Verhalten im Bundesrat zu stützen.101 Dann müsste aber nicht nur zwischen zustimmenden und nicht zustim97

Vgl. oben, III. 2. b). Zu den Folgen auch K. Engelken, Wenn der Bund seine alten Aufgabenzuweisungen an Kommunen aufhebt, DÖV 2011, S. 745 (746 ff.). 99 So entschieden für NRW durch den VerfGH NRW v. 12. 10. 2010, 12/09, Rdnr. 66 ff. 100 Auch als Verursacherprinzip bezeichnet, so J. Ziekow, Die Anwendung landesverfassungsrechtlicher Konnexitätsprinzipien bei bundes- oder gemeinschaftsrechtlichen Beeinflussungen des Bestandes kommunaler Aufgaben, DÖV 2006, S. 489 (491); im Zusammenhang mit dem bayerischen Verfassungsrecht, aber ebenfalls mit grundsätzlichen Überlegungen P. M. Huber/F. Wollenschläger, Durchgriffsverbot und landesverfassungsrechtliches Konnexitätsgebot – Das Beispiel des KiföG –, VerwArch. 100 (2009), S. 305 (320 ff.). 101 Mit dem Argument, zumindest im Fall einer Zustimmung des Bundesrats zu dem aufgabenerweiternden Bundesgesetz auf der Grundlage des Art. 104a Abs. 4 GG hätten es die Länder in der Hand, die Kommunen vor einer zusätzlichen Aufgabenbelastung zu schützen, so G. Henneke, Wer der Bestellung zustimmt, muss sie adressieren und bezahlen, DVBl. 2011, S. 125 ff. 98

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menden Ländern unterschieden werden.102 Vor allem bliebe bei diesem Ansatz auch die im Grundgesetz angelegte Unterscheidung zwischen der Aufgabe des Bundesrats als Bundesorgan und derjenigen der Länder als für den Verwaltungsvollzug verantwortliche staatliche Ebene außer Acht.103 Wenig weiter hilft auch eine aus dem landesverfassungsrechtlichen Konnexitätsprinzip fließende Pflicht der Landesregierungen, sich im Bundesrat für eine Verwirklichung des Konnexitätsprinzips einzusetzen.104 Denn diese bleibt zu unbestimmt für die Ableitung einer rechtlichen Ergebnisverantwortung.105 Anzusetzen ist nicht am Verhalten im Bundesrat, sondern an dem des Landesgesetzgebers. Die vorgeschlagenen argumentativen Umwege sind deshalb nicht weiterführend, aber auch nicht nötig. Länder übernehmen eine rechtliche Verantwortung für die Aufgabenerweiterungen, die zu Lasten von Kommen in Bundesgesetzen getroffen worden sind, wenn sie eine einmal landesrechtlich begründete Zuständigkeit der Kommunen beibehalten. Auf diese Weise nimmt der Landesgesetzgeber die zunächst durch den Bund verursachte Aufgabenbelastung der Kommunen in seinen Willen auf und begründet so eine eigene Zurechnung.106 Das ist eine systematische Auslegung des Landesverfassungsrechts, die an der föderalen Ordnung orientiert ist und unter dem Vorbehalt steht, dass die einschlägigen Vorschriften im Land eine entsprechende Auslegung nicht ausschließen. Sie knüpft an ein Unterlassen an. Dessen rechtliche Relevanz folgt nicht nur daraus, dass die Länder eine anderweitige Zuständigkeitsregelung treffen und so die Kommunen entlasten könnten. Sie findet ihren Grund vor allem auch in einer die Funktionsfähigkeit sichernden Garantenpflicht der Länder gegenüber den Kommunen. V. Ausblick Das notwendige Zusammenspiel zwischen Bund und Ländern führt im deutschen Föderalismus, worauf Hans-Jürgen Papier in seinen Beiträgen zur bundesstaatlichen Ordnung und ihrer Reform immer wieder hingewiesen hat, zu Blockademöglichkeiten.107 Es erfordert politische Kompromisse, die sachgerechte Lösungen erschweren

102

Engelken (o. Fußn. 63), S. 713 (714). Näher Huber/Wollenschläger (o. Fußn. 100), S. 305 (322 f.). 104 W. Durner, Das Konnexitätsprinzip des Art. 83 Abs. 3 BV und das Abstimmungsverhalten der Staatsregierung im Bundesrat, BayVBl. 2007, S. 161 (162 f.). 105 So auch Huber/Wollenschläger (o. Fußn. 100), S. 305, 322 f. 106 So auch C. v. Kraack, Die Gretchenfrage „Konnexität“; NWVBl. 2011, S. 41 (46). A.A. mit dem Argument, es bedürfe einer aktiven Willensbildung auf Landesebene, G. Macht/ A. Scharrer, Landesverfassungsrechtliche Konnexitätsprinzipien und Föderalismusreform, DVBl. 2008, S. 1150 (1153 ff.). 107 Papier, Föderalismus auf dem Prüfstand, in: Hrbek/Eppler (Hrsg.), Deutschland vor der Föderalismus-Reform, 2003, S. 123, 128; ders. (o. Fußn. 28), S. 127 f.; zur Rolle des Bundesrats in diesem Zusammenhang ders. (o. Fußn. 25), S. 373 f. 103

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können.108 Nimmt man die dritte Ebene staatlicher Verwaltung mit in den Blick, kommt die Gefahr hinzu, dass die finanziellen Folgen gesetzgeberischen Handelns unbeachtet bleiben, wenn nicht gar verschleiert werden. Insofern sind aber ganz umgekehrt Transparenz und Übernahme der Verantwortung oberste Gebote. Die gegenwärtige Schuldenkrise unterstreicht das nachdrücklich. Helfen können die bestehenden, schrittweise in das Grundgesetz und die Landesverfassungen eingefügten Vorschriften – allerdings nur, wenn sie konsequent im Sinne einer klaren Zuordnung finanzieller Verantwortung ausgelegt werden und dabei das Zusammenspiel zwischen beiden nationalen Verfassungsebenen berücksichtigt wird. Die Ergebnisse mögen weit reichend sein, und für die Praxis auch unbequem. Sie alleine zwingen aber Bund und Länder dazu, die mit der Erfüllung sozialstaatlicher Aufgaben verbundenen Ausgaben in ihre Rechnungen künftig einzustellen. Zugleich ist das eine institutionelle Vorkehrung, die dem Sozialstaat hilft, seine wirtschaftlichen Grundlagen nicht zu vernachlässigen.

108 Vgl. den auf Sozialrechtsreformen bezogenen Hinweis auf „den schwerfälligen Prozess“ einer Einigung, der den Föderalismus „als Sand im Getriebe des politischen Systems erscheinen“ lässt, Papier (o. Fußn. 9), S. 611.

Die europäische Integration, die Wurst und das Bundesverfassungsgericht Anmerkungen zur Debatte um eine integrationsbedingte Ablösung des Grundgesetzes Von Wolfgang Durner I. Die aktuelle Diskussion um eine integrationsbedingte Ablösung des Grundgesetzes Über Jahrzehnte galt das ursprünglich als Provisorium konzipierte Bonner Grundgesetz als zentrales identitätsstiftendes Element der deutschen Nachkriegszeit.1 Aus Anlass des 60-jährigen Bestehens der Bundesrepublik würdigte insbesondere auch der Deutsche Bundestag das Grundgesetz als „ausgesprochene Erfolgsgeschichte“. Nur ganz vereinzelt wurde eine Totalrevision erwogen, im Übrigen jedoch der evolutionäre Weg einer schrittweisen Weiterentwicklung durch einzelne Verfassungsänderungen präferiert.2 In seinen Grundparametern hingegen schien das Grundgesetz zu einem wesentlichen Baustein des gesamtdeutschen Selbstverständnisses avanciert zu sein.3 Diese Bewertung des Grundgesetzes – oder vielleicht eher die Bewertung der Interpretation einiger seiner zentralen Vorschriften durch das Bundesverfassungsgericht – hat sich im Laufe der Jahre 2011 und 2012 in kurzer Zeit auf dramatische Weise verschoben: Als vorläufigen Gipfelpunkt dieser Entwicklung forderte – bemerkenswerterweise wenige Tage, nachdem das Bundesverfassungsgericht entschieden hatte, die Bundesregierung müsse das Parlament bei Verhandlungen zur EuroRettung frühzeitiger und umfassender informieren und damit ein weiteres Mal die Rechte des Bundestages gestärkt hatte4 – Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble im Sommer 2012 in einem Interview im Spiegel, Deutschland müsse als Konsequenz 1 Exemplarisch etwa die Darstellung bei M. Detjen/S. Detjen/M. Steinbeis, Die Deutschen und das Grundgesetz: Geschichte und Grenzen unserer Verfassung, 2009. 2 Diese Fragen hat der Verfasser teilweise bereits auf dem Symposium zum 65. Geburtstag von Hans-Jürgen Papier thematisiert, vgl. W. Durner, Die Idee der „Reform an Haupt und Gliedern“: Verfassungsreformen auf Bundesebene 1495 bis 2005, in: Durner/Peine (Hrsg.), Reform an Haupt und Gliedern. Verfassungsreform in Deutschland und Europa, 2009, S. 1 (16 ff.). 3 Näher dazu die Ausführungen bei G. Schaal/H. Vorländer/C. Ritzi, 60 Jahre Grundgesetz. Deutsche Identität im Spannungsfeld von Europäisierung und Regionalisierung, 2009. 4 BVerfG, NVwZ 2012, 954 ff.

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der Euro-Schuldenkrise „in wichtigen Politikbereichen mehr Kompetenzen nach Brüssel verlagern“ und mehr Souveränität an die Europäische Union und insbesondere an die Kommission abtreten. Dies erfordere gegebenenfalls die Ablösung des Grundgesetzes durch eine neue Verfassung. Diese Forderung verband Schäuble mit bemerkenswert konkreten zeitlichen Perspektiven. Früher habe er nicht damit gerechnet, dass es in fünf Jahren so weit sein werde: „Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.“5 Politiker fast aller großen Parteien schlossen sich in den folgenden Wochen diesem Vorstoß an. Schäuble stieß mit seinen Forderungen allerdings auch innerhalb der Bundesregierung auf Widerspruch. So erklärte Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen im Vorfeld der Entscheidung über den Rettungsschirm, die deutsche Europapolitik habe „den Rahmen des Grundgesetzes noch längst nicht ausgeschöpft“, denn das Grundgesetz beruhe auf dem „Auftrag“, ein „vereintes Europa“ zu schaffen.6 Im Sommer 2012 begann so die im Zuge der Euro-Krise entfachte Streitfrage einer Volksabstimmung über ein geändertes Grundgesetz an die Stelle des bisherigen verfassungspolitischen Grundkonsenses zu treten.7 Diese Positionen bildeten freilich nur den Widerhall einer verfassungspolitischen Debatte, die gut ein halbes Jahr zuvor durch zwei auch als Rechtswissenschaftler hochprominente Richter des Bundesverfassungsgerichts geführt worden war: Bereits im November 2011 hatte der amtierende Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle mehrfach erklärt, die verfassungsrechtliche abgesteckten Spielräume für die europäische Integration seien weitgehend ausgeschöpft, das Grundgesetz lasse der Politik daher nurmehr wenig Spielraum, um weitere Souveränitätsrechte an die Union abzutreten. Man könne nicht so tun, als ob „von der Wurst noch sehr viel da“ sei. Über die „letzte Scheibe Wurst“ wolle er nur ungern entscheiden. Voßkuhle hob stattdessen den Weg über Art. 146 GG hervor, der auf Grundlage einer Volksabstimmung die Schaffung eines „europäischen Bundesstaats“ ermögliche.8 Derart deutliche Empfehlungen stellen ein gewisses Novum in der öffentlichen rechtspolitischen Positionierung des Gerichts und seines Präsidenten dar; zwar hatte zuvor bereits das Bundesverfassungsgerichts selbst im Rahmen seiner Integra5 „Euro-Krise: Schäuble prophezeit baldiges Europa-Referendum“, Spiegel-Online v. 23. 06. 2012; vgl. auch: „Die Volksabstimmung wird kommen“, Zeit-Online v. 25. 6. 2012. 6 Verhandlung zur Euro-Rettung: „Das Grundgesetz lässt uns noch Spielraum“, Interview mit Ursula von der Leyen, Spiegel-Online v. 10. 07. 2012; vgl. auch: „Lammert sieht Volksentscheid nicht als zwingend an“, Zeit-Online v. 2. 7. 2012. 7 So der Bericht „Kontroverse um Volksabstimmung über geändertes Grundgesetz“ in Focus-Online v. 12. 08. 2012. 8 Wiedergegeben nach G. Bannas, Gesetzgebung und rechtsprechende Gesetzgeber, Süddeutsche Zeitung v. 18. 11. 2011, S. 7; vgl. auch „Im Gespräch: Andreas Voßkuhle: Mehr Europa lässt das Grundgesetz kaum zu“, FAZ-Net v. 25. 09. 2011: „Für eine Abgabe weiterer Kernkompetenzen an die Europäische Union dürfte nicht mehr viel Spielraum bestehen. Wollte man diese Grenze überschreiten, was politisch ja durchaus richtig und gewollt sein kann, müsste Deutschland sich eine neue Verfassung geben. Dafür wäre ein Volksentscheid nötig. Ohne das Volk geht es nicht!“, und ähnlich: Interview mit Andreas Voßkuhle: Europäischer Bundesstaat erfordert Volksabstimmung, EuZW 2011, 814 ff.

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tionsrechtsprechung mehrfach auf die Möglichkeit hingewiesen, den Schritt zur europäischen Einigung gegebenenfalls über Art. 146 GG zu beschreiten; so erklärte das Gericht in seinem – insoweit freilich nicht widerspruchsfreien – Lissabon-Urteil, Art. 146 GG bestätige „[…] das vorverfassungsrechtliche Recht, sich eine Verfassung zu geben, aus der die verfasste Gewalt hervorgeht und an die sie gebunden ist“, und es sei auch im Rahmen der europäischen Integration „[…] allein die verfassungsgebende Gewalt, die berechtigt ist, den durch das Grundgesetz verfassten Staat freizugeben, nicht aber die verfasste Gewalt.“9 Dennoch gingen die Aussagen Voßkuhles über derart allgemeine Feststellungen klar hinaus und mögen zumindest von Teilen der Politik geradezu als Aufforderung verstanden worden sein, die Weichen für eine verfassungsrechtliche Neuordnung zu stellen, zumal auch sein Senatskollege Peter-Michael Huber fast zeitgleich Vorbehalte gegen eine Stärkung der Wirtschaftskompetenzen der Kommission geäußert hatte.10 Deutlicher Widerspruch in kaum weniger konturierten Formulierungen kam freilich umgehend von dem früheren Verfassungsgerichtspräsidenten Hans-Jürgen-Papier: In einem unmittelbar an Voßkuhles Empfehlungen anschließenden Interview in der Süddeutschen Zeitung warnte Papier vor den „unabsehbaren Folgen“ der Bestrebungen, das „Ende des Grundgesetzes“ herbeizureden: Es sei „[…] nicht rational begründbar, weshalb alle bisherigen Schritte der europäischen Integration in Deutschland erlaubt gewesen sein sollen, warum aber jeder weitere die deutsche Souveränität aushöhlen sollte.“ Der Versuch, Deutschland im Zuge der Finanzkrise eine neue Verfassung zu geben, sei „abenteuerlich“ und gefährde „[…] die Stabilität Deutschlands, die wesentlich auf dem bewährten Grundgesetz beruht.“11 Wie erklärt sich diese massiv unterschiedliche Einschätzung der Integrationsgrenzen des Grundgesetzes durch zwei Präsidenten ein und desselben Gerichts? II. Art. 146 GG als Weg zur Überwindung der Integrationsschranken des GG? Die Diskussion um die Option einer integrationsbedingten Ablösung des Grundgesetzes sollte nicht auf die Frage reduziert werden, ob das Wurstende der Integrationsgrenzen des Grundgesetzes auf einmal tatsächlich erreicht ist. Mit gleicher Berechtigung lässt sich auch hinterfragen, ob der empfohlene Weg über Art. 146 GG in der Sache überhaupt zusätzliche verfassungspolitische Gestaltungsspielräume eröff9 BVerfGE 123, 267 (332); diese Position ist auch im Schrifttum weit verbreitet, vgl. etwa A. von Campenhausen/P. Unruh, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Kommentar, 6. Aufl. 2010, Art. 146 Rdnr. 16 m. w. N.: „Das Aufgehen Deutschlands in einem europäischen Bundesstaat unter Verlust der eigenen Staatlichkeit […] bedürfte einer entsprechenden Verfassungsablösung nach Maßgabe des Art. 146 n. F.“. 10 Verfassungsrichter Huber im SZ-Gespräch „Eine europäische Wirtschaftsregierung ist heikel“, Süddeutsche Zeitung v. 18. 09. 2011. 11 Im Gespräch: Hans Jürgen Papier, „Nicht das Ende des Grundgesetzes herbeireden“, Süddeutsche Zeitung v. 18. 11. 2011, S. 7.

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net oder gar die „legale Abschaffung des Grundgesetzes“12 ermöglicht. Nach vermutlich vorherrschender Rechtsauffassung autorisiert nämlich auch der heutige in Bindung an Art. 79 GG geschaffene Art. 146 GG die Ablösung des Grundgesetzes durch eine neue Verfassung nur innerhalb der Grenzen des Art 79 Abs. 3 GG.13 Das Bundesverfassungsgericht selbst hatte im Lissabon-Urteil die entsprechende These in den Raum gestellt – dann aber offen gelassen –, die Garantie der „souveränen Staatlichkeit Deutschlands“ gelte gegebenenfalls „[…] sogar für die verfassungsgebende Gewalt […], also für den Fall, dass das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung, aber in einer Legalitätskontinuität zur Herrschaftsordnung des Grundgesetzes sich eine neue Verfassung gibt“.14 Träfe diese kontrovers diskutierte These zu, so müsste eine Ersetzung des Grundgesetzes nach Art. 146 auf exakt dieselben materiellen Integrationsgrenzen stoßen, die sich auch für Verfassungsänderungen nach Art. 79 GG ergeben. Hinzu tritt die verfahrensrechtliche Einschränkung, dass Art. 146 GG nach vorherrschender Sicht als Anerkennung der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes keine Option darstellt, von der Bundestag oder Bundesregierung als Teil der verfassten Gewalt Gebrauch machen dürften; die Initiative zu einer Ablösung des Grundgesetzes dürfe vielmehr allein vom Volk ausgehen.15 Zwar müsste in einem solchen Verfassungsgebungsprozess wohl wiederum den politischen Parteien eine Schlüsselrolle zukommen; jedenfalls aber könnte ein solches Verfahren schwerlich durch eine auf Grundlage der Verfassung konstituierte Bundesregierung eingeleitet werden, die sich aus konkretem Anlass der Bindungen der grundgesetzlichen Integrationsgrenzen entledigen will. Ebensowenig dürfen entsprechende Initiativen freilich aktiv vom Bundesverfassungsgericht ausgehen.16 All diese Unwägbarkeiten lassen den empfohlenen Weg über Art. 146 GG als weniger empfehlenswert erscheinen, als dies in der derzeitigen verfassungspolitischen 12 So die bewusst provozierende Formulierung bei T. Herbst, Legale Abschaffung des Grundgesetzes nach Art. 146 GG?, ZRP 2012, 33. 13 So etwa Herbst (o. Fußn. 12), 34 f.; J. Isensee, Die Normativität des Grundgesetzes, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 166 Rdnr. 60 ff.; R. Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Kommentar, Art. 146 (1991) Rdnr. 19 ff.; M. Kirn, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Kommentar, 6. Aufl. 2012, Art. 146 Rdnr. 19, der dies als „h.L.“ bezeichnet; die Gegenauffassung vertreten indes z. B. von Campenhausen/Unruh (o. Fußn. 9), Art. 146 Rdnr. 21; H. Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig?, 2009, S. 82 und 90; P. M. Huber, in: Sachs (Hrsg.), GG, Kommentar, 6. Aufl. 2011, Art. 146 Rdnr. 11 ff.; vgl. dazu auch M. Herdegen, in: Maunz/Dürig (diese Fußn.), Art. 79 (2007) Rdnr. 86. 14 BVerfGE 123, 267 (343). Vgl. zudem ebenda auf S. 349: „Nach Maßgabe der Integrationsermächtigung des Art. 23 Abs. 1 GG in Verbindung mit der Präambel, Art. 20, Art. 79 Abs. 3 und Art. 146 GG kann es für die europäische Unionsgewalt kein eigenständiges Legitimationssubjekt geben, das sich unabgeleitet von fremdem Willen und damit aus eigenem Recht gleichsam auf höherer Ebene verfassen könnte.“ 15 von Campenhausen/Unruh (o. Fußn. 9), Art. 146 Rdnr. 23; Huber (o. Fußn. 13), Art. 146 Rdnr. 15, m. w. N.; a. A. Kirn (o. Fußn. 13), Art. 146 Rdnr. 18. 16 So zu Recht M. Nettesheim, Wo „endet“ das Grundgesetz?, Der Staat 51 (2012), 313 (335).

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Diskussion, aber auch in den scheinbar großzügigen beiläufigen Hinweisen des Bundesverfassungsgerichts implizit angenommen wird. Sie sollten aber zugleich auch Anlass geben, die These von der nahezu kompletten Ausschöpfung der Integrationspotenziale des Grundgesetzes nochmals kritisch zu überdenken.17 III. Die Integrationsgrenzen des Art. 23 Abs. 1 GG Der Vorschlag einer integrationsbedingten Ablösung des Grundgesetzes steht in engem Zusammenhang mit der Position des Bundesverfassungsgerichts zu den Integrationsgrenzen des Grundgesetzes. Die Tragfähigkeit der umstrittenen SolangeRechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der Art. 79 Abs. 3 GG nicht nur binnenbezogene Schranken für den verfassungsändernden Gesetzgeber, sondern auch für die nach außen gerichtete Integrationspolitik aufstellt, ist zunächst nicht ohne Widerspruch geblieben.18 Gleichwohl darf diese Streitfrage durch den heutigen Europaartikel des Art. 23 Abs. 1 GG als entschieden gelten, der im Ausgangspunkt eine Kodifikation der Solange-I und II Rechtsprechung darstellt. Satz 1 dieser Bestimmung verpflichtet die Bundesrepublik zur Mitwirkung an der Entwicklung der Europäischen Union, die nach der sog. Struktursicherungsklausel des Halbsatzes 2 „[…] demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet.“ Er bekräftigt damit das Ziel einer europafreundlichen, integrationsoffenen Verfassungsordnung, das bereits in der Aussage der Präambel zum Ausdruck kommt, die gesamte Verfassungsgebung durch das deutsche Volk sei „[…] von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“.19 Satz 2 ermächtigt den Bund, hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte zu übertragen, Satz 3 schließlich erklärt für eine dementsprechende Begründung sowie für Änderungen der vertraglichen Grundlagen der Union und vergleichbare Regelungen Artikel 79 Abs. 2 und 3 GG für anwendbar. Insgesamt ist dieser Art. 23 GG zweifellos mehr als verfassungsrechtlicher Wegbereiter denn als Hindernis der europäischen Integration zu verstehen.20 Immerhin ist jedoch diese deutsche Integrationsermächtigung in der gleichzeitigen Betonung von 17

So bereits Herbst (o. Fußn. 12), 35; vgl. dazu auch in dieser Festschrift den Beitrag von M. Herdegen. 18 Vgl. etwa weiterhin T. Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozeß, 2003, S. 1409 ff. m. w. N.; H. Steiger, Staatlichkeit und Mitgliedstaatlichkeit – Deutsche staatliche Identität und Europäische Integration, EuR-Beiheft 2010/1, S. 57 (63 ff.). 19 Näher zur Funktion der Präambel E. Pache, Grundgesetz und Europa: Verfassungsrechtliche Vorgaben und Grenzen der Mitwirkung Deutschlands an der europäischen Integration, in: Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes, 2009, S. 137 (138 und 140 ff.). 20 So zu Recht Giegerich (o. Fußn. 18), 1423.

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Erwartungen an und Schranken gegenüber dem Integrationsprozess durchaus restriktiver formuliert als etwa die in mancher Hinsicht sehr ähnliche Parallelvorschrift des Art. 88 – 1 der französischen Verfassung. Deutlich erkennbar ist namentlich das Bestreben des verfassungsändernden Gesetzgebers, eine wirksame Kompetenzabgrenzung zwischen Union und Mitgliedstaaten sicherzustellen.21

IV. Absolute und relative Integrationsgrenzen in Art. 23 Abs. 1 GG Die im heutigen Art. 23 umrissenen Grenzen gehen auf die weichenstellende These im Solange I-Beschluss vom 29. Mai 1974 zurück, der damals einschlägige Art. 24 GG eröffne nicht den Weg, die Grundstruktur der Verfassung preiszugeben. Sowohl im Hinblick auf entsprechende Weiterentwicklung des Primärrechts als auch den Erlass von Sekundärrecht sei eine Entwicklung unzulässig, „[…] die die Identität der geltenden Verfassung der Bundesrepublik Deutschland durch Einbruch in die sie konstituierenden Strukturen aufheben würde.“ Ein derart „[…] unaufgebbares, zur Verfassungsstruktur des Grundgesetzes gehörendes Essentiale“ sei namentlich sein Grundrechtsteil, den zu relativieren „[…] Art. 24 GG nicht vorbehaltlos“ gestatte.22 Von den so umschriebenen materiellen Integrationsgrenzen zeichnet die anschauliche Metapher von der Wurst ein letztlich völlig statisches Bild. In der Logik dieses Bildes stellen die staatlichen Souveränitätsrechte eine quantifizierbare Größe dar, die zu einem gewissen Teil – in den Worten Voßkuhles bis zu einer bestimmten „Scheibe Wurst“ – an die Union übertragen werden können, ab der dann aber jede weitere Vertiefung der europäischen Einigung in einen Verlust der souveränen deutschen Staatlichkeit umschlagen müsste. In diesem Sinne ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch vielfach gedeutet worden, und auf dieser Grundlage wurde sogar argumentiert, bereits das bestehende Unionsrecht habe die durch Art. 23 GG umrissenen Integrationsgrenzen überschritten.23 Obwohl die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durchaus Ansatzpunkte für diese Lesart bietet, wird jenes statische Bild dem Ansatz des Gerichts insgesamt nur unvollkommen gerecht. Denn letztlich hat das Bundesverfassungsgericht nie in erster Linie auf quantitative Größen abgestellt, sondern die jeweiligen Integrationsgrenzen stets auch im Zusammenspiel mit der Entwicklung auf europäischer Ebene bestimmt. So relativierte bereits der Solange II-Beschluss vom 22. Oktober 1986 den grundrechtlichen Überprüfungsanspruch mit der Erwägung, mittlerweile habe sich ein dem Grundgesetz im Wesentlichen gleichzuachtender europäischer 21

Vgl. dazu besonders U. Leonardy, Der deutsche Verfassungsgesetzgeber als Schrittmacher Europas, in: ders. (Hrsg.), Europäische Kompetenzabgrenzung als deutsches Verfassungspostulat, 2003, S. 23 (36 ff.). 22 BVerfGE 37, 271 (279 f.). 23 S. Haack, Verlust der Staatlichkeit, 2007, S. 425 ff.

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Grundrechtsschutz herausgebildet.24 Der Bananenmarkt-Beschluss vom 7. Juni 2000 nahm dann die Tragweite des Grundrechtsvorbehalts der Solange-Entscheidungen dadurch nochmals zurück, dass die Zulässigkeit entsprechender verfassungsgerichtlicher Verfahren unter den Vorbehalt des Nachweises gestellt wurde, dass „[…] der jeweils als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz generell nicht gewährleistet ist.“25 Der entsprechende Kontrollanspruch wird seit dem Emissionshandels-Beschluss vom 13. März 2007 nur noch für das eher theoretische Szenario eines massiven Rückfalls des europäischen Schutzniveaus beansprucht.26 Entsprechendes gilt für das Demokratieprinzip, das mit dem Maastricht-Urteil vom 12. Oktober 1993 in das argumentative Zentrum rückte. Dieses verbiete über den nunmehr maßgeblichen Art. 23 GG, den demokratischen Willensbildungsprozess „[…] durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages so zu entleeren, dass das demokratische Prinzip, soweit es Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG für unantastbar erklärt, verletzt wird.“ Damit stehe das Demokratieprinzip zwar einer Mitgliedschaft der Bundesrepublik in der Gemeinschaft nicht entgegen; deren Hoheitsbefugnisse seien jedoch in erster Linie „[…] über die nationalen Parlamente demokratisch zu legitimieren“. Aus dieser Perspektive seien der Ausdehnung der Gemeinschaftsbefugnisse Grenzen gesetzt, da dem Bundestag „[…] Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben“ müssten.27 Auch im Zusammenhang dieser Argumentation wird indes die Grenze der zulässigen Übertragungen mehrfach als etwas Relatives umschrieben und gefordert, „[…] dass die demokratischen Grundlagen der Union schritthaltend mit der Integration ausgebaut werden und auch im Fortgang der Integration in den Mitgliedstaaten eine lebendige Demokratie erhalten bleibt.“28 Ähnliches gilt selbst für das kontrovers diskutierte Lissabon-Urteil vom 30. Juni 2009, nach dem sich die Integrationsermächtigung des Art. 23 GG auf „[…] eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten“ beschränken soll, „die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker […] der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben.“ Ansätze für eine strikte Übertragungsgrenze liefern hier namentlich die Aussagen zu bestimmten tendenziell integrationsfeste Vorbehaltsbereichen – namentlich das Strafrecht, Steuern, die Sozial- und Kulturpolitik sowie der Einsatz der Bundeswehr –, die ein Ausgreifen der europäischen Vereinigung verhindern, bei dem „[…] den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt“.29 Erneut ist jedoch 24

BVerfGE 73, 339 ff. BVerfGE 102, 147 (161 ff.). 26 BVerfGE 118, 79 (95 ff.). 27 BVerfGE 89, 155 ff. 28 BVerfGE 89, 155 (186). 29 BVerfGE 123, 267 ff. 25

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die durch diese Ausführungen umrissene Grenze offenbar keine rein statische: Vielmehr würden die durch das Demokratieprinzip abgesteckten Integrationsgrenzen dann überschritten, wenn sich „[…] im Entwicklungsverlauf der europäischen Integration ein Missverhältnis zwischen Art und Umfang der ausgeübten Hoheitsrechte und dem Maß demokratischer Legitimation einstellt“.30 Daher könne ein Abwandern von Befugnissen „[…] verfassungswidrig sein, wenn das demokratische Legitimationsniveau mit dem Umfang und dem Gewicht supranationaler Herrschaftsmacht nicht Schritt hält“.31 Auch die im Lissabon-Urteil identifizierten „relativ integrationsfesten Vorbehaltsbereiche“, die – wie etwa das Strafrecht – schon heute durch Ermächtigungen im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union zumindest in Teilbereichen vergemeinschaftet sind32, werden indes keineswegs für schlichtweg unantastbar erklärt; allerdings komme eine Vergemeinschaftung auf diesen Feldern nur bei nachweisbarem Koordinationsbedarf in Betracht. Zwar bleiben damit die Konsequenzen der Aufzählung ebensowenig greifbar33 wie das dahinter stehende Verbot einer staatsanalogen Aufgabenausstattung der Union;34 eine Tabuzone, wie sie das Bild von der „letzten Scheibe Wurst“ nahelegt, bilden jedoch auch diese Felder keineswegs, sie stehen vielmehr im Spannungsfeld eines „verflochtenen demokratischen Systems“.35 V. Anerkennung und Grenzen der Kompensationstheorie Durch diese ständige dynamische Neuinterpretation der zuvor markierten „roten Linien“ vermeidet das Gericht nicht nur den offenen Konflikt mit der Regierung und die Nagelprobe, ob die übrigen deutschen Verfassungsorgane im bislang nie eingetretenen Falle einer echten Beanstandung der Verletzung einer Integrationsgrenze die entsprechende Entscheidung wirklich respektieren würden, sondern knüpft zugleich dogmatisch an die im Schrifttum verbreitete Kompensationstheorie an, der zu Folge Beeinträchtigungen der Integrationsgrenzen des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG ihrerseits durch gegenläufige europäische Entwicklungen substituiert werden. Nach diesem Modell können in Anwendung des Kompensationsgedankens Kompetenz- und Strukturverluste auf nationaler Ebene einerseits durch entsprechende Instrumente auf Unionsebene sowie andererseits durch korrespondierende Mitwirkungs- und Be-

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BVerfGE 123, 267 (365); ähnlich bereits die Forderung im Maastricht-Urteil. BVerfGE 123, 267 (356 und 364). 32 Vgl. zu diesem grundlegenden Aspekt zuletzt besonders C Ohler, Herrschaft, Legitimation und Recht in der Europäischen Union – Anmerkungen zum Lissabon-Urteil des BVerfG, AöR 135 (2010), 153 (178). 33 Kritisch etwa F. Mayer, Die Lissabon-Entscheidung des BVerfG und das Strafrecht, NStZ 2009, S. 657 ff. 34 Vgl. bereits R. Scholz, in: Maunz/Dürig (o. Fußn. 13), Art. 23 (2009) Rdnr. 35. 35 Vgl. BVerfGE 123, 267 (371) und dazu in dieser Festschrift den Beitrag von J. Kersten. 31

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teiligungsrechte der Mitgliedstaaten ausgeglichen werden.36 Das Standardbeispiel hierfür bildet die Kompensation des Wegfalls der nationalen Grundrechtsgewährleistungen gegenüber europäischer Hoheitsgewalt durch die Herausbildung europäischer Grundrechtsstandards.37 Ebenso ist die durch das Bundesverfassungsgericht vorangetriebene Parlamentarisierung der Außen- und Europapolitik eine demokratische Funktionsverluste substituierende Konsequenz der zunehmenden Erosion der originär gesetzgeberischen Gestaltungsspielräume des Parlaments.38 Die grundsätzliche Möglichkeit einer solchen Kompensation ist mittlerweile weithin anerkannt. Wieweit dieser Gedankengang im Einzelnen trägt, ist jedoch ungewiss: Kann beispielsweise die sekundärrechtliche Abschaffung von Weisungsrechten der parlamentarischen Regierung gegenüber europäisierten nationalen Verwaltungen39 durch Weisungsrechte der Kommission kompensiert werden? Wieweit gleichen Überprüfungsrechte des europäischen Gerichtshofs den zunehmenden Kontrollverlust deutscher Gerichte gegenüber den Handlungen europäisierter Exekutiven aus?40 Könnte der Verlust von autonomen Gesetzgebungszuständigkeiten letzten Endes flächendeckend durch die Mitwirkung an der europäischen Gesetzgebung ausgeglichen werden? Würde – um den Gedanken auf die Spitze zu treiben – der Wegfall sämtlicher Garantien des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG durch einen gleichwertigen europäischen Verfassungsstaat aufgewogen werden? Und sind umgekehrt deutsche Entschädigungsleistungen eine geeignete verfassungsrechtliche Kompensation für Verkürzungen des gebotenen Vertrauensschutzes durch den Europäischen Gesetzgeber?41 Will man diese Fragen nicht einschränkungslos bejahen, so bedarf es der Entwicklung konkretisierender Kerngehalte des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG. In dieser Einsicht liegt wohl die eigentliche Berechtigung des Bildes von der „letzten Scheibe Wurst“. 36 So eingehend D. König, Die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses – Anwendungsbereich und Schranken des Art. 23 des Grundgesetzes, 2000, S. 523 ff. 37 So der Ansatz in BVerfGE 73, 339 ff.; vgl. dazu im Rückblick auch F. C. Mayer, Verfassungswandel durch Annäherung? Der Europäische Gerichtshof, das Bundesverfassungsgericht und das Grundgesetz, in: Hönnige/Kneip/Lorenz (Hrsg.), Verfassungswandel im Mehrebenensystem, 2011, S. 272 (293 f.). 38 F. Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, S. 289 m. w. N. 39 Vgl. dazu EuGH, EuZW 2010, 296 (298) Rdnr. 41 ff. mit der These, eine hinreichende Legitimation unabhängiger Behörden könne bereits durch die Bestellung des Leitungspersonals und über Rechenschaftsberichte sichergestellt werden. Kritisch dazu H. P. Bull, Die „völlig unabhängige“ Aufsichtsbehörde – Zum Urteil des EuGH vom 9. 3. 2010 in Sachen Datenschutzaufsicht, EuZW 2010, S. 488 ff.; vgl. auch W. Durner, Schutz der Verbraucher durch Regulierungsrecht, VVDStRL 70 (2011), S. 398 (405 f. und 436 f.). 40 Vgl. dazu J. Hofmann, Rechtsschutz und Haftung im Europäischen Verwaltungsverbund, in: Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der Europäische Verwaltungsverbund 2005, S. 353 (365 ff.). 41 So der Ansatz im sog. Mangold-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 126, 286 (313 f.).

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VI. Kompensationspotenziale auf europäischer Ebene Unabhängig von dieser Frage nach den im Rahmen der Kompensationstheorie maßgeblichen äußersten Grenzen ist jedoch zunächst festzustellen, dass zwar einerseits auf nationaler Ebene längst eine weitreichende Einbindung des Parlaments in die Europapolitik erzwungen wurde, andererseits jedoch das Potenzial rechtsstaatlich-demokratischer Verbesserungen auf der Ebene der Union bei weitem noch nicht ausgeschöpft ist. Das Beharren des Bundesverfassungsgerichts auf einer hinreichenden nationalstaatlichen demokratischen Legitimation beruht auf der Vorstellung, dass die Mitgliedstaaten die maßgeblichen Legitimationsleistungen solange werden erbringen müssen, als die europäische Demokratie an erheblichen Defiziten leidet.42 Mit der Betonung dieser tatsächlich vorhandenen Defizite und vor allem der proportionalen Benachteiligung des deutschen Wahlvolks gegenüber denen anderer Mitgliedstaaten mag das Bundesverfassungsgericht der mittlerweile bewirkten Legitimationsleistung des Europäischen Parlaments nicht immer gerecht werden.43 Freilich erkannte das Gericht im Maastricht-Urteil durchaus, dass die Legitimation durch das Europäische Parlament „[…] sich verstärken ließe, wenn es nach einem in allen Mitgliedstaaten übereinstimmenden Wahlrecht […] gewählt würde und sein Einfluss auf die Politik und Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaften wüchse“.44 Mit dieser Perspektive knüpft das Gericht an die Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 GG an, der Anforderungen und Erwartungen des Grundgesetzes an die Entwicklung der Rechts- und Verfassungsordnung der Union normiert. Ihrem Wortlaut nach stellt sie lediglich fest, dass die Union in Gleichlauf zu Art. 79 Abs. 3 GG demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet sei und zudem einen dem Grundgesetz vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleiste. Ihrem Sinn und Zweck nach soll die Norm jedoch Grenzen für die Zustimmungsund Mitwirkungshandlungen am Integrationsprozess normieren.45 Freilich sind diese an die Union gerichteten Integrationsgrenzen nach allgemeiner Auffassung flexibel und integrationsfreundlich zu handhaben,46 wie dies bereits den Vorstellungen des Verfassungsgebers entsprach.47 Mit der Verpflichtung zu den aufgezählten 42

Vgl. namentlich BVerfGE 89, 155 (LS 3); BVerfG, NJW 2011, 2946 (2948 f.). Vielbachtete Kritik etwa bei C. Möllers, Was ein Parlament ist, entscheiden die Richter, FAZ v. 16. 7. 2009, S. 27; vgl. weiter C. D. Classen, in: von Mangoldt/Klein/Starck (o. Fußn. 9), Art. 23 Rdnr. 25. 44 BVerfGE 89, 155 (186). 45 Zu diesen Motiven K. Schmalenbach, Der neue Europaartikel 23 des Grundgesetzes im Lichte der Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission, 1996, S. 58 ff. 46 So etwa König (o. Fußn. 36), 290 ff. („Homogenität der Wertvorstellungen“); Pache (o. Fußn. 19), 148 f.; R. Streinz, in: Sachs (o. Fußn. 13), Art. 23 Rdnr. 20 ff. m. w. N. und in der Sache ganz identisch BVerfGE 123, 266 (347); G. Lübbe-Wolff, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 246 (265 ff.) bezeichnet diese Einsicht zu Recht als „Gemeinplatz“. 47 Näher Schmalenbach (o. Fußn. 45), 59 f. 43

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„Grundsätzen“ fordert die Struktursicherungsklausel also gerade keine Parallelstrukturen zu den korrespondierenden Ausprägungen des Grundgesetzes, sondern funktionale Äquivalente zu den Formen der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, des Föderalismus und der Sozialstaatlichkeit, die in den Art. 2, 4, 5, 6 und 9 ff. des Unionsvertrags zumindest programmatisch weitestgehend erfüllt sind. So entspricht etwa die normative Verankerung des Sozialstaatsprinzips in Art. 3 Abs. 3 EUV und den Art. 151 ff. AEUV – bei allen Divergenzen in der jeweiligen Umsetzung48 – im Grundsatz ohne weiteres jener des Grundgesetzes.49 Ebenso vertritt das Bundesverfassungsgericht bereits seit Jahrzehnten die – freilich nicht unumstrittene50 – These, auf der Ebene der Union sei ein dem Grundgesetz „[…] im wesentlichen vergleichbarer Grundrechtsschutz“ gegeben.51 Allerdings hängt das durch Art. 23 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 GG normierte Anforderungsprofil entscheidend von dem jeweiligen Integrationsstand der Union ab: Denn in einem bloßen supranationalen Verbund haben die aufgezählten Strukturvorgaben von vornherein eine andere Funktion als in einem Bundesstaat. Aus diesem Grund wachsen beispielsweise die Anforderungen an die demokratische Legitimation der Unionsgewalt in dem Maße an, in dem weitere Hoheitsbefugnisse auf sie übertragen oder von bestehenden Gebrauch gemacht wird. Die Struktursicherungsklausel verbietet insoweit keineswegs nur eine Unterschreitung des einmal erreichten Niveaus, sondern fordert die Optimierung der demokratisch-rechtstaatlichen Strukturen der Union: Je enger sich die Union in ihren Handlungsmöglichkeiten einem Staat annähert, desto mehr müsste die Verwirklichung der in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 GG genannten Grundsätze dem Niveau eines voll ausgebildeten Verfassungsstaats entsprechen. Auf diesem Gedanken beruht die etwa im Lissabon-Urteil entwickelte Forderung nach einem dem jeweiligen Entwicklungsstadium angemessenen Verhältnis „[…] zwischen Art und Umfang der ausgeübten Hoheitsrechte und dem Maß demokratischer Legitimation“.52 Aus dieser Fernperspektive einer europäischen Staatsbildung erscheinen freilich zahlreiche Merkmale des geltenden Unionsverfassungsrechts unterentwickelt: Die Tatsache etwa, dass weder dem Europäischen Parlament noch dem Rat ein Gesetzesinitiativrecht eingeräumt ist, die Kommission hingegen selbst laufende Gesetzge48

Vgl. etwa die Bilanz bei W. Cremer, Negative und positive Integration: Die Europäische Gemeinschaft als Sozial- und Bildungsunion, EuR-Beiheft 2007/1, S. 75 ff. 49 Vgl. T. Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip im Europäischen Verfassungsverbund, 2003, S. 389 f. 50 Vgl. z. B. die Kritik bei J. Coppel/A. O’Neill, The European Court of Justice: Taking Rights Seriously?, CMLRev. 29 (1992), 669 ff.; S. Storr, Zur Bonität des Grundrechtsschutzes in der europäischen Union, Der Staat 36 (1997), 547 ff. 51 BVerfGE 73, 339 (378); BVerfGE 102, 147 (161 ff.) m. w. N. 52 BVerfGE 123, 267 (365); ähnlich bereits die Forderung im Maastricht-Urteil BVerfGE 89, 155 (186), „[…] daß die demokratischen Grundlagen der Union schritthaltend mit der Integration ausgebaut werden und auch im Fortgang der Integration in den Mitgliedstaaten eine lebendige Demokratie erhalten bleibt“.

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bungsverfahren noch durch Rücknahme ihres Vorschlags jederzeit zu Fall bringen kann, bildet geradezu das Musterbeispiel für die bislang bewusst in Kauf genommene Zurückstellung des demokratischen Prinzips zugunsten der Output-orientierten Effizienz des Integrationsprozesses.53 Unverändert sind für die bisherige europäische Integration eine deutliche Exekutivlastigkeit sämtlicher Entscheidungsprozesse und die bisweilen offen erklärte Bereitschaft prägend, im Interesse der Effizienz demokratische Abstriche hinzunehmen.54 Weitere konstitutionelle Negativposten bilden die unterentwickelte Verrechtlichung der immer stärker koordinierten Verwaltungsverbünde,55 die tendenziell weiterhin schwache Sicherung der Grundrechte gegen europäische Sekundärrechtsakte,56 vor allem jedoch die erhebliche Beschneidung des Prinzips der Wahlgleichheit der Unionsbürger und die damit verbundene doppelte Bevorzugung kleiner Mitgliedstaaten nicht nur im Rat, sondern auch im Parlament.57 Gerade das wie einst im Dreiklassenwahlrecht verzerrte Stimmgewicht entwertet zwar die durch das Europäische Parlament vermittelte Legitimation keineswegs, setzt ihr jedoch unweigerlich Grenzen und wäre auf einem „staatsanalogen Niveau“58 unannehmbar. So bedarf die europäische Demokratie im Zuge der weiteren Integration einer deutlichen Stärkung und bis auf weiteres einer maßgeblichen Legitimationsvermittlung durch die nationalen Parlamente. Grundlegende Aufgabenzugewinne werden daher künftig mit Verbesserungen des europäischen Wahlrechts einhergehen müssen.59 Für weitere Integrationsschritte bildet die Struktursicherungsklausel insoweit nicht nur eine absolute Untergrenze, sondern zugleich einen dynamischen Verfassungsauftrag zur weiteren Verwirklichung der genannten Strukturmerkmale.60 Vor diesem Hintergrund relativiert sich auch die Frage, ob bereits die Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 GG äußerste Grenzen der In53

G. Majone, Regulating Europe, 1996, S. 64 ff. Wegweisend für diese Haltung insbesondere der Kommission ist namentlich die Studie von Majone (o. Fußn. 53), der an verschiedenen Stellen etwa auf S. 284 eine gewisse Geringschätzung formaler Input-Demokratie kaum verbirgt. Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum sind symptomatisch etwa die Ausführungen bei W. von Simson/J. Schwarze, Europäische Integration und Grundgesetz – Maastricht und die Folgen für das deutsche Verfassungsrecht, 1992, S. 13 f., die es als prägendes Kennzeichen der Gemeinschaftsordnung ansehen, dass die Gesetzgebung „in die Hände der Verwaltung gefallen ist“, und diesen Zustand gegenüber Parlamentarisierungsforderungen mit Rücksicht auf die Leistungsfähigkeit der Gemeinschaft verteidigen. 55 Näher Durner (o. Fußn. 39), 405 ff.; E. Pache, Verantwortung und Effizienz in der Mehrebenenverwaltung, VVDStRL 66 (2007), S. 106 (141 ff.). 56 Vgl. zur entsprechenden Kritik die Nachweise in Fußn. 48. 57 Dazu zuletzt besonders Ohler (o. Fußn. 32), 179. 58 So die Formulierung in BVerfGE 123, 267 (365). 59 Vgl. zu den damit verbundenen Schwierigkeiten Lübbe-Wolff (o. Fußn. 46), 264. 60 Nach BVerfGE 123, 267 (365) obliegt es der Bundesrepublik in solchen Konstellationen, „auf eine Veränderung hinzuwirken und im äußersten Fall sogar ihre weitere Beteiligung an der Europäischen Union zu verweigern“. 54

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tegration aufstellt, die einer europäischen Staatsbildung generell entgegenstehen sollen61. Nach der umstrittenen Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zielt die Struktursicherungsklausel von vornherein auf die Verwirklichung eines Staatenverbunds der staatlich organisierten Völker Europas, aber gerade nicht auf einen europäischen Staat und ein europäisches Staatsvolk.62 Eine solche absolute, auch durch die Kompensationstheorie nicht mehr ausgleichbare Integrationsgrenze mag sich aus Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG und dem hierin mit enthaltenen Verbot der Aufgabe deutscher Staatlichkeit ergeben, ist jedoch zumindest der Struktursicherungsklausel mit dem weit umschriebenen Ziel der „Entwicklung der Europäischen Union“ schwerlich zu entnehmen. Gerade diese Struktursicherungsklausel folgt vielmehr einem dialektischen Modell der „Herrschaftsarithmetik“,63 in dem sich das Anforderungsprofil der zu erfüllenden Staatsstrukturprinzipien im Rahmen einer Gesamtbetrachtung nach dem jeweiligen Integrationsstand richtet. VII. An den Grenzen der verfassungsrechtlichen Integrationsermächtigung? Insgesamt ist damit festzuhalten, dass die verfassungsrechtlichen Spielräume für eine weitere Vergemeinschaftung von Hoheitsbefugnissen untrennbar mit der Frage nach einer rechtstaatlich-demokratischen Weiterentwicklung der Union verbunden sind. Gelängen hier substanzielle Fortschritte, so müsste auch das Bundesverfassungsgericht wieder grünes Licht für eine weitere Vertiefung der Europäischen Union geben. Die derzeit letzte Scheibe Wurst ist demnach nur eine vorläufige Ration. Diese Einsicht wird Jene dennoch enttäuschen, die wie Schäuble oder zuletzt der italienische Ministerpräsident Mario Monti mit seinem Plädoyer für eine Stärkung der Unabhängigkeit der Regierungen der Euro-Länder von ihren Parlamenten64 einen weiteren Bedeutungszuwachs der Exekutiven favorisieren; ganz im Gegenteil wäre eine umfassende Demokratisierung und Parlamentarisierung der Union ein schlechterdings alternativloser Schritt, um eine weitere Ausweitung ihrer Befugnisse zu legitimieren. Die durch die Finanzkrise erzwungene Ablösung des Grundgesetzes mit dem Ziel der Schaffung einer demokratisch defizitären Union dürfte jedoch demgegenüber auch nach dem Maßstab des Art. 146 GG keine gangbare Option darstellen.

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Vgl. dazu P. Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: Isensee/Kirchhof (o. Fußn. 13), § 183 Rdnr. 5 ff., 43 ff., 51 ff. und 57 ff. 62 BVerfGE 89, 155 (179 ff.); 123, 267 (348). 63 So der Begriff bei U. Hufeld, in: von Arnauld/Hufeld (Hrsg.), Systematischer Kommentar zu den Lissabon-Begleitgesetzen, 2011, Erster Teil, 1. Abschn. Rdnr. 26. 64 Monti fürchtet Auseinanderbrechen Europas, Spiegel-Online v. 05. 08. 2012.

Subsidiarität und Föderalismus Von Dieter Grimm I. Das Verhältnis der beiden Prinzipien Verfassungen, die sich zum Subsidiaritätsprinzip bekennen, sind selten. Im deutschen Grundgesetz ist der Grundsatz der Subsidiarität zwar seit 1992 enthalten. Er bezieht sich aber nicht auf die Bundesrepublik, sondern auf die Europäische Union. Gemäß Art. 23 Abs. 1 GG darf Deutschland sich an der EU nur beteiligen, wenn diese den Grundsatz der Subsidiarität respektiert. Deutschland selber macht ihn nicht zur Grundlage seines Staatsaufbaus. Wohl aber gehört der Föderalismus zu den obersten Verfassungsprinzipien Deutschlands. Er findet sich neben Demokratie, Rechtsstaat und Sozialstaat in Art. 20 GG und wird in Art. 79 Abs. 3 GG für unaufhebbar erklärt. Das gibt Anlass zu der Frage, wie sich Subsidiarität und Föderalismus zueinander verhalten. Ist Föderalismus möglicherweise ein Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips? Zwischen Subsidiarität und Föderalismus bestehen ohne Zweifel Gemeinsamkeiten. Bei beiden Grundsätzen geht es um die Verteilung von Aufgaben, Funktionen, Zuständigkeiten, Tätigkeitsfeldern auf verschiedene Ebenen eines Gemeinwesens. Ein Gemeinwesen ohne jede vertikale Gliederung wäre mit beiden Grundsätzen unvereinbar. Danach beginnen aber bereits die Unterschiede. Das Subsidiaritätsprinzip durchzieht Staat und Gesellschaft. Es erfasst nicht nur den Staatsaufbau, sondern erstreckt sich auch auf die Individuen, die Familien, die Assoziationen. Es geht ihm primär darum, was der Staat diesen überlassen muss, erst in zweiter Linie um die Ebenendifferenzierung im Staat.1 Der Föderalismus ist dagegen ein Prinzip für die Gestaltung von Staaten. Föderal ist ein Staat, der sich aus Staaten zusammensetzt.2 Eine bloß administrative Gliederung, zum Beispiel in Gemeinden, Departements oder Provinzen, ergibt keinen Bundesstaat. Es sind aber Zwischenformen denkbar, zum Beispiel die Regionen in Italien und Spanien. Ein weiterer Unterschied zwischen Subsidiaritätsprinzip und Föderalismusprinzip besteht darin, dass das Subsidiaritätsprinzip eine Vorrangregel aufstellt, und zwar zugunsten der unteren Ebene. Angelegenheiten, die auf der unteren Ebene bewältigt werden können, darf die jeweils höhere Ebene nicht an sich ziehen.3 Dagegen gehört zum Bundesstaat nur eine Verteilung der Staatstätigkeit auf verschiedene Ebe1

Vgl. etwa M. Droege, Subsidiarität, in: Ev. Staatslexikon, Neuausgabe 2006, Sp. 2422 ff. Vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 7. Neudruck, 1960, S. 769. 3 Klassische Formulierung in der Enzyklika Quadragesimo Anno (1931), Nr. 79.

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nen. Dem Bundesstaatsprinzip wohnt aber keine Vorrangregel inne, nach der sich die Verteilung zu richten hätte. Föderale Gebilde können die Aufgaben nach Subsidiaritätsgesichtspunkten verteilen, müssen es aber nicht Ein Vorrang der höheren Ebene wäre ebenfalls mit dem Bundesstaatsprinzip vereinbar. Andererseits ist Subsidiarität auch in Einheitsstaaten nicht ausgeschlossen, weil der Subsidiaritätsgrundsatz nicht nur die Aufgabenverteilung innerhalb des Staates betrifft, sondern auch die zwischen Staat und Gesellschaft. Subsidiarität und Einheitsstaat sind keine Gegensätze, Einheitsstaat und Bundesstaat wohl. Man könnte daher die Grundrechte mit Subsidiaritätserwägungen begründen, nicht dagegen mit Föderalismuserwägungen. Weil die höhere Einheit im Bundesstaat aus Staaten gebildet wird, lässt sich das Prinzip des Föderalismus auf supranationale Einheiten übertragen. Diese sind aber nur dann in Föderalismuskategorien beschreibbar, wenn die höhere Ebene zumindest staatsähnlich ausgestaltet ist. Daher kann man die EU als föderales Gebilde ansehen, die UN und die WTO jedoch nicht. Auf alle ist aber das Subsidiaritätsprinzip anwendbar. Politische Einheiten können sich zu den Prinzipien von Subsidiarität und Föderalismus also in vierfacher Weise verhalten. Sie können (1.) subsidiär und föderalistisch ausgestaltet sein. Sie können (2.) föderalistisch aber nicht subsidiär oder (3.) subsidiär aber nicht föderalistisch sein. Sie können schließlich (4.) keinem dieser Prinzipien folgen. Bekennt sich eine politische Einheit zu einem oder beiden dieser Prinzipien, besagt das jedoch noch nichts über deren konkrete Ausgestaltung und deren Prägekraft für das Gemeinwesen, in dem sie gelten. Beides hängt davon ab, wieweit sich das Prinzip konkretisieren lässt und in der rechtlichen Grundordnung einer politischen Einheit konkretisiert worden ist.

II. Grundstruktur des deutschen Föderalismus Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt die deutsche Verfassungslage, so besteht an der föderalen Ausgestaltung kein Zweifel. Die Bundesrepublik beschreibt sich selbst als Bundesstaat. Fraglich ist, ob sie sich auch nach dem Subsidiaritätsprinzip richtet.4 Im Zuge der Renaissance der Naturrechtslehre nach 1945 nahmen vor allem katholische Wissenschaftler und Politiker auf das Subsidiaritätsprinzip, das die Kirche als „gravissimum principium“ betrachtet,5 Bezug, wenn es um den Neuaufbau eines deutschen Staatswesens ging. Im Parlamentarischen Rat fand es vor allem in dem Abgeordneten Adolf Süsterhenn einen entschiedenen Vertreter. Seine Auffassungen waren aber nicht repräsentativ für die CDU insgesamt6 und erst recht nicht für den Parlamentarischen Rat als ganzen, in dem die sozialdemokra4

Vgl. R. Herzog, Subsidiaritätsprinzip und Staatsverfassung, Der Staat 2 (1963), S. 399; S. Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998; J. Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2001. 5 Quadragesimo Anno (o. Fußn. 3). 6 Vgl. R. Ley, Föderalismusdiskussion innerhalb der CDU/CSU, 1978.

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tischen und die liberalen Gruppen eher unitarischen Konzepten zuneigten. Eine Berücksichtigung im Text des Grundgesetzes hat das Subsidiaritätsprinzip nicht erlangt. Mangels ausdrücklicher Anerkennung ist man auf implizite Ausdrucksformen angewiesen. Als eine solche könnte Art. 30 GG angesehen werden, der die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben zur Sache der Länder erklärt, soweit das Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zulässt. Aber er enthält keine Vorrangregelung zugunsten der Länder, denn Art. 30 GG äußert sich nicht zur Aufgabenverteilung. Aus ihm ergibt sich lediglich, dass der Bund für sein Handeln stets eine verfassungsrechtliche Befugnis benötigt, während die Länder ohne ausdrückliche Kompetenzeinräumung in allen Gebieten handlungsberechtigt sind, die nicht dem Bund zugewiesen sind. Die Verteilung selbst erfolgt in anderen Bestimmungen. Dasselbe gilt für Art. 70 GG, der die Regel des Art. 30 GG für den Bereich der Gesetzgebung wiederholt. Die Länder besitzen danach die Gesetzgebungskompetenz, soweit sie nicht dem Bund zugewiesen ist. Auch hier gilt wieder, dass die Verteilung selbst in anderen Bestimmungen, insbesondere in Art. 72 ff. und Art. 105 GG, geregelt ist. Verbindliche Vorgaben für die Verteilung finden sich im Grundgesetz aber nicht. Der Verfassungsgeber hat freie Hand. Er ist nicht an den Subsidiaritätsgrundsatz gebunden. In der Rechtsprechung ist jedoch anerkannt, dass den Ländern genügend gesetzgeberische Substanz bleiben muss, damit sie noch als Staaten angesehen werden können und nicht zu bloßen Verwaltungseinheiten absinken.7 Bei den ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen des Bundes in Art. 73 GG trifft man ganz überwiegend auf Materien, die der Sache nach nur zentral geregelt werden können. Bei der konkurrierenden Gesetzgebung in Art. 72 GG ist das nicht der Fall. Die Befugnis des Bundes, eine Materie an sich zu ziehen, wurde anfänglich von einem Bedürfnis nach einheitlicher Regelung abhängig gemacht. Dieses Bedürfnis konnte aber auf vielerlei Gründe gestützt werden, nicht allein auf Subsidiaritätsgesichtspunkte. Heute, nach der Föderalismusreform von 2006, darf der Bund im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung Gesetze erlassen, wenn es zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder zur Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse erforderlich ist. Auch das ist nicht identisch mit dem Subsidiaritätsprinzip. Etwas anders verhält es sich mit Art. 28 Abs. 2 GG. Dort wird die Kommunalautonomie garantiert. Allerdings sind die Gemeinden Teil der Länder, die ihre eigene Verfassung haben. Die Bundesverfassung macht es den Ländern aber zur Pflicht, die Autonomie der Gemeinden zu wahren. Alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft sollen die Gemeinden in eigener Zuständigkeit regeln dürfen. Die Formulierung „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft“ enthält im Unterschied zu Art. 30 und 70 GG eine, wenn auch vage, inhaltliche Bestimmung. Art. 28 Abs. 2 7

Vgl. BVerfGE 34, 9 (19 f.).

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erweist sich insofern als Vorrangregelung. Man kann ihn daher als ein auf das Verhältnis von Ländern und Gemeinden bezogenen Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips begreifen. Im Übrigen ist es nicht leicht, Subsidiaritätsgedanken im deutschen Grundgesetz auszumachen. Kennzeichen des deutschen Föderalismus im Unterschied zum amerikanischen oder schweizerischen ist weniger die Ebenentrennung als die Ebenenverschränkung. Das Schwergewicht der Gesetzgebung liegt beim Bund. Die Liste seiner Gesetzgebungszuständigkeiten in Art. 73 und 74 GG ist lang. Von der Generalzuständigkeit der Länder, wie sie in Art. 70 GG normiert ist, bleibt quantitativ wie qualitativ nicht viel übrig. Das Schwergewicht der Verwaltung liegt dagegen bei den Ländern. Sie führen nicht nur ihre eigenen Gesetze aus, sondern nach Art. 83 GG auch die Bundesgesetze, wenn im Grundgesetz nichts anderes vorgesehen ist. Hier ist die Liste der Ausnahmen kurz. Der Bund hat nur wenige eigene Verwaltungszuständigkeiten. Die Ebenenverschränkung findet auch institutionell Ausdruck. Der Bund besitzt zwar das Schwergewicht bei der Gesetzgebung, aber die Länder wirken durch den Bundesrat an der Bundesgesetzgebung mit. Das ist eine Konsequenz des Umstands, dass sie die meisten Bundesgesetze ausführen und daher über die Gesetzeswirkung in der Praxis besser informiert sind als der Bund. Ein paritätisch von Bundestag und Bundesrat besetzter Vermittlungsausschuss soll im Fall eines Bundesrats-Vetos die Kompromissfindung erleichtern. Umgekehrt kann der Bund nach Art. 84 GG unter bestimmten Voraussetzungen Regeln für die Verwaltungsorganisation und das Verwaltungsverfahren der Länder aufstellen und allgemeine Verwaltungsvorschriften für die Länder erlassen, wenn diese Bundesgesetze ausführen. In der Verfassungsrechtsprechung spielt das Subsidiaritätsprinzip ebenfalls keine nennenswerte Rolle. Gelegentliche Versuche verschiedener Antragssteller, ihre Klage auf Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip zu stützen, hat das Bundesverfassungsgericht nicht aufgegriffen. In dem Beschluss über die Tariffähigkeit eines Arbeitnehmervereins aus dem Jahr 1981 antwortete es auf die Behauptung des beschwerdeführenden Vereins, das Subsidiaritätsprinzip sei ein allgemeines Prinzip im Verfassungsrang, es könne dahinstehen, ob das Subsidiaritätsprinzip überhaupt Verfassungsrang habe, denn jedenfalls trage die arbeitsrechtliche Regelung dem Gedanken der Subsidiarität Rechnung.8 III. Reformen der bundesstaatlichen Ordnung Das Grundgesetz ist häufig geändert worden, insgesamt 58mal. Die meisten Änderungen, etwa drei Viertel, betreffen die föderale Ordnung. Darunter befinden sich zwei große Änderungen: die Föderalismusreform von 1967/69 sowie die Föderalismusreform von 2006/2009. Dazu kommen viele kleinere Änderungen. Betroffen 8

BVerfGE 58, 233 (253).

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waren insbesondere die Gesetzgebungskompetenzen. Fast immer wirkten sich die Änderungen zugunsten des Bundes aus. Im Gegenzug nahm die Zahl der Zustimmungsrechte des Bundesrats zu. Konrad Hesse charakterisierte die Bundesrepublik schon 1962 als unitarischen Bundesstaat.9 Die Föderalismusreform von 1967/1969 war eine Folge der ersten Wirtschaftskrise, die die Bundesrepublik erschütterte. Ihre Bekämpfung erwies sich unter der bestehenden Verfassungslage als schwierig, weil Bund und Länder in der Haushaltswirtschaft unabhängig waren und finanzwirksame Maßnahmen ergriffen, die sich wechselseitig um den Erfolg brachten. Die Verschränkung von Bund und Ländern wurde daher weiter vorangetrieben und insbesondere auf die Haushaltswirtschaft erstreckt. Die Etats von Bund und Ländern wurden koordiniert; ein gemeinsames Planungsgremium wurde geschaffen (Art. 109 GG). Ferner kam es zur Einführung von Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern mit gemeinsamer Finanzierung (Art. 91 a und b GG). Die Reform markiert den Übergang vom dualen zum kooperativen Föderalismus.10 Die Föderalismusreform von 2006/2009 sollte die nachteiligen Folgen des kooperativen Föderalismus beheben. Diese Folgen waren frühzeitig diagnostiziert und als „Politikverflechtungsfalle“ charakterisiert worden.11 Im Bereich der Gemeinschaftsaufgaben galt das Prinzip der Einstimmigkeit. Entsprechend schwierig gestaltete sich die Konsensfindung. Lösungen auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner waren an der Tagesordnung. Wurden die Mängel einer Lösung offenkundig, waren Korrekturen wegen der hohen Konsensanforderungen fast unmöglich. Zudem wurden die Verantwortlichkeiten verwischt. Der Entscheidungsprozess war intransparent. Führten die beschlossenen Maßnahmen zum Erfolg, reklamierte jede Seite ihn für sich. War das Ergebnis ein Misserfolg, schob jede Seite die Verantwortung der anderen zu. Die Wähler konnten nicht beurteilen, wen sie in der nächsten Wahl belohnen, wen bestrafen sollten. Es gab also nicht nur Effektivitätskosten, sondern auch Demokratiekosten. Ein besonderes Problem bildete die wachsende Zahl der Zustimmungsrechte des Bundesrats. Die Verfassungsreformen führten fast immer zu einer Stärkung der oberen Ebene, des Bundes. Das lag in der Natur der Sache, denn diejenigen Probleme, die im Rahmen der Länder nicht effektiv lösbar waren, nahmen zu. Da Verfassungsänderungen jedoch eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat erfordern, waren die Länder in der Lage, für ihre Zustimmung zur Kompetenzverlagerung eine Gegenleistung zu verlangen. Sie bestand in der Regel in einer Ausweitung der Zustimmungsrechte des Bundesrats. Was die Länder je einzeln an Möglichkeiten für die Landespolitik verloren, gewannen sie auf diese Weise als Ländergesamtheit an Einfluss auf die Bundespolitik. Das Regel-Ausnahme-Verhältnis von Einspruchs- und Zustimmungsgesetzen kehrte sich um. 9

K. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962. Vgl. Oeter (o. Fußn. 4), S. 282 ff. 11 Vgl. F. W. Scharpf u. a., Politikverflechtung, 1976; dies., Politikverflechtung II, 1977.

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Die Veränderungen machten sich so lange nicht nachteilig bemerkbar, wie die parteipolitischen Mehrheiten in beiden Kammern gleich waren, denn es hatte sich eingespielt, dass tendenziell Parteiloyalitäten den Gegensatz von Bund und Ländern überlagerten.12 Bei divergierenden Mehrheiten stützte die Bundesratsmehrheit regelmäßig die Bundestagsminderheit. Die Folge war, dass die gewählte Mehrheit des Bundestages ihre Absichten im Zustimmungsbereich nur verwirklichen konnte, wenn sie das Einverständnis der Opposition mit ihrer Bundesrats-Mehrheit fand. Fehlte es daran, verlagerte sich die Entscheidung vom Parlament in den Vermittlungsausschuss. Damit war gleichzeitig eine Verschiebung von der Deliberation zur Negotiation und von Transparenz zu Intransparenz verbunden. Auch hier entstanden wiederum Effizienzkosten: politische Entscheidungen kamen verspätet oder verwässert zustande oder scheiterten vollständig, und Demokratiekosten: das Verfahren war intransparent und die Verantwortlichkeiten ließen sich nicht erkennen. Über diese Selbstblockade der Politik war seit langem Klage geführt worden, ohne dass eine Bereitschaft zur Änderung eintrat.13 Das war aushaltbar, solange sich der Problemdruck in Grenzen hielt und genug Geld in den Kassen des Staates war. Diese Situation änderte sich aber im Gefolge der säkularen Ereignisse von 1989/90. Reformen wurden immer dringlicher und waren gleichzeitig immer schwerer durchsetzbar. Das führte zur Einsetzung der sogenannten Föderalismuskommission, die Vorschläge für eine Verfassungsänderung ausarbeitete.14 Die Lösung des Problems war verfassungsrechtlich gesehen einfach. Die Zustimmungsrechte des Bundesrates mussten verringert und auf diejenigen Bereiche zurückgeführt werden, in denen bundespolitische Maßnahmen Länderinteressen unmittelbar berührten. Die Gemeinschaftsaufgaben mussten abgeschafft oder vom Einstimmigkeitsprinzip auf Mehrheitsentscheidungen umgestellt werden. Politisch war die Lösung jedoch schwer, weil die Länder Gegenleistungen verlangten. Diese waren nicht leicht zu finden. Naheliegend war der Gedanke, den Ländern die auf den Bund übergegangenen Kompetenzen zurückzugeben. Doch ließen sich kaum Materien finden, die sich für eine solche Rückverlagerung eigneten. Entsprechend schwierig war die Beschränkung von Zustimmungsrechten. Als Gegenleistung wurde schließlich die Möglichkeit der Abweichungsgesetzgebung gefunden. In verschiedenen Gesetzgebungsbereichen des Bundes dürfen die Länder abweichende Regelungen erlassen. Der Bund kann dann wieder vereinheitlichen, die Länder können erneut abweichen, und so weiter. Die Gemeinschaftsaufgaben wurden unwesentlich gekürzt, beim Einstimmigkeitsprinzip blieb es. Ob damit die Blockade12

Vgl. G. Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat, 1976. Vgl. D. Grimm, Die bundesstaatliche Verfassung – eine Politikblockade? in: ders., Die Verfassung und die Politik, 2001, S. 139. 14 Die Reformarbeiten sind ausführlich dokumentiert und analysiert, vgl. Deutscher Bundestag, Bundesrat (Hrsg.), Dokumentation der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung. Zur Sache 1/2005; R. Holtschneider/ W. Schön (Hrsg.), Die Reform des Bundesstaates, 2007; H. Meyer, Die Föderalismusreform 2006, 2008; F. W. Scharpf, Föderalismusreform, 2009. 13

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möglichkeiten, die zu der Reform nötigten, wirksam ausgeschlossen wurden, zeigt sich erst jetzt, wo die Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat wiederum divergieren. In unserem Zusammenhang geht es weniger um die Qualität der Föderalismusreform als um die Frage, welche Rolle das Subsidiaritätsprinzip bei den Regelungen spielte. War es der Leitgesichtspunkt der Reform? Dahinter steht die Frage, worin der Sinn eines föderalen Staatsaufbaus erblickt wird. Historisch kann man feststellen, dass sich bestehende Staaten zu einer größeren Einheit zusammenschließen, weil sie sich zusammengehörig fühlen, namentlich weil sie sich als Nation empfinden, oder weil sie gemeinsam bestimmte Aufgaben besser lösen zu können glauben, aber gleichwohl ihre Eigenart nicht aufgeben wollen. Leitendes Motiv für den Föderalismus ist dann die Bewahrung von Vielfalt. Das war in Deutschland im 19. Jahrhundert so und ist in anderen Ländern so, wo zwischen den Teilen oft starke Spannungen herrschen wie etwa in Italien oder noch mehr in Spanien und Belgien. Das Subsidiaritätsprinzip hat unter diesen Umständen einen guten Nährboden. In Deutschland ist das Bedürfnis nach Vielfalt im Lauf der Zeit allerdings verblasst. Die Folgen des Zweiten Weltkriegs spielen dabei eine erhebliche Rolle. Die Verteilung von 14 Millionen Heimatvertriebenen auf die gesamte Bundesrepublik sowie die gewachsene Mobilität der Nachkriegsgesellschaft lockern regionale Identitäten auf. Einheitliche Lebensverhältnisse in den verschiedenen Teilen des Landes werden inzwischen für wichtiger gehalten als Vielfalt. Das schlug sich auch in der Verfassung nieder. Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse ist eine der Rechtfertigungen für Bundesgesetzgebung in Art. 72 Abs. 2 GG. Der Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft ist ein Staatsziel, das Finanzhilfen des Bundes für die Länder nach Art. 104 b Abs. 1 Nummer 2 GG rechtfertigt. Subsidiarität wurde dadurch vollends aus dem Bundesstaatsdenken verdrängt.15 Verblasst das Primärziel des Föderalismus, Vielfaltsicherung, werden in der Regel Sekundärziele ins Feld geführt. Föderalismus erscheint dann als Verstärkung der Gewaltenteilung, Verbreiterung der politischen Führungsauslese, Inklusion der Opposition, die auf Länderebene Regierungsverantwortung übernehmen kann, oder Mittel zur Erhöhung der Bürgernähe. In der Föderalismuskommission wurde als sinngebende Maxime für den Föderalismus am häufigsten der Wettbewerb zwischen den Ländern genannt. Wettbewerb sei leistungssteigernd und kostensenkend. Unter den sekundären Rechtfertigungen des Föderalismus lässt sich aber nur der Gedanke der Bürgernähe als Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips deuten. Die anderen Rechtfertigungen stehen dem Subsidiaritätsprinzip fern. Es ist nicht erkennbar, dass die bundesstaatliche Ordnung in ihrer jetzigen Form des Grundgesetzes von diesem Prinzip geleitet worden ist.

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Vgl. Oeter (o. Fußn. 4), S. 542 ff.

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IV. Subsidiarität auf europäischer Ebene In der EU haben sich 27 Nationalstaaten zu einer höheren politischen Einheit zusammengeschlossen, diese aber bislang nicht in einen Bundesstaat verwandelt. Das Nationalbewusstsein ist nach wie vor stark, der Wille an nationalen Eigenheiten und nationaler Selbstbestimmung festzuhalten, ausgeprägt. Das sind günstige Voraussetzungen für Subsidiarität, und in der Tat ist die EU im Unterschied zu Deutschland nicht nur föderalistisch (wenn auch nicht bundesstaatlich) organisiert, sondern überdies auf das Subsidiaritätsprinzip verpflichtet. Marginalisiert in der Bundesrepublik, fand es Anerkennung in Europa. Mit dem Vertrag von Maastricht, der nach eigenem Bekunden „eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“ betrat, ging es als Gegengewicht zum Kompetenzzuwachs auf der europäischen Ebene in die Grundordnung der Union ein.16 Nach Art. 5 Abs. 1 EUV kommt es bei der Ausübung der Zuständigkeiten der EU zur Anwendung. Die Verteilung der Zuständigkeiten regelt es dagegen nicht. Hier gilt, ebenfalls nach Art. 5 Abs. 1 EUV, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Die Übertragung von Zuständigkeiten an die EU liegt danach in der Hand der Mitgliedstaaten, die darüber im Weg des Vertragsschlusses einstimmig entscheiden. In der Entscheidung, was sie der EU übertragen (oder welche Übertragung sie rückgängig machen), unterliegen sie keiner europarechtlichen Bindung. Sie sind folglich europarechtlich auch nicht an das Subsidiaritätsprinzip gebunden. Rechtliche Bindungen bei der Kompetenzübertragung können sich für die einzelnen Staaten allein aus ihren jeweiligen Verfassungen ergeben. Das Subsidiaritätsprinzip spielt dort in der Regel aber keine Rolle. Es sind vor allem Souveränitäts- und Demokratie-Gesichtspunkte, die hier ins Feld geführt werden.17 Bei der europäischen Gesetzgebung, also der Setzung von Sekundärrecht, ist das Subsidiaritätsprinzip hingegen zu beachten. Von der Ermächtigung zur Gesetzgebung darf in denjenigen Bereichen, in denen die EU nicht ausschließlich zuständig ist, nur unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips Gebrauch gemacht werden. Wie das zu verstehen ist, ergibt sich aus Art. 5 Abs. 3 EUV: Die EU wird nur tätig, „sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf europäischer Ebene besser zu verwirklichen sind“. Das Prinzip enthält also eine doppelte Sicherung zugunsten der unteren Ebene. Es reicht nicht, dass die Ziele von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können. Selbst wenn das der Fall ist, muss zusätzlich feststehen, dass sie von der EU besser verwirklicht werden können. 16 Vgl. etwa H. Lecheler, Das Subsidiaritätsprinzip. 1993; D. Merten (Hrsg.), Die Subsidiarität Europas, 2. Aufl. 1994; K. W. Nörr/T. Oppermann (Hrsg.), Subsidiarität – Idee und Wirklichkeit, 1997; C. Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 2. Aufl. 1999. 17 Vgl. BVerfGE 123, 267 (Lissabon-Urteil).

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Wann diese Voraussetzungen gegeben sind, ist nicht näher ausgeführt. Es hat sich bisher auch keine Dogmatik für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips herausgebildet. Darin unterscheidet sich dieses Prinzip vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der im selben Artikel des EUV geregelt ist und in festliegenden Schritten geprüft wird. Unter Europarechtlern herrscht Einigkeit darüber, dass das Subsidiaritätsprinzip in den zwanzig Jahren seiner Geltung keine große Bedeutung erlangt hat und auch in der Rechtsprechung über erste Ansätze nicht hinausgekommen ist.18 Ein Kommentator nimmt „die handgreifliche Wirkungslosigkeit des Subsidiaritätsprinzips“ zum Anlass, von Konkretisierungsversuchen gänzlich abzusehen.19 Deswegen ist im Lissabon-Vertrag der Versuch einer Stärkung des Prinzips unternommen worden. Es gibt nun eine Verfahrensordnung, das Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, in dem den an der europäischen Gesetzgebung beteiligten Instanzen vorgeschrieben wird, zur Subsidiaritätsfrage Stellung zu nehmen. Die Kommission hat sogar „umfangreiche Anhörungen“ durchzuführen. Der mangelnden Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips in der Vergangenheit soll zudem durch ein Rügerecht der nationalen Parlamente entgegengewirkt werden, das Prüfungspflichten der europäischen Gesetzgebungsorgane auslöst. Schließlich ist den nationalen Parlamenten ein Klagerecht vor dem EuGH wegen Verletzung des Subsidiaritätsprinzips eingeräumt. Allerdings lassen die Regelungen im Dunkeln, wie die Schwäche des Grundsatzes durch Verfahrensregeln geheilt werden soll, wenn sein Inhalt vage bleibt. Die Frage, wann ein Ziel nicht ausreichend durch die Mitgliedstaaten, sondern besser durch die Union erreicht werden kann, ist überwiegend politischer Natur. Es fällt schwer, objektive und justiziable Kriterien für ihre Beantwortung zu formulieren. Ohne nähere Präzisierung taugt das Subsidiaritätsprinzip zwar als rechtspolitische Maxime für die Gestaltung einer föderalen Ordnung, jedoch nicht als rechtlicher Maßstab für die Beurteilung konkreter Gesetzgebungsvorhaben. Es ist ein politisches Leitkonzept, keine rechtliche Kategorie.20 Unter diesen Umständen kann es aber nur praktische Relevanz erlangen, wenn es in den Verträgen in konkreteren Bestimmungen verdeutlicht wird. Das geeignete Mittel zu diesem Zweck sind Kataloge, in denen die Gesetzgebungsbefugnisse zwischen der höheren und der unteren Ebene nach Regelungsmaterien aufgeteilt werden. Bundesstaaten folgen regelmäßig diesem Muster. In der EU besteht ein solcher Katalog nur für die kleine Zahl ausschließlicher Gesetzgebungskompetenzen der Union. Für den großen Rest gibt es keine Aufteilung nach Materien. Stattdessen findet sich ein finales Kriterium, wonach die EU ermächtigt ist, alle Maßnahmen zu ergreifen, die für die Errichtung und das Funktionieren des Bin-

18 Nachweise bei A. von Bogdandy/J. Bast (Hrsg. ), Europäisches Verfassungsrecht, S. 48 mit Fußn. 206, 838. 19 M. Nettesheim, Kompetenzen, in: von Bogdandy/Bast (o. Fußn. 18), S. 401 mit Fußn. 47. 20 Oeter (o. Fußn. 4), S. 484.

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nenmarkts erforderlich sind. Zu diesem Zweck ist ihr auch die Harmonisierung der nationalen Rechte gestattet. Indessen ist es nahezu ausgeschlossen, Regelungsmaterien zu finden, die keinerlei Beziehung zum freien Verkehr der Waren, Personen, Dienstleistungen und Arbeitskräfte (Art. 26 Abs. 2 AEUV) haben. Das Schulrecht, das Scheidungsrecht, das Steuerrecht usw. können sich auf die wirtschaftlichen Grundfreiheiten hinderlich auswirken. Dem Finalkriterium wohnt daher keine Begrenzung inne. Auch die Ausnahmen, welche die Verträge vorsehen, haben bisher wenig begrenzende Wirkung entfaltet. Alles hängt von der Auslegung ab, was als erforderlich für die Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes gehalten wird. Diesem Dilemma kann sich auch der EuGH nicht entziehen. Er muss entscheiden, was „nicht ausreichend“ und „besser“ inhaltlich bedeuten, ohne in den Verträgen nähere Anhaltspunkte für diese Entscheidung zu finden. Zwar stellt sich die Frage für den EuGH stets hinsichtlich konkreter Gesetzesvorhaben. Das kann die Entscheidung im Einzelfall erleichtern, enthebt ihn aber nicht die Notwendigkeit, einen auf viele Fälle anwendbaren Maßstab von Subsidiarität zu entwickeln. Ob das gelingt, ist angesichts des überschießend politischen Gehalts der Begriffe fraglich. Der EuGH steht dann vor der Alternative, entweder die Norm für nicht justiziabel zu erklären und sich auf die Prüfung zu beschränken, ob die Verfahrensvorschriften des Protokolls eingehalten worden sind, oder politische Entscheidungen zu treffen, für die er weder gerüstet noch legitimiert ist.

Die Vertiefung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion: der verfassungs- und europarechtliche Rahmen Von Matthias Herdegen I. Perspektiven einer weiteren Integration In der gegenwärtigen Finanzkrise erscheinen Fiskalpakt und ESM-Vertrag nur als Zwischenschritte zu einer Vertiefung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Die europäische Politik sieht in weiteren Integrationsschritten die Antwort auf die drohende Spaltung des Euro-Raumes. Die künftige Architektur einer „echten Wirtschafts- und Währungsunion“ soll vor allem auf einer haushaltspolitischen Integration, einer „europäischen Bankenunion“ und wachstumsorientierten Impulsen liegen1. Daneben steht die Verknüpfung dieser Integrationsschritte mit ausgeweiteter Solidarität, sei es durch die Rekapitalisierung von Banken, eine Aufstockung des europäischen Stabilitätsmechanismus, gesteigerte Bereitschaft zum Ankauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank oder eine Integration der Einlagensicherung. All dies stellt die Belastbarkeit des europäischen Vertragsgefüges und der grundgesetzlichen Ordnung auf eine beachtliche Probe. Im deutschen Staatsrecht stößt der Ruf nach „mehr Europa“ mit neuen Kompetenzen der Europäischen Union auf die Mahnung, der Rahmen des verfassungsrechtlich Hinnehmbaren sei allmählich ausgeschöpft. Im Zusammenhang mit einer vertieften Integration intoniert ein beachtlicher Chor den Ruf nach einer Volksabstimmung über eine neue Verfassung2. Der Jubilar hat sich dazu mit aller gebotenen Deutlichkeit geäußert und an einige Grundpfeiler der Verfassungsordnung erinnert. Unter dem Dach des Grundgesetzes stünde auch bei einem Volksentscheid zu Fragen der europäischen Integration der Verfassungskern nicht zur Disposition: Es „würde ein solcher Volksentscheid nichts daran ändern, dass die Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes zu beachten wäre. Über einen Volksentscheid könnten nicht mehr Rechte des

1 Siehe die Gipfelerklärung der Mitglieder des Euro-Währungsgebietes vom 28. Juni 2012, abrufbar unter http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/de/ec/1313 65.pdf (abgerufen am 7. 8. 2012). 2 Siehe hierzu m. w. N. T. Herbst, Legale Abschaffung des Grundgesetzes nach Art. 146 GG, ZRP 2012, 33.

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Gesetzgebers in Anspruch genommen werden als in den parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren oder über den parlamentarischen Gesetzgebungsakt.“3 Eine Verengung der Diskussion im Hinblick auf eine vertiefte Integration auf eine Verfassungsablösung unterschätzt zum einen die Elastizität der grundgesetzlichen Ordnung und verstellt zum anderen die klare Sicht auf die derzeitigen Probleme der Wirtschaft- und Währungsunion. Zum allgemeinen Ruf nach einer vertieften Integration erscheinen vorab drei Bemerkungen angezeigt: 1. Die aktuelle Finanzkrise ist auch eine Krise des europäischen Rechts. Denn die gegenwärtige Schulden- und Währungskrise der Europäischen Union wurzelt nicht in zu wenig Europa, sondern darin, dass die Mitgliedstaaten das vertraglich Vereinbarte nicht mehr ernst genommen haben und die Kapitalmärkte die ihnen zugedachte Warnfunktion nicht erfüllt haben. 2. Mehr Integration im Sinne einer durch Vergemeinschaftung gestifteten Homogenität zwingt auch notwendig zur einheitlichen Ausrichtung der Gewichtung und des Ausgleiches bestimmter finanzieller, sozialer und wirtschaftlicher Interessen. Einhergeht weniger Wettbewerb der mitgliedstaatlichen Systeme untereinander, sei es bei indirekten Steuern oder beim Renteneintrittsalter. Ein Querschnitt der bestehenden Systeme innerhalb der Union lässt vermuten, dass sich in diesem Angleichungsprozess die politische Dominanz der relativ stark wohlfahrtsstaatlich ausgerichteten und regulierungsfreudigen Mitgliedstaaten niederschlagen wird. Anders als bei einer Vertiefung des Binnenmarktes nähern sich aktuelle Forderungen nach weiterer Integration den Bereichen an, in denen unterschiedliche sozialstaatliche Modelle und wirtschaftliche Leitvorstellungen hart aufeinander stoßen. 3. Asymmetrische Integrationsschritte für den Euro-Raum auf völkervertraglicher Grundlage sind nur als verstärkte Zusammenarbeit (Art. 20 EUV, Art. 326 ff. AEUV) zulässig, sofern die beteiligten Staaten auf die Kommission und andere EU-Organe zugreifen, wie dies beim ESM-Vertrag und wohl auch beim Fiskalpakt geschieht. Als Perspektive stehen die Mitglieder des Euro-Raumes einmal vor einer geplanten Vertiefung der haushaltspolitischen Integration im Sinne einer „Fiskalunion“ mit Ansätzen zu einer echten EU-Wirtschaftsregierung und zum anderen vor einer Ausweitung der finanziellen Solidarität bis hin zu einer „Bankenunion“. Beide Komponenten sind eng verbunden: Haushaltssouveränität wird gewissermaßen gegen anhaltende Solidarität mit vertraglich gesicherten Erwartungen auf finanziellen Beistand eingetauscht. Das eine, die haushaltspolitische Integration, bildet eine wesentliche Verschärfung des bisherigen Überwachungsmodells von Maas3 Siehe das Interview mit Hans-Jürgen Papier vom 29. Juni 2012, Leipziger Volkszeitungonline, abrufbar unter: www.lvz-online.de/f-Download-d-file.html?id=2356 (abgerufen am 7. August 2012).

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tricht. Das andere, die verstetigte und erweiterte Solidarität, stellt einen radikalen Bruch mit dem System von Maastricht dar4. II. Die bisherige Regelungsphilosophie der Währungsunion Das System von Maastricht setzt entscheidend auf die Disziplinierung durch Kapitalmärkte und die Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten5. Wer sich über hohe Zinsen für Staatsanleihen, steigende Versicherungsprämien für den Zahlungsausfall und sinkendes Rating beklagt, muss bedenken, dass die Kapitalmärkte hiermit genau die Funktionen erfüllen, die ihnen nach dem System von Maastricht zugedacht sind: Es sollten ökonomische Verhaltensanreize entstehen, die die Solidität der nationalen Haushaltspolitik als Gebot eigenen Interesses ausweisen6. Die gegenwärtige Finanzkrise wurzelt daher nicht in diesen Marktreaktionen, sondern darin, dass die Kapitalmärkte bis zum Sichtbarwerden der aktuellen Zahlungskrise die ihnen zugedachte Warn- und Disziplinierungsfunktion unzureichend erfüllt haben. Eine echte Fiskalund Schuldenunion durchbricht dagegen das dem Maastrichter Vertrag zugrunde liegende Prinzip der Eigenverantwortung7. Das System von Maastricht ist dabei mit demokratischen Anforderungen leichter in Einklang zu bringen als das Gegenmodell, das mit Quasi-Automatismen, Konditionalitäten und weit in die Zukunft wirkenden Festlegungen tiefe Schneisen in die demokratische Legitimation frisst. Die Aufgabe von Eigenverantwortung führt zum Abschmelzen demokratischer Selbstbestimmung, weil für Schuldner- und Beistandsländer gleichermaßen das eigene Handeln in Abhängigkeit von fremdbestimmten Entscheidungen erklärt werden kann. Das System von Maastricht auf der einen Seite und das Modell „mehr Europa“ mit einer echten Fiskal- und Schul4

Siehe auch J. Weidmann, Die Stabilitätsunion sichern, Dankesrede anlässlich der Verleihung des Ludwig-Erhard-Preises für Wirtschaftspublizistik in Berlin am 5. Juli 2012, abrufbar unter: http://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Reden/2012/2012_07_05_weidmann _stabilitaetsunion.html (zuletzt abgerufen am 7. 8. 2012): „Mit Blick auf die bisherige Krisenpolitik stellt sich deshalb immer dringlicher die Frage, ob der bestehende Rahmen überhaupt noch tragfähig ist – nicht, weil er grundsätzlich ungeeignet wäre, wohl aber, weil wir uns vom Maastricht-Rahmen zunehmend entfernen, da Risiken immer stärker vergemeinschaftet werden und die Bindungswirkung der vereinbarten Regeln über die Zeit immer schwächer wurde.“ 5 M. Herdegen, in: Maunz/Dürig u. a. (Hrsg.), Art. 88 (2010) Rdnr. 23. Siehe auch BVerfG, Urteil vom 7. 9. 2011, Az. 2 BvR 987/10 u. a., NJW 2011, 2946 Rdnr. 129: „Ohne dass es hier auf die Auslegung dieser Bestimmungen im Einzelnen ankäme, lässt sich ihnen doch entnehmen, dass die Eigenständigkeit der nationalen Haushalte für die gegenwärtige Ausgestaltung der Währungsunion konstitutiv ist, und dass eine die Legitimationsgrundlagen des Staatenverbundes überdehnende Haftungsübernahme für finanzwirksame Willensentschließungen anderer Mitgliedstaaten – durch direkte oder indirekte Vergemeinschaftung von Staatsschulden – verhindert werden soll.“ 6 M. Herdegen, in: Maunz/Dürig u. a. (Hrsg.), Art. 88 (2010) Rdnr. 23. 7 Vgl. BVerfG, Urteil vom 7. 9. 2011, Az. 2 BvR 987/10 u. a., NJW 2011, 2946 Rdnr. 129.

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denunion folgen so jeweils ihrer eigenen Logik und eigenen Rationalität. Gegenwärtig stehen wir – mit dem dauerhaften Beistandsmechanismus des ESM und mit dem Fiskalpakt genau dazwischen. Dieser Zustand verspricht wenig Stabilität und drängt zur Entscheidung zwischen einem der beiden Modelle, nämlich glaubwürdiger Drohung mit dem Staatsbankrott bei anhaltendem Versagen oder verlässlicher Solidarität ohne Rücksicht auf die Einhaltung von Vertragspflichten. III. Eine neue Architektur des Wirtschafts- und Währungsraumes Ein Gegenmodell zum formal noch geltenden Regime von Maastricht auf Grundlage einer äußerst weitreichenden interventionsbasierten Beistandsbereitschaft, supranationaler Haushaltskontrolle und einem Haftungsverbund der Einlagensicherung verlangt tiefe Einschnitte in Bezug auf die nationale Gestaltungsfreiheit der Bundesrepublik Deutschland. Nicht nur das Budgetrecht des Parlaments, sondern auch die Haushaltsautonomie und der finanzielle Gestaltungsspielraum der Bundesrepublik Deutschland würden erheblich verkürzt, wenn das Maß der Schuldenlast nicht mehr in erster Linie von Deutschland kontrollierbar wäre sondern in erheblichem Umfange vom haushaltspolitischen Wohlverhalten anderer Staaten und von Risiken privater Akteure in anderen EU-Ländern abhinge. Solche Risiken können die Verfassungssubstanz auch dann berühren, wenn sie von mehr oder weniger engmaschigerer Parlamentsbeteiligung begleitet sind8. Die Ausgestaltung der Parlamentsbeteiligung muss dem Prinzip der dauerhaften Haushaltsverantwortung hinreichend Rechnung tragen9. Beim ESM ist eine recht weitreichende Parlamentsbeteiligung vorgesehen, die der Budgetverantwortung weitgehend Rechnung trägt. Eine Schwachstelle ist der Abruf genehmigter, aber noch nicht eingezahlter Anteile nach Art. 9 Abs. 2 und Abs. 3 ESM-Vertrag aufgrund einer mit einfacher Mehrheit getroffenen Entscheidung des Direktoriums oder nur des Geschäftsführenden Direktors in Fällen eines ansonsten drohenden Verzugs gegenüber Gläubigern des ESM. Hier greift die parlamentarische Mitwirkung ins Leere. Die mögliche Ausgabe von Anteilen zu einem über dem Nennwert liegenden Preis unter „besonderen Umständen“ nach Art. 8 Abs. 2 Satz 4 ESM-Vertrag erfordert einen Beschluss des Gouverneursrates, in dem die Bundesrepublik eine Sperrminorität hat. Ein innerstaatlicher parlamentarischer Zustimmungsvorbehalt besteht hier nicht. Dauerhafte Beistandsmechanismen wie der ESM-Vertrag verändern das System von Maastricht, wie auch der Europäische Rat anerkannt hat. In dem Beschluss des Europäischen Rates vom 25. März 2011 zur Änderung des Artikels 136 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmecha8 9

Vgl. BVerfG, Urteil vom 7. 9. 2011, Az. 2 BvR 987/10 u. a., NJW 2011, 2946 Rdnr. 129. Vgl. BVerfG (Fußn. 8), Rdnr. 138.

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nismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist (2011/199/EU)10, steht ausdrücklich, dass diese Vertragsergänzung „erforderlich“ sei, um einen dauerhaften Beistandsmechanismus einzurichten (Erwägungsgrund Nr. 2)11. Dass die geplante Vertragsänderung als Grundlage für den ESM-Vertrag erst im Jahre 2013 in Kraft tritt (Art. 2 Abs. 2 des Ratsbeschlusse), der ESM aber schon vorher seine Operation aufnehmen soll, ist mehr als nur ein handwerklicher Schönheitsfehler. Die grundsätzliche Alleinhaftung von Staaten für ihre Verbindlichkeiten und der damit verbundene Druck der Kapitalmärkte sind ein zentrales Strukturmerkmal des Systems von Maastricht, das mit der Vertragsänderung dauerhaft modifiziert werden soll. Auch das Bundesverfassungsgericht sieht in der Vertragsänderung „eine grundlegende Umgestaltung der bisherigen Wirtschafts- und Währungsunion“12. Der Europäische Gerichtshof hat nach einem Vorabentscheidungsersuchen des Obersten Gerichtshofs von Irland im Fall Pringle der Einfügung des Art. 136 Abs. 3 AEUV dagegen keine konstitutive Bedeutung für einen dauerhaften Beistand beigemessen13. Für den Europäischen Gerichtshof lässt schon das bestehende Vertragsgefüge den Euro-Staaten große Freiheit zu Beistandsmaßnahmen auf völkervertraglicher Grundlage, solange sie an strikte Bedingungen gebunden sind und keine unmittelbare Haftungsübernahme einschließen14. IV. Das Erfordernis der verfassungsändernden Mehrheit Die europäischen Verträge und die deutsche Verfassung sind enger miteinander verflochten als die Politik das zuweilen wahrhaben möchte. Nicht nur dann, wenn sie inhaltlich auf eine Änderung der Verfassung zielen oder neue Hoheitsrechte übertragen, bedürfen Verträge zur europäischen Wirtschafts- und Währungsunion der verfassungsändernden Mehrheiten in entsprechender Anwendung von Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 GG. Erforderlich ist eine Zweidrittelmehrheit in den gesetzgebenden Körperschaften vielmehr immer schon dann, 10

ABl. 2011 L 91, S. 1 f. Die Gesetzesbegründung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Beschluss des Europäischen Rates vom 25. März 2011 zur Änderung des Artikels 136 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, rückt dagegen insoweit erstaunlicherweise von der konstatierten konstitutiven Funktion des Art. 136 Abs. 3 AEUV ab, als sie allein dessen Bedeutung für die Rechtssicherheit betont, BT-Drucks. 17/9047, S. 4: „ (…) Vielmehr soll durch den neuen Absatz 3 in Artikel 136 AEUV Rechtssicherheit für die Einrichtung des dauerhaften zwischenstaatlichen Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) geschaffen werden. Artikel 23 Absatz 1 Satz 3 in Verbindung mit Artikel 79 Absatz 2 und 3 des Grundgesetzes findet keine Anwendung, da die Änderung des Artikels 136 AEUV mitgliedstaatlichen Handlungsspielraum aufzeigt, ohne für diesen inhaltliche Vorgaben zu enthalten. Die Regelung präjudiziert damit keine inhaltliche Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes oder eine Ermöglichung derselben.“ 12 BVerfG, Urteil vom 12. 9. 2012, Az. 2, BvR 1390/12 u. a., Rn. 246. 13 EuGH, Rs. C-370/12, NJW 2013, S. 29, Rn. 72 ff. 14 EuGH (Fußn. 13), Rn. 73. 11

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wenn in wesentlichen Punkten die Bedingungen verändert werden, zu denen seinerzeit Bundestag und Bundesrat mit verfassungsändernder Mehrheit der Übertragung der Währungshoheit zugestimmt haben15. Aus diesem Grund lässt sich jeder Bruch mit dem System von Maastricht nur mit der qualifizierten Mehrheit des Art. 79 Abs. 2 GG verwirklichen. Entgegen einer schiefen Formulierung des Bundesverfassungsgerichts im ersten ESM-Urteil16 ist es dagegen unerheblich, ob EU-Organe (wie etwa die Kommission bei der Überwachung der wirtschaftspolitischen Auflagen bei Gewährung von Hilfen oder der Europäische Gerichtshof bei der Streitbeilegung nach dem Fiskalpakt) bestimmte Funktionen übernehmen, soweit damit keine Übertragung von Hoheitsrechten verbunden ist. Änderungen an dem die Geltung der einschlägigen Verfassungsnormen (im Kollisionsfall) verdrängenden Unionsrecht17 unterliegen somit den gleichen Anforderungen wie die Änderung der Verfassung oder des Unionsrechts selbst. Alle Vereinbarungen über dauerhafte Beistandsmechanismen (wie etwa der ESM) verlangen daher die verfassungsändernde Mehrheit in Bundestag und Bundesrat. Ohne eine neue vertragliche Vereinbarung mit Zustimmung der verfassungsändernden Mehrheit sind auch alle Spielarten einer vergemeinschafteten Haftung weder mit dem Unionsrecht noch mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen zu vereinbaren. Dies gilt jedenfalls für alle als ökonomisch interessant angesehenen Varianten langfristiger Eurobonds oder kurzfristiger „Euro-Bills“18 und andere Konstrukte solidarischer Haftung wie den von vielen herbeigesehnten Schuldentilgungsfonds mit einem Umfang von 2,3 Billionen Euro. Die durch die Rückwirkung auf materielles Unionsrecht bedingte Logik des Erfordernisses eines verfassungsändernden Quorums führt zudem dazu, dass künftig auch jede Änderung dieser Verträge einschließlich auslegungsleitender Erwägungen in der Präambel sowie jede Zustimmung der Bundesregierung zu hiervon abweichenden Bedingungen des Beistandes (wie der Verzicht auf die bevorzugte Gläubigerstellung des ESM) wieder einer parlamentarischen Legitimation mit Zweidrittelmehrheit bedarf. Denn auch hier erschöpft sich die parlamentarische Zustimmung nicht in der Beantwortung der Frage, ob ein völkerrechtlicher Vertrag eine bloße Änderung erfährt19. Vielmehr steht jede Entscheidung über die inhaltliche Modifikation des Vertrags in Zusammenhang mit ihrer Bedeutung in Bezug auf die Strukturverände-

15

M. Herdegen, Europarecht, 14. Aufl. 2012, § 23 Rdnr. 10; ders., Das belastbare Grundgesetz, F.A.Z. vom 5. 4. 2012, S. 7. Siehe zum Verhältnis von Art. 23 Abs. 1 GG und Art. 59 Abs. 2 GG C. Möllers/J. Reinhardt, JZ 2012, 693 (694 ff.); vgl. auch F. Wollenschläger, Völkerrechtliche Flankierung des EU-Integrationsprogramms als Herausforderung für den Europa-Artikel des Grundgesetzes (Art. 23 GG), NVwZ 2012, S. 713 ff. 16 BVerfG, Urteil vom 19. 6. 2012, 2 BvE 4/11, NVwZ 2012, 954, Rdnr. 140. 17 Hierzu M. Herdegen, in: Maunz/Dürig u. a. (Hrsg.), Art. 79 (2007) Rdnr. 27. 18 Hierzu F. C, Mayer/C. Heidfeld, Verfassungs- und europarechtliche Aspekte der Einführung von Euro-Bonds, NJW 2012, 422. 19 Siehe hierzu unter VI.

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rung der Währungsunion. Dies ist die unausweichliche Folge der Konstruktion von „Sonderunionsrecht“. Eine offene Frage ist, inwieweit sich die geplante Vergemeinschaftung der Bankenaufsicht oder zumindest der Aufsicht über Bankengruppen von europaweiter Bedeutung noch unter dem Dach der bestehenden Verträge verwirklichen lässt (etwa mit einem einstimmigen Ratsbeschluss im Rahmen der Generalermächtigung des Art. 352 AEUV, vielleicht auch nach Art. 127 Abs. 6 AEUV)20. Auch in diesen Bereichen stößt die Elastizität des geltenden Unionsrechts an Grenzen. So dürfte eine Vertragsänderung jedenfalls dann unausweichlich sein, wenn wesentliche neue Aufsichtsfunktionen mit Durchgriffsbefugnissen auf die Europäische Union übertragen werden oder sonst die Balance im Gewaltengefüge der Union nachhaltig verändert wird. Dies gilt etwa dann, wenn die Europäische Zentralbank Aufsichtsbefugnisse erhält, die sie nicht in Unabhängigkeit wahrnehmen kann oder deren Ausübung eine Änderung der Satzung der EZB erfordern würde. V. Sonderunionsrecht auf völkervertraglicher Grundlage „Mehr Europa“ – wie eine echte EU-Wirtschaftsregierung – würde bedeuten, dass das deutsche Verfassungsrecht eine weitaus geringere Steuerungskraft entfaltet als beim völkervertraglichen Sonderunionsrecht. Jede Vergemeinschaftung von Aufgaben und jede Schwächung des Rates der Europäischen Union (oder seine Ablösung durch eine gewählte Staatenkammer) hätte zur Folge, dass das Verfassungsrecht an Steuerungskraft einbüßt. Denn verselbstständigte Organstrukturen auf supranationaler Ebene, die autonom Aufgaben wahrnehmen und ihre Legitimation nicht von den Nationalstaaten ableiten, sind weder dem nationalen Parlament gegenüber politisch verantwortlich noch lässt sich ihre rechtliche Bindung an das Grundgesetz bei der Ausübung von Hoheitsgewalt begründen oder parlamentarisch konditionieren. Anders zu beurteilen ist die Schaffung von Sonderunionsrecht durch und für willige Mitgliedstaaten, das einer engen inhaltlichen und institutionellen Steuerung durch die Vertragsstaaten offensteht. Die Vertragsstaaten haben hier losgelöst von den Entscheidungsstrukturen der Europäischen Union einen weiten Gestaltungsspielraum und können dabei auch bestehenden Disparitäten auch bei den finanziellen Lasten durch das Konsensprinzip oder qualifizierte Mehrheiten auffangen, welche einem oder wenigen Mitgliedstaaten Sperrminoritäten oder Vetopositionen sichern. Während das materielle EU-Primärrecht in hohem Maß auf eine Ausfüllung und Konkretisierung durch Sekundärrecht im Rahmen weitgespannter Ermächtigungen gekennzeichnet ist, zeichnen sich Fiskalpakt und ESM-Vertrag durch relativ große Regelungsdichte aus. Der ESM-Vertrag bringt eine weitgehende Steuerung durch den Gouverneursrat als Vertretungsorgan der Vertragsstaaten mit einer lastenadäquaten Stimmgewichtung. Hierdurch lassen sich bei völkervertraglichem Sonderunions20 Siehe dazu M. Herdegen, Europäische Bankenunion: Wege zu einer einheitlichen Bankenaufsicht, WM 2012, S. 1889 ff.

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recht (wie dem Fiskalpakt oder dem ESM-Vertrag) parlamentarische Mitwirkungsrechte in größtmöglicher Weise zur Geltung bringen. Bei Sonderunionsrecht darf die parlamentarische Mitwirkung jedenfalls nicht geringer sein als bei EU-Rechtsakten21. Eine Stärkung der nationalen Legitimationsvermittlung auf völkerrechtlichem Boden mag als Schwächung des demokratischen Legitimationsstrangs auf supranationaler Ebene (namentlich des in Art. 10 Abs. 1 2 UAbs. 1 EUV in Bezug genommenen Europäischen Parlaments) missdeutet werden. Einen integrationsfeindlichen Legitimationsansatz kann Kritik aber nur dann annehmen, wenn sie die originäre Budgetverantwortung der nationalen Parlamente negiert und grundlegende Entscheidungen über den nationalen Haushalt auch der Europäischen Union (mit-)überantworten will. Denn eine Mitentscheidung der Europäischen Union trägt ihre Legitimation nicht schon in sich, sondern ist vielmehr durch die Abgrenzung von Zuständigkeiten und jeweiligen Verantwortungszusammenhängen bedingt. VI. Die Entstehung von Sonderverfassungsrecht mit völkervertraglichem Inhalt? Die Zustimmungsgesetze zu Fiskalpakt und ESM-Vertrag führen aufgrund der notwendigen Verabschiedung mit der verfassungsändernden Mehrheit zu einem neuen Typus von Sonderverfassungsrecht, das neben den EU-Verträgen steht. Der besondere Geltungsrang dieser Verträge äußert sich darin, dass jede Änderung an die Zweidrittelmehrheit in den gesetzgebenden Körperschaften gebunden ist. Dies gilt auch dann, wenn die Änderungen nicht den Vertragsinhalt betreffen, der seinerseits die Zweidrittelmehrheit ausgelöst hat. Denn selbst dann, wenn einzelne Verpflichtungsinhalte eines völkerrechtlichen Vertrages für sich genommen nicht das gesteigerte Quorum einer Zweidrittelmehrheit ausgelöst hätten, verbleiben sie doch weiterhin in einem unauflösbaren Deutungs- und Sinnzusammenhang mit dem Gesamtvertrag. Die Legitimationswirkung der mit Zweidrittelmehrheit beschlossenen Zustimmung bezieht sich nämlich auf den Vertrag in seiner Gesamtheit als in sich stimmige Einheit. Wollte man die Herauslösung einzelner Elemente mit nur einfacher parlamentarischer Mehrheit zulassen, ließen sich im Nachhinein für die Zustimmung der verfassungsändernden Mehrheit relevante Parameter mit einfacher Mehrheit neu ausrichten und damit dem ursprünglichen Zustimmungsakt die „Geschäftsgrundlage“ entziehen. Dies muss jedenfalls dann gelten, wenn der gesamte Vertragsinhalt die Rahmenbedingungen für die Übertragung von Hoheitsrechten neu justiert. Um eine mögliche Durchbrechung des parlamentarischen Legitimationszusammenhangs auszuschließen, bedarf daher jede Änderung der gleichen Legitimations21 Vgl. auch C. Calliess, Der Kampf um den Euro: Eine „Angelegenheit der Europäischen Union“ zwischen Regierung, Parlament und Volk, NVwZ 2012, 1.

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basis wie der Vertrag in seiner Gesamtheit22. Daher können auch solche Vertragsänderungen, die inhaltlich weder auf eine Änderung der Verfassung zielen noch die Bedingungen für die Übertragung von Kompetenzen im Nachhinein ändern (etwa Änderungen des ESM-Vertrages im Hinblick auf die Stellung des ESM als bevorrechtigter Gläubiger) nur mit Zweidrittelmehrheit erfolgen. Der Einigungsvertrag, der nach ganz herrschender Auffassung nicht in ähnlicher Weise änderungsfest ist23, liefert kein Gegenargument. Denn dort waren die Inhalte, die dem Zugriff des einfachen Gesetzgebers entzogen sein sollten, als Verfassungsänderungen ausgestaltet und somit klar im parlamentarischen Willensbildungsprozess abgeschichtet (vgl. Art. 4 des Einigungsvertrages24). Der Klärung bedarf die Einordnung dieses besonderen Völkervertragsrecht in der Normenhierarchie. Die hinter der qualifizierten Mehrheit stehende Verfassungslogik (entsprechende Anwendung von Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 GG), welche die gleiche Mehrheit für die Zustimmung zu einer Vertragsänderung fordert, verbietet auch dem Gesetzgeber die Derogation des völkervertraglich vereinbarten Verpflichtungsinhaltes mit einfacher Mehrheit. Dies hebt aber noch nicht den Vertragsinhalt auf die verfassungsrechtliche Ebene, solange nicht wie beim Einigungsvertrag die Voraussetzungen des Art. 79 Abs. 1 GG gewahrt sind. Ob durch die Zustimmungsgesetze mit verfassungsändernder Mehrheit eine neue Normenkategorie enstanden ist, welche dem Vorrang des Unionsrechts ähnliche materielle Verfassungsdurchbrechungen birgt, ist bislang ungeklärt. Die Stabilitätsmechanismen stehen zwar formal auf dem Boden des Völkerrechts. Unverkennbar ist aber ihr inhaltlicher Grundcharakter als materielles Sonderunionsrecht, stellen sie sich doch als „Anbau“ zum Unionsrecht dar. Besonders eindeutig ist dies beim ESM-Vertrag soweit und sobald dieser durch den neuen Art. 136 Abs. 3 AEUV in unmittelbare Beziehung zum EU-Recht gerückt wird. Beim Fiskalpakt fehlt diese Brücke. Hier hätte es der Zuordnung zum EU-Recht im weiteren Sinne gedient, wenn die Vertragsstaaten sich für den Weg der Verstärkten Zusammenarbeit entschieden hätten (Art. 20 EUV, Art. 326 ff. AEUV). Wegen des finalen Gleichklangs mit der Haushaltsdisziplin mit dem AEU-Vertrag dürfte sich aber auch dieser Vertrag

22 Eine ähnliche Problematik kennt das deutsche Verfassungsrecht im Bereich der auswärtigen Gewalt bei dem Erfordernis der Zustimmung nach Art. 59 Abs. 2 GG im Zusammenhang mit bei isolierter Betrachtung nicht zustimmungsbedürftigen Vertragsänderungen. Hierzu im Sinne der Zustimmungspflicht M. Nettesheim, in Maunz/Dürig u. a. Art. 59 (2009) Rdnr. 125; R. Streinz, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 59 Rdnr. 39; a.A. M. Fastenrath/ T. Groh, in: Friauf/Höfling BerlK, Art. 59 Rdnr. 68. 23 Vgl. Denkschrift zum Einigungsvertrag BT-Drucks. 11/7760, 355 (377). Zur Bindungswirkung H. Weis, AöR 1991, S. 1 ff. (15). 24 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31. August 1990 (BGBl. II S. 889) zuletzt geändert durch Bundesverfassungsgerichtsentscheidung vom 3. 7. 1992 (BGBl. I S. 1361).

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unter den weit zu verstehenden Integrationsauftrag des Grundgesetzes und unter das Dach des Art. 23 GG bringen lassen.25 VII. Haushaltspolitische Integration Eine echte Fiskalunion besteht auch nach dem Inkrafttreten des sog. „Fiskalpaktes“ nicht. Der Fiskalpakt bringt nur marginale Veränderungen, die über das Verordnungs- und Richtlinienpaket vom November 2011 („Six Pack“)26 hinausführen (wenn man einmal von der Pflicht zur Einführung von „Schuldenbremsen“ – möglichst mit Verfassungsrang – absieht). In ähnlicher Weise würdigt der französische Verfassungsrat in seiner Entscheidung vom 9. August 2012 den Fiskalpakt. Jedoch klingen hier deutliche Relativierungen in Bezug auf die geforderte verfassungsrechtliche Flankierung der Schuldenbremse an27. Ein anderes Potential weisen die Konditionalitäten, wie sie in den Reformzusagen hilfebedürftiger Euro-Länder begründet sind, auf. Sie stellen die demokratische Selbstbestimmung der Empfängerländer auf eine harte Probe und erwecken schnell den Eindruck, eine Art „europäisches Protektorat“ zu errichten. Dies führt unweigerlich zu Spannungen, die den schwierigen Gang zu Reformprozessen als fremdgesteuerte Oktroyierung begreifen. Freilich bestehen hier zweiseitige Abhängigkeiten, bei denen die Logik der einmal begonnenen Unterstützung auch die Geber zu Geiseln ihrer eigenen Solidarität macht, die dann jede Wahlentscheidung im Schuldnerland mit Zittern und Beben erwarten. Normativ gesehen bleibt das nationale Hoheitsgefüge jedoch im Kern unberührt. Denn die Verständigungen mit der Europäischen Kommission und dem ESM vollziehen sich unter den Bedingungen rechtlicher Freiheit. Deswegen liegt – entgegen der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts28 – in der bloßen Mitwirkung der Europäischen Kommission für den ESM an Vereinbarungen mit hilfsbedürftigen Euro-Ländern noch keine Übertragung von Hoheitsrechten. Sonst hätte schon der Internationale Währungsfonds als zwischenstaatliche Einrichtung nach Art. 24 Abs. 1 GG eingestuft werden müssen. Im Übrigen sind die Reformvereinbarungen gegenüber den Beistandseinrichtungen (ähnlich wie beim Internationalen Währungsfonds) wohl keine echten völkerrechtlichen Verpflichtungen. Zu einem echten souveränitätsinvasiven „Quantensprung“ zu Lasten der Nationalstaaten käme es dann, wenn die Europäische Union mit echten haushaltspolitischen Eingriffsbefugnissen (wie Einspruchs- oder gar Genehmigungskompetenzen) 25

Vgl. zum Erfordernis der verfassungsändernden Mehrheit oben unter IV. M. Herdegen, Europarecht, 14. Aufl. 2012, § 23 Rdnr. 6; C. Antpöhler, Emergenz der europäischen Wirtschaftsregierung – Das Six Pack als Zeichen supranationaler Leistungsfähigkeit, ZaöRV 72 (2012), S. 353 ff. 27 Siehe Conseil Constitutionnel, Entscheidung n8 2012 – 653 DC vom 9 August 2012, abrufbar unter http://www.conseil-constitutionnel.fr/conseil-constitutionnel/root/bank/down load/2012653DCccc_653dc.pdf (abgerufen am 10. August 2012). 28 BVerfG, Urteil vom 19. 6. 2012, 2 BvE 4/11, NVwZ 2012, 954 Rdnr. 140. 26

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ausgestattet wird. Hierin läge ein ganz großer Schritt in Richtung eines föderalen Systems mit einer dann „parastaatlichen“ Europäischen Union. Dies gilt ganz unabhängig davon, ob ein um seine Haushaltsautonomie amputiertes Mitgliedsland noch ein Staat im Sinne des Völkerrechts ist oder nicht. Denn die Zugkraft des Haushalts als Voraussetzung für politische Handlungsautonomie ist so stark, dass sich nur wenige Bereiche der Politikgestaltung ihr ganz oder weitgehend entziehen können. Hier stellt sich die Frage, ob aus deutscher Sicht bei einem solchen Schritt der änderungsfeste Verfassungskern nach Art. 79 Abs. 3 GG erreicht wäre. Ein Staat, der die Herrschaft über seinen Haushalt mit der Europäischen Union in der Substanz teilen muss, ist in zentralen Fragen der Politikgestaltung, vom Steuerrecht bis hin zu sozial- und arbeitsrechtlichen Weichenstellungen, rechtlich nicht mehr frei. Ob damit das Demokratieprinzip schon im Nerv getroffen wird, hängt von der konkreten Ausgestaltung eines haushaltsrechtlichen Kondominiums ab. Wesentlich kommt es auch darauf an, ob die haushaltsrechtliche Ingerenz von EU-Organen an zu erbittenden Beistand gebunden und damit durch eine konkludente Willensbekundung des überwachten Staates bedingt ist. Zu bedenken bleibt auch, dass ein rechtlich unverbrüchlich garantiertes Recht zum Austritt aus der Europäischen Union (Art. 50 EUV) jedem Mitgliedstaat wieder die volle Freiheit über den Schutz seiner verfassungsrechtlichen Strukturprinzipien zurückgibt. Allerdings hält ein Großteil der deutschen Staatsrechtslehrer29 und auch das Bundesverfassungsgericht30 an einer anderen Sichtweise fest. Danach beginnt die Tabuzone des Art. 79 Abs. 3 GG, also der unaufgebbare Verfassungskern, genau dort, wo die Europäische Union zum Bundesstaat wird und zum föderalen Gebilde mit staatsähnlichen Zügen mutiert. Diese Auffassung erscheint unter den heutigen komplexen und verschachtelten Bedingungen der Ausübung von Herrschaftsgewalt rückwärtsgewandt und etwas unterkomplex.31 Denn es kommt weniger auf die aus dem 19. Jahrhundert stammende formale Typik der Staatenverbindung an, sondern auf die konkrete Ausgestaltung der Rechtspositionen der einzelnen Mitgliedstaaten unter den europäischen Verträgen. VIII. Status und Entscheidungsstrukturen der Europäischen Zentralbank Der praktizierte Ankauf von Staatsanleihen notleidender Mitgliedstaaten auf dem Sekundärmarkt durch die EZB steht in einem nicht zu übersehenden Spannungsverhältnis mit der Rolle, die der Vertrag von Maastricht der EZB zuweist und die auch unter der Lissabonner Fortschreibung dieses Systems durch den AEU-Vertrag wei29 Etwa P. Kirchhof, in: HbStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 21 Rdnr. 55, 60; ders., in: HbStR, Bd. VII, 1992, § 183 Rdnr. 157 ff.; U. Di Fabio, Der neue Art. 23 des Grundgesetzes – Positivierung vollzogenen Verfassungswandels oder Verfassungsneuschöpfung, Der Staat 32 (1993), S. 191 (199 ff.); J. Isensee, in: Festschrift für Ulrich Everling, 1995, S. 567 (588 f.). 30 BVerfGE 123, 267 (347 f.). 31 M. Herdegen, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum GG, Art. 79 Abs. 3 Rdnr. 163 f.

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terhin vertragliche Geltung hat32. Diese Spannung liegt dabei weniger darin, dass Art. 123 Abs. 1 AEUV der EZB dem Ankauf rechtliche Schranken setzt, umfasst der ausdrückliche Verbotstatbestand doch nur den unmittelbaren Erwerb von Schuldtiteln. Probleme ergeben sich vielmehr daraus, dass – wie es der Wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums gutachterlich festhält – „Käufe im Sekundärmarkt (…) ökonomisch (…) nicht anders als ein direkter Erwerb neuer Emissionen“ wirken, da der Ankauf umlaufender Schuld durch die Zentralbank es dem betreffenden Staat ermögliche, „sich durch Neuemissionen stärker am Markt zu verschulden, ohne deswegen höhere Zinsen zahlen zu müssen“33. Damit tritt die Europäische Zentralbank mittelbar auch in die (Mit-)Verantwortung für die Refinanzierung nationaler Haushalte ein. Diese fiskalpolitische Dimension sprengt wohl den vertraglichen Rahmen und lässt sich nicht als bloße Folge geldpolitisch motivierter Entscheidungen im Sinne der Preisstabilität (Art. 127 Abs. 1 Satz 1 AEUV) erklären. Hier wird die Erschütterung der Unabhängigkeit der EZB im Dienste der Solidarität gegenüber den auf Entlastung drängenden Eurostaaten deutlich34. Bereits das durch die EZB übernommene Risiko der Abschreibung von Staatsanleihen strauchelnder Mitgliedstaaten des Euro-Währungsraums ist ein Schritt auf dem Weg zu monetärer Staatsfinanzierung. Die monetäre Refinanzierung eines Staates durch die Notenbank über den Ankauf von Staatsanleihen kennt durchaus Vorbilder, wie das Beispiel Großbritanniens zeigt35. Soweit die EZB eine solche Rolle übernimmt, missachtet sie ihre vertragliche Kernaufgabe, nämlich die Sicherung der Preisstabilität. Der gerichtliche Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof erfasst auch Maßnahmen der EZB (Art. 263 Abs. 1 Satz 1 AEUV)36 . Die Effektivität dieser rechtlichen Kontrolle hängt aber in erster Linie von der Klagebereitschaft einzelner Mitgliedstaaten (nach Art. 263 Abs. 2 AEUV) ab. Die drohende mittelbare Vergemeinschaftung von Schulden durch einen Ankauf von Staatsanleihen legt auch Überlegungen zur etwaig verfassungsrechtlich gebotenen Ausgestaltung der Stimmengewichtung im EZB-Rat nahe. Denn bei geldpolitischen Maßnahmen kommt nach Maßgabe des Prinzips der Staatengleichheit jedem Mitglied des EZB-Rates das gleiche Stimmengewicht zu. Hierdurch droht eine Überbeanspruchung der bevölkerungsreicheren und finanzkräftigeren Mitgliedstaaten, der diese bei einer Majorisierung durch schwankende Euro-Länder wehrlos ausgesetzt sind37. Diese Entwicklung droht auch die Legitimationsbasis für solche Maß32

Siehe hierzu M. Herdegen, in: Maunz/Dürig u. a. (Hrsg.), Art. 88 (2010) Rdnr. 30 ff. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Überschuldung und Staatsinsolvenz in der Europäischen Union, Gutachten 1/11, S. 16. 34 Siehe zur Bedeutung der Preisstabilität M. Herdegen, in: Maunz/Dürig u. a. (Hrsg.), Art. 88 (2010) Rdnr. 30, siehe zur Bedeutung der Unabhängigkeit aaO Rdnr. 82. 35 Siehe zum Ankauf der Bank of England in Höhe von 200 Millionen Pfund bis Februar 2010 über eine sog. Asset Purchase Facility, Bank of England, Quarterly Review, 1. Quartal 2010, 39. 36 M.w.Nachw. M. Herdegen, in: Maunz/Dürig u. a. (Hrsg.), Art. 88 (2010) Rdnr. 84. 37 Vgl. M. Herdegen, in: Maunz/Dürig u. a. (Hrsg.), Art. 88 (2010) Rdnr. 92. 33

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nahmen zu erschüttern. Denn der Ausgestaltung von Stimmgewichten bei den Vereinbarungen zur Währungsunion lag das Leitbild eines strikt auf Geldwertstabilität fixierten Mandates zugrunde. Dieses Mandat schließt eine fiskalpolitische Rolle der EZB als Staatsfinanzier schlicht aus. Wenn nunmehr die EZB dieses Mandat durch einzelne finanzwirksame Maßnahmen übersteigt, können solche Maßnahmen nicht nach Maßgabe der geltenden Abstimmungsregeln legitimiert sein. Die demokratischen Anforderungen des Grundgesetzes verlangen die Rückführung von unionaler Hoheitsgewalt auf das deutsche Staatsvolk (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG) durch eine angemessene Mitwirkung deutscher Organe an der Währungspolitik der Europäischen Zentralbank38. Gerade dann, wenn Dispositionen getroffen werden, die in ihren Wirkungen die Interessen und Kapazitäten der Bundesrepublik ungleich einschneidender berühren als die Ausfüllung des (immer noch geltenden) vertraglichen Mandats, kann das Prinzip der formalen Staatengleichheit („one State, one vote“) einer Vermittlung demokratischer Legitimation nach Maßgabe des Grundgesetzes nicht gerecht werden. IX. Verfassungsrechtliche Schranken einer europäischen Solidargemeinschaft und die Diskussion über eine Verfassungsablösung Ein Teil der deutschen Staatsrechtslehre sieht schon jetzt mit dem ausgeweiteten Rettungsschirm und den damit verbundenen Haushaltsrisiken die absoluten Grenzen des verfassungsrechtlich Hinnehmbaren als überschritten an.39 Diese Sicht hat die Politik selbst mitgefördert, als sie Frist und Grenzen der Belastungsbereitschaft immer weiter verschoben hat und eine Kaskade von wenig aufeinander abgestimmten Instrumenten der Krisenintervention fortschreibt. Als verfassungsrechtlich gebotene Voraussetzung für diese Euro-Rettungsmaschinerie bricht sich der Ruf nach einer Volksabstimmung als Akt der verfassungsgebenden Gewalt nach Art. 146 GG durch eine beachtliche Zahl von Stimmen Bahn40. Rückenwind haben diese Forderungen durch orakelhafte Formulierungen des Bundesverfassungsgerichts41 und Warnungen einzelner seiner Mitglieder erhalten. Das Plebiszit erscheint hier als Schranke einer immer weiter vorangetriebenen Beistandswilligkeit mit unübersehbaren Haushaltslasten42. Genau umgekehrt bemühen manche politischen Kräfte das Instrument einer Verfassungsgebung als Mittel zu einer entgrenzten Integration und entgrenzten Solidarität. 38 Vgl. zur Problematik der formalen Gleichheit beim Stimmgewicht für den Fall des Beitritts neuer Euro-Staaten M. Herdegen, in: Maunz/Dürig u. a. (Hrsg.), Art. 88 (2010) Rdnr. 84. 39 Etwa W. Kahl/A. Glaser, Nicht ohne uns, F.A.Z. vom 8. 3. 2012, 8. 40 M.w.Nachw. T. Herbst, Legale Abschaffung des Grundgesetzes nach Art. 146 GG, ZRP 2012, 33. 41 Etwa im Lissabon-Urteil BVerfGE 123, 267 (331 f.). 42 Vgl. W. Kahl/A. Glaser, Nicht ohne uns, F.A.Z. vom 8. 3. 2012, 8.

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Bei allem Verständnis für die hier mitschwingenden Sorgen über die finanziellen Grenzen der Belastbarkeit unseres Gemeinwesens und aller ökonomischen Skepsis über einzelne Weichenstellungen zur Euro-Rettung sind Politik und Staatsrechtslehre gut beraten, dem Ruf nach einem Verfassungsreferendum nach Art. 146 GG mit aller Klarheit entgegenzutreten und dieses nicht als Schlüssel zur Lösung der Krise zu begreifen. Denn die Forderungen nach einer Volksabstimmung zwängen die Politik (und vor allem das deutsche Volk) zu einer seltsamen Wahl: nämlich zwischen der dem Erhalt des Grundgesetzes und einer Verfassungsablösung als Bedingung der nachhaltigen Euro-Rettung. Es wäre schlicht verhängnisvoll, wenn die Skepsis über die Euro-Rettung und die damit verbundenen Lasten in eine Diskussion über den Fortbestand des Grundgesetzes münden würden. Diese ganze Diskussion suggeriert zudem, ein Verfassungsreferendum könne sich über die Schranken des Art. 79 Abs. 3 GG hinwegsetzen. Genau gegen diese Auffassung hat ein Großteil der Staatsrechtslehrer mit aller Entschiedenheit gekämpft, als die (eigentlich mit der Wiedereinigung gegenstandslos gewordene) Vorschrift des Art. 146 GG im Zuge des Einigungsvertrages auf Drängen der damaligen Opposition wiederbelebt worden ist. Der verfassungsändernde Gesetzgeber war bei der Wiederbelebung des Art. 146 GG seinerseits an Art. 79 Abs. 3 GG gebunden.43 Ein Referendum ist nur um den Preis eines Bruchs mit dem Grundgesetz, um den Preis eines revolutionären Akts zu haben. Völlig zu Recht warnt der Jubilar die politischen Kräfte davor, den Boden des Grundgesetzes zu verlassen sowie den Rahmen der in der „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG verbrieften Schranken durch einen revolutionären Akt zu sprengen und sich von der „augenblicklichen Zauberformel“ eines Volksentscheides blenden zu lassen: „Das deutsche Volk kann sich natürlich eine gänzlich neue Verfassung geben. Das ist im Artikel 146 auch ausdrücklich angesprochen. Der Artikel 146 sagt aber nichts darüber, wie diese Neuschöpfung der Verfassung erfolgen soll, ob durch Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung und durch einen Beschluss dieser Versammlung oder durch einen Volksentscheid. Das ist offen und natürlich der Inhalt einer solchen neuen Verfassung (…).“ Die Sorge, „dass sich in diesem Fall aber das deutsche Volk entschließen könnte, alles auf den Prüfstand zu stellen, von der Bundesstaatlichkeit über den Grundrechtekatalog bis hin zu den Funktionen und Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts“44, spricht der Jubiliar ungeschminkt aus und erinnert so in wohltuender Deutlichkeit an den Preis, den eine Verfassungsablösung mit sich bringt. Am Ende liegt die Antwort auf die großen Herausforderungen für die europäische Integration nicht in einer Verfassungsnovation, sondern in der Konfiguration der europäischen Währungsunion, welche das System von Maastricht behutsam fortentwi43

M. Herdegen, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum GG, Art. 79 Abs. 3 Rdnr. 86. Siehe das Interview mit Hans-Jürgen Papier vom 29. Juni 2012, Leipziger Volkszeitungonline, abrufbar unter www.lvz-online.de/f-Download-d-file.html?id=2356 (abgerufen am 7. August 2012). 44

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ckelt, dabei die Lehren aus der beharrlichen Missachtung vertraglicher Standards zieht und keine falschen ökonomischen Anreize setzt. Eine verlässliche Vertragsordnung wird nicht allein aus dem Glauben an vertragliche Zusagen erwachsen, sondern bedarf auch glaubwürdiger Alternativen zur unbegrenzten Solidarität – ohne Tabuisierung einer Staateninsolvenz und des Austritts von überforderten Schuldnerländern oder von in der Stabilitätserwartung enttäuschten Euro-Staaten. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Maastricht-Urteil das Austrittsszenario für Deutschland ganz offen thematisiert45. Wenn eine Währungsordnung (anders als der gegenwärtig erkennbare Konsens der Euro-Staaten) solche Alternativen ernsthaft offen hält, erlaubt sie den Bürgen und den Kräften des Marktes gleichermaßen solche Szenarien zu antizipieren und im Fall ihres tatsächlichen Eintritts nicht beherrschbare Schocks zu vermeiden. Vor allem ist das dissuasive Offenhalten schmerzlicher Alternativen ein wirkungsmächtiger Mechanismus, um ihren Eintritt zu vermeiden. Dann – und vielleicht nur dann – wird das Grundgesetz auch weiterhin einen verlässlichen Ordnungsrahmen für die deutsche Einbindung in die europäische Währungsunion darstellen.

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BVerfGE 89, 155 (204).

Zurück zu den Grundfragen der europäischen Integration! Von Roman Herzog In dem Zeitraum, in dem ich den vorliegenden Beitrag zu Ehren meines NachNachfolgers Hans-Jürgen Papier auf dem Karlsruher Präsidentenstuhl verfasse, assoziiert der größte Teil der Welt mit dem oben stehenden Titel wahrscheinlich finanzund währungspolitische Probleme. Das ist verständlich, da von der Lösung der sogenannten Euro-Krise entscheidende – positive oder negative – Impulse auf das Leben der europäischen Völker, aber auch auf unendlich viele Einzelschicksale ausgehen werden. Ausreichend scheint es mir jedoch nicht zu sein. Die Konsequenzen, die aus den Erfahrungen der gegenwärtigen Krise zu ziehen sein werden, werden rechtliche, aber auch politisch-ideologische Gebiete betreffen, die weit jenseits der Finanz- und Währungspolitik liegen, ja sie werden selbst die Kernfragen der europäischen Integration berühren. Die Gründe dafür dürften ganz unterschiedlich sein. Hier sollen nur die wahrscheinlichsten genannt werden: Die Europäische Union wandelt seit geraumer Zeit auf Wegen, die meist unter den Begriffen „Bürokratisierung“ und „Normenhypertrophie“ zusammengefasst werden und vor allem die Bewegungsfreiheit und die politische Kraft der Union beeinflussen. Sodann: Die ursprünglichen Ziele, die mit der Gründung der drei Gemeinschaften in den Jahren 1952 und 1956/57 angestrebt wurden, sind weitestgehend erreicht, stehen jedenfalls nicht mehr im Vordergrund nüchterner Betrachtung. Vor allem aber hat sich die Umwelt Europas seither grundlegend verändert, neue Aufgaben – oder zumindest Aufgabendesiderate – sind an Europa herangetreten, was in aller Regel auch Einfluss auf Organisation und Entscheidungsfindung der so herausgeforderten Institutionen bedeutet. Und nicht zuletzt: Wenn solche Veränderungen – oder zumindest Überprüfungen – des Status quo anstehen, bedarf es auch klarer theoretischer Vorstellungen vom Wesen der zur Diskussion stehenden Institutionen. Gerade in diesem Punkt hat sich aber seit den Anfangsjahren der europäischen Einigung kaum etwas getan. I. Bundesstaat – Staatenbund – Staatenverbund In einer Hinsicht hat es zumindest in Deutschland Diskussionen in ausreichender Zahl gegeben: in der Frage, ob es sich bei der EU bzw. ihren Vorgängergemeinschaften um einen Bundesstaat oder „nur“ um einen Staatenbund handele (oder jedenfalls gehandelt habe). Dieses Begriffepaar hat in der Geschichte tatsächlich eine Rolle ge-

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spielt, vor allem bei der Etablierung der Schweizerischen Eidgenossenschaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in der politisch-theoretischen Begleitmusik zum amerikanischen Bürgerkrieg in den Sechzigern desselben Jahrhunderts und selbstverständlich auch in der Vorgeschichte der deutschen Reichsgründung von 1867/71. Schon die gravierenden Unterschiede zwischen diesen politischen Situationen hätten aber die Hoffnung, hier zu allzu präzisen Begriffen zu kommen, dämpfen sollen, und heute liegen die Dinge nicht besser. Die Gemeinsamkeiten zwischen einem Kleinstaat, einem – bestenfalls – Mittelstaat und einem modernen Superstaat dürften inzwischen so gering sein, dass sich auf ihnen keine halbwegs realistische Begriffsbildung aufbauen lässt. Das gilt übrigens auch für die Versuche, den Bundesstaat durch das Recht zu definieren, sich berechtigend und verpflichtend und unter Umgehung seiner Gliedstaaten direkt an deren Bürger zu wenden („Durchgriffsrecht“). Aus einzelnen Befugnissen dieser Art lässt sich mit Sicherheit keine umfassende, politisch realistische Definition des Bundesstaates rechtfertigen. Ein Rückgriff auf „wesentliche“ Durchgriffsrechte o. ä. aber wäre keine brauchbare Definition; „definire“ heißt ja schließlich „abgrenzen“, setzt also halbwegs festliegende Grenzziehungen voraus. Wie schwierig die Dinge sind, zeigt sich vielleicht am besten, wenn man den Lieblingsvater der europäischen Bundesstaatsfreunde, den berühmten Winston Churchill, und seine Idee von den Vereinigten Staaten von Europa unter die Lupe nimmt. Ein solcher Rückgriff trägt zwar von vornherein zwei Hypotheken auf dem Buckel: erstens hat Churchill seiner Forderung sogleich die Einschränkung beigefügt, Großbritannien werde solchen Vereinigten Staaten mit Sicherheit nicht beitreten, und zweitens hat er mit keiner Silbe davon gesprochen, dass die Vereinigung als solche ein Staat sein solle. Das lässt die unverkennbar gezogene Analogie zu den Vereinigten Staaten von Amerika zwar vermuten, aber selbst da bleiben Churchill und seine Zitanten eine wesentliche Antwort schuldig: Ist an die USA von 1763 oder an die von 1946 oder gar an die von 2012 gedacht? Die Rechtssubjekte als solche mögen ja durchaus identisch sein, sie sind aber untereinander so grundverschieden, dass auf eine wirklich weiterführende Begriffsbestimmung wieder nicht zu hoffen ist. Und noch weniger tragfähig sind jene Meinungen, die einem Staatenzusammenschluss Bundesstaatsqualität zubilligen wollen, wenn er „Souveränität“ oder „KompetenzKompetenz“ besitzt; denn man weiß hier nie, wer das Huhn und wer das Ei ist. Ist ein Staat Bundesstaat, wenn er Souveränität bzw. Kompetenz-Kompetenz besitzt oder besitzt er beides, wenn er sich als Bundesstaat erweist? Begriffjuristische Taschenspielertricks! Das Bundesverfassungsgericht hat recht daran getan, den Streit um alle diese Kunstfragen zu meiden und die EU schlicht als Staatenverbund zu qualifizieren.

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II. Überstaat oder Gemeinschaft sui generis? Der Befund, der im vorstehenden Abschnitt dargestellt wurde, müsste eigentlich überraschen: Da streitet eine ganze Zunft von Europapolitikern, Völkerrechtlern, Verfassungsrechtlern und Autoren von Parteiprogrammen jahrzehntelang darüber, ob die EU und ihre Vorgängerinstitutionen unter den Begriff des Bundesstaates subsumiert werden können, und das, obwohl auf die Frage, ob in diesen Institutionen wenigstens Staaten zu erkennen sind, kaum einmal genauere Überlegungen verschwendet werden! Das kann mehrere Gründe haben. Einmal könnte es ja sein, dass mit der Einstufung als Bundesstaat die Anerkennung als Staat als automatisch gegeben betrachtet wird, wofür in der Tat einiges spricht und womit man sich ohne weiteres abfinden könnte. Bedenklich ist nur, dass die faktische Politik der Brüsseler Instanzen auch einen sehr viel weiter gehenden Schluss zulässt, ja eigentlich schon nahelegt: den Schluss, dass – zumindest – die Brüsseler Bürokratie die EU bereits als bestehenden Staat betrachtet, was zugleich bedeuten würde, dass schon die Anerkennung als Bundesstaat für sie eine fast unerträgliche Beschränkung wäre, die es auszuhebeln gelte, so gut es eben geht. Dokumentarische Belege dafür gibt es selbstverständlich nicht. Eine ganze Reihe von unbestreitbaren Tatsachen weist aber sehr wohl in diese Richtung. Nur drei davon seien hier genannt: - der systematische Ausbau der Brüsseler Bürokratie, die ja schließlich zur Wahrnehmung konkreter Absichten – meist natürlich gegenüber den Gliedstaaten und ihren Bürgern – eingesetzt werden soll; - die offenbar systematische Ausdehnung der Rechtsangleichung über die einzusehenden ökonomischen Bedürfnisse hinaus in fast alle Bereiche des individuellen und gesellschaftlichen Lebens – der sogenannte aquis communautaire soll heute bereits 60 – 70.000 Druckseiten umfassen! - der unentwegte Kampf der Brüsseler Organe gegen ausnahmslose Kompetenzverteilungsbestimmungen des Vertragsrechts und die klammheimliche Erweiterung von Kompetenzbestimmungen durch extensive Auslegung – und in dem Bewusstsein, dass der EuGH solche Interpretationskunststücke schon billigen oder zumindest passieren lassen werde. Wahrscheinlich befinden wir uns an der Urzelle aller dieser Dinge, wenn wir vermuten, dass „Brüssel“ und zwar sowohl in Form seiner politischen Führungsorgane als auch in Form seiner Bürokratie – sich längst als Staat betrachtet und dabei sogar den Bindungen, die in einem Bundesstaat üblich sind, zumindest mit großer Skepsis gegenübersteht. Dass staatliche Parallelen bei Grundfragen der europäischen Integration eine bedeutende Rolle spielen müssen, sollte niemand bestreiten. Auf Irrwege führt es aber, dass bei einer so neuartigen Aufgabe wie der Integration Europas allein und ohne den vergewissernden Blick auf andere historische Erfahrungen gearbeitet wird; von zukunftszugewandter Phantasie wollen wir hier noch nicht einmal sprechen. Immerhin ist auch der „moderne“, zentralistische Beamtenstaat ja nur eine Ausnahmeerschei-

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nung in der jahrtausende langen Geschichte der Staatlichkeit. Staaten vom heutigen, modernen Typ gab es in Europa frühestens vor 400 Jahren, in Deutschland gibt es sie genau genommen erst seit 200 Jahren. In der Geschichte hat es aber noch ganz andere „transnationale“ Organisationsformen gegeben, die zwar auf gemeinsames Wirken untereinander und „nach außen“ größten Wert legten, auf Egalisierung „nach innen“ aber weitgehend verzichteten. Erwähnt seien nur die alten, vormodernen Staaten, Staaten- und Städtebünde des unterschiedlichsten Zuschnitts, unter ihnen sogar Großreiche wie das Römische Kaiserreich in den beiden ersten Jahrhunderten seiner Existenz und das britische Empire bis zu seinem Untergang um die Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie alle folgten gänzlich anderen Konstitutionsprinzipien als heute die EU. Zugegeben: Viele haben in der Geschichte gar keine Spur hinterlassen, weil sie zu schwach und zu locker gebaut waren. Andere waren aber über lange Zeiträume erfolgreich, und zwar meist gerade deshalb, weil sie in ihrem Innern nicht uniform, sondern in schwierigen Situationen flexibler waren als ihre straff durchorganisierten Konkurrenten. Man muss diese Organisationstypen nicht unbedingt für besser halten als den sogenannten modernen Staat, aber man muss es bedauern, dass sie bei der inneren Konstitution der europäischen Gemeinschaften überhaupt nicht in Betracht gezogen wurden, dass das bis heute nicht besser geworden ist und dass es vor allem in den Köpfen der Brüsseler Bürokratie auf kein Verständnis stößt. Im Grunde haben wir es hier mit einer ganz einfachen, aber oft nicht verstandenen Regel der juristischen Methodenlehre zu tun: Man kann eine Institution wie die EU nicht unter einen einzigen, gleichsam übergeordneten Begriff einordnen und daraus Folgerungen herleiten, die in ihren Gründungsakten gar nicht ausgesprochen sind. Es geht umgekehrt: Man hat zunächst mit den üblichen Methoden den Inhalt bzw. Nichtinhalt der Gründungsakte zu ermitteln und ihm dann seine Bezeichnung, nicht aber zusätzliche Inhalte zuzuordnen. Eine Flasche, in der sich ein bestimmter Wein befindet, verändert ihren Inhalt ja auch nicht, wenn man ihr ein anderes Etikett aufklebt. III. Das Bundesverfassungsgericht und die EU Die Fragen, um die es hier geht, spitzen sich in jüngster Zeit besonders zu, weil sich das deutsche Bundesverfassungsgericht zunehmend gezwungen sieht, sein Verhältnis zum europäischen Gemeinschaftsrecht und damit das Verhältnis des Grundgesetzes zu diesem Recht zu präzisieren. Genau gesagt geht es darum, ob das Karlsruher Gericht befugt ist, Bestimmungen der EU-Verträge auf ihre Vereinbarkeit mit den grundlegenden Prinzipien des Grundgesetzes zu überprüfen und gegebenenfalls ihre Anwendung in Deutschland zu untersagen. Naturgemäß besteht das Problem schon seit dem Beginn der europäischen Integration, zu der sich das Grundgesetz in seinem Artikel 24 von Anfang an ausdrücklich bekannt hat. Dementsprechend hat sich das Bundesverfassungsgericht, was seine Kontrollbefugnisse betrifft, stets sehr zurückhaltend geäußert, hat sich aber selbst in seinen europafreundlichsten Entscheidungen unmissverständlich eine letzte Prüfungskompetenz vorbehalten – offensichtlich in der Annahme, es werde zu solchen Konfliktsituationen infolge ver-

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nünftiger Handhabung der Dinge durch beide Seiten nicht kommen. Durch die immer weiter getriebene Verdichtung der Brüsseler Politik und ihrer rechtlichen Emanationen und wohl auch durch die Aussicht auf weitere Eingriffe der EU als Folge der internationalen Finanzkrise ist es in seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des Lissabon-Vertrages dann aber offensichtlich zu der Überzeugung gelangt, dass das Einlegen und noch mehr das rechtzeitige Vorzeigen einer Notbremse notwendig geworden sei. Damit sind wir wieder einmal am Kern der Dinge. Wäre die EU ein (Bundes-) Staat, so müsste eigentlich gelten, dass Bundesrecht Landesrecht „bricht“, das heißt im vorliegenden Falle, dass sich das Recht der EU weder um das deutsche Grundgesetz noch um die Verfassungen der anderen Mitgliedstaaten zu kümmern braucht. Für den Normalfall hat das auch seine Richtigkeit. Es gibt aber Fälle, in denen das genaue Gegenteil gilt, und die erschweren die ganze Problematik erheblich. Das gilt insbesondere für Deutschland. Das Grundgesetz hat, obwohl es sich von Anfang an zur europäischen Integration bekannte, in seinem Artikel 79 Absatz 3 schon dem verfassunggebenden Gesetzgeber, damit erst recht aber dem Integrationsgesetzgeber die Preisgabe seiner fundamentalen Grundsätze wie Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Parlaments„souveränität“ usw. untersagt, und so ist es auch in einer ganzen Reihe anderer Mitgliedstaaten der EU. Das war in Brüssel von allem Anfang bekannt und ist beim Abschluss der Verträge auch bewusst hingenommen worden, und hätte man dort Tempo und Fahrweise nicht immer mehr verschärft, so hätte in Karlsruhe mit Sicherheit auch niemand zur Notbremse gegriffen. Wie auch immer: Geht man vom deutschen Artikel 79 Absatz 3 und seiner Anerkennung beim Abschluss der Gemeinschaftsverträge aus, so kann man sich EURecht und Mitgliedstaatsrecht nicht mehr als geschlossene, einander über- bzw. untergelagerte „Schichten“ vorstellen, sondern man muss zugeben, dass sie je nach Einzelfragen ineinander verschränkt liegen, im Normalfall wie bei einem Bundesstaat, also mit Vorrang des EU-Rechts vor dem Mitgliedstaatsrecht, in besonders gelagerten Ausnahmefällen aber wie bei einem Staatenbund oder ähnlichen Erscheinungen, in denen das letzte Wort bei den Mitgliedern liegt. Mit dem klassischen Konzept eines Bundesstaates hat das alles nichts mehr zu tun. Das Bundesverfassungsgericht hat Recht: Die EU ist ein Phänomen sui generis, das man allenfalls noch als Staatenverbund bezeichnen kann. Und dieser Begriff ist so vage, dass man aus ihm keine eigenständigen materiellrechtlichen Konsequenzen ableiten kann. IV. 1952 bis 2012: Der große Aufgabenwechsel Politische Institutionen sind nicht zu verstehen, wenn man sich ausschließlich an ihrer Organisation und den Regeln ihrer Entscheidungsfindung orientiert. Beides ist selbstverständlich wichtig, noch wichtiger ist jedoch der Blick auf ihre Aufgaben, und wenn die sich im Laufe der Zeit ändern, bleiben Konsequenzen für Organisation und Entscheidungsfindung in aller Regel nicht aus. Die europäischen Gemeinschaf-

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ten, die es in den vergangenen sechs Jahrzehnten gegeben hat, sind ein eindringliches Beispiel für diese These. Wir sollten sie also etwas genauer betrachten. Als erste Aufgabe der europäischen Integration wurde von Anfang an – und wird bis heute – die Sicherung des Friedens genannt. Hier hat es seit dem Beginn der Montanunion im Jahre 1952 die wenigsten Änderungen gegeben, allerdings mehr in den Formeln als in der Sache. In ihrem Bestreben, Kriege wie die des 20. Jahrhunderts zu vermeiden, sind die europäischen Gemeinschaften außerordentlich erfolgreich gewesen – man kann hier wirklich von einer „Erfolgsgeschichte“ sprechen. Allerdings gilt das nur, soweit man den Frieden innerhalb des heutigen EU-Gebietes in den Blick nimmt. Versuche, im geographischen Vorfeld der EU für Frieden zu sorgen, sind, wie das Beispiel Ex-Jugoslawien zeigt, deutlich weniger erfolgreich geblieben und in Fragen des Weltfriedens hat Europa auch nicht mehr erreicht als die Superstaaten USA, UdSSR und China. Das soll allerdings keine Kritik an den jeweils für Europa agierenden Politikern sein, denen es nach geltendem Recht meist schon an den nötigen Befugnissen fehlt, sondern lediglich ein Hinweis darauf, wie sich selbst auf diesem Gebiet die Umwelt, in der Europa lebt, im Laufe der letzten sechs Jahrzehnte verändert hat. Eine zweite wirkliche Erfolgsgeschichte hat Europa in der Wirtschaft aufzuweisen. Der Weg zum heutigen Zustand war gewiss mit Irrtümern, Konflikten und Rückschlägen gepflastert. In ihrem heutigen Ergebnis war die Politik der Integration aber selbst im Weltmaßstab außerordentlich erfolgreich, das auch dann, wenn man die augenblicklichen Probleme der Finanz- und Währungsseite in die Berechnung einbezieht. Fundamentale Veränderungen hat es aber auch hier gegeben. So hat sich das ursprüngliche Schwergewicht, das auf der Landwirtschaft lag, unmissverständlich auf Industrieproduktion und weltweiten Handel verlagert, und der zweite ursprüngliche Schwerpunkt Kohle und Stahl, der selbstverständlich auch einen wesentlichen Kriegsgrund zwischen Staaten wie Frankreich, Belgien und Deutschland beseitigen sollte, ist aus dem europäischen Aufgabentableau fast restlos verschwunden – der Kohleabbau ist aus Preisgründen fast ganz eingestellt und die Stahlproduktion, die mittlerweile stark von der internationalen Nachfrage abhängig ist, ist seit 1952 durch einen ständigen Wechsel von Boom und Krise gekennzeichnet. Dazu kam seit dem Zusammenbruch des sozialistischen bzw. kommunistischen Lagers in den Jahren um 1990 als weiterer Veränderungsfaktor die sogenannte Globalisierung, deren erste Konsequenzen zwar wahrscheinlich den Europäern und Nordamerikanern zugute gekommen sind, die den „weißen Völkern“ auf die Dauer aber immer mehr Probleme schaffen dürfte, einerseits durch die ständig wachsende Zahl der heute so genannten BRIC-Staaten wie die ständig nachwachsende Zahl der „jungen Tiger“, andererseits durch die niedrigeren Produktionskosten auf Grund deren gänzlich anders gelagerter Lohn- und Sozialleistungsgefüge. Dem standzuhalten bzw. der europäischen Wirtschaft Hilfe in ihrem eigenen Existenzkampf zu geben, ist heute eine der beiden zentralen Aufgaben, deren Erfüllung von der EU und ihren Organen erwartet werden muss.

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Aber die Globalisierung hat entgegen weit verbreiteten Vorstellungen nicht nur ökonomische, sondern auch geistige, politisch-ideologische Aspekte. Gewiss hat sie – wie ihre Vorgängerin, die Kolonisation – zu einer Vermehrung gleicher oder zumindest ähnlicher Standards auf dem ganzen Erdball geführt, beispielsweise im Bereich der Naturwissenschaften bzw. Techniken, der Regierungs- und Verwaltungsusancen, Bildungseinrichtungen usw. Nur sind die betroffenen Völker mit all dem Neuen, das über sie hereingebrochen ist, nicht annähernd fertig geworden, sondern haben sich im Andrang des Neuen auch wieder auf ihre hergebrachten Überzeugungen besonnen. Auf die Globalisierung ist folgerichtig auch eine Art Regionalisierung der Welt gefolgt, vor deren Konsequenzen Europäer und Amerikaner derzeit staunend stehen. Die Staaten und Staatengruppen des Westens mit ihrem zentralen Glauben an den Wert des Individuums und seine Freiheit sind längst einer sehr viel größeren, wenn auch in sich heterogenen Anzahl von Staaten konfrontiert, in denen ganz anders gedacht wird, vor allem aus einer Haltung heraus, die das Individuum wesentlich geringer einschätzt als das Kollektiv; schon die Überzeugung von der Universalität der Menschenrechte ist diesen Staaten – und nicht nur ihren Regierungen! – durchaus fremd. Die Thematik soll hier nicht vertieft werden. Fest steht aber, dass Europa und damit auch die EU als Europas wichtigste Repräsentanz ihre ganze Kraft darauf zu verwenden haben werden, dass sie auch weiterhin nach ihren eigenen Überzeugungen leben können und diesen, vor allem den Menschenrechten, da oder dort in der Welt Geltung oder zumindest Verständnis schaffen können. Das ist die zweite große Aufgabe neben der Sicherung des erreichten Wohlstandes, von der schon die Rede war: die Sicherung des europäischen „way of life“, zumindest für die Lebensbereiche des „weißen Mannes“.

V. Stärke und Schwäche der EU Dass es zur Bewältigung dieser beiden Aufgabenkomplexe, die dem kleinen Kontinent Europa heute mehr abverlangen als noch vor einer Generation, eines außerordentlich starken Europa bedarf, versteht sich von selbst. Nur stellt sich dann – ganz abgesehen vom Militärischen, um das es hier gar nicht geht – die große Frage: Ist Europa wirklich stark genug? Man wird daran Zweifel hegen müssen. Natürlich ist die EU mit ihren 27 Mitgliedern heute größer, als es die drei ursprünglichen Gemeinschaften mit ihren sechs Mitgliedern waren, und natürlich sind in der Zwischenzeit die Zuständigkeiten der verschiedenen Gemeinschaften auf ein stolzes Maß angewachsen. Aber die Fragen bleiben: - Europa ist sowohl im administrativen wie im legislativen Bereich bürokratisch geworden. Aber schon von den herkömmlichen Staaten gilt: Ein bürokratischer Staat ist ein schwacher Staat, schon weil er wenig flexibel ist. Die heutige Welt mit ihrem pausenlosen Wandel verlangt aber oft rasches Reagieren.

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- Ist die EU in ihrer heutigen Größe noch so homogen, wie es die ursprünglichen Sechs waren? Schon heute ziehen sich unsichtbare Grenzen durch das Gebiet der EU: zwischen Industriestaaten und solchen, die es erst noch werden wollen, zwischen Staaten, die seit fünfzig Jahren in Freiheit und Wohlstand leben durften und solchen, die ein halbes Jahrhundert fremdbestimmt waren und weiteren Souveränitätsverzichten daher relativ skeptisch gegenüberstehen, zwischen solchen, die einer grundlegenden Reform der EU das Wort reden, und solchen, die Reformen lieber aus dem Weg gehen würden. Europäer sind sie alle und sollen daher in der EU bleiben können. Aber ist es dann nicht besser, die Integration im Wege der Verstärkten Zusammenarbeit, d. h. mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten voranzutreiben? - Sind EU-Regelungen wirklich dann am besten, wenn sie – nach dem Vorbild des hergebrachten Staates – Vollregelungen bis hinunter in die letzte Gemeinde und hinein in das letzte Detailproblem enthalten? Detailregelungen beruhen stets auch auf Abstraktionsvorgängen, d. h. es fallen immer mehr regionale, lokale, situationsbedingte, ja selbst traditionsbedingte Besonderheiten aus der legislativen Aufmerksamkeit heraus, anders ausgedrückt: es fallen immer mehr Kenntnisse der Realität heraus und werden durch theoretische Konstrukte „vom grünen Tisch“ ersetzt. Wäre es da nicht besser, zum alten Typ der Richtlinie zurückzukehren, die anzustrebenden Ziele festzulegen und alles Übrige wieder den nationalen Instanzen zu überlassen? - Was könnte das alles bedeuten, wenn, wie fast unausweichlich, eines Tages eine Art EU-Aufsicht über die Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten zustande kommt? Sollen dann wirklich 27 vollständige Haushaltspläne „in Brüssel“ gemacht werden, oder reicht es nicht aus, einige zentrale Daten vorzugeben (Staatsquote, Mindestanteil der Investitionen, Höchstanteil der Personalkosten, Höchstanteil der Kreditfinanzierung usw.)? - Und wenn es zu einer wirklichen außenpolitischen Kompetenz der EU kommt, muss dann wirklich in jeder Hauptstadt der Welt neben den Botschaften der Mitgliedstaaten noch eine Botschaft der EU stehen? Wäre es nicht effektiver, an einigen Brennpunkten der Welt spezielle, hochkarätige task-forces bereitzuhalten, die sofort beobachtend, berichtend, beratend aktiv werden und der Stimme Europas damit Gewicht verleihen könnten – also keine Diplomatie im herkömmlichen Sinne, sondern eine ausgesprochene Konferenz- und Konfliktdiplomatie? Man sieht: Es gäbe im Kreise der EU einiges zu tun, jedenfalls mehr als neben den Mitgliedern einen neuen, 28. Staat zu mimen. Die EU muss sich entlasten lassen, um stark zu werden!

Repräsentative Demokratie und Bürgerbeteiligung in Deutschland und der EU Von Jens Hofmann I. Einleitung Vor 150 Jahren – am 19. November 1863 – beschrieb US-Präsident Abraham Lincoln in seiner weltberühmten Gettysburg Address anlässlich der Einweihung eines Friedhofs für die Toten des amerikanischen Bürgerkriegs die amerikanische Demokratie als „government of the people, by the people and for the people“ und beschwor ihren Fortbestand. Mit diesen vielzitierten Worten ist das Selbstverständnis der modernen Demokratie kurz und prägnant beschrieben, die im Kern eine repräsentative Demokratie ist und um deren Bestand in der Zukunft sich auch heute viele sorgen. Der vor 70 Jahren geborene Jubilar hat sich in seinem wissenschaftlichen Wirken sowie in seinem Amt als Präsident des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls mit der repräsentativen Demokratie, ihren Gefährdungen sowie plebiszitären Alternativen befasst. Beispielsweise zusammen mit weiteren Schülern seines akademischen Lehrers Karl August Bettermann im Rahmen eines wissenschaftlichen Seminars vor genau 30 Jahren aus Anlass dessen 70. Geburtstags am 4. August 1983 in Celle.1 In seinem damaligen Beitrag setzte sich Hans-Jürgen Papier mit dem Thema „Parlamentarische Demokratie und innere Souveränität des Staates“, also der Problematik der Regierbarkeit des Staates auseinander. Als eine Ursache für die Gefährdung der Regierbarkeit des Staates erkannte er damals eine „gestörte Staat-Bürger-Beziehung“, die sich unter anderem an Bestrebungen zu einer hypertrophen „Umsetzung“ des demokratischen Prinzips und seiner Verbiegung in eine endlose „Bürger“-Partizipation zeige. An der skeptischen Grundhaltung des Jubilars hat sich bis heute nichts geändert. Nach seiner Meinung laufen Volksabstimmungen Gefahr, das parlamentarisch-repräsentative System zu schwächen, ohne dass auf der anderen Seite ein wirklicher Gewinn an Effizienz oder Rationalität ersichtlich wäre.2 Die Gesetzgebung sei 1 H.-J. Papier, Parlamentarische Demokratie und die innere Souveränität des Staates, in: Kloepfer/Merten/Papier/Skouris (Hrsg.), Das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland auf dem Prüfstand, Seminar zum 70. Geburtstag von Karl August Bettermann, 1984, S. 33 ff. 2 Vgl. einen Vortrag von H.-J. Papier auf der Landestagung des LACDJ BW am 22. 10. 2011 in Bad Krozingen, Rechtsforum 2/2011, 2 http://www.lacdj-bw.de/image/inhalte/file/ Rechtsforum_02_2011.pdf , sowie zitiert in der Badischen Zeitung vom 24. 10. 2011; ferner in: Die Welt vom 17. 5. 2012.

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vor allem auf der Bundesebene so hochkomplex, dass sie sich nicht auf punktuelle Ja/ Nein-Alternativen reduzieren lasse. Vielmehr müsse das Parlament die Gesamtverantwortung tragen. Es sei kein Gewinn an Demokratie, wenn engagierte Minderheiten ihren Willen gegen eine uninteressierte Mehrheit durchsetzen könnten. Trotz dieser Skepsis gegenüber der unmittelbaren Demokratie hält es Papier für erforderlich, die repräsentative Demokratie durch partizipatorische Elemente zu stärken. So hat er bereits mehrfach angeregt, entsprechend der durch den Vertrag von Lissabon eingeführten Bürgerinitiative (Art. 11 Abs. 4 EUV) dem Volk auf Bundesebene zu ermöglichen, über eine „Volksinitiative“ ein parlamentarisches Gesetzgebungsverfahren einleiten zu können.3 Des Weiteren hat er vorgeschlagen, das Listenmonopol der Parteien etwas zu lockern und den Bürgern die Möglichkeit zu geben, bei der Bundestagswahl auf die Reihenfolge der von einer Partei aufgestellten Kandidaten Einfluss zu nehmen.4 Diese Überlegungen des Jubilars geben Anlass, sich mit dem derzeit sehr aktuellen Thema „Repräsentative Demokratie und Bürgerbeteiligung“ auseinanderzusetzen und die Möglichkeiten sowie die Notwendigkeit der Ergänzung der parlamentarischen Demokratie um partizipative Elemente zu analysieren. Dabei ist sowohl die deutsche als auch die europäische Ebene in den Blick zu nehmen, weil Hoheitsgewalt mittlerweile im Verbund beider Ebenen ausgeübt wird und daher auch nur durch einen Europäischen Verfassungsverbund legitimiert sowie begrenzt werden kann.5 II. Vermessung der Grundlagen der Demokratie 1. Volkssouveränität und Herrschaftslegitimation In einer Demokratie muss alle staatliche Gewalt auf den Willen des Volkes zurückführbar sein. Dieser tragende Gedanke fand prägend für das heutige Europa Ausdruck in Art. 3 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789: „Das Prinzip jeder Souveränität entspringt seinem Wesen nach der Nation. Keine Körperschaft, kein einzelner kann eine Hoheitsgewalt ausüben, die nicht ausdrücklich von ihr ausgeht.“6 a) In Deutschland In der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland hat dieser Gedanke in Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG seinen Niederschlag gefunden, wonach alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Entsprechende Formulierungen finden sich in den Verfassungen der meisten 3

Vgl. zuletzt im Rechtsforum 2/2011, 2 (4). Vgl. in: Die Rheinpfalz vom 3. 5. 2009; Zeitonline vom 3. 5. 2009. 5 Siehe dazu: E. Schmidt-Aßmann, § 5 Verfassungsprinzipen für den Europäischen Verwaltungsverbund, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, 2. Aufl. 2012. 6 Zitiert nach P. Badura, Staatsrecht, 5. Aufl. 2012, D Rdnr. 6. 4

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Bundesländer,7 die zugleich durch die Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG auf diesen Grundsatz verpflichtet werden. Die gesamte Staatsgewalt, sei sie gesetzgebend, vollziehend oder rechtsprechend, muss somit vom Volk her legitimiert sein. Das BVerfG hat hier das Bild von der ununterbrochenen Legitimationskette geprägt, die sich vom Volk zu den mit staatlichen Aufgaben betrauten Organen und Amtswaltern erstrecken muss.8 Allerdings gilt dieses Erfordernis, das gerade die Verwaltung im Grundsatz auf eine hierarchische Struktur verpflichtet, nur für die unmittelbare Staatsverwaltung und die kommunale Selbstverwaltung.9 Außerhalb dieser Bereiche, namentlich im Rahmen der sog. funktionalen Selbstverwaltung, ist das Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 2 GG in Grenzen offen für die Erledigung öffentlicher Aufgaben durch Einbeziehung der Betroffenen in die Verwaltung.10 Neben der genannten personellen Legitimation verlangt das Prinzip der Volkssouveränität außerdem eine sachlich-inhaltliche Legitimation der Ausübung von Staatsgewalt. Diese folgt aus den vom Volk bzw. seiner Vertretung, dem Parlament, beschlossenen Gesetzen.11 Schließlich müssen sich auch die staatlichen Institutionen auf die vom Volk angenommene Verfassung sowie auf die von ihm bzw. dem Parlament angenommenen Gesetze zurückführen lassen.12 Das Subjekt, vom dem alle Herrschaft ausgeht, ist nach Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG das Staatsvolk. Nach der Rechtsprechung des BVerfG wird das Staatsvolk des Grundgesetzes von den Deutschen, also den deutschen Staatsangehörigen und den ihnen nach Art. 116 Abs. 1 GG gleichgestellten Personen, gebildet.13 Auch in den Ländern und Gemeinden bestimmt sich die Zugehörigkeit zum Legitimationsträger Volk durch die Staatsangehörigkeit.14 Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG gewährleistet damit für alle Gebietskörperschaften in Deutschland die Einheitlichkeit der demokratischen Legitimationsgrundlage.15 Dieser Zusammenhang ist – das ist der Entscheidung des BVerfG 7 Vgl. Art. 25 Abs. 1 S. 1 Verf. BW; Art. 3 Abs. 1 Verf. SN; Art. 2 Abs. 2 Verf. BY; Art. 70 Verf. HE; Art. 2 S. 1 Verf. BE; Art. 3 Abs. 2 S. 1 Verf. HH; Art. 66 Abs. 1 Verf. HB; Art. 2 Abs. 2 Verf. BB; Art. 2 Abs. 1 Verf. SH; Art. 3 Abs. 1 Verf. MV; Art. 3 Abs. 2 S. 1 u. 2 Verf. LSA; Art. 45 S. 1 Verf. TH; Art. 74 Abs. 2 Verf. RP; Art. 2 Abs. 1 S. 1 Verf. NI; Art. 61 Abs. 1 S. 1 Verf. SL; in der Verf. NRW fehlt eine entsprechende Formulierung. 8 Vgl. BVerfGE 47, 253. 9 Vgl. BVerfGE 107, 59. 10 Vgl. BVerfGE 107, 59. Die funktionale Selbstverwaltung ergänzt und verstärkt das demokratische Prinzip. Der Gesetzgeber darf ein wirksames Mitspracherecht der Betroffenen schaffen und verwaltungsexternen Sachverstand aktivieren, einen sachgerechten Interessenausgleich erleichtern und so dazu beitragen, dass die von ihm beschlossenen Zwecke und Ziele effektiver erreicht werden. Zu weiteren Vorgaben des GG für die funktionale Selbstverwaltung s. BVerfGE 111, 191. 11 Vgl. F. Schnapp, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2012, Art. 20 Rdnr. 26; Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 20 Rdnr. 35. 12 F. Schnapp (o. Fußn. 11), Rdnr. 27. 13 Vgl. BVerfGE 83, 37 (51). 14 Vgl. BVerfGE 83, 37 (53). 15 Vgl. BVerfGE 83, 37 (53 ff.).

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zum Vertrag von Lissabon zu entnehmen – im Grundsatz nach Art. 79 Abs. 3 GG unveränderlich. Denn das Recht der Staatsbürger auf demokratische Teilhabe ist in der Menschenwürde und im Demokratieprinzip verankert.16 Allerdings gestattet Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG Unionsbürgern nach Maßgabe von Art. 22 Abs. 1 EUV i. V. m. der RL 94/80/EG die aktive und passive Teilnahme an Kommunalwahlen.17 Diese Ausnahme von den Grundsätzen des Art. 79 Abs. 3 GG ist möglich, weil es sich mit Blick auf Art. 23 Abs. 1 GG um eine Modifikation handelt, die nicht den Kern der genannten Grundsätze berührt.18 Die Beteiligung von Unionsbürgern an Abstimmungen auf Kommunalebene, wie etwa Volksentscheiden, ist derzeit unionsrechtlich nicht vorgesehen.19 Gleichwohl wurde sie von einigen Ländern zugelassen.20 Allerdings ist fraglich, ob diese landesrechtlichen Erweiterungen vor dem Hintergrund, dass Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG ausdrücklich auf Unionsrecht Bezug nimmt und eine Öffnungsklausel wie Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG als Ausnahme vom Grundsatz eng auszulegen ist, nach dem Grundgesetz derzeit zulässig ist.21 Geboten und sinnvoll wäre insoweit eine Erweiterung des Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG. b) In der Europäischen Union Die Ausübung von Volkssouveränität ist indessen nicht mehr wie nach dem oben zitierten Verständnis des Begriffs im Jahr 1789 auf die „Nation“ beschränkt. Art. 23 Abs. 1 GG gestattet die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union, eine sog. supranationale Organisation, die in den Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes und mit Vorrang ausgestattetes Recht setzen kann, die allerdings keine umfassende, sondern eine begrenzte Kompetenz besitzt (Art. 5 Abs. 2 EUV). Diese Europäische Union, der Deutschland beitreten durfte, muss nach Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG „demokratischen Grundsätzen“ genügen. Allerdings müssen die demokratischen 16 Vgl. BVerfGE 123, 267 (341); a.A. K.-E. Hain, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 79 Abs. 3 Rdnr. 79; B.-O. Bryde, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2012, Art. 79 Rdnr. 42, allerdings ohne Berücksichtigung des Lissabon-Urteils des BVerfG. 17 Richtlinie 94/80/EG des Rates vom 19. 12. 1994 über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen (ABl. L 68 vom 31. 12. 1994, S. 38), zuletzt geändert durch Richtlinie 2006/106/EG des Rates vom 20. 11. 2006 (ABl. L 363 vom 20. 12. 2006, S. 33). 18 Vgl. VerfG HH, NVwZ-RR 2010, 129 (131) unter Verweis auf BVerfGE 30, 1 (24) und 85, 155 (179 f.). 19 Vgl. Art. 2 Abs. 1 Buchst. b RL 94/80/EG; ebenso: W. Kluth, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 22 AEUV Rdnr. 11. 20 Vgl. § 12 Abs. 1 und § 14 GemO BW sowie Art. 72 Abs. 1 S. 2 Verf. BW, der allerdings dies auch bzgl. Abstimmungen nur nach Maßgabe von Unionsrecht zulässt; § 7 KWahlG NRW i. V. m. § 21 Abs. 2 und § 26 GemO NRW. 21 Zum Streitstand: M. Nierhaus, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 28 Rdnr. 27; ablehnend: R. Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 28 (1997) Rdnr. 41 bis 41 f.; bejahend: K. Engelken, NVwZ 1995, 432.

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Grundsätze in der EU nicht in der gleichen Weise wie im Grundgesetz verwirklicht werden. Damit nimmt das Grundgesetz nicht nur Rücksicht auf die Erfordernisse einer supranationalen Organisation,22 sondern auch auf unterschiedliche Modelle demokratischer Legitimation in den Mitgliedstaaten der Union.23 Das Recht auf freie und geheime Wahl einer gesetzgebenden Körperschaft aus Art. 3 des Zusatzprotokolls zur EMRK sowie die in Art. 7 EUV vorgesehenen Sanktionsmöglichkeiten bei einer schwerwiegenden Verletzung demokratischer Grundsätze (Art. 2 EUV)24 bilden dagegen europarechtliche Grenzen für die Ausgestaltung der Demokratie in den Mitgliedstaaten. Die demokratische Legitimation der EU ist dual. Sie wird gemäß Art. 10 Abs. 2 EUV vermittelt über das Europäische Parlament als unmittelbare Vertretung der Unionsbürger sowie mittelbar über die im Rat vertretenen Regierungen der Mitgliedstaaten, die ihrerseits gegenüber den nationalen Parlamenten bzw. ihren Bürgern Rechenschaft ablegen müssen. Aus unionsrechtlicher Sicht scheint damit der Schwerpunkt der Legitimationsvermittlung über das Europäische Parlament zu verlaufen. Dieser Eindruck trügt. Denn die EU verfügt nicht über die sog. „Kompetenz-Kompetenz“ (Souveränität), die Mitgliedstaaten sind weiterhin „Herren der Verträge“. Daraus folgt, dass die EU ihre Legitimation zum überwiegenden Teil über die Mitgliedstaaten und damit den Rat erhält.25 Ein weiterer Grund dafür, dass das Schwergewicht der demokratischen Legitimation über die Mitgliedstaaten verlaufen muss, ist das bei der Wahl des Europäischen Parlaments gegebene, zum Teil erhebliche Ungleichgewicht der Stimmen der Unionsbürger der verschiedenen Mitgliedstaaten.26 Solange der EU jedoch nicht die „Kompetenz-Kompetenz“ übertragen wird und den Mitgliedstaaten ausreichend Raum zur Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse bleibt, ist es aus Sicht des Grundgesetzes nicht zu beanstanden, wenn die EU somit nicht „staatsanalog“ ausgestaltet und das Europäische Parlament nicht der Hauptpfeiler der demokratischen Legitimation ist.27 Soll dies geändert werden, bedarf es einer Neukonstituierung (vgl. Art. 146 GG).28 Dem Europäischen Parlament kommt daher derzeit nur „legitimitätsabstützende“29 Bedeutung zu, die freilich ernst zu nehmen ist. 22

Vgl. BVerfGE 123, 267 (366). Vgl. C. Classen, Demokratische Legitimation im offenen Rechtsstaat, 2009, S. 91 ff.; P.-M. Huber, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 10 EUV Rdnr. 3 bis 6. 24 Kernbereiche sind: Selbstbestimmung, Mehrheitsentscheidung, Minderheitenschutz, Meinungsfreiheit und freie Wahlen mit Parteienmehrheit, vgl. BVerfGE 123, 267 (366 bis 368); C. Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 2 EUV Rdnr. 21. 25 Vgl. BVerfGE 123, 267; P.-M. Huber (o. Fußn. 23), Art. 10 EUV Rdnr. 37 ff. 26 Vgl. BVerfGE 123, 267 (371). 27 Vgl. BVerfGE 123, 267 (368 f.). 28 Zum Verfahren der Neukonstituierung siehe P.-M. Huber, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 146 Rdnr. 16 – 17; str, ob dies überhaupt möglich ist, dazu: C. Hillgruber, in: Epping/ders. (Hrsg.), BeckOK GG, Art. 146 (2012) Rdnr. 9 bis 11. 29 Vgl. P.-M. Huber (o. Fußn. 23), Art. 10 EUV Rdnr. 30. 23

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Legitimationssubjekt der EU sind damit in erster Linie die Völker der Mitgliedstaaten, das heißt deren staatsangehörige Bürger.30 Dies gilt insbesondere hinsichtlich des über den Rat verlaufenden Legitimationsstranges. Art. 10 Abs. 2 und Art. 14 Abs. 2 S. 1 EUV benennen für den über das Europäische Parlament verlaufenden Legitimationsstrang dagegen die Unionsbürger als Legitimationssubjekt. Bezeichnend ist insoweit, dass hier nicht das „Europäische Volk“ genannt wird. Dies hat seine Berechtigung darin, dass es sich bei der EU um keinen Bundesstaat handelt. Gleichwohl erstaunt der direkte Zugriff auf die Unionsbürger anstelle einer Bezugnahme auf die Bürger der Mitgliedstaaten. Zwar hat die EU zum Ziel, dass ihre Entscheidungen möglichst „bürgernah“ getroffen werden (vgl. Art. 1 Abs. 2 EUV). Dennoch wird mit der Benennung der „Unionsbürger“ als Legitimationssubjekt in gewisser Hinsicht verschleiert, dass es sich auch beim Europäischen Parlament letztlich um eine Vertretung der europäischen Völker handelt.31 Dies folgt daraus, dass die Abgeordneten des Europäischen Parlaments nach nationalen Kontingenten gewählt werden, die lediglich degressiv proportional ausgestaltet sind (Art. 14 Abs. 2 S. 3 und 4 EUV). Obwohl Art. 9 S. 1 EUV die Gleichheit der Unionsbürger konstituiert, fehlt in den in Art. 14 Abs. 3 EUV sowie in Art. 39 Abs. 2 EU-Grundrechte-Charta normierten Wahlrechtsgrundsätzen der Grundsatz der Gleichheit der Wahl. Der Durchgriff auf die Unionsbürger als Legitimationssubjekt für die EU macht dennoch Sinn. Denn die Unionsbürgerschaft beinhaltet das Recht zur Teilnahme an der Wahl zum Europäischen Parlament im Wohnsitzstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Betreffende nicht besitzt. Außerdem haben Unionsbürger die Möglichkeit, grenzüberschreitend über eine Bürgerinitiative die Kommission aufzufordern, einen Rechtssetzungsvorschlag zu unterbreiten (Art. 11 Abs. 4 EUV). Darüber hinaus weist der Zugriff auf die Unionsbürger den Weg für die Zukunft. Das Recht auf demokratische Teilhabe kann in einem europäischen Bundesstaat nur auf der Gleichheit der Unionsbürger aufbauen.32 Für die Legitimation der derzeitigen Europäischen Union sind außerdem die nationalen Parlamente von besonderer Bedeutung. Dies schlägt sich auf EU-Ebene in Informations- und Beteiligungsrechten sowie dem Recht zur Subsidiaritätskontrolle nieder (vgl. Art. 12 EUV in Verbindung mit den Protokollen 1 und 2). Nach dem Grundgesetz obliegt den Gesetzgebungsorganen des Bundes neben der Bundesregierung eine sog. „Integrationsverantwortung“, insbesondere bei Vertragsänderungsverfahren ohne Ratifikationsverfahren.33 Außerdem verlangen Art. 23 Abs. 2 bis 7 30

Vgl. BVerfGE 123, 267 (348). Vgl. BVerfGE 123, 267 (368, 371 ff.). 32 Nach der EMRK sind sachlich gerechtfertigte Abweichungen bzgl. der Erfolgswertgleichheit möglich. Dagegen gelten für die Gleichheit des Zählwerts der Stimmen, zur der wohl auch die bei der Kontingentierung betroffene Erfolgschancengleichheit zu rechnen ist, strengere Vorgaben; vgl. EGMR, Urt. v. 2. 3. 1987, 9267/81, Mathieu-Mohin and Clerfayt v. Belgium, Rdnr. 54; Urt. v. 7. 2. 2008, 39424/02, Kovach v. Ukraine, Rdnr. 49; BVerfGE 123, 267 (373). 33 Vgl. BVerfGE, 123, 267; siehe dazu ferner das Integrationsverantwortungsgesetz. 31

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GG sowie die hierzu ergangenen Ausführungsgesetze die Mitwirkung von Bundestag und Bundesrat in Angelegenheiten der EU.34 Eine entscheidende Mitwirkung des Bundestages ist insbesondere dann erforderlich, wenn es um das „Königsrecht“ des Parlaments, die Budgethoheit, geht.35 Bezüglich der Ebene der Länder wurde – maßgeblich unterstützt durch eine Rede von Hans-Jürgen Papier – im Rahmen der Konferenz der Präsidentinnen und Präsidenten der deutschen Landesparlamente durch die sog. „Stuttgarter Erklärung“ vom 21. Juni 2010 eine Beteiligung der Landtage bei der Wahrnehmung der Integrationsverantwortung durch die Landesregierungen im Bundesrat gefordert, soweit es um die Gesetzgebungsbefugnisse der Länder geht.36 In der Folge hat als erster Landtag der Landtag von Baden-Württemberg mit Art. 34a der Verfassung des Landes sowie dem Gesetz über die Beteiligung des Landtags in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 17. Februar 201137 Informations- und Mitwirkungsrechte durchgesetzt. Inwieweit diese in der Praxis wirksam sind, muss sich noch erweisen.38 2. Ausübung des Volkswillens Das Volk, auf das sich jede staatliche Herrschaft zurückführen lassen muss, kann jedoch nicht als solches selbst handeln. Es bedarf der Repräsentation (a) sowie besonderer Verfahren der Willensbildung (b). Außerdem muss die repräsentative Herrschaftsausübung zur Sicherung der Bindung an den Volkswillen bestimmte Grundbedingungen erfüllen (c). a) Notwendigkeit der Repräsentation Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG legt fest, dass die Staatsgewalt vom Volk durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt wird. Ähnliche Bestimmungen kennen die Verfassungen der Bundesländer,39 wobei einige – wie die Verfassung des Freistaates Bayern – daneben die Ausübung 34 Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union und Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union. 35 BVerfGE 129, 124; BVerfG, NVwZ 2012, 495; BVerfG, NVwZ 2012, 954. 36 Vgl. H.-J. Papier, Zur Verantwortung der Landtage für die europäische Integration, ZParl 2010, 903; die „Stuttgarter Erklärung“ ist zu finden als Drucksache des Landtags BW 14/6554. 37 GBl. S. 77. 38 Zu verfassungsrechtlichen Zweifeln an der verfassungsrechtlichen Befugnis der Landtage, an den Entscheidungen der Landesregierungen im Bundesrat mitzuwirken siehe A. Voßkuhle, Festrede anlässlich des 60jährigen Bestehens des Landes Baden-Württemberg im Rahmen einer Landtagssitzung am 25. 4. 2012, zu finden unter: http://www.bundesverfas sungsgericht.de/aktuell/rede-praesident-laenderparlamenteEU-2012.html. 39 Vgl. Art. 25 Abs. 1 Verf. BW; Art. 61 Abs. 1 S. 2 Verf. SL; Art. 3 Abs. 1 Verf. MV; Art. 2 Abs. 1 Verf. NI.

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der Staatsgewalt durch die stimmberechtigten Staatsbürger besonders akzentuieren.40 Für die Europäische Union bestimmt Art. 10 Abs. 1 EUV, dass die Arbeitsweise der Union auf der repräsentativen Demokratie beruht. Alle Ebenen des Europäischen Verfassungsverbunds weichen somit wie selbstverständlich von der Idee der „Identität von Regierenden und Regierten“41 ab. Eine Demokratie, in der diese Vorstellung in Reinform verwirklicht würde, wäre zwar vollkommen unmittelbar. Allerdings wäre sie in der Praxis untauglich, es wäre eine Volksherrschaft ohne Staat.42 Das Volk oder selbst Gruppen des Volkes sind als solche nicht handlungsfähig. Notwendig ist eine gewisse Organisation durch einige oder ein leitendes Organ. Jedes dieser Organe bedarf der Autorität und unterliegt dem Gesetz der kleinen Zahl. Diejenigen, denen die Aktualisierung des Willens der Gesamtheit übertragen ist, müssen über ein gewisses Maß an Entscheidungsfreiheit und damit demokratisch nicht gebundener Macht verfügen.43 Aus dem gleichen Grund kann ein auf dem imperativen Mandat basierendes Modell, wie die Rätedemokratie oder wohl auch das elektronische Demokratiemodell des „LiquidFeedback“44, nur dann funktionieren, wenn es von der Bindung Abstriche macht.45 Hinzu kommt, dass ein identitär-direktdemokratisches Demokratiemodell voraussetzt, dass sich alle für alle Themen interessieren und daher bereit sind, sich für eine diesbezügliche Entscheidung Fachkompetenz zu erwerben. Ein solch hohes Maß an Engagement kann von den Bürgern jedoch nicht erwartet und geleistet werden.46 So kennt beispielsweise auch die Entscheidungsfindungssoftware „LiquidFeedback“ für Fälle des fehlenden Interesses die Möglichkeit einer weisungsfreien Stimmvollmacht.47 Insgesamt wird daher deutlich, auch ein rein direkt-demokratisch ausgestaltetes System ist der Gefahr ausgesetzt, dass es zu Partizipationsdefiziten sowie zur Stärkung des Einflusses aktiver Minderheiten kommt.48 Abgesehen davon wäre ein solches Demokratiesystem ebenfalls repräsentativ, allerdings nur

40 Vgl. Art. 4 Verf. BY; aufteilend in unmittelbare und mittelbare Ausübung etwa: Art. 71 Verf. HE; Art. 2 S. 2 Verf. BE; Art. 66 Verf. HB. 41 C. Schmitt, Verfassungslehre, 1970, S. 234. 42 Vgl. P. Badura (o. Fußn. 6), D Rdnr. 10. 43 Siehe zum Ganzen: E.-W. Böckenförde, § 34 Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. 2005, Rdnr. 9 bis 11. 44 Vgl. die Internetseite „liquidfeedback.org“. 45 Zur Räterepublik: P. Badura (o. Fußn. 6), D. Rdnr. 10. Zu weiterer Kritik an der „Demokratie per Knopfdruck“, insbesondere der Gefahr emotionaler Entscheidungen und populistischer Einflussnahme: K.-P. Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 20 Rdnr. 195. 46 Vgl. E.-W. Böckenförde (o. Fußn. 43), Rdnr. 6 bis 8. 47 Vgl. die Internetseite „liquidfeedback.org“. 48 Vgl. E.-W. Böckenförde (o. Fußn. 43), Rdnr. 6.

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verdeckt. Repräsentation bei der Ausübung von Volksherrschaft ist daher – in mehr oder minder großem Umfang – eine Sachnotwendigkeit.49 b) Verfahren der Willensbildung – Wahlen und Abstimmungen In einer repräsentativen Demokratie werden die Personen, denen das Volk auf Zeit Herrschaft überträgt, durch Wahlen ermittelt. Wahlen sind staatsrechtlich keine Sachentscheidungen, sondern auf die Berufung von Personen gerichtet. Für die Ebene der EU finden – wie oben bezüglich der beiden Legitimationsstränge der EU gezeigt – die derzeit noch wichtigeren Wahlen auf nationaler Ebene statt, wo die Mitglieder des Rates über die Wahlen eines nationalen parlamentarischen Repräsentativorgans und nachfolgend einer Regierung (z. B. in Deutschland oder Österreich) oder über die Wahl des Staatschefs (z. B. in Frankreich) kreiert werden. Auf Bundesebene findet sich ebenfalls ein auf dem Ratsprinzip beruhendes, das heißt ein nur mittelbar durch Wahlen geschaffenes, Gesetzgebungsorgan, der Bundesrat.50 Zentrales und auf dem Repräsentationsprinzip basierendes Gesetzgebungsorgan ist in einer Demokratie in aller Regel das Parlament, dessen Mitglieder zumeist unmittelbar vom Volk gewählt werden.51 Dabei können die Mitglieder des Parlaments durch eine reine Personen- oder durch eine Richtungs- bzw. Verhältniswahl gewählt werden.52 Die Wahl ist jedenfalls der zentrale Vorgang, durch den das Volk Staatsgewalt ausübt.53 Daher muss die Wahl – in der sich das in der Menschenwürde verankerte demokratische Teilhaberecht verwirklicht54 – nach dem Grundgesetz sowie den Landesverfassungen den Grundsätzen einer allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl folgen (vgl. Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG und z. B. Art. 26 Abs. 4 Verf. BW). Sollen bei einer Wahl elektronische Wahlgeräte eingesetzt werden, ist zugleich der aus den Grundsätzen der Demokratie, der Republik und des Rechtsstaats abzuleitende Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl, d. h. der Kontrollierbarkeit des Wahlvorgangs, zu beachten.55

49 So auch BVerfGE 5, 85 (195 f.); K.-E. Hain (o. Fußn. 16), Rdnr. 81; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Demokratie) Rdnr. 108. 50 Vgl. im Gegensatz dazu das Senatsmodell, bei dem die Mitglieder eines föderativen Organs direkt vom Volk gewählt werden, dazu W. Krebs, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2012, Art. 50 Rdnr. 1. 51 Dabei kann die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament variieren, vgl. M. Brenner, § 44 Das Prinzip Parlamentarismus, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. 2005, Rdnr. 4 bis 6. 52 Vgl. H. Meyer, § 45 Demokratische Wahl und Wahlsystem, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. 2005, Rdnr. 6 u. 9. 53 Vgl. BVerfG, Urteil vom 25. 7. 2012, 2 BvE 9/11 u. a., Juris Rdnr. 52. 54 Vgl. BVerfGE 123, 267 (340 f.). 55 Vgl. BVerfGE 123, 39.

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Die Möglichkeiten des Volkes zur Willensbildung beschränken sich jedoch nicht nur auf die Auswahl des politischen Personals. Vielmehr sind auch unmittelbar vom Volk getroffene Sachentscheidungen denkbar. In der Terminologie des Grundgesetzes sowie der Landesverfassungen werden sie als „Abstimmungen“ bezeichnet.56 Auf Bundesebene sind sie derzeit nur bei der Länderneugliederung (Art. 29, 118 und 118a GG) sowie im Rahmen der Neukonstituierung des deutschen Volkes (Art. 146)57 vorgesehen. Die Länderverfassungen ermöglichen dagegen dem Volk durchweg eine weitergehende unmittelbare Beteiligung an Sachentscheidungen. Auf einer ersten Ebene sehen viele Landesverfassungen eine sog. „Volksinitiative“58 vor, die darauf gerichtet ist, dass sich der Landtag mit einem Gegenstand der politischen Willensbildung befasst; möglicher Gegenstand ist auch ein Gesetzentwurf.59 Die Volksinitiative dient vor allem der Kommunikation zwischen Bürgern und Parlament.60 Daneben und z. T. daran anknüpfend kennen die Landesverfassungen die Möglichkeit eines Volksbegehrens. Mit dem Volksbegehren soll vor allem nachgewiesen werden, dass ein hinreichender Teil der Bürger eine unmittelbare Entscheidung durch das Volk für erforderlich hält.61 Dem Volksbegehren muss ein ausgearbeiteter Gesetzentwurf zugrunde liegen, was in der Praxis schon eine nicht unerhebliche Hürde darstellt. Zumeist hat zunächst das Parlament das Recht, sich vorab mit dem Gesetzentwurf zu befassen.62 Nimmt das Parlament den Gesetzentwurf nicht an, folgt ein Volksentscheid, das heißt die verbindliche Entscheidung der Wahlbürger.63 Neben Volksentscheiden als Folge eines vom Parlament nicht übernommenen Gesetzentwurfs des Volkes sehen einige Landesverfassungen obligatorische oder fakultative Entscheidungen des Volkes vor, bei denen die Initiative von einem Repräsentativorgan ausgeht (Referendum).64 So bedarf beispielsweise eine Verfassungsänderung in Bayern zwingend eines Referendums.65 In Baden-Württemberg besteht für die Regierung die Möglichkeit, über Gesetze in gewisser Umgehung des Landtags durch ein Referendum befinden zu lassen.66 56

Vgl. statt vieler K.-P. Sommermann (o. Fußn. 45), Art. 20 Abs. 2 Rdnr. 161. Siehe dazu: BVerfGE 123, 267 sowie zur Diskussion mit Blick auf die Lösung der sog. „Euro-Krise“: H.-P. Schneider, Das Volk überzeugen, in: FAZ v. 9. 8. 2012, 6; M. Kumm, Ein Signal für Europa, in: FAZ v. 9. 8. 2012, 6; P.-M. Huber (o. Fußn. 28). 58 Vgl. z. B. Art. 47 Verf. NI, Art. 67a Verf. NRW, Art. 108a Verf. RP oder Art. 80 Verf. LSA. 59 Vgl. dazu insbes. J. Rux, Direkte Demokratie in Deutschland, 2008, S. 909 ff. 60 J. Rux (o. Fußn. 59), S. 910. 61 J. Rux (o. Fußn, 59), S. 41. 62 Vgl. z. B. Art. 60 Verf. BW, Art. 74 Verf. BY, Art. 18 Verf. LSA. 63 Vgl. z. B. Art. 60 Verf. BW, Art. 74 Verf. BY, Art. 18 Verf. LSA. 64 Vgl. dazu P. Krause, § 35 Verfassungsrechtliche Möglichkeiten unmittelbarer Demokratie, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. 2005, Rdnr. 29 ff. 65 Vgl. Art. 75 Abs. 2 S. 2 Verf. BY. 66 Vgl. Art. 60 Abs. 2 und 3 Verf. BW; siehe auch das Verfahren nach Art. 60 Abs. 3 Verf. BW zur Abstimmung über das „S 21-Kündigungsgesetz“ (LT-Drs. 15/496); dazu etwa: R. Ruf, 57

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Ob dagegen rein unverbindliche und konsultative Volksbefragungen – wozu die „Volksbefragungen“ in Art. 29 und 118 GG nicht zählen67 – verfassungsrechtlich überhaupt zulässig sind, ist umstritten.68 Das Übergehen einer rein konsultativen Willensäußerung des Volkes durch die Repräsentativorgane ist in einer Demokratie allerdings kaum vorstellbar. Daher erschließt sich der Sinn einer unverbindlichen Volksbefragung nur schwer. Auf EU-Ebene wurde mit dem Vertrag von Lissabon in Art. 11 Abs. 4 EUV die Möglichkeit einer „Bürgerinitiative“ geschaffen. Mit ihr kann das für Rechtssetzungsinitiativen grundsätzlich zuständige Organ, die Kommission (Art. 17 Abs. 2 EUV), aufgefordert werden, zu einem bestimmten Thema einen Vorschlag für einen Rechtsetzungsakt zu unterbreiten.69 Entgegen der Meinung des BVerfG70 ist eine solche Aufforderung nicht völlig unverbindlich. Die Kommission ist jedenfalls zum Tätigwerden und zur inhaltlichen Bescheidung eines zulässigen Begehrens verpflichtet, wobei sie inhaltlich dem Begehren nicht folgen muss. Dies ergibt sich aus Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 211/201171 sowie Art. 24 AEUV und Art. 44 EU-Grundrechte-Charta.72 Damit stellt die EU-Bürgerinitiative ebenso wie die in einigen Bundesländern existierende Volksinitiative ein Mittel zur Kommunikation mit den für die Gesetzgebung zuständigen Repräsentativorganen sowie des politischen „AgendaSettings“73 dar. Im Vergleich zum Volksbegehren erleichtert sie die Mitwirkung insofern, als kein vollständiger Gesetzentwurf vorgelegt werden muss. Allerdings kann sie nicht zu einem Volksentscheid führen. Die Entscheidung verbleibt im Rahmen der Repräsentativorgane. Gesetzen, die im Rahmen eines Volksentscheids beschlossen werden, kommt im Vergleich zu den von den Repräsentativorganen beschlossenen Gesetzen keine höhe-

Die befriedende Wirkung des Referendums, StZ vom 25. 2. 2012; O. Jung, Stuttgart 21 und die Direkte Demokratie, Recht und Politik 2012, 11. 67 Vgl. BVerfGE 1, 14: „Eine Volksbefragung nach Art 118 S. 2 GG liegt nur vor, wenn das Ergebnis der Volksbefragung für die Art der Neugliederung bestimmend, nicht auch, wenn es nur eine für den Bundesgesetzgeber unverbindliche Richtschnur ist.“ 68 Dezidiert auch gegen eine verfassungsrechtliche Einführung: P. Krause (o. Fußn. 64), Rdnr. 23 ff.; im Grundsatz offen: BVerfGE 8, 104; dagegen meint H. Dreier (o. Fußn. 49), Rdnr. 111, dass Volksbefragungen sogar durch einfaches Gesetz ermöglicht werden können. 69 Zu den Zulässigkeitsbedingungen s. im Einzelnen die VO (EU) Nr. 211/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. 2. 2011 über die Bürgerinitiative (ABl. L 65 vom 11. 3. 2011, S. 1). 70 Vgl. BVerfGE 123, 267 (377). 71 s. o. Fußn. 69. 72 So auch: P.-M. Huber (o. Fußn. 23), Art. 11 Rdnr. 42; A. Guckelberger, Die Europäische Bürgerinitiative, DÖV 2010, 745 (753); M. Tiedemann, Die sekundärrechtliche Ausgestaltung der europäischen Bürgerinitiative durch die Verordnung (EU) Nr. 211/2011, NVwZ 2012, 80 (84); für einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung der Kommission: M. Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 11 Rdnr. 19. 73 A. Guckelberger (o. Fußn. 72), 746.

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re demokratische Legitimation und damit auch kein höherer Rang zu.74 Sie können von den repräsentativen Gesetzgebungsorganen in gleicher Weise abgeändert werden wie ein Parlamentsgesetz. Gleichwohl gibt es gewisse Rücksichtnahmepflichten vor und nach Volksabstimmungsverfahren.75 Bei Abstimmungen finden die für Wahlen geltenden Stimmrechtsgrundsätze Anwendung. Auch Volksentscheide müssen allgemein, frei, gleich, unmittelbar und geheim stattfinden.76 Die Verfassungen der Länder regeln dies z. T. ausdrücklich.77 Das Recht auf eine freie und gleiche Wahl ist Teil des nach Art. 79 Abs. 3 GG verfassungsfesten Kerns.78 Die Allgemeinheit der Wahl bringt einen bestimmten Aspekt der Gleichheit, nämlich den Zugang zur Wahl zum Ausdruck.79 Soweit die Geheimheit der Wahl ihre Freiheit sichert, ist sie ebenfalls verfassungsfest.80 Außerdem ist auch bei Abstimmungen der für Wahlen vom BVerfG entwickelte Grundsatz der Öffentlichkeit, das heißt der öffentlichen Kontrollierbarkeit des Abstimmungsverfahrens, zu beachten. Denn auch Volksabstimmungen stellen staatliche Machtausübung dar, die sich legitimieren und die nachvollziehbar sein muss. Daher erscheinen Abstimmungen über Wahlcomputer oder gar über das Internet, die zugleich den Grundsätzen der Geheimheit und der Kontrollierbarkeit des Verfahrens genügen sollen, kaum möglich.81 c) Grundbedingungen des repräsentativen Mandats Die Rückbindung des durch Wahlen übertragenen repräsentativen Mandats an den Volkswillen bedarf der Sicherung, damit gewährleistet ist, dass die politisch Handelnden die Bürger auch inhaltlich vertreten.82 Von besonderer Bedeutung sind folgende Elemente: Klassisches Element der repräsentativen Demokratie ist die Freiheit des Mandats. Es besagt, dass die gewählten Abgeordneten als Person – nicht die Parteien oder 74 Vgl. M. Rossi/S.-C. Lenski, Treuepflichten im Nebeneinander von plebiszitärer und repräsentativer Demokratie, DVBl. 2008, 416 (418); P.-M. Huber, Parlamentarische und plebiszitäre Gesetzgebung im Widerstreit, ZG 2009, 311 (314 f.). 75 Vgl. M. Rossi/S.-C. Lenski (o. Fußn. 74), 420 ff.; P.-M. Huber (o. Fußn. 74), 315 ff. 76 Vgl. BVerfGE 13, 54 (91 f.); 28, 220 (224); K.-E. Hain (o. Fußn. 16), Rdnr. 82. 77 Vgl. Art. 26 Abs. 4 Verf. BW; Art. 72 u. 73 Abs. 2 Verf. HE; Art. 76 Abs. 1 Verf. RP; ferner: VerfG HH, Urt. v. 14. 12. 2011, HVerfG 3/10, Juris Rdnr. 121 ff. u. 173 ff. 78 Vgl. BVerfGE 123, 267 (341). 79 Vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 4. 7. 2012, 2 BvC 1/11 u. a., Rdnr. 31 ff. 80 Vgl. Sachs (o. Fußn. 11), Art. 79 Rdnr. 70; K.-E. Hain (o. Fußn. 16), Rdnr. 82; a.A. Dreier (o. Fußn. 49), Art. 79 III Rdnr. 38. 81 Vgl. auch die Einschätzung des Vereins „Interaktive Demokratie“ zur Abstimm-Software „LiquidFeedback“: http://liquidfeedback.org/2011/09/15/ueberprufbarkeit-demokrati scher-prozesse-teil-2/. 82 Vgl. H.-H. Trute, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2012, Art. 38 Rdnr. 73; E.-W. Böckenförde (o. Fußn. 43), Rdnr. 3.

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Fraktionen – Vertreter des ganzen Volkes und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden sind. Dieser Grundsatz ist im Grundgesetz (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG)83 und in den Länderverfassungen84 verankert und gilt auch für das Europäische Parlament,85 wobei sich dort die Vertretungsfunktion entgegen Art. 10 Abs. 2 EUV auf die jeweiligen Völker bezieht.86 Allerdings vertritt nicht der einzelne Abgeordnete, sondern die Gesamtheit der Abgeordneten das ganze Volk.87 Daraus folgt jedoch nicht, dass sich der einzelne Abgeordnete als Vertreter partikulärer Interessen definieren dürfte, vielmehr hat er auch immer das Allgemeininteresse mit zu berücksichtigen.88 Der Abgeordnete ist daher von der Partikularbindung durch imperative Mandate freizustellen.89 Dem Grundsatz des freien Mandats des Abgeordneten entspricht es, dass die Abgeordneten über die Art und Weise der Ausübung des Mandats grundsätzlich frei und in ausschließlicher Verantwortlichkeit gegenüber dem Wähler entscheiden.90 Nach Ablauf der Zeit, für die der Repräsentant gewählt ist, muss er sich dem Wähler stellen und sein Handeln erklären und rechtfertigen sowie um neues Vertrauen werben. Im Vertrauen der Wähler liegt der zentrale Punkt des repräsentativen Mandats, auf ihm basiert die parlamentarische Demokratie.91 Vertrauen kann zum einen durch Transparenz hergestellt werden. Vertrauen ohne Transparenz, die erlaubt, zu verfolgen, was politisch geschieht, ist nicht möglich, wobei der Umfang der gebotenen Transparenz freilich streitig ist.92 Vertrauen entsteht darüber hinaus nur, wenn innerhalb der Wahlperiode eine Rückkoppelung des Repräsentanten zum Bürger stattfindet, das heißt, wenn der Repräsentant für die Bedürfnisse der Bürger sensibel ist und sich an diesen orientiert. Dies setzt eine Kommunikation zwischen den Wahlen voraus.93 Möglich und ertragreich wird eine solche Kommunikation allerdings nur, wenn 83

Vgl. auch Art. 27 frz. Verf., Art. 67 ital. Verf. u. Art. 67 Abs. 2 span. Verf. Vgl. z. B. auch Art. 27 Abs. 3 Verf. BW; Art. 13 Abs. 2 Verf. BY; Art. 30 Abs. 2 Verf. NRW; Art. 56 Abs. 1 Verf. BB. 85 Vgl. Art. 2 und 3 des Beschlusses 2005/684 (EG, Euratom) des Europäischen Parlaments vom 28. 9. 2005 zur Annahme des Abgeordnetenstatuts des Europäischen Parlaments (ABl. L 262 v. 7. 10. 2005, S. 1); dazu: P.-M. Huber (o. Fußn. 23), Art. 223 AEUV Rdnr. 18. 86 S.o. II. 1. b. 87 Vgl. BVerfGE 44, 308. 88 Vgl. H.-H. Trute (o. Fußn. 82) Rdnr. 77; S. Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 38 Rdnr. 45. 89 Vgl. E.-W. Böckenförde (o. Fußn. 43), Rdnr. 18. 90 Vgl. BVerfGE 118, 277 (336 f.). 91 Vgl. nur BVerfGE 118, 277 (324, 353). 92 Vgl. BVerfGE 40, 296 (327); 118, 277 (353) sowie das Sondervotum dazu der Richter W. Hassemer, U. Di Fabio, R. Mellinghoff und H. Landau (382 ff.). Zum Ganzen: A. v. Aaken, Regulierung durch Transparenz: Verhaltensregeln für Parlamentarier und ihre Realfolgen, Der Staat 49 (2010), 369. 93 Vgl. BVerfGE 118, 277 (353); BVerfG, Beschl. des Zweiten Senats vom 4. 7. 2012, 2 BvC 1/11 u. a., Rdnr.40; E.-W. Böckenförde (o. Fußn. 43), Rdnr. 33 f. 84

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der Abgeordnete auch in der Gesellschaft und nicht nur in seiner Partei verwurzelt ist. Er muss aus der Gesellschaft kommen und in ihr verankert sein, um den dort gebildeten Willen der Wähler aufnehmen und ihm in der staatlichen Sphäre zur Geltung verhelfen zu können.94 Diese Vertrauen und die sie bildenden Grundlagen werden insbesondere deshalb immer wichtiger, weil die von einem Repräsentanten in der Wahlperiode zu treffenden Entscheidungen immer komplexer95 und angesichts der Beschleunigung der Lebensverhältnisse immer schwerer prognostizierbar werden. Gleichwohl muss der Wähler wissen, wen er wählt. Daher muss er vor der Wahl vor allem den ethisch-politischen Kompass des Repräsentanten kennen, auf dessen Basis der Repräsentant in der Wahlperiode seine Entscheidungen trifft. Nur dann kann der Bürger ihm auch vertrauen. Ist somit das Vertrauen in die zu wählende Person von entscheidender Bedeutung für das Gelingen einer repräsentativen Demokratie, liegt es nahe, dem Wahlbürger Sanktions- und Wahlmöglichkeiten an die Hand zu geben, ihm insbesondere einen gewissen Einfluss auf den Wahlkreiskandidaten bzw. die Liste einer Partei zu geben. III. Funktionen und Grenzen einer Ausweitung der Bürgerbeteiligung Es stellt sich nun die Frage, welchen verfassungsrechtlichen Funktionen ein Ausbau unmittelbarer Bürgerbeteiligung dienen könnte (1.). Ein solcher Ausbau der Bürgerbeteiligung ist nach Art. 79 Abs. 3, Art. 28 Abs. 1 und Art. 23 Abs. 1 GG sowohl in EU, Bund und Ländern – in einem die repräsentative Demokratie ergänzenden Umfang – unstreitig möglich.96 Gleichwohl stellt sich die Frage nach den verfassungsrechtlichen Grenzen (2.). 1. Funktionen einer Ausweitung der Bürgerbeteiligung Untersucht man die möglichen Funktionen einer Ausweitung der Bürgerbeteiligung, lassen sich bei den derzeit diskutierten Varianten möglicher Bürgerbeteiligung zwei Kategorien unterscheiden, nämlich die Ausweitung direktdemokratisch getroffener Sachentscheidungen (a) sowie die bloße Effektivierung der demokratischen Teilhabe insgesamt (b).

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Vgl. das Sondervotum zu BVerfGE 118, 277 (340). Vgl. E.-W. Böckenförde (o. Fußn. 43), Rdnr. 37. 96 Vgl. bzgl. der Länder: BVerfGE 60, 175 (208); 123, 267 (341 f. und insbes. 367); P. Krause (o. Fußn. 64), Rdnr. 21; W. Löwer, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2012, Art. 28 Rdnr. 19 f.; K.-E. Hain (o. Fußn. 16), Rdnr. 81. 95

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a) Ausweitung direktdemokratisch getroffener Sachentscheidungen Eine Möglichkeit, die seit einiger Zeit diskutiert und gefordert wird,97 ist die Ausweitung der unmittelbaren Beteiligung der Bürger an Sachentscheidungen in Form von Volksentscheiden, ggf. angestoßen durch ein Volksbegehren. Dies gilt für alle Ebenen der Gesetzgebung: Kommune, Land, Bund und sogar EU. Als Gründe für Volksentscheide werden die Bekämpfung der Politikverdrossenheit, das Aufbrechen der Macht der Parteien, die Korrektur von Entscheidungen in der laufenden Legislaturperiode oder die Verbesserung der Akzeptanz von Entscheidungen genannt.98 Daneben bezieht sich die Forderung nach (Mit-)entscheidung der Bürger auf klassische Verwaltungsentscheidungen, wie etwa den Erlass eines Planfeststellungsbeschlusses für beispielsweise ein Bahnprojekt, oder auf vorgelagerte Planungsentscheidungen der Verwaltung oder des Gesetzgebers.99 In der Folge der Diskussion um das Bahnprojekt S 21 liegt nun ein Gesetzentwurf der Bundesregierung vor, der in Planfeststellungsverfahren eine frühe Öffentlichkeitsbeteiligung vorsieht.100 Hinsichtlich Volksabstimmungen bezüglich Entscheidungen der Verwaltung ist freilich Zurückhaltung angezeigt.101 Im Unterschied zum Gesetzgeber ist die Verwaltung an die vorhandenen Gesetze gebunden. Eine Abstimmung kommt daher nur in Betracht, soweit Spielräume bestehen.102 Außerdem ist auf vor Gericht durchsetzbare Ansprüche Dritter Rücksicht zu nehmen (Art. 19 Abs. 4 GG). Unklar ist bei Verwaltungsentscheidungen zudem häufig, wer abstimmen soll.103 Darüber hinaus dürfte es verfassungsrechtlich unzulässig sein, Sachfragen stellvertretend von sog. „Mini-Öffentlichkeiten“, die repräsentativ ausgewählt wurden, entscheiden zu lassen. Entsprechende Überlegungen beruhen auf diskurstheoreti97

Vgl. dazu nur H. Heußner/O. Jung (Hrsg.), Mehr direkte Demokratie wagen, 2. Aufl. 2008; M. Freitag/U. Wagschal (Hrsg.), Direkte Demokratie, 2007; R. Steinberg, Das Volk und die direkte Demokratie, FAZ v. 16. 2. 2012, 7; W. Patzelt, Die Stimme des Volkes, FAZ v. 3. 6. 2012, 9. 98 Vgl. J. Rux (o. Fußn. 59), 58 ff.; H. Heußner/O. Jung, Einleitung, in: dies. (o. Fußn 97), S. 11 ff.; H. v. Arnim, Vom Mehrwert direkter Demokratie, in: H. Heußner/O. Jung (o. Fußn. 97), S. 39. 99 Vgl. dazu: C. Franzius, Stuttgart 21: Eine Epochenwende?, GewArch 2012, 225; T. Groß, Stuttgart 21: Folgerungen für Demokratie und Verwaltungsverfahren, DÖV 2011, 510. 100 Vgl. BT-Drs. 17/9666, s. auch die Stellungnahme des Bundesrates: BR-Drs. 171/12 (B) sowie H.-J.Birk, Frühzeitige Bürgerbeteiligung – das Konzept des Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Öffentlichkeitsbeteiligung und Vereinheitlichung von Planfeststellungsverfahren, DVBl. 2012, 1000. 101 Vgl. R. Wulfhorst, Konsequenzen aus „Stuttgart 21“: Vorschläge zur Verbesserung der Bürgerbeteiligung, DÖV 2011, 581 (585 f.). 102 Vgl. W. Ewer, Kein Volksentscheid über die Zulassung von Infrastrukturprojekten, NJW 2011, 1238. 103 Vgl. B. Stüer/D. Buchsteiner, Stuttgart 21: Eine Lehre für die Planfeststellung?, UPR 2011, 335 (337).

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schen bzw. deliberativen Demokratiemodellen.104 Hier gelten zunächst die allgemein bezüglich partizipativer Gremien vorhandenen Legitimationsbedenken.105 Soweit zudem ein solches Gremium aufgrund der in ihm besser zu gewährleistenden Diskursbedingungen Abstimmungen des Volkes ersetzen soll, verletzt es auch den aus dem Demokratieprinzip und der Menschenwürde abgeleiteten Anspruch der Staatsbürger, in Freiheit und Gleichheit durch Wahlen und Abstimmungen die öffentliche Gewalt personell und sachlich mitzubestimmen.106 b) Effektivierung der demokratischen Teilhabe insgesamt Sachentscheidungen durch den Bürger sind abzugrenzen von einer Bürgerbeteiligung, die lediglich darauf abzielt, die demokratische Teilhabe insgesamt wirkungsvoller zu gestalten, insbesondere die Teilhabe an der repräsentativen Demokratie. Besonders ausgeprägt finden sich solche Formen auf EU-Ebene. Mit den in Art. 11 EUV genannten Formen der partizipativen Demokratie soll die repräsentative Demokratie ergänzt werden. Als Formen zu nennen sind die bereits oben behandelte Bürgerinitiative, die Förderung der Kommunikation der Bürger und Verbände mit Blick auf EU-Themen, der offene, transparente und regelmäßige Dialog der EUOrgane mit repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft sowie die Anhörung Betroffener.107 Allerdings können diese Formen der Bürgerbeteiligung Defizite hinsichtlich des auf Wahlen und Abstimmungen zurückgehenden primären Legitimationszusammenhangs nicht ersetzen.108 Sie ermöglichen jedoch eine Vertiefung und Effektivierung der Rückkoppelung zu den gewählten Repräsentanten und effektivieren so die repräsentative Demokratie. Entsprechendes gilt für in Deutschland praktizierte bzw. vorgesehene Dialogforen,109 Transparenz- und Informationspflichten110 – etwa nach den Informationsfreiheitsgesetzen – oder sonstige Formen der Öffent-

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Vgl. dazu: J. Suntrup, Zur Verfassung der deliberativen Demokratie, Der Staat 49 (2010), 605 (626 ff.). 105 Vgl. dazu: H.-H. Trute, § 6 Die demokratische Legitimation der Verwaltung, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, 2. Aufl. 2012, Rdnr. 69 ff. 106 Vgl. BVerfGE 123, 267 (341.). Der sog. „Filderdialog“ zum S 21-Filderbahnhof (dazu: http://www.filderdialog-s21.de/) war daher diesbezüglich verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, weil sein Ergebnis aus unverbindlichen Empfehlungen bestand. 107 Vgl. zu dieser Idee des Einbezugs der Zivilgesellschaft bereits das EU-Weißbuch „Europäisches Regieren“ vom 25. 7. 2001, KOM(2001) 428 endg., ferner: P.-M. Huber (o. Fußn. 23), Art. 11 EUV Rdnr. 6 ff. 108 Vgl. BVerfGE 123, 267 (369). 109 Vgl. z. B. den sog. „Filderdialog“ (o. Fußn. 106). 110 Vgl. B. Assenbrunner, Bürgerbeteiligung bei der Kontrolle der Ausübung von Regierungsgewalt, DÖV 2012, 547 (550 f.). Siehe zu weiteren Informationspflichten: Art. 42 EUGrundrechte-Charta, das Umweltinformationsgesetz des Bundes oder das Verbraucherinformationsgesetz.

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lichkeitsbeteiligung, etwa bei der Planung von Infrastrukturprojekten.111 Angestoßen wurde die Entwicklung zu einer verstärkten Öffentlichkeitsbeteiligung bei umweltrelevanten Vorhaben insbesondere durch die UVP-Richtlinie aus dem Jahr 1985112 sowie das Aarhus-Übereinkommen aus dem Jahr 1998,113 das u. a. verlangt, dass die frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung zu einem Zeitpunkt stattzufinden hat, zu dem alle Optionen noch offen sind und die Öffentlichkeitsbeteiligung effektiv sein kann.114 Die Öffentlichkeitsbeteiligung dient allerdings nicht nur demokratischen Zwecken (Mitgestaltung, Akzeptanzsicherung), sondern auch rechtsstaatlichen. Diese zweite Wurzel, die insbesondere dem Anspruch auf Anhörung der Betroffenen, dem Grundrechtsschutz durch Verfahren sowie der Gewährleistung rechtmäßiger Entscheidungen durch Informationsbeschaffung dient, darf nicht übersehen werden.115 Nicht vernachlässigt werden darf jedoch auch, dass mit den politischen Parteien sowohl auf EU-Ebene (Art. 10 Abs. 4 EUV)116 als auch im Grundgesetz (Art. 21 GG) ein Mittel vorgesehen ist, das im Gegensatz zu den bisher genannten, eher punktuell genutzten Möglichkeiten zur Effektivierung der demokratischen Teilhabe, dazu führt, dass sich Bürger dauerhaft und nachhaltig engagieren und Verantwortung übernehmen. Parteien haben die verfassungsrechtliche Aufgabe, zur politischen Willensbildung des Volkes beizutragen. Sie sind somit das Scharnier zwischen Staat und Gesellschaft,117 das die für die repräsentative Demokratie verfassungsrechtlich notwendige Rückkoppelung zum Bürger sicherstellen soll.118 Die Bindungskraft der Parteien sowie sonstiger Verbände nimmt zwar ab. Das ändert jedoch nichts daran, dass die repräsentative Demokratie auf dauerhaftes Engagement und Verantwortungsübernahme der Bürger angewiesen ist. Daher sollte sich die Gesellschaft – worauf Bun-

111 Vgl. W. Durner, Möglichkeiten der Verbesserung förmlicher Verwaltungsverfahren am Beispiel der Planfeststellung, ZUR 2011, 354; M. Burgi, Das Bedarfserörterungsverfahren: Eine Reformoption für die Bürgerbeteiligung bei Großprojekten, NVwZ 2012, 277; E. Hofmann, Die Modernisierung des Planungsrechts: das Energierecht als neues Paradigma der Öffentlichkeitsbeteiligung in einer Planungskaskade?, JZ 2012, 701. 112 Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. 6. 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. L 175 v. 5. 7. 1985, S. 40). 113 BGBl. 2006 II, S. 1251. 114 Vgl. Art. 6 Abs. 4 des Aarhus-Übereinkommens (o. Fußn. 113). 115 Dazu: E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2006, S. 101 bis 107 und H. Bonk/W. Neumann, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 7. Aufl. 2008, § 73 Rdnr. 7 ff. 116 s. auch: Art. 12 Abs. 2 EU-Grundrechte-Charta; zum Gehalt des Art. 10 Abs. 4 EUV: P.-M. Huber (o. Fußn. 23), Art. 10 Rdnr. 50 bis 55. 117 Vgl. dazu F. Shirvani, Das Parteienrecht und der Strukturwandel im Parteiensystem, 2010, S. 240 ff.; P. Kunig, in: v. Münch/ders. (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2012, Art. 21 Rdnr. 3 und 29. 118 Vgl. BVerfGE 121, 30 (53 bis 55); 41, 399 (416); 20, 56 (100 f.); 11, 266 (273).

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despräsident Gauck zu Recht hingewiesen hat119 – mit diesem Rückgang nicht abfinden. 2. Verfassungsrechtliche Grenzen einer Ausweitung der Bürgerbeteiligung Die Grenzen für eine Ausweitung der Bürgerbeteiligung in Deutschland und der EU, insbesondere von Volksentscheiden, ergeben sich aus Art. 79 Abs. 3 GG und den entsprechenden Bestimmungen der Landesverfassungen120, Art. 28 Abs. 1 GG und Art. 23 Abs. 1 GG, insbesondere in dem dort jeweils verankerten Demokratieprinzip, das auch durch Verfassungsänderungen nicht berührt werden darf. Freilich erscheint es auf den ersten Blick fraglich, ob und inwieweit sich gerade aus dem Demokratieprinzip Beschränkungen bezüglich der unmittelbaren Mitwirkung des Souveräns an Sachentscheidungen ergeben. Der derzeitigen Ausgestaltung des Grundgesetzes bzw. der Landesverfassungen wird von Rechtsprechung und Literatur wohl überwiegend ein Vorrang der repräsentativen Demokratie sowie die Prävalenz parlamentarischer Gesetzgebung entnommen und plebizitären Willensbekundungen nur eine Ergänzungsfunktion zugewiesen.121 Andere – insbesondere der Sächsische VerfGH – entnehmen einzelnen Landesverfassungen, eine Gleichrangigkeit repräsentativ-parlamentarischer und direktdemokratischer Gesetzgebung.122 Entscheidend ist jedoch nicht die jeweils derzeitige Ausgestaltung der Verfassung, sondern der Umstand, dass moderne staatliche Demokratie – wie oben dargestellt – auf ein funktionierendes repräsentatives Demokratiesystem notwendig angewiesen ist. Daraus ergibt sich das verfassungsänderungsfeste Erfordernis, dass direktdemokratische Elemente keine erheblichen dysfunktionalen Auswirkungen auf das repräsentative System haben dürfen. Direktdemokratische Gesetzgebung wird damit noch nicht unzulässig, wenn zwischen beiden Wegen der Gesetzgebung ein gewisses Spannungsverhältnis besteht.123 Allerdings bedarf es bei der Einführung von Volksgesetzgebungsverfahren rechtlicher Vorkehrungen, mit denen das Funktionieren und die Handlungsfähigkeit der repräsentativen Demokratie gesichert werden.124 Dies kann v. a. durch Einleitungs- oder Abstimmungsquoren und Vorschriften zur Sammlung von Unterschriften für ein Volksbegehren geschehen. Der Gesetzgeber hat hier einen großen 119 Siehe die Rede von Bundespräsident J. Gauck anlässlich seiner Vereidigung, FAZ vom 24. 3. 2012, 9. 120 Z.B. Art. 64 Abs. 1 S. 2 Verf. BW; Art. 75 Abs. 1 S. 2 Verf. BY, Art. 83 Abs. 3 Verf. TH oder Art. 101 Abs. 2 Verf. SL. 121 VerfGH TH, LKV 2002, 83; VerfGH BY, NVwZ-RR 2000, 401; P.-M. Huber (o. Fußn. 74), 312 ff.; J. Rux (o. Fußn. 59), S. 242 f.; i.E. ebenso: W. Löwer (o. Fußn. 96), Rdnr. 20. 122 VerfGH SN, NVwZ 2003, 472 ff.; VerfG BB, LKV 2002, 77 (79); VerfGH BE, NVwZRR-2010, 169 (171 f.); M. Klatt, Die Zulässigkeit des finanzwirksamen Plebiszits, Der Staat 50 (2011), 3 (35 ff.). 123 Dazu: VerfGH SN (o. Fußn. 122), 473; VerfG BB, LKV 2002, 77 (79); VerfGH BE (o. Fußn. 122), 172. 124 So selbst: VerfGH BE (o. Fußn. 122), 171 f.; wie hier: VerfGH BY (o. Fußn. 121), 402.

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Spielraum.125 Allerdings muss durch die vorhandenen Regelungen insgesamt sichergestellt sein, dass die Volksgesetzgebung über eine hinreichende demokratische Legitimation und Unterstützung im Volk (sog. Dignität) verfügt. Ansonsten besteht die Gefahr, dass kleinere Gruppen – insbesondere unter Ausnutzung der Medien als Verstärker – die Handlungsfähigkeit der demokratisch gewählten Parlamentsmehrheit deutlich beeinträchtigen.126 Essentiell für eine repräsentativ-parlamentarische Demokratie ist insbesondere die Budgethoheit des Parlaments.127 Daher wird von allen Länderverfassungen, die anders als der Bund grundsätzlich Volksentscheide kennen, jedenfalls das Staatshaushaltsgesetz der Volksgesetzgebung entzogen.128 Darüber hinaus wird von vielen Landesverfassungen eine Volksgesetzgebung über sonstige Gesetze, die gewichtige staatliche Einnahmen und Ausgaben auslösen und damit den Haushalt eines Landes wesentlich beeinflussen, für mit dem Demokratieprinzip unvereinbar gehalten.129 Teilweise wird diese Grenze sogar im verfassungsänderungsfesten Demokratieprinzip verankert.130 Ob man soweit gehen kann, ist fraglich,131 zumal dies die Verfassungswidrigkeit einiger Landesverfassungen zur Folge hätte.132 Allerdings ist nicht zu übersehen, dass das Parlament nur noch schwer die haushaltspolitische Gesamtverantwortung gegenüber dem Volk, deren Wichtigkeit zuletzt vom BVerfG erneut betont wurde,133 tragen könnte, wenn ihm die Möglichkeit zu konzeptioneller politischer Planung und eigener Prioritätensetzung durch häufige eigene Entscheidungen des Volksgesetzgebers genommen würde. Die Abänderbarkeit vom Volk beschlossener Gesetze durch das Parlament reicht zum Schutz insoweit nicht aus. Denn faktisch wird ein Parlament nur kaum die politische Kraft aufbringen können, vom Volk beschlossene Gesetze zurückzunehmen.134 Daher bedarf es zum Schutz der Funktionsfähigkeit der repräsentativen Demokratie mit Blick auf die Budgethoheit ebenfalls der bereits oben genannten verfahrensmäßigen Sicherungen, die gewähr125

So auch: J. Kühling, Volksgesetzgebung und Grundgesetz – „Mehr direkte Demokratie wagen?“, JuS 2009, 777 (782). 126 So zu Recht VerfGH BY (o. Fußn. 121), 402 ff.: Bei Fehlen eines Abstimmungsquorums verstößt die Absenkung des Unterstützungsquorums für Volksbegehren von 10 % auf 5 % gegen das Demokratieprinzip (Dignität der Volksgesetzgebung). Für Verfassungsänderungen bedarf es zudem zwingend eines Abstimmungsquorums. Ähnlich: VerfGH TH (o. Fußn. 121); StGH HB, NVwZ-RR 2001, 1; a.A.: J. Rux (o. Fußn. 59), S. 247 ff. 127 Siehe nur: BVerfG, NVwZ 2012, 495 (496). 128 So, aber auch hierauf beschränkt in Sachsen: VerfGH SN (o. Fußn. 122), 472, Berlin: VerfGH BE (o. Fußn. 122), 172 und ggf. auch in BW, vgl. Art. 60 Abs. 6 Verf. BW. 129 BVerfGE 102, 176 (für die Verfassung von Schleswig-Holstein); VerfGH BY, DVBl. 2008, 784; VerfG BB (o. Fußn. 123), 80; VerfGH TH (o. Fußn. 121). 130 Vgl. VerfGH BY (o. Fußn. 121); VerfGH TH (o. Fußn. 121). 131 Vgl. VerfGH SN (o. Fußn. 122). 132 Siehe Fußn. 128; hierauf hinweisend auch W. Löwer (o. Fußn. 96), Rdnr. 19; M. Klatt (o. Fußn. 122), 37. 133 Vgl. BVerfGE 123, 267 (361 f.); 129, 124 (177 ff.); BVerfG, NVwZ 2012, 495 (496). 134 VerfGH TH (o. Fußn. 121), 95; VerfGH BY (o. Fußn. 121), 403.

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leisten, dass eine punktuell korrigierende Volksgesetzgebung von ausreichender demokratischer Dignität getragen wird.135 IV. Schlussfolgerungen und Verbesserungsvorschlag Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass für eine funktionierende staatliche Demokratie ein repräsentatives, insbesondere parlamentarisches System notwendig ist. Dies gilt für alle Ebenen im Europäischen Verfassungsverbund (EU, Bund und Länder) und erteilt Formen imperativer elektronischer Bürgerbeteiligung eine Absage. Auch Volksabstimmungen können die repräsentative Demokratie nicht ersetzen, sondern unter Umständen dysfunktional wirken. Nur wenn Volksentscheide lediglich punktuell eingesetzt werden und mit hinreichender demokratischer Dignität versehen sind, sind sie in der Lage, die repräsentative Demokratie zu ergänzen. Auch für Abstimmungen gelten die klassischen Wahl- bzw. Stimmrechtsgrundsätze sowie – insbesondere mit Blick auf elektronische Abstimmungen – der Grundsatz der öffentlichen Kontrollierbarkeit der Abstimmung. Sonstige Formen der Bürgerbeteiligung, wie etwa die Herstellung von Transparenz und verschiedene Formen der Kommunikation, sind dagegen sinnvolle Ergänzungen der repräsentativen Demokratie. Sie fördern die notwendige Rückkoppelung zwischen Volk und Repräsentanten. Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang auch die partizipative Funktion der Parteien. Eine Möglichkeit, die Beteiligung der Bürger und das für die Existenz der repräsentativen Demokratie notwendige Vertrauen der Bürger in die Repräsentanten zu verbessern, wäre es – wie auch schon von Hans-Jürgen Papier gefordert –, die Auswahlmöglichkeiten bezüglich der Wahlkreiskandidaten zu verbessern.136 Eine – bereits oben angedeutete137 – Möglichkeit wäre diese: Jede Partei stellt pro Wahlkreis eine Liste mit drei Kandidaten für die Wahl auf. Für den Wahlkreis gewählt ist ein Kandidat der Partei, deren Kandidaten zusammen die meisten Stimmen erhalten haben. Das Wahlkreismandat geht an denjenigen, der die meisten Stimmen erhalten hat. Die weiteren Parlamentsmandate (Zweitmandate) werden auf die Parteien im Verhältnis ihrer Stimmen verteilt. Dabei richtet sich die Verteilung parteiintern nach den in den Wahlkreisen von den Kandidaten erzielten Prozentzahlen.138 Mit einer solchen Reform könnte im System der repräsentativen Demokratie die Bürgerbeteiligung nachhaltig gestärkt werden. 135

Dies andeutend: VerfGH TH (o. Fußn. 121), 94 f. Sog. „Starre Listen“ sind freilich nicht verfassungswidrig: BVerfGE 7, 63; 129, 300 (343); dazu: F. Shirvani (o. Fußn. 117), S. 428 – 431. 137 Vgl. II. 2. c) a. E. 138 Siehe die Forderung des LACDJ BW, Rechtsforum 2/2011, 9 (o. Fußn. 2); positiv dazu: A. Diringer, Neues Landtagswahlsystem, Legal Tribune Online vom 4. 1. 2012, http://www.lto. de/recht/hintergruende/h/neues-landtags-wahlsystem-cdu-juristen-wollen-mehr-demokratiewagen/.89. 136

„System verflochtener Demokratie“ Verfassungsrechtliche Theoriebildung gegen die politische Laufrichtung Von Jens Kersten I. Einleitung: Demokratiekrise? An demokratischen Krisediagnosen fehlt es gegenwärtig nicht. Wir lebten – so Colin Crouch – im Zeitalter der „Postdemokratie“:1 Während die demokratischen Institutionen formal weiterhin vollkommen intakt seien und sogar in vielerlei Hinsicht ausgebaut würden, entwickelten sich politische Verfahren und die Regierungen zunehmend in eine Richtung zurück, die für vordemokratische Zeiten typisch gewesen sei. Dabei steige der Einfluss privilegierter Eliten, wodurch das egalitäre demokratische Projekt mit seiner eigenen Ohnmacht konfrontiert werde. Insofern sei – in der kritischen Formulierung Peter Sloterdijks – die Postdemokratie von der Überzeugung geprägt, „daß Bürgerbeteiligung durch die höhere Kompetenz politischer Spitzenentscheider eingespart werden kann.“2 Diese Krisendiagnose paart sich mit der Feststellung, dass im Zuge der Europäisierung und Globalisierung vermehrt politische Entscheidungskompetenzen aus dem Verfassungsstaat in europäische Verfassungsräume und internationale Arenen auswandern, ohne durch eine entsprechende Ausweitung demokratischer Partizipation begleitet zu werden.3 Vor allem auch im Hinblick auf die europäische Integration ist in den letzten zwanzig Jahren ein Demokratiedefizit kritisch konstatiert4 und – in jüngster Zeit – zur provokanten These einer

1 Vgl. hierzu und zum Folgenden C. Crouch, Postdemokratie, 2008, S. 13; auch P. Sloterdijk, Zeilen und Tage. Notizen 2008 – 2011, 2012, S. 602. 2 P. Sloterdijk, Letzte Ausfahrt Empörung, in: ders., Die gebende Hand und die nehmende Seite, 2011, S. 156 (159). 3 Vgl. R. Dahrendorf, Die Krisen der Demokratie, 2001, S. 12; ders., Auf der Suche nach der neuen Ordnung. Vorlesungen zur Politik der Freiheit im 21. Jahrhundert, 2003, S. 106 ff.; A. von Bogdandy, Demokratie, Globalisierung und die Zukunft des Völkerrechts – eine Bestandsaufnahme, ZaöRV 63 (2003), 853 (859 ff., 865 ff.); zur Globalisierung als Chance und Gefahr für demokratisches Recht M. Hochhuth, Schwächung der Demokratie durch verselbständigte Mehrebenensysteme, FS Wahl, 2011, S. 722 ff. 4 Vgl. D. Grimm, Ursprung und Wandel der Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 1. Bd., 3. Aufl. 2003, § 1 Rdnr. 87 ff. m. w. N.

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bürokratischen „Entmündigung Europas“5 zugespitzt worden. Innenpolitisch trifft diese dynamische Exekutivlastigkeit der Politik im europäischen Mehrebenensystem auf einen zunehmend passiven Bundestag, der insbesondere von dem Bundesverfassungsgericht immer wieder ermahnt werden muss, seine politischen Gestaltungsrechte effektiv wahrzunehmen,6 um die postdemokratische Entparlamentarisierungswelle einzudämmen.7 Nun sind Krisendiagnosen für die Demokratie allerdings so alt wie diese Herrschaftsform selbst. Schon immer war die Rede von der Demokratie phantasievoller als ihre politische Realität;8 und gerade in der Idealisierung der demokratischen Staatsform lag und liegt zugleich eine ihrer größten Gefährdungen.9 Dabei zeigt insbesondere die Diskussion der demokratischen Legitimation des europäischen Einigungsprozesses, dass es sehr darauf ankommt, wie man die Partizipationsfrage stellt:10 Wer nationalstaatlichem Muster folgend nach der Legitimation der Europäischen Union fragt, kommt – wohl zu Recht – zu dem Ergebnis eines notorischen Demokratiedefizits. Wer demgegenüber danach fragt, ob in der Europäischen Union demokratisch regiert werden kann, wird die Möglichkeit demokratischen Regierens im europäischen Verfassungsverbund nicht kategorisch ausschließen. Dieser Paradigmenwechsel von der demokratischen Legitimation ganzer politischer Institutionen zu der demokratischen Legitimation vernetzter politischer Entscheidungsstrukturen wird auch von dem Bundesverfassungsgericht vollzogen, wenn es in seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon vom 30. Juni 2009 von einem „verflochtenen demokratischen System“11 in Europa spricht: Die Legitimation politischer Herrschaft in Europa beruht als einem „System verflochtener Demokratie“ auf einer Vernetzung demokratisch legitimierter Entscheidungsebenen, Institutionen und Akteure. Dabei entspricht es der politischen Laufrichtung, dass der Fokus der demokratischen Analyse und damit auch der demokratischen Theoriebildung in den letzten Jahrzehnten vor allem auf die europäische Ebene gerichtet war; und dies zu Recht: Bestand und besteht doch hier aufgrund der kontinuierlichen Kompetenzakkumulation die größte Herausforderung, sich der Formen und Konstellationen demokratischer Legitimation bei jedem weiteren Integrationsschritt erneut zu vergewis5 H. M. Enzensberger, Sanftes Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas, 2011; vgl. hierzu Sloterdijk (o. Fußn. 1), S. 603: Enzensbergers Aufsatz enthalte den bemerkenswerten Hinweis, „daß auch Nicht-Imperien an Überdehnung scheitern können“. 6 Vgl. BVerfG, NJW 2011, 2946 (2948 ff.) – Griechenland-Hilfe/Euro-Rettungsschirm; NVwZ 2012, 495 (496 ff.) – Beteiligungsrechte des Bundestags/EFSF; Urt. v. 19. 6. 2012, 2 BvE 4/11, juris, Rdnr. 89 ff. – ESM/Euro-Plus-Pakt. 7 Vgl. zu den Erscheinungsformen von „Entparlamentarisierung“ H.-J. Papier/C. Krönke, Grundkurs Öffentliches Recht 1, 2012, Rdnr. 142. 8 Vgl. Platon, Der Staat, übers. v. Horneffer, eingel. v. Hildebrandt, 1973, S. 274 ff. (Achtes Buch [X ff.]). 9 Vgl. C. Möllers, Demokratie – Zumutungen und Versprechen, 2008, S. 9 ff. 10 Vgl. Möllers (o. Fußn. 9), S. 93. 11 Vgl. BVerfGE 123, 267 (371) – Lissabon.

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sern. So sieht etwa Jürgen Habermas die Europäische Union vor der Entscheidung zwischen einem postdemokratischen Exekutivföderalismus oder einer transnationalen Demokratie; und er beschreibt die begrifflichen und diskursiven Konturen dieser transnationalen Demokratie als eine demokratische Verrechtlichung europäischen Regierens, die insbesondere auf eine Teilung der konstituierenden Gewalt zwischen Unionsbürgern und europäischen Völkern setzt.12 So entstehen auf der ideengeschichtlichen Grundlage der nationalen Verfassungsstaaten, dass in einer Demokratie die Bürgerinnen und Bürger einzig den Gesetzen unterworfen sind, die sie sich selbst in einem demokratischen Verfahren gegeben haben,13 europäische und supranationale Konzepte demokratischer Legitimation. Diese knüpfen an die Strukturen des nationalen Verfassungsstaats an und gehen zugleich über diesen hinaus, so dass sie vielleicht doch weniger post-, denn transnationale Verfassungskonstellationen entwerfen.14 II. Perspektivumkehr: Demokratiegefälle Doch wie steht es umgekehrt? Kann – quasi gegen diese politische Laufrichtung – auch das bundesrepublikanische Verfassungsrecht demokratietheoretisch von der transnationalen und vor allem von der europäischen Ebene lernen? Gerade aus der europäischen Perspektive lässt sich ein demokratisches Verfassungsgefälle zum Grundgesetz feststellen:15 Die demokratischen Grundsätze der Europäischen Union (Art. 9 – 12 EUV) umfassen repräsentative, plebiszitäre, partizipative und assoziative Legitimationsformen (Art. 10 f. EUV). Demgegenüber wird das Demokratieprinzip des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 GG) vor allem parlamentarisch-repräsentativ konkretisiert (Art. 20 Abs. 2 S. 2 Alt. 1 i. V. m. Art. 38 Abs. 1 GG), sieht man einmal von der verfassungsrechtlich verkümmerten Abstimmungsoption (Art. 20 Abs. 2 S. 2 Alt. 2 GG) sowie der verfassungspraktisch irrelevanten Möglichkeit plebiszitärer Länderneugliederung ab (Art. 29 GG).16 Mit der Feststellung dieses demokratischen Verfassungsgefälles soll nicht gesagt werden, dass die Europäische Union politisch „demokratischer“ als die Bundesrepublik wäre. Wohl aber ist gemeint, dass auf der europäischen Verfassungsebene mehr Legitimationsmodi zur Verfügung stehen, um die Ausübung öffentlicher Gewalt demokratisch zu legitimieren. Deshalb stellt sich die Frage, ob dieses mehrdimensionale Demokratieverständnis des europäischen (Verfassungs-)Vertrages nicht auch für den bisher monokulturell repräsentativen Demokratiebegriff des Grundgesetzes fruchtbar gemacht werden 12 Vgl. J. Habermas, Die Krise der Europäischen Union im Lichte der Konstitutionalisierung des Völkerrechts. Ein Essay zur Verfassung Europas, in: ders., Zur Verfassung Europas, 2011, S. 39 (48 ff., bes. 62 ff.). 13 Vgl. Habermas (o. Fußn. 12), S. 49 ff. 14 Vgl. Habermas (o. Fußn. 12), S. 54 f. 15 Vgl. hierzu und zum Folgenden J. Kersten, Europäische Raumentwicklung nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, UPR 2010, 201 (203 f.). 16 Vgl. Papier/Krönke (o. Fußn. 7), Rdnr. 107 ff., bes. Rdnr. 133 ff., 182 ff.

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kann. Durch diesen zunächst einmal verfassungstheoretischen Legitimationsimport soll nicht die zentrale politische Stellung des Bundestags in der politischen Ordnung der Bundesrepublik (Art. 38 ff., 63, 67 f., 76 ff. GG) und darüber hinaus auch der Europäischen Union (Art. 12 EUV) relativiert werden.17 Vielmehr soll es darauf ankommen, die parlamentarische Repräsentation um weitere demokratische Legitimationsmodi zu ergänzen. Mit einer solchen Bereicherung des verfassungsrechtlichen Reservoirs an demokratischen Legitimationsbausteinen lässt sich nicht nur den eingangs zitierten Behauptungen postdemokratischer Herrschaftsentwicklung begegnen, sondern darüber hinaus auch die demokratische Herausforderung neuer gesellschaftlicher und organisatorischer Entwicklungen annehmen: So verlangen „Stuttgart 21“,18 die rein quantitative Zunahme „unabhängiger Behörden“,19 die sich häufenden rapiden und radikalen Politikwechsel wie beispielsweise die „Energiewende“20 sowie die prekär gewordene politische Teilhabe in einer demografisch schrumpfenden Gesellschaft21 nach neuen demokratischen Legitimationskonzepten, die neben der sicherlich zentralen parlamentarischen Repräsentation eben auch auf plebiszitäre, partizipative und assoziative Legitimationsbausteine setzen können. Während plebiszitäre Elemente auf Landesebene durchaus etabliert sind, liegt vor allem in den partizipativen und assoziativen Legitimationsmodi ein innovativer Mehrwert für das bundesrepublikanische Demokratieverständnis, werden doch Partizipation und Assoziation in der deutschen Staats- und Verfassungslehre nicht genuin dem Demokratieprinzip, sondern eher den Grundrechtsgewährleistungen und dem Rechtsstaatsgebot zugeordnet. III. Systematik: Demokratieverflechtung Die verfassungsrechtliche Grundlage dieser demokratietheoretischen Perspektivumkehr im europäischen Mehrebenensystem lässt sich über die Figur des „Systems verflochtener Demokratie“ begreifen: Das von dem Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil konturierte „System verflochtener Demokratie“22 ist – metaphorisch gesprochen – keine „legitimatorische Einbahnstraße“, die von den Mit17 Vgl. BVerfGE 123, 267 (371) – Lissabon; A. Voßkuhle, Über die Demokratie in Europa, FAZ, Nr. 34, 9. 2. 2012, 7. 18 Vgl. G. F. Schuppert, Politikvermittlung als Kommunikation, in: Kersten/Schuppert (Hrsg.), Politikwechsel, 2012, S. 45 ff. 19 Vgl. J. Kersten, Was kann das Verfassungsrecht vom Verwaltungsrecht lernen?, DVBl. 2011, 585 (590 f. m. w. N.). 20 Vgl. F. W. Rüb, Rapide Politikwechsel in der Demokratie: Gründe, Akteure, Dynamiken und Probleme, in: Kersten/Schuppert (o. Fußn. 18), S. 15 ff.; F. Nullmeier/M. Dietz, Überzeugungswandel – Zur Erklärung von Politikwechseln am Beispiel der Atompolitik 2010 und 2011, ebd., S. 88 ff. 21 Vgl. J. Kersten/C. Neu/B. Vogel, Demografie und Demokratie. Zur Politisierung des Wohlfahrtstaats, 2012, S. 20 ff. 22 Vgl. BVerfGE 123, 267 (371) – Lissabon: „eines verflochtenen demokratischen Systems“.

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gliedstaaten zur Europäischen Union führt. Vielmehr beruht das demokratisch verflochtene Legitimationssystem auf dem „Gegenstromprinzip“, so dass auch die europäische Verfassungsebene das Verständnis der mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen und damit deren Demokratiegrundsatz beeinflussen kann. Den positivrechtlichen Anknüpfungspunkt für die interpretatorische Entfaltung dieses legitimatorischen Gegenstromprinzips bilden die mitgliedstaatlichen und europäischen Verfassungsfundamentalnormen, die sich über die verfassungsrechtlichen Struktursicherungs- und Homogenitätsklauseln im europäischen Mehrebenensystem systematisch verbunden sehen:23 Die Verfassungsfundamentalnormen gewährleisten das Demokratieprinzip auf europäischer Ebene (Art. 2 EUV), in den mitgliedstaatlichen Verfassungen (Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 GG) und – wie in der Bundesrepublik – durch die Landesverfassungen (z. B. Art. 2 Abs. 1 BV). Dabei konkretisiert jede dieser Verfassungsebenen das Demokratieprinzip (sehr) unterschiedlich, indem verschiedene Legitimationsformen ausdifferenziert werden. So fällt diese Ausdifferenzierung – wie soeben gezeigt24 – auf der europäischen Ebene mit repräsentativen, plebiszitären, partizipativen und assoziativen Legitimationsbausteinen sehr viel breiter aus als durch das repräsentativ geprägte Grundgesetz sowie die Landesverfassungen, die neben der parlamentarischen Repräsentation vor allem auch auf plebiszitäre Elemente setzen. Diese drei Verfassungsebenen sind jedoch zugleich auch miteinander strukturell gekoppelt: Für das Verhältnis von Union und Mitgliedstaaten erfolgt diese Koppelung durch die europäische Struktursicherungsklausel (Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG), für das Verhältnis von Bundes- und Landesverfassungsrecht durch das föderale Homogenitätsgebot (Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG), das sich im Hinblick auf die Gewährleistung des Demokratieprinzips bis auf die kommunale Ebene erstreckt (Art. 28 Abs. 1 S. 2 – 4 GG).25 Die europäische Struktursicherungsklausel wie das föderale Homogenitätsgebot fordern keine verfassungsrechtliche Uniformität der politischen Ebenen. Dies würde im Verhältnis von Union und Bundesrepublik gegen die Gewährleistung der verfassungsrechtlichen Identität der Mitgliedstaaten verstoßen (Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV) und im Verhältnis von Bund und Ländern dem Bundesstaatsgebot des Grundgesetzes nicht gerecht (Art. 20 Abs. 1 GG). Die Struktursicherungsklausel und das Homogenitätsgebot sind vielmehr darauf angelegt, die verfassungsrechtliche Kompatibilität der unterschiedlichen politischen Ebenen zu gewährleisten und damit das Funktionieren des europäischen Verfassungsverbunds und so speziell auch des „Systems verflochtener Demokratie“ zu garantieren. Diese funktionale Kompatibilität eröffnet den verfassungstheoretischen Interpretationsspielraum, innerhalb dessen die verfassungsrechtlichen Legitimationsmodi, 23

Vgl. hierzu und zum folgenden Kersten (o. Fußn. 15), 204 f.; ders. (o. Fußn. 19), 590 f. Vgl. oben II. 25 Vgl. hierzu und zum Folgenden für die Struktursicherungsklausel R. Scholz, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 23 (2009) Rdnr. 70 ff.; für das Homogenitätsprinzip J. Kersten, Homogenitätsgebot und Landesverfassungsrecht, DÖV 1993, 896 ff. 24

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mit denen eine Verfassungsebene ihr Demokratieprinzip konkretisiert, auch zum Verständnis des Demokratiegebots einer anderen Verfassungsebene herangezogen werden kann; wohl gemerkt: kann, nicht aber: muss! Wenn insofern also auf europäischer Ebene etwa die Partizipation oder Assoziation als Ausprägungen des (verfassungs-)vertraglichen Demokratiegebots gesehen werden, kann auf der verfassungsstaatlichen Ebene nicht (mehr) behauptet werden, partizipative und assoziative Elemente hätten mit demokratischer Legitimation nichts zu tun. Insofern lässt sich auch das Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 GG „im Lichte“ des Art. 10 und Art. 11 EUV auslegen: Das Demokratiegebot des Grundgesetzes er- und enthält damit über die repräsentativen Wahlen und die plebiszitären Abstimmungen (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG) hinaus assoziative und partizipative Legitimationspotenziale. Diese können etwa vom Gesetzgeber aufgegriffen werden, um wiederum beispielhaft die Ausübung von Herrschaft durch die Einfügung von assoziativen und partizipativen Legitimationsformen in das Verfahrens- oder Organisationsrecht demokratisch zu gestalten. IV. Rechtsprechung: Demokratieentwicklung Eine solche interpretative Entfaltung des demokratischen Legitimationsangebots erweist sich für das Grundgesetz gerade deshalb als anschlussfähig, weil das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung zur Demokratie als Verfassungsprinzip für neue Legitimationsformen geöffnet hat. 1. Verfassungsdogmatische (Be-)Gründungsleistung Die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Demokratieprinzip lässt sich ohne die verfassungsdogmatische (Be-)Gründungsleistung Ernst-Wolfgang Böckenfördes als Rechtswissenschaftler und Bundesverfassungsrichter nicht verstehen. Zentral ist insofern Böckenfördes Beitrag über Demokratie als Verfassungsprinzip, der 1987 als § 22 im ersten Band der ersten Auflage des von Josef Isensee und Paul Kirchhof herausgegebenen Handbuchs des Staatsrechts erschienen war. Den Einfluss seines Beitrags auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Ausländerwahlrecht von 1990 hat Böckenförde in der Rückschau des Jahres 2011 selbst beschrieben: Er – Böckenförde – sei zwar nicht Berichterstatter gewesen, „aber es war natürlich in der Entscheidung erkennbar, daß darin Gedanken vorhanden waren, die ich in dem Handbuch des Staatsrechts über Demokratie als Verfassungsprinzip formuliert hatte. Vieles entsprach also meiner wissenschaftlich geäußerten Auffassung.“26

26 E.-W. Böckenförde, in: ders./D. Gosewinkel, „Beim Staat geht es nicht allein um Macht, sondern um die staatliche Ordnung als Friedensordnung“, in: dies. Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, 2011, S. 305 (456 f.).

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Es sind vor allem zwei Anleihen, die das Bundesverfassungsgericht in seinen „frühen“ Entscheidungen zum Demokratieprinzip bei Böckenförde macht: Zum einen wird das Gericht das Verständnis des „Volkes“ als demokratisches Legitimationssubjekt zugrunde legen, das Böckenförde als „relativ homogenes“27 „Staatsvolk im Sinn einer Schicksalsgemeinschaft“28 beschreibt. Zum anderen rekurriert das Gericht auf Böckenfördes Verständnis der funktionell-institutionellen, organisatorischpersonellen und sachlich-inhaltlichen Legitimationsmodi.29 Auf den ersten Blick scheint dieses Theorieangebot eine restriktive Bestimmung des Legitimationssubjekts „Volk“ mit einer recht flexiblen Konturierung der demokratischen Legitimationsformen zu verbinden, die über eine phantasievolle Kombination der genannten drei „Legitimationsbausteine“30 ein demokratisch angemessenes „Legitimationsniveau“31 für die Ausübung staatlicher Herrschaft herstellen kann. Doch diese Interpretation übersieht, dass das restriktive Verständnis des Legitimationssubjekts „Volk“ auch auf dessen Umgang mit demokratischen Legitimationsformen durchschlägt. Dieser Zusammenhang von Legitimationssubjekt und Legitimationsmodi beruht auf Böckenfördes theoretischer Grundannahme, in der Demokratie vollziehe sich eine „Metamorphose der individuellen zur demokratischen Freiheit“32. Dabei geht Böckenförde von einer „positive[n] Beziehung von Demokratie und modernem Freiheitsbegriff“33 aus, so dass die Demokratie als Regierungsform Ausdruck von Selbstbestimmung und Selbstregierung sei: Die demokratische Ordnung wird – dem neuzeitlichen Autonomiegedanken entsprechend – von denjenigen konstituiert, die ihr unterworfen sind.34 Bei der theoretischen Fassung dieses selbstreflexiven Verständnisses der Volkssouveränität folgt Böckenförde jedoch nicht dem normativen Freiheitsbegriff Jean-Jacques Rousseaus, nach dem der Gehorsam gegen das selbstgegebene Gesetz Freiheit ist.35 Bei Rousseau gehe – so Böckenförde – das Autonomieprinzip von den Einzelnen auf das Volk über, das nun – als Einheit und Ganzes gesehen – jene Freiheit, Selbstbestimmung und Souveränität besitzt, die im Na27

Vgl. zur „relativen Homogenität“ E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 2. Bd., 3. Aufl., Heidelberg 2004, § 24 Rdnr. 64. 28 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 1. Bd., 1. Aufl. 1987, § 22 Rdnr. 26; etwas abgeschwächt ders. (o. Fußn. 27), § 24 Rdnr. 26. 29 Vgl. Böckenförde (o. Fußn. 28), § 22 Rdnr. 14; ders. (o. Fußn. 27), § 24 Rdnr. 14 ff.; bereits BVerfGE 49, 89 (125) – Kalkar; zum Ganzen Papier/Krönke (o. Fußn. 7), Rdnr. 117 ff.; M. Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominalverwaltung, 1993; S. Unger, Verfassungsprinzip, 2008, S. 65 ff. m. umf. N. 30 Vgl. Böckenförde (o. Fußn. 27), § 24 Rdnr. 14: „die Legitimationsformen als Bausteine“. 31 Böckenförde (o. Fußn. 27), § 24 Rdnr. 23. 32 Böckenförde (o. Fußn. 27), § 24 Rdnr. 37. 33 Böckenförde (o. Fußn. 27), § 24 Rdnr. 35 (Klammerzusatz durch den Verfasser). 34 Vgl. hierzu und zum Folgenden Böckenförde (o. Fußn. 27), § 24 Rdnr. 35 ff. 35 Vgl. J.-J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, übers. u. hrsg. v. Pietzcker/Brockard, 1977, S. 23 (Erstes Buch, Achtes Kapitel).

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turzustand dem Einzelnen zukomme.36 Stattdessen favorisiert Böckenförde in Anknüpfung an das Autonomieverständnis Immanuel Kants37 einen individualistischen Ansatz der Idee der freien Selbstbestimmung aller Bürgerinnen und Bürger als Grundlage der Demokratie.38 An diesen Grundsatz individueller Selbstbestimmung knüpft Böckenfördes Metapher der „Metamorphose der individuellen zur demokratischen Freiheit“ an, die sich in zwei Stufen als ein „Übergang von der individuellautonomen Freiheit zur demokratischen Mitwirkungsfreiheit“39 und sodann als ein „Übergang von der demokratischen Mitwirkungsfreiheit zur kollektiv-autonomen Freiheit“40 des Volkes vollzieht. Der Erkenntniswert dieses Argumentationsansatzes liegt in der Vermittlung zwischen individueller Freiheit und kollektiver Selbstbestimmung. Problematisch ist jedoch, dass diese politische Vermittlungsleistung in der Dichotomie von Individuum und Volk fixiert wird. Demokratische Freiheit entsteht in einer linearen Freiheitstransformation, die sich von der Vielheit der Individuen zum Kollektivsingular „Volk“ vollzieht. Diesen politischen Vorgang fasst Böckenförde in der einerseits naturwissenschaftlichen, andererseits mythischen Metapher der „Metamorphose“, welche die vorbestimmte Form eines Entwicklungsprozesses bzw. eines Gestaltwechsels beschreibt: „Die individuell-autonome Freiheit der einzelnen überträgt sich auf die politische Gemeinschaft und kehrt wieder in der kollektiv-autonomen Freiheit des Volkssouveräns.“41 In dieser Freiheitstransformation ist ein Verständnis von Demokratie theoretisch vorgezeichnet, das „notwendig auf eine repräsentative Struktur verwiesen [ist], die […] den Charakter demokratischer Repräsentation annehmen muss.“42 Diese repräsentative Struktur des Demokratieprinzips prägt insbesondere auch die Kontur der Legitimationsmodi. Sie erklärt, warum in Böckenfördes Theorieansatz – und sodann auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts43 – vor allem die durch Wahlen vermittelte „Legitimationskette“44 einen so zentralen Stellenwert einnimmt,45 warum plebiszitäre Elemente nur sekundär als „Balancierung [der primär

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Böckenförde (o. Fußn. 27), § 24 Rdnr. 3. Vgl. I. Kant, Metaphysik der Sitten, in: ders., Werkausgabe, hrsg. Weischedel, VIII. Bd., 1977, Teil I, § 46. 38 Vgl. Böckenförde (o. Fußn. 27), § 24 Rdnr. 36, in Anknüpfung an BVerfGE 44, 125 (142). 39 Böckenförde (o. Fußn. 27), § 24 Rdnr. 37. 40 Böckenförde (o. Fußn. 27), § 24 Rdnr. 38. 41 Böckenförde (o. Fußn. 27), § 24 Rdnr. 38. 42 Böckenförde (o. Fußn. 27), § 24 Rdnr. 1 (Klammerzusätze und Hervorhebung durch den Verfasser). 43 Vgl. unten III. 2. 44 Böckenförde (o. Fußn. 27), § 24 Rdnr. 16 f.; vgl. bereits zuvor BVerfGE 77, 1 (40) – Neue Heimat. 45 Böckenförde (o. Fußn. 27), § 24 Rdnr. 16 f. 37

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repräsentativen Struktur] eingebaut werden können“46 und warum die demokratische Legitimation der kommunalen Selbstverwaltung als historisch überkommen „gerade noch“ akzeptiert,47 während die funktionale Selbstverwaltung demgegenüber demokratisch äußerst distanziert bewertet wird.48 2. Rigider Auftakt Dieses verfassungsdogmatische Verständnis Böckenfördes prägt die erste Rechtsprechungsphase des Bundesverfassungsgerichts zum Demokratieprinzip des Grundgesetzes, die ihre Kontur durch die Entscheidungen zum kommunalen Ausländerwahlrecht vom 31. Oktober 1990,49 zum Vertrag von Maastricht vom 12. Oktober 199350 und zum Mitbestimmungsgesetz des Landes Schleswig-Holstein vom 24. Mai 199551 erhält. In den Entscheidungen zum Ausländerwahlrecht schlägt sich insbesondere die restriktive Bestimmung des demokratischen Legitimationssubjekts „Volk“ als die Gesamtheit der deutschen Staatsangehörigen auf Bundes-, Länder-, Kreis- und Gemeindeebene nieder.52 Das Theorem der relativen Homogenität wird im Maastricht-Urteil äußerst prominent in die Rechtsprechung eingeführt: „Jedes der Staatsvölker ist Ausgangspunkt für eine auf es selbst bezogene Staatsgewalt. Die Staaten bedürfen hinreichend bedeutsamer eigener Aufgabenfelder, auf denen sich das jeweilige Staatsvolk in einem von ihm legitimierten und gesteuerten Prozeß politischer Willensbildung entfalten und artikulieren kann, um so dem, was es – relativ homogen – geistig, sozial und politisch verbindet (vgl. hierzu H. Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, Gesammelte Schriften, 2. Band, 1971, S. 421 [427 ff.]), rechtlichen Ausdruck zu geben.“53 Mit dem Zitat Hermann Hellers ruft der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts – parallel zu Böckenförde54 – in seiner Konkretisierung des Demokratieprinzips als Maßstab der europäischen Integration den Weimarer Methoden- und Richtungsstreit in der für die bundesdeutsche Staatsrechtslehre typi-

46 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip (1992), in: ders., Staats, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, 1992, S. 289 (291 [Klammerzusatz durch den Verfasser]). 47 Vgl. Böckenförde (o. Fußn. 27), § 24 Rdnr. 31 f. 48 Vgl. Böckenförde (o. Fußn. 27), § 24 Rdnr. 33 f. 49 Vgl. BVerfGE 83, 37 (50 ff.); 83, 60 (71 ff.) – Ausländerwahlrecht. 50 Vgl. BVerfGE 89, 155 (184 ff.) – Maastricht. 51 Vgl. BVerfGE 93, 37 (66 ff.) – MBG Schl.-H. 52 Vgl. BVerfGE 83, 37 (50 f., 53 ff.); 83, 60 (71, 74 f.) – Ausländerwahlrecht. 53 BVerfGE 89, 155 (185) – Maastricht; vgl. bereits dass., ebd., 184. 54 Böckenförde (o. Fußn. 27), § 24 Rdnr. 63, im Anschluss an H. Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität (1928), in: ders., Gesammelte Schriften, 2. Bd., 1971, S. 423 (469 f.); ders. (o. Fußn. 26), S. 378: „Der Schlüssel zu meinem Denken liegt nicht nur bei Carl Schmitt, sondern ebenso bei Hermann Heller.“

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schen Art und Weise auf:55 Hans Kelsen ignoriert, Rudolf Smend integriert, Hermann Heller zitiert und Carl Schmitt praktiziert. Sicherlich ließe sich innerhalb dieser theoriegeschichtlichen Aktualisierung der Weimarer Verfassungslehre durch die Karlsruher Rechtsprechung danach fragen, warum ein theoretisch selektiv rezipierter und politisch weichgespülter Carl Schmitt56 demokratietheoretisch so erfolgreich sein kann,57 während sich die liberale Demokratietheorie Hans Kelsens nur mühsam im kollektiven Gedächtnis der bundesdeutschen Staatsrechtslehre hält.58 Mindestens ebenso wesentlich ist jedoch, dass sich diese restriktive Bestimmung des Legitimationssubjekts „Volk“ in einem restriktiven Verständnis der Legitimationsformen niederschlägt: Zwar stellt das Gericht grundsätzlich fest, dass dem Volk ein effektiver Einfluss auf die Staatsgewalt zukommen muss, der durch die „Formen der institutionellen, funktionellen, sachlich-inhaltlichen und der personellen Legitimation“59 sichergestellt werden kann.60 Doch zugleich bleibt der Senat bei der Herstellung eines angemessenen demokratischen „Legitimationsniveaus“61 auf die ununterbrochenen Legitimationskette von den Bürgern zu den Staatsorganen fixiert.62 Diese Legitimationskette spiegelt in idealtypischer Weise die von Böckenförde beschriebene Freiheitsmetamorphose wider, die sich vom Einzelnen zum Volk vollzieht.63 Dementsprechend bewertet das Gericht in der Entscheidung zum Mitbestimmungsgesetz Schleswig-Holstein das Autonomieprinzip demokratieverfassungsrechtlich zurückhaltend.64 Darüber hinaus verneint der Zweite Senat sowohl in der Entscheidung zum Ausländerwahlrecht als auch zum Mitbestimmungsgesetz ausdrücklich die Möglichkeit einer demokratischen Legitimation durch die jeweils Entscheidungsbetroffenen:65 Hinter dem Grundsatz der Betroffenenlegitimation stehe zwar „ersichtlich die Vorstellung, es entspreche der demokratischen Idee, insbesondere dem in ihr enthaltenen Freiheitsgedanken, eine Kongruenz zwischen den Inha55 Vgl. hierzu und zum Folgenden J. Kersten, Staatstheorie oder Demokratietheorie? Ein Kommentar, in: Bumke/Meinel/Voßkuhle (Hrsg.), Verabschiedung und Wiederentdeckung des Staates im Spannungsfeld der Disziplinen, i.E. 56 Vgl. zu Schmitts Verständnis von Homogenität und Demokratie C. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 8. Aufl. 1996, S. 14; ders., Verfassungslehre, 7. Aufl. 1989, S. 228 f. 57 Vgl. zur selektiven Carl Schmitt-Rezeption Böckenförde (o. Fußn. 26), S. 361. 58 Vgl. aber H. Kelsen, Verteidigung der Demokratie. Abhandlungen zur Demokratietheorie, hrsg. v. Jestaedt/Lepsius, 2006. 59 BVerfGE 83, 60 (72) – Ausländerwahlrecht, mit Verweis auf BVerfGE 48, 89 (125) – Kalkar und Böckenförde (o. Fußn. 28), § 22 Rdnr. 14. 60 Vgl. BVerfGE 89, 155 (171 f., 182) – Maastricht; BVerfGE 93, 37 (66 ff.) – MBG Schl. – H. 61 BVerfGE 83, 60 (72) – Ausländerwahlrecht. 62 Vgl. BVerfGE 83, 60 (72 f.) – Ausländerwahlrecht; BVerfGE 93, 37 (66 ff.) – MBG Schl. – H. 63 Vgl. oben III. 1. 64 Vgl. BVerfGE 93, 37 (70) – MBG Schl. – H. 65 Vgl. BVerfGE 83, 37 (51) – Ausländerwahlrecht; BVerfGE 93, 37 (69) – MBG Schl. – H.

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bern demokratischer politischer Rechte und den dauerhaft einer bestimmten staatlichen Herrschaft Unterworfenen herzustellen“.66 Dies sei im Ausgangspunkt zwar zutreffend, „kann jedoch nicht zu einer Auflösung des Junktims zwischen der Eigenschaft als Deutscher und der Zugehörigkeit zum Staatsvolk als dem Inhaber der Staatsgewalt führen“.67 3. Flexibilisierende Erweiterung Diese restriktiven Konturen der Demokratie als Verfassungsprinzip werden von dem Bundesverfassungsgericht in seiner zweiten Rechtsprechungsphase, für welche die Entscheidungen zu den Wasserverbänden Emscher und Lippe vom 5. Dezember 200268 sowie zu den Arbeitsgemeinschaften (§ 44b SGB II) vom 20. Dezember 200769 stehen, vorsichtig flexibilisiert. In seinem Beschluss zu dem Wasserverbänden Emscher und Lippe hatte sich das Bundesverfassungsgericht mit der demokratischen Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung auseinanderzusetzen.70 Dabei sah das Gericht außerhalb der unmittelbaren Staatsverwaltung einen größeren Spielraum für die Entfaltung der funktionell-institutionellen, organisatorisch-personellen und sachlich-inhaltlichen Legitimationsbausteine. Der Zweite Senat unterstreicht in seiner Entscheidung, dass zwar für die unmittelbare Staatsverwaltung weiterhin die personelle Legitimationskette die zentrale Form demokratischer Legitimation darstellt. Die Richter halten aber im Rahmen der funktionalen Selbstverwaltung das Demokratiegebot „offen für andere, insbesondere vom Erfordernis lückenloser personeller demokratischer Legitimation aller Entscheidungsbefugten abweichende Formen der Organisation und Ausübung von Staatsgewalt“.71 Der Senat sieht hier die Möglichkeit, „die im demokratischen Prinzip wurzelnden Grundsätze der Selbstverwaltung und Autonomie angemessen zur Geltung zu bringen. Im Rahmen der repräsentativ verfassten Volksherrschaft erlaubt das Grundgesetz auch besondere Formen der Beteiligung von Betroffenen bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben. Die funktionale Selbstverwaltung ergänzt und verstärkt insofern das demokratische Prinzip. Sie kann als Ausprägung dieses Prinzips verstanden werden, soweit sie der Verwirklichung des übergeordneten Ziels der freien Selbstbestimmung aller dient.“72 Nicht nur die repräsentative Demokratie, sondern auch die funktionale Selbstverwaltung beruhe – so die Richter weiter – als Entscheidungsbeteiligung der sachnahen Betroffenen auf der Idee des sich selbst bestimmenden Menschen in einer freiheitlichen Ordnung 66

BVerfGE 83, 37 (52) – Ausländerwahlrecht. BVerfGE 83, 37 (52) – Ausländerwahlrecht. 68 Vgl. BVerfGE 107, 59 (86 ff.) – Emscher/Lippe. 69 Vgl. BVerfGE 119, 331 (366) – Arbeitsgemeinschaften. 70 Vgl. hierzu und zum Folgenden BVerfGE 107, 59 (86 ff.) – Emscher/Lippe. 71 BVerfGE 107, 59 (91) – Emscher/Lippe. 72 BVerfGE 107, 59 (92) – Emscher/Lippe, unter Verweis auf BVerfGE 44, 125 (142), und E. T. Emde, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, 1991, S. 356 f. 67

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(Art. 1 Abs. 1 GG). Über die Beteiligung der Betroffenen könne nicht nur verwaltungsexterner Sachverstand für eine effiziente Verwaltung, sondern über die Verbindung der Wahrnehmung öffentlicher und privater Interessen die Wirksamkeit des Vollzugs parlamentarischer Gesetze erreicht werden. Die Beschränkungen, welche sich in der Demokratietheorie Böckenfördes aufgrund des restriktiven Verständnisses des Legitimationssubjekts „Volk“ sowie der Vorstellung einer Metamorphose individueller in demokratische Freiheit für die Flexibilität der Legitimationsmodi ergeben,73 greifen also in dieser Entscheidung nicht durch, obwohl der Zweite Senat sich diese Restriktionen noch in seiner ersten Rechtsprechungsphase grundsätzlich zu Eigen gemacht hatte.74 Auch verweist der Zweite Senat im Rahmen seiner Erörterung des Problems ausdrücklich auf Böckenfördes Auffassung, nach der die funktionale Selbstverwaltung unter dem Gesichtspunkt der demokratischen Legitimation nur beschränkt möglich sein soll.75 Die Richter schließen sich jedoch nicht dieser restriktiven Bewertung der funktionalen Selbstverwaltung an. Vielmehr entfalten sie im Rekurs auf das demokratische Autonomieprinzip und den Betroffenengrundsatz das Flexibilisierungspotenzial funktionell-institutioneller, organisatorisch-personeller und sachlich-inhaltlicher Legitimation. Dabei nimmt aufgrund der Sonderstellung der funktionalen Selbstverwaltung außerhalb der unmittelbaren Staatsverwaltung die organisatorisch-personelle Legitimationskette keine primäre Stellung ein. Dies schafft Raum für die Entfaltung insbesondere der sachlich-inhaltlichen Legitimation: Der effektive Vollzug des demokratischen Gesetzes wird durch die Entscheidungskompetenz der Betroffenen, die Einbeziehung verwaltungsexternen Sachverstands und die Verbindung von öffentlicher Aufgabenerfüllung mit privaten Interessen gesteigert.76 Diese Legitimationsform effektiven demokratischen Verwaltens im Sinn einer „wünschbare[n] Qualität von Entscheidungen“77 darf jedoch nicht mit der so genannten „Out-put-Legitimation“78 im Sinn eines „richtigen“ Entscheidungsergebnisses verwechselt werden. In seinem Urteil zu den Arbeitsgemeinschaften (§ 44b SGB II) setzt sich das Bundesverfassungsgericht mit dem organisationsrechtlichen „Zuständigkeitsgeflecht“79 73

Vgl. oben III. 1. Vgl. oben III. 2. 75 Vgl. BVerfGE 107, 59 (89) – Emscher/Lippe, mit Verweis auf E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 1. Bd., 2. Aufl. 1995, § 22 Rdnr. 1 – 34. 76 Vgl. Papier/Krönke (o. Fußn. 7), Rdnr. 131; G. F. Schuppert, Politische Kultur, 2008, S. 427 ff.; Unger (o. Fußn. 29), S. 263 ff. 77 H. H. Trute, Die demokratische Legitimation der Verwaltung, in: Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, 1. Band, 2. Aufl. 2012, § 6 Rdnr. 53 (Klammerzusatz durch den Verfasser). 78 Vgl. zur Ambivalenz demokratischer Output-Legitimation F. Scharpf, Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, 1970, S. 21 ff.; Trute (o. Fußn. 77), § 6 Rdnr. 53; Unger (o. Fußn. 29), S. 52 f., 278 ff. 79 K. Ruge/I. Vorholz, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Fragestellungen bei der Arbeitsgemeinschaft nach § 44b SGB II, DVBl. 2005, 403 (414). 74

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der Arbeitsmarktreformen (Hartz IV) auseinander. Diese wiesen die Bundesagentur für Arbeit und die Kommunen als Träger der Grundsicherung für Arbeitssuchende aus. Damit die Arbeitsuchenden die Grundsicherung trotz dieser geteilten Leistungsträgerschaft aus einer Hand empfangen konnten, wurden nach § 44b SGB II so genannte „Arbeitsgemeinschaften“ eingerichtet. Fünf Richter des Zweiten Senats sahen in den Arbeitsgemeinschaften einen Verstoß gegen das Grundgesetz, da nach ihrer Auffassung die Struktur der Arbeitsgemeinschaften keine klare Verantwortungszuordnung erlaubten. Eine solche sei aber „vor allem im Hinblick auf das Demokratieprinzip erforderlich, das eine ununterbrochene Legitimationskette vom Volk zu den mit staatlichen Aufgaben betrauten Organen und Amtswaltern fordert und auf diese Weise demokratische Verantwortung ermöglicht. Demokratische Legitimation kann in einem föderal verfassten Staat grundsätzlich nur durch das Bundes- oder Landesvolk für seinen jeweiligen Bereich vermittelt werden. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist zwar nicht die Form der demokratischen Legitimation staatlichen Handelns entscheidend, sondern deren Effektivität; notwendig ist ein bestimmtes Legitimationsniveau. Daran fehlt es aber, wenn die Aufgaben durch Organe oder Amtswalter unter Bedingungen wahrgenommen werden, die eine klare Verantwortungszuordnung nicht ermöglichen. Der Bürger muss wissen können, wen er wofür – auch durch Vergabe oder Entzug seiner Wählerstimme – verantwortlich machen kann.“80 Demgegenüber kritisierten die drei Bundesverfassungsrichter Siegfried Broß, Lerke Osterloh und Michael Gerhardt in ihrem Sondervotum, dass die Senatsmehrheit schlicht an dem tradierten demokratischen Legitimationsmodell festhalte und dies nicht weiterentwickle: „Die Senatsmehrheit lässt sich von vermeintlich drohenden Gefahren für eine rechtsstaatlich und demokratisch legitimierte Aufgabenwahrnehmung leiten, ohne sich auch nur ansatzweise mit der Leistungsfähigkeit der – namentlich von der Bundesagentur für Arbeit eingesetzten – neueren Steuerungsinstrumente zu befassen. Die Möglichkeiten demokratischer Legitimation moderner Verwaltungsstrukturen werden schlicht durch den Rückgriff auf das Bild der Legitimationskette ausgeblendet, was dem komplexen Konzept des hinreichenden Legitimationsniveaus, das auch die Senatsmehrheit heranzieht, nicht gerecht wird. Die Forderung nach detaillierter gesetzlicher Durchnormierung im Bereich der Verwaltungsorganisation führt nicht weiter und beruht auf der verfehlten Prämisse, die Träger der vollziehenden Gewalt seien angesichts praktischer Schwierigkeiten nicht in der Lage, die ihnen zugewiesenen Aufgaben in verfassungskonformer Weise zu erfüllen.“81 Diese Entscheidung des Zweiten Senats verdeutlicht, wie gespalten die Richter im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Kontur des Demokratieprinzips des Grundgesetzes sind. Die Mehrheit der Richter des Senats reduziert in schonungsloser Offenheit den verfassungsrechtlichen Demokratiebegriff auf die „Legitimationskette“ als deren politischen Kern: Neben dieser organisatorisch-personellen Legitimation kommen funktionell-institutionelle und sachlich-inhaltliche Legitimationsformen gar nicht mehr vor, wenn es um die Frage der verfassungsrecht80 81

BVerfGE 119, 331 (366) – Arbeitsgemeinschaften. BVerfGE 119, 331 (392 f.) – Arbeitsgemeinschaften.

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lichen Bewertung der demokratischen Legitimation der Arbeitsgemeinschaften geht. Im Gegensatz dazu hält die abweichende Minderheit die demokratische Legitimation der Arbeitsgemeinschaften bei einer entsprechenden Entfaltung der funktionell-institutionellen, organisatorisch-personellen und sachlich-inhaltlichen Legitimationsmodi – zu Recht82 – für möglich. Damit plädiert das Sondervotum für die Notwendigkeit, das verfassungsrechtliche Demokratieprinzip entsprechend den neuen verwaltungsorganisatorischen Anforderungen fortzuschreiben und dementsprechend verfassungsdogmatisch zu öffnen. 4. Normative Öffnung In seiner dritten, aktuellen Rechtsprechungsphase, der die Urteile zum Vertrag von Lissabon vom 30. Juni 200983 sowie zur Haushaltsautonomie des Deutschen Bundestags in der Finanz- und Schuldenkrise vom 7. September 201184 zuzurechnen sind, hat das Bundesverfassungsgericht das Demokratieprinzip für normative Einflüsse geöffnet, die vom Demokratieverständnis des neu gefassten Vertrags über die Europäische Union ausgehen. Vor allem in seinem Lissabon-Urteil misst das Gericht den weiteren Forschritt der europäischen Integration normativ am Demokratieprinzip. Dabei legt es seiner Argumentation zwei demokratietheoretische Perspektiven zu Grunde. Zum einen fokussiert der Zweite Senat auf die repräsentative Demokratie, die er als das zentrale demokratische Legitimationskonzept in Europa ausweist:85 In Anknüpfung an seine Entscheidung zum Vertrag von Maastricht versteht der Senat auch in seinem Lissabon-Urteil den demokratischen Legitimationszusammenhang subjektiv-rechtlich vom Individuum her. Als unmittelbaren verfassungsrechtlichen Ansatzpunkt weisen die Richter dafür wiederum Art. 38 Abs. 1 und Abs. 2 GG aus, stellen aber in diesem Zusammenhang wie bereits auch in seiner Entscheidung zu den Wasserverbänden Emscher und Lippe fest, dass der Anspruch auf freie und gleiche Teilhabe an der öffentlichen Gewalt letztlich in der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) verankert ist.86 Von diesem Gedanken aus werden die nationalen Identitätsvorbehalte im Hinblick auf Gewaltmonopol, Staatshaushalt, Strafrecht sowie soziale und kulturelle Fragen entwickelt.87 Zum anderen entfaltet das Gericht aber auch die demokratische 82

Vgl. J. Kersten, Arbeitsgemeinschaften (§ 44b SGB II) – Verfassungs-, organisations-, beamten-, arbeits- und mitbestimmungsrechtliche Fragen hybrider Behördenstrukturen –, ZfPR 2005, 130 (134 f.). 83 Vgl. BVerfGE 123, 267 (340 ff.) – Lissabon. 84 BVerfG, NJW 2011, 2946 (2948, 2950 f.) – Griechenland-Hilfe/Euro-Rettungsschirm. 85 Vgl. hierzu und zum Folgenden BVerfGE 123, 267 (340 ff., 369 ff.) – Lissabon; BVerfG, NJW 2011, 2946 (2948, 2950 f.) – Griechenland-Hilfe/Euro-Rettungsschirm; ferner Urt. v. 25. 7. 2012, 2 BvE 9/11, 2 BvF 3/11, 2 BvR 2670/11, juris, Rdnr. 57 – Mandatzuteilung. 86 Vgl. oben III. 3. 87 Vgl. BVerfGE 123, 267 (356 ff.) – Lissabon; F. Gärditz/C. Hillgruber, Volkssouveränität und Demokratie ernst genommen – Zum Lissabon-Urteil des BVerfG, JZ 2009, 872 (879 f.);

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Governance-Perspektive, wenn es ein „System verflochtener Demokratie“88 in Europa anerkennt, in dessen legitimatorischem Mittelpunkt zwar Wahlrecht, Parlament und Gesetz stehen, die aber auch durch neue, vor allem in Art. 10 und Art. 11 EUVangelegte demokratische Legitimationsformen ergänzt werden (können):89 erstens durch Elemente plebiszitärer Demokratie, für welche die europäische Bürgerinitiative steht (Art. 11 Abs. 4 EUV), zweitens durch Elemente partizipativer Demokratie, für die der bürgerliche Beteiligungsanspruch (Art. 10 Abs. 3 S. 1 EUV) und die Anhörung Betroffener (Art. 11 Abs. 3 EUV) Beispiel gebend sind, und drittens durch Elemente assoziativer Demokratie, für die der offene, transparente und regelmäßige Dialog mit den repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft genannt werden kann (Art. 11 Abs. 2 EUV). Damit gibt das Bundesverfassungsgericht dem Demokratiegebot in dieser dritten Rechtsprechungsphase eine neue Kontur. Diese wird deutlich, wenn man die Subjektivierung demokratischer Legitimation und das „System verflochtener Demokratie“ zusammennimmt. Zwar stellt das Gericht den aus der Maastricht-Entscheidung rezipierten Gedanken der Subjektivierung demokratischer Legitimation auch im Lissabon-Urteil in den Zusammenhang der repräsentativen Demokratie. Doch indem der Zweite Senat das für die repräsentative Demokratie in Art. 38 Abs. 1 und Abs. 2 GG verankerte Recht auf effektive Legitimationsteilhabe auf die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG zurückführt, ist diese Subjektivierung politischer Legitimationsteilhabe auch für die anderen Formen der demokratischen Artikulation verallgemeinerbar, die der Senat mit dem Plebiszit, der Partizipation und der Assoziation neben der Repräsentation auf der Ebene des europäischen Primärrechts „entdeckt“. Damit wird der repräsentationsfixierte Ableitungszusammenhang durchbrochen, den Böckenförde in seinem Verständnis der „Metamorphose der individuellen zur demokratischen Freiheit“ vorgestellt hat.90 Und auf diese Weise verliert zugleich auch die restriktive demokratietheoretische Feinsteuerung der Legitimationsmodi an normativer Plausibilität: Demokratie muss nicht (mehr) aus der Dichotomie von Individuum und Volk verstanden werden. Sie lässt sich nun auch von den Bürgerinnen und Bürgern her in den repräsentativen, plebiszitären, partizipativen und assoziativen Legitimationsformen im Kontext verfassungsstaatlicher und europäischer Herrschaftsausübung denken.91 krit.: D. Grimm, Das Grundgesetz als Riegel vor einer Verstaatlichung der Europäischen Union, Zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Der Staat 48 (2009), 475 (490 f.); M. Ruffert, An den Grenzen des Integrationsverfassungsrechts: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon, DVBl. 2009, 1197 (1202 ff.). 88 Vgl. BVerfGE 123, 267 (371) – Lissabon: „eines verflochtenen demokratischen Systems“. 89 Vgl. hierzu und zum Folgenden BVerfGE 123, 267 (369, 377, 379 f.) – Lissabon; ferner M. Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 10 EUV Rdnr. 3 ff.; P.-M. Huber, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 11 EUV Rdnr. 6 ff. 90 Vgl. oben III. 1. 91 Vgl. C. Möllers, Demokratische Ebenengliederung, FS Wahl, 2011, S. 759 ff.

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V. Legitimationspotenziale: Demokratiegestaltung Dieser individuelle Anspruch der Bürgerinnen und Bürger auf demokratische Entfaltung im „System verflochtener Demokratie“ kann über die situations- und kontextangemessene Kombination repräsentativer, plebiszitärer, partizipativer und assoziativer Legitimationsformen ausgestaltet werden. Dabei muss diese rechtliche Gestaltung der demokratischen Teilhabe wiederum selbst demokratisch legitimiert sein. Damit handelt es sich auch bei der demokratischen Ausdifferenzierung des „Systems vernetzter Demokratie“ um einen reflexiven demokratischen Prozess. In diesem demokratischen Selbstgestaltungsprozess kommt der parlamentarischen Repräsentation aufgrund ihrer institutionellen Legitimationsbreite und Legitimationsdauer sicherlich eine zentrale Rolle zu. Hierin liegt zugleich die besondere Bedeutung, die das Gesetz als parlamenarische Handlungsform für die Vernetzung der übrigen plebiszitären, partizipativen und assoziativen Demokratieelemente spielt. Im Rahmen dieser demokratischen Demokratiegestaltung gilt es, die von Jürgen Habermas angemahnte „institutionelle Phantasie“92 zu entwickeln, um die demokratischen Legitimationspotenziale von Repräsentation, Plebiszit, Partizipation und Assoziation effektiv zu entfalten: Die parlamentarische Repräsentation zeichnet sich funktionell durch eine breite gesellschaftliche Integration im wahlbedingten Wechsel von Kontinuität und Diskontinuität aus. Plebiszitäre demokratische Artikulation fokussiert bei ebenfalls breiter gesellschaftlicher Integration auf die konkrete Entscheidung einer einzelnen Sachfrage. Partizipative demokratische Artikulation setzt auf eine Legitimation durch konkret betroffene Bürgerinnen und Bürger, die in gesellschaftlicher Integrationsbreite, Handlungs- sowie Entscheidungsform und Beteiligungsdauer sehr flexibel ausgestaltet werden kann. Assoziative demokratische Beteiligung aktiviert eine gebündelte Interessenwahrnehmung im Gemeinwohl, was wiederum sehr flexibel ausgestaltbar ist. Die systematische Reflexion dieser vier demokratischen Artikulationsformen darf jedoch nicht nur deren funktionale Stärken unterstreichen, sondern hat auf der Grundlage politischer Erfahrung auch die Schwächen und Gefahren der einzelnen Legitimationsformen aufzuzeigen und mitzudenken: den gesellschaftlichen overstrech der politischen Parteien in der repräsentativen Demokratie, die Machtverlagerung auf den Fragesteller in der plebiszitären Demokratie, die Ausblendung des Gemeinwohls angesichts einer überschießenden Betroffenenperspektive in der partizipativen Demokratie und ein kartellartiger Korporatismus in der assoziativen Demokratie.93 Damit muss eine reflektierte demokratische Governance die Funktionen und die Schwächen der einzelnen demokratischen Legitimationsformen je für sich, aber auch in ihrer Kombination im konkreten Gestaltungs- und Regelungskontext würdigen und gegebenenfalls in der Ausgestaltung der demokratischen Regelungsstrukturen 92

J. Habermas, Rettet die Würde der Demokratie, FAZ, Nr. 258, 5. 11. 2011, S. 31. Vgl. Ruffert, in: Calliess/Ruffert (o. Fußn. 89), Art. 11 EUV Rdnr. 11 ff.; Huber, in: Streinz (o. Fußn. 89), Art. 11 EUV Rdnr. 14 ff. 93

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gegensteuern. Was dies bedeutet, lässt sich am Beispiel partizipativer Legitimationsformen erläutern. Diese privilegieren regelmäßig gut ausgebildete, wohlsituierte, aktive und organisierte Bürgerinnen und Bürger.94 Dem kann jedoch – wie Gunnar Folke Schuppert95 sehr anschaulich gezeigt hat – durch die verfahrensrechtliche Gewährleistung von Repräsentativität mittels Zufallsprinzip, milieuorientierter Demokratieanalyse bzw. diskursiver Chancengleichheit durch einen kompetenten, neutralen und von allen Seiten sowie Beteiligten akzeptierten Moderator Rechnung getragen werden. VI. Fazit: Demokratiebewusstsein! Das Demokratieprinzip ist – so das Bundesverfassungsgericht in seiner LissabonEntscheidung – grundsätzlich entwicklungsoffen, „nicht um sich in seinem normativen Regelungsgehalt der jeweiligen Faktizität politischer Herrschaftsorganisation anzupassen, sondern um gleich bleibende Wirksamkeit unter geänderten Umständen zu bewahren.“96 Die Demokratie hält als Verfassungsprinzip des politischen Mehrebenensystems repräsentative, plebiszitäre, partizipative und assoziative Legitimationspotenziale bereit, um die „postdemokratische“ Herausforderung anzunehmen: Die demokratische „Reanimierung der Zivilgesellschaft“ setzt auf die „De-Apathisierung der Bürger“.97 Deshalb liegt die Antwort auf die postdemokratische Demokratiekrise in der aktiven Demokratiegestaltung, die immer auch das kritische Demokratiebewusstsein schärft.

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Vgl. Voßkuhle (o. Fußn. 17), 7. Vgl. Schuppert (o. Fußn. 18), S. 65 ff. 96 BVerfGE 123, 267 (366) – Lissabon; vgl. auch BVerfGE 107, 59 (91) – Emscher/Lippe; grds. Unger (o. Fußn. 29), S. 113 ff. 97 Vgl. zu den beiden vorstehenden Zitaten Sloterdijk (o. Fußn. 1), S. 386. 95

Freies Mandat und Rederecht der Abgeordneten im Wandel der Zeit Von Hans Hugo Klein I. Grundlagen Zu dem insbesondere in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG geregelten repräsentativen Status des Abgeordneten, dem freien Mandat, gehört das Recht, im Bundestag das Wort zu ergreifen.1 Indem die Abgeordneten von dieser (und ihren sonstigen) Befugnissen Gebrauch machen, wirken sie an der Erfüllung der Aufgaben des Bundestages mit – nicht zuletzt an der Verhandlung anstehender Probleme in öffentlicher Debatte (Art. 42 Abs. 1 GG). Die Mitwirkungsbefugnisse aller Abgeordneten sind die gleichen (Status der Gleichheit).2 Die für die Teilnahme am Prozess der parlamentarischen Willensbildung geltenden Gleichheitsanforderungen bedürfen mit Rücksicht auf die Funktionsfähigkeit des Parlaments allerdings gewisser Einschränkungen.3 Das gilt vor allem in Ansehung des Rederechts.4 Es leuchtet unmittelbar ein, dass der Bundestag seine gewaltige Arbeitslast nicht bewältigen könnte, wenn den Wünschen seiner Mitglieder, im Plenum zu Wort zu kommen, freier Lauf gelassen würde. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist deshalb grundsätzlich nichts dagegen zu erinnern, wenn der Bundestag kraft seiner Autonomie (Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG) für die Behandlung eines Tagesordnungspunktes im Plenum eine Gesamtredezeit festlegt und diese auf die Fraktionen nach ihrer Stärke verteilt.5 Die Kontingentierung der Debatte hat allerdings zur notwendigen Folge, dass innerhalb der Fraktionen eine Entscheidung darüber getroffen werden muss, wer ihren Standpunkt in der Debatte zu Gehör bringt. Der Abgeordnete, der für seine Fraktion das Wort ergreift, wird dadurch zu deren Sprecher, genötigt, etwas zu sagen, was er nicht vertreten zu können meint, wird er freilich nicht. Die Fraktionen sind heute das politische Gliederungsprinzip für die Arbeit des Bundestages.6 Sie sind selbst notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens und maßgebliche Faktoren der poli-

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BVerfGE 10, 4 (11); 60, 374 (379); 80, 188 (218). BVerfGE 80, 188 (218) – st. Rspr., zuletzt BVerfGE 112, 118 (124); 123, 267 (342). 3 BVerfGE 96, 264 (279); 112, 118 (133). 4 Kritisch: K. Abmeier, Die parlamentarischen Befugnisse der Abgeordneten des Deutschen Bundestages nach dem Grundgesetz, 1984, S. 144 ff. 5 BVerfGE 10, 4 (14 ff.). 6 BVerfGE 80, 188 (219 f.); 84, 304 (322). 2

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tischen Willensbildung.7 Dem Bundestag obliegt es daher, die Befugnisse der Fraktionen im parlamentarischen Geschäftsgang unter Beachtung der Rechte der Abgeordneten festzulegen.8 Das ist ein heikles Unterfangen. Denn immerhin sind das freie Mandat und das aus ihm folgende Rederecht des Abgeordneten „Angelpunkte einer demokratisch-parlamentarischen Verfassung“.9 Ein ausschließliches Verfügungsrecht der Fraktionen über die Redezeit wäre nicht hinnehmbar. „Vielmehr hat auch bei festgesetzten Redezeiten der Bundestagspräsident nach Maßgabe des § 33 (heute § 28) BT GO für jeden Abgeordneten, der sich meldet, über die Worterteilung zu befinden. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass der einzelne Abgeordnete sich notfalls auch gegen den Willen seiner Fraktionsfreunde zum Wort meldet und es erhält, um das auszusprechen, was sein Gewissen ihm gebietet.“10 Die Redezeiten der einzelnen Abgeordneten sind so zu bemessen, dass eine dem Debattenthema angemessene Äußerung möglich ist.11 Mit guten Gründen hat die Öffentlichkeit daher sensibel reagiert, als im Frühjahr 2012 die Führungen der drei größten Fraktionen des Deutschen Bundestages versuchten, durch eine Änderung der Geschäftsordnung ihre ohnehin bestehende Dominanz bei der Bestimmung der Redner noch zu steigern. Nach einer Empfehlung des Geschäftsordnungsausschusses sollte der Bundestagspräsident von der Meinung ihrer Fraktion abweichenden Abgeordneten („weiteren Rednern“) im „Benehmen“ (also nicht im Einvernehmen) mit den (also mit allen) Fraktionen „das Wort für in der Regel drei Minuten“ erteilen können.12 Diesem törichten und zu Recht gescheiterten Einfall lag zugrunde, dass der Bundestagspräsident während der Debatte am 29. September 2011 über Staatsschulden und Eurorettung den Abgeordneten Willsch (CDU/CSU) und Schäffler (FDP), die eine von ihrer jeweiligen Fraktion abweichende Meinung vertraten, für je fünf Minuten das Wort erteilt hatte, obwohl sie als Redner von ihren Fraktionen nicht vorgeschlagen worden waren.13 Die Gesamtredezeit verlängerte sich entsprechend. Sämtliche Fraktionsführungen gerieten ob dieser „Eigenmächtigkeit“ des Präsidenten völlig aus dem Häuschen; der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Oppermann, soll sich zu der Äußerung verstiegen haben, der Präsident habe „nach Gutsherrenart“ entschieden.14

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BVerfGE 2, 143 (160, 167); 10, 4 (14); 70, 324 362); 112, 118 (135); 118, 277 (329). BVerfGE 80, 188 (220). 9 BVerfGE 2, 143 (171). 10 BVerfGE 10, 4 (15 f.). – Zum Rederecht dissentierender Abgeordneter s. J. C. Besch, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 33 Rdnr. 57. 11 BVerfGE 80, 188 (219); 96, 264 (285). 12 So meldete es die Presse: FAZ vom 17. 04. 2012, S. 1 f.; siehe auch den Leitartikel von J. von Altenbockum, Schwache Chefs, ebenda. 13 Zum Vorgang: Herzog (Hrsg.), „Oder gilt das nur in Demokratien?“ Freies Mandat, Rederecht und Fraktionen, 2012, mit Beiträgen u. a. von R. Herzog, N. Lammert, J. van Essen und H. H. Klein. 14 Wie Fußn. 12. 8

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II. Das freie Mandat Das freie Mandat des Abgeordneten – und das aus ihm folgende Recht, im Parlament, auch und gerade im Plenum, das Wort zu nehmen – ist seit der Französischen Revolution von 1789 neben freien Wahlen – und deren Voraussetzung: Meinungsfreiheit – die Grundlage des repräsentativen Prinzips.15 In ihm kommt die tragende Idee des Repräsentationsprinzips zum Ausdruck, dass die Deputierten in ihrer Gesamtheit wie als einzelne nicht bestimmte Gruppen und deren Interessen, sondern ausschließlich die politische Einheit der Nation zu vertreten und allein deren Wohl zur Richtschnur ihrer Entscheidungen als Mitglieder der Volksvertretung zu nehmen haben.16 Die Stoßrichtung des freien Mandats war eine doppelte: gegen das imperative Mandat der landständischen Deputierten im Ständestaat einerseits und die direktdemokratischen Vorstellungen Rousseaus, später die rätedemokratischen Konzepte (heute: Basisdemokratie) andererseits, nach denen der Abgeordnete an die Weisungen seiner Wähler zu binden war.17 Edmund Burke traf in der an seine Wähler gerichteten Rede (1774) den Nagel auf den Kopf: „Ihr Abgeordneter schuldet Ihnen nicht nur seinen Fleiß, sondern sein Urteilsvermögen, und er betrügt Sie statt Ihnen zu dienen, wenn er es Ihrer Meinung opfert.“18 Die dem gleichen Gedanken prägnanten Ausdruck verleihende Formulierung in Titel III Kapitel I Abschnitt III Art. 7 der französischen Verfassung vom 3. September 179119 ist deshalb zu Recht vorbildlich geworden sowohl für die „landständischen“ Verfassungen des monarchischen Konstitutionalismus in Deutschland als auch die repräsentativ-demokratischen Verfassungsstaaten, die sie im 20. Jahrhundert ablösten. Von Beginn an war also das freie Mandat mit der Idee des Verfassungsstaats verbunden.20 Unbeschadet einer gewissen „parteienstaatlichen“ Überformung21 behält der ihm zugrunde liegende Ge15

Statt aller: P. Badura, in: Dolzer u. a. (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 38 (2008) Rdnr. 3 ff. 16 Vgl. H. Hofmann, Parlamentarische Repräsentation in der parteienstaatlichen Demokratie, in: derselbe, Recht – Politik – Verfassung, 1986, S. 249 ff. (258). Zuletzt: D. Rauschning, Vom Sinn der repräsentativen Demokratie, in: Schließky u. a. (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa, FS für E. Schmidt-Jortzig, 2011, S. 329 ff. 17 Dass das schon aus praktischen Gründen nicht funktionierte, war schon im Ständestaat deutlich geworden. Ohne Verhandlungsspielraum und Kompromissfähigkeit ihrer Mitglieder ist eine parlamentarische Versammlung nicht handlungsfähig. 18 Zitiert nach Badura (o. Fußn. 15). 19 „Les représentants nommés dans les départements ne seront pas représentants d’un département particulier, mais de la nation entière, et il ne pourra leur être donné aucun mandat“. 20 H. Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 2: Von 1806 bis zur Gegenwart, 1993, S. 38. 21 Sie hat verschiedenen Autoren Anlass gegeben, in vermeintlicher Realitätszugewandtheit die Freiheit des Mandats für überholt zu erklären, womit sie das Kind mit dem Bade ausschütteten. Dazu Badura (o. Fußn. 15), Rdnr. 57; H. Hofmann/H. Dreier, in: Schneider/Zeh (o. Fußn. 10), § 5 Rdnr. 40; siehe aber schon E. Tatarin-Tarnheyden, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 1, 1930, S. 417 ff.

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danke Gültigkeit: Das für alle Abgeordneten gleiche freie Mandat bewirkt die „vollständige rechtliche Homogenität des Parlaments, die Überwindung aller Partikularitäten der Repräsentation“22 – in welcher Gestalt sie sich auch immer zur Geltung zu bringen suchen. Nur unter der Voraussetzung, dass die Abgeordneten in ihrer Entscheidung rechtlich frei sind, können sie zur Verantwortung gezogen werden. Erst Instruktionsfreiheit und Gesamtverantwortung seiner Mitglieder befähigen das Parlament zu politischer Aktion.23 III. Bedeutungswandel des parlamentarischen Rederechts 1. Trotz verfassungsgesetzlicher Kontinuität erfuhren das freie Mandat und das aus ihm folgende Rederecht der Abgeordneten – und zwar vorzüglich infolge einer Veränderung der Funktion der Plenardebatte – im geschichtlichen Ablauf einen Bedeutungswandel.24 Die verfassungsrechtliche und –politische Situation im deutschen Vormärz wirkte sich teils zum Vorteil, teils zum Nachteil der Entfaltung parlamentarischer Redefreiheit aus. Der vom monarchischen Prinzip dominierte Dualismus von fürstlicher Regierung und begrenzter Mitwirkung der Volksvertretung an Gesetzgebung und Haushalt, „das straffe Gegenüberstehen der Regierungen, als solcher, und der Stände“,25 begünstigte die Freiheit des Mandats. Die Stände, an der Regierung im engeren Sinne nicht beteiligt, ohne Einfluss auf die Bildung oder Ablösung der Kabinette, sahen sich im Wesentlichen auf Kritik beschränkt.26 Der Liberalismus, keineswegs einig in seinen politischen Zielvorstellungen,27 fand sich zum größeren Teil mit den Gegebenheiten des monarchischen Konstitutionalismus – wenn auch nicht mit den vom „System Metternich“ angewandten repressiven Methoden – ab, definitiv 22 Hofmann/Dreier (o. Fußn. 21), Rdnr. 26. Vgl. auch den Schlussbericht der EnquêteKommission Verfassungsreform, BTDrucks 7/5924, S. 23 ff. 23 Dazu im Blick auf das Verhältnis Siéyès’ zu Rousseau H. Brandt, Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz, 1968, S. 26. 24 Und zwar auch und gerade in der Zeit der konstitutionellen Monarchie, die, solange sie Bestand hatte, einem ständigen Anpassungsdruck an veränderte Verhältnisse ausgesetzt war; vgl. V. Sellin, Gewalt und Legitimität, 2011, S. 6. 25 R. v. Mohl, Über die verschiedene Auffassung des repräsentativen Systems in England, Frankreich und Deutschland, in: ders., Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, 1. Band, 1860, S. 33 ff. (64) – umgearbeitete Fassung eines zuerst 1846 erschienenen Aufsatzes. – Nach G. Ziebura, Anfänge des deutschen Parlamentarismus, in: Ritter/Ziebura (Hrsg.), Faktoren der politischen Entscheidung, Festgabe für E. Fraenkel zum 65. Geburtstag, 1963, S. 185 ff. (187), degradierte das monarchische Prinzip (Art. 57 Wiener Schlussakte) die Kammern in eine subalterne Stellung. 26 T. Schieder, Die geschichtlichen Grundlagen und Epochen des deutschen Parteiwesens, in: ders., Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit, 1970, S. 133 ff. (138). 27 Vgl. nur Brandt (o. Fußn. 23), S. 163 ff.; E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band II, 1960, S. 390 ff.; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 2. Band, 1992, S. 156 ff.

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unter dem Eindruck der „radikal-demokratischen“ Bestrebungen der Revolutionszeit.28 Karl Salomo Zachariä und Robert von Mohl, die sich, angeregt durch das englische Vorbild, für das parlamentarische Regierungssystem und damit für eine Teilhabe der Kammern an der Regierungsverantwortung aussprachen,29 waren Ausnahmen. Freigestellt von der unmittelbaren Verantwortung für das Wohlergehen des Staates – Mohl wies mit dem ihm eigenen Scharfblick darauf hin, dass der beherrschende Einfluss des Landesherrn auf die Politik der Monarchie durchaus zum Schaden gereiche, da er den Monarchen für alle Mängel unmittelbar verantwortlich erscheinen lasse30 –, konnten sich die (2.) Kammern einseitig auf „die beständige systematische Kritik der ganzen Verwaltung“ zurückziehen,31 die sich angesichts der Kleinräumigkeit der konstitutionell verfassten Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes (vor und überwiegend auch nach 1848) „um die letzten Kleinigkeiten“32 drehte. Wegen der relativen Bedeutungslosigkeit ihres politischen Raisonnements war es jedenfalls aus Sicht der Kammern nicht nur unschädlich, sondern der einzige Weg, auf dem sie sich bei der Bevölkerung, die freie Parlamentsberichterstattung vorausgesetzt, einiges Ansehen verschaffen konnten, wenn ihre Mitglieder frei von der Leber weg das Wort ergriffen, sei es, um die Regierung wegen vermeintlicher oder wirklicher Missstände zu kritisieren, sei es, um sie zu loben – die letztgenannte Rolle fiel vor allem denjenigen Abgeordneten zu, die ihr Mandat dem Einfluss der Exekutive zu verdanken hatten.33 Die sich zwar auch in den Parlamenten gelegentlich äußernde, vor allem aber außerhalb derselben (etwa auf dem Hambacher Fest im Mai 1832) hervortretende nationaldemokratische Bewegung veranlasste den Deutschen Bund gleichwohl zu drastischen Gegenmaßnahmen, die sich gegen die als Hauptunruheherde ausgemachten Universitäten, die Pressefreiheit und die Redefreiheit in den Kammern richteten.34 Artikel V der berüchtigten Sechs Artikel35 verpflichtete die Regierungen, Angriffe auf den Bund in den Ständeversammlungen zu unterbinden; Art. 59 der Wiener Schlussakte hatte diese Aufgabe noch den Geschäftsordnungen der Landtage übertragen, die freilich nicht selten ebenfalls von den Regierungen erlassen wurden. Mit der Behinderung der Presseberichterstattung über parlamenta28 Stolleis (Fn. 27), S. 161, datiert das Ende des liberalen Fortschrittsoptimismus auf das Jahr 1848. 29 K. S. Zachariä, Vierzig Bücher vom Staate, 3. Band, 1839, 19. Buch, 1. Abschnitt; R. v. Mohl, Das Repräsentativsystem, seine Mängel und die Heilmittel, in: ders. (o. Fußn. 25), S. 367 ff. (392 ff.) – zuerst erschienen 1852. – Zu Zachariä Brandt (o. Fußn. 23), S. 235 ff.; Stolleis (o. Fußn. 27), S. 169 ff.; zu Mohl: E. Angermann, Robert von Mohl 1799 – 1875, 1962, S. 401 ff.; Brandt (o. Fußn. 23), S. 242 ff.; Stolleis (o. Fußn. 27), S. 169 ff.; Sellin (o. Fußn. 24), S. 201. 30 Wie Fußn. 25, S. 51. 31 Ebenda, S. 52. 32 Ebenda. 33 Auch dazu v. Mohl (o. Fußn. 25), S. 53 ff. 34 Im Einzelnen Huber (o. Fußn. 27), S. 152 ff. 35 Bundesgesetz vom 28. Juni 1832, abgedruckt bei E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Band I, 1961, S. 119 f.

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rische Debatten und dem absoluten Verbot „alle(r) Vereine, welche politische Zwecke haben“,36 wurden die Kammern zumindest vorübergehend jeder Möglichkeit beraubt, sich in der Öffentlichkeit politischen Rückhalt zu verschaffen. Es wurde immer gleichgültiger, was in ihnen gesprochen wurde. 2. Die reale Basis des freien Mandats in der Zeit des Vormärz war also die weitgehende Machtlosigkeit der Kammern. Folgerichtig musste eine Änderung dieser Lage, unbeschadet gleichbleibender verfassungsgesetzlicher Grundlagen, auch zu einer veränderten parlamentarischen Handhabung des Rederechts und zu einer Neubestimmung des verfassungspolitischen Sinns des freien Mandats Veranlassung geben. Dieser Fall trat mit dem Zusammentritt der revolutionären Versammlungen, insbesondere der Frankfurter Nationalversammlung, im Frühjahr 1848 ein. In einem ersten Schritt musste sich die Nationalversammlung selbst organisieren. Niemand bestritt ihr das Recht, sich eine Geschäftsordnung zu geben.37 Indessen mangelte es, jedenfalls in Deutschland, an für ein Parlament von der Größe der Nationalversammlung – ihr gehörten rund 580 Abgeordnete an38 – geeigneten Vorbildern. So war es überaus hilfreich, dass Robert (von) Mohl, zu diesem Zeitpunkt Professor in Heidelberg und alsbald selbst Mitglied der Nationalversammlung, noch vor deren Konstituierung „Vorschläge zu einer Geschäftsordnung des verfassunggebenden Reichstages“39 unterbreitete, die sich vor allem an Frankreich orientierten.40 Das Recht zur Antragstellung, das jedem Abgeordneten zukam, war in diesen Vorschlägen allerdings ebenso großzügig bemessen wie die den Abgeordneten eingeräumte Redezeit, die grundsätzlich unbegrenzt war.41 Die Nationalversammlung, deren Geschäftsordnung42 sich insoweit zunächst an Mohls Vorschläge hielt, führte alsbald die Regel ein, dass Anträge der Unterstützung von mindestens 20, später 50 Abgeordneten bedurften. Im September 1848 wurde, um das „die Versammlung erschütternde Rede- und Antragsfieber“43 abzukühlen, die geschlossene Rednerliste eingeführt (§ 36): Redewünsche mussten nun kurz vor Beginn der Sitzung beim Schriftführer angemeldet werden. Von Fraktionen wusste die Geschäftsordnung der Nationalversammlung nichts. Sie blieb bei der Ablehnung, auf die jede Form der politischen Organisation innerhalb wie außerhalb der Parlamente bei den Liberalen, zunächst auch bei Mohl, 36 § 2 des Bundesgesetzes vom 5. Juli 1832 („Zehn Artikel“), abgedruckt bei Huber (o. Fußn. 35), S. 120 ff. 37 Dazu und zum Folgenden Ziebura (o. Fußn. 25). 38 Vgl. Huber (o. Fußn. 27), S. 606 f., 610 f. 39 Gedruckt 1848. 40 Dazu auch K. von Beyme in seiner Einleitung zu den von ihm 1966 herausgegebenen Politischen Schriften Mohls, S. IX f. 41 R. v. Mohl, Vorschläge zu einer Geschäftsordnung des verfassungsgebenden Reichstags, 1848, S. 41 f. 42 Abgedruckt in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Die Geschäftsordnungen deutscher Parlamente seit 1848, 1986, S. 631. 43 Ziebura (o. Fußn. 25), S. 197.

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stieß.44 In der parlamentarischen Praxis der Nationalversammlung erwies sich der – freilich locker bleibende – Zusammenschluss politisch Gleichgesinnter indessen bald als unvermeidlich.45 In einigen von ihnen etablierte sich geradezu ein „autoritäres Regiment“.46 Es bürgerte sich ein, Anträge innerhalb der Fraktionen vorzuberaten und abzusprechen, in wesentlichen sog. Parteifragen verpflichteten sich die Abgeordneten, im Plenum nicht gegen die Mehrheitsmeinung ihrer Fraktion zu stimmen, und es waren die Fraktionen, die die Redner im Plenum bestimmten.47 In der Sitzung vom 14. September 1848 erklärte der Präsident der Nationalversammlung, Heinrich von Gagern, er werde bei der Aufstellung der Rednerliste die von den Fraktionen eingereichten Vorschläge berücksichtigen, was allerdings den Widerspruch des Abgeordneten Karl Biedermann48 auslöste.49 Auch wenn sich die Abgeordneten der Nationalversammlung eines relativ großen Maßes an persönlicher Unabhängigkeit erfreuten50 – etwa ein Fünftel blieb fraktionslos51 – und auch diejenigen, die sich einer Fraktion anschlossen, sich das Recht vorbehielten, aus der Fraktionsdisziplin auszuscheren, ohne dass dadurch ihre Fraktionszugehörigkeit in Frage gestellt worden wäre, so zeigte sich am Beispiel der Nationalversammlung doch, dass in einer größeren, vor komplexe Aufgaben – nicht zuletzt die von der Paulskirche durchgesetzte parlamentarische Regierungsbildung – gestellten Versammlung die interne Bildung von Gruppen sowie Absprachen innerhalb derselben und zwischen den Fraktionen unvermeidlich sind, wenn anders die Beratungen nicht im Chaos versinken sollen. Die allmähliche Abkehr von einer „individualistischen Konzeption parlamentarischer Arbeit“52 war vorgezeichnet. Die Einsicht, dass die Repräsentierten von ihren Repräsentanten nicht nur streitige Debatten, sondern auch Ergebnisse erwarten durften, hatte sich ebenso ein für allemal durchgesetzt wie, das sei ergänzend bemerkt, die Erkenntnis, dass das Plenum des Parlaments auf die seine Entscheidungen vorbereitende Arbeit seiner Ausschüsse angewiesen war.53 Das „ewige Zungengedresche“ der Abgeordneten, die „unaufhörli44

Ebenda, S. 190. Zu Mohl siehe Angermann (o. Fußn. 29), S. 436. Vgl. Huber (o. Fußn. 27), S. 613 ff.; Ziebura (o. Fußn. 25), S. 202 ff., siehe besonders die auf S. 203 wiedergegebene Äußerung des Abgeordneten G. Droysen zur Notwendigkeit der Fraktionsbildung. Die meisten dieser Fraktionen verfügten über ein eigenes Statut: Huber, ebenda, S. 613. 46 Ziebura (o. Fußn. 25), S. 205 f., 216 f. 47 Ebenda, S. 211. 48 Kurzbiographie bei Huber (o. Fußn. 27), S. 399. 49 Ziebura (o. Fußn. 25), S. 213 Fn. 111. – Der Zusammenhang von Rednerfolge und Redezeit spielte schon in der Nationalversammlung eine Rolle: H. R. Lipphardt, Die kontingentierte Debatte: parlamentsrechtliche Untersuchungen zur Redeordnung im Bundestag, 1976, S. 130. 50 So Huber (o. Fußn. 27), S. 613. 51 Ziebura (o. Fußn. 25), S. 213. 52 Ebenda, S. 202. 53 Ebenda, S. 218 ff. 45

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chen Motionen und Adressen, so dass sie vor lauter Wortschwall zu gar nichts kommen“, was Mohl den vormärzlichen Kammern zum Vorwurf machte,54 konnte in dem Maße keinen Bestand mehr haben, in dem die Parlamente an politischem Einfluss gewannen. 3. In der nachrevolutionären Epoche war die Bildung von Fraktionen jedenfalls in den größeren Landesparlamenten, zumal im preußischen Abgeordnetenhaus, eine Selbstverständlichkeit. Zwar fanden sie weder in den Verfassungen noch in den Geschäftsordnungen, etwa des Abgeordnetenhauses und des Reichstags, Erwähnung. Dennoch fiel ihnen, auch wenn den Parlamenten der unmittelbare Einfluss auf die Regierungsbildung vorenthalten blieb, maßgeblicher politischer Einfluss zu. Für die Organisation der parlamentarischen Arbeit waren sie unentbehrlich. Dem von den Fraktionen beschickten Seniorenkonvent55 – auch ihn ignorierte der Text der Geschäftsordnungen – fielen wichtige Aufgaben zu: ihm oblag, ohne dass er rechtsverbindliche Entscheidungen hätte treffen können, die Bestimmung der Mitgliederzahl der Kommissionen (Ausschüsse), deren Mitglieder wiederum von den Fraktionen benannt wurden;56 im Seniorenkonvent trafen die Fraktionen Absprachen über die Dauer der Beratung zu den einzelnen Punkten der Tagesordnung – und regelmäßig auch über die von den Fraktionen zu präsentierenden Redner. Die Bestimmungen der Geschäftsordnung, die keine Rednerliste kannte und die Worterteilung dem (amtierenden) Präsidenten nach Maßgabe der Reihenfolge der Wortmeldungen zuwies (§ 47), blieben auch insoweit meist ohne praktische Bedeutung.57 Immerhin war es auch nicht von ihren Fraktionen nominierten Mitgliedern des Reichstags möglich, sich zu Wort zu melden – allein, die Diskussion wurde in der Regel geschlossen (§ 53 GO), bevor sie an der Reihe waren.58 Die Fraktionsdisziplin war also im Reichstag des Bismarckreiches schon weit entwickelt. Die seit den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts zügig voranschreitende Parteibildung59 stärkte die Rolle der Parlamentsfraktionen, insofern die Parteien erheblichen Einfluss auf die Nominierung der Wahlkandidaten ausübten und auf diesem Wege in der Lage waren, Fraktionsloyalität zu belohnen resp. deren Mangel zu be54 In einem Brief an seinen Bruder Julius vom 17. Juni 1831, zit. nach Angermann (o. Fußn. 29), S. 412. 55 Vgl. etwa A. Plate, Die Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses, 1904, S. 229. 56 Die Geschäftsordnung des Reichstags (§ 26) wies die Bildung der Kommissionen den Abteilungen zu (§ 2); kraft parlamentarischer Observanz übernahmen sie jedoch die Vorschläge der Fraktionen – E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band III, 1963, S. 886; G. Meyer/G. Anschütz, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 2. Teil, 1917, S. 513; ausführlich R. v. Mohl, Kritische Erörterungen über Ordnung und Gewohnheiten des deutschen Reiches, ZGesStW 31 (1875), 39 ff. 57 Vgl. J. Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, 1. Teil, 1915, S. 190. 58 v. Mohl (o. Fußn. 56), S. 71. 59 Überblick: H. H. Klein, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Art. 21 (2012) Rdnr. 52 ff.

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strafen. Gleichwohl dürfte die Annahme über das Ziel hinausschießen, der parlamentarische Alltag des Kaiserreichs sei von einem mit der Garantie des freien Mandats (Art. 29 RV 1871) unvereinbaren Fraktionszwang beherrscht gewesen.60 Die parlamentarische Entwicklung folgte der schon aufgezeigten Logik, derzufolge Fraktions- (und ggf. Koalitions-)disziplin in dem Maße an Bedeutung gewinnen, in dem das Parlament zum zentralen Organ der staatlichen Willensbildung wird. Auf diesem Wege aber schritt der Reichstag beständig voran.61 Die Freiheit der Abgeordneten, nach eigener Überzeugung62 zu entscheiden, war weder rechtlich eingeschränkt noch tatsächlich bedeutungslos. IV. Schlussfolgerungen Dass sich die Bedeutung des freien Mandats geändert hat, seit es erstmals in die französische Verfassung von 1791 und dann in die ersten „landständischen“ Verfassungen der Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes Eingang gefunden hat, liegt auf der Hand.63 In der repräsentativen Demokratie, die dem Parlament im Prozess der staatlichen Willensbildung – im parlamentarischen Regierungssystem auch bei der Regierungsbildung – eine, wenn nicht die zentrale Rolle zuweist,64 ist kein Raum für jene „Schwatzhaftigkeit“, die Robert von Mohl denjenigen Mitgliedern der Paulskirche vorwarf, „die in keinem der disziplinierten Klubs“ waren.65 Die dem Parlament aufgebürdete Arbeitslast66 erfordert eine effektive Organisation des Geschäftsgangs und eine sorgfältige Verwaltung des verfügbaren Zeitbudgets. Das gilt für den einzelnen Abgeordneten und das Parlament als Ganzes gleichermaßen. Die vom

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So aber Huber (o. Fußn. 56), S. 892. Das Dilemma der Liberalen, die einerseits die Freiheit des Mandats verteidigten, andererseits aber für eine Ausdehnung der parlamentarischen Befugnisse eintraten, machte der langjährige (1868 – 1876) badische Ministerpräsident Julius Jolly (1823 – 1891) deutlich, wenn er in seiner 1880 erschienenen Schrift „Der Reichstag und die Parteien“ das parlamentarische Regierungssystem mit der Begründung verwarf, es befördere den „Parteizwang“ – zit. nach Schieder (o. Fußn. 26), S. 132 Fußn. 24. 62 Erinnert sei an Art. 83 PreußV 1850: „Die Mitglieder beider Kammern sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie stimmen nach ihrer freien Überzeugung und sind an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden.“ Die Vorschrift vermeidet (wie Art. 29 RV 1871) den ständig Verwirrung stiftenden Begriff des Gewissens – vgl. Klein (o. Fußn. 59), Art. 38 Rdnr. 195. 63 Zur Funktion des freien Mandats in der Gegenwart statt vieler: Badura (o. Fußn. 15), Rdnr. 57; ders., Staatsrecht, 2012, E 28; M. Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 2. Band, 2006, Art. 38 Rdnr. 142 ff.; Hofmann/Dreier (o. Fußn. 21), Rdnr. 40 ff. 64 P. Kirchhof, Das Parlament als „Entscheidungsmitte“ der Demokratie, in. Brenner u. a. (Hrsg.), Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel, FS für P. Badura zum 70. Geburtstag, 2004, S. 237 ff.; H. H. Klein, Die Macht des Bundestages, ZG 27 (2012), 209 ff. 65 J. G. Droysen, Die Verhandlungen des Verfassungsausschusses, 1849, S. 101 – zit. nach v. Beyme (o. Fußn. 40), S. XXXVIII. 66 Vgl. etwa BVerfGE 44, 308 (315 ff.). 61

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Bundesverfassungsgericht67 folgerichtig verfassungsrechtlich gutgeheißene Kontingentierung und Fraktionierung der Debatten des Bundestages68 erliegt indessen nicht selten (um nicht zu sagen: regelmäßig) der Gefahr routinemäßiger Erstarrung. Damit aber verfehlt die Plenardebatte einen ihrer wesentlichen Zwecke. Zwar dient sie nicht in erster Linie dem Austausch von Argumenten mit dem Ziel der Überzeugung des politischen Gegners; denn der Dualismus von die Regierung tragenden und opponierenden Fraktionen zwingt in aller Regel beide Seiten zur Vorformung der Meinungsbildung, bevor die (abschließende) Debatte eröffnet wird. Adressat der Debatte ist deshalb primär die Öffentlichkeit (im weitesten Sinne), der die von den Fraktionen eingenommenen Positionen erklärt werden müssen.69 Unbeschadet schon zu seiner Zeit überholter Kritik am „heillose(n) Fraktionsleben“ hat jedoch Heinrich von Treitschke in seinem 1871 erschienenen Aufsatz „Parteien und Fraktionen“70 in auch heute noch gültiger Weise den Verhandlungen des Plenums „die hochwichtige Aufgabe“ zugeschrieben, „ das Parlament mit der Nation in geistigem Verkehr zu erhalten; sie sollen das Haus vor der öffentlichen Meinung rechtfertigen, ihr den dialektischen Prozess erklären, der die Beschlüsse des Parlaments entschieden hat“. Die Erfüllung dieser Aufgabe ist notwendige Voraussetzung einer nicht nur formalen, sondern inhaltlichen Repräsentation des Volkswillens, die Grundlage von „Responsivität“, also des Vertrauen schaffenden „Gesprächs“ zwischen Repräsentierten und Repräsentanten.71 Der Bundestag hat immer wieder Anläufe zur Verlebendigung seiner Debatten genommen. Ein durchschlagender Erfolg ist ausgeblieben, und man geht nicht fehl in der Annahme, dass es stets die Fraktionen – genauer: deren Führungen – waren, die die zur bequemen Gewohnheit gewordene Sterilität der Aussprache nicht durch Spontaneität ersetzt wissen wollten. Die unausbleibliche Konsequenz: „Die Verhandlung im Hause erscheint als ein abgekartetes Spiel …“.72 Allenfalls noch in wenigen Ausnahmefällen ist der Bundestag imstande, mit seinen Wählern in geistigen Verkehr zu treten. In der Debatte über die Europäische Finanzierungsfazilität (EFSF) am 29. September 2011 ist das nicht zuletzt deshalb geglückt, weil die Öde routinemäßiger Abwicklung durch die Worterteilung an zwei dissentierende Abgeordnete durchbrochen wurde.73 Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass politische 67

Wie Fußn. 5. Treffend: W. Zeh, in: Schneider/Zeh (o. Fußn. 10), § 32 Rdnr. 46 f. 69 Dazu H. H. Klein (o. Fußn. 59), Art. 40 Rdnr. 26 ff.; Zeh (o. Fußn. 68), Rdnr. 16 ff. 70 In: H. v. Treitschke, Historische und Politische Aufsätze, 3. Band, 1903, S. 563 ff. (622 f.). 71 Dazu E.-W. Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 2005, § 34 Rdnr. 29, 33 bis 35, 46. 72 Treitschke (o. Fußn. 70), S. 623. 73 Dass es Meinungsverschiedenheiten über die Zweckmäßigkeit immer neuer Rettungsschirme nur in den Koalitions-, nicht aber auch in den Oppositionsfraktionen gegeben habe, glaubt niemand. Offenbar wird aber der Zwang zur äußeren Konformität in den „linken“ Fraktionen noch unerbittlicher geübt als in den „bürgerlichen“. 68

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Herrschaft umso legitimierungsbedürftiger wird, je kommunikativer die Gesellschaft wird.74 Der Bundestag muss sich in diesen Kommunikationsprozess wirksamer als bisher einschalten.75 Dazu könnte beitragen, dass er in seinen Verhandlungen nicht nur im Ausnahme- sondern auch im Regelfall auch diejenigen zu Wort kommen lässt, die innerhalb ihrer Fraktionen eine Mindermeinung vertreten.76 Zwar pflegt die teils uninformierte, teils sensationshungrige veröffentlichte Meinung jede fraktionsoder parteiinterne Meinungsverschiedenheit als Zerfallserscheinung zu perhorreszieren. Statt diesem Missverständnis offensiv entgegen zu treten, wird es durch die Fraktionen selbst befestigt, die, statt sich als lebendige Foren der Auseinandersetzung zu präsentieren, interne Differenzen nach Kräften zu unterdrücken bemüht sind. Dadurch aber wird das Parlament gehindert, „mit der Nation in geistigen Verkehr zu treten“. Eine seiner wichtigsten Aufgaben wird dadurch – ganz ohne Not – verfehlt.

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Zeh (o. Fußn. 68), Rdnr. 10. Entgegen der sich aus negativen Erfahrungen im England des 18. Jahrhunderts speisenden Befürchtung, die Instruktionsfreiheit der Abgeordneten berge die Gefahr einer der politischen Freiheit abträglichen Abschottung des Parlaments gegenüber dem Elektorat, anzutreffen etwa bei K. v. Rotteck (vgl. Brandt, o. Fußn. 23), erscheint das freie Mandat heute als das Instrument, vermittels dessen die Sprödigkeit der Parlamentsdebatte überwunden werden könnte. 76 Auch wenn diese Abgeordneten sich in den entscheidenden Abstimmungen der Mehrheit fügen, würde die parlamentarische Auseinandersetzung an Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit gewinnen, wenn dissentierende Mitglieder des Hauses nicht zum Schweigen verurteilt würden. 75

Der deutsche Föderalismus – auf dem Weg zu einem dezentralisierten Einheitsstaat? Von Stefan Korioth I. Einführung: Ein Bundesstaat zwischen Leitbildern und Wirklichkeit, Vergleich und Tradition Der Bundesstaat unterscheidet sich vom dezentralisierten Einheitsstaat durch den Staatscharakter der nichtsouveränen regionalen Gebietskörperschaften oberhalb der kommunalen Ebene.1 Die grundgesetzliche Fundierung und Absicherung des Bundesstaates in Art. 20 Abs. 1, Art. 79 Abs. 3 GG trifft eine klare normative Festlegung für diese Staatsform. Aber: Sowohl in der normativen Gestalt als auch in der Verfassungspraxis unterliegt der Bundesstaat beständig Veränderungen, dokumentiert in häufigen Verfassungsänderungen und in einer Dynamik der politischen Entwicklung, die durch das dauernde Miteinander, Nebeneinander und Gegeneinander von Bund und Ländern entsteht.2 Dabei vermittelt der Blick auf die föderale Entwicklung der letzten Jahrzehnte den Eindruck einer zunehmenden Schwächung der Länder, sowohl im Bestand der verfassungsrechtlich zugewiesenen Kompetenzen und Handlungsräume als auch in der Staatspraxis. Anläufe zu einem föderalen Kurswechsel, hin zu Dezentralisierung und Stärkung der Unabhängigkeit der Länder, wie etwa in den Föderalismusreformen 2006 und 2009, bleiben Proklamationen. Mitte der 1960er Jahre gab es noch ein klares Leitbild des deutschen Bundesstaates, das mit den Verfassungsnormen und der Staatspraxis in Einklang stand. „Die bundesstaatliche Ordnung unterliegt dem Wandel der politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse; sie kann deshalb nicht auf unabsehbare Zeit verfassungsrechtlich fixiert werden. […] Es muß deshalb eine Form des Föderalismus entwickelt werden, die ein ausgewogenes und bewegliches System der Zusammenarbeit zwischen dem Bund und den Ländern ermöglicht. Der Föderalismus unserer Zeit kann deshalb nur ein kooperativer Föderalismus sein.“3 Dies stellte 1966 das Troe1 Zur Staatsqualität der Länder BVerfGE 1, 14 (34); 6, 309 (347); 34, 9 (19 f.); 72, 330 (388). 2 A. Benz, Föderalismus als dynamisches Prinzip, 1985, S. 246 ff.; U. Scheuner, Struktur und Aufgabe des Bundesstaates in der Gegenwart, DÖV 1962, 641 ff. 3 Kommission für die Finanzreform, Gutachten über die Finanzreform in der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1966, Tz. 75 f. Dazu S. Korioth, „Ist wo ein Reich, das nicht zum Abgrund kreist“ – Formeln, Verfallserzählungen und Interessen in der Wissenschaft und Praxis zur Finanzreform, in: Junkernheinrich u. a. (Hrsg.), Zwischen Reformidee und Funktionsanspruch. Konzeptionen und Positionen zur deutschen Finanzverfassung, 2007, S. 9 ff.

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ger-Gutachten fest, die maßgebliche Vorarbeit zur Finanzreform 1967/69, erstellt in ungewöhnlich fruchtbarer Zusammenarbeit von Politikern und Wissenschaftlern. Kooperativer Föderalismus,4 damals ohne Einschränkung positiv besetzt, meinte einen „Stil des Miteinander von Bund und Ländern, welcher sich sowohl von übertriebener Betonung der Landesselbständigkeit […] wie auch von massivem Drängen auf Zentralisierung […] freihält. Man will das mißtrauische Nebeneinander in ein möglichst harmonisches Miteinander überführen.“5 Es dauerte indes nicht lange, bis die 1967/69 konstitutionalisierten (und zugleich zum Schutz der Länder begrenzten) Bereiche der Verklammerung von Bund und Ländern – von den damals neuen Gemeinschaftsaufgaben (Art. 91a, 91b GG) über die Finanzhilfen (Art. 104a Abs. 4 GG a. F.), den um die Umsatzsteuer erweiterten großen Steuerverbund (Art. 106 Abs. 3 GG) und die Ausweitung der Budgetfunktionen um die Konjunktursteuerung (Art. 109 GG a. F.) – jedenfalls in den damit befassten Wissenschaften in Verruf gerieten. 1972 beschäftigte sich die Jahrestagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer kritisch mit den Gemeinschaftsaufgaben. Daran anknüpfend schlug die Enquete-Kommission Verfassungsreform in ihrem Schlussbericht (1976) vor, Gemeinschaftsaufgaben und Finanzhilfen durch eine umfassende gemeinsame Rahmenplanung von Bund und Ländern und durch Finanzbeiträge neuer Art zu ersetzen.6 Im Jahr 1976 erschien außerdem die politologische Studie zur „Politikverflechtung im Bundesstaat“, die, ergänzt um die spätere „Politikverflechtungsfalle“7, eine ganze Generation der Föderalismuskritik beschäftigte. Anfang der 1980er Jahre begann, parallel zur Abwendung der ökonomischen Wissenschaften vom Keynesianismus, die Fundamentalkritik. Die Zukunftsfähigkeit des Bundesstaates verlange, auch und gerade im Bereich der Finanzen, eine Abkehr von Kooperation und Solidarität und eine Hinwendung zum Autonomiemodell, um effizienzhindernde Baufehler des Systems zu beheben.8 Die bundesstaatliche Ordnung in der Ausformung des kooperativen Föderalismus galt vielen als „Schwachstelle des Grundgesetzes“9. Nach 1990 verschärfte sich der Ton: Nunmehr sprachen manche von einem „ziemlich verkorksten System“, das „nun auch an den Rand der

4 Zur Begriffsgeschichte U. Scheuner, Wandlungen im Föderalismus der Bundesrepublik Deutschland (1966), in: ders., Gesammelte Schriften, 1978, S. 435 ff., 448 f. 5 G. Kisker, Kooperation im Bundesstaat, 1971, S. 1 f. 6 J. A. Frowein/I. von Münch, Gemeinschaftsaufgaben im Bundesstaat, in: VVDStRL 31 (1973), S. 13 ff., 51 ff.; Enquete-Kommission „Verfassungsreform“, Schlussbericht, 1976 (auch BT-Drs. 7/5924 vom 9. Dezember 1976); dazu K. Stern, Der Schlußbericht der EnqueteKommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages, ZRP 1977, 12 ff. 7 F. W. Scharpf/B. Reissert/F. Schnabel, Politikverflechtung, Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, 1976; F. W. Scharpf, Die Politikverflechtungsfalle, PVS 26 (1985), 323 ff. 8 Wichtig H. Klatt, Parlamentarisches System und bundesstaatliche Ordnung, Aus Politik und Zeitgeschichte 32 (1982), H. B. I, 3 ff., 21: „Konkurrenzföderalismus als zukunftsorientiertes Gestaltungsprinzip“. 9 D. Grimm, Das Grundgesetz nach vierzig Jahren, NJW 1989, 1305 ff., 1307.

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Existenzgefährdung geraten“10 sei. Ökonomen übernahmen die Meinungsführerschaft und verlangten die vollständige Ausrichtung des Bundesstaates am Wettbewerbsparadigma. Gestaltungsschwierigkeiten der Politik wurden kurzerhand den bundesstaatlichen Institutionen angelastet: „Die politischen Entscheidungsprozesse in Deutschland sind seit geraumer Zeit langsam, undurchsichtig und unberechenbar. […] Eine wichtige Ursache für dieses Politikversagen sind die föderalen Entscheidungsstrukturen.“11 Die Föderalismus-Falle lähme Selbständigkeit und Selbstverantwortung von Bund und Ländern, der grundgesetzliche Föderalismus sei eine „Verfallsgeschichte“ und zeige eine „unaufhaltsame Erosion von Landeszuständigkeiten bei gleichzeitiger und kompensierender Zunahme des Verflechtungs- und Exekutivföderalismus“: „Dieser kooperativ weichgespülte Föderalismus zeigt zwischenzeitlich Wirkungen, die an die Substanz des Bundesstaatsprinzips gehen: Der Verbundföderalismus lähmt mit zunehmend problematisch empfundenen Folgen die Handlungsfähigkeit des Bundes, der Exekutivföderalismus marginalisiert die Zuständigkeiten der Landesparlamente, und die eigene Staatlichkeit der Länder […] zerbröselt langsam, aber scheinbar unaufhaltsam.“12 Erst zögernd, dann mit Entschiedenheit, nahm die Politik diese Kritik auf und proklamierte, sie in Verfassungsreformen umsetzen zu wollen. Die erste Stufe der Föderalismusreform (2006) setzte sich, aufbauend auf den Vorarbeiten der im Dezember 2004 zunächst gescheiterten „Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“13 ausdrücklich das Ziel, die Kompetenzen von Bund und Ländern zu entflechten und beide Ebenen in ihrer Eigenständigkeit und Staatlichkeit zu stärken.14 Bei der zweiten Teilstufe der Reform (2009) formulierte der Einsetzungsbeschluss der gemeinsamen Kommission von Bundestag und Bundesrat Ende 2006 schon vorsichtiger: „Die Kommission erarbeitet Vorschläge zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen mit dem Zweck, diese den veränderten Rahmenbedingungen innerhalb und außerhalb Deutschlands insbesondere für Wachstums- und Beschäftigungspolitik anzupassen. Die Vorschläge sol-

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H. Abromeit, Der verkappte Einheitsstaat, 1992, S. 131. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2003/2004, 2003, S. 304; vgl. auch Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.), Kommission Verfassungspolitik und Regierungsfähigkeit, Neuordnung der Kompetenzen zwischen Bund und Gliedstaaten, 2001. S. a. E. Schmidt-Jortzig, Herausforderungen für den Föderalismus in Deutschland, DÖV 1998, 746 ff.; V. Mehde, Wettbewerb zwischen Staaten, 2005, S. 112 ff. 12 O. Depenheuer, Verfassungsrechtliche Föderalismusreform, ZG 20 (2005), 83 ff.; s. a. P. M. Huber, Klarere Verantwortungsteilung von Bund, Ländern und Kommunen? Gutachten D für den 65. Deutschen Juristentag 2004, in: Verhandlungen des 65. DJT, Teil D, S. 15 ff. 13 Vgl. die Dokumentation in: Zur Sache 1/2005. 14 Vgl. BT-Drs. 16/813, S. 7; vgl. auch U. Häde, Zur Föderalismusreform in Deutschland, JZ 2006, 930 ff.; P. Selmer, Die Föderalismus-Reform, JuS 2006, 1052 ff. Dokumentation bei Holtschneider/Schön (Hrsg.), Die Reform des Bundesstaates, 2006. 11

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len dazu führen, die Eigenverantwortung der Gebietskörperschaften und ihre aufgabenadäquate Finanzausstattung zu stärken.“15 Mit diesen Zielsetzungen ist die Politik auf die neuen föderalen Leitbilder eingeschwenkt. Allerdings: Es handelt sich um bloße Proklamationen. Diese Ziele finden in der politischen und (verfassungs-)rechtlichen Realität des deutschen Föderalismus im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts praktisch keine Entsprechung.16 Hier wird stattdessen der kooperative Föderalismus ausgebaut und vertieft, und dies mit einer bemerkenswerten Verschiebung im Vergleich zu den vorangegangenen Jahrzehnten: Das Element der zentralen Steuerung dieses Föderalismus durch ein Übergewicht des Bundes gegenüber den Ländern mit Formen des Umgangs vergleichbar denen von Staat und Kommunen, nimmt entschieden zu.17 Dafür gibt es eine ganze Reihe von Belegen (dazu II.). Nur: Dies muss keineswegs als ein weiteres und tragisches Kapitel einer Verfallsgeschichte des Bundesstaates zu bewerten sein. Unitarisierung und enge Zusammenarbeit sowie Verflechtungen sind seit langem bestimmende Züge der spezifisch deutschen – nicht erst grundgesetzlichen – Ausprägung des Bundesstaates. Neue Verflechtungen können im Prozess der dauernden Anpassung des Bundesstaates an neue Herausforderungen auch als spezifische Problemlösungen gedeutet werden, die den Pfad der deutschen föderalen Tradition weitergehen (dazu III.). Die Diskrepanz zwischen dem proklamierten Leitbild und der Wirklichkeit sollte allerdings vermindert werden, und vor allem die Länder werden sich entscheiden müssen, spätestens bis 2020, dem nächsten zeitlichen Orientierungspunkt des Föderalismus,18 ob sie die aus den aktuellen Entwicklungen sich ergebende Rolle der eingeschränkten regionalen Staatlichkeit akzeptieren oder zu einem Gestaltungsföderalismus mit größerer Autonomie und Verantwortung gelangen wollen. Ersteres käme dem dezentralisierten Einheitsstaat nahe.

15 Vgl. BT-Drs. 16/3885; BR-Drs. 913/06 (Beschluss). Dazu F. Kirchhof, Die Föderalismusreform II, in: Reform an Haupt und Gliedern. Verfassungsreform in Deutschland und Europa. Symposium aus Anlass des 65. Geburtstags von Hans-Jürgen Papier, 2009, S. 43 ff.; S. Korioth, Reform der Bund-Länder-Finanzbeziehungen?, ZG 2007, 1 ff. 16 Eine wichtige Ausnahme hat indes die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gesetzt. Nach BVerfGE 116, 327 – Berlin-Urteil – gilt auch im Fall krisenhafter Finanzlagen einzelner Bundesländer das Prinzip der Selbstverantwortung, Solidaritätspflichten gibt es nur im Fall eines bundesstaatlichen Notstandes im Sinne einer nicht ohne fremde Hilfe abzuwehrenden Existenzbedrohung eines Landes als verfassungsgerecht handlungsfähigen Trägers staatlicher Aufgaben. Dazu P. Selmer, Der „bundesstaatliche Notstand“ eines Landes – eine ungelöste Verfassungsaufgabe, KritV 2008, 171 ff. 17 Eine „Wende zu einer bundesorientierten Politik“ konstatierte bereits Mitte der 1990er Jahre H. Klatt, Der kooperative Bundesstaat: Entwicklungslinien und neue Herausforderungen, in: Gunlicks/Voigt (Hrsg.), Föderalismus in der Bewährungsprobe, 1994, S. 228 ff., 249. 18 Ab 2020 gelten die neuen Schuldenregeln (Art. 109, 115 GG) uneingeschränkt für die Länder; ferner laufen der zeitlich befristete Länderfinanzausgleich und der Solidarpakt II mit seinen besonderen Hilfen für die neuen Länder aus.

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II. Die Jahre seit 2000: Neue Kooperationen, Verflechtungen und Zentralisierungen 1. Das große sozialpolitische Thema der ersten Jahre nach 2000, die Zusammenlegung der damaligen Arbeitslosen- und Sozialhilfe, führte zur Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II, „Hartz IV“).19 Als Ende 2003 um die gesetzlichen Grundlagen hart gerungen wurde, debattierte die erste Föderalismuskommission ausführlich über die Einschränkung und Abschaffung von Gemeinschaftsaufgaben und Mischfinanzierungen. Die Politik gab, indirekt, aber deutlich, die Antwort: Die Grundsicherung für Arbeitsuchende schuf die größte und finanziell mit Abstand aufwendigste Mischfinanzierung in der Geschichte der Bundesrepublik. Während alle anderen Mischfinanzierungen sich 2005 zu einem Volumen von ca. 15 Mrd. Euro summierten, betrugen die jährlichen Ausgaben nach SGB II seither zwischen 40 und 50 Mrd. Euro. Die Finanzierung und Verwaltung der Grundsicherung verband und zwang Bund und Länder, aber auch die Kommunen, zu enger Kooperation, vor allem in den neu geschaffenen Arbeitsgemeinschaften von Bund und Kommunen. Nachdem das Bundesverfassungsgericht dieses ebenenübergreifende Verwalten für verfassungswidrig erklärt hatte,20 wurde 2010 Art. 91e GG zur Legalisierung der Arbeitsgemeinschaften geschaffen. Dessen Absatz 1 ordnet in erfrischender Offenheit für seinen Sachbereich das Prinzip des kooperativen Föderalismus an, die Absätze 1 und 2 durchbrechen unbekümmert das erst 2006 zum Schutz der kommunalen Ebene normierte Verbot, den Kommunen unmittelbar durch Bundesgesetz Aufgaben zu übertragen. Mehr noch: Art. 91e Abs. 3 GG ermächtigt den Bundesgesetzgeber, das „Nähere“ zu regeln. Davon haben §§ 6, 6a SGB II ausgiebig Gebrauch gemacht. Bis in die Einzelheiten gibt das Bundesrecht Ländern und Kommunen die Gesetzesausführung vor, selbst den Fall von Optionskommunen (Art. 91e Abs. 2 GG), deren Bestand oder Gestalt landesrechtliche kommunale Gebietsreformen verändert haben, hat der Gesetzgeber nicht ausgespart und der anpassenden Gestaltung durch das unter Umständen sachnähere Landesrecht entzogen (§ 6a Abs. 1, Abs. 7 SGB II). Das ist Kooperation unter strenger Anleitung des Bundes und mit ausgeprägter Abhängigkeit von den vom zentralen Haushalt bereitgestellten Ressourcen, weniger eine Renaissance der Gemeinschaftsaufgaben21 im Sinne einer Wiederkehr nach längerer Abwesenheit, sondern eine Veränderung und Vertiefung der bestehen19 A. Robra, Organisation der SGB II-Leistungsträger, 2007, S. 13 ff., K. Ritgen, Selbstverwaltungsgarantie und Mischverwaltungsverbot als Schranken der Organisationsgewalt des Bundes, NdsVBl. 2008, 185 ff.; H. Albers, Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe – wirksame Reform oder organisatorisches Fiasko?, NdsVBl. 2004, 118 ff.; H.-G. Henneke, Aufgabenwahrnehmung und Finanzlastverteilung im SGB II als Verfassungsproblem, DÖV 2005, 177 ff. 20 BVerfGE 119, 331. Dazu F. Schoch, Neukonzeption der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie durch das BVerfG?, DVBl. 2008, 937 ff.; H. Meyer, Das SGB II als Ernstfall des Föderalismus, NVwZ 2008, 275 ff.; S. Korioth, Leistungsträgerschaft und Kostentragung bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende, DVBl. 2008, 812 ff. 21 In diese Richtung – vor Einfügung des Art. 91e GG – M. Seckelmann, „Renaissance“ der Gemeinschaftsaufgaben in der Föderalismusreform II?, DÖV 2009, 747 ff.

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den Kooperationen von Bund, Ländern und Kommunen durch Einführung eines neuen und besonders bedeutsamen Anwendungsfalles.22 Selbst wenn die Verwaltung der Grundsicherung für Arbeitsuchende als Fall der neuen Kooperationen für sich allein stünde, wäre er angesichts seiner Bedeutung schon eine Widerlegung der Etablierung eines neuen Konkurrenzföderalismus. „Insoweit ist anzumerken, dass die Ausweitung der Mischfinanzierung den Zielen der Föderalismusreform im Grundsatz zuwiderläuft und zudem im konkreten Fall in der Ausgestaltung der Aufsichtsund Steuerungsinstrumente sehr komplex geraten ist.“23 Dieser Fall mit seinen deutlichen Anklängen an die Kommunalaufsicht ist aber nicht ein einzelner Ausbrecher. Es gibt weitere interessante Entwicklungen hin zur Stärkung des Bundes und der ebenenübergreifenden Kooperationen. 2. Die Föderalismusreform des Jahres 2006 wird häufig und zu Unrecht als die bedeutendste Novelle des Grundgesetzes seit 1949 bezeichnet.24 Die Tragweite dieser Reform bleibt weit hinter der großen bundesstaatlichen Verfassungsänderung von 1967/69 zurück. In der technischen und konzeptionellen Qualität der Reformen ist der Unterschied frappierend. Während die Finanzreform 1967/69 aus einem Guss war, das Leitbild des konzertierten Zusammenwirkens konsequent umsetzte und eine angemessene Aufgabenverteilung zwischen Verfassung und Gesetz enthielt, fällt es dagegen schwer, eine Konzeption des Bundesstaates und der spezifischen Rolle des bundesstaatlichen Verfassungsrechts in der Novelle 2006 zu entdecken. Das proklamierte Ziel, die „Funktionsfähigkeit“ des Bundesstaates durch Entflechtung und Dezentralisierung zu verbessern, spiegeln die Neuregelungen nur ansatzweise wider. Die behauptete „Modernisierung“ ist die Formel der Ratlosigkeit. Zugleich sind neue Verflechtungen geschaffen worden. Die beabsichtigte Stärkung der Länder blieb begrenzt und betrifft kostenintensive Materien, die in Zeiten der Krise der öffentlichen Haushalte wenig politischen Gestaltungsraum geben. Beim Neuarrangement der Gesetzgebungskompetenzen hat der Bund gewonnen:25 Aus den Rahmenkompetenzen des Art. 75 GG a. F. wurden Vollkompetenzen in Art. 74 GG, die Begrenzung der Erforderlichkeitsklausel (Art. 72 Abs. 2 GG) räumt eine dem Bund zuvor zunehmend lästige Hürde eigener Gesetzgebung in allen wirklich wichtigen Bereichen aus dem Weg. Demgegenüber finden sich bedeutsame Stärkungen der legislativen Handlungsräume der Länder im wesentlichen nur im öffentlichen Dienstund im Hochschulrecht. Bei diesen kostenintensiven Materien setzt die Ausfüllung der Handlungsräume indes Ressourcen voraus, über die nur wenige Länder verfügen. Die Gemeinschaftsaufgaben und weiteren Mischfinanzierungen (Art. 91a, 91b, 104b 22 Vgl. U. Volkmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Bd. III, 6. Aufl. 2010, Art. 91e Rdnr. 3 ff. U. Mager, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2012, Art. 91e Rdnr. 13: „Die vielfältigen Koordinierungsinstrumente verraten sowohl Angst um Einfluss wie vor alleiniger Verantwortung.“ 23 U. Mager, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2012, Art. 91e Rdnr. 13. 24 G. Mulert, Der Bundesrat im Licht der Föderalismusreform, DÖV 2007, 25 (25). 25 Anders – ohne Begründung – K.-P. Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl. 2010, Bd. II, Art. 20 Rdnr. 33.

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GG a. F.) hat die Reform in begrenzter Weise neu geordnet – Dezentralisierung und Entflechtung durch deren Abschaffung wurden konsequent vermieden. Überraschend war, dass mit dem Hochschulbau ausgerechnet diejenige Gemeinschaftsaufgabe nach Übergangsfristen auslaufen wird, die die stärkste gesamtstaatliche Bedeutung und die bedeutendsten Spillover-Effekte aufweist, während Aufgaben mit lokaler Bedeutung wie etwa der Küstenschutz und die Agrarstruktur erhalten blieben. Bei der im Ansatz sinnvollen Verengung und Verschärfung der Voraussetzungen, unter denen der Bund Investitionshilfen gewähren kann (Art. 104b GG), hat die zweite Stufe der Föderalismusreform 2009 sogar den Rückzug angetreten. Als die Notwendigkeit neuer Kooperation mit zentraler Steuerung im Zuge der Wirtschaftskrise 2008/09 den Bund veranlasste, den Ländern im Rahmen eines Konjunkturprogramms durch das „Zukunftsinvestitionsgesetz“ Finanzhilfen von 10 Mrd. Euro zu gewähren, musste die 2006 novellierte Befugnisnorm des Art. 104b GG passend gemacht werden.26 Auch hier wurde das Leitbild der Entflechtung und Dezentralisierung zur Seite geschoben, als es störte. 3. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gehört zu dem nach Art. 79 Abs. 3 GG unantastbaren „Hausgut“ jedes Landes auch „die Garantie der verfassungskräftigen Zuweisung eines angemessenen Anteils am Gesamtsteueraufkommen im Bundesstaat“27. Die zurückhaltende Formulierung zielt auf die Quantität, nicht auf eine bestimmte Qualität der Ausgestaltung. Auf der Skala abnehmender Länderselbständigkeit lässt sich das Ergebnis angemessener Finanzausstattung durch erstens eine Kombination von Steuergesetzgebungs- und -ertragshoheit der Länder, durch zweitens verfassungsrechtliche Ertragshoheitsrechte ohne gesetzgeberische Gestaltungsmöglichkeit und drittens durch Finanzzuweisungen des Bundes an die Länder erreichen. Die primäre Steuerverteilung nach den Art. 106, 107 Abs. 1 GG wählt ganz überwiegend den zweiten Weg. Die Verbindung von Gesetzgebungsund Ertragshoheit der Länder gibt es erst seit der Föderalismusreform I und ausschließlich für die Grunderwerbsteuer, wobei die Ländergesetzgebung auf die Bestimmung des Steuersatzes beschränkt ist (Art. 105 Abs. 2a S. 2, Art. 106 Abs. 2 Nr. 3 GG). Bis zum 1. Juli 2009 galt die Trennung von Bundessteuergesetz und Länderertragshoheit auch für die Kraftfahrzeugsteuer, seither steht auch die Ertragshoheit dem Bund zu (Art. 106 Abs. 1 Nr. 3 GG), die Länder erhalten als Ausgleich stattdessen durch vertikale Zuweisungen einen „Betrag aus dem Steueraufkommen des Bundes“ (Art. 106b S. 1 GG mit den Folgeänderungen in Art. 107 Abs. 1 S. 4, 108 Abs. 1 GG, ferner §§ 1, 2 des „Gesetzes zur Regelung der finanziellen Kompensation zu26 Eingefügt wurde Absatz 1 S. 2 in Art. 104b GG: „Abweichend von Satz 1 kann der Bund im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, auch ohne Gesetzgebungsbefugnisse Finanzhilfen gewähren.“ Dazu H. Meyer/H. Freese, Konjunkturpaket II: Art. 104b GG als Ärgernis und Garant des Föderalismus, NVwZ 2009, 609 ff. 27 BVerfGE 34, 9 (20). Dazu J. Kramer, Grenzen der Verfassungsänderung im Bereich der bundesstaatlichen Finanzverfassung, 2000, S. 42 ff.

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gunsten der Länder infolge der Übertragung der Ertragshoheit der Kraftfahrzeugsteuer auf den Bund“).28 Die Neuregelung hat für die Länder den Vorteil, dass bundesgesetzliche Kraftfahrzeugsteuerreformen nicht ihr Steueraufkommen beeinflussen; ihnen steht jetzt ein gesetzlich bestimmter Festbetrag zu. Allerdings: In den Bund-Länder-Finanzbeziehungen sind ungebundene vertikale Bundeszuweisungen ein Fremdkörper; im vierstufigen System der Ertragsverteilung nach Art. 106, 107 GG gab es sie bislang lediglich auf der letzten und ergänzenden Stufe in Gestalt von Ergänzungszuweisungen des Bundes. Art. 106b GG schiebt sich unsystematisch in den primären vertikalen Finanzausgleich, der ansonsten nur die Zuteilung steuerlicher Ertragshoheitsrechte zum Gegenstand hat. Finanzzuweisungen sind, auch wenn der fiskalische Vorteil manifest ist, autonomiefeindlich. Nicht ohne Grund ist der kommunale Finanzausgleich zwischen staatlicher und gemeindlicher Ebene das regelmäßige Anwendungsfeld vertikaler Zuweisungen von oben nach unten. Mit der Einführung des Art. 106b GG haben die Länder in einem Ausschnitt der bundesstaatlichen Finanzbeziehungen freiwillig die Rolle von Selbstverwaltungskörperschaften eingenommen.29 Zugleich liegt ein neuer Fall einer ebenenübergreifenden Verflechtung vor: Die Höhe des Festbetrags und seine Verteilung auf die einzelnen Länder regelt ein zustimmungsbedürftiges Bundesgesetz auf der Grundlage des Art. 106b S. 2 GG. Konfliktfälle und Paketlösungen als Ausweg sind vorgezeichnet; die Anwendungsfälle der Figur des Zustimmungsgesetzes, die vermindert werden sollten, erhöhen sich.30 4. Verfassungsrechtliche Gewichtsverschiebungen, die für einzelne Länder sogar, sollte die Entwicklung der öffentlichen Finanzen in den nächsten Jahren einen ungünstigen Verlauf nehmen, existenzbedrohend sein könnten, hat die Föderalismusreform II des Jahres 2009 mit den neuen Schuldenregeln gebracht.31 Zunächst: Es ist kein Zeichen funktionierender Bundesstaatlichkeit, wenn, erstmals in der Geschichte des Bundesstaates seit 1871, nunmehr die Bundesverfassung den Ländern Voraussetzungen und Grenzen der Kreditaufnahme vorschreibt. Unabhängig von der Verein-

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Zur Entstehung BT-Drs. 16/11741, 16/11900, 16/11901, 16/11931. Ausführlich und kritisch zu Art. 106b GG P. Selmer/L. Hummel, Vertrauenschaffende Funktion der Finanzverfassung?, in: Junkernheinrich u. a. (Hrsg.), Jahrbuch für öffentliche Finanzen 2009, 2009, S. 477 ff. 29 Vgl. auch F. Kirchhof (o. Fn. 15), S. 61: „Dass man zu einem Transfer im Sinne eines Festbetrags gegriffen hat, ist etwas unglücklich, weil dann die Länder nicht mehr eine eigene Steuerquelle wirtschaftspolitisch pflegen müssen, sondern sich auf die Zuweisung des Bundes verlassen können“. 30 Kritisch M. Heintzen, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2012, Art. 106b Rdnr. 3. 31 Dazu etwa D. Buscher, Der Bundesstaat in Zeiten der Finanzkrise, 2010; H. Neidhardt, Staatsverschuldung und Verfassung, 2010; M. Koemm, Eine Bremse für die Staatsverschuldung? 2011; S. Korioth, Das neue Staatsschuldenrecht – zur zweiten Stufe der Föderalismusreform, JZ 2009, 729 ff.

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barkeit dieses Vorgehens mit Art. 79 Abs. 3 GG32 würde eine halbwegs intakte Staatlichkeit der Länder verlangen, dass diese sich Kreditgrenzen als Ausdruck ihrer Verfassungs- und Budgethoheit im Landesrecht selbständig und ohne Vorgaben des Bundesverfassungsrechts setzen. Wiederum nähert sich das Verhältnis der Länder zum Bund dem der Gemeinden zum Land an; der kommunalen Ebene setzt traditionell das kommunale Haushaltsrecht des Landes enge Verschuldungsgrenzen. Es überrascht, dass 13 Länder im Bundesrat dem Weg der grundgesetzlichen Vorgabe zugestimmt haben – in der bezeichnenden und Misstrauen widerspiegelnden Erwartung, damit die jeweils anderen Länder zu disziplinieren. Die Sorge um eine Mithaftung für die Schulden anderer Länder kann jedenfalls nicht der Grund gewesen sein – hier hatte das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Haushaltsnotlage Berlins 2006 eine Einstandspflicht verneint. Die Zuteilung der Verschuldungsräume zeigt weitere Auffälligkeiten. Art. 109 Abs. 3 GG, der in vollem Umfang für die Länder ab 2020 gelten wird (Art. 143d Abs. 1 S. 3 GG), unterscheidet zwischen „struktureller“ Verschuldung (nichtkonjunkturbedingte und ohne weitere Rechtfertigung mögliche Nettoneuverschuldung) und ausnahmsweiser Kreditaufnahme zum Ausgleich von Konjunkturschwankungen und in Notlagen. Erstere hat sich der Bund erlaubt, den Ländern dagegen ab spätestens 2020 verboten (Art. 109 Abs. 3 S. 2 und 5 GG). Hier ragt das Grundgesetz mittels einer Durchgriffsnorm unmittelbar in das Landesrecht hinein. Daneben erlaubt das Grundgesetz den Ländern, von den ausnahmsweisen Verschuldungsmöglichkeiten Gebrauch zu machen, wenn das Landesrecht entsprechende Ermächtigungen bis spätestens 2020 schafft. Ganz abgesehen davon, dass es angemessen gewesen wäre, die strukturelle Verschuldung den Ländern zu überlassen,33 weil sie im Unterschied zum Bund keine Möglichkeit haben, über eine eigenständige Gestaltung des Steuerrechts ihre Einnahmen zu erhöhen, können die Ausnahmetatbestände die Länder zu phantasievollen Ausgestaltungen des grundsätzlichen Neuverschuldungsverbots veranlassen. Ist es etwa eine „außergewöhnliche“ Notsituation, die „sich der Kontrolle“ des Landes entzieht und die „staatliche Finanzlage erheblich“ beeinträchtigt (vgl. Art. 109 Abs. 3 S. 2 GG), wenn aufgrund von Steuerrechtsänderungen das Steueraufkommen eines Landes sinkt? Rheinland-Pfalz etwa scheint ausweislich des neuen Art. 117 Abs. 1 Nr. 2b seiner Verfassung dieser Meinung zu sein, der Verschuldung zum Ausgleich eines „erheblichen vorübergehenden Finanzbedarfs“ zulassen will infolge „b) einer auf höchstens vier Jahre befristeten Anpassung an eine strukturelle, auf Rechtsvorschriften beruhende und dem Land nicht zurechenbaren Änderung der 32 Einen Konflikt sehen H.-P. Schneider, Die Berliner Republik – Ein Bundesstaat ohne Föderalisten?, in: FS Herzog, 2009, S. 451, 469 ff.; B. Faßbender, Eigenständigkeit und Verschuldungsfähigkeit der Länder – Verfassungsrechtliche Grenzen der Einführung einer „Schuldenbremse“ für die Länder, NVwZ 2009, 737 ff. Anders U. Häde, Die Ergebnisse der zweiten Stufe der Föderalismusreform, AöR 2010, 541 ff.; M. Koemm (Fußn. 31), S. 243 ff. 33 Anders Koemm (o. Fußn. 31), S. 253, die meint, die Ungleichbehandlung von Bund und Ländern werde durch die „Garantie der aufgabenangemessenen Finanzausstattung, die ggf. eine Umverteilung der Einnahmen fordert, hinreichend ausgeglichen“.

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Einnahme- oder Ausgabesituation“. Was als Hintertür bei schierer Finanznot verständlich erscheint, weil mit der Verdrängung der Länder aus Verschuldungsmöglichkeiten ihnen die letzten gestaltbaren Einnahmequellen genommen werden, während Landesausgaben nicht unbeträchtlich durch bundesrechtliche Standards vorgegeben sind, erweist sich im Lichte der neuen Schuldenregel als klare Umgehung des grundsätzlichen Verschuldungsverbots. Die Länder stehen unter Druck: Mit den neuen Schuldenregeln, sollten diese ernst genommen und beachtet werden, wird – jedenfalls für die meisten Länder – die finanzielle Gesamtlage nicht zu meistern sein. Die Länder benötigen entweder neue eigenständige Gestaltungsmöglichkeiten auf der Einnahmenseite34 oder eine verstärkte Einstands- und Garantenstellung des Bundes für eine aufgabenangemessene Finanzausstattung. Letzteres müsste eine deutliche Vertikalisierung des Finanzausgleichs bedeuten. Hier zeichnen sich alternative Grundlinien einer erforderlichen Föderalismusreform III ab. 5. Die Reihe der Beispiele für Einfluss- und Gewichtsverlagerungen im BundLänder-Verhältnis hin zum Bund sei hier abgeschlossen mit einem Blick auf das im Jahre 2011 neugefasste Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz (TEHG) und einen wenig beachteten Teil seiner Entstehungsgeschichte. Die Rechtsgrundlagen für die zukünftige Gestaltung und Erweiterung des europäischen Emissionshandelssystems setzen u. a. die europäischen Vorgaben einer absoluten Grenze der EU-weiten Emissionen und des (erweiterten) Marktes für einen Handel mit Emissionsberechtigungen um; das Ziel ist ein nachhaltiger Beitrag zur Reduzierung von Treibhausgasen in der Atmosphäre. § 8 Abs. 1 TEHG bestimmt, Unionsrecht umsetzend, dass ab 2012 die der Bundesrepublik Deutschland zugewiesenen Treibhausgasemissionsberechtigungen überwiegend und mit von Jahr zu Jahr steigenden Anteilen versteigert werden. § 8 Abs. 3 S. 1 TEHG bestimmt sodann lapidar: „Die Erlöse aus der Versteigerung der Berechtigungen nach Absatz 1 stehen dem Bund zu.“ Versteigerungserlöse sind als nichtsteuerliche Abgaben mit deutlichen Übereinstimmungen zur Verleihungsgebühr einzustufen. Die Ertragshoheit folgt nach allgemeinen Grundsätzen bei solchen Abgaben der Gesetzgebungskompetenz. Danach begegnet § 8 Abs. 3 S. 1 TEHG keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Allerdings hätte rechtspolitisch eine andere Lösung nahegelegen, nämlich eine Beteiligung der Länder an den Versteigerungserlösen, da die Aufgaben des Klimaschutzes und der klimabedingten Anpassung der Infrastruktur überwiegend von den Ländern zu leisten sind.35 Angesichts des Einnahmevolumens aus den Zertifikatversteigerungen, die bis 2020 jährlich 10 Mrd. Euro betragen können, und beträchtlichen Steuerausfällen 34 Die damit aufgerufene verstärkte Steuerautonomie gäbe allerdings wiederum den meisten Ländern mangels belastbarer Steuergrundlagen Steine statt Brot, vgl. S. Korioth, Länderfinanzen unter Druck – Reformbedarf und Reformmöglichkeiten in den Bund-Länder-Finanzbeziehungen, ThürVBl. 2011, 73 ff. Anders C. Fuest, Würde mehr Steuerautonomie die finanzschwachen Bundesländer benachteiligen?, KritV 2008, 200 ff. 35 A. Löschel/C. Reif/M. Kesternich/S. Koesler/D. Osberghaus/S. Korioth, Versteigerungserlöse aus CO2–Zertifikaten im Spannungsfeld zwischen Bund und Ländern, Wirtschaftsdienst 2011, 712 ff.

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bei der Gewerbe- und Körperschaftsteuer durch entsprechende Betriebsausgaben der Unternehmen hätte erwartet werden können, dass die Länder im Gesetzgebungsverfahren nachdrücklich auf einer Erlösbeteiligung bestanden hätten. Tatsächlich gab es hierzu eine Empfehlung des Bundesrates,36 die aber vom Bund zurückgewiesen wurde. Dabei blieb es.37 Anzeichen dafür, dass dieser schlichte Verzicht der Länder auf nicht unbeträchtliche Mittel Teil einer umfassenderen Paketlösung gewesen sein könnte, gab es nicht. Es kamen auf Seiten der Länder nicht einmal diejenigen Instrumente und Argumente zum Einsatz, die etwa Kommunen regelmäßig verwenden, wenn sie als der institutionell schwächere Teil finanzielle Ausstattungsansprüche gegen ihr Land geltend machen. Der Grund dürfte darin gelegen haben, dass es den Ländern auch bei gleichgerichteten Interessen zunehmend schwerer fällt, eine einheitliche Position gegenüber dem Bund zu beziehen. III. Bewertung Der Befund ist deutlich: Staatspraxis und (Verfassungs-)Rechtsetzung des letzten Jahrzehnts haben die überkommenen Kooperationen und Verflechtungen zwischen den staatlichen Gebietskörperschaften ausgeweitet und vertieft, hierbei den steuernden sowie lenkenden Einfluss des Bundes verstärkt und die finanzielle Basis der Länder verkleinert. Das theoretische Leitbild der Entflechtung, des Wettbewerbsföderalismus und der zu stärkenden Eigenständigkeit insbesondere der Länder findet in der Wirklichkeit des deutschen Bundesstaates, von Details abgesehen, keine Entsprechungen. Umso mehr spiegelt sich im alltäglichen heutigen Bundesstaat neben der spezifisch deutschen föderalen Kultur, föderalen Geschichte und auch der Erwartungshaltung der Bürger die Tendenz, das Bund-Länder-Verhältnis nach dem Schema Staat-Gemeinde zu gestalten. Jedenfalls: Hier gilt Vielfalt als verwirrend und störend, als Ausdruck von „Kleinstaaterei“ und föderalen Flickenteppichen, während einheitliche Festlegungen und Gleichmäßigkeit in allen Regionen und Ländern regelmäßig als effizient und problemangemessen empfunden werden.38

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Vgl. BR-Drucksache 88/11. Vgl. BR-Drucksache 362/11; Erläuterungen zur 885. Sitzung des Bundesrates am 8. Juli 2011, S. 5 (2b): „Nicht aufgegriffen hat der Deutsche Bundestag die Forderungen, die Länder angemessen an den Einnahmen des Bundes aus dem Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten zu beteiligen sowie die Steuermindereinnahmen der Länder und Gemeinden, die aus der Berücksichtigung und Abziehbarkeit der Kosten für den Erwerb der Zertifikate als Betriebsausgaben bei den Ertragsteuern resultieren, zu kompensieren.“ 38 Aufschlussreich dazu J. Wieland, Deutschlands Zukunft als Bundesstaat, in: Enders/ Masing (Hrsg.), Freiheit des Subjekts und Organisation von Herrschaft, in: Der Staat, Beiheft 17, 2006, S. 79 ff. Vgl. auch Mulert (o. Fußn. 24), 29: „Die sozialstaatlich gebotene Wahrung einheitlicher Lebensverhältnisse im Bundesgebiet und die Sicherstellung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands in einer sich globalisierenden Weltwirtschaft bedürfen vielmehr eines zunehmenden Maßes an Homogenität, das nur durch eine entsprechende Kompetenzdichte auf Bundesebene sichergestellt werden kann.“ 37

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Schreitet diese Entwicklung voran, so wird die Frage drängender werden, warum es überhaupt noch eines duplex regimen in gestufter Staatlichkeit bedarf. Eine Antwort hat vor fast hundert Jahren Matthias Erzberger gegeben, der als erster Finanzminister des Deutschen Reiches nach der Umwälzung 1918 bereits im Jahre 1919 eine konsequente Zentralisierung der Finanzordnung in der Weimarer Verfassung und den Ausführungsgesetzen in Umkehrung der Verhältnisse des Kaiserreichs durchsetzte39 und bei den teils widerstrebenden Ländern40 für die Vorteile der Bündelung aller wichtigen Finanzkompetenzen beim Reich warb: „Überblickt man die verschiedensten Tatsachen, so kann man wirklich nicht von einer Beschränkung der Bewegungsfreiheit der Länder und Gemeinden sprechen. Es ist eher das Umgekehrte der Fall, da Länder und Gemeinden durch die Neuordnung viel größere Steuereinkünfte beziehen werden, als sie dieselben aus einer in Konkurrenz mit der Reichsbesteuerung stehenden eigenen Steuergesetzgebung hätten gewinnen können. In dem Augenblick, wo sie aber mehr Einnahmen haben, als sie unter den gegebenen Verhältnissen aus sich heraus gewinnen können, ist ihre Freiheit nicht beschränkt, sondern sie ist wesentlich erhöht. Die formale Beschränkung der Bewegungsfreiheit der Länder und Gemeinden bringt eine materielle Bewegungsfreiheit für diese beiden Körperschaften mit sich, und die materielle Bewegungsfreiheit ist für das Kulturleben viel bedeutsamer als eine formale Beschränkung der Bewegungsfreiheit auf dem Gebiet der Steuergesetzgebung. Die Hoffnung darf darum ausgesprochen werden – und ich spreche sie voller Überzeugung aus –, dass das innere kulturelle Leben der Länder und vor allem der Gemeinden durch die neue Steuergesetzgebung nicht nur nicht gehemmt, sondern gefördert wird.“41 Derzeit leiden die Länder darunter, dass sie angesichts geringer Gestaltungsmöglichkeiten bei ihren Einnahmen in den Verteilungsstreit des vierstufigen Finanzausgleichs – insbesondere bei der vertikalen Umsatzsteuerverteilung nach Art. 106 Abs. 3 GG und beim Länderfinanzausgleich nach Art. 107 Abs. 2 GG – viel Aufmerksamkeit, Energie und Standvermögen investieren müssen. Eine Vertikalisierung des Finanzausgleichs könnte hier eine Entlastung und Befreiung – ganz im Sinne der von Erzberger beschworenen „materiellen Bewegungsfreiheit“ – bewirken.42 Dies 39

H. A. Winkler, Weimar 1918 – 1933, 1998, S. 109 ff. S. Korioth, Mehr Erzberger? Die deutsche Finanzpolitik auf der Suche nach Maßstäben für das Jahr 2020, in: Junkernheinrich u. a. (Hrsg.), Jahrbuch für öffentliche Finanzen 2012, 2012, S. 286 ff. Allgemein zur Weimarer Zentralisierung und Unitarisierung G. Anschütz, Der deutsche Föderalismus in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, VVDStRL 1 (1924), S. 11 ff., 17 ff. 40 Zu den letztlich erfolglosen Bestrebungen einer Reföderalisierung in den 1920er Jahren W. Apelt, Geschichte der Weimarer Reichsverfassung, 1946, S. 369 ff.; Bund zur Erneuerung des Reiches (Hrsg.), Die Reichsform, Bd. I, 1933. 41 M. Erzberger, Rede vom 3. Dezember 1919 in Berlin, in: ders., Reden zur Neuordnung des deutschen Finanzwesens, 1919, S. 96 ff., 117. 42 Skizze eines solchen Modells bei S. Korioth, Zur Neuordnung des Finanzausgleichs zwischen Bund und Ländern – Vertikalisierung und Bedarfstatbestände als mögliche Auswege aus der verfahrenen Verhandlungskonstellation?, in: Baus u. a. (Hrsg.), Der deutsche Föderalismus 2020, 2009, S. 195 ff.

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setzte voraus, die steuerlichen Ertragshoheitsrechte beim Bund zu konzentrieren und die angemessene Finanzausstattung der Länder durch garantierte, nicht einseitig vom Bund veränderbare Finanzzuweisungen zu sichern. Erwägenswert ist sogar, angesichts des Ausschlusses der Länder von neuen „strukturellen“ Krediten als Finanzierungsmöglichkeit ab 2020, eine Übernahme der Länderaltschulden durch den Bund. Solche Vorstellungen sind gewöhnungsbedürftig. Sie sind auch grundsätzlich geeignet, die Selbständigkeit der Länder weiter zu vermindern. Sie hätten aber auf der Entwicklungslinie des deutschen Bundesstaates – nicht erst seit 1949 und 1990, sondern in der längeren Linie seit 1871 und 1919 – ihre eigene Folgerichtigkeit. Jedenfalls sollte die (rechts-)politische Diskussion um die Fortentwicklung oder „Modernisierung“ des Bundesstaates auch verbal von Modellen des Konkurrenz- oder Wettbewerbsföderalismus Abschied nehmen. Natürlich bilden solche föderalen Leitbilder nach wie vor Gegenentwürfe zum aktuellen deutschen Föderalismus. Nur: Mit der föderalen Tradition und der gegenwärtigen normativen und praktischen Substanz des Bundesstaates sind sie nicht zu vereinbaren.

Das Prinzip Repräsentation Von Norbert Lammert Das Prinzip der parlamentarischen Repräsentation ist im Allgemeinen ebenso unangefochten wie es im politischen Alltag zunehmend umstritten ist. Schon vor zehn Jahren diagnostizierte Hans-Jürgen Papier in einem viel beachteten Vortrag einen Bedeutungsverlust der Parlamente.1 Mit seiner Stellungnahme reihte sich der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts in eine Reihe von Klagen, Besorgnissen und Beschwerden ein, die als Kritik am real existierenden Parlamentarismus so alt sind wie dieser selbst. Eine Antwort auf den „verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Verfallsprozess“, zu dem Papier seinen Befund zuspitzte, sah der Bundesverfassungsgerichtspräsident damals – und vermutlich auch heute – in der Stärkung des repräsentativen Mandats. Auch diese Empfehlung versteht sich keineswegs von selbst. Im Gegenteil, der Ruf nach mehr direkter Demokratie, nach mehr Bürgerbeteiligung ist lauter geworden. Er ist auch keineswegs unbegründet, schon gar nicht unzulässig. Die Grundsatzfrage der demokratischen Legitimation verbindlicher Entscheidungen stellt sich neben der kommunalen, regionalen und nationalen Ebene zunehmend auch im Kontext der Europäischen Gemeinschaft. I. Vertrauenskrise „Die Demokratie setzt die Vernunft im Volk voraus, die sie erst hervorbringen soll“, lautet ein ebenso kluger wie irritierender Satz von Karl Jaspers. Der Philosoph beschreibt das Dilemma, dass das Funktionieren der Demokratie als einer zweifelsohne vernünftigen Ordnung eine Einsicht voraussetzt, die nicht erst das Ergebnis der demokratischen Urteilsbildung der Bürger sein soll. Mit dieser nicht zu beseitigenden systemischen Irritation gilt es intelligent, gelassen und souverän umzugehen; sie ist die eigentliche Herausforderung moderner Demokratien im 21. Jahrhundert. Dabei stehen wir Deutsche mit dem Grundgesetz und der darin niedergelegten Verfahren für Entscheidungsprozesse vor einer kuriosen Situation: Einerseits ist die Reputation dieser Verfassung völlig unangefochten, andererseits war die Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen wohl selten so groß wie gegenwärtig. Wir reden wieder einmal über Krisen und Krisensymptome, weshalb der Hinweis nicht völlig überflüssig ist, dass wir heute in Deutschland in einem freien Land mit 1 H.-J. Papier, Steuerungs- und Reformfähigkeit des Staates, Vortrag bei der Stiftung Ordnungspolitik am 10. 4. 2003 in Freiburg (http://www.sop-cep.de/fileadmin/user_upload/ SOP/Vortraege/Archiv_Vortraege/Papier.pdf, abgerufen am 8. 8. 2012).

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einer demokratischen Verfassung leben, in dem wir als Deutsche und als Europäer zum ersten Mal überhaupt in unserer Geschichte mit allen unseren Nachbarn in Frieden und Freiheit zusammenleben. Da wir uns längst daran gewöhnt haben, diesen historisch außergewöhnlichen Zustand für eine schiere Selbstverständlichkeit zu halten, ist der Hinweis leider nicht ganz so banal, wie er sich anhört: Glücklichere Verhältnisse hatten wir in unserer Geschichte nie. Dennoch kann mit Blick insbesondere auf die öffentliche Wahrnehmung der tatsächlichen Verhältnisse kein Zweifel daran bestehen: Weder Parteien noch Parlamente, weder Regierung noch Opposition befinden sich auf dem Höhepunkt ihres öffentlichen Ansehens. Besonders auffällig ist das seit Jahren tendenziell stärker werdende Missverhältnis zwischen der hohen Akzeptanz der Demokratie als Staatsform einerseits und dem dramatisch sinkenden Ansehen der diese Staatsform tragenden Institutionen andererseits. Allein das Bundesverfassungsgericht blieb davon bemerkenswerter Weise weitgehend unberührt. Am stärksten geht offensichtlich das verloren, was wir zum Funktionieren einer modernen, einer demokratischen Gesellschaft am dringendsten brauchen – nämlich Vertrauen. Dabei kann es nicht trösten, dass dieser Vertrauensverlust in unserer Gesellschaft keineswegs exklusiv die politische Klasse betrifft, sondern flächendeckend anzutreffen ist. Er betrifft die Medien nicht weniger als die Politik. Er hat Gewerkschaften wie Kirchen schon seit Jahren heftig erfasst, von Wirtschaft oder gar Banken nicht einmal zu reden. Er bezieht sich inzwischen selbst auf Bereiche wie den Sport. Das durchgehende Merkmal im Selbstverständnis dieser Gesellschaft scheint ein massiver wechselseitiger Vertrauensverlust zu sein, der – zugespitzt – auf den Befund zuläuft: Niemand ist bereit, irgendjemandem das Grundvertrauen für die Wahrnehmung seiner Aufgaben und die Verfolgung seiner Interessen entgegenzubringen, das man gern für eine Voraussetzung des Funktionierens einer liberalen Gesellschaft halten möchte. II. Veränderte Anforderungen Manche Kritik ist zweifellos angebracht, andere wiederum unberechtigt. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Erwartungen an die Politik sind sehr viel komplexer geworden. Dafür, dass die Anforderungen heute insgesamt wohl höhere sind als früher, gibt es eine Reihe von Indizien. Ein so unverdächtiger, maßvoller und kluger Beobachter wie Hans-Jochen Vogel, der auf allen Ebenen unseres politischen Systems langjährige Erfahrungen gemacht hat, hat vor einiger Zeit in einem Interview darauf hingewiesen, früher sei tatsächlich alles deutlich einfacher gewesen. Heute, sagt er, sei die Wahrung von Wohlstand und sozialer Sicherung bei rückläufiger Bevölkerungszahl und zunehmender Überalterung unter den Wettbewerbsbedingungen der Globalisierung eine neue und große Herausforderung, die es früher so nicht gegeben habe. Das ist zweifellos zutreffend. Diese neue Situation führt dazu, dass sich politische Entscheidungsgremien – bei ruhiger Betrachtung: sämtliche Verfassungsorgane, auch das Bundesverfassungsgericht – zunehmend in der Situation befinden, Entscheidungen treffen zu sollen und zu

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müssen, bei denen sie nur eines vorher sicher wissen können: dass sie den sich weitgehend wechselseitig ausschließenden Erwartungen gar nicht gerecht werden können. Auf diese Weise produziert das politische System permanent Entscheidungen, bei denen das einzig verlässlich kalkulierbare Ergebnis eine mehr oder weniger weit verbreitete Enttäuschung ist. Diese befördert ganz offenkundig die Hoffnung, es müsse doch den „genialischen“ Befreiungsschlag geben, mit dem man sich aus diesem zähen Problem ein für alle Mal herauskatapultieren könnte. Heribert Prantl hat vom gordischen Knoten und der verzweifelten Suche nach dem Alexander geschrieben, der ihn ein für alle Mal durchhaut – und er hat hinzugefügt: „Die öffentliche Lust auf eine alexandrinische, knotenzerhauende Politik ist eine undemokratische Lust. Ein Demokrat haut nicht schnell zu, sondern nestelt herum; er lässt nicht die Fetzen fliegen, sondern versucht, die Knoten zu lösen“.2 Was übrigens meistens nicht gelingt, denn die Knoten sind meist zu dick und zu dicht, als dass sie sich lösen ließen, schon gar nicht ein für alle Mal. III. Ungelöste Probleme der direkten Demokratie In der veröffentlichten Meinung wird mehr Beteiligung der Bürger – auch auf Bundesebene – immer öfter als ein probates Mittel gegen die attestierte Verdrossenheit der Bürger an der Politik angesehen. Doch die plebiszitäre Urteilsbildung bringt eine Reihe von bisweilen zu wenig beachteten Problemen mit sich. Generell sollten die repräsentative und die direkte Demokratie nicht als konkurrierende, sich gegenseitig ausschließende Alternativen begriffen werden, sondern als sich wechselseitig ergänzende Varianten. Direkte Demokratie setzt in der Regel überschaubare, wenig komplexe Entscheidungsgegenstände voraus, wie sie eher auf kommunaler Ebene und gelegentlich auf Landesebene vorkommen. Eine direkte Entscheidung durch Bürger erscheint in solchen Fällen sinnvoll, wenn es sich um lokal oder regional begrenzte Themen handelt, die noch dazu mit einem klaren Ja oder Nein zu beantworten sind. Auf Bundesebene sind die zu regelnden Sachverhalte hingegen meist so komplex, dass man ihnen durch Volksabstimmungen kaum gerecht werden könnte. Hier verfügt der Parlamentarismus über den strukturellen Vorteil, in festen Verfahrensabläufen viele Auffassungen und Lösungsmöglichkeiten diskutieren zu können, bevor entschieden wird. Für die getroffenen Entscheidungen haben sich Regierungen und Abgeordnete im Übrigen dann zu verantworten, die Bürger können sie bei der nächsten Wahl sanktionieren. Für Volksentscheide hingegen kann niemand verantwortlich gemacht werden. Diese offene Frage der Verantwortung wiegt meines Erachtens schwer. IV. Souverän ist, wer sich vertreten lässt Der Staatsrechtler Christoph Möllers postulierte bei der Jahrestagung der deutschen Sektion der internationalen Juristenkommission in Bremen im November 2

H. Prantl, Lob der Langeweile, Süddeutsche Zeitung v. 26. 8. 2009.

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2011: „Direkte Demokratie ist nicht direkter oder demokratischer als die repräsentative Demokratie“.3 Volksentscheide seien wie andere Wahlakte auf eine Vermittlung angewiesen, selbst auf dem Marktplatz eines Schweizer Kantons müsse zunächst einmal geklärt werden, wer überhaupt abstimmen darf und worüber eigentlich abgestimmt werden soll. Herrschaft braucht Vertretung. Dem Philosophen Volker Gerhardt verdanken wir den originellen Hinweis: „Souverän ist der Bürger, der sich aus Einsicht in die Tatsache, dass er ohnehin nicht alles selbst bestimmen (oder gar selbst ausführen) kann, einer Vertretung anvertraut“.4 Noch spitzer formuliert: Souverän ist der Bürger, der sich vertreten lässt. Und in der Tat: Der moderne Bürger lässt sich zunehmend in allem und jedem vertreten. Seine Rechtsinteressen durch Anwälte, seine Arbeitsplatz- und Einkommensinteressen durch Gewerkschaften, seine Lebensrisiken durch Versicherungen, seine Geldund Anlageinteressen durch Banken. In all diesen und anderen Bereichen ist er offenkundig davon überzeugt, dass seine höchstpersönlichen Interessen am wirkungsvollsten nicht durch ihn selbst, sondern durch andere noch besser vertreten werden könnten. Nur wenn es um den Bau von Bahnhöfen und Flughäfen oder Kernkraftwerken geht, meint er, es selbst besser zu können oder es jedenfalls selber entscheiden zu sollen. Eine Untersuchung, die dimap im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung Anfang 2011 durchgeführt hat, ausgelöst durch die beginnenden Auseinandersetzungen um den Stuttgarter Bahnhof, führte zu dem interessanten Ergebnis, dass etwa zwei Drittel der Befragten erklärten, sie könnten den Sachverhalt eigentlich nicht richtig beurteilen, zugleich aber großen Wert darauf legten, darüber selbst entscheiden zu können.5 Die gleiche Umfrage macht übrigens deutlich, dass die Bereitschaft, sich selbst zu engagieren, mit der Berührung individueller Interessen geradezu steht und fällt; die Bereitschaft zur Partizipation ist überhaupt nur dann signifikant vorhanden, wenn sie mit persönlichen Interessen verbunden ist. Und gleichzeitig erklären drei Viertel der Befragten, dass politische Entscheidungen möglichst von persönlichen Interessen unabhängig getroffen werden sollen. Das kann man ebenso hellsichtig wie kleinkariert finden, jedenfalls ist es eine interessante Mischung aus beidem.

V. Mangel an Repräsentativität Das Postulat plebiszitärer Partizipation führt zu einem regelmäßigen, strukturellen Problem von Volksabstimmungen: Nicht nur das oft gelobte schweizerische Beispiel der direkten Demokratie lehrt beispielhaft, dass plebiszitäre Beteiligungsformen vor allem diejenigen (und deren Anliegen) fördern, die artikulations-, konfliktund mobilisierungsfähig sind. Plebiszite gehen meist zu Lasten der Interessen sozial Schwacher, die sich daran im Vergleich zu Menschen mit höherer Bildung und höheren Einkommen viel seltener beteiligen. Die Beteiligung an Bürger- oder Volks3

Hier zit. nach R. Müller, Wie demokratisch ist direkte Demokratie?, FAZ v. 7. 11. 2011. V. Gerhardt, Partizipation. Das Prinzip der Politik, 2007, S. 412. 5 http://www.kas.de/wf/de/33.21970, abgerufen am 8. 8. 2012.

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entscheiden ist fast ausnahmslos niedriger als die Wahlbeteiligung, die sich als nach wie vor breiteste demokratische Partizipationsform erweist. Ein Beleg dafür ist auch der Volksentscheid über die Primarschule in Hamburg im Sommer 2010 gewesen. An ihm beteiligten sich in den gemeinhin als „wohlhabend“ bezeichneten Stadtteilen fast zwei Drittel der Abstimmungsberechtigten, während in den Vierteln mit sozial schwächeren Familien nicht einmal 20 Prozent der Berechtigten ihre Stimme abgaben. Obwohl die sozioökonomisch benachteiligten Kinder besonders von der Reform profitieren sollen, sahen sich deren Eltern nicht veranlasst, an der Abstimmung teilzunehmen; im Ergebnis wurde die Reform abgelehnt. Betrachtet man sich die großen Richtungsentscheidungen in der Geschichte der Bundesrepublik fällt auf, dass wohl keine von ihnen in einem Plebiszit getroffen worden wäre: weder die Einführung der Wehrpflicht und der Beitritt zur NATO, noch der NATO-Doppelbeschluss oder die Einführung der Europäischen Gemeinschaftswährung – von der Serie der Reformverträge der Europäischen Union gar nicht zu reden. Bei allen diesen Entscheidungen, die Meilensteine der jüngeren deutschen Geschichte waren, gab es – soweit wir der Demoskopie Glauben schenken dürfen – zunächst stabile Mehrheiten dagegen. Die Bundesrepublik sähe sicher anders und vermutlich nicht besser aus, wenn sie plebiszitär organisiert wäre. VI. Rechtstaatsprinzip vor Demokratieprinzip Schließlich darf in der Abwägung von Vor- und Nachteilen direktdemokratischer Prinzipien nicht außer Acht gelassen werden, dass in aufgeladenen Situationen – man denke etwa an die Auseinandersetzungen um das Stuttgarter Bahnhofsprojekt – das Demokratieprinzip mit dem Rechtsstaatsprinzip in Konflikt geraten kann. Das gilt zumindest dann, wenn man den vermeintlichen Volkswillen über den Rechtsstaat stellt, was gerade in Konfliktsituationen eine große Versuchung darstellen kann. Doch ein politisches System, das so etwas durchgehen ließe, hätte sich als demokratischer Rechtsstaat aufgegeben, denn mit einer Verselbständigung des Demokratieprinzips ließen sich notfalls sogar Grundrechte zur Disposition stellen, die gerade nicht vom Demokratie-, sondern vom Rechtsstaatsprinzip geschützt werden. Das Repräsentationsprinzip ist nicht Ersatz für das Prinzip der Volkssouveränität, sondern sein wesentlicher, wirklichkeitsgerechter Ausdruck. Dass eine Regierung den Konflikt mit dem eigenen Volk auf Dauer nicht gewinnen kann, ist eine – wenn nicht sogar: die – europäische Erfahrung des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Glücklicherweise scheinen solche dauerhaften Konflikte in der Bundesrepublik kaum mehr vorstellbar; – das hat nicht zuletzt mit den etablierten repräsentativen demokratischen Verfahren zu tun. „Wer die parlamentarische Demokratie für ein Auslaufmodell hält“, sagt der amtierende Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle, „der irrt. Im Gegenteil: Ohne lebendige parlamentarische Demokratie sind die Aufgaben, die vor uns liegen, nicht zu bewältigen“.6 Bei nüchterner Betrachtung 6

A. Voßkuhle, Über die Demokratie in Europa, FAZ v. 9. 2. 2012.

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– zumal in historischer Perspektive – wird man zu dem Ergebnis kommen, dass kein überzeugender Anlass besteht, das Prinzip der Repräsentation in Frage zu stellen. Es besteht eher Grund zur Zuversicht, dass ausgerechnet die 17. Legislaturperiode, die unter dem allgemeinen Verdacht einer zunehmenden Marginalisierung von Parlamenten begonnen hat, mit größerem zeitlichen Abstand just als der Zeitraum wahrgenommen werden wird, in dem aus vielerlei Gründen – und mit der tatkräftigen Unterstützung des Bundesverfassungsgerichtes – eine parlamentarische Revitalisierung stattgefunden, jedenfalls begonnen hat.

Wege zu mehr europäischer Demokratie Von Rupert Scholz I. Die europäische Institutionenkrise Nicht erst seit dem Scheitern des Europäischen Verfassungsvertrages1 befindet sich die Europäische Union in einer tiefen institutionellen Krise – einer Krise, die vor allem für das System der europäischen Institutionen und ihres Verhältnisses zu den nationalen Mitgliedsstaaten bzw. deren demokratischen Legitimationsstrukturen gilt. Diese Krise ist nicht erst mit den heutigen Problemen der Währungsunion und der massiven Staatsverschuldungen einzelner Mitgliedsstaaten entstanden. Die hiesigen Diskussionen verdeutlichen lediglich vieles an jenen institutionellen Krisensymptomen, wie sie in Wahrheit schon lange akut sind. Die Grundsystematik der Europäischen Union als supranationaler „Staatenverbund“ ist vielfach nicht mehr stimmig, leidet an erheblichen Funktions- wie Legitimationsdefiziten. Das längst landläufig gewordene Schlagwort vom europäischen „Demokratiedefizit“ belegt diesen Tatbestand nur allzu deutlich.2 Aber es geht nicht nur um demokratische Legitimationszusammenhänge, es geht auch um das Gesamtgefüge von supranationaler Integration einerseits und zwischenstaatlicher Intergouvernementalität andererseits. Nach wie vor sind die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union „Herren der Verträge“, nach wie vor leitet sich jede Kompetenz der Europäischen Union aus den nationalen Souveränitätsrechten ab und folgerichtig bedarf jeder Integrationsschritt der demokratisch-nationalen Legitimation – einmündend in das sogen. Prinzip der abgeleiteten Einzelermächtigung (vgl. Art. 4, 5 EUV). Das Gleiche gilt für das Subsidiaritätsprinzip gemäß Art. 5 EUV, das in der Realität jedoch kaum eine substanzielle Rolle spielt, das vielmehr von dem exekutivischen Kompetenzexpansionismus namentlich der Europäischen Kommission immer wieder überspielt oder negiert wird; leider vielfach unterstützt von der Rechtsprechung des EuGH.3 So ist die Europäische Union längst zu einer überbürokratisierten Exekutiv-Union geworden, d. h. einer integrationspolitischen Formation, die vor allem in demokratiestaatlicher Hinsicht wahrhaft Not leidet. Die aus der Euro- und Staatsschuldenkrise erwachsende Gefahr, dass die Europäische Union zu einer supranationalen Haftungs- und Transferunion wird, hat dies nur 1

Vgl. ABl. 2004 Nr. C 310 S. 1. Vgl. dazu schon R. Scholz, Parlamentarische Demokratie in der Bewährung, 2012, S. 375 ff. 3 Vgl. dazu mit m. w. N. R. Scholz, in: Maunz-Dürig, GG, Art. 23 Rdnr. 99 ff. 2

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allzu deutlich und bewusst gemacht. Die zur Rettung des Euro entwickelten Haftungs- und Stützungssysteme, namentlich die des EFSF und des ESM (vgl. BGBl. I 2012, S. 1918; BT-Ds. 17/9045, BT-Ds. 17/9046 i. V. m. dem Gesetz und dem Vertrag vom 02. 03. 2012 über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion – BT-Ds. 17/9046, 17/10125), verdeutlichen nicht nur diese prinzipalen Gefahren, sondern aktualisieren auch die insbesondere demokratiestaatlichen Defizite und Imbalancen im Verhältnis von nationalen Mitgliedsstaaten einerseits und Europäischer Union andererseits.4 So wird kritisch davon gesprochen, dass die neueren Entwicklungen sogar die „deutsche Verfassungsidentität“ bedrohten,5 dass „die Europäische Union die parlamentarische Demokratie in Deutschland gefährde“,6 dass „ein Ende der Rechtsgemeinschaft“ bevorstehe,7 dass wahrhaftige „Verfassungsnot!“8 erwachsen sei, dass es einer europäischen „Wirtschaftsverfassung statt Wirtschaftsregierung“ bedürfe9 oder dass die „Enteignung des demokratischen Souveräns“10 drohe bzw. dass „ohne demokratische Legitimation“ gehandelt werde.11 So überzeichnet manche dieser Äußerungen sind, sie

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Vgl. dazu bs. BVerfG, DVBl 2012, 894 ff.; BVerfG, NVwZ 2012, 495 ff.; BVerfG, NJW 2011, 2946 ff.; BVerfG, NJW 2012, 3145 ff.; EuGH, NJW 2013, 29 ff.; P. Kirchhof, NJW 2013, 1 ff.; Oppermann, NJW 2013, 6 ff.; Fischer-Lescano/Oberndorfer, NJW 2013, 9 ff.; Schröder, Europa in der Finanzfalle, 2012; Glaser, DÖV 2012, 901 ff.; Pilz, DÖV 2012, 909 ff.; Forkel, ZRP 2012, 240 ff.; Boehme-Neßler, ZRP 2012, 2037 ff.; H. Klein, ZG 2012, 209 (212 ff.); Moench/Ruttloff, DVBl. 2012, 1261 ff.; Mayer/Heidfeld, ZRP 2012, 129 ff.; C. Möllers/J. Reinhardt, JZ 2012, 693 ff.; C. Ohlers, DVBl. 2011, 1061 ff.; Schorkopf, VVDStRL 71, 2012, S. 183 ff.; Calliess, VVDStRL 71, 2012, S. 113 ff.; Kahl, DVBl. 2013, 197 ff.; H. Kube, WM 2013, 57 ff.; ders., WM 2012, 245 ff.; ders., AöR 137, 2012, 205 ff.; H. Kube/ E. Reimer, NJW 2010, 1911 ff.; A. Weber, DVBl 2012, 801 ff.; S. Hölscheidt/K. Rohleder, DVBl 2012, 806 ff.; A. Lorz/H. Sauer, DÖV 2012, 573 ff.; F. Cromme, DÖV 2012, 209 ff.; H. Hofmann/C. Konow, ZG 2012, 138 ff.; K. v. Lewinski, ZG 2012, 164 ff.; W. Philipp, ZRP 2011, 240 ff.; L. Knopp, NJW 2010, 1777 ff.; ders., NVwZ 2011, 1480 ff.; C. Calliess, NVwZ 2012, 1 ff.; ders., Das europäische Solidaritätsprinzip und die Krise des Euro – Von der Rechtsgemeinschaft zur Solidaritätsgemeinschaft?, in: Calliess (Hrsg.), Berliner Online-Beiträge zum Europarecht Nr. 62 vom 08. 03. 2011; ders., VVDStRL 71, 2012, S. 113 ff.; F. Schorkopf, VVDStRL 71, 2012, S. 183 ff.; P. Haversath, Solidarität im Recht. Gegenseitige Verbundenheit als Grund und Grenze hoheitlichen Handelns, in: Calliess (hrsg.), Berliner Online-Beiträge zum Europarecht Nr. 76 vom 09. 05. 2012; M. Pagenkopf, NVwZ 2011, 1473 ff.; J. Wieland, NVwZ 2011, 340 ff.; K. Fassbender, NVwZ 2010, 799 ff.; D. Thym, EuZW 2011, 167 ff.; N. Horn, NJW 2011, 1398 ff.; M. C. Kerber/S. Städter, EuZW 2011, 536 ff.; U. J. Schröder, DÖV 2011, 61 ff.; M. Polzin, DÖV 2011, 209 ff.; U. Häde, EuR, 2010, 854 ff.; K. Hentschelmann, EuR 2011, 282 ff.; M. Nettesheim, EuR 2011, 765 ff. 5 H. P. Schneider, FAZ vom 09. 08. 2012, S. 6. 6 R. Herzog/L. Gerken, WamS vom 14. 01. 2007, S. 8. 7 R. Schmidt, FAZ vom 05. 04. 2012, S. 7. 8 P. Kirchhof, FAZ vom 12. 07. 2012, S. 25. 9 Frankfurter Aufruf der Jenaer Allianz für eine ordnungspolitische Weichenstellung in Europa, FAZ vom 22. 06. 2012, S. 12. 10 P. Gauweiler, FAZ vom 02. 08. 2012, S. 29. 11 D. Murswiek, FAZ vom 12. 08. 2011, S. 11.

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legen doch mit aller Deutlichkeit den Finger in die reale Wunde der europäischen Institutionenkrise. II. Nationale und supranationale Demokratie Die Europäische Union bekennt sich mit Recht und ausdrücklich zum Demokratieprinzip und seiner ausschließlichen Legitimationskraft für jedwede Form von Integration sowie supranationaler Hoheitsgewalt (vgl. Art. 2, 10 EUV). Das Gleiche gilt für alle Mitgliedsstaaten. Jeder Mitgliedsstaat basiert auf seinem nationalen Demokratiesystem und legitimiert damit nicht nur sich selbst, sondern auch jeden supranationalen Integrationsakt, an dem der Mitgliedsstaat teilnimmt, über dieses System der eigenständig-nationalen Demokratiestruktur. Für Deutschland hat dies das BVerfG vor allem in seinem Lissabon-Urteil vom 30. 06. 2009 in aller Deutlichkeit herausgearbeitet12 – weiter verfeinert in den neueren Folgeentscheidungen zu den Beteiligungsrechten des Deutschen Bundestages bei Maßnahmen zur Sicherung des Euro.13 Das BVerfG hat mit aller Deutlichkeit das Prinzip der begrenzten und abgeleiteten Einzelermächtigung sowie das Subsidiaritätsprinzip betont.14 Das BVerfG hat für den „politischen“ oder „demokratischen Primärraum“ des deutschen Verfassungsstaates die uneingeschränkte Geltung des nationalen demokratischen Prinzips betont und damit zugleich grundlegende Grenzen für den (weiteren) europäischen Integrationsprozess aufgezeigt.15 Vor allem aus der vom BVerfG mit ebenso viel Recht betonten Budgethoheit16 des Deutschen Bundestages folgen daraus grundlegende Grenzen für jedwede Form einer supranationalen Haftungs- oder Transferunion. Ob die aktuellen Währungssicherungssysteme von EFSF und ESM diesen Voraussetzungen noch zu genügen vermögen, ist offen.17 Zweifel hieran sind jedoch durchaus begründbar. Dies gilt nicht nur unter dem Aspekt der nationalen Budgethoheit, sondern dies gilt auch und insbesondere unter dem Aspekt der gewählten supranationalen Entscheidungsstrukturen solcher Währungssicherungssysteme – Strukturen, die wiederum einen eindeutigen Primat der nationalen wie supranationalen Exekutivinstanzen begründen, folgerichtig nur allzu rasch in den zentralen Konflikt mit den nationalen Demokratien und den diese repräsentierenden nationalen Parlamentszuständigkeiten geraten können. So ist es kein Zufall, dass von manchen zur Rechtfertigung dieser oder ähnlicher Haftungssysteme eine Volksabstimmung gefordert wird, gehe es in Wahrheit doch um eine Form verkappter Verfassungsänderung

12

Vgl. BVerfGE 123, 267 (330 ff., 340 ff., 433 ff.). Vgl. BVerfG, DVBl 2012, 894 ff.; BVerfG, NVwZ 2012, 495 ff.; BVerfG, NJW 2011, 2946 ff.; BVerfG, NJW 2012, 3146 ff. 14 Vgl. BVerfGE 123, 349 ff. 15 Vgl. BVerfGE 123, 382 (430). 16 Vgl. BVerfGE 123, 358 ff. 17 Siehe dazu die Nachw. Fußn. 4. 13

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oder gar Verfassungsneuordnung.18 Dass solche Stimmen allerdings schon die Reichweite des insoweit, wenn überhaupt einschlägigen Art. 146 GG fehl einschätzen, liegt auf der Hand.19 Die Regelung des Art. 146 GG stellt nur deklaratorisch fest, dass das GG ggf. durch eine neue demokratisch legitimierte Verfassung abgelöst werden kann. Auf welchem Wege eine solche neue Verfassungsgebung jedoch realisiert werden könnte, lässt Art. 146 GG von vornherein offen. Es ist ebenso der Weg einer Volksabstimmung wie der Weg einer demokratisch-indirekten Repräsentationsregelung denkbar wie statthaft.20 Darüber hinaus kennt das GG den Volksentscheid nicht. Das GG bekennt sich zum ausschließlichen Primat der repräsentativen Demokratie; und dies aus nach wie vor sehr guten Gründen.21 Deshalb sollte gerade in den heutigen Zeiten der europäischen Krise von solch populistischen Forderungen nach einer Volksabstimmung zur Währungskrise rasch Abstand genommen werde. Denn hierfür fehlen nicht nur alle tatsächlichen, sondern auch alle (verfassungs-) rechtlichen Voraussetzungen. Ob die Europäische Union im Übrigen – via Haftungs- oder Transferunion – zu einer Politischen Union werden sollte oder könnte, wie dies von manchem heute wiederum im Lichte der gegebenen Währungsprobleme propagiert wird,22 ist allerdings absolut offen. Nach hiesiger Einschätzung spricht alles dafür, dass eine solche Politische Union nach wie vor außerordentlich fern liegt, dass sie in Wahrheit wohl Utopie für lange, wenn nicht alle Zeit bleiben wird. Die heutige Europäische Union ist von einem derart hohen Maß an fehlender politischer, wirtschaftlicher und kultureller Homogenität gekennzeichnet, dass die nötigen politischen wie rechtlichen Identifikationsfähigkeiten für eine solche Politische Union weder ersichtlich noch vorstellbar sind. III. Immanente Strukturreformen Aus allen diesen Gründen bedarf es anderer Lösungswege, um die aktuellen Struktur- und Demokratiedefizite auf europäischer Ebene zu lösen. Auf der einen Seite bedarf es dringend einer Kompetenzreform, die das Subsidiaritätsprinzip endlich effektuiert und dem permanenten Kompetenzexpansionismus der europäischen Institutionen, namentlich der Kommission, wirksame Grenzen setzt.23 Mit A. Pose18 Vgl. W. Kahl/A. Glaser, FAZ vom 08. 03. 2012, S. 8; H. Seehofer, Die Welt vom 11. 08. 2012, S. 6; A. Voßkuhle, Focus 28/2012; siehe dazu auch T. Herbst, ZRP 2012, 33 ff. 19 Missverständlich allerdings auch BVerfGE 123, 332 (349). 20 Vgl. R. Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 146 Rdnr. 9 ff., 24 ff. 21 Vgl. näher Scholz, Parlamentarische Demokratie, S. 11 ff., 157 ff., 177 ff. 22 Vgl. z. B. Kahl/Glaser, FAZ vom 08. 03. 2012, S. 8. 23 Nach Art. 5 Abs. 3 EUV „wird die Union nach dem Subsidiaritätsprinzip in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedsstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind“. Diese Formulierung zum Tatbestand des Subsidiaritätsprinzips ist zwar über den

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ner gesprochen: „Das Modell der Einigung von oben durch supranationale Kommissionen hat ausgedient“.24 Besser und deutlicher kann man das hiesige Reformproblem nicht umschreiben. Geradezu absurd müssen demgegenüber Äußerungen wie die des italienischen Ministerpräsidenten Mario Monti anmuten, der sich im Zusammenhang mit den währungspolitischen Rettungssystemen gegen eine verstärkte Beteiligung der nationalen Parlamente ausspricht, der stattdessen die Rolle der nationalen Regierungen, also der einschlägigen Exekutiven, gegenüber den Parlamenten und ihren demokratischen Beteiligungsrechten sogar noch verstärken will.25 Eben dies ist der falsche und wahrhaft kontraproduktive Weg, um aus der allgemeinen europäischen Strukturkrise hinaus zu gelangen! Auf der anderen Seite müssen die demokratischen Strukturen der Europäischen Union entscheidend verbessert und gestärkt werden – bis hin zu einem funktionierenden Miteinander von nationalen und supranationalen Demokratiestrukturen. Hierfür gibt es aber durchaus realisierbare Möglichkeiten – Möglichkeiten, die durchaus über entsprechende Reformen innerhalb des EUV und des AEUV verwirklicht werden könnten. 1. Zunächst geht es vor allem um das Europäische Parlament. Das Europäische Parlament stellt nach wie vor keine wirkliche demokratische Repräsentanz der Unionsbürger dar, da es vor allem an der grundlegenden Voraussetzung uneingeschränkter Wahlgleichheit fehlt. Solange das demokratische Prinzip des „one man – one vote“ nicht uneingeschränkt gewahrt und realisiert wird, wird das Europäische Parlament rechtlich wie politisch keine demokratisch-uneingeschränkte Legitimationsfähigkeit entwickeln können.26 Zuzugeben ist naturgemäß, dass die Einführung der vollen Wahlrechtsgleichheit dazu führen könnte, dass sich kleinere Mitgliedsstaaten mit ihren sehr geringen Bevölkerungen möglicherweise im Europäischen Parlament Vertrag von Lissabon tatbestandlich gegenüber den früheren Fassungen etwas geschärft worden, reicht jedoch noch längst nicht aus, um ein wirklich funktionstüchtiges Subsidiaritätsprinzip im Verhältnis von Europäischer Union und Mitgliedsstaaten zu gewährleisten. Dies liegt insbesondere daran, dass es für eine Kompetenznahme der Europäischen Union genügen soll, dass die infrage stehenden Maßnahmen „wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind“. Vor allem in dem Tatbestandsmerkmal „besser“ liegt ein derart weiter Beurteilungs- bzw. genauer genommen sogar Ermessensspielraum zugunsten der EU-Organe, dass jedes mitgliedsstaatliche Kompetenzinteresse nur allzu leicht überspielt werden kann – mit der Konsequenz einer faktischen Kompetenz-Kompetenz zugunsten der Europäischen Union. Eben dies ist leider die Praxis. Statt des Worts „besser“ sollte deshalb wie folgt formuliert werden: „…vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen nur auf Unionsebene zu verwirklichen sind“. Mit einer solchen Fassung des Subsidiaritätsprinzips sähe sich eine ebenso funktionstüchtige wie justiziable Fassung des Subsidiaritätsgedankens erreicht. Nicht unzufällig ist ein solcher Formulierungsvorschlag aber im Rahmen der Beratungen des Europäischen Verfassungskonvents gerade von den Vertretern der Europäischen Union, insbesondere des Europäischen Parlaments, mit Nachdruck bekämpft worden. Warum wohl? Die Antwort hierauf liegt nach der gegebenen Praxis auf der Hand. 24 Vgl. Die Welt vom 09. 08. 2012 (S. 2). 25 Vgl. Der Spiegel 32/2012, S. 44 (46). 26 Vgl. BVerfGE 123, 370 ff.

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nicht mehr wiederfinden würden. Diesem Problem kann jedoch nicht in der bis heute verfolgten Weise begegnet werden, indem man unter Verzicht auf die volle Wahlrechtsgleichheit aller Unionsbürger den kleineren Mitgliedsstaaten und deren Bevölkerungen bestimmte Mandatszahlen zu Lasten der größeren Mitgliedsstaaten bzw. deren größeren Bevölkerungsanteilen am „Unionsvolk“ insgesamt vorbehält (vgl. Art. 14 Abs. 2 UAbs. 1 S. 3 EUV). Der „Staatenverbund“ Europäische Union basiert zwar auf einer nicht nur demokratischen, sondern auch auf einer wesentlich föderativen Komponente, d. h. auch den kleineren Mitgliedsstaaten und deren Bevölkerungen muss ein angemessener demokratischer Gestaltungs- wie Repräsentationsanteil garantiert werden.27 Dieses Problem lässt sich aber in anderer Form, d. h. auf der Ebene des Rates und seiner Konstitution lösen (siehe anschließend unter b.). Des Weiteren muss dem Europäischen Parlament endlich ein uneingeschränktes gesetzgeberisches Initiativrecht eingeräumt werden. Das heutige sogen. „indirekte Initiativrecht“ (Art. 225 AEUV) genügt keineswegs. Denn dies garantiert in der Praxis und unverändert einen faktischen Rechtsetzungsprimat von Kommission und Rat, der wiederum jede Form einer funktionstüchtigen demokratischen Gesetzgebung in Wahrheit zur dominant-exekutivischen Regelungskompetenz verkümmern lässt. Eine lebendige und funktionstüchtige europäische Demokratie bedarf des Weiteren einer funktionstüchtigen demokratischen Öffentlichkeit sowie – im Kontext hiermit – einer Parteienstruktur, die originär-europäisch bzw. originär-supranational verfasst ist. Die heute im Europäischen Parlament vertretenen Parteiformationen gründen sich sämtlich auf nationale Parteien. Zu supranationalen Formationen werden diese erst im Rahmen der jeweiligen Fraktionsbildungen auf der Ebene des Europäischen Parlaments. Folgerichtig dominieren innerhalb dieser Fraktionen in aller Regel die parteipolitisch-national vorgegebenen Impulse wie Verfahrensweisen. Es bedarf mit anderen Worten einer eigenständigen europäisch-supranationalen Organisation auch für die politischen Parteien, was sich über eine entsprechende Ergänzung innerhalb des Art. 224 EUV jederzeit erreichen ließe. Es müsste lediglich vorgeschrieben werden, dass sich – durchaus auf der Grundlage der nationalen politischen Parteien – selbständige supranationale Parteien bzw. parteipolitische Formationen (Wählervereinigungen) bilden, die auch als solche im eigenen Namen, also insoweit selbständig gegenüber ihren nationalen Grundlagen für das Europäische Parlament kandidieren und damit den demokratisch-parteipolitischen Integrationsprozess auch vor den Augen des Bürgers wirksamer repräsentieren als dies heute der Fall ist. Nur so würde es auch gelingen, eine intakte politisch-demokratische Öffentlichkeit für die Gesamtheit der Unionsbürger herzustellen, wären für den Bürger damit doch auch wirklich transparente oder politisch einsehbare Identifikationsfaktoren geschaffen 2. Die föderative Komponente der Europäischen Union findet sich schon heute im Rat angelegt, der sich bekanntlich aus Vertretern der nationalen Regierungen der Mitgliedsstaaten zusammensetzt. In diesem Sinne kann schon heute von einem legis27

Vgl. auch BVerfGE 123, 375.

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latorischen Zwei-Kammer-System gesprochen werden.28 Dieses System leidet jedoch daran, dass der Rat in seiner gegebenen Struktur ein rein exekutivisches Organ darstellt (vgl. Art. 16 EUV), während das Europäische Parlament als die Erste Kammer ein demokratisch gewähltes Organ darstellt. Diese Mixtur zwischen parlamentarischer und exekutivischer Kompetenzmischung ist auf Dauer nicht tragfähig, verfestigt vielmehr den exekutivischen Gesamtprimat innerhalb der Europäischen Union, verstärkt mit anderen Worten wiederum das festgestellte allgemeine Demokratiedefizit. Aus diesen Gründen sollte der Rat – etwa in Anlehnung an das US-amerikanische Vorbild – zu einem Europäischen Senat umgestaltet werden – ein Senat, in dem jeder Mitgliedsstaat der Europäischen Union mit der gleichen Anzahl von Repräsentanten vertreten ist. Damit sähe sich dem föderativen Anliegen voll Rechnung getragen und würde dem föderativen Defizit, das aus einer Einführung voller Wahlrechtsgleichheit für das Europäische Parlament folgen kann, wirksam begegnet werden. Dies bedingt allerdings wiederum, dass der Rat kein exekutivisches Organ, zusammengesetzt aus den Vertretern der nationalen Regierungen, bleibt, sondern dass er auch als Senat unmittelbar demokratisch konstituiert und legitimiert wird. Dies könnte wiederum in der Form gewährleistet werden, dass die nationalen Parlamente die ihrem Land zustehenden Vertreter im Europäischen Senat wählen. Damit wäre auch der (institutionell gebotene) Legitimationszusammenhang zwischen nationalen Parlamenten und Europäischer Union bzw. zwischen mitgliedstaatlicher und europäischer Demokratie unmittelbar hergestellt.29 Will man diesen Weg jedoch nicht bestreiten, den Rat vielmehr als Gremium der nationalen Regierungen belassen, so könnte auch daran gedacht werden, die Vertreter der nationalen Regierungen nicht von den Regierungen selbst entsenden zu lassen, sondern diese wiederum an ein unmittelbares Votum der nationalen Parlamente zu binden. Im Ergebnis verdient nach hiesiger Auffassung jedoch die vorstehend skizzierte Senatslösung den eindeutigen Vorrang. Es würde ein voll demokratisch legitimiertes Zwei-Kammer-System entstehen, das allen demokratiestaatlichen wie föderativen Strukturanforderungen gerecht zu werden vermöchte. Das Europäische Parlament erfüllte alle Anforderungen der Wahlrechtsgleichheit und besäße ein uneingeschränktes gesetzgeberisches Initiativrecht. Der Europäische Senat wäre ebenfalls demokratisch voll legitimiert und erfüllte zugleich alle Anforderungen eines föderativ insgesamt funktionstüchtigen europäischen „Staatenverbundes“. Auch dem Europäischen Senat wäre dabei natürlich ein uneingeschränktes gesetzgeberisches Initiativrecht einzuräumen (entgegen dem heutigen Art. 241 AEUV). 3. Auf der nationalen Ebene bestünden im Übrigen die Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrat gemäß Art. 23 GG in Verbindung mit den einfach-gesetzlichen Regelungen des EUZBBG, des EUZBLG und des Integrationsverantwor-

28 29

Vgl. BVerfGE 123, 375 ff. Siehe auch H. Steiger, ZRP 2012, 13 (15).

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tungsG fort.30 Sie wären allerdings auch auf das Verhältnis von Bundestag und Bundesrat zum Europäischen Senat zu erstrecken. 4. Die Europäische Kommission wird schon heute nicht zu Unrecht als eine Art „europäischer Regierung“ verstanden.31 Dieser Aspekt sollte jedoch auch institutionell entsprechend verstärkt werden. Dies bedeutet zum einen, dass das heutige gesetzgeberisch-faktische Initiativmonopol der Europäischen Kommission im vorstehenden Sinne zugunsten des Europäischen Parlaments und des Europäischen Senats zurückgeführt werden muss. Die Europäische Kommission ist auf primär gesetzesausführende exekutivische Vollzugsfunktionen zu beschränken. Die Mitglieder der Europäischen Kommission und ihr Präsident sind vom Europäischen Parlament zu wählen und von diesem auch entsprechend zu kontrollieren (vgl. bereits Art. 17 EUV). Nach Art. 17 Abs. 7 EUV schlägt der Europäische Rat dem Europäischen Parlament mit qualifizierter Mehrheit Kandidaten für den Kommissionspräsidenten vor. Dies sollte durchaus so bleiben, weil damit wiederum ein Stück Ausgewogenheit zwischen den nationalen Zuständigkeiten der Mitgliedsstaaten und den supranationalen Exekutivzuständigkeiten der Kommission erhalten bliebe. Andererseits sollte es aber nur einen Präsidenten auf europäischer Ebene geben. Die heutige Dualität von Kommissionspräsident und Präsident des Europäischen Rates macht nur wenig rechtlichen wie praktischen Sinn. Auch die Zahl der Kommissionsmitglieder sollte – zugunsten von mehr Handlungs- und Funktionsfähigkeit der Kommission – weiter verringert werden. Ein gewisser Fortschritt liegt bereits in der Regelung des Art. 17 Abs. 5 EUV, der zu Folge ab 01. 11. 2014 die Zahl der Kommissionsmitglieder einschließlich Präsident und Hohem Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik nur zwei Drittel der Anzahl der Mitgliedsstaaten erreichen darf. Dies bedeutete bei der heutigen Mitgliedstaatszahl von 27 aber immer noch eine Kommission mit 18 Mitgliedern. Eine immer noch zu große Zahl. Deshalb sollte die Kommission auf die Zahl 10 – 12 verkleinert werden. Den (durchaus legitimen) landsmannschaftlichen Interessen der Mitgliedsstaaten kann über das Verfahren gemäß Art. 17Abs. 5 UAbs. 1 EUV auch dann noch durchaus genügt werden. 5. Der Europäische Rat sollte in seiner jetzigen Struktur prinzipiell erhalten bleiben (vgl. Art. 15 EUV). Denn über die Institution dieses Europäischen Rats bleiben die Mitgliedsstaaten als die „Herren der Verträge“ auch auf der supranationalen Ebene der Europäischen Union wirksam vertreten. Wenn man so will, so kann diese Struktur des Europäischen Rats als ein Stück national-mitgliedsstaatlicher Souveränitätsreserve verstanden werden. Das Gleiche gilt in föderativer Hinsicht, weil im Europäischen Rat die Regierungs- und Staatschefs aller Mitgliedsstaaten in paritätischer Weise vertreten sind. Darüber hinaus kann daran gedacht werden, dem Europäischen Rat auch ein gesetzgeberisches Initiativrecht im Verhältnis zu Europäischem Parlament und Europäischem Senat (Rat) einzuräumen, um auch inso30 31

Vgl. BVerfGE 123, 380. Siehe dazu im Einzelnen R. Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 23 Rdnr. 152 ff., 162 ff.

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weit die mitgliedsstaatlichen Basisrechte im Prozess der europäischen Integration zu stärken. Schon heute verschwimmen die Grenzen zwischen Europäischem Rat und Rat, wie sich beispielsweise an der Regelung des Art. 15 Abs. 3 S. 2 EUVoffenbart, derzufolge sich die Mitglieder des Europäischen Rats von Ministern ihrer nationalen Regierungen unterstützen lassen können. Dieses Unterstützungsrecht könnte durchaus in dem Sinne ausgebaut werden, dass ein nationaler Staats- oder Regierungschef sich in vollem Umfange im Europäischen Rat von dem einen oder anderen Fachminister seiner Regierung vertreten lassen kann. Da es nach hiesiger Auffassung auf europäischer Ebene nur einen Präsidenten (Kommissionspräsident) geben sollte, sollte an die Stelle des heutigen Ratspräsidenten ein bloßer Ratsvorsitzender treten, der die Geschäfte des Europäischen Rats leitet und führt, ohne damit auch über das – bis in die Außenpolitik hineinreichende – Mandat eines echten Präsidenten zu verfügen (vgl. zum Letzteren Art. 15 Abs. 16 EUV). 6. Zusammengefasst würden diese Reformmaßnahmen nicht nur die demokratische Struktur der Europäischen Union in entscheidender Weise verbessern, sie würden auch die tatsächliche Funktionsfähigkeit aller europäischen Organe wesentlich stärken. Dies alles bedürfte keiner Europäischen Verfassung oder gar der Konstituierung einer Politischen Union. Dies alles ließe sich ohne weiteres auf der Grundlage der gegebenen Vertragswerke von EUVund AEUV realisieren. Die heute viel zu hektisch und in allzu überzogener Form geführte Debatte um die Reform der Europäischen Union sollte in der vorstehenden rationalen Weise vertragsimmanent geführt und vollendet werden. Für die Umsetzung solcher Reformmaßnahmen bietet sich – nach den guten Erfahrungen, die mit dem Europäischen Grundrechte-Konvent (GRCharta) und auch mit dem Europäischen Verfassungskonvent trotz des gescheiterten Verfassungsvertrages gemacht werden konnten – erneut die Einberufung eines Europäischen Konvents zur institutionellen Unionsreform an.

Transparenz und Offenheit als Grundprinzipien des Handelns der Organe der Europäischen Union Von Vassilios Skouris I. Transparenz und Offenheit von Maastricht nach Lissabon Der Ruf nach Transparenz und Offenheit in der Europäischen Union wurde Ende der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts laut, als es darum ging, mit Hilfe dieser beiden Prinzipien dem sog. demokratischen Defizit der Union zu begegnen. Ein solches Defizit wurde beklagt, weil die Europäische Union des nötigen demokratischen Fundaments entbehren sollte, insofern im institutionellen Unionssystem die gesetzgebende und vollziehende Gewalt in einem wesentlichen Umfang zwei Organen anvertraut war, die ohne direkte demokratische Legitimation agierten, nämlich dem Rat und der Europäischen Kommission. Darüber hinaus kommt in dem Ausdruck „demokratisches Defizit“ das Unbehagen zutage, das der europäische Bürger gegenüber der Europäischen Union empfindet, weil sie bürokratisch organisiert ist, eine komplizierte und undurchsichtige Struktur aufweist und eine effektvolle Partizipation erheblich erschwert. Brüssel wurde mit einem administrativen Beamtenapparat identifiziert, wo Entscheidungen über die Köpfe der Bürger hinweg getroffen wurden. Um die Kritik zu beschwichtigen und eine institutionelle Krise abzuwenden, haben sich die Mitgliedstaaten der Union in zwei Richtungen bewegt. Als erstes haben sie die Kompetenzerweiterung des einzigen unmittelbar legitimierten Organs, des Europäischen Parlaments beschlossen. Hier ging es darum, das Parlament wirklich aufzuwerten und ihm Mitspracherechte bei der Bestellung und Kontrolle der Kommission zu gewähren sowie dessen Stellung im Gesetzgebungsverfahren zu verstärken und es zum ebenbürtigen Faktor neben dem Rat zu erheben. Auf einer anderen Ebene haben sich die Mitgliedstaaten bemüht, Transparenz und Offenheit des Handelns der europäischen Institutionen zu erhöhen.1 Es gilt als sicher, dass für diese Initiative der Einfluss und die positiven Erfahrungen der nordischen Länder ausschlaggebend gewesen sind. Auf der Grundlage einer langen und erfolgreichen Tradition im Zusammenhang mit der Transparenz der Gesetzgebungs- und Verwaltungsverfahren haben Schweden und Finnland, unterstützt hauptsächlich von Dänemark und den Niederlanden, darauf hingearbeitet, die in Kontinentaleuropa sehr ver1 Statt vieler, R. Feik, Zugang zu EU-Dokumenten: Demokratie durch Transparenz, 2002; C. Heitsch, Die Transparenz der Entscheidungsprozesse als Element demokratischer Legitimation der Europäischen Union, EuR 2001, 809.

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breitete Auffassung über die Vertraulichkeit des Legislativ- und Exekutivprozesses progressiv aufzugeben. Als Ergebnis dieser Entwicklung wurde zunächst im Vertrag von Maastricht die Erklärung Nr. 17 angenommen, wo zu lesen ist, dass „die Transparenz des Beschlußverfahrens den demokratischen Charakter der Organe und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Verwaltung stärkt“. Trotz des rein politisch-symbolischen Charakters und der mangelnden rechtlichen Bindung stellt diese Erklärung die erste Stufe einer längeren Entwicklung dar. Den nächsten wichtigen Schritt bildet der Vertrag von Amsterdam, dessen Art. 1 Abs. 2 EUV bestimmt, dass „dieser Vertrag eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas dar [stellt], in der die Entscheidungen möglichst offen und möglichst bürgernah getroffen werden“. Seitdem haben die Grundsätze der Transparenz und der Offenheit ihre zentrale Stelle in allen nachfolgenden Vertragsänderungen konstant behalten. Den vorläufigen Schluss- und Höhepunkt hat der Lissaboner Vertrag gesetzt, der noch stärker auf die beiden Prinzipien Bezug nimmt. Mit der Neuformulierung des Art. 15 Abs. 1 AEUV wird das im Art. 1 Abs. 2 EUV abstrakt postulierte Transparenzgebot konkretisiert, indem alle Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union verpflichtet sind, unter weitestgehender Beachtung des Grundsatzes der Offenheit zu handeln. Als ausdrückliches Ziel gilt dabei, eine verantwortungsvolle Verwaltung zu fördern und die Beteiligung der Zivilgesellschaft sicherzustellen. Ferner sieht Art. 15 Abs. 2 AEUV vor, dass das Europäische Parlament öffentlich tagt, was auch für den Rat gilt, wenn er über Entwürfe oder Gesetzgebungsakte berät oder abstimmt. Diese Bestimmungen sind vor dem Hintergrund der in den Verträgen verankerten demokratischen Grundsätze zu lesen. Art. 10 Abs. 3 AEUV sieht in diesem Sinne vor, dass alle Bürger das Recht haben, am demokratischen Leben der Union teilzunehmen, und dass die Entscheidungen so offen und bürgernah wie möglich getroffen werden. II. Das Recht auf Zugang zu den Dokumenten der europäischen Institutionen: Die primärrechtliche Verankerung Die wohl bedeutendste Facette des Transparenz- und Offenheitsgebots in der Europäischen Union ist aber das Recht auf Zugang zu den Dokumenten der Institutionen der Union. Es geht um das Instrument, das die sinnvolle Beteiligung der Öffentlichkeit am Demokratieprozess und die damit verbundene Kontrolle par excellence ermöglicht, indem man Zugang zu den als Grundlage für die rechtsetzende und administrative Tätigkeit der Unionsorgane dienenden Dokumenten hat. Das Dokumentenzugangsrecht ist kein bloßes Recht auf Akteneinsicht. Letzteres hat einen anderen Ursprung als die Grundsätze der Transparenz und der Offenheit und spielt eine wichtige Rolle im Verwaltungsverfahren, insoweit es den Betroffenen ermöglicht, Kenntnis von den Dokumenten zu erlangen, auf die sich die Verwal-

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tungsbehörde in ihrem Fall stützt oder stützen will. Das Akteneinsichtsrecht gehört zu den klassischen Verteidigungsrechten des Bürgers gegenüber der öffentlichen Gewalt, weil es seinen Träger in die Lage versetzt, sich durch bessere Kenntnis der Rechts- und Sachlage rechtzeitig und wirksam zur Wehr zu setzen und für ihn nachteilige Maßnahmen tunlichst zu verhindern. Mit diesem Inhalt reiht sich der Anspruch auf Akteneinsicht in das allgemeine Recht auf gute Verwaltung ein, wie dieses in der Grundrechte-Charta verankert ist und seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon verbindlichen Charakter hat.2 So heißt es in Art. 41 Abs. 2 der Charta, dass das Recht auf eine gute Verwaltung drei konkrete Ausstrahlungen hat und neben dem Recht auf eine vorherige Anhörung des Betroffenen und der Verpflichtung der Verwaltung, ihre Entscheidungen zu begründen, auch das Recht einer jeden Person auf Zugang zu den sie betreffenden Akten umfasst, und zwar unter Wahrung des legitimen Interesses der Vertraulichkeit sowie des Berufs- und Geschäftsgeheimnisses. Es ist nicht nötig, auf einzelne Details des Rechts auf Akteneinsicht gemäß Art. 41 der Charta einzugehen, um festzustellen, dass was dort niedergelegt ist, individualschützende Wirkung hat und mit den bewährten Instrumenten der Grundrechtslehre verstanden und angewandt werden kann. Hier kommen freilich die besagten Grundsätze der Transparenz und Öffentlichkeit hinzu und zum Zug, sie üben einen Druck aus und entbinden das Recht auf Akteneinsicht von seiner rein oder vorwiegend grundrechtlichen Natur, indem sie ihm eine allgemeine und umfassende Wirkung verleihen. Es geht nicht mehr um die individuelle Einsicht in eine Akte durch den oder die betroffenen Bürger, sondern um den weiten und möglichst bedingungslosen Zugang der Allgemeinheit zu den schriftlichen Informationen, die zur Disposition der institutionellen Organe der EU stehen. Nicht der Grundrechtsschutz steht nunmehr im Vordergrund, sondern das als schutzwürdig anerkannte und damit legitime Interesse der Öffentlichkeit nach Information sowie der damit verbundenen Kontrolle des Handelns der EU-Organe. Die vorhin genannte, dem Vertrag von Maastricht beigefügte Erklärung Nr. 17 sprach zum ersten Mal ein so breites Recht auf Information an, was nicht zuletzt vom Europäischen Gerichtshof gewürdigt worden ist.3 Dieser hat die besagte Erklärung als wichtige Etappe beim progressiven Anerkennungsprozess eines solchen Rechts auf Unionsebene hervorgehoben. Daraus resultierte für den Gerichtshof, dass, solange der Unionsgesetzgeber keine allgemeine Regelung über das Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu den Dokumenten der Unionsorgane erlassen hatte, diese Organe Zugangsanträge nicht einfach verwerfen durften, vielmehr im Rahmen ihrer internen Organisationsgewalt behandeln mussten, um eine ordnungsgemäße Verwaltung zu gewährleisten. Es war demnach nur eine Frage der Zeit, bis die Herren der Verträge die nötigen Regelungen einführen würden, was tatsächlich mit dem Vertrag von Amsterdam geschehen ist. Der frühere Art. 255 EG-Vertrag sah vor, dass jeder Unionsbürger sowie jede natürliche oder juristische Person mit Wohnsitz oder Sitz in einem Mit2 3

H. D. Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2010, Art. 41, Rdnr. 24 ff. EuGH, Rs. C-58/94 (Niederlande/Rat), Slg. 1996, I-2169.

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gliedstaat das Recht auf Zugang zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission hatte. Durch die Lissaboner Vertragsrevision wurde das Recht auf Dokumentenzugang in mehreren Hinsichten aufgewertet. Auf symbolischer Ebene zählt das im Art. 15 Abs. 3 AUEV verankerte Recht nunmehr zu den Grundsätzen der Europäischen Union, die im ersten, zentralen Teil dieses Vertrags aufgelistet sind. Indem das Dokumentenzugangsrecht nicht mehr im Kapitel über das Gesetzgebungsverfahren der Union geregelt ist, wie es früher mit Art. 255 EGV der Fall war, dürfte es keinem Zweifel mehr unterliegen, dass der Zugang zu Dokumenten nicht nur die rechtsetzende, sondern auch die administrative Praxis der Institutionen umfasst. In materieller Hinsicht ist vor allem die Ausdehnung des Adressatenkreises des Rechts auf Dokumentenzugang von Bedeutung. Im Gegensatz zum Vertrag von Amsterdam, der eine diesbezügliche Verpflichtung nur dem Parlament, dem Rat und der Kommission auferlegte, sieht der Vertrag von Lissabon nunmehr ausdrücklich vor, dass alle Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Union den Zugang zu den ihnen vorliegenden Dokumenten garantieren müssen. Diese Vorgabe hat auch für den Gerichtshof der Europäischen Union bestimmte Konsequenzen (siehe unten V.) Die Aufwertung des Rechts auf Dokumentenzugang wurde mit seiner Verankerung in der Grundrechte-Charta vollendet. Art. 42 der Charta, der im Titel über die „Bürgerrechte“ enthalten ist, entspricht weitgehend dem Wortlaut des Art. 15 Abs. 3 AUEV. Dies ist auch der Grund dafür, dass die Ausübung dieses durch die Charta anerkannten Rechts – wie es in Art. 52 Abs. 2 der Charta ausdrücklich steht – im Rahmen der im Art. 15 Abs. 3 AUEV festgelegten Bedingungen und Grenzen zu erfolgen hat. III. Die sekundärrechtliche Dimension des Dokumentenzugangsrechts: Die Verordnung 1049/2001 Außer den Bedingungen, die sich direkt aus Art. 15 Abs. 3 AUEVergeben, nimmt der Uabs. 2 auf das abgeleitete Unionsrecht Bezug, insoweit er vorsieht, dass die allgemeinen Grundsätze und die aufgrund öffentlicher oder privater Interessen geltenden Einschränkungen für die Ausübung des Rechts auf Dokumentenzugang vom Europäischen Parlament und vom Rat durch Verordnungen festgelegt werden. Ein solcher Verweis auf die Notwendigkeit sekundärrechtlicher Präzisierung des Rechts auf Dokumentenzugang war schon in Art. 255 EGV zu finden4. Diese Forderung hat der Rat durch den Erlass der Verordnung 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission (im Folgenden: Transparenzverordnung)5 erfüllt. Diese Verordnung stellt bis heute das Hauptinstrument des Sekundärrechts dar, um die genauen Konturen des Rechts 4

S. Bartelt/H. E. Zeitler, Zugang zu Dokumenten der EU, EuR 2003, 487. Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission (ABl. L 145, S. 43). 5

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auf Zugang zu erfassen. Zu einem Zeitpunkt ergangen, der für den Ausbau von Transparenz und Offenheit in der Union sehr günstig war, ist die Transparenzverordnung von einer besonders klaren Zielsetzung gekennzeichnet. So heißt es z. B. in der 4. Begründungserwägung, dass diese Verordnung dem Recht auf Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten größtmögliche Wirksamkeit verschaffen soll, und in seiner 11. Begründungserwägung, dass grundsätzlich alle Dokumente der Organe für die Öffentlichkeit zugänglich sein sollten. Unter diesen Umständen darf es nicht überraschen, dass den Regelungen der Transparenzverordnung sehr weite Rechte auf Zugang zu den Dokumenten zu entnehmen sind. Drei Gesichtspunkte fallen hier besonders ins Gewicht. Erstens sollte hervorgehoben werden, dass das Recht allen Rechtssubjekten zuerkannt wird, nämlich den Unionsbürgern einschließlich der natürlichen und juristischen Personen, die ihren Wohnsitz oder satzungsmäßigen Sitz in einem Mitgliedstaat haben. Zweitens – und das ist besonders zu betonen – findet die Verordnung auf alle den europäischen Institutionen zur Verfügung stehenden Dokumente Anwendung, d. h. also nicht nur auf solche, die sie selbst erstellt haben, sondern auch auf sämtliche von Dritten vorbereitete Schriftstücke, die an das Parlament, den Rat oder die Kommission adressiert worden sind und ihnen vorliegen. Drittens werden an den Antrag auf Zugang keine besonderen Bedingungen gestellt, d. h. der Antragsteller braucht kein irgendwie geartetes Interesse geltend zu machen – geschweige denn nachzuweisen. Damit hat jedermann unbeschränkten Zugang auf alle Dokumente, ohne sich auf eine Beziehung zu ihnen berufen zu müssen. IV. Die Transparenzverordnung in der jüngeren Rechtsprechung des EuGH Es leuchtet ein, dass ein so breit formuliertes Recht den Anlass für interessante Fallkonstellationen gibt und infolgedessen den Gerichtshof der Europäischen Union relativ oft beschäftigt. Es geht insbesondere um Fragen, die mit dem persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich des Rechts auf Zugang verbunden sind und dem Gerichtshof komplizierte Abwägungen abverlangen, wenn es darum geht, Transparenz und Offenheit mit anderen Rechtsgütern zu messen und miteinander in Einklang zu bringen.6 1. Dokumentenzugang in besonders geregelten Verwaltungsverfahren Eine fundamentale Fragestellung ist in diesem Zusammenhang, ob und inwieweit der Unionsbürger auf der Grundlage der Transparenzverordnung Zugang zu Dokumenten verlangen kann, den er normalerweise unter der Geltung einer anderen, spezifischen Regelung nicht hätte. Eine solche Sonderregelung stellt beispielsweise die 6

J. Schoo/N. Görlitz, in: Schwarze, EU, 2012, Art. 15 Rdnr. 44 ff.

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Verordnung Nr. 659/1999 über die Beihilfenkontrolle dar.7 Kann die Transparenzverordnung Vorrang vor der Beihilfenverordnung haben? In der Rechtssache Kommission/Technische Glaswerke Ilmenau GmbH8 berief sich diese Gesellschaft auf die Transparenzverordnung und beantragte Zugang zu allen Dokumenten, die in den Akten der Kommission in den sie betreffenden laufenden Beihilfesachen enthalten waren. Der Gerichtshof wies jedoch darauf hin, dass das Verfahren zur Kontrolle staatlicher Beihilfen nach seinem allgemeinen Aufbau ein Verfahren sei, das gegenüber dem für die Gewährung der Beihilfe verantwortlichen Mitgliedstaat eröffnet werde. Aus diesem Grund sei dieser Mitgliedstaat der einzige Verfahrensbeteiligte, der über das Recht verfüge, die Dokumente der Verwaltungsakte der Kommission einzusehen. Andere interessierte Parteien wie der Beihilfenempfänger oder seine Konkurrenten könnten zwar gegen die Beihilfenentscheidung Klage erheben, wenn sie unmittelbar und individuell betroffen sind, ein Akteneinsichtsrecht bekämen sie dadurch aber nicht. Wären diese Beteiligten nämlich in der Lage, auf der Grundlage der Transparenzverordnung den Zugang zu den Dokumenten der Verwaltungsakte der Kommission durch die Hintertür zu erhalten, dann wäre das System der Kontrolle staatlicher Beihilfen gefährdet. Die Kommission sei also somit berechtigt, die Akteneinsicht zu verweigern, um ihre Untersuchungstätigkeiten zu schützen. Letztere würden gemäß Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich der Transparenzverordnung als Interesse gelten, das die Verweigerung eines Zugangsantrags rechtfertigen könne.9 Zumindest teilweise beruht die diesbezügliche Zurückhaltung der Kommission auf den großen praktischen Schwierigkeiten, die mit dem Zugang zu Dokumenten der Verfahrensakten einhergehen. Der Umfang, die Technizität und die Vertraulichkeit dieser Akte können eine individuelle Prüfung der einzelnen Dokumente sehr aufwendig machen, zumal die zuständigen Dienststellen der Kommission bereits durch die Untersuchung der Beihilfe erheblich belastet sind. Favorisiert man eine weite Auslegung der Transparenzverordnung, dann hätten solche Vorbehalte im Lichte des besonders breiten Rechts, das diese Verordnung vorsieht, zurücktreten müssen. Kann aber das System harmonisch und effizient funktionieren, wenn der Antragsteller eine unbegrenzte Anzahl von Dokumenten ohne jegliche Begründung verlangen darf, wobei das Unionsorgan rasch und wohl auch begründet reagieren muss? Dieses Spannungsverhältnis hat der Gerichtshof dadurch gelöst, indem er anerkannt hat, dass es dem betroffenen Unionsorgan freisteht, sich hierbei auf allgemeine Vermutungen zu stützen, die für bestimmte Kategorien von Dokumenten gelten, da für Anträge auf Verbreitung von Dokumenten gleicher Art vergleichbare allgemeine Erwägungen gelten können. Eine solche allgemeine Vermutung besteht dahingehend, dass durch die Verbreitung der Dokumente der laufenden Beihilfenakte grundsätzlich der 7 Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [88 EG] (ABl. L 83, S. 1). 8 EuGH, Rs. C-139/07 P (Kommission/Technische Glaswerke Ilmenau), Slg. 2010, I-5885. 9 EuGH (o. Fußn. 8), Rdnr. 52 ff.

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Schutz des Zwecks von Untersuchungstätigkeiten beeinträchtigt würde. Diese allgemeine Vermutung schließt jedoch nicht das Recht anderer Verfahrensbeteiligter aus, darzulegen, dass diese Vermutung für ein bestimmtes Dokument nicht gilt, oder dass ein überwiegendes öffentliches Interesse an dessen Verbreitung besteht.10 Erwähnenswert ist an dieser Stelle, dass der rechtliche Unterschied zwischen Akteneinsichtsrecht einerseits und Zugang zu Dokumenten aufgrund der Transparenzverordnung andererseits dem Gerichtshof wohl bewusst war. Eine ausdifferenzierte Behandlung fällt aber hier insoweit aus, als beide Rechte in funktionaler Hinsicht zu einer vergleichbaren Situation führen, indem die Akteneinsicht – unabhängig von der Rechtsgrundlage, auf der sie gewährt wird –, es den Beteiligten ermöglicht, sämtliche bei der Kommission eingereichten Erklärungen und Dokumente zu erhalten. Den Kern dieser Ausführungen hat der Gerichtshof auch in den Rechtssachen Kommission/Éditions Odile Jacob und Kommission/Agrofert Holding11 umgesetzt. Hier ging es um das Verhältnis zwischen der Transparenzverordnung und einer anderen Regelung, die einen spezifischen Bereich des Unionsrechts regelt, nämlich der Verordnung Nr. 4064/89 bzw. der Verordnung Nr. 139/2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen.12 Der Gerichtshof stellte fest, dass die Transparenzverordnung und die Fusionskontrolleverordnung keine Bestimmung enthalten, die ausdrücklich einen Vorrang der einen vor der anderen vorsieht.13 Daher sei eine Anwendung beider Verordnungen sicherzustellen, die mit der Anwendung der jeweils anderen vereinbar wäre und somit eine kohärente Anwendung ermöglichen würde. Unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Ziele beider Verordnungen gelang der EuGH zu der Schlussfolgerung, dass ein allgemeiner Zugang aufgrund der Transparenzverordnung zu dem Schriftverkehr zwischen der Kommission und den Anmeldern oder Dritten im Rahmen eines Verfahrens zur Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen das Gleichgewicht gefährden könnte, das der Unionsgesetzgeber in der Fusionskontrolleverordnung zwischen einerseits der Verpflichtung der betroffenen Unternehmen, der Kommission möglicherweise sensible Geschäftsinformationen mitzuteilen, damit sie die Vereinbarkeit eines geplanten Zusammenschlusses mit dem Gemeinsamen Markt prüfen kann, und andererseits der Gewährung eines wegen des Berufs- und des Geschäftsgeheimnisses verstärkten Schutzes für die der Kommission übermittelten Informationen sicherstellen wollte. Der Gerichtshof fügte hinzu, dass diese Schlussfolgerung aufgrund der Art der im 10

EuGH (o. Fußn. 8), Rdnr. 61 – 62. EuGH, Rs. C-404/10 P und C-477/10 P (Kommission/Éditions Odile Jacob und Kommission/Agrofert Holding), Urteile vom 28.6.12, noch nicht in der amtlichen Slg. veröffentlicht. 12 Verordnung (EWG) Nr. 4064/89 des Rates vom 21. Dezember 1989 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (ABl. L 395, S. 1, und Berichtigung ABl. 1990, L 257, S. 13), und Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (ABl. L 24, S. 1), die die Verordnung Nr. 4064/89 grundsätzlich ersetzt. 13 EuGH (o. Fußn. 11), C-404/10 P, Rdnr. 110, und C-477/10 P, Rdnr. 52. 11

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Rahmen der Zusammenschlusskontrolle geschützten Interessen unabhängig davon gelte, ob der Zugangsantrag ein bereits abgeschlossenes oder ein noch laufendes Kontrollverfahren betrifft. Die Veröffentlichung sensibler Informationen zu den wirtschaftlichen Tätigkeiten der beteiligten Unternehmen könne deren geschäftliche Interessen unabhängig davon beeinträchtigen, ob das Kontrollverfahren noch anhängig sei. Zudem könnte die Aussicht auf eine solche Veröffentlichung nach Abschluss des Kontrollverfahrens die Bereitschaft der Unternehmen zur Zusammenarbeit während des laufenden Verfahrens mindern.14 Ein letzter wichtiger Aspekt der oben genannten Rechtssachen betrifft die Tatsache, dass die Verwaltungsaufgaben und die Gesetzgebungstätigkeit der Unionsorgane nicht gleichbehandelt werden dürfen. Denn anders als bei den Situationen, in denen sie als Verwaltungsorgane handeln, müssen die Unionsorgane einen umfassenderen Zugang zu Dokumenten gewährleisten, wenn sie ihre legislative Tätigkeit ausüben. Die besondere Sensibilität des Gerichtshofes im letzteren Fall kann man durch das Urteil Turco15 erleuchten. 2. Dokumentenzugang im Gesetzgebungsverfahren In diesem Fall betraf der Zugangsantrag eine Stellungnahme des Juristischen Dienstes des Rates zu einem Vorschlag für eine Richtlinie zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten. Der Rat hat den Antrag zurückgewiesen. Er berief sich auf die Ausnahme der Transparenzverordnung, wonach die Organe den Zugang zu einem Dokument verweigern, durch dessen Verbreitung der Schutz der Rechtsberatung beeinträchtigt würde. Der Gerichtshof war der Auffassung, dass es generell keiner vertraulichen Behandlung der Stellungnahmen des Juristischen Dienstes des Rates zu Gesetzgebungsfragen bedürfe. Die vom Rat geäußerte Befürchtung, die Verbreitung einer Stellungnahme seines Juristischen Dienstes zu einem Gesetzesvorhaben könne Zweifel an der Rechtmäßigkeit des betreffenden Rechtsakts hervorrufen, hielt der Gerichtshof für unbegründet. Es sei gerade die Transparenz in dieser Hinsicht, die dazu beitrage, den Organen in den Augen der europäischen Bürger eine größere Legitimität zu verleihen und deren Vertrauen zu stärken, weil sie es ermögliche, Unterschiede zwischen mehreren Standpunkten offen zu erörtern. Tatsächlich sei es eher das Fehlen von Information und Diskussion, das bei den Bürgern Zweifel hervorrufen könnte, und zwar nicht nur an der Rechtmäßigkeit eines einzelnen Rechtsakts, sondern auch an der Rechtmäßigkeit des Entscheidungsprozesses insgesamt. In diesem Sinne meinte der Gerichtshof ferner, es bestehe kein wahres Risiko, dass die Unabhängigkeit des Juristischen Dienstes des Rates durch die Verbreitung von Rechts-

14

EuGH (o. Fußn. 11), C-404/10 P, Rdnr. 124. EuGH, Verb. Rs. C-39/05 P und C-52/05 P, (Schweden und Turco/Rat), Slg. 2008, I4723. 15

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gutachten in Frage gestellt würde oder dass die Mitarbeiter dieses Dienstes aus diesem Grund einem unzulässigen Druck ausgesetzt werden könnten.16 Die besondere Bedeutung der Transparenz und der Offenheit bei dem Gesetzgebungsverfahren in der Europäischen Union sieht man auch in der Art und Weise, wie der Gerichtshof den Begriff des „überwiegenden öffentlichen Interesses“ versteht. Ein solches bestehendes Interesse mag nach der Transparenzverordnung die Ausnahme verdrängen und die Regel des Dokumentenzugangs wiederherstellen. Das Gericht der Europäischen Union hatte in erster Instanz entschieden, dass das überwiegende öffentliche Interesse im Vergleich zu den Prinzipien der Transparenz, der Offenheit, der Demokratie oder der Beteiligung der Bürger am Entscheidungsprozess verschieden sein müsste.17 Der Gerichtshof teilte diese Ansicht nicht und stellte fest, dass ein solches Interesse gerade darin zu sehen sei, dass die Verbreitung der Stellungnahme des Juristischen Dienstes eines Unionsorgans zu einem Gesetzesvorschlag geeignet wäre, die Transparenz und die Offenheit des Gesetzgebungsverfahrens zu erhöhen. Somit werde das demokratische Recht der europäischen Bürger gestärkt, die Informationen zu überprüfen, auf deren Grundlage ein Rechtsakt ergangen ist.18 3. Der Sonderfall des Zugangs zu Prozessdokumenten bei Nichtausübung eines Rechtsmittels Wenn es zutrifft, dass hinsichtlich der Verwaltungstätigkeit eines Unionsorgans kein ebenso breiter Zugang zu Dokumenten wie bei seiner gesetzgeberischen Tätigkeit erforderlich ist, bedeutet dies keineswegs, dass das Verwaltungshandeln der Institutionen der Union nicht zum Kernbereich der Transparenzverordnung gehört. Dies hat der Gerichtshof in der Rechtssache Schweden/My Travel und Kommission19 bestätigt. In diese Kategorie von Dokumenten fällt ein Bericht, der von einer aus Beamten der Generaldirektion „Wettbewerb“ und des Juristischen Dienstes der Kommission besetzten Arbeitsgruppe verfasst wurde, um zu prüfen, ob es angebracht wäre, ein Rechtsmittel gegen ein Urteil des Gerichts der Europäischen Union einzulegen. Da MyTravel ihren Antrag auf Zugang zu diesem Bericht nach Ablauf der Rechtsmittelfrist gegen das Urteil des Gerichts gestellt hat, hätte die Kommission die besonderen Gründe angeben müssen, aus denen sie der Ansicht war, dass die Verbreitung dieses Dokuments ihren Entscheidungsprozess ernstlich beeinträchtig hätte, selbst nachdem das Verfahren, auf das sich diese Dokumente bezogen, abgeschlossen war.

16

EuGH (o. Fußn. 15), Rdnr. 59 – 64. EuG, Rs. T-84/03 (Turco/Rat), Slg. 2004, II-4061. 18 EuGH (o. Fußn. 15), Rdnr. 67. 19 EuGH, Rs. C-506/08 P (Schweden/MyTravel und Kommission), Urteil vom 21.6.11, noch nicht in der amtlichen Slg. veröffentlicht. 17

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4. Dokumentenzugang und Datenschutz Wie es sich aus dem Vorstehenden ergibt, wirft die Abgrenzung des Rechts auf Dokumentenzugang sensible Fragen bei der Auslegung und Anwendung der Transparenzverordnung auf. Denn das sehr breit formulierte Recht auf Dokumentenzugang ist von schutzwürdigen privaten oder öffentlichen Interessen abzugrenzen, welche die Transparenzverordnung selbst nennt. Dieser Überblick der Judikatur des Gerichtshofes kann mit einigen Bemerkungen zum Verhältnis zwischen der Transparenz und einem weiteren solchen Interesse, nämlich dem Datenschutz, abgeschlossen werden. Es geht um zwei Grundpositionen, die sich relativ einfach in Kollisionskurs finden können. Der Zugang zu Dokumenten fördert die Offenheit, der Datenschutz verlangt Vertraulichkeit. Im Zeitalter der globalen Kommunikation und der sozialen Vernetzung sollte es keinen wundern, dass die personenbezogenen Daten nunmehr ausdrücklich sowohl im Primärrecht (durch die Artikel 16 AEUV und 8 der Grundrechte-Charta) als auch im Sekundärrecht der Union (durch die Verordnung Nr. 45/ 2001 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Unionsorgane)20 geschützt werden. Das im Juni 2010 ergangene Urteil in der Rechtssache Bavarian Lager21 ist in diesem Zusammenhang wegweisend. Der Gerichtshof wies darauf hin, dass aus dem Verordnungstext selbst folgt, dass der Datenschutz von den vorgeschriebenen Ausnahmen vom Recht auf Dokumentenzugang erfasst wird. In Art 4 Abs. 1 Buchst. b der Transparenzverordnung ist nämlich zu lesen, „dass die Organe den Zugang zu einem Dokument verweigern“, wenn „durch dessen Verbreitung“ […] „der Schutz der Privatsphäre und der Integrität des Einzelnen, insbesondere gemäß den Rechtsvorschriften der [Union] über den Schutz personenbezogener Daten“ beeinträchtigt werden könnte. Dies bedeutet nach Ansicht des Gerichtshofes dass, wenn ein nach der Transparenzverordnung gestellter Antrag auf die Gewährung des Zugangs zu Dokumenten gerichtet sei, die personenbezogene Daten enthalten, die Bestimmungen der Verordnung über den Schutz personenbezogener Daten in vollem Umfang anwendbar würden. So sei der Empfänger der Übermittlung solcher Daten verpflichtet, die Notwendigkeit derer Preisgabe nachzuweisen. Anwendung findet ebenfalls die Bestimmung, nach der der Betroffene jederzeit aus zwingenden, schutzwürdigen, sich aus seiner besonderen Situation ergebenden Gründen gegen die Bearbeitung von ihn betreffenden Daten Widerspruch einlegen kann.22

20 Verordnung (EG) Nr. 45/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2000 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft und zum freien Datenverkehr (ABl. 2001, L 8, S. 1). 21 EuGH, Rs. C-28/08 P (Kommission/Bavarian Lager), Slg. 2010, I-6055. 22 EuGH (o. Fußn. 21), Rdnr. 63.

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In Bezug auf die spezifische Rechtssache sollte auch Folgendes klargestellt werden: Bavarian Lager, die Zugang zum vollständigen Protokoll eines Treffens zwischen der Kommission und eines Verbands der Bierbrauer suchte, hat infolge einer Entscheidung der Kommission Zugang im Wesentlichen zu allen Informationen über das streitige Treffen, einschließlich der von den Beteiligten in ihrer beruflichen Eigenschaft abgegebenen Meinungsäußerungen erhalten. Die einzige Information, die ihr vorenthalten wurde, war die Identität von fünf Teilnehmern, deren Zustimmung zur Offenlegung nicht vorlag. Unter diesen Umständen war das Beharren von Bavarian Lager, die Namen dieser fünf Teilnehmer unbedingt zu wissen, als eine (sozusagen) unverhältnismäßige Verletzung des Rechts dieser Personen auf Schutz ihrer persönlichen Daten zu qualifizieren.23 Dem Gerichtshof ging es wesentlich darum, Informationsfreiheit und Datenschutz miteinander in Einklang zu bringen und nachzuweisen, dass es zwischen diesen beiden Grundpositionen keinen unauflöslichen Widerspruch gibt.24 V. Der EuGH als Adressat des Rechts auf Dokumentenzugang Wie oben bereits erwähnt, trifft erstmalig nach dem Vertrag von Lissabon gemäß Art. 15 Abs. 3 AEUV auch den Gerichtshof die Verpflichtung, Zugang zu den ihm vorliegenden Dokumenten zu gewähren. Um dieser Aufgabe möglichst adäquat und schnell gerecht zu werden, findet aktuell im Gerichtshof eine intensive interne Diskussion statt, die kurz vor ihrem Abschluss steht. Dass es sich nicht um eine einfache Aufgabe handelt, versteht sich von selbst. Die Schwierigkeiten resultieren hauptsächlich aus der Notwendigkeit, dass der EuGH den reibungslosen Ablauf seiner Rechtsprechungstätigkeit im Interesse der Parteien und der Justiz im Allgemeinen unbedingt sicherstellen muss, was traditionell nur durch ein erhöhtes Maß an Vertraulichkeit erfolgen kann. Diese Besonderheit der Tätigkeit des EuGH ist dem Unionsgesetzgeber wohl bewusst, denn gemäß Art. 15 Abs. 3 Unterabs. 4 AEUV ist der Gerichtshof lediglich verpflichtet, den Dokumentenzugang zu gewährleisten, wenn er Verwaltungsaufgaben wahrnimmt. Aus dem abgeleiteten Unionsrecht ergibt sich hingegen gegenwärtig für den Gerichtshof keine konkrete Pflicht zu Dokumentenzugang. Die unter der Geltung des Amsterdamer Vertrags ergangene Transparenzverordnung richtet sich konsequenterweise nicht an den EUGH, sondern an das Europäische Parlament, den Rat und die Kommission. Trotzdem betrifft die Transparenzverordnung indirekt auch den Gerichtshof, insofern der Schutz von Gerichtsverfahren gemäß Art. 4 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich der Verordnung ein Interesse darstellt, dass die Verweigerung des Zugangs zu Dokumenten rechtfertigen kann. Der EuGH hat Gelegenheit gehabt, sich über diesen Ausnahmetatbestand zu äußern, als die API, eine nicht auf Gewinn23

EuGH (o. Fußn. 21), Rdnr. 72 ff. Vgl. J. A. Sanner, Der Schutz personenbezogener Daten beim Zugang zu Dokumenten der Unionsorgane, EuZW 2010, 774 (776). 24

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erzielung ausgerichtete Organisation ausländischer Journalisten mit Sitz in Belgien, bei der Kommission Zugang zu allen Schriftsätzen beantragte, die dieses Organ in einer Reihe von Rechtssachen bei den Unionsgerichten eingereicht hatte. In seinem Urteil vom September 201025 bestätigte der Gerichtshof, dass der Zugang der Öffentlichkeit auch für diese Kategorie von Dokumenten die allgemeine Regel sein muss. Deswegen wies er das Argument der Kommission zurück, der Zugang in einer abgeschlossenen Rechtssache könnte verweigert werden, wenn diese im engen Zusammenhang mit einer noch anhängigen Rechtssache stünde.26 Ebenfalls sah der Gerichtshof keine Gefahr für die Verhandlungsfähigkeit der Union zum Abschluss eines internationalen Abkommens durch die Verbreitung von relevanten Dokumenten, die im Rahmen einer bereits abgeschlossenen Rechtssache vor dem Gerichtshof eingereicht wurden.27 Ferner hielt der Gerichtshof das Vorbringen der Kommission für unbegründet, der Zugang zu den Dokumenten eines abgeschlossenen Vertragsverletzungsverfahrens würde die Untersuchungstätigkeiten der Kommission oder ihre Chancen zu einer gütlichen Beilegung der Streitigkeit mit dem betroffenen Mitgliedstaat beeinträchtigen.28 Auf der anderen Seite ist der Gerichtshof um den Schutz von (noch) anhängigen Gerichtsverfahren bemüht. Denn er hat bestätigt, dass die journalistische Organisation kein Recht auf Zugang zu den vor den Unionsgerichten eingereichten Schriftsätzen in laufenden Rechtssachen hatte; hier erlaube nämlich allein die Vertraulichkeit der Schriftsätze, welche die Grundlage für die Ausübung der Rechtsprechungstätigkeit des Gerichtshofs bilden, den Ablauf eines fairen Verfahrens unter Beachtung der Grundsätze der Waffengleichheit und der geordneten Rechtspflege.29 VI. Schlussfolgerungen und Perspektiven Will man ein vorläufiges Fazit ziehen, so kann es nur lauten, dass die Herstellung von Transparenz und Offenheit ein Grundprinzip der Europäischen Union darstellt, welches das Handeln aller Unionsorgane regieren soll. Das Primärrecht legt an mehreren Stellen die Hauptmerkmale der beiden Grundsätze fest, während das Sekundärrecht und insbesondere die Transparenzverordnung die Einzelheiten für den allgemeinen und bedingungslosen Zugang zu den den europäischen Institutionen vorliegenden Dokumenten regelt. Ziel ist die Herstellung des Vertrauens der europäischen Bürger in die Tätigkeit der europäischen Organe und damit die oft beklagte Verstärkung der demokratischen Legitimation der Europäischen Union. Beschränkt man sich in diesem Zusammenhang auf den Zugang zu den Dokumenten, so ist der zentralen Stellung dieses Instruments Rechnung zu tragen, was nicht 25 EuGH, Verb. Rs. C-514/07 P, C-528/07 P und C-532/07 P (Schweden/API und Kommission), Slg. 2010, I-8533. 26 EuGH (o. Fußn. 25), Rdnr. 135. 27 EuGH (o. Fußn. 25), Rdnr. 125. 28 EuGH (o. Fußn. 25), Rdnr. 122. 29 EuGH (o. Fußn. 25), Rdnr. 94.

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zuletzt in der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Ausdruck kommt. Dennoch hat sich in der Praxis gezeigt, dass ein so breites Recht auf Zugang nicht stets und nicht zu jedem Zeitpunkt befriedigt werden kann. Vor allem im Vergleich, in Abwägung und in Abgrenzung zu anderen Rechtsgrundsätzen und Rechtsgütern muss auch das Recht auf Dokumentenzugang Einschränkungen dulden, die sich aus der Sache ergeben und verhältnismäßig sein müssen, indem sie nicht notwendigerweise den Ausschluss des Rechts, sondern lediglich dessen Aufschub zur Folge haben. Obwohl es angesichts der Zahl der entschiedenen Fälle verfrüht wäre, von festen Tendenzen in der Judikatur des Gerichtshofs zu sprechen, darf man die Aussage wagen, dass das Grundrecht auf Zugang zu Dokumenten in seiner Abwägung mit anderen Individualrechten wie dem Schutz personenbezogener Daten zurückzutreten hat, wenn dem Datenschutz ein Vorrang zukommt. Demgegenüber behält das Recht auf Zugang seinen Eigenwert, selbst wenn es mit Rücksicht auf die Effektivität gerichtlicher oder verwaltungsbehördlicher Verfahren nicht sofort zum Einsatz kommt: Während der Prozess läuft oder das Verfahren vor der Europäischen Kommission anhängig ist, kann es erforderlich erscheinen, die Dokumente nicht öffentlich zugänglich zu machen, sondern den Verfahrensabschluss abzuwarten und erst danach das Recht auf Zugang durchgreifen zu lassen. Diese eher umsichtige Haltung des Gerichtshofs im Umgang mit der Transparenz und der Öffentlichkeit wird nicht überall begrüßt, weil geschriebene und ungeschriebene Ausnahmen das Grundrecht auf Dokumentenzugang verdrängen können. Hierzu wäre zu bemerken, dass die Rechtswissenschaft ihren Wert und Charakter der Technik der Differenzierung schuldet. Absolute und einheitliche Lösungen werden angesichts der hohen Komplexität der dem Recht unterworfenen Materien immer seltener und erscheinen als unsachlich und ungerecht. Vielmehr liegt der Mehrwert von Rechtsauslegung und Rechtsanwendung in der sachgerechten Ausdifferenzierung, in der abgewogenen Ausbalancierung verschiedener, sehr oft sogar gegensätzlicher Rechts- und Interessenlagen. Als ein gutes Beispiel für diese Haltung kann die Rechtsprechung zu dem mit der Transparenz und der Offenheit verbundenen Recht auf Zugang zu Dokumenten in der Europäischen Union dienen. Man kann davon ausgehen, dass der Gerichtshof sich auch in der Zukunft intensiv mit diesem Recht beschäftigen wird, u. a. auch deswegen, weil derzeit interinstitutionell über die Überarbeitung der Transparenzverordnung beraten wird. Um die Erfahrung aus dem mehrjährigen praktischen Umgang mit dieser Verordnung sowie die einschlägige Rechtsprechung der europäischen Gerichte zu verwerten, hat nämlich die Kommission im April 2008 einen ersten Vorschlag für eine Neufassung der Verordnung vorgelegt30, die eine Reihe wesentlicher Änderungen beinhaltet. Letztere sollten vor allem den Anwendungsbereich des Rechts auf Dokumentenzugang weiter ausdehnen. Wie aber die Kommission selbst anerkannte, haben die Debatten im Europäischen Parlament und im Rat gezeigt, dass die Meinungen zur Novellierung dieser Verordnung weit auseinandergehen. Deswegen wurde von der Kommission im 30

KOM (2008) 229 endg., vom 30. 4. 2008.

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März 2011 ein zweiter Vorschlag vorgelegt31, mit dem bescheideneren Ziel, die Transparenzverordnung durch eine Ausweitung ihres Anwendungsbereichs auf alle Organe der Europäischen Union, Einrichtungen, Ämter und Agenturen, mit einigen Einschränkungen bezüglich des Europäischen Gerichtshofs, der Europäischen Zentralbank und der Europäischen Investitionsbank, den formalen Anforderungen des Art. 15 Abs. 3 AUEV anzupassen. Das Rechtsetzungsverfahren ist noch für keines der beiden Vorhaben abgeschlossen. Man sollte aber die Verzögerung bei der Verabschiedung der neuen Transparenzverordnung nicht als Zeichen eines Misstrauens gegen das Transparenz- und Offenheitsgebot bewerten. Beide Prinzipien sind nunmehr feste Bestandteile der öffentlichen Debatte, der demokratischen Rechtsetzungsprozesse und der Verwaltungspraxis in der Europäischen Union. Es hat ein echtes Umdenken stattgefunden, das für den Mehrwert der Union im Sinn einer harmonischen Verbindung von Werten mit unterschiedlichem Ursprung charakteristisch ist: Die durchaus positiven Erfahrungen der nördlichen Länder mit dem Transparenzgrundsatz haben die anderen Mitgliedstaaten überzeugt und die Herren der Verträge veranlasst, die Unionsorgane zu immer mehr Transparenz und Offenheit anzuhalten.

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KOM (2011) 137 endg., vom 21. 3. 2011.

Recht und Politik in der Wirtschafts- und Währungsunion der EU Von Rudolf Streinz I. Einleitung Recht und Politik hängen eng zusammen. An der Ludwig-Maximilians-Universität München dokumentiert dies das „Institut für Politik und Öffentliches Recht“ personell wie inhaltlich: Professoren dieses Instituts waren bzw. sind zugleich Bundesoder Landesminister oder Richter des Bundesverfassungsgerichts. Das Recht ist Gestaltungsmittel der Politik. Diese muss bzw. sollte sich aber an geltendes Recht halten. Als Verfassungsrecht setzt es der Politik verbindliche Maßstäbe, da auch die gesetzgebende Gewalt an die verfassungsmäßige Ordnung des Grundgesetzes gebunden ist (Art. 20 Abs. 3 GG). Über die Einhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Staatsgewalten Legislative, Exekutive und Judikative wacht in Deutschland das BVerfG.1 Dessen 16 Richtern kommt dabei große Verantwortung zu. Dies zeigte und zeigt sich insbesondere in Angelegenheiten, deren Wirkungen nicht nur Deutschland essentiell betreffen, sondern über Deutschland hinausreichen. Ein besonders brisanter Fall sind insoweit die jetzt vom BVerfG entschiedenen bzw. anhängigen Verfahren in Sachen der sogenannten „Eurorettung“. Wie immer in „hochpolitischen“ Fällen (z. B. Fernsehurteil,2 Grundlagenvertragsurteil3) zeigen die mehr oder weniger qualifizierten „Ratschläge“ aus der Politik das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Politik, zwischen dem BVerfG und den Organen, die es von Verfassungs wegen zu kontrollieren hat, zwischen den Aufgaben des Verfassungsgerichts und des zur politischen Gestaltung berufenen Gesetzgebers. Hans-Jürgen Papier war seit 1998 Vizepräsident, von 2002 bis 2010 Präsident des BVerfG. Unter seinem Vorsitz fällte der Erste Senat grundlegende Urteile mit großer

1 Vgl. zu verfassungsrechtlicher Bindung und gesetzgeberischer Freiheit und zur Kontrolle durch das BVerfG hinsichtlich des Wahlrechts zuletzt BVerfG, NVwZ 2012, 1101. Zum Verhältnis von Politik und Recht vgl. z. B. H. Schambeck, Politik und Recht, in: FS Pichler, 1996, S. 225 ff. 2 BVerfGE 12, 205. Zu weiteren Fernsehurteilen und zur Prägung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durch die Rechtsprechung des BVerfG (zuletzt BVerfGE 119, 181) vgl. H. D. Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), GG, 12. Auf. 2012, Art. 5, Rdnr. 94 ff.; H. Bethge, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 5, Rdnr. 100 ff. 3 BVerfGE 36, 1.

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politischer Brisanz. Genannt seien hier nur die Urteile zum Luftsicherheitsgesetz,4 zur Bedarfsermittlung der Regelsätze von „Hartz IV“5 und zur Vorratsdatenspeicherung6, mit denen jeweils die gesetzliche Regelung für verfassungswidrig erklärt wurde. Das Urteil zur Vorratsdatenspeicherung betraf auch die Frage des Verhältnisses des deutschen Rechts zum Recht der Europäischen Union, das trotz grundsätzlicher Klärung in Grenzfällen Probleme aufwerfen kann.7 Gleiches gilt für das Verhältnis des deutschen Rechts zur EMRK und des BVerfG zum EGMR, wie die Urteile in den Fällen Görgülü8 und Caroline von Hannover9 zeigen. Bei seiner Verabschiedung vom BVerfG warnte Hans-Jürgen Papier zu Recht vor Akzeptanzproblemen, wenn der EGMR seine Rolle überspannt.10 In letzter Zeit wurde durch gegenseitige Rücksichtnahme zumindest die Frage des schonenden Ausgleichs zwischen Pressefreiheit und Privatsphäre entschärft.11 Die mit der „Eurorettung“ verbundenen verfassungsrechtlichen Fragen erreichten das BVerfG erst nach dem Ausscheiden von Hans-Jürgen Papier, und über sie hätte er wegen der Zuständigkeit des Zweiten Senats auch nicht entscheiden müssen. Einschlägige Themen finden sich aber bereits in frühen Schriften seines reichhaltigen Œuvres,12 und zur Rolle des BVerfG in der Euro-Rettung nahm er dezidiert Stellung.13 Das mittlerweile ergangene Urteil des BVerfG und die noch ausstehende 4 BVerfGE 115, 118. Der Beschluss des Plenums vom 3. 7. 2012, EuGRZ 2012, 536 betraf allein die Kompetenzfrage. 5 BVerfGE 125, 175. 6 BVerfGE 125, 260. 7 Vgl. auch den Darkazanli-Beschluss des Zweiten Senats, BVerfGE 113, 273. 8 BVerfGE 111, 307 (Beschluss des Zweiten Senats). Das OLG Naumburg, EuGRZ 2004, 749, hatte das Urteil des EGMR, EuGRZ 2004, 700 (Görgülü v. Deutschland) ignoriert. 9 BVerfGE 101, 361. Der EGMR, EuGRZ 2004, 404 (Caroline von Hannover v. Deutschland I), Rdnr. 76 ff.) sah darin einen Verstoß gegen Art. 8 EMRK. 10 Rede vom 14. 5. 2010, EuGRZ 2010, 368: „Scheidender BVerfG-Präsident warnt EGMR vor bedrohlichen Erschütterungen der Akzeptanz seiner Urteile und der Befolgungsbereitschaft“. 11 Vgl. einerseits BVerfGE 120, 280, andererseits EGMR, EuGRZ 2012, 278 (Caroline von Hannover v. Deutschland – Nr. 2) mit Anmerkung J. J. Märten, ZJS 2012, 276 und EGMR, K&R 2012, 187 (Axel Springer Verlag). Generell EGMR, 18. 1. 2011 (MGN Ltd.): Nationale Instanzen sind besser positioniert, um einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen konkurrierenden Konventionsrechten herzustellen. Zum Problem der Sicherungsverwahrung vgl. EGMR, EuGRZ 2010, 25 (M. v. Deutschland) und BVerfG, EuGRZ 2011, 297 sowie C. Grabenwarter, Die deutsche Sicherungsverwahrung als Treffpunkt grundrechtlicher Parallelwelten, EuGRZ 2012, 507 m. w. N. 12 Vgl. z. B. Eigentumsgarantie und Geldentwertung, AöR 1973, 528; Rechtsprobleme der Inflation, JuS 1974, 477; Gerichte an ihren Grenzen: Das Bundesverfassungsgericht, in: Hilf/ Kämmerer/König (Hrsg.), Höchste Gerichte an ihren Grenzen, 2007, S. 135; Die Bedeutung des Grundgesetzes im Europäischen Staatenverbund, in: Stern (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz, 2010, S. 107. 13 Interview Spiegel Online 21. 7. 2012: „Karlsruhe hat bei Euro-Rettung nicht das letzte Wort“.

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Hauptsacheentscheidung geben zu Gedanken zum Verhältnis von Recht und Politik und zur Rolle des BVerfG in Fragen der Wirtschafts- und Währungsunion Anlass. II. Prüfung der Verfassungsbeschwerden und Organklagen gegen die Zustimmungsgesetze zur Änderung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und zum sog. Fiskalpakt durch das BVerfG Aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 10. Juli 2012 lehnte der Zweite Senat des BVerfG am 12. September 201214 die Anträge der Beschwerdeführer bzw. Kläger in den Verfassungsbeschwerde- bzw. Organstreitverfahren gegen die deutschen Zustimmungsgesetze zu drei Verträgen ab, die im Rahmen der sog. „Eurorettung“ vereinbart worden waren und denen bzw. deren Entwürfen15 Bundestag und Bundesrat am 29. Juni 2012 zugestimmt hatten: Erstens zur Änderung des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) im sog. vereinfachten Verfahren (Art. 48 Abs. 6 EUV), wodurch in Art. 136 AEUVein Absatz 3 eingefügt wird.16 Danach können die derzeit 17 Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, einen „Stabilitätsmechanismus“ einrichten, „der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen.“ Zweitens zum Vertrag zur Einrichtung dieses Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESMV), der zwischen den 17 Mitgliedstaaten der Euro-Zone am 2. Februar 2012 geschlossen wurde.17 Drittens zum am 30. Januar 2012 von den 17 Mitgliedstaaten der Eurozone und acht weiteren Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) – allen außer dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland und der Tschechischen Republik – beschlossenen Vertrag über Sta14

BVerfG, EuGRZ 2012, 569. Es gibt zwar in Deutschland keine präventive Normenkontrolle, jedoch können Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen ausnahmsweise vor der Ausfertigung durch den Bundespräsidenten und Verkündung im Bundesgesetzblatt gerügt werden, wenn das Gesetzgebungsverfahren im Übrigen abgeschlossen ist, um eine Entscheidung vor der völkerrechtlichen Verbindlichkeit des Vertrages zu ermöglichen, vgl. BVerfGE 1, 396 (413 f.), 36, 1 (15) und K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, Rdnr. 129. 16 Beschluss des Europäischen Rates gem. Art. 48 Abs. 6 UAbs. 2 EUV vom 25. 3. 2011. Zustimmung Deutschlands zum Entwurf des aufgrund § 2 IntVG erforderlichen Gesetzes gem. Art. 23 Abs. 1 GG, BT-Drs. 17/9047, 17/10159. Der EuGH entschied am 27. 11. 2012 auf eine Vorlage gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV des irischen Obersten Gerichts (EuGRZ 2012, 492), dass diese Änderung im vereinfachten Verfahren ohne Einberufung eines Konvents (Art. 48 Abs. 3 EUV) erfolgen konnte (Rs. C-370/12 (Pringle), NVwZ 2013, 49). Nach Ansicht des BVerfG wurden dadurch „jedenfalls keine Kompetenzen auf die Organe der Europäischen Union übertragen“, was im vereinfachten Verfahren durch Art. 48 Abs. 6 UAbs. 3 EUV ausdrücklich ausgeschlossen ist. 17 Entwurf des Zustimmungsgesetzes zum ESMV, BT-Drs. 17/10126. 15

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bilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion“18 (SKSV), verkürzend „Fiskalpakt“ genannt. Die Einfügung des Art. 136 Abs. 3 AEUV im vereinfachten Verfahren bedurfte in Deutschland aufgrund § 2 IntVG eines Gesetzes gemäß Art. 23 Abs. 1 GG. Die völkerrechtlichen Verträge zur Gründung des ESM und zum sog. Fiskalpakt bedürfen der Zustimmung von Bundestag und ggf. Bundesrat gemäß Art. 59 Abs. 2 GG. Das BVerfG hat im Urteil vom 19. Juni 2012 zur Verletzung der Unterrichtungsrechte des Bundestages durch die Bundesregierung hinsichtlich ESM und Euro-Plus Pakt klargestellt, dass auch völkerrechtliche Verträge, die nicht die Gründungsverträge der EU ändern, aber „in einem Ergänzungs- oder sonstigen besonderen Näheverhältnis zum Recht der Europäischen Union stehen“, zu den „Angelegenheiten der Europäischen Union“ im Sinne von Art. 23 Abs. 2 GG gehören. Maßgebend dafür ist „eine Gesamtbetrachtung der Umstände, einschließlich der Regelungsinhalte, -ziele und -wirkungen“.19 Da durch die erheblichen Eingriffe in das Haushaltsrecht das Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert wird, ist gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i. V. m. Art. 79 Abs. 2 GG die Zweidrittelmehrheit von Bundestag und Bundesrat erforderlich. Beides wurde erreicht.20 Ferner wurde das Gesetz zur finanziellen Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus21 angegriffen. Entschieden ist damit zunächst allein über die Eilanträge, mit denen verhindert werden sollte, dass mit der Ratifikation der Verträge deren völkerrechtliche Verbindlichkeit eintritt. Ein später ergehendes Urteil des BVerfG wäre insoweit irrelevant (vgl. Art. 27/Art. 46 WVRK). Das BVerfG kann die Ratifikation eines völkerrechtlichen Vertrages durch eine einstweilige Anordnung gemäß § 32 BVerfGG stoppen. Bei Entscheidungen über einstweilige Anordnungen prüft das BVerfG grundsätzlich nur, ob die Anträge in der Hauptsache unzulässig oder offensichtlich unbegründet sind und belässt es bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens bei einer Folgenabwägung dahingehend, ob durch ihren Erlass oder durch ihren Nichterlass größerer Schaden eintritt. Darauf bezogen sich neben den Argumenten zur Verfassungsmäßigkeit der Zustimmungsgesetze die Ausführungen der Antragsteller wie der Antragsgegner. Während jene geltend machten, dass durch die Ratifikation wegen der völkerrechtlichen Verbindlichkeit auch für die Hauptsacheentscheidung vollendete Tatsachen geschaffen würden,22 wiesen diese (Bundestag und Bundesrat, unterstützt von der Bundesregierung) auf die Gefahren einer „deutlich verzögerten Ratifizierung“ hin, die „in der derzeit fragilen Situation mit massiven Folgen für einige Mitglied18

Entwurf des Zustimmungsgesetzes zum SKSV, BT-Drs. 17/10125. BVerfG, NVwZ 2012, 954 (958 f. und Leitsatz 1). 20 Vgl. BVerfG, EuGRZ 2012, 569 (574). Zustimmung des Bundestages zum ESMV mit 493 Ja, 106 Nein, 5 Enthaltungen, zum SKSV mit 491 Ja, 111 Nein, 6 Enthaltungen, zu Art. 136 Abs. 3 AEUV mit 504 Ja, 97 Nein, 1 Enthaltung; Zustimmung des Bundesrates mit 65 von 69 Stimmen (gegen die Stimmen Brandenburgs). 21 Entwurf des ESM-Finanzierungsgesetz – (ESMFinG) vom 29. 6. 2012, BT-Drs. 17/9048, 17, 10126. 22 Vgl. BVerfG, EuGRZ 2012, 569 (577), Nr. 166. 19

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staaten verbunden“ sei.23 Wegen der Gefahr eines Auseinanderfallens von völkerrechtlicher und verfassungsrechtlicher Bindung ist bei der Prüfung von Zustimmungsgesetzen zu völkerrechtlichen Verträgen aber darüber hinaus bereits eine summarische Prüfung der Rechtslage geboten, insbesondere dann, wenn es wie hier um die Schutzgüter des Art. 79 Abs. 3 GG geht.24 Daher wurden die materiellen Rechtsfragen bereits in der mündlichen Verhandlung relativ ausführlich erörtert. Das BVerfG hat die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit der Maßgabe abgelehnt, dass die Ratifikation des ESM-Vertrages nur erfolgen darf, wenn zugleich völkerrechtlich sichergestellt wird, dass die Regelung des Art. 8 Abs. 1 S. 1 ESMV „sämtliche Zahlungsverpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aus diesem Vertrag der Höhe nach auf die in Anhang II des Vertrages genannte Summe in dem Sinne begrenzt, dass keine Vorschrift dieses Vertrages so ausgelegt werden kann, dass für die Bundesrepublik Deutschland ohne Zustimmung des deutschen Vertreters höhere Zahlungsverpflichtungen begründet werden“ und die Regelungen der Art. 32 Abs. 5, Art. 34 und Art. 35 Abs. 1 ESMV „nicht der umfassenden Unterrichtung des Bundestages und des Bundesrates entgegenstehen“.25 Damit setzte das BVerfG seine bisherige Rechtsprechung zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Mitwirkung in der Europäischen Union und insbesondere am sog. „Rettungsschirm“26 fort: Es betont die Verantwortung des Gesetzgebers und respektiert dessen Entscheidungsspielräume, sieht den demokratisch legitimierten Gesetzgeber aber gerade wegen dieser Legitimation in der verfassungsrechtlichen Pflicht, die Kontrolle über grundlegende haushaltspolitische Entscheidungen und damit über das Budgetrecht als „zentrales Element der demokratischen Willensbildung“ auch „in einem System intergouvernementalen Regierens“ dauerhaft sicherzustellen.27 Dazu hielt es die genannten Klarstellungen für erforderlich. Soweit sich deren Inhalt aus den Verträgen ohnehin ergibt, sind sie unschädlich; wenn insoweit Zweifel bestehen, sind sie nötig. III. Die rechtliche Basis der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) der Europäischen Union und ihre Aufweichung Entgegen ihrer Bezeichnung waren der 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) mit Ausnahme der Außenwirtschaftspolitik (Gemeinsame Handelspolitik, GHP), für die sie nach der jetzt im Lissabonner Vertrag kodifizierten Rechtsprechung des EuGH28 eine ausschließliche Kompetenz besitzt,29 keine 23

Vgl. BVerfG, EuGRZ 2012, 569 (578), Nr. 176. BVerfGE, EuGRZ 2012, 569 (580), Nr. 190 ff. 25 BVerfG, EuGRZ 2012, 569: Entscheidungsformel. 26 Vgl. die Leitsätze in BVerfGE 129, 124. 27 Ebd., Leitsätze 2 und 3. 28 Vgl. dazu M. Nettesheim/J. L. Duvigneau, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 207 AEUV, Rdnr. 13 m. w. N. 24

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umfassenden Kompetenzen für die Wirtschaftspolitik übertragen worden. Auch nach dem Lissabonner Vertrag besteht allein eine Koordinierungspflicht. Die Mitgliedstaaten der EU richten „ihre Wirtschaftspolitik“ so aus, dass sie im Rahmen der vom Europäischen Rat (Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten) erörterten und vom Rat (Ressortminister) als Empfehlung verabschiedeten Grundzüge zur Verwirklichung der Ziele der Union (Art. 3 EUV) beitragen (Art. 120 AEUV). Dazu gehören insbesondere die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, das Erreichen von Vollbeschäftigung und sozialem Fortschritt, ein hohes Maß an Umweltschutz und die Verbesserung der Umweltqualität sowie die Förderung von technischem und wissenschaftlichem Fortschritt, sozialer Gerechtigkeit und sozialem Schutz, die Förderung von wirtschaftlichem und territorialem Zusammenhalt und der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Dies sind ehrgeizige Ziele, die im Realitätstest mit harten Fakten konfrontiert werden. Die Festlegung der Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten ist die Grundlage der Koordinierung. Daneben bestehen ausdrückliche haushaltswirtschaftliche Verbote für die Mitgliedstaaten.30 Dazu gehört insbesondere die Pflicht, übermäßige Defizite zu vermeiden (Art. 126 Abs. 1 AEUV). Diese werden im Defizitprotokoll des Vertrags von Maastricht dahingehend definiert, dass die Neuverschuldung 3 % und der Gesamtschuldenstand 60 % nicht übersteigen darf. Uneingeschränkt gilt dies für die Mitgliedstaaten der Euro-Zone. Überwacht wird dies von der Kommission, die dem Rat ggf. entsprechende Beschlüsse vorschlägt, die bis hin zu Geldbußen als Sanktionen reichen. Die konkreten Instrumente des sog. Defizitverfahrens wurden im sog. Stabilitäts- und Wachstumspakt vom 17. Juni 199731 in dem Bestreben präzisiert, die Vermeidung übermäßiger öffentlicher Defizite auch nach dem Eintritt in die dritte Stufe der WWU zu sichern. Denn es nützt nichts, wenn die Kriterien für den Beitritt zur Eurozone nur in diesem Zeitpunkt erfüllt sind, was bei Griechenland wegen eigentlich ersichtlich falscher Daten nicht der Fall war, sondern sie müssen dauerhaft erfüllt sein, soll die Eurozone als Währungsunion funktionieren. Diese sog. Konvergenzkriterien sind in Art. 140 AEUV und in einem Protokoll dazu32 festgelegt: Hoher Grad an Preisstabilität, auf Dauer tragbare Finanzlage der öffentlichen Hand, also kein übermäßiges Defizit, Einhaltung der normalen Bandbreiten des Europäischen Währungssystems seit mindestens zwei 29

Art. 3 Abs. 1 lit. e , Art. 207 AEUV. Vgl. dazu R. Streinz, Europarecht, 9. Aufl. 2012, Rdnr. 1090 m. w. N. 31 Entschließung des Europäischen Rates vom 17. 6. 1997, ABl. 1997 C 236/1; Erklärung des Rates vom 1. 5. 1998, ABl. 1998 C 139/28; VO 1466/97/EG des Rates über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken (ABl. 1997 L 209/1) und VO 1467/97/EG des Rates über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit (ABl. 1997 L 209/6). Zu den Änderungen siehe u. Fußn. 35 und 36. 32 Protokoll (Nr. 12) über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit (Defizitprotokoll 1992), konsolidierte Fassung in ABl. 2010 C 83/279. Siehe zur Auslegung des Begriffs auch VO 429/2009 (ABl. 2009 L 145/1). 30

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Jahren vor dem Beitritt sowie ein durchschnittlicher langfristiger nominaler Zinssatz, der im Jahr vor dem Beitritt nicht mehr als 2 % über dem entsprechenden Satz in den höchstens drei Mitgliedstaaten mit dem besten Ergebnis bei der Preisstabilität liegt. Die Regelungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts haben sich als nicht hinreichend wirksam erwiesen, weil sie nicht konsequent beachtet und Verstöße nicht konsequent geahndet wurden. Ein gravierender „Sündenfall“ war die Ablehnung des Vorschlags der Kommission durch den Rat, gegen Deutschland und Frankreich, die 2002 und 2003 gegen das Verbot übermäßiger öffentlicher Defizite verstießen, die nächste Stufe des Defizitverfahrens einzuleiten.33 Der EuGH gab der Klage der Kommission nur teilweise Recht, im entscheidenden Punkt erklärte er die Klage für unzulässig.34 Der Stabilitäts- und Wachstumspakt wurde 2005 „flexibler“ gemacht, d. h. letztlich aufgeweicht.35 Ob die zuletzt vorgenommenen Verschärfungen36 Wirkung zeigen werden, bleibt abzuwarten. Gravierender wird die rechtliche Basis der WWU als „Stabilitätsgemeinschaft“, nach dem Maastricht-Urteil des BVerfG von 1993 die Geschäftsgrundlage, die allein die Mitwirkung Deutschlands an der WWU rechtfertigte,37 durch die Maßnahmen in Frage gestellt, die im Rahmen der sog. „Eurorettung“ ergriffen wurden. Im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise nach der sog. Lehman-Pleite, aber basierend auf jahrelanger Misswirtschaft, die durch die EU noch mehr oder weniger gefördert oder zumindest verdeckt wurde, gestand Griechenland nach einem Regierungswechsel ein, die Daten sowohl beim Beitritt zur WWU im Jahr 2001 als auch danach gefälscht 33

Vgl. dazu R. Streinz/C. Ohler/C. Herrmann, Totgesagte leben länger. Oder doch nicht?, NJW 2004, 1553. Das Defizitverfahren gegen Deutschland wurde eingestellt, nachdem Deutschland unter der „Großen Koalition“ aus CDU/CSU und SPD, die nach den Bundestagswahlen 2005 die von SPD und Grünen getragene Regierung ablöste, das Defizitkriterium erfüllt hat und wegen Steuererhöhungen und guter Konjunktur 2007 sogar einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen konnte. 34 EuGH, Rs. C-27/04 (Kommission/Rat), Slg. 2004, I-6649. 35 VO 1055/2005 und VO 1056/2005 des Rates vom 27. 6. 2005 (ABl. 2005 L 174/1 bzw. 2005 L 174/5. Kritisch dazu U. Häde, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 126 AEUV, Rdnr. 112 ff. 36 VO 1175/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates und VO 1177/2011 des Rates vom 8. 11. 2011 (ABl. 2011 L 306/12 bzw. ABl. 2011 L 306/33). Vgl. zum sog. „Sixpack“ und zum neuen Defizitverfahren M. Herdegen, Europarecht, 14. Aufl. 2012, § 23, Rdnr. 6 und S. 396 f. 37 BVerfGE 89, 155 (205): „Diese Konzeption der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft ist Grundlage und Gegenstand des deutschen Zustimmungsgesetzes. Sollte die Währungsunion die bei Eintritt in die dritte Stufe vorhandene Stabilität nicht kontinuierlich im Sinne des vereinbarten Stabilisierungsauftrags fortentwickeln können, so würde sie die vertragliche Konzeption verlassen“. Vgl. dazu Herdegen (o. Fußn. 36), § 23, Rdnr. 24, mit zutreffender methodischer Kritik an der Austrittsmöglichkeit, auf die BVerfGE 97, 350 nicht mehr rekurrierte. Art. 50 EUV sieht einen Austritt nur aus der EU insgesamt vor. Zu weiteren Möglichkeiten des Ausscheidens aus der Eurozone vgl. Herdegen, ebd. Rdnr. 55 f. und (hinsichtlich Griechenland) C. Herrmann, Griechische Tragödie – der währungsrechtliche Rahmen für die Rettung, den Austritt oder den Ausschluss von überschuldeten Staaten aus der Eurozone, EuZW 2010, 413 (416 ff.).

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zu haben und dass es seinen kurz- und mittelfristigen Finanzbedarf im Jahr 2010 nicht mehr am Markt eigenständig decken könne.38 Da diese prekäre Lage als Gefährdung der Stabilität des Euro eingeschätzt wurde, erhielt Griechenland bilaterale Kreditgarantien. Im Mai 2010 wurde ein 750 Mrd Euro umfassender Finanzstabilisierungsmechanismus, der sog. „Euro-Rettungsschirm“ verabschiedet, der Mitgliedstaaten, die sich am Kapitalmarkt nicht mehr oder jedenfalls nicht mehr zu tragbaren Konditionen refinanzieren können, über die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) und den Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) zur Verfügung stehen soll.39 Neben Griechenland traf dies bisher auf Irland und Portugal zu.40 Die Vergabe der Kredite ist an wirtschaftspolitische Bedingungen geknüpft, die die politische Gestaltungsfreiheit der betreffenden Staaten erheblich einschränken und zu entsprechenden Problemen führen. Rechtlich ist das Demokratieprinzip berührt, tatsächlich ist die Durchsetzung der geforderten Reformen schwierig. Dies betrifft vor allem die besonders unpopulären Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen, wobei das gleichmäßige und zuverlässige und damit gerechte Eintreiben von Steuern wichtiger ist als die Festsetzung irgendwelcher mangels Vollzug letztlich irrelevanter Steuersätze. Noch wichtiger sind freilich Strukturreformen, die die Wettbewerbsfähigkeit der betreffenden Staaten – deren Lage sehr differenziert gesehen werden muss – verbessern bzw. überhaupt erst herstellen. Hier stößt man auf Widerstände derjenigen, die von bestehenden Zunft- oder Klientelsystemen profitiert haben, wobei der Protest gegen die entschädigungslose Entwertung erheblicher Investitionen auf ein gewisses Verständnis stoßen kann. Durch den ESM-Vertrag soll der Europäische Stabilitätsmechanismus eine dauerhafte Einrichtung werden. Ein weiteres Problem ist die für die WWU essentielle Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank (EZB), die manche durch umstrittene Aktivitäten wie die Käufe von Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt gefährdet sehen.41 Unionsrechtlich ist der Euro-Rettungsschirm im Hinblick auf die sog. No-bailout-Klausel (Art. 125 Abs. 1 AEUV) problematisch, die jedenfalls ursprünglich und zumindest in Deutschland Geschäftsgrundlage der WWU war.42 Danach haften weder die Union noch die Mitgliedstaaten für die Verbindlichkeiten anderer Mitgliedstaaten und treten auch nicht dafür ein.43 Allenfalls dann, wenn ohne Stützungs-

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Vgl. BVerfGE 129, 124 (128 ff.) m. w. N. VO 407/2010 zur Einführung eines europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (ABl. 2010 L 118/1), gestützt auf Art. 122 Abs. 2 AEUV. Vgl. dazu BVerfG, NJW 2010, 2418 (2418 f.). 40 Vgl. dazu K.-D. Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, 5. Aufl. 2012, Rdnr. 870. 41 Dabei sind rechtliche und rechtspolitische Bewertung auseinanderzuhalten. 42 Siehe o. Fußn. 37; bestätigt in BVerfGE 129, 124 (Leitsatz 4, Satz 3). 43 Vgl. zum Zweck dieser Klausel Streinz (o. Fußn. 30), Rdnr. 1097 m.w.N. 39

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maßnahmen der Euro als Währung insgesamt gefährdet wäre,44 lässt sich eine teleologische Reduktion dieser Klausel rechtfertigen.45 Denn zur Stabilität einer Währung gehört auch ihr Bestand. Allerdings ist vor einer allzu ausufernden Anwendung dieser Rechtfertigungslinie zu warnen.46 Dass den Mitgliedstaaten selbst insoweit unwohl war, wird dadurch bestätigt, dass sie zur Einführung des ESM eine Vertragsänderung für erforderlich hielten, zumindest zur Klarstellung.47 Der eingefügte Art. 136 Abs. 3 AEUV lässt eine Relativierung des No-bail-out zu, wobei Kreditvergaben allerdings an „strenge Auflagen“ gebunden sein sollen. Nach bisherigen Erfahrungen ist gegenüber der Wirkkraft solcher allgemeiner Vorgaben Misstrauen angebracht. In einer generellen Vorschrift dürfte sich eine präzisere Formulierung aber kaum finden lassen. Dies muss der Umsetzung in der Praxis überlassen bleiben. Verbunden werden soll der ESM mit dem sog. Fiskalpakt (SKSV), der insbesondere die Verankerung sog. Schuldenbremsen in den Rechtsordnungen – möglichst wie in Deutschland (vgl. Art. 115 GG) in den Verfassungen – der Mitgliedstaaten vorsieht (Art. 3 SKSV). Das wirksamste Instrument dürfte dabei sein, dass Mittel aus dem ESM nur erhält, wer den Fiskalpakt einhält. Die Frage ist, ob die Schuldenbremse nur auf dem Papier steht oder ob tatsächlich „gebremst“ werden muss und wer dies nachprüft. Die in Art. 8 Abs. 2 SKSV vorgesehene Kontrolle des EuGH bezieht sich offenbar allein auf die Einfügung der betreffenden Bestimmung in das jeweilige nationale Recht, nicht auf eine (auch nur eingeschränkte) Kontrolle ihrer tatsächlichen Umsetzung.48 Dies führt zu den generellen Problemen der rechtlichen Kontrolle wirtschaftlicher Vorgänge.

44 Diesen Tatbestand sieht Häde, Die europäische Währungsunion in der internationalen Finanzkrise – An den Grenzen europäischer Solidarität?, EuR 2010, 854 (859 f.) im Fall Griechenlands als gegeben. 45 Häde (o. Fußn. 35), Art. 125 AEUV, Rdnr. 7 f. in Abweichung von der 3. Aufl. 2007, Art. 103 EGV, Rdnr. 8. Ähnlich Herdegen (o. Fußn. 36), § 23, Rdnr. 9: Sicherung der Stabilität der Europäischen Währung im Eigeninteresse aller Mitgliedstaaten. 46 Streinz (o. Fußn. 30), Rdnr. 1089. 47 Für lediglich klarstellende Wirkung hinsichtlich Art. 125 AEUV die Bundesregierung, vgl. BVerfG, EuGRZ 2012, 569 (577), Nr. 169. Nach Ansicht des BVerfG bedeutet die Einführung von Art. 136 Abs. 3 AEUV „zwar eine grundlegende Umgestaltung der bisherigen Wirtschafts- und Währungsunion“ (ebd., S. 584, Nr. 232 m.w.N.), gebe die „stabilitätsgerichtete Ausrichtung der Währungsunion“ jedoch nicht auf (ebd., S. 585, Nr. 233). 48 Vgl. C. Antpöhler, Emergenz der europäischen Wirtschaftsregierung. Das Six Pack als Zeichen supranationaler Leistungsfähigkeit, ZaöRV 2012, 353. Gegenüber realen „Defizitsündern“ dürfte dieses Verfahren (vgl. K. von Lewinski, Nationale und internationale Staatsverschuldung, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. X, 2012, § 217, Rdnr. 50 f.) jedenfalls nicht die Wirkung haben, die man sich von deutscher Seite davon verspricht.

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IV. Probleme der rechtlichen Kontrolle wirtschaftlicher Vorgänge Die rechtliche und vor allem die gerichtliche Kontrolle wirtschaftlicher Vorgänge stößt auf eine Reihe besonderer Probleme. Die gegenwärtige – positiv ausgedrückt – Polyphonie volkswirtschaftlicher Experten verdeutlicht die Komplexität des Gegenstands. Dabei treffen nicht nur unterschiedliche Lehrmeinungen und „Schulen“ aufeinander, oft bestimmt durch mehr oder weniger leicht zu durchschauende finanzielle Interessen jeweiliger Auftraggeber, sondern es besteht das generelle Problem von Prognosen, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen. Nichts zeigt dies deutlicher als die auf Prognosen gerichteten Fragen hinsichtlich der Wirkung einer Entscheidung des BVerfG auf die Zukunft des Euro. Deutlich wurde dies in den Antworten der vom BVerfG angehörten Sachverständigen.49 Bei der Analyse vergangener Entwicklungen fehlt naturgemäß jeweils die Realalternative, was die Bewertung von Alternativen auf Plausibilitätsargumente beschränkt. Wirtschaftliche Vorgänge lassen sich daher, auch bei der interdisziplinären Einbeziehung des jeweiligen Sachverstands, nur begrenzt regeln. Es bleibt ein spezifisches Restrisiko. So war auch die WWU ein Wagnis, das man mit flankierenden Maßnahmen wie der Unabhängigkeit der EZB und der Instrumente zur Gewährleistung der Stabilität einhegen wollte, und das zu verantworten Sache der Politik, nicht des BVerfG war.50 Auf Plausibilitätsargumente beschränkt bleibt auch die Antwort auf die Frage nach der Wahrscheinlichkeit eines Haftungsfalls, des Bail-outs, und dessen Tragbarkeit, schließlich auch auf die Frage, ob ein Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone vorteilhaft oder nachteilig wäre, und zwar sowohl für Griechenland als auch für die Eurozone insgesamt. Die Komplexität des Gegenstandes, die Unwägbarkeiten der künftigen Entwicklung und der notwendige Gestaltungsspielraum der Akteure lassen oft nur wenig präzise rechtliche Vorgaben zu, die Spielräume für Interpretationen sog. unbestimmter Rechtsbegriffe – bis hin zu Umgehungen der Vorgaben – eröffnen. Ein Beispiel ist die Diskussion über Inhalt und Tragweite des sog. No-bail-out, d. h. des Grundsatzes, dass weder die Union noch ein Mitgliedstaat die Haftung für die Schulden eines anderen Mitgliedstaates übernimmt. Ein Beispiel sind auch die unterschiedlichen Interpretationen der Beschlüsse des Europäischen Rates vom 29. Juni 201251 durch den italienischen Ministerpräsidenten Mario Monti und durch die deutsche Bundeskanz49

Vgl. BVerfG, EuGRZ 2012, 469 (579), Nr. 188. Gehört wurden u. a. zu den Risiken eines verspäteten Inkrafttretens des ESM der Präsident der Deutschen Bundesbank Jens Weidmann, der Präsident des Bundesrechnungshofs Dieter Engels, Rolf Strauch und Ralf Jansen von der EFSF und die Wirtschaftswissenschaftler Clemens Fuest von der Universität Oxford und Hans-Werner Sinn vom Münchener IFO-Institut. 50 So ausdrücklich BVerfGE 89, 155 (207): „keine verfassungsrechtliche sondern eine politische Frage“. „Die Währungsunion ohne eine gleichzeitige oder unmittelbar nachfolgende politische Union zu vereinbaren und ins Werk zu setzen, ist eine politische Entscheidung, die von den dazu berufenen Organen politisch zu verantworten ist“. 51 Vgl. EU-Nachrichten Nr. 11/2012.

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lerin Angela Merkel. Beide interpretierten die Ergebnisse sicherlich für das Publikum und für die Parlamentarier zu Hause: Monti, um sein Konsolidierungsprogramm durchzubringen, Merkel, um den Deutschen Bundestag zu beruhigen. Vertrauenserweckend ist dies nicht, weder für die Öffentlichkeit noch für die „Märkte“. Ob die in Art. 115 GG eingeführte „Schuldenbremse“, die übrigens kein Gebot zum Abbau bestehender Schulden enthält,52 oder gar die im Fiskalpakt für die Vertragsparteien vorgesehenen Schuldenbremsen wirklich greifen, bleibt fraglich. Warum sollen die neuen Regeln besser funktionieren als die alten, an die man sich nicht gehalten hat? Schließlich liegt das Problem in der Interessenlage der Kontrollierten, d. h. der politischen Organe und damit der Politiker. Sparmaßnahmen und Einschränkungen sind unpopulär, das musste schon damals der deutsche Bundeskanzler Ludwig Erhardt erfahren, als er zum „Maß halten“ aufforderte,53 und so ging und geht es allen Politikern, selbst wenn Konsolidierungsmaßnahmen unerlässlich sind, um mittel- und langfristig erfolgreich zu sein. „Eher legt sich ein Hund einen Wurstvorrat an als eine demokratische Regierung eine Budgetreserve“.54 Der sog. „Juliusturm“ in der deutschen Nachkriegszeit55 war eine Ausnahme. Symptomatisch ist die Zweckentfremdung von Pensionsrückstellungen.56 V. Der Verfassungsauftrag zur Mitwirkung Deutschlands an der Europäischen Union und seine verfassungsrechtlichen Bedingungen und Grenzen Der Präsident des BVerfG, Andreas Voßkuhle, hat zum Auftakt der Verhandlung vor dem BVerfG am 10. Juli 2012 festgestellt: „Europa fordert den demokratischen Verfassungsstaat ebenso wie der demokratische Verfassungsstaat Europa fordert. Wer dieses Verhältnis zu einer Seite auflöst, verliert die andere!“57 Damit wird das zum Ausdruck gebracht, was Art. 23 GG vorschreibt. Dieser „Europaartikel“ ist seit der im Zusammenhang mit dem Vertrag von Maastricht erfolgten Ersetzung des „Wiedervereinigungsartikels“, der nach der deutschen Wiedervereinigung als inhaltlich erfüllt obsolet wurde, Grundlage und Grenze der Integration der Bundesrepublik Deutschland in die Europäische Union: „Zur Verwirklichung eines vereinten 52

Kritisch dazu H. Siekmann, in: Sachs (o. Fußn. 2), Art. 115 GG, Rdnr. 2, 8 ff. Rundfunkansprache vom 21. 3. 1962: „Wir können nicht doppelt soviel verdienen, wie wir an Werten schaffen“(hier zitiert nach. Das Kalenderblatt, KW 18/2002). Die Löhne waren um 10 % gestiegen, die Produktivität nur um 5 %, 1966 trat Erhard zurück. 54 Dies wird J. A. Schumpeter zugeschrieben. 55 Unter Finanzminister Fritz Schäffer erzielte Überschüsse des Bundeshaushalts zwischen 1953 bis 1957. Die Bezeichnung bezieht sich auf den Juliusturm der Zitadelle Spandau, in dem ein Teil der Entschädigungen, die Frankreich nach dem Krieg 1870/71 zu zahlen hatte, eingelagert wurden. 56 Vgl. § 14a BBesG i. V. m. dem Versorgungsrücklagengesetz (VersRücklG) des Bundes und entsprechenden Regelungen der Länder. 57 Zitiert nach SPIEGEL ONLINE 10. 7. 2012. 53

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Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit“. Dies ist eine Staatszielbestimmung und ein rechtsverbindlicher Auftrag, der den Grundsatz der offenen Staatlichkeit konkretisiert. Das BVerfG hat im Lissabon-Urteil ausdrücklich festgestellt, dass es „nicht im Belieben der deutschen Verfassungsorgane“ steht, „sich an einer europäischen Integration zu beteiligen oder nicht. Das Grundgesetz will eine europäische Integration und eine internationale Friedensordnung. Es gilt deshalb nicht nur der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit, sondern auch der Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit“.58 Dies setzt der Wahrnehmung des jetzt ausdrücklich in Art. 50 EUV verankerten Austrittsrechts aus der EU verfassungsrechtliche Schranken, ohne dieses gänzlich auszuschließen. Im Maastricht-Urteil hatte das BVerfG angenommen, dass die Vorgaben des Maastricht-Vertrags, die das Stabilitätsziel zum Maßstab der Währungsunion machen und dies durch institutionelle Vorkehrungen sicherzustellen suchen, beim Scheitern der „Stabilitätsgemeinschaft“ als „ultima ratio“ „einer Lösung aus der Gemeinschaft nicht entgegenstehen“. Für die politische Umsetzung des Integrationsauftrags bestehen weite Gestaltungsspielräume. Grenzen sind einerseits eine grundsätzlich integrationsfeindliche Politik, andererseits die Schranken der Integrationsermächtigung.59 Die materiellen Schranken der Integrationsermächtigung legt Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG durch die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Union fest, in der Deutschland mitwirken darf. Diese Anforderungen sind binnengerichtet, d. h. sie binden die deutschen Staatsorgane. Sie müssen sich aber auf der Ebene der EU entfalten, die „demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet“ sein und „einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz“ gewährleisten muss. Dabei wird keine deckungsgleiche Übereinstimmung mit dem Grundgesetz, sondern allein eine der besonderen Struktur der EU als Union der Staaten und der Bürger angepasste „Grundsatzkongruenz“ gefordert.60 Nur an einer solchen Union darf Deutschland mitwirken, nur auf sie kann der Bund durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte, d. h. Kompetenzen der Legislative (Europäisches Parlament und Rat), Exekutive (Europäische Kommission) und Judikative (Gerichtshof der Europäischen Union), übertragen (Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG). Dies ist auch in erheblichem Umfang geschehen. Das BVerfG hat dieser Übertragung von Hoheitsrechten aber auch inhaltliche Grenzen gesetzt, die mit dem Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG begründet werden, das auch gegenüber dem verfassungsändernden Gesetzgeber durch die sog. „Ewigkeitsklausel“ (Art. 79 Abs. 3 GG) geschützt wird, auf die Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG verweist. Dem Deutschen Bundestag müssten „eigene Aufgaben und Befugnisse von substantiellem politischem Gewicht“ verbleiben, die dem Bundestag verantwortliche Bundesregierung müsse „maßgeblichen Einfluss auf die europäischen 58

BVerfGE 123, 267 (346 f.). Vgl. R. Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 23, Rdnr. 11 m.w.N. 60 Vgl. dazu ebd., Rdnr. 20 ff.

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Entscheidungsverfahren“ ausüben können.61 Dies bedeute „für sich genommen nicht, dass eine von vornherein bestimmbare Summe oder bestimmte Arten von Hoheitsrechten in der Hand des Staates bleiben müssten“.62 In der Tat: Mit der Währungshoheit wurde mit zwar an Bedingungen geknüpfter, letztlich aber erfolgter Billigung des BVerfG im Maastricht-Urteil ein für die staatliche Souveränität grundlegendes Recht übertragen (Souverän ist, wer Geld drucken darf). Den Mitgliedstaaten müsse aber „ein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse“ bleiben, und zwar sowohl wegen des Grundrechtsschutzes als auch wegen der politischen Partizipation der Bürger. Als besonders „sensible Gebiete“ nennt das BVerfG „unter anderem die Staatsbürgerschaft, das zivile und militärische Gewaltmonopol, Einnahmen und Ausgaben einschließlich der Kreditaufnahme sowie die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Eingriffstatbestände, vor allem bei intensiven Grundrechtseingriffen wie dem Freiheitsentzug in der Strafrechtspflege oder bei Unterbringungsmaßnahmen“, aber auch „kulturelle Fragen wie die Verfügung über die Sprache, die Gestaltung der Familienund Bildungsverhältnisse, die Ordnung der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit oder der Umgang mit dem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis“.63 An dieser „Staatsaufgabenlehre“ ist Kritik geübt worden,64 sie mag auch einem Gemischtwarenladen ähneln, aber das BVerfG hat doch wesentliche Bereiche angesprochen, insbesondere das im Zusammenhang mit der WWU relevante Budgetrecht des Bundestages, das als „Königsrecht“ (ein etwas kurioser Begriff für eine republikanische Einrichtung wie die Volksvertretung) der Parlamente beim Bundestag verbleiben muss. Ob dies noch hinreichend gewährleistet ist oder ob die angegriffenen Regelungen dieses Budgetrecht aushöhlen, dies ist die entscheidende Frage, die sich dem BVerfG stellt. Ist Letzteres der Fall, steht wegen der Bedeutung der Budgethoheit auch die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland in Frage. Das Aufgehen in einem europäischen Bundesstaat und der damit verbundene Verlust der Staatlichkeit überschreitet nach Ansicht des BVerfG die Kompetenzen des Verfassungsgesetzgebers („pouvoir constitué“), also Bundestag und Bundesrat mit jeweils Zweidrittelmehrheit, und obliege dem Verfassungsgeber („pouvoir constituant“), dem Volk, das diese Entscheidung in freier Selbstbestimmung treffe, indem es das Grundgesetz durch eine neue Verfassung ablöse (Art. 146 GG).65 Das BVerfG hat diesen „Identitätswechsel“ zwar an die Übertragung der sog. Kompetenz-Kompetenz, d. h. die Übertragung der Befugnis auf die EU, eigenständig ohne die Zustimmung 61

BVerfGE 123, 267 (356). Vgl. bereits BVerfGE 89, 155 (186). BVerfGE 123, 267 (357). 63 BVerfGE 123, 267 (358). 64 Vgl. C. Calliess, Das Ringen des Zweiten Senats mit der Europäischen Union: Über das Ziel hinausgeschossen, ZEuS 2009, 349 (570 ff.); C. Schönberger, Lisbon in Karlsruhe: Maastricht’s Epigones at Sea, GLJ 2009, 1201 (1210 f.); A. von Bogdandy, Prinzipien der Rechtsfortbildung im europäischen Rechtsraum. Überlegungen zum Lissabon-Urteil des BVerfG, NJW 2010, 1 (3 f.); C. D. Classen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl. 2010, Art. 23, Rdnr. 29 m. w. N. 65 BVerfGE 123, 267 (331 f.). 62

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aller Mitgliedstaaten neue Kompetenzen zu begründen, geknüpft und davon die „reservierten“ Befugnisse des Bundestags ausdrücklich unterschieden. Ohne wirksames Budgetrecht entfällt aber jede Möglichkeit politischer Gestaltung und damit ein wesentliches Element der Staatlichkeit, so dass dies dem Verlust der Staatlichkeit gleichzustellen wäre. Das BVerfG hat für die Einhaltung der Schranken der Integrationsermächtigung als Maßstäbe die in einem „Kooperationsverhältnis“ mit dem EuGH ausgeübte Grundrechtskontrolle, die Ultra-vires-Kontrolle (Überschreitung der der Union übertragenen Kompetenzen) und zuletzt die Identitätskontrolle (Verletzung verfassungsrechtlicher Essentialia) entwickelt. Diese Kontrolle wurde so „europarechtsfreundlich“ ausgeübt, die verfassungsrechtliche Latte immer so tief gehängt, dass die konkret angegriffene Regelung darüber springen konnte.66 Allein die Vorratsdatenspeicherung hätte im Rahmen der Identitätskontrolle, hier in deren Unterfall der Grundrechtskontrolle, Probleme bereiten können, und vielleicht deshalb hat das BVerfG die Frage dem EuGH nicht vorgelegt,67 sondern die unionsrechtlichen Vorgaben der Richtlinie im Einklang mit der Verfassung selbst ausgelegt und die Möglichkeit einer zugleich richtlinienkonformen wie verfassungskonformen Umsetzung in deutsches Recht konstatiert.68 Im Lissabon-Urteil und den bisherigen „Rettungsschirm“Entscheidungen hat es die unionsrechtlichen Bereiche verfassungsrechtlich nicht beanstandet und statt dessen die deutschen Begleitgesetze wegen zu geringer Beteiligung des Bundestages – der diese ja selbst beschlossen hatte und insoweit „zum Jagen getragen“ werden musste – für verfassungswidrig und daher nachbesserungsbedürftig erklärt. Zugleich hat das BVerfG die Verantwortung der politischen Entscheidungsträger und deren Einschätzungsprärogative betont. Diesen Weg hat es im Urteil vom 12. September 2012 fortgesetzt. VI. Politische Gestaltungsfreiheit und normative Kraft der Verfassung – Die Rolle des BVerfG im politischen System der Bundesrepublik Deutschland Kein Wunder, dass in einer solch brisanten Situation die Frage nach der Rolle des BVerfG im politischen System der Bundesrepublik Deutschland aufgeworfen wird.

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Vgl. dazu W. Durner, Verfassungsbindung deutscher Europapolitik, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. X, 2012, § 216, Rdnr. 11 ff., 14 m.w.N. 67 Hält das BVerfG eine unionsrechtliche Regelung für mit dem GG unvereinbar, muss es zuvor dem EuGH durch eine Vorlage gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV Gelegenheit geben, den möglichen Konflikt auszuräumen, so ausdrücklich jetzt BVerfGE 126, 186 (304) – Honeywell. Vgl. dazu bereits R. Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989, S. 157 m.w.Nw. 68 BVerfGE 125, 260 (308 f., 247 ff.); abw. M. ebd., S. 364 ff. Das BVerfG hat sich allerdings ausdrücklich auf die Rechtsprechung des EuGH (Rs. C-301/06 (Irland/Rat und Europäisches Parlament), Slg. 2009, I-593) berufen. Vgl. dazu Streinz (o. Fußn. 30), Rdnr. 251.

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Das BVerfG ist zwar nicht der alleinige „Hüter der Verfassung“.69 Alle Verfassungsorgane sind dazu berufen: Die Bundesregierung hat die Verfassungsmäßigkeit der von ihr eingebrachten Gesetze zu überprüfen, bei Zustimmungsgesetzen zu völkerrechtlichen Verträgen diese vor ihrer Unterzeichnung. Bundestag und Bundesrat obliegt diese Pflicht bei der Beschlussfassung, dem Bundespräsidenten im Rahmen seines Prüfungsrechts. Aber das BVerfG ist der letzte und damit entscheidende „Hüter der Verfassung“. Seine Entscheidungen sind im Verfassungsprozess endgültig. Sie können ggf. allein auf völkerrechtlicher Ebene durch Individualbeschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg angegriffen werden (Art. 34 EMRK) oder durch vorrangiges Unionsrecht verdrängt werden, und dies verfassungsrechtlich auch nur, soweit das Grundgesetz dies zulässt.70 Diese Stellung des BVerfG bringt es zwangsläufig in Konfliktlagen mit den Kontrollierten, und dies umso mehr, je „politischer“ und bedeutsamer der Fall ist. Konrad Adenauer hielt das Fernsehurteil71 für „falsch“, man habe sich die Einrichtung des BVerfG nicht so gedacht.72 Drastischer ist die Äußerung eines personell nicht zuverlässig identifizierten Politikers vor dem Grundlagenvertragsurteil.73 Aber auch die betroffenen Bürger reagieren: Nach dem (ersten) Urteil zu § 218 StGB (Schwangerschaftsabbruch)74 kam als Reaktion, die Frauen würden sich daran nicht halten. Der sog. „Kruzifix“-Beschluss75 führte zu von der bayerischen Staatsregierung unterstützten Demonstrationen.76 Das „Soldaten sind Mörder“-Urteil77 erfuhr überwiegend heftige Kritik. Jetzt stand und (hinsichtlich des Hauptsacheverfahrens) steht das BVerfG vor der Verantwortung, eine verfassungskonforme Entscheidung zu treffen, die weitreichende wirtschaftliche Folgen haben kann, und dies – das wird häufig unterschlagen – in beide Richtungen. Denn ob die „Eurorettung“ den Euro rettet oder letztlich ruiniert ist schwer einzuschätzen. Das BVerfG trifft eine an den Maßstäben des Verfassungsrechts orientierte Entscheidung, die es allerdings selbst konkretisiert und konkretisieren muss. „We are 69 Vgl. dazu H. J. Papier, Das Bundesverfassungsgericht als Hüter der Grundrechte, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. III, 2009, § 80, Rdnr. 2 m.w.N. 70 Vgl. zum Verhältnis des BVerfG zum EuGH und zum EGMR H.-J. Papier, Gerichte an ihren Grenzen: Das Bundesverfassungsgericht, in: Hilf/Kämmerer/König (Hrsg.), Höchste Gerichte an ihren Grenzen, 2007, S. 135 (136 ff., 148 ff.). 71 BVerfGE 12, 205. 72 Vgl. dazu H. Vorländer, Regiert Karlsruhe mit? Das Bundesverfassungsgericht zwischen Recht und Politik, APuZ 35 – 36/2011, 15 (15). 73 BVerfGE 36, 1. Vgl. dazu U. Wesel, Der Gang nach Karlsruhe, 2004, S. 244. 74 BVerfGE 39, 1. Nach der Wiedervereinigung modifiziert durch BVerfGE 88, 203. Vgl. dazu G. S. Schaal, Das Bundesverfassungsgericht als Motor gesellschaftlicher Integration?, APuZ 35/36 – 2011, 29 (34). 75 BVerfGE 93,1. 76 Vgl. dazu Vorländer (o. Fußn. 72), 15 f. 77 BVerfGE 93, 266.

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under a Constitution, but the Constitution is what the judges say what it is, and the judiciary is the safeguard of our liberty and of our property under the Constitution“.78 Wer eine Verfassungsgerichtsbarkeit, die als Krone des Rechtsstaats bezeichnet wird, einschließlich der Normenkontrolle will, muss akzeptieren, dass ggf. acht Richter die Entscheidung von Zwei Dritteln des Bundestages und des Bundesrates aufheben. Das BVerfG trifft zwar keine politische Entscheidung, aber eine Entscheidung mit Folgen für die Politik, und es berücksichtigt diese Folgen – nicht parteipolitisch, aber nicht unter Ausblendung politischer Erwägungen. Der politische Charakter einer Streitsache befreit das BVerfG, anders als den US Supreme Court durch die political question-Doktrin,79 nicht von der Pflicht, die ihm in zulässiger Weise (und die auf Art. 38 GG gestützten Verfassungsbeschwerden sind nach dem Maastricht-Urteil zulässig) unterbreiteten Fälle zu entscheiden. Es ist nicht dadurch fachlich überfordert, dass auch Fachfragen aus der Wirtschaft bei der rechtlichen Beurteilung eine Rolle spielen. Durch die Anhörung von Sachverständigen80 und entsprechende Zuarbeiten ist das BVerfG jedenfalls nicht weniger kompetent als der Bundestag, dessen Befassung mit Europafragen ohnehin kritischer Würdigung bedarf, oder die europäischen Institutionen Europäischer Rat und Europäisches Parlament. Es bemüht sich gerade in Fragen der Europapolitik und der Außenpolitik durch richterliche Zurückhaltung („judicial self-restraint“), die hier nicht nur der Einschätzungsprärogative der Bundesregierung und des Gesetzgebers sondern auch der Besonderheit des Gegenstandes geschuldet ist, dass bei der Verhandlung mit anderen Staaten und innerhalb 27 Mitgliedstaaten der EU bzw. 17 Mitgliedstaaten der Eurozone Kompromisse geschlossen werden müssen. Das BVerfG bedarf insoweit keiner Belehrungen oder gar Drohungen. Warnungen vor befürchteten Folgen wie die des deutschen Finanzministers81 sind ebenso als Einschätzungen einer Streitpartei legitim wie die gegenteiligen Warnungen der Beschwerdeführer. Das BVerfG darf sich dadurch nicht unter Druck setzen lassen, und es scheint dies auch nicht zu tun. Zutreffend hält der Präsident des BVerfG, Andreas Voßkuhle fest: „Die Verfassung gilt auch in der Krise“.82 VII. Fazit und Ausblick Recht und Politik sind aufeinander bezogen und stehen in einem Spannungsverhältnis. Im demokratischen Staat wird das Recht von der demokratisch gewählten 78

Charles Evans Hughes, Rede, Elmira, N.Y., 3. 5. 1907. Zitiert nach R. Shapiro, The Oxford Dictionary of American Legal Quotations, 1993, S. 216. Ebd. eine Klarstellung von Hughes gegenüber Fehlinterpretationen des aus dem Zusammenhang gerissenen Satzes. Es ging ihm um „the essential function of the courts under our system in interpreting and applying constitutional safeguards“, wozu sie „the highest public esteem“ bewahren müssten. 79 Vgl. dazu Schlaich/Korioth (o. Fußn. 15), Rdnr. 506 m.w.N. 80 § 27a BVerfGG sieht die Anhörung von sachkundigen Dritten vor. S. dazu o. Fußn. 49 und BVerfGE 129, 124 (161 ff.): Stellungnahmen der Deutschen Bundesbank und der EZB. 81 Vgl. SPIEGEL ONLINE, 10. 7. 2012: „Schäuble warnt vor ESM-Verschiebung“. 82 Zitiert nach SPIEGEL ONLINE, 10. 7. 2012.

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Mehrheit erlassen, die Politik von der von dieser Mehrheit getragenen Regierung gestaltet, die Opposition soll diese kritisch kontrollieren. In einer rechtsstaatlichen Demokratie unterliegt dieser politische Prozess aber den Vorgaben einer Verfassung als Grundordnung des Gemeinwesens. Über die Einhaltung dieser Grundordnung wacht ein Verfassungsgericht, dessen konkrete Kompetenzen in der Verfassung festgelegt sind.83 Die Europäische Union wurde von ihren Mitgliedstaaten als Gemeinschaft des Rechts gegründet. Nur als „Rechtsgemeinschaft“ kann sie bestehen.84 Das Recht ist das Band, das sie zusammenhält.85 Rechtsverstöße, die immer vorkommen, können durch Vertragsverletzungsklagen gegen die Mitgliedstaaten vor dem EuGH (Art. 258 AEUV) bereinigt werden, da sich die Mitgliedstaaten grundsätzlich an dessen Urteile halten und dies ggf. durch Zwangsmittel durchgesetzt werden kann. Bei schweren Verstößen eines Mitgliedstaates gegen die Werte der Union, wie sie zur Zeit Ungarn und Rumänien vorgeworfen werden, ist seit den unsäglichen „Sanktionen“ gegen Österreich ein Verfahren in Art. 7 EUV vorgesehen, das allerdings schwer praktikabel ist, vielleicht aber doch im Vorfeld Wirkungen entfalten könnte. In all diesen Fällen geht es aber um Rechtsverstöße Einzelner gegen das Recht. Die Grundlagen der Union werden jedoch erschüttert, wenn das Recht von der Union und ihren Mitgliedstaaten selbst missachtet wird. „Eine Instabilität des Rechts wiegt schwerer als eine Instabilität der Finanzen.“86 Ohne Achtung vor dem Recht kann weder ein Staat noch die Europäische Union als Verbund der Staaten und der Bürger bestehen. Ohne eine Rechtsordnung, die Solidität, Verlässlichkeit und eigene Anstrengung zur Voraussetzung für Solidarität macht – so war die WWU konstruiert – und ohne eine Politik, die auf der Achtung vor diesem Recht basiert, ist zu befürchten, dass der Euro nicht zum angestrebten Integrationsfaktor, sondern zum Spaltpilz in Europa wird.

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Zur besonderen Unabhängigkeit und der damit verbundenen besonderen Verantwortung des BVerfG und des Bundespräsidenten vgl. R. Müller, „Haltung und Gütesiegel. Zwei Organe im Geiste: Bundespräsident und Bundesverfassungsgericht“, FAZ vom 19. 10. 2012, S. 10. 84 Vgl. den ersten Präsidenten der EWG, W. Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, 5. Aufl. 1979, S. 51 ff.; ders., Die EWG – Eine Rechtsgemeinschaft, in: Europäische Reden, hrsg. von T. Oppermann, 1979, S. 314 ff. 85 Vgl. M. Zuleeg, Der rechtliche Zusammenhalt der europäischen Integration, 2004. Zur europäischen Werteordnung vgl. H. J. Papier, in: FS Stern. 2012, S. 551 (554 f.). 86 Vgl. P. Kirchhof, Verfassungsnot, FAZ vom 12. 7. 2012, S. 25. Vgl. auch P. Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. X, 2012, § 214, Rdnr. 80 ff.; „Rückgewinnung des Rechts“.

Die Rolle der Landesparlamente im europäischen Integrationsprozess Von Andreas Voßkuhle* I. Einleitung Nicht ohne Grund hat Hans-Jürgen Papier immer wieder auf den bereits seit längerem diagnostizierten schleichenden „Bedeutungsverlust“1 der Landesparlamente durch Verlagerung immer weiterer Kompetenzen auf die Europäische Union hingewiesen, der ihn um die „Staatsqualität“ der deutschen Länder bangen lasse. Es gehe – so der Jubilar – „um nicht weniger als die Existenz der parlamentarischen Demokratie auf der Ebene der deutschen Bundesländer“ und damit „um unverzichtbare Existenzbedingungen der föderalen Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt“.2 In jüngster Zeit sind allerdings auf Ebene der Länder erste Maßnahmen ergriffen worden, um dieser Entwicklung entgegenzusteuern. Sie sollen vor dem Hintergrund der Analyse der bisherigen Situation (dazu II.) hier näher gewürdigt werden (dazu III.). II. Ausgangslage: Zur Statistenrolle der Landesparlamente im europäischen Integrationsprozess Gleich in mehrerer Hinsicht befinden sich die deutschen Landesparlamente strukturell in einer schwierigen Ausgangslage. * Der Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den ich aus Anlass des 60. Jahrestages der Gründung des Landes Baden-Württemberg am 25. April 2012 im Baden-Württembergischen Landtag gehalten habe. Für vielfältige Unterstützung danke ich meinem Wissenschaftlichen Mitarbeiter am BVerfG Herrn Dr. Wilfried Holz. 1 Vgl. A. Puttler, Die deutschen Länder in der Europäischen Union, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts VI, 2008, § 142 Rdnr. 2; T. Puhl, Entparlamentarisierung und Auslagerung staatlicher Entscheidungsverantwortung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts III, 2005, § 48; vgl. auch F. Schoch, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 58 (1999), S. 133; monographisch: E. Wohland, Bundestag, Bundesrat und Landesparlamente im europäischen Integrationsprozess, 2008; The Role of Regional Parliaments in the Process of Subsidiarity Analysis within the Early Warning System of the Lisbon Treaty, Studie des Ausschusses der Regionen, abrufbar unter http://extranet.cor.europa.eu/subsidiarity/Documents/Without%20Document%20Sets/Full%20Regional_parliaments_FINAL.pdf. 2 H.-J. Papier, Bundesstaatlichkeit und Europäische Integration – Die Rolle der Deutschen Bundesländer, ThürVBl. 2011, 49 (52); ders., Zur Verantwortung der Landtage für die europäische Integration, ZParl 2010, 903 (908).

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Eigentlich sollen Parlamente die wesentlichen Fragen eines Gemeinwesens verhandeln und in Gesetzesform den allgemeinverbindlichen Rahmen festlegen, an den auch die anderen Staatsgewalten – die vollziehende ebenso wie die rechtsprechende Gewalt – gebunden sind.3 Dies fällt den Landesparlamenten aber zunehmend schwer, weil ihnen die Gesetzgebungskompetenzen abhandenkommen, ohne dass dieser Entwicklung – zumindest bis in jüngste Zeit – Nennenswertes entgegengesetzt worden wäre. Der Grund hierfür liegt letztlich weniger auf europäischer Ebene, als vielmehr im Bauplan des bundesdeutschen Föderalismus: Wie jede föderale Struktur ermöglicht auch die bundesdeutsche das Herauf- und Herunterwandern von Gesetzgebungskompetenzen. Gesteuert wird diese Wanderung durch die Bundesverfassung, also durch das Grundgesetz. Das Grundgesetz garantiert zwar, dass es in den Ländern demokratisch gewählte Volksvertretungen geben muss,4 sieht aber für diese Volksvertretungen weder bei der Verlagerung von Gesetzgebungskompetenzen noch im Rahmen der Bundesgesetzgebung eine eigene Rolle vor. Im Parlamentarischen Rat zur Ausarbeitung des Grundgesetzes in den Jahren 1948/49 war intensiv über die Frage diskutiert worden, ob Vertreter der Landesparlamente im Rahmen einer zu schaffenden zweiten Kammer an der Bundesgesetzgebung beteiligt werden sollten. Die Befürworter der „Senatslösung“ setzten sich für eine Entsendung von Landtagsvertretern in die zweite Kammer ein.5 Die Vertreter der „Bundesratslösung“6 sprachen sich für eine aus Gesandten der Landesregierungen zusammengesetzte Kammer aus. Andere – wie der damalige württemberg-badische Landtagsabgeordnete Theodor Heuss – hielten eine Kombination von Länderregierungsvertretern und Landtagsvertretern für vorzugswürdig.7 Bekanntlich setzten sich die Vertreter der „Bundesratslösung“ durch, so dass die Vertretung der Länderinteressen bei der Verlagerung von Gesetzgebungskompetenzen sowie im Rahmen der Bundesgesetzgebung seit 1949 über ein Organ erfolgt, das nur aus Vertretern der jeweiligen Landesregierungen zusammengesetzt ist.8 Diese Struktur des bundesdeutschen Föderalismus wäre für die Landesparlamente kein Grund zur Klage gewesen, wenn es im Wesentlichen bei den ihnen im Grundgesetz des Jahres 1949 zugewiesenen Kompetenzen geblieben wäre. Indes kam es anders: Von gewissen Rückverlagerungsversuchen im Rahmen der sogenannten Fö3 Vgl. nur M. Brenner, Das Prinzip Parlamentarismus, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts III, 2005, § 44 Rdnr. 30. 4 Vgl. Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG. 5 Vgl. nur R. Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 51 (1996) Rdnr. 2; S. Korioth, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 51 Rdnr. 4 ff. 6 Zu Reformüberlegungen der heute vielfach als nicht mehr zeitgemäß empfundenen „Bundesratslösung“ vgl. etwa R. Dolzer, Das parlamentarische Regierungssystem und der Bundesrat – Entwicklungsstand und Reformbedarf, in: VVDStRL 58 (1999), S. 7 ff. sowie M. Sachs, Das parlamentarische Regierungssystem und der Bundesrat – Entwicklungsstand und Reformbedarf, in: VVDStRL 58 (1999), S. 39 ff. 7 Vgl. E. W. Becker (Hrsg.), Theodor Heuss, Vater der Verfassung, 2009, S. 61 f. 8 Sowohl Art. 50 als auch Art. 51 Abs. 1 GG sind seit 1949 auch im Wortlaut unverändert.

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deralismusreform I abgesehen,9 war die Geschichte der Änderungen der Kompetenzartikel des Grundgesetzes vor allem von einem Trend geprägt: der immer weitergehenden Akkumulation von – ehemals den Landesparlamenten zustehenden – Gesetzgebungskompetenzen beim Bund. Nachdem insoweit irgendwann gewisse Sättigungserscheinungen auftraten, wurde demgegenüber die Verschiebung von nationalen Gesetzgebungskompetenzen auf die europäische Ebene immer bedeutsamer. Verlierer waren dabei erneut die Landesparlamente: Weder kam ihnen ein Mitspracherecht bei der Frage zu, ob ihnen zustehende Gesetzgebungskompetenzen auf eine höhere Ebene transferiert werden sollten. Noch erhielten sie kompensatorische Mitwirkungsmöglichkeiten bei der Ausübung der ursprünglich ihnen zustehenden Kompetenzen auf den höheren Ebenen. Dass diese Entmachtung der Landesparlamente im Rahmen föderaler Kompetenzverschiebungen keine Selbstverständlichkeit ist, zeigt der vergleichende Blick auf den Deutschen Bundestag: Er kann bei der Frage, ob seine Gesetzgebungskompetenzen nach Brüssel übertragen werden sollen, sein Veto einlegen.10 Denn jede Kompetenzverlagerung erfordert eine Änderung der europäischen Verträge, die zuvor vom Deutschen Bundestag – sowie vom aus den Länderregierungen zusammengesetzten Bundesrat – ratifiziert werden muss (Art. 23 Abs. 1 GG).11 Ganz anders die Situation der Landesparlamente: Sie stehen einer Abwanderung ihrer Kompetenzen sowohl nach Europa als auch zum Bund weitgehend schutzlos gegenüber. Ihnen bleibt allein die – in ihrer praktischen Wirksamkeit freilich auch nicht gering zu schätzende – Möglichkeit, auf das Stimmverhalten ihrer jeweiligen Landesregierung im Bundesrat politisch einzuwirken. Eine rechtliche Handhabe steht ihnen indes nicht zu. Schon seit langem wird deswegen – wenn auch ohne Erfolg – gefordert, Kompetenzübertragungen von der Landes- auf Bundes- oder Unionsebene von einer Zustimmung der hiervon zuallererst betroffenen Landesparlamente abhängig zu machen.12 Über sein Vetorecht hinaus hat der Bundestag zudem seit dem Vertrag von Lissabon gewisse Beteiligungsrechte im Rahmen der Ausübung der ihm vormals zustehenden Kompetenzen auf europäischer Ebene. Vor den Änderungen durch den Ver9 Vgl. etwa H.-J. Papier, Aktuelle Fragen der bundesstaatlichen Ordnung, NJW 2007, 2145; C. Degenhart, Die Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen durch die Föderalismusreform, NVwZ 2006, 1209. 10 Seit dem Vertrag von Lissabon ist zudem im ordentlichen Änderungsverfahren im Regelfall ein „Konvent aus Vertretern der nationalen Parlamente“ beteiligt, vgl. Art. 48 Abs. 3 UAbs. 1 EUV. 11 Die weiteren gesteigerten Mitwirkungsmöglichkeiten nach Art. 23 GG (insb. Art. 23 Abs. 6 GG) betreffen ebenfalls eine Beteiligung des Bundesrates, so dass die Landesparlamente hiervon auch nicht erfasst werden. 12 Siehe Sachs (o. Fußn. 6), S. 55 m. w. N.; C. Grimm/M. Hummrich, Zum Einfluss der Landesparlamente auf die Stimmabgabe im Bundesrat im Falle der Übertragung von Länderkompetenzen, DÖV 2005, 280.

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trag von Lissabon ähnelte die Rolle des Bundestages nach einer einmal erfolgten Kompetenzverlagerung nach Europa derjenigen der Landesparlamente. Zwar wurde die nationale Kompetenzabwanderung teilweise durch die nationale Beteiligung im europäischen Rechtssetzungsverfahren über den Rat kompensiert. Dieser setzt sich aber – insoweit dem deutschen Bundesrat vergleichbar – ausschließlich aus den Vertretern der nationalen Regierungen zusammen,13 ohne den nationalen Parlamenten eine Stimme zu verleihen. Bislang galt also bei Verlagerungen nationaler Kompetenzen auf die Europäische Union das Gleiche wie bei Kompetenzverlagerungen von den Ländern auf den Bund: Entscheidungsmacht verschob sich nicht nur von einer Ebene auf die andere, sondern zugleich immer auch von der Legislative zur Exekutive.14 Dass die mit der zunehmenden Verlagerung von Kompetenzen auf EU-Ebene verbundene teilweise15 „Entparlamentarisierung“ der Entscheidungsprozesse ein Problem darstellt, wurde auf europäischer Ebene aber erkannt. Im Vertrag von Lissabon schuf man Regelungen, die die nationalen Parlamente sowie ihre Parlamentskammern in gewissem Umfang in den europäischen Rechtssetzungsprozess einbinden.16 Die Mitwirkungsmöglichkeit bezieht sich dabei in erster Linie auf die Frage, ob die Europäische Union bei der Ausübung der ihr übertragenen Gesetzgebungskompetenzen das sogenannte Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 3 EUV) beachtet hat.17 Die – auch als „Frühwarnmechanismus“ bezeichnete – Einbeziehung der nationalen Parlamente sowie ihrer Parlamentskammern vollzieht sich dabei in drei Stufen: Auf der ersten Stufe werden sie umfassend und frühestmöglich von europäischen Rechtssetzungsvorhaben informiert.18 Zweitens erhalten sie Gelegenheit, noch vor Verabschiedung von Rechtsakten zur Frage der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips Stellung zu beziehen. Diese Stellungnahmen müssen von den Unionsorganen „be13 Vgl. Art. 16 Abs. 2 Satz 1 EUV. Zur Delegation der Verhandlungsführung auf einen – vom Bundesrat benannten – Ländervertreter vgl. Art. 23 Abs. 6 GG. 14 Vgl. nur Papier (o. Fußn. 2), S. 904. 15 Parlamentarische Legitimation im europäischen Gesetzgebungsprozess spendet freilich auch das Europäische Parlament. 16 Vgl. Art. 12 EUV und die Protokolle über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union – Parlamentsprotokoll – sowie über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit – Subsidiaritätsprotokoll –; mit weiteren Einzelheiten: R. Streinz/V. Ohler/C. Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, 2010, § 5 IX. 17 Noch nicht abschließend geklärt ist, inwieweit die nationalen Parlamente über die Verletzung des Subsidiaritätsprinzips hinaus weitere Fehler rügen dürfen. Naheliegend wäre insoweit nach dem Wortlaut des Subsidiaritätsprotokolls etwa die Möglichkeit der Rüge des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, vgl. zur Diskussion: C. Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 12 EUV Rdnr. 31 ff. 18 Dieses Informationsrecht wird teilweise für Bundestag und Bundesrat als bloß „symbolisch“ angesehen, weil beide Organe bereits aufgrund des deutschen Verfassungsrechts von ihrer Regierung informiert würden; vgl. S. Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 47. Aufl. 2012, Art. 12 EUV Rdnr. 17.

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rücksichtigt“ werden; bestreitet ein bestimmtes Quorum mitgliedstaatlicher Parlamente die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips, kommt diesen sogar ein „suspensives Veto“ zu.19 Schließlich besteht drittens die Möglichkeit, die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips nach Erlass eines Unionsrechtsaktes vom Gerichtshof der Europäischen Union überprüfen zu lassen.20 Mit den in den europäischen Rechtssetzungsprozess einbezogenen „nationalen Parlamenten“ und ihren jeweiligen „Kammern“ verleiht das Unionsrecht allerdings Rechte nur dem Bundestag sowie – als Parlamentskammer – dem Bundesrat,21 nicht aber den Landesparlamenten, die aus europäischer Sicht „Regionalparlamente“ sind.22 Ob und wenn ja inwieweit diese „Regionalparlamente“ von den nationalen Parlamenten und ihren Kammern an ihrem Willensbildungsprozess beteiligt werden, überantwortet das europäische dem nationalen Recht. Nach deutschem Bundesrecht erfolgt eine Beteiligung der Länder im europäischen Rechtssetzungsprozess weiterhin ausschließlich über den Bundesrat, das heißt die Landesparlamente sind in zweifacher Hinsicht vom Wohlwollen ihrer jeweiligen Landesregierung abhängig. Das betrifft zum einen den Informationsfluss von den europäischen Institutionen zu den Landesparlamenten. Die EU-Organe informieren möglichst frühzeitig und umfassend die jeweiligen nationalen Parlamente und ihre Kammern, also auch den Bundesrat, über alle europäischen Rechtssetzungsaktivitäten. Optimiert wird die Informationslage des Bundesrats weiter dadurch, dass zudem die Bundesregierung kraft Bundesgesetzes verpflichtet ist, den Bundesrat zum frühestmöglichen Zeitpunkt über alle Vorhaben zu unterrichten, die für die Länder von Interesse sein könnten.23 Die Landesparlamente haben nach Bundesrecht zu der beim Bundesrat vorhandenen Informationsfülle aber grundsätzlich keinen Zugang und sind darauf angewiesen, von ihrer Landesregierung informiert zu werden. Die zweite Abhängigkeit der Landesparlamente von ihrer jeweiligen Regierung be19

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Siehe Art. 7 Subsidiaritätsprotokoll sowie Streinz/Ohler/Herrmann (o. Fußn. 16), § 5 IX

20 Auf dieser letzten Stufe sind allerdings die nationalen Parlamente von einer Mitwirkung ihrer jeweiligen Regierungen abhängig, vgl. Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll, demzufolge der Gerichtshof für Klagen zuständig ist, die „entsprechend der jeweiligen innerstaatlichen Rechtsordnung von einem Mitgliedstaat im Namen seines nationalen Parlaments oder einer Kammer dieses Parlaments übermittelt werden“. Eine unionsrechtliche Pflicht zur Klageerhebung besteht für die mitgliedstaatlichen Regierungen gegenüber ihren Parlamenten nicht: Siehe Streinz/Ohler/Herrmann (o. Fußn. 16), § 5 IX 4. 21 Anders freilich die grundgesetzliche Perspektive, nach der der Bundesrat gerade keine zweite Parlamentskammer ist: vgl. etwa R. Herzog, Stellung des Bundesrates im demokratischen Bundesstaat, in: Kirchhof/Isensee (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts III, 2005, § 57 Rdnr. 14 ff., 28 ff. sowie BVerfGE 37, 363 (380). 22 Vgl. Art. 6 Subsidiaritätsprotokoll sowie Streinz/Ohler/Herrmann (o. Fußn. 16), § 5 IX 5. 23 Geregelt ist dies im Einzelnen insb. in der Anl. zu § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union – EUZBLG –; vgl. zudem auch § 13 des Gesetzes über die Wahrnehmung der Integrationsverantwortung des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union – IntVG –.

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trifft die Möglichkeit der Einspeisung des Willens der Landesparlamente in den europäischen Rechtssetzungsprozess. Denn auch dies kann wiederum nur über den Transmissionsriemen des Bundesrates, also über die Landesregierungen, erfolgen. Erwähnt sei schließlich, dass bislang auch der an der europäischen Rechtssetzung beteiligte (europäische) Ausschuss der Regionen den Landesparlamenten kein Forum bietet, welches den Verlust ihrer Gesetzgebungskompetenzen kompensieren könnte. Zwar bestehen im Ausschuss der Regionen – etwa in Gestalt des dortigen „Subsidiaritätsnetzwerkes“24 – durchaus anerkennenswerte Bestrebungen, auch den Landesparlamenten – als Vertreter der Regionen – besseren Informationszugang und mehr Gehör zu verschaffen.25 Auch hier gilt aber: Zuständig für die Entsendung der 24 deutschen Vertreter im Ausschuss sind letztlich nicht die Landtage, sondern die Landesregierungen.26 Nur vereinzelt existieren daneben Vereinbarungen auf Landesebene, nach denen auch dem jeweiligen Landtag ein Mitspracherecht bei der Benennung der Landesvertreter zukommt.27 III. Gegentendenzen: Zur Revitalisierung der Landesparlamente im europäischen Integrationsprozess Sind die Landesparlamente damit endgültig auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit? Keineswegs, denn seit kurzem sind auf Länderebene Entwicklungen zu beobachten, die eine Revitalisierung der Landesparlamente im europäischen Integrationsprozess bewirken könnten. Im Jahr 2010 trafen sich die Landtagspräsidenten zu ihrer jährlichen Konferenz in Stuttgart und verabschiedeten zur Stärkung der Landesparlamente im europäischen Integrationsprozess eine „Stuttgarter Erklärung“,28 deren Forderungen in beiden oben beschriebenen Aspekten die Abhängigkeit der Landtage von den Landesregierungen beseitigen oder doch zumindest abmildern soll. Erstens wurde eine Verbesserung der Informationslage der Landesparlamente gefordert. Diesen solle ein unmittelbarer bundesgesetzlicher Informationsanspruch gegenüber dem Bundesrat auf umfassenden Zugang zu allen beim Bundesrat vorhandenen landesrelevanten 24 Vgl. hierzu G. Stahl/M. Degen, Das Subsidiaritätsnetzwerk des Ausschusses der Regionen, in: Rosner/Bußjäger (Hrsg.), Im Dienste der Länder – im Interesse des Gesamtstaates, Festschrift 60 Jahre Verbindungsstelle der Bundesländer, 2011, S. 693 ff. 25 So besteht mittlerweile auf der Internetseite des „Subsidiarity Monitoring Networks“ (als eine Art Unterausschuss des Ausschusses der Regionen) eine Untersektion „REGPEX“, die den Zugang zu EU-Informationen für die regionalen Parlamente erleichtern soll. 26 In diesem Fall die Ministerpräsidenten der Länder. Dies ergibt sich aus einem Länderabkommen aus dem Jahr 1993. Allerdings scheinen die Landesregierungen in letzter Zeit zunehmend Abgeordnete der Landesparlamente in den Ausschuss der Regionen zu entsenden. 27 So etwa in Rheinland-Pfalz, wo der Landtag ein Vorschlagsrecht hat, wenn das Land – wie manchmal der Fall – zwei Vertreter in den Ausschuss der Regionen senden kann; vgl. LTDrs. 16/21. 28 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Baden-Württemberg, LT-Drs. 14/6554.

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EU-Informationen eingeräumt werden.29 Zweitens strebt man eine Stärkung der Stellung des Landtages gegenüber der jeweiligen Landesregierung an. Es solle vorzugsweise im Landesverfassungsrecht dem Landtag neben Informationsrechten die Möglichkeit gegeben werden, „eine Bindung der Landesregierung beim Stimmverhalten im Bundesrat und bei der Erhebung von Verfassungsklagen auf Bundesebene“ zu erreichen. Auf die Erfüllung der ersten Forderung eines eigenständigen Informationsrechts gegenüber dem Bundesrat warten die Landesparlamente bislang vergeblich.30 Und so waren es die findigen Baden-Württemberger, die bereits im Jahr 2007 eine weitere Idee zur Verbesserung der Informationslage ihres Landtags hatten und als erstes deutsches Landesparlament eigene Mitarbeiter nach Brüssel entsandten.31 Mittlerweile sind diesem Vorbild andere Landtage, wie beispielsweise derjenige von Bayern, von Hessen und von Nordrhein-Westfalen32 gefolgt.33 Freilich kann ein Verbindungsbüro in Brüssel angesichts der Fülle der die Länder betreffenden EU-Vorhaben und der enormen Bandbreite, Komplexität und Geschwindigkeit der EU-Gesetzgebung allenfalls eine ergänzende Funktion übernehmen. Vorzugswürdig bleibt aus Landtagssicht der Zugang zu dem umfassenden Informationspool des Bundesrates. Nachdem ein direkter Zugang hierzu bislang verweigert wird, hat Baden-Württemberg – wiederum als erstes Land – dem Landtag den mittelbaren Zugang hierzu über die Landesregierung eröffnet. Das im Februar des Jahres 2011 verabschiedete Landesgesetz über die Beteiligung des Landtags in Angelegenheiten der Europäischen Union34 regelt detailliert und denkbar umfassend nicht nur die unverzügliche Weiterleitung aller der Landesregierung vom Bundesrat zur Verfügung gestellten Informationen in EU-Angelegenheiten, sondern sieht auch eine routinemäßige und vollständige Unterrichtung des Landtages durch die Landesregierung über alle möglichen Aktivitäten auf europäischer Ebene vor.35 In den anderen Ländern existieren – soweit ersichtlich – keine vergleichbar weitreichenden Gesetze.36 29

Erfolgen solle dies durch Änderung des EUZBLG. Auf Bundesebene ist im Rahmen einer Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Regierungen der Länder bislang allenfalls indirekt anerkannt, dass den Landesparlamenten auf Landesebene weitergehende Informations- und Beteiligungsrechte in EU-Angelegenheiten eingeräumt werden können; siehe Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Regierungen der Länder zur Regelung weiterer Einzelheiten der Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union (§ 9 EUZBLG) vom 20. Juni 2010, dort III Nr. 3: „Länderinterne Verfahren über die Beteiligung der Landtage in EU-Angelegenheiten bleiben im Rahmen der getroffenen Regelungen durch diese Vereinbarung unberührt.“; Quelle: www.bundesrat.de. 31 Vgl. http://www.bayern.landtag.de/cps/rde/xchg/landtag/x/-/www1/2261_6577.htm. 32 Siehe http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/GB_I/I.7/Europa/Aktuelle-Meldungen/ 0902_Euro122658.jsp: Pressemitteilung von 13. 3. 2012. 33 Der Bundestag hat bereits 2005 die Eröffnung eines eigenen Brüsseler Verbindungsbüros beschlossen: vgl. BT-Drs. 15/5493, Sten. Ber. 15/175, 16386 D. 34 EULG, 17. Februar 2011, GBl. S. 77. 35 Vgl. im Einzelnen §§ 1 – 7 EULG. 30

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Ein optimaler – über den Bundesrat und die Landesregierungen vermittelter – Informationsfluss von den EU-Institutionen zu den Landtagen ist aber nur ein erster Schritt für eine Stärkung der Rolle der Landesparlamente im europäischen Integrationsprozess. In einem zweiten Schritt müssen die häufig sehr umfangreichen Informationen von den Landtagen möglichst schnell verarbeitet werden.37 Hier haben mittlerweile alle Landtage in mehr oder weniger großem Umfang Vorsorge getroffen und spezielle Europa-Ausschüsse eingerichtet, in denen die Informationen für das Plenum des Landtages gebündelt und aufbereitet und entsprechende Beschlussentwürfe vorbereitet werden können. In einem dritten Schritt schließlich muss gewährleistet sein, dass die vom Landtag gebildete Meinung zu bestimmten EU-Vorhaben ihren Weg auf die EU-Ebene findet. Auch insoweit geht der baden-württembergische Landtag voran, der als erster deutscher Landtag die Forderung der „Stuttgarter Erklärung“ nach möglichst landesverfassungsrechtlicher Bindung der Landesregierung an bestimmte Beschlüsse des Landtages in EU-Angelegenheiten umgesetzt hat. Der im Jahr 2011 neu gefasste Art. 34a Abs. 2 der Landesverfassung stellt ein Novum im deutschen Landesverfassungsrecht dar. Er statuiert erstmals eine Bindung des Abstimmungsverhaltens der Landesregierung im Bundesrat an Stellungnahmen des Landtages, soweit ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeiten der Länder an die Europäische Union übertragen werden sollen oder durch ein Vorhaben der Europäischen Union im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeiten der Länder unmittelbar betroffen werden.38 Ebenfalls gebunden ist die Landesregierung an Beschlüsse des Landtages, mit denen die Landesregierung ersucht wird, im Bundesrat auf die Erhebung einer Subsidiaritätsklage hinzuwirken. Derartige landesverfassungsrechtliche Regelungen haben das Potential, den Bedeutungsverlust der Landtage nicht nur zu stoppen, sondern teilweise sogar rückgängig zu machen: Sie räumen nicht nur dem Landtag – zusammen mit den anderen Landesparlamenten – bei der Abwanderung seiner Gesetzgebungskompetenzen nach Europa ein Veto ein. Sondern sie beteiligen darüber hinaus den Landtag über den Transmissionsriemen des Bundesrates an der Ausübung der bereits früher nach Europa übertragenen Gesetzgebungskompetenzen. Wie wirksam die baden-württembergische Regelung in der Praxis sein wird, hängt freilich davon ab, ob entsprechend der Forderung der „Stuttgarter Erklärung“ solche oder ähnliche Regelungen auch in den anderen Ländern erlassen werden und die Stimme des baden-württembergi-

36 Allenfalls sind Unterrichtungspflichten in Vereinbarungen zwischen dem jeweiligen Landtag und der Landesregierung niedergelegt, so etwa in Rheinland-Pfalz: Vereinbarung zwischen Landtag und Landesregierung gemäß Artikel 89b der Landesverfassung über die Unterrichtung des Landtags durch die Landesregierung, 4. Februar 2010. 37 Allgemein dazu A.-B. Kaiser, Wissensmanagement im Mehrebenensystem, in: Schuppert/Voßkuhle (Hrsg.), Governance von und durch Wissen, 2008, S. 217 (220 ff.). 38 Die Regelung wird wiederholt in § 9 EULG.

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schen, vom Landtag angewiesenen Regierungsvertreters nicht allein bleibt im Konzert des Bundesrates.39 Ob dies gelingt, hängt nicht zuletzt von den Vorgaben des Grundgesetzes ab. Es stellt sich die Frage, ob die Einführung vergleichbarer landesverfassungsrechtlicher Regelungen in allen Ländern durch das Grundgesetz geboten oder ob sie im Gegenteil nicht vielmehr verboten ist. Für die zweite Interpretationsvariante spricht möglicherweise eine ältere, aus dem Jahr 1958 herrührende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.40 Auf der anderen Seite könnte man darüber nachdenken, ob die im Lissabon-Urteil statuierte „Integrationsverantwortung“ der deutschen gesetzgebenden Körperschaften41 nicht auch den Landesparlamenten obliegt.42 Nach dem Konzept der Integrationsverantwortung sind – vereinfacht gesprochen – die deutschen Regierungsvertreter im (Europäischen) Rat an Beschlüsse des Deutschen Bundestages bzw. des Bundesrates gebunden, wenn Gesetzgebungsvorhaben auf europäischer Ebene auf dynamische, weitgehend unbestimmte Kompetenzvorschriften mit Blankettcharakter gestützt werden sollen. IV. Schluss Das deutsche Föderalismuskonzept birgt viele juristische Probleme, bindet politische Ressourcen, schafft schwierige Ausgleichslagen zwischen den Ländern und erschwert Entscheidungsfindungen auf Bundesebene. Gleichwohl war und ist es ein unverzichtbarer Garant für Vielfalt, Experimentierfreude, Stabilität und Wohlstand in der Bundesrepublik Deutschland. Dieses Potential sollte auch auf europäischer Ebene noch stärker fruchtbar gemacht werden.

39 Allerdings hat sich die Ministerpräsidentenkonferenz in einem „gentlemen’s agreement“ am 14. April 2005 darauf geeinigt, das Recht des Bundesrates auf Erhebung einer Subsidiaritätsklage faktisch als Einzelklagerecht zu handhaben: vgl. Baden-Württemberg, LT-Drs. 14/ 7339, S. 10. 40 BVerfGE 8, 104 (121): „Eine ,Instruktion‘ der Mitglieder der Landesregierung im Bundesrat durch das Landesvolk, auch eine bloß rechtlich unverbindliche in der Weise, daß sich die Vertreter im Bundesrat daran orientieren und sie zur Richtschnur ihres Handelns im Bundesrat machen, ist nach der Struktur des Bundesrats ausgeschlossen. Eine vom Land zu diesem Zweck angeordnete Volksbefragung widerspricht dem Grundgesetz.“ Zustimmend die wohl h. M., vgl. etwa Sachs (o. Fußn. 6), S. 73 ff.; Grimm/Hummrich (o. Fußn. 12), S. 285 m. w. N.; a. A. aber Papier (o. Fußn. 2), S. 907 f.; Wohland (o. Fußn. 1), S. 150 ff. Teilweise wird in der Bindung der Landesregierung auch ein Verstoß gegen die Landesverfassung gesehen: Vgl. Grimm/Hummrich, a.a.O., S. 285 unter Verweis auf Staatsgerichtshof BW, Urt. v. 18. 3. 1986 – GR 1/85 –, DÖV 1986, 794. 41 Vgl. BVerfGE 123, 267 (351 ff.). 42 Vgl. Papier (o. Fußn. 2), S. 52; ders. (o. Fußn. 2), S. 905 ff.; W. Kluth, Die Integrationsverantwortung der Landesparlamente, LKV 2010, 302.

B. Freiheit, Sicherheit und Sozialstaatlichkeit

Das Unternehmenseigentum unter den Bedingungen der staatlichen Wachstumsvorsorge und der sozialen Arbeitsordnung Ein Grundriss der Fragestellungen Von Peter Badura I. Freiheit, Gewährleistung und Schutz unternehmerischer Tätigkeit Die Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) in Verbindung mit der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG) bildet, in sachlichem Zusammenhang mit der Berufs- und Unternehmensfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG), als Freiheitsrecht, Grundsatznorm, Regelungsund Schutzauftrag ein Hauptstück der Wirtschaftsverfassung des sozialen Rechtsstaats.1 Der „grundrechtliche Gewährleistungsbereich“ der Eigentumsgarantie kann durch Gesetz oder auf Grund Gesetzes berührt werden (Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 GG), wobei die jeweilige Eigenart des Handelns oder Unterlassens, dessen Zweck und Wirkung als „Eingriff“, für die Beurteilung maßgebend ist, ob eine der öffentlichen Gewalt zuzurechnende Verletzung der grundrechtlich intendierten Gewährleistung vorliegt.2 Die Abgrenzung der Schutzbereiche betroffener Grundrechte ist der erste Schritt bei der Prüfung der Frage, ob der grundrechtliche Gewährleistungsbereich eines etwa betroffenen Grundrechts, der geschützten Freiheit, berührt ist. Greift ein Akt der öffentlichen Gewalt eher in die Freiheit der individuellen Erwerbs- und Leistungstätigkeit ein, ist der Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG berührt, begrenzt er mehr die Innehabung und Verwendung vorhandener Vermögens-

1 H. Sendler, Zum Wandel der Auffassung vom Eigentum, DÖV 1974, 73; P. Saladin/H-.J. Papier, Unternehmen und Unternehmer in der verfassungsrechtlichen Ordnung der Wirtschaft, VVDStRL 35, 1977, S. 7, 55; H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, [2010]; P. Badura, Die Unternehmensfreiheit der Handelsgesellschaften, DÖV 1990, 353; ders., Eigentum und Wirtschaftsverwaltungsrecht, in: Lexikon des Rechts der Wirtschaft (LdRW), 1999, S. 32,; ders., Eigentum und Sozialisierung; in: Lexikon des Rechts (LdR), 2004, S. 122; C. Engel, Eigentumsschutz für Unternehmen, AöR 1993, 169; R. Scholz, Verfassungsrechtliche Grundlegung: Die Ausgestaltung des Eigentums durch den Gesetzgeber, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 2006/II, 2007, S. 5. 2 BVerfGE 105, 252 (268, 273) (Information über einen Diethylengehalt von Weinsorten).

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güter, kommt der Schutz des Art. 14 GG in Betracht.3 Art. 14 GG gewährleistet die Befugnis der privatnützigen Disposition über das dem Unternehmen gewidmete Eigentum. Art. 12 Abs. 1 GG garantiert überdies das Recht, verschiedene Produktionsfaktoren zu einem Produktionserfolg durch dezentral-autonome Planungs- und Leitungsakte zu kombinieren, also ein Unternehmen zu gründen und es nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten zu betreiben.4 Während die rechtliche Befugnis, Sachen zum Verkauf anzubieten, zum erworbenen und über Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Bestand zu rechnen ist, gehört die tatsächliche Absatzmöglichkeit nicht zum bereits Erworbenen, sondern zur Erwerbstätigkeit.5 Ein eigentumsrechtlicher Schutz des unternehmerischen Geschäftsbetriebs kann, wenn überhaupt, nur für den Bestand des ins Werk gesetzten und arbeitenden „eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb“ in Anspruch genommen werden, nicht für die Unternehmenstätigkeit, deren günstige Marktgegebenheiten und deren Erfolg.6 Das Bundesverfassungsgericht hat es bisher offen gelassen, ob und inwieweit der eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb als tatsächliche Zusammenfassung der zum Vermögen eines Unternehmens gehörenden Sachen und Rechte in eigenständiger Weise von der Gewährleistung der Eigentumsgarantie erfasst wird.7 Die Schutz- und Ordnungsfunktion der Eigentumsgarantie verwirklicht sich in einer Rechtsstellungsgarantie zugunsten bestehender, konkreter und einer Rechtsperson zustehender subjektiver Rechtspositionen und in einer Grundsatznorm und Institutsgarantie für das privatnützige und privatautonom verfügbare „Eigentum“ in der Rechtsordnung. Das Grundrecht gewährleistet, dass der Gesetzgeber, dem es aufgegeben ist, Inhalt und Schranken des Eigentums unter Beachtung der Direktive des Art. 14 Abs. 2 GG zu bestimmen (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG), eine Eigentumsordnung vermögenswerter Rechte schafft und aufrecht erhält, die eine gesicher-

3 BVerfGE 30, 292 (334 f.) (Bevorratungspflicht für Erdölerzeugnisse); 102, 26 (40); 121, 317 (345); 126, 112 (135 f.). 4 H.-J. Papier, Unternehmen (o. Fußn. 1), S. 99; ders., Art. 14 (o. Fußn. 1), Rdnr. 228. 5 BVerfGE 105, 232 (278). – Das Einkommen des Einzelnen unterfällt dem Schutzbereich des Art. 14 GG nur insoweit, als es das Ergebnis oder die Frucht einer Eigentumsnutzung ist, und auch nur als Bestandteil der grundrechtlichen Nutzungsgarantie (H.-J. Papier, Besteuerung und Eigentum, DVBl. 1980, 787 (791). 6 BVerfGE 77, 84 (118); BVerfG, NVwZ 2009, 1426; BGHZ 133, 265; BayObLG BayVBl. 1994, 540. – P. Badura, Der Eigentumsschutz des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs, AöR 98, 1973, 159; ders., Der Eigentumsschutz des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs gegenüber der staatlichen Intervention im Bereich der Wirtschaft, in: Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, 1984, S. 1; ders., Eingerichteter und ausgeübter Gewerbebetrieb, in: Lexikon des Rechts (LdR), 105, 2000; C. Engel, (o. Fußn. 1), S. 169; H.-J. Papier, Art. 14 (o. Fußn. 1), Rdnr. 95 ff., 110, 230. 7 BVerfGE 105, 252 (278); BVerfG, NVwZ 2009, 1426 (1428). – H.-J. Papier, Art. 14 (o. Fußn. 1), Rdnr. 95.

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te Innehabung, einen privatnützigen Gebrauch und eine privatautonome Verfügung über diese Rechte8 ermöglicht. Bloße Umsatz- und Gewinnchancen und tatsächliche Gegebenheiten sind zwar für das Unternehmen von erheblicher Bedeutung; sie werden jedoch dem geschützten Bestand des Unternehmens nicht zugeordnet.9 Anders verhält es sich bei der Überschussbeteiligung des Versicherten am Finanzertrag der Lebensversicherung, die nicht nur eine potentielle Erwerbsaussicht darstellt, sondern als „gesetzlich programmiertes werdendes Eigentum“ schon vom Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG erfasst wird.10 Der Schutz des Art. 14 GG erstreckt sich nicht auf die Schaffung neuer Besitzstände und die Erlangung neuer Werte. In der gesetzlichen oder faktischen Vorenthaltung bestimmter Geschäftszweige durch die Aufrechterhaltung öffentlichrechtlicher Monopole liegt deshalb kein Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb als Schutzgut des Art. 14 GG.11 Die Genehmigung oder sonstige öffentlich-rechtliche Zulassung eines Gewerbes oder einer sonstigen Unternehmenstätigkeit ist selbst kein vermögenswertes Recht, im Unterschied zu dem auf dieser Grundlage privatautonom ins Werk gesetzten und organisierten eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb.12 In allen Fällen, in denen der eigentumsrechtliche Schutz einer Unternehmenstätigkeit gegen einen hoheitlichen Eingriff in Chancen oder Gegebenheiten, wie bestehende Marktstellungen, den erworbenen Kundenstamm oder bestehende Geschäftsbeziehungen ausscheidet,13 kann ggf. ein Schutz durch Art. 12 Abs. 1 GG i. V. m. dem rechtsstaatlichen Vertrauensschutz in Betracht kommen. II. Sozialpflichtigkeit und Gemeinwohlorientierung des Unternehmenseigentums Art. 14 GG gewährleistet, eingebettet in die durch Gesetz bestimmte normative Wirtschafts- und Sozialordnung, die Privatautonomie14 auf vermögensrechtlichem Gebiet, soweit sie in definierten vermögenswerten Rechten und Rechtseinrichtungen

8 R. Scholz (o. Fußn. 1) kennzeichnet die Vertragsfreiheit, die die Privatnützigkeit des Eigentums elementar mitbegründet und mitgarantiert, als „offene Flanke“ der Eigentumsgarantie. 9 BVerfG NVwZ 2009, 1426 (1428), unter Bezugnahme auf BVerfGE 68, 193 (223). – H.-J. Papier, Art. 14 (o. Fußn. 1), Rdnr. 10. 10 BVerfGE 114, 1 (33 ff., 41); 114, 73 (91); dazu R. Scholz (o. Fußn. 1), S. 6 f. 11 H.-J. Papier, Art. 14 (o. Fußn. 1), Rdnr. 234. 12 BVerfG NJW 2010, 771 – immissionsschutzrechtlich genehmigte Legehennenanlage. – P. Badura, LdRW (o. Fußn. 1), S. 6; H.-J. Papier, Art. 14 (o. Fußn. 1), Rdnr. 107. 13 BVerfGE 77, 84 (118) – Verbot der Arbeitsüberlassung in Betriebe des Baugewerbes (§ 12 a AFG). 14 BVerfGE 81, 242 (254) – Privatautonomie – „Strukturelement einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung“ – im Rahmen des Art. 12 Abs. 1 GG.

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zur Geltung kommt.15 Der „Bereich der privatautonomen Gestaltung“16 in der Wirksamkeit und den Rechtsformen des Unternehmenseigentums darf nicht durch hoheitliche Planung, Gestaltung oder eine substantielle Beschränkung der wirtschaftlichen Initiative und Leistung der privatwirtschaftlichen Unternehmenstätigkeit verdrängt oder allein nach Maßgabe des öffentlichen Interesses und prinzipiell als überlegen angesehener öffentlicher Belange begrenzt werden.17 Das Gesetz ordnet und sichert das Freiheitsrecht. Notwendig ist eine „Anerkennung und Effektuierung eines objektiv-rechtlichen und institutionellen Schutzgehalts des Art. 14 Abs. 1 GG“.18 Die Eigentumsgarantie schützt nicht, wie die Berufsfreiheit eine gewissermaßen natürliche Handlungsmöglichkeit, sondern eine durch die Rechtsordnung erst geschaffene und einem Rechtssubjekt zugewiesene Rechtsstellung. Die Berufs- und Unternehmensfreiheit müsste allerdings ins Leere gehen, wenn das Ergebnis wirtschaftlichen Handelns schutzlos und unberechenbar dem ungemessenen dem Zugriff der öffentlichen Gewalt ausgeliefert wäre.19 Das Unternehmenseigentum und seine Privatnützigkeit beruhen auf privater Initiative und Leistung, stehen aber von vornherein im Hinblick auf ihr wirtschaftliches Substrat „in einem sozialen Bezug und einer sozialen Funktion“; dementsprechend ist die Befugnis des Gesetzgebers mehr oder weniger weitreichend.20 Die lapidare Formel „Eigentum verpflichtet“ (Art. 14 Abs. 2 Satz 1 GG) bezeichnet Grund und Grenze des Regelungsauftrags des Gesetzgebers, Inhalt und Schranken des Eigentums zu bestimmen und die Reichweite des Gesetzes zu bemessen, das festzulegen hat, ob und inwieweit der Gebrauch des Eigentums „zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ soll (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 2 GG).21 Der Rechtsgedanke des Bundesverfassungsgerichts, dass das Eigentum „in einem sozialen Bezug und einer sozialen Funktion“ stehe, ist im Fall des Unternehmenseigentums verhältnismäßig eng fassbar, soweit das Unternehmen als Arbeitgeber auftritt und die Mitwirkung der Arbeitnehmer an der Unternehmensleistung in Frage steht, bezieht sich aber weitergehend auch auf die Abhängigkeit der Leistung und des Ertrags des Unternehmens von der staatlichen Förderung und Sicherung der Unternehmenstätigkeit, z. B. durch die Gestaltung des Steuerrechts und die Bereitstellung von Infrastruktur.22 Auf der anderen Seite kann die Funktionsbestimmung des Eigentums als materielle Grundlage der personalen Freiheitsentfaltung nicht als der Eigentums15

H.-J. Papier, Art. 14 (o. Fußn. 1), Rdnr. 335, 336, bezugnehmend auf BVerfGE 24, 367 (389); 58, 300 (339); 79, 292 (303 f.); 81, 208 (220). 16 F. Rittner/M. Dreher, Europäisches und deutsches Wirtschaftsrecht, 3. Aufl. 2008, § 4, Rdnr. 59. 17 H.-J. Papier, (o. Fußn. 5), S. 791 f.; ders., Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, HVerfR, 2. Aufl., 1994, § 18, Rdnr. 14 ff.; ders., Art. 14 (Fußn. 1), Rdnr. 34, 336. 18 H.-J. Papier, (o. Fußn. 5), S. 797. 19 P. Badura, LdRW (o. Fußn. 1), S. 5. 20 BVerfGE 50, 290 (340 f.); 53, 257 (292). 21 H.-J. Papier, Art. 14 (o. Fußn. 1), Rdnr. 306, 496 ff. 22 H. Sendler (o. Fußn. 1), S. 76.

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garantie immanente Maxime der Schutzkraft des Grundrechts vereinseitigt werden.23 Der Vorbehalt des Art. 15 GG für das traditionelle sozialistische Projekt einer gemeinwirtschaftlichen Sozialisierung lockert die Bestandsgarantie für das Eigentum an Produktionsmitteln, lässt aber die eigentumsrechtliche Entschädigungspflicht bestehen und rechtfertigt eine differenzierende Auslegung des Art. 14 GG nicht.24 Schon länger ist konstatiert worden, dass die Verteilung des privaten Produktionsmitteleigentums strukturell durch gravierende Ungleichgewichtigkeiten charakterisiert sei und damit eine latente, aber existentielle Gefahr für die Verfassungs- und Gesellschaftsordnung bestehe, die eine „Akzeptanz“ der auf dem Privateigentum gegründeten Gesellschaftsordnung voraussetze. Die Überwindung dieser „Krise der Verteilungsstrukturen“ sei kraft der Institutsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG ein Gebot des Verfassungsrechts.25 Das gilt jedenfalls für die hierzu genannte staatliche Vermögensbildung und auch für eine ordnungspolitische Konzentrationskontrolle. Nicht nur wegen der Gegebenheiten und Erfordernisse der nationalen und globalisierten Wirtschaft und Energieversorgung wird man aus der Entwicklung des Unternehmenseigentums an den Produktionsmitteln ohne greifbare Gefährdung bestimmter öffentlicher Belange keine allein stichhaltige Rechtfertigung für staatliche Intervention oder Gestaltung der Wirtschaftsordnung ableiten können. III. Unternehmensrecht und Gesellschaftsrecht Das Unternehmenseigentum tritt hauptsächlich in den Unternehmen von als juristische Person verfassten Handelsgesellschaften in Erscheinung. Der Schutz des Art. 14 GG umfasst die Anteilsrechte und das Eigentum der Unternehmensträger.26 Die die bestehenden vermögenswerten Rechte gewährleistende Eigentumsgarantie verbindet sich mit dem Schutz der freien und privatautonomen Assoziation mit den Mitteln und in den Formen gesellschaftsrechtlicher Kooperation und Organisation durch die Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG). Diese Verbindung der beiden 23

H.-J. Papier, Unternehmen und Unternehmer (o. Fußn. 1), S. 81 f.; ders., Diskussionsbeitrag, VVDStRL 35, 1977, S. 155. – Grundlegend verschieden die auf das „persönliche Eigentum der Bürger“ beschränkte Gewährleistung des Art. 11 der Verfassung der DDR vom 6. April 1968 in der Fassung des Änderungs- und Ergänzungsgesetzes vom 7. Oktober 1974, getrennt von dem sozialistischen Eigentum an den Produktionsmitteln, Art. 9, 10 DDR-Verf. (G. Brunner, Einführung in das Recht der DDR, 2. Aufl., 1979, S. 98 ff.). Anders noch Art. 22 bis 24 der DDR-Verfassung vom 7. Oktober 1949. 24 H. P. Ipsen/H. Ridder, Enteignung und Sozialisierung, VVDStRL 10, 1952, S. 74, 124; P. Badura, LdR (o. Fußn. 1); U. Schliesky, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 15 [2011]. 25 H.-J. Papier, Schlusswort, VVDStRL 35, 1977, S. 166 f.; ders., Art. 14 (o. Fußn. 1), Rdnr. 17. 26 BVerfGE 50, 290 (341). – Die Handelbarkeit einer Aktie an der Börse oder in einem bestimmten Börsensegment ist eine von der Eigentumsgarantie nicht erfasste „schlichte Ertragschance“ (BVerfG Urteil vom 11.7.2012 – 1 BvR 3142/07 und 1 BvR 1569/08 Delisting, C. H. Seibt/B. Wollenschläger, F.A.Z. 18. 7. 2012, S. 19.

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Grundrechte schließt die Garantie einer eigentumsrechtlichen, auf Privatautonomie beruhenden Unternehmensverfassung ein.27 „Die Funktionsfähigkeit der wirtschaftlich relevanten Grundrechte und insbesondere der Eigentumsgarantie in der realen Wirtschaftsordnung ist entscheidend abhängig vom Organisations- und Willensbildungsrecht der wirtschaftlichen Unternehmungen“.28 Eine sozial- oder gesellschaftspolitische Inpflichtnahme der Unternehmensverfassung, wie vor allem bei der sozialordnungsrechtlichen Mitbestimmung der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften (siehe unten unter II.3), berührt die Eigentumsgarantie und die Vereinigungsfreiheit der Anteilseigner und der Handelsgesellschaften.29 Im Wesentlichen betroffen sind die mitgliedschaftsrechtlichen Befugnisse der Anteilseigner, während das vermögensrechtliche Element des Anteilseigentums nicht berührt ist.30 Das Konzept eines Unternehmensrechts, das im Unternehmen eine Art Leistungsverbund der Anteilseigner, Manager und Arbeitnehmer sieht, weist durch eine sozialordnungsrechtliche Komponente über das auf der privatautonomen Vereinigungsfreiheit beruhende Gesellschaftsrecht hinaus.31 Die gesetzliche Anordnung bei der Zusammensetzung von Aufsichtsrat und Vorstand eine Quote zugunsten bestimmter Personengruppen, insbesondere eine gesetzlich vorgeschriebene „Frauenquote“, zu beachten, wäre nicht nur ein „Fremdkörper“ im Gesellschaftsrecht,32 sondern auch ein Eingriff in die Unternehmensfreiheit, die nach Art und Ausmaß einer spezifischen Rechtfertigung in Unternehmenszweck und vorrangigen öffentlichen Belangen bedürfte. Auch das Europarecht lässt Quotenund Vorrangregelungen zugunsten von Frauen nur unter bestimmten spezifischen Voraussetzungen und Umständen einer Unterrepräsentation zu (vgl. Art. 141 Abs. 4 EGV, jetzt Art. 157 Abs. 4 AEUV). Eine starre und unabdingbare Frauenquote wäre verfassungswidrig und verstößt auch gegen Unionsrecht.33 Das dem Staat 27 F. Rittner, Die Funktion des Eigentums im modernen Gesellschaftsrecht, in: Marburger Gespräch über Eigentum – Gesellschaftsrecht – Mitbestimmung, 1967, S. 50; ders., Unternehmensverfassung und Eigentum, in: Festschrift für Wolfgang Schilling, 1973, S. 363; H.-J. Papier, Unternehmen und Unternehmer (o. Fußn. 1), S. 87 ff., 91 ff.; P. Badura, Die Unternehmensfreiheit der Handelsgesellschaften, DÖV 1990, 353; ders., Mitbestimmung und Gesellschaftsrecht, in: Festschrift für Fritz Rittner, 1991, S. 1, 5 ff. 28 H.-J. Papier, Freiheit und Verantwortung des Unternehmers, in: Festschrift für Roman Herzog, 2009, S. 339 (351). 29 Die Unternehmensmitbestimmung berührt den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 1 GG nicht im Kern, sondern „nur an der Peripherie“ (BVerfGE 50, 290 [353 ff., 359]). 30 BVerfGE 99, 367 (392) – Montan-Mitbestimmung in Konzernobergesellschaften. 31 P. Badura, Staatsrecht, 5. Aufl., 2012, C 89. 32 M. Habersack, Gutachten für den Deutschen Juristentag 2012 (nach dem Bericht in F.A.Z., 25. 6. 2012). 33 Anders J. Wieland, Ist eine Quotenregelung zur Erhöhung des Anteils der Frauen in Aufsichtsräten mit dem Grundgesetz und Europarecht vereinbar?, NJW 2010, 2408. – Zur Tragweite der EG-Gleichbehandlungsrichtlinie: EuGH, Rs. C-4593 (Kalanke), Slg. 1995, I3051; EuGH, Rs. C-409/95 (Marschall), Slg. 1997, I-6363; EuGH, Rs. 158/97 (Badeck), Slg. 2000, I-1875, mit Anm. Chr. Starck, JZ 2000, 670; EuGH, Rs. 158/97, Tz. 64, 65 billigt

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auferlegte Gebot, die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu fördern (Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG), zielt auf Chancengleichheit, fordert jedoch nicht eine durchgehende Gleichstellung von Mann und Frau in allen Lebensbereichen.34 Der Schutz des in der Aktie verkörperten Anteilseigentums durch Art. 14 Abs. 1 GG erstreckt sich auch auf die mitgliedschaftliche Stellung in einer Aktiengesellschaft, die das Aktieneigentum vermittelt. Die unternehmerische Initiative und Entscheidung der Aktiengesellschaft verwirklicht sich jedoch vorrangig in der Hand der größeren Anteilseigner und besonders der Mehrheitsaktionäre, sodass gesetzliche Vorschriften über den Ausschluss von Minderheitsaktionären (§§ 327a ff. AktG) – „Squeeze-out“ – sowie über Umwandlungen und Eingliederungen der Aktiengesellschaft (§§ 179a, 319 ff. AktG, §§ 60 ff. UmwG) unter bestimmten Voraussetzungen eine verfassungsrechtlich zulässige Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums sind. Der Gesetzgeber muss einen legitimen Zweck mit dem Ausschluss der Minderheitsaktionäre verfolgen, zudem sicherstellen, dass die Minderheitsaktionäre vollen Wertersatz für den Verlust der Aktien erhalten, und schließlich effektiven Rechtsschutz gegen den Ausschluss gewährleisten.35 1. „Recht auf Arbeit“ und Sicherung angemessener Arbeitsbedingungen Der soziale Bezug und die soziale Funktion des Unternehmenseigentums werden wesentlich dadurch begründet, dass Leistung und Ertrag des Unternehmens die Beschäftigung von Arbeitnehmern voraussetzen, die ihrerseits in ihrer Arbeit die materielle Daseinsgrundlage finden. Die freie Gestaltung des Arbeitsvertrages (§ 105 GewO) auf Seiten des Arbeitsgebers, soweit sie auf dem Unternehmenseigentum beruht, wird folgerichtig zum Schutz des Arbeitnehmers und zur Sicherung angemessener Arbeitsbedingungen durch gesetzliche Regelungen beschränkt. Auch das Grundrecht der freien Wahl des Arbeitsplatzes (Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG), die Koalitionsfreiheit mit Tarifautonomie und Arbeitskampf (Art. 9 Abs. 3 GG) und die privatrechtsgestaltende Wirkung von Diskriminierungsverboten (Art. 3 Abs. 2 und 3 GG, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz vom 14. August 2006)36 kommen hier zur Geltung. eine Quotenregelung bei der Besetzung von Aufsichts- und Verwaltungsräten als qualifizierte Sollvorschrift. 34 P. Badura, Die „Geschlechterquote“ bei der Betriebsratswahl unter den Anforderungen des Verfassungsrechts, ZBVR 2002, 255 (257 f.). 35 BVerfGE 14, 263 (276 ff.) – Feldmühle, Mehrheitsumwandlung; 100, 289 (302 ff.); BVerfG, NJW 2001, 279; BVerfG, NJW 2007, 3268; BVerfG, ZIP 2007, 2121; HansOLG Hamburg Beschl. vom 14.6.2012 – 11 AktG 1/12. – H.-J. Papier, Art. 14 (o. Fußn. 1), Rdnr. 195. 36 H.-J. Papier, Schutz des sozialen Eigentums und Neutralität im Arbeitskampf, DVBl. 1986, 577; P. Badura, Gleiche Freiheit im Verhältnis zwischen Privaten – Die verfas-

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Dem Grundgesetz lässt sich durch den Sozialstaatssatz und das Gebot, den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen (Art. 20 Abs. 1, Art. 109 Abs. 2 GG), ein Verfassungsauftrag dahingehend entnehmen, Arbeit und Arbeitsplätze in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit zu fördern,37 nicht jedoch ein allgemeines „Recht auf Arbeit“ in dem Sinne, dass der Staat durch eine Grundsatznorm der Verfassung verpflichtet wäre, jedermann eine geeignete Arbeitsmöglichkeit zu verschaffen oder sogar den Unternehmen die Schaffung bestimmter Arbeitsplätze aufzugeben. Das Gesetz kann immerhin die Unternehmen verpflichten, aus bestimmten sozialpolitischen Gründen, z. B. um einer Benachteiligung wegen Behinderung entgegenzutreten (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG),38 oder um bestehende Nachteile wegen mangelhafter Gleichberechtigung von Mann und Frau (Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG) zu beseitigen, vorhandenen Arbeitsplätze eingeschränkt zu besetzen. Die Aufgabe von Unternehmern und Unternehmen besteht jedoch nicht nur, wahrscheinlich nicht einmal primär darin, Arbeitsplätze vorzuhalten, sondern darin, zu produzieren, Werte zu schaffen und sich im Wettbewerb auf dem Markt zu behaupten.39 Die aus vielerlei Gründen der Eigentumsgarantie jedenfalls in keiner Weise nachstehende grundrechtliche Gewährleistung des freien Einsatzes der menschlichen Arbeitskraft (Art. 12 GG) ist ein deutliches Zeichen der Reaktion des Grundgesetzgebers auf die veränderten sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten.40 Das „Recht auf Arbeit“, das Recht, dass jedermann von seiner Arbeit soll leben können, ist als moralische oder politische Maxime für die gerechte Ordnung des Gemeinwesens ein auf ältere Vorstellungen zurückgehender Grundgedanke der Aufklärung. In Verfassungspolitik und Verfassungsrecht erscheint es als soziales Grundrecht, gerichtet an den Gesetzgeber, in der Sache eine der sozialen Staatsaufgabe zugeordnete Direktive.41 Die Mehrzahl der Landesverfassungen,42 eine Reihe auslän-

sungsrechtliche Problematik der Umsetzung der EG-Diskriminierungsrichtlinien in Deutschland, ZaöRVR 68, 2008, 347. 37 BVerfGE 100, 271 (282 ff.); 103, 293 (304). 38 G. Beaucamp, Das Behindertengrundrecht (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG) im System der Grundrechtsdogmatik, DVBl. 2002, 997; T. Leder, Das Diskriminierungsverbot wegen einer Behinderung, 2006. 39 H.P. Ipsen, VVDStRL 35, 1977, S. 145 f. 40 H.-J. Papier, Art. 14 (o. Fußn. 1), Rdnr. 18. 41 R. Scholz, Das Recht auf Arbeit, in: Böckenförde/Jekewitz/Ramm, Soziale Grundrechte, 1980, S. 75; R. Wark, Das Recht auf Arbeit im Verfassungsrecht und im Arbeitsrecht, 1980; H.-J. Papier, Art. 12 GG – Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, DVBl. 1984, 2177; P. Badura, Staatsrecht (o. Fußn. 31), L 3, 93. 42 Art. 166 Abs. 2 BayVerf; Art. 18 BerlVerf; Art. 48 Abs. 1 BbgVerf; Art. 8 Abs. 1 BremVerf; Art. 28 Abs. 2 HessVerf; Art. 24 Abs. 1 NRWVerf; Art. 45 Satz 2 SaarlVerf; Art. 7 Abs. 1 SächsVerf; Einige Landesverfassungen charakterisieren das soziale Grundrecht als Staatsziel oder Staataufgabe, z. B. Art. 48 Abs. 2 BbgVerf, Art. 36 ThürVerf. – Das Arbeitsund Wirtschaftsrecht des Bundes geht den landesverfassungsrechtlichen Programm- und Aufgabennormen vor (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und 12 i. V. m. Art. 31 GG).

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discher Verfassungen43 und auch die EU-Grundrechte-Charta (Art. 45 Abs. 1) haben mit verschiedenartiger Klausulierung ein Recht auf Arbeit ausdrücklich zugesichert. Ein subjektives Teilhaberecht der Einzelnen, gerichtet gegen den Staat oder privatrechtsgestaltend gegen den Unternehmer oder das Unternehmen, wird dadurch nicht begründet; das die Aufgabennorm der Verfassung verwirklichende Gesetz kann Pflichten des Arbeitgebers und Rechte des Arbeitnehmers regeln. In der polemischen Konfrontation von Kapital und Arbeit verschwindet der entscheidende Vorgang der Organisation und der Vermittlung, durch den die mit dem „Eigentum“ verbundenen wirtschaftlichen Handlungschancen die Wirklichkeit unternehmerischer Leistung gewinnen. 2. Mitbestimmung im Unternehmen Die Sozialpflichtigkeit der Unternehmensfreiheit (Art. 14 Abs. 2, Art. 9 Abs. 1 GG) der Handelsgesellschaft und der Anteilseigner kommt in der betriebsverfassungsrechtlichen Mitwirkung, die auch unternehmerische Auswirkungen hat,44 und vor allem in der unternehmerischen Mitbestimmung im Aufsichtsrat45 zur Geltung. Die Unternehmensmitbestimmung ist kraft hoheitlicher Gestaltung in das Gesellschaftsrecht eingefügt und wirkt als eine sozialordnungsrechtliche Modifikation oder Überformung der privatautonomen Funktionsweise der Unternehmenstätigkeit mit den Mitteln des Gesellschaftsrechts. Sie bildet eine rudimentäre Unternehmensverfassung. Die erweiterte Mitbestimmung berührt das Eigentum der das Unternehmen tragenden Handelsgesellschaften, da sie deren innere Organisation und das Verfahren der Willensbildung und damit Funktionsbedingungen des Eigentums beeinflusst.46 Die Einschränkung der Unternehmensfreiheit durch die erweiterte Mitbestimmung ist der Preis der angestrebten Ergänzung der ökonomischen durch eine soziale Legitimation der Unternehmensleitung in größeren Unternehmen, der Kooperation und Integration aller im Unternehmen tätigen Kräfte, deren Kapitaleinsatz und Arbeit Voraussetzung der Existenz und der Wirksamkeit des Unternehmens ist.47

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Art. 1 Satz 1, Art. 4 Abs. 1, Art. 35 Abs. 1 Verfassung der Republik Italien; Art. 58 Verfassung der Republik Portugal. 44 Betriebsverfassungsgesetz i. d. F. der Bek. vom 25. Sept. 2001, zuletzt geändert auch das Gesetz vom 29. Juli 2009 (BGBl. I S. 2424); Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates in sozialen Angelegenheiten (§ 87 BetrVG). – P. Badura, (o. Fußn. 31), C 102. 45 Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer (Mitbestimmungsgesetz – MitbestG) vom 4. Mai 1976 (BGBl. I S. 1153), zuletzt geänd. durch das Gesetz vom 22. Dez. 2011 (BGBl. I S. 3044); E. R. Huber, Grundgesetz und wirtschaftliche Mitbestimmung, 1970; P. Badura, Unternehmenseigentum und Mitbestimmung, in: Kaltenbrunner (Hrsg.), Was gehört mir? 1982, S. 104; ders., Wirtschaftliche Mitbestimmung, in: von Maydell/Kannengießer (Hrsg.), Hb Sozialpolitik, 1988, S. 244; ders., Mitbestimmung (o. Fußn. 7), S. 7 ff.; W. Farthmann/M. Coen, Tarifautonomie, Unternehmensverfassung und Mitbestimmung, HVerfR, 2. Aufl., 1994, § 19; F. Rittner/M. Dreher (o. Fußn. 16), § 10. 46 BVerfGE 50, 290 (351 f.). 47 BVerfGE 50, 290 (365 f.).

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Eine erweiterte Mitbestimmung, bei der die Entscheidung der wirtschaftlichen Planungs- und Leitungsaufgaben des Unternehmens nicht mehr überwiegend in der Hand der das Unternehmen tragenden Eigentümer läge, wäre mit der Vereinigungsfreiheit und der Eigentumsgarantie unvereinbar.48 Die erweiterte Mitbestimmung der Arbeitnehmer nach dem Mitbestimmungsgesetz 1976 ist mit den Grundrechten der von dem Gesetz erfassten Gesellschaften, der Anteilseigner und der Koalitionen der Arbeitgeber vereinbar; denn nach der vertretbaren Prognose des Gesetzgebers ist ein hinreichendes Übergewicht der Anteilseignerseite im Aufsichtsrat gewahrt, eine paritätische oder sogar überparitätische Mitbestimmung in der praktischen Wirkung nicht herbeigeführt und die Funktionsfähigkeit der Unternehmen nicht in Frage gestellt.49 Die paritätische Mitbestimmung in der Montanindustrie50 ist vom Mitbestimmungsgesetz ausgenommen (§ 1 Abs. 2 MitbestG) und verfügt angesichts ihrer Entstehungsbedingungen verfassungsrechtlich über eine Sonderstellung. Diese Sonderform der Unternehmensmitbestimmung kann nur durch solche Merkmale gerechtfertigt werden, die gerade auf die Montanindustrie zutreffen und sie folglich von anderen Industriezweigen unterscheiden. Grundbedingung für die Verfassungsmäßigkeit ihrer Fortgeltung ist daher, dass nur Unternehmen von der Regelung erfasst werden, die einen ausreichenden Montan-Bezug aufweisen. Das gilt auch für Konzernobergesellschaften. Die Einbeziehung von Konzernobergesellschaften in die Sonderform der Montan-Mitbestimmung nach dem Mitbestimmungsergänzungsgesetz ist mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar, wenn sie einen ausreichenden Montan-Bezug aufweisen.51 Einem weniger sozialpolitischen, als vielmehr gesellschaftspolitischen Rechtsgedanken folgen Vorhaben einer Vermögens- oder Ertragsbeteiligung der Arbeitnehmer an dem sie beschäftigenden Unternehmen.52 Unter Aufrechterhaltung und Wahrung des privaten Unternehmenseigentums wird die Stellung von Anteilseignern oder Quasi-Anteilseigner eröffnet.

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E.R. Huber (o. Fußn. 45), S. 46 ff., 86 ff. BVerfGE 50, 290. – H.-J. Papier, Das Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts – Eine kritische Würdigung aus verfassungsrechtlicher Sicht, ZGR 1979, 444. 50 Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie (sog. MontanMitbestimmungsgesetz) vom 21. Mai 1951 (BGBl. I S. 347), zuletzt geändert durch Gesetz vom 31. Okt. 2006 (BGBl. I S. 2407); Montan-Mitbestimmungsergänzungsgesetz vom 7. August 1956 (BGBl. I S. 707), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22. Dez. 2011 (BGBl. I S. 3044). 51 BVerfGE 99, 367 (395). 52 U. Scheuner, Die überbetriebliche Ertragsbeteiligung der Arbeitnehmer und die Verfassungsordnung; H. Sendler (o. Fußn. 1), S. 78. 49

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3. Freiheit und Ordnung des Wettbewerbs Das Auftreten des Unternehmens im marktwirtschaftlichen Wettbewerb genießt grundrechtlich den Schutz der Berufs- und Unternehmensfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und allgemein der Vertragsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG). Diese Garantien bilden die verfassungsrechtlichen Maßstäbe für Rechtsvorschriften, die den Wettbewerb ordnen und den Missbrauch wirtschaftlicher Machtstellung verhüten sollen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 16 GG). Nur wenn und soweit die ordnungspolitische Intervention nach Zweck und Wirkung die Innehabung oder den Gebrauch des Unternehmenseigentums betrifft, wie z. B. bei der fusionsrechtlichen Entflechtung (§ 41 GWB) oder bei dem energiewirtschaftlichen Unbundling vertikal integrierter Energieversorgungsunternehmen (§ 3 Nr. 38, §§ 6 ff. EnWG),53 tritt die Eigentumsgarantie auf den Plan, um nicht spezifisch gerechtfertigte und unverhältnismäßige Eingriffe abzuwehren.54 Der Gesetzgeber hat einer dem Funktionssinn der Eigentumsgewährleistung widerstreitenden Konzentration des Privateigentums entgegenzuwirken,55 darf aber nur greifbar missbräuchlichen oder öffentliche Belange schädigenden Erscheinungen wirtschaftlicher Macht durch Eingriff in Rechte entgegentreten. „Die bestehende Wirtschaftsverfassung enthält den grundsätzlich freien Wettbewerb der als Anbieter und Nachfrager auf dem Markt auftretenden Unternehmer als eines ihrer Grundprinzipien“.56 Art. 14 GG als Institutsgarantie und Grundsatznorm erfordert die in dem subjektiven Recht verkörperte rechtlich anerkannte Willensmacht des Einzelnen als Mittel der Gestaltung der Sozialordnung und gestattet deshalb eine Instrumentalisierung oder Funktionalisierung zugunsten einer „optimalen“ Wettbewerbsordnung nicht.57 Die „Inpflichtnahme wesentlicher Institute des Privatrechts für die gesamtwirtschaftliche Richtigkeit“, vor allem der Vertragsfreiheit und des Eigentums, durch Wettbewerbsrecht und Marktregulierung58 ist und bleibt verfassungsrechtlich eine nach Art und Maß rechtfertigungsbedürftige Bestimmung von Inhalt und Schranken der Grundrechte der Unternehmensfreiheit. Ein Hauptstück der gesetzlichen Ordnung des Wettbewerbs durch Unterbindung von Wettbewerbsbeschränkungen und zur Verhütung des Missbrauchs wirtschaftlicher Macht ist die präventive Zusammenschlusskontrolle zur Aufsicht über Fusionsvorhaben, bei denen zu erwarten ist, dass sie eine marktbeherrschende Stellung begründen oder verstärken (§§ 35 ff. GWB).59 Die Vorschriften des nationalen Wettbewerbsrechts finden keine Anwendung, soweit die Kommission der EU nach der Ver53

P. Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 4. Aufl., 2011, Rdnr. 290. C. Engel (o. Fußn. 1), S. 210 ff.; H.-J. Papier, Art. 14 (o. Fußn. 1), 506 ff. 55 H.-J. Papier, Art. 14 (o. Fußn. 1), Rdnr. 16. 56 BVerfGE 32, 311 (317). 57 H.-J. Papier, Unternehmen und Unternehmer (o. Fußn. 1), S. 78 f., 82 f., 102 f. 58 F. Rittner/M. Dreher (o. Fußn. 16), § 1 Rdnr. 48. 59 R. Scholz, Konzentrationskontrolle und Grundgesetz, 1971; W. Möschel, Europäische Fusionskontrolle, JZ 2008, 283; F. Rittner/M. Dreher (o. Fußn. 16), § 22; P. Badura, Wirtschaftsverfassung (o. Fußn. 53), Rdnr. 273, 275. 54

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ordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen („EG-Fusionskontrollverordnung“) vom 20. Januar 2004 (ABl. Nr. 24/1) – siehe Art. 101 ff. AEUV – ausschließlich zuständig ist (§ 35 Abs. 3 GWB). In Angleichung an das europäische Recht übernimmt das Achte Gesetz zur Änderung des GWB (Gesetzentwurf der BReg., BTag Drucks. 17/9852, 26. 6. 2012, bei Drucklegung im Vermittlungsausschuss) – das Untersagungskriterium des SIEC-Tests (significant impediment to effective competition); hiernach ist maßgeblich, ob ein Zusammenschluss eine erhebliche Behinderung wirksamen Wettbewerbs hervorruft.60 Die bisher nicht eingeführte missbrauchsunabhängige Entflechtungsbefugnis als ultima ratio61 könnte nur bei einem Tatbestand spezifischer und überwiegender Störung der Wettbewerbsordnung mit der Garantie des Unternehmenseigentums im Einklang bleiben. Die wettbewerbsrechtliche Fusionskontrolle erfasst naturgemäß nicht die Entstehung von Marktmacht durch das innere Wachstum von Unternehmen durch Leistung und Erfolg oder Änderung der Markt- und Wettbewerbsbedingungen. 4. Gemeinwohlorientierung Unter dem Blickwinkel des sozialstaatlichen Staatsziels der Verfassung und der wirtschafts- und strukturpolitischen Aufgaben des Staates ist die Stellung der Unternehmen ambivalent: Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Prosperität der Unternehmen ist wesentliche Voraussetzung von Arbeit und sozialer Sicherheit, von Wachstum und Steuerkraft der Wirtschaft. Andererseits fällt es in die Verantwortung des Staates im Rahmen der freiheitlichen Wirtschaftsordnung Inhalt und Schranken des Unternehmenseigentums in Rücksicht auf die Wahrung der Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, der Gewährleistung der Infrastruktur und der Sicherung der wirtschaftlichen Ressourcen und der natürlichen Lebensgrundlagen zu bestimmen (Art. 20 Abs. 1, Art. 20a, Art. 74 Abs. 1 Nr. 11, 17, 29, 32, Art. 109 Abs. 2 GG). Dieser variierenden Komplexität des Sachverhalts muss die Auslegung und Anwendung der Grundrechte bei der verfassungsrechtlichen Prüfung des Gesetzes Rechnung tragen. Eine Gewährleistungsdogmatik der Eigentumsgarantie schließt die überkommene freiheitsrechtliche Dogmatik ein, hindert aber die Einseitigkeit, mit dem dominierenden Kriterium des „Eingriffs“ in den Schutzbereich, Freiheit und Schranke der Freiheit als Grundmuster zu betrachten. Die Verpflichtung des Staates, den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen, die für die Haushaltswirtschaft ausdrücklich in Art. 109 Abs. 2 GG verankert ist, gilt darüber hinaus für die gesamte Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik kraft des übergreifenden Verfassungsgebots zur Sozial60 Sondergutachten der Monopolkommission gemäß § 44 Abs. 1 Satz 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen: Die 8. GWB-Novelle aus wettbewerbspolitischer Sicht, BTagDrucks. 17/8541 (1. 2. 2012), S. 4 ff. 61 Jahreswirtschaftsbericht 2011 der BReg., BTag Drucks. 17/4450 (19. 1. 2011), TZ 16, 80 ff.

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staatlichkeit (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG).62 Folgerichtig ist aus dem Sozialstaatssatz und der konjunkturpolitischen Maxime des Art. 109 Abs. 2 GG ein „Verfassungsauftrag zur Wachstumsvorsorge“ abgeleitet worden.63 Alle Mittel und Schritte der Wachstumsvorsorge müssen nicht nur bei der durch sie unvermeidlich bewirkten Beeinflussung privatwirtschaftlicher Investitionen nach dem Grundsatz der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit die Verfassungsgarantien der Wirtschaftsfreiheit respektieren, sondern auch an der Zielbestimmung orientiert bleiben, dass das gewünschte Wirtschaftswachstum letztlich von der Initiative und Leistungskraft unternehmerischen Handelns abhängig bleibt.64 Unbeschadet dieser Bindung der Wirtschaftspolitik sieht sich die Unternehmensfreiheit und ggf. das Unternehmenseigentum einer durch Gesetz auszuformenden Gemeinwohlorientierung zur Förderung des Wirtschaftswachstums und weiter auch durch das Ziel der Stabilität des Preisniveaus, das „vorrangige Ziel der Sicherung der Preisstabilität“ (Art. 109 Abs. 2, Art. 88 Satz 2 GG, § 1 StabG) – damit zugleich der Wahrung der Stabilität der Währung65 – unterworfen. Ein föderales Staatsziel des Bundes, das in verschiedener Weise den Gebrauch des Unternehmenseigentums erreichen kann, ist die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet (Art. 72 Abs. 2 GG), die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet (Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 GG). Die Inpflichtnahme Privater für öffentliche Aufgaben, wie bei der Bevorratungspflicht nach dem Gesetz über die Bevorratung mit Erdöl und Erdölerzeugnisse (Erdölbevorratungsgesetz – ErdölBevG) vom 16. Januar 2012 (BGBl. I S. 74), berührt in erster Linie die Unternehmensfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG),66 kann aber spezifische Dispositionen über sachlich-gegenständliche Substrate im Unternehmen verlangen und damit deren von Art. 14 GG geschützte privatautonome und privatnützige Verwendung begrenzen.67 62 P. Badura, Auftrag und Grenzen der Verwaltung im sozialen Rechtsstaat, DÖV 1968, 446 (449); H.-J. Papier, Eigentumsgarantie und Geldentwertung, AöR 98, 1973, S. 528 (548); ders., HVerfR (o. Fußn. 17), Rdnr. 21. 63 H.P. Ipsen, VVDStRL 24, 1966, S. 221 f. 64 P. Badura, Wachstumsvorsorge und Wirtschaftsfreiheit, in: Festschrift für Hans Peter Ipsen, 1977, S. 367; ders., (o. Fußn. 31), D 39. 65 H.-J. Papier, Eigentumsgarantie (o. Fußn. 62). – Die Eigentumsgarantie schließt weder eine staatliche Wertgarantie des Geldes, noch das währungs- und wirtschaftspolitische Leitbild ein, die Vorstellung eines stabilen Geldwertes zu verwirklichen (BVerfG HFR 1969, 347; BVerfGE 50, 57 (104 ff.) – Besteuerung von Zinsen aus Finanzanlagen). Weitergehend für einen Grundrechtsschutz bei evidenter Verfehlung des Staatsziels Preisstabilität: H.-W. Forkel, Staatschuldenkrise, Geldentwertung, Grundgesetz: Gibt es einen Grundrechtsschutz gegen staatlich herbeigeführte Inflation?, ZRP 2011, 140. 66 BVerfGE 30, 292 (312 ff., 334 f.) zu dem Gesetz über Mindestvorräte an Erdölerzeugnissen vom 9. September 1965 (BGBl. I S. 1217). 67 H.-J. Papier, Art. 14 (o. Fußn. 1), Rdnr. 378 i, in kritischer Auseinandersetzung mit BVerfGE 30, 292. – D. Hoffmann, Die verfassungsrechtliche Problematik der Inpflichtnahme Privater am Beispiel der entschädigungslosen Inanspruchnahme der Kreditinstitute für das Kontoabrufverfahren (§ 24 c KWG, §§ 93, 93 b AO), WM 2010, 193; W. Leisner, Einschal-

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Die Grundsatznorm des Art. 14 Abs. 1 GG, die Wirtschaftsordnung und Wirtschaftsleben in Verbindung mit den anderen grundrechtlichen Wirtschaftsfreiheiten als das Arbeits- und Leistungsfeld privatautonomer Erwerbstätigkeit gewährleistet, statuiert nicht einen allgemeinen Vorbehalt der Privatwirtschaft im Sinne der Subsidiarität öffentlicher Wirtschaftstätigkeit.68 Die Eigentumsgarantie wird nicht verletzt, wenn bestimmte Vermögensgüter, die für die Allgemeinheit von essentieller Bedeutung sind, zur Vermeidung von Gefahren für überragende Gemeinwohlbelange nicht der Privatrechtsordnung und ihrem Eigentumsbegriff unterstellt werden, sondern einem verwaltungsrechtlichen Herrschafts- und Nutzungsregimes.69 Auf der anderen Seite kann auch im Bereich von Daseinsvorsorge und Infrastruktur durch Privatisierung eine Preisgabe unternehmerischer Verantwortung der öffentlichen Hand erfolgen, die eine Entlassung der privatisierten Leistungen in die Gesetzlichkeiten privatwirtschaftlichen Erwerbsstrebens und betriebswirtschaftlicher Kosten- und Preiskalkulation bedeutet. An die Stelle staatlicher Leistung tritt eine öffentliche „Gewährleistungsverantwortung“.70 Die verbleibende Gewährleistungsverantwortung des Staates verharrt bei einer Rechtmäßigkeitskontrolle anhand gesetzlicher Anforderungen, besonders im Interesse der Versorgungssicherheit und Angemessenheit der privatwirtschaftlichen Leistungsdarbietung, muss also den Spielraum unternehmerischer Disposition respektieren.71 5. Unternehmenseigentum in der Europäischen Union Die unionsrechtlichen Verträge lassen die Eigentumsordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten unberührt (Art. 345 AEUV, zuvor Art. 295 EG). Dieser nationale Vorbehalt, der vor allem die auf dem Eigentum beruhende Unternehmenswirtschaft betrifft, spricht einen Grundsatz der „Neutralität der Gemeinschaft – sc. der Union – gegenüber der Eigentumsordnung“ aus,72 ändert aber nichts an der Unterworfenheit der nationalen Eigentumsordnung und der nationalen Eigentumsrechte unter das Unionsrecht, insbesondere die EU-Grundfreiheiten und die Wettbewerbsregeln des Binnenmarktes. Art. 345 AEUV führt nicht dazu, dass die in den Mitgliedtung Privater bei der Leistungsabrechnung in der Gesetzlichen Krankenversicherung, NZS 2010, 129. 68 Eine engere Bindung ergibt sich durch das Haushaltsrecht (vgl. § 65 BHO). 69 H.-J. Papier, Art. 14 (o. Fußn. 1), Rdnr. 13, unter Bezugnahme auf BVerfGE 24, 367 (389 f.) – Hochwasserschutzanlagen; 58, 300 (339) – Grundwassernutzung. 70 A. Voßkuhle, Beteiligung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und staatlicher Verantwortung, VVDStRL 62, 2003, S. 266; J. Masing, Regulierungsverantwortung und Erfüllungsverantwortung, VerwArch. 95, 2004, S. 151; M. Cornils, Staatliche Infrastrukturverantwortung und kontingente Marktvoraussetzungen, AöR 131, 2006, S. 378; F. Schoch, Gewährleistungsverwaltung: Stärkung der Privatrechtsgesellschaft, NVwZ 2008, 241. 71 P. Badura, Wirtschaftsverfassung (o. Fußn. 53), Rdnr. 183. 72 U. Everling, Eigentumsordnung und Wirtschaftsordnung in der Europäischen Gemeinschaft, in: Festschrift für Ludwig Raiser, 1974, S. 379.

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staaten bestehende Eigentumsordnung den Grundprinzipien des Vertrages entzogen ist,73 sondern erkennt die den Mitgliedstaaten zukommende Zuständigkeit für die Eigentumsordnung als Bestandteil der nationalen Rechtsordnung und Gegenstand der nationalen Gesetzgebung ausdrücklich an. Es ist und bleibt Sache der Mitgliedstaaten, ihre Eigentumsordnung eigenständig zu gestalten und insbesondere über Art und Maß des öffentlichen und des privaten Sektors ihrer Wirtschaftsordnung nach ihren politischen Vorstellungen und Zielen zu bestimmen und über die Beibehaltung, Einführung oder Abschaffung staatlicher Wirtschaftsteilhabe, über Sozialisierungen und Privatisierungen zu entscheiden.74 Das Unionsrecht spricht den „Diensten von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ einen Stellenwert innerhalb der gemeinsamen Werte der Union und eine Bedeutung bei der Förderung des sozialen und territorialen Zusammenhalts zu (Art. 14 AEUV). Folgerichtig gelten die EU-Wettbewerbsregeln und vor allem das grundsätzliche Beihilfeverbot für Unternehmen nur, soweit die Anwendung dieser Vorschriften nicht die Erfüllung der den Unternehmen übertragenen besonderen Aufgaben rechtlich oder tatsächlich verhindert (Art. 106, 107 AEUV).75 Zu den derart hervorgehobenen Diensten, die von öffentlichen oder privaten Unternehmen dargeboten werden können, gehören in erster Linie die infrastrukturellen Versorgungsleistungen des Verkehrswesens,76 der Energiewirtschaft und von Post und Telekommunikation. Die erfassten gemeinwohlorientierten Unternehmen genießen die Sonderstellung bei der staatlichen Förderung und im Wettbewerb nicht schlechthin, sondern nur im Hinblick auf die angebotenen und erbrachten Dienste im allgemeinen öffentlichen Interesse und müssen demnach in Anbetracht der begünstigten Funktion eine Bindung der Unternehmenstätigkeit hinnehmen. 73

EuGH, Rs. C-350/92, Slg. 1995, I-1985 Rdnr. 18; EuGH, Rs. C-483/99 Slg. 2002, I4803 Rdnr. 43, 44. 74 P. Badura, Eigentumsordnung und Gesellschaftsrecht in Europa, in: Festschrift für Rolf Stober, 2008, S. 33; ders., Wirtschaftsverfassung (o. Fußn. 53), Rdnr. 85; A. Hatje, Wirtschaftsverfassung im Binnenmarkt, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl., 2009, S. 801 (844 f.). 75 P. Badura, „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ unter der Aufsicht der Europäischen Gemeinschaft, in: Oppermann (Hrsg.), „Liber amicorum“, 2001, S. 571; J. Schwarze (Hrsg.), Daseinsvorsorge im Lichte des Wettbewerbsrechts, 2001; M. Möstl, Renaissance und Rekonstruktion des Daseinsvorsorgebegriffs unter dem Europarecht, in: Festschrift für Peter Badura, 2004, S. 951. – Grünbuch der Kommission der EG vom 21. Mai 2003 zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, KOM (2003) 270 endg., dazu R. Ruge, ZPR 2003, 353; Entscheidung der Kommission vom 28. November 2005 über die Anwendung von Artikel 86 Absatz 2 EG-Vertrag auf staatliche Beihilfen, die bestimmten mit der Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betrauten Unternehmen als Ausgleich gewährt werden (ABl. Nr. L 312/67); Gemeinschaftsrahmen für staatliche Beihilfen, die als Ausgleich für die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen gewährt werden (ABl. 2005 Nr. C 297/4). 76 EuGH Rs C-280/00 (Altmark Trans, öffentlicher Personennahverkehr), Slg. 2003, I7747; M. Ronellenfitsch, Das Altmark-Urteil des Europäischen Gerichtshofs, VerwArch. 95, 2004, 425.

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Die Europäische Union gewährleistet durch Grundrechte, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten, aus der EU-Grundrechte-Charta vom 12. Dezember 2007 und aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ergeben (Art. 6 EUV), gegenüber den organgeschaffenen Rechtsakten und gegenüber Durchführung des Rechts der Union durch die Mitgliedstaaten (Art. 51 EU-Grundrechte-Charta) einen dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG). Neben dem Schutz der unternehmerischen Freiheit (Art. 16 der Charta) garantiert die EU-GrundrechteCharta in einer dem Art. 14 GG vergleichbaren Weise Besitz und Gebrauch des Eigentums (Art. 17).77 Die Sozialpflichtigkeit des Unternehmenseigentums wird besonders – unter dem Aspekt der „Solidarität“ – durch Rechte des Arbeitnehmers (Art. 27 ff. der Charta) konkretisiert. Entsprechend den Eigentumsgarantien in den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten muss auch die unionsrechtliche Garantie im Hinblick auf die soziale Funktion der geschützten Rechtsgüter und Tätigkeiten gesehen werden. Über die sich daraus ergebenden Beschränkungen hinaus erscheint es in der Rechtsordnung der Union weiterhin auch berechtigt, für die Eigentumsrechte bestimmte Begrenzungen vorzuhalten, die durch die dem allgemeinen Wohl dienenden Ziele der Union gerechtfertigt sind, solange die Rechte nicht in ihrem Wesen angetastet werden. Was insbesondere den Schutz des Unternehmens angeht, so kann er keinesfalls auf bloße kaufmännische Interessen oder Aussichten ausgedehnt werden, deren Ungewissheit zum Wesen wirtschaftlicher Tätigkeit gehört.78 Die Ausübung der Rechte kann Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Union entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der diese Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet.79 Die gesellschaftliche, wirtschaftliche und soziale Funktion der Unternehmen und des Unternehmenseigentums im europäischen Binnenmarkt ist Voraussetzung für die Verwirklichung der Ziele der Union und fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt der Mitgliedstaaten (Art. 3 EUV, Art. 174 ff. AEUV).

77 H.-J. Papier, Art. 14 (o. Fußn. 1), Rdnr. 288 ff.; N. Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl., 2011, Art. 17; J. Schwarze, Der Schutz der unternehmerischen Freiheit nach Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, in: Festschrift für Klaus Stern, 2012, S. 945. – Der unionsrechtliche Grundrechtsschutz des Eigentums unterscheidet sich in Rechtsgrund und Reichweite von völkerrechtlichen Garantien (vgl. C. Ohler, Der Schutz des privaten Eigentums als Grundlage der internationalen Wirtschaftsordnung, JZ 2006, 875). 78 EuGH, Rs. 4/73 (Nold), Slg. 1974, 491, Tz. 13, 14. 79 EuGH, Rs. 5/88 (Wachauf), Slg. 1989, 2609, Tz. 18.

Staatssponsoring zwischen zivilgesellschaftlicher Perspektive und Korruptionsgefahr Von Martin Burgi I. Themenstellung Hans-Jürgen Papier hat als Wissenschaftler und Verfassungsrichter immer neue Themen auf die Grundfragen der Staatlichkeit in der Verfassungsordnung unter dem Grundgesetz zurückgeführt und unschätzbare Beiträge zur Abwehr von Gefährdungen dieser Ordnung, aber auch zu ihrer Weiterentwicklung geleistet. Das Thema des Sponsoring von Staat und Verwaltung (nicht: von Parteien1 oder Abgeordneten), wird in regelmäßig wiederkehrenden Abständen und vielfach mit besorgtem bis empörtem Unterton aus Anlass tatsächlicher oder vermeintlicher Skandale in den Medien erörtert, während in Politik und Rechtspraxis trotz zahlreicher existierender Verwaltungsvorschriften Rechtsunsicherheit herrscht, was um so problematischer ist, je mehr sie das Ob und die Reichweite einer Strafbarkeit betrifft. Ein Beitrag, der anlassunabhängig die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen ermitteln und einige Überlegungen zu Notwendigkeit und Inhalten einer gesetzlichen Regelung anstellen möchte,2 darf daher auf das Interesse des Jubilars hoffen, zumal die meisten potenziellen Sponsoren, insbesondere auf der lokalen Ebene, zweifelsohne Teil der „Zivilgesellschaft“ sind, deren „Chancen und Aufgaben“ sich Hans-Jürgen Papier (im Hinblick auf die ebenfalls dort beheimateten Stiftungen) vor einigen Jahren gewidmet hat.3 Dabei diagnostiziert er gleich zu Beginn zutreffend, dass „der moderne Staat … seit geraumer Zeit an die Grenzen seiner Leistungs- und Steuerungsfähigkeit gestoßen“ ist, weswegen auch jenseits der herkömmlichen Privatisierungsphänomene verstärkt und mit mutigem Blick für die Perspektiven (ohne Vernachlässigung der Gefahren) über weitere Formen der Aufgabenteilung zwischen Staat und Gesell1

Umfassend hierzu die Beiträge in M. Morlok/U. von Alemann/Th. Streit Hrsg., Sponsoring – Ein neuer Königsweg der Parteienfinanzierung?, 2006; M. Betzinger, Sponsoring im öffentlichen Raum, 2011, S. 139 ff. m. w. N. 2 In Weiterführung der in dem aus einem DFG-Forschungsprojekt hervorgegangenen Band „Sponsoring der öffentlichen Hand“ (Hrsg. M. Burgi), 2010, dokumentierten Ansätze; vgl. ferner F. Meininger, Möglichkeiten, Grenzen und Praxis des Sponsoring der öffentlichen Verwaltung, Diss. Speyer 2000; B. Remmert, Rechtsfragen des Verwaltungssponsorings, DÖV 2010, 583. 3 Veröffentlicht in Stifter und Staat, 2006 (hrsg. vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, 2006, S. 130).

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schaft nachzudenken sei. Dabei steht die Statthaftigkeit dieser Form zivilgesellschaftlichen Engagements, d. h. das Ob, im Vordergrund. Selbstverständlich gibt es aber auch verfassungsrechtliche Determinanten und verschiedene einfachrechtliche Vorgaben für das Verfahren beim Umgang mit Sponsoren (Schriftlichkeit? Sponsoringberichte?), für die Organisation (Trennung zwischen der gesponserten Einheit und der für die Verwaltungsaufgaben zuständigen Einheit?) sowie für die etwaige Auswahlentscheidung zwischen mehreren Interessenten und schließlich für das Haushaltswesen.4 Im Rahmen dieses Beitrags lediglich hingewiesen werden kann schließlich auf die steuerrechtlichen5 und die strafrechtlichen Aspekte.6 In Ermangelung einer gesetzlichen Definition ist es sinnvoll, sich zunächst an den im Sport- und Kultursektor entwickelten Definitionen zu orientieren und sodann eine Abgrenzung gegenüber anderen Formen der insbesondere finanziellen Unterstützung staatlicher Aufgabenerfüllung vorzunehmen. Danach kann als Sponsoring der Verwaltung die Förderung einer Verwaltungseinheit bei der Erledigung ihrer Aufgaben durch die Bereitstellung von Geld, Sachmitteln, Dienstleistungen oder know how durch einen privaten Sponsor unter einvernehmlicher Festlegung kommunikativer Ziele verstanden werden.7 Gleichsinnig stellt beispielsweise die Begriffsbestimmung in Ziffer 2.1 der „Richtlinie zum Umgang mit Sponsoring, Werbung, Spenden und mäzenatischen Schenkungen in der staatlichen Verwaltung (Sponsoringrichtlinie)“ der Bayerischen Staatsregierung darauf ab,8 dass die „Zuwendung von Geld bzw. geldwerten Sach- oder Dienstleistungen durch eine juristische oder natürliche Person mit wirtschaftlichen Interessen, die neben dem Motiv der Förderung der öffentlichen Einrichtung auch andere Interessen“ verfolge notwendig sei, wobei es der zuwendenden Person „auf ihre Profilierung in der Öffentlichkeit über das unterstützte Vorhaben … (Imagegewinn, kommunikativer Nutzen)“ ankomme. Dem Sponsor kommt es also gerade darauf an, seinen Namen (ganz offen!) mit dem guten Namen des Staates zu verbinden. Im Bestehen einer Gegenleistung des Staates in Gestalt der Erlaubnis für den Sponsor, sich im unmittelbaren räumlichsachlichen Zusammenhang der Förderung (etwa auf den gesponsorten Schul-PCs) oder an anderer Stelle (beispielsweise auf den eigenen Briefbögen) als Förderer be4 Ausführlich dazu M. Burgi/D. Hampe/A. Friedrichsmeier, Der Rechtsrahmen des Verwaltungssponsoring: Regelungsbedarf, Verfassungsvorgaben, empirische und rechtsvergleichende Erkenntnisse, in: Burgi (o. Fußn. 2), S. 176 ff.; Remmert (o. Fußn. 2), 587 ff. 5 Vgl. dazu R. Seer, Steuerrechtliche Aspekte des Verwaltungssponsoring, in: Burgi (o. Fußn. 2), S. 315 ff., und zuletzt S. Alvermann, Sponsoring und Steuern, AG 2010, 867; T. Carle, Sponsoring – Steuerliche Behandlung, ErbStB 2011, 296; C. Gasten, Umsatzsteuerliche Behandlung des Sponsoring unter Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung, Forum Steuerrecht 2011, 105. 6 Vgl. dazu F. Zieschang, Strafrechtliche Aspekte des Verwaltungssponsoring, in: Burgi (o. Fußn. 2), S. 335 ff., und zuletzt L. Kuhlen, Sponsoring und Korruptionsstrafrecht, JR 2010, 148; J. Schlösser, Bestechung durch „Public Fundraising“?, StV 2011, 300. 7 Ausführlich zur Begriffsbestimmung Burgi/Hampe/Friedrichsmeier (o. Fußn. 4), S. 71 (77 ff.). 8 Vom 14. 9. 2010, Az.: B II 2-G 24/10.

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zeichnen zu dürfen, liegt der zentrale Unterschied gegenüber dem Mäzenatentum und dem Spendenwesen.9 Adressaten der Unterstützungsleistungen sind die staatlichen Verwaltungseinheiten, wohingegen finanzielle Zuwendungen an einzelne Verwaltungsbedienstete, die bekanntlich insbesondere durch das Beamtenrecht eng reglementiert sind (vgl. z. B. § 42 BeamtStG, § 71 BBG) von vornherein nicht erfasst sind. Die jeweils abgeschlossenen Sponsoringverträge müssen die sich aus dem Verfassungsrecht und den einfachrechtlichen Normen ergebenden Vorgaben umsetzen und die Verknüpfung der privaten Förderleistung mit deren kommunikativer Nutzung durch den Gesponserten im Einzelnen näher ausgestalten, wobei teilweise an die aus dem Bereich des Sport- und Kultursponsoring stammenden privatrechtlichen Erkenntnisse angeknüpft werden kann.10 Ausweislich des Vierten Sponsoringberichts der Bundesregierung betreffend die Jahre 2009 und 201011 wurden allein auf Bundesebene Sponsoringleistungen im Wert von rund 93,4 Millionen Euro angenommen, wovon rund 61,1 Millionen Euro auf Kampagnen zur Gesundheitsprävention entfallen. Wörtlich heißt es: „Ohne die finanzielle Unterstützung der Bundesverwaltung durch private Personen oder Institutionen hätten dieses und viele weitere Vorhaben nicht oder nur in geringerem Umfang verwirklicht werden können“. Dies gilt erst recht für die Landes- und insbesondere für die kommunale Ebene, wo der vornehmlichste (wenngleich weniger übersichtlich durch Berichte erschließbare) Einsatzbereich des Verwaltungssponsoring liegt.12 In Italien wird darüber diskutiert, ob die Renovierung des vom Zerfall bedrohten Kolosseum in Rom durch den Inhaber des Schuh- und Lederwarenunternehmens „Tods“ unterstützt werden darf bzw. sollte, und in den USA gibt es (was angesichts der dort angesiedelten Herkunft des Sportsponsoring kaum verwundert) zahlreiche Beispiele für erfolgreiche Sponsoringprojekte, aber auch interessante Organisationsund Verfahrensgestaltungen für den Umgang mit ihnen.13 Wichtige Beispielsfälle aus Deutschland betreffen die nach allgemeiner Einschätzung vielfach notleidende Infrastruktur in Kindertagesstätten, Schulen und Hochschulen oder Bibliotheken. Im sozialen Bereich finden u. a. Projekte im Bereich der Arbeit mit Migranten statt, die Umweltpflege und natürlich der kulturelle Bereich liefern ebenso Anschauungsmaterial wie die Repräsentation des Staates in Gestalt von Sommerfesten etc. Weitere Einsatzfelder und -formen sind denkbar, wobei die Kreativität zumal der potenziellen privaten Sponsoren durchaus beeindruckt. Freilich sollte der unbefangene Blick auf die rechtliche Problematik weniger von spektakulären Einzelfällen (wie 9

Ebenso Remmert (o. Fußn. 2), 583 in Fußn. 4. Vgl. dazu stellvertretend R. Schaub, Sponsoring und andere Verträge zur Förderung überindividueller Zwecke, 2008. 11 Bericht des BMI über die Sponsoringleistungen an die Bundesverwaltung vom 7. 6. 2006. 12 Zahlenmaterial bei A. Friedrichsmeier, Sozialwissenschaftliche Annäherung an das Verwaltungssponsoring und Design der empirischen Analyse, in: Burgi (o. Fußn. 2), S. 25 ff.; Burgi/Hampe/Friedrichsmeier (o. Fußn. 4), S. 85 ff. 13 Darüber wird näher berichtet bei Burgi/Hampe/Friedrichsmeier (o. Fußn. 4), S. 290 ff. 10

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etwa die private Finanzierung von Hamburger Polizeiuniformen durch eine internationale Designerfirma)14 als durch die zahlreichen buchstäblich alltäglichen Unterstützungsmaßnahmen auf allen staatlichen Ebenen geprägt sein.15 II. Gefahren Die Gefährdungen, die sich aus dem Sponsoring für die Integrität der Staatlichkeit auf der jeweils betroffenen Ebene ergeben können, und die im Titel dieses Beitrags mit dem untechnisch, d. h. nicht im unmittelbar strafrechtlichen Sinne der §§ 331 ff. StGB gemeinten Begriff der „Korruptionsgefahr“ gebündelt worden sind, bestehen in Anlehnung an eine Formulierung von M. Morlok darin, dass das formale, der Verwaltung im Rechtsstaat durch den Gesetzgeber vorgegebene Entscheidungsprogramm durch die zur Entscheidung Berufenen zur Erlangung von Vorteilen für die Verwaltungseinheit verletzt wird.16 Jenseits konkret festgestellter, d. h. nachgewiesener Fälle gilt es, schon den „bösen Schein“ einer nicht mehr am Gesetz bzw. der sachlichen Zweckmäßigkeit orientierten Entscheidungspraxis einer von Sponsoring profitierenden Verwaltung zu vermeiden. Daneben könnte sich bei einem deutlich steigenden Sponsoringvolumen eine weitere Gefährdung daraus ergeben, dass der Staat die wirtschaftliche Nutzung seines guten Namens nicht mehr nur bei Gelegenheit und zwecks Finanzierung der ihm auferlegten öffentlichen Aufgaben verwertet, sondern daraus eine eigenständige, mit erwerbswirtschaftlicher Zielsetzung betriebene Einnahmequelle macht. Interessanterweise streitet diese Gefährdungslinie dafür, einen möglichst engen Konnex zwischen den Sponsoringeinnahmen und den hiervon profitierenden Verwaltungsaufgaben zu verlangen, während die Gefährdungslinie der Korruption eher eine strikte und transparente Trennung zwischen der Erzielung der Sponsoringeinnahmen und den mit ihrer Hilfe zu erledigenden Verwaltungsaufgaben nahelegt. III. Perspektiven Nach dem Stand der bisherigen Überlegungen bestünde die Herausforderung für die Rechtsordnung darin, das beschriebene Gefährdungspotenzial so weit als möglich einzudämmen. Von dieser Warte aus erscheint das Sponsoring der öffentlichen Hand in der Tat als bestenfalls „unvermeidbar“, aber eben doch als Übel, das es durch korruptionspräventive Maßnahmen soweit als möglich zu verhindern gilt. Es ist daher kein Zufall, dass viele der (inhaltlich sehr sachkundigen und hilfreichen) Bei14

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Darüber berichtet H. Satzger, Bestechungsberichte und Sponsoring, ZStW 115 (2003),

15 Bündige Dokumentation der im Text genannten und zahlreiche weitere Beispiele bei Remmert (o. Fußn. 2), 584 m.w.N. 16 M. Morlok, Politische Korruption als Entdifferenzierungsphänomen, in: U. von Alemann (Hrsg.) Dimensionen politischer Korruption. Beiträge zum Stand der internationalen Forschung, 2005, S. 135.

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träge zur Thematik von Autoren aus dem Bereich der Korruptionsprävention stammen.17 Der Bundesrechnungshof hat in einer Stellungnahme aus dem Jahre 200218 ganz auf dieser Linie sogar dazu aufgerufen, auf Sponsoring möglichst grundsätzlich zu verzichten, um unzulässigen Einflussnahmen der Mittelgeber auf behördliche Entscheidungen vorzubeugen. Weiter heißt es: „Soweit solche Finanzierungsinstrumente doch eingesetzt werden, sollte eine größtmögliche Transparenz über die Herkunft und die Verwendung der Mittel gewährleistet sein“. Demgegenüber hat der Deutsche Städte- und Gemeindebund19 festgestellt, dass „gemeinnütziges Sponsoring … unverzichtbar“ sei, ebenso sehr wie allerdings „klare Regelungen und Transparenz“, weil nur auf diesem Wege erreicht werden könne, „dass sich die Wirtschaft oder auch vermögende Einzelpersonen in viel größerem Umfang noch stärker engagieren, um beispielsweise die Situation benachteiligter Kinder, Ansätze zur Integration von Migranten, der örtliche Fußballverein, Theater oder andere kulturelle Einrichtungen vor Ort zu unterstützen“. Offenbar gibt es somit neben den Gefahren auch positive Aspekte des Sponsoring, die vor der Auseinandersetzung mit dem Rechtsrahmen bedacht werden sollten. Aus der Sicht des Staates ergibt sich eine im Grundsatz legitime positive Erwartung an das Sponsoring jedenfalls aus dem bereits erwähnten Umstand der wachsenden Überforderung angesichts immer weiter reichenderen Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger an die staatlichen Akteure bei gleichzeitig schwindenden finanziellen Ressourcen.20 Aus Sicht der potenziellen Sponsoren (Einzelpersonen, kleinere und mittlere Unternehmen, daneben aber durchaus auch Großunternehmen und Weltkonzerne, insbesondere auf der Landes- und Bundesebene) sind die Motive naturgemäß sehr heterogen. Neben dem sich schon aus der Definition ergebenden Interesse der kommerziellen Nutzung der eigenen Fördertätigkeit zu Marketingzwecken gibt es altruistische Zielsetzungen21 und selbstverständlich ist der Entschluss, sich als Sponsor betätigen zu wollen, Bestandteil der grundrechtlichen Schutzbereiche des Art. 5 Abs. 1 GG (in Gestalt der Wirtschaftswerbung) und Art. 12 Abs. 1 GG (in Gestalt der Berufsausübungsfreiheit) sowie im Rahmen der Auffangfunktion natürlich auch der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG, ohne dass daraus freilich ein Anspruch auf den Abschluss von Sponsoringverträgen abgeleitet

17 Vgl. stellvertretend den aktuellen Beitrag von Chr. Caspar und R. Neubauer, Korruptionsprävention in kommunalen Verwaltungen, LKV 2011, 200, mit sponsoringbezogenen Ausführungen auf S. 207 ff. 18 Bemerkungen 2002 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes, S. 39; moderater die Bemerkungen 2007, S. 41. 19 In seiner Stellungnahme vom 23. 2. 2012, abrufbar unter www.dstgb.de (abgerufen am 18. 7. 2012). 20 Zu den finanziellen Dimensionen des Sponsoring unter den gegenwärtig bestehenden Rahmenbedingungen vgl. A. Friedrichsmeier, in: Burgi (o. Fußn. 2), S. 31 ff. 21 Näher differenziert bei Friedrichsmeier (o. Fußn. 12), S. 47 f.; Betzinger (o. Fußn. 1), S. 41 ff.

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werden könnte; ein generelles gesetzliches Verbot solcher Aktivitäten müsste aber erst einmal den Prüfstand der grundrechtlichen Rechtfertigungsprüfung passieren. Für die notwendige politische Diskussion über den künftigen Umgang von Staat und Gesellschaft mit dem Phänomen des Sponsoring der öffentlichen Hand noch wichtiger ist aber der Umstand, dass diese Aktivitäten teilweise im Zusammenhang mit der in den vergangenen Jahren immer stärker betonten Rolle des „verantwortungsbewussten Bürgers in der Zivilgesellschaft“22 gesehen werden müssen. Obgleich es sich hierbei um einen schillernden Begriff handelt, liefern die darauf zielenden Diskussionen und Stellungnahmen doch wichtige Anhaltspunkte, auch für die Rolle von Verwaltungssponsoren. Ausweislich des „Berichts zur Lage und zu Perspektiven bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland“, der vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung e.V. erstellt worden und vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Jahr 2009 herausgegeben worden ist, ist für zivilgesellschaftliches Handeln u. a. kennzeichnend, dass es „über jeweils eigene spezifische und partikulare Interessen hinaus das allgemeine Wohl berücksichtigt“.23 So wirbt etwa das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie für eine „Corporate-Citizenship Strategie von mittelständischen Unternehmen“ und nennt als eines von neun hierfür tauglichen Instrumenten das „Sozialsponsoring“.24 Wenngleich an dieser Stelle weder eine exakte Zuordnung des Sponsoring zu einer dieser Formen vorgenommen noch deren Relevanz dargelegt werden kann, ist zu konstatieren, dass ein rein korruptionspräventiver Zugriff auf das Phänomen des Sponsoring der öffentlichen Hand zu kurz greift und somit nicht allein den Ausgangspunkt der juristischen Betrachtung bilden kann. IV. Verfassungsrahmen Wie bereits erwähnt, gibt es in allen Bundesländern Verwaltungsvorschriften und Leitfäden, die sich mit dem Verwaltungssponsoring befassen, aber selbstverständlich keine schlüssige Ableitung verfassungsrechtlicher Vorgaben, sondern eher einzelne, vermeintlich plausible und vollziehbare Kernsätze enthalten. So wird Sponsoring bei Aufgaben der „Eingriffsverwaltung“ nahezu durchgängig für unstatthaft erklärt. Beispielsweise heißt es in Ziffer 3.2.1 der „Allgemeinen Vorschrift zur Förderung von Tätigkeiten des Bundes durch Leistungen Privater (Sponsoring, Spenden und sons-

22 Formulierung nach Papier (o. Fußn. 3), S. 138, der sie im Hinblick auf Stiftungen verwendet. 23 S. 10 ff. (11). 24 Am Anschluss an F.Dresewski/R. Lang, Corporate Citizenship: Über den Nutzen von Sozialen Kooperationen für Unternehmen, gemeinnützige Organisationen und das Gemeinwesen, in: Reimer/Strachwitz (Hrsg.), Corporate Citizenship, 2005. Vgl. ferner den Bericht der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“, BT-Drucks. 14/ 8900.

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tige Schenkungen)“ vom 7. 7. 2003,25 mit Bindung für die Dienststellen des Bundes: „In der Eingriffsverwaltung ist Sponsoring grundsätzlich nicht zulässig (z. B. bei einer unmittelbaren oder mittelbaren Unterstützung in den hoheitlichen Aufgabenbereichen der Polizei, der Finanzen und des Zoll des Bundes, etwa durch Sachmittelleistung). Außerhalb der Eingriffsverwaltung (z. B. Finanzierung öffentlichkeitswirksamer Maßnahmen der Polizei, wenn diese keine Beeinflussung im Bereich der Eingriffsverwaltung zur Folge hat) darf Sponsoring ausnahmsweise genehmigt werden“. Gleichsinnig formuliert Ziffer 4.3.1 der Sponsoringrichtlinie der Bayerischen Staatsregierung,26 dass das Sponsoring ausgeschlossen sei, wenn „der Anschein entstehen könnte, Verwaltungshandeln würde durch die Sponsoringleistung beeinflusst werden. Ein solcher Anschein liegt insbesondere vor bei Sponsoring … im unmittelbaren Zusammenhang mit folgenden überwiegend hoheitlichen Kernaufgaben der Behörden und sonstigen Einrichtungen des Freistaates Bayern: … Vornahme ordnungsrechtlicher Maßnahmen oder Erteilung von Genehmigungen sowie Ausübung sonstiger eingriffsverwaltender Tätigkeiten“ (erster Spiegelstrich). Nun ist bekanntlich die Abgrenzung zwischen Eingriffs- bzw. Hoheits- oder Kernverwaltung von anderen Verwaltungsbereichen seit jeher wenig treffsicher.27 Und wie bereits die beiden genannten Vorschriften zeigen, gibt es auch im Bereich dieser Verwaltungstätigkeiten einzelne Teilaufgaben, hinsichtlich derer jedenfalls nicht unmittelbar durch Befehl und Zwang gehandelt wird (falls es darauf überhaupt ankommt). Diese und andere Bestimmungen bilden somit zwar eine wichtige Orientierungshilfe für die Rechtspraxis, das erforderliche Maß an Rechtssicherheit vermögen sie aber nicht zu schaffen und insbesondere bleibt die Frage offen, wo genau die verfassungsrechtliche Grenze für die Statthaftigkeit des Verwaltungssponsoring verläuft. Die nachfolgenden Überlegungen erweisen zwei relevante verfassungsrechtliche Grenzen: 1. Grenzen qua wirtschaftliche Betätigung Einigkeit besteht mittlerweile in der Beurteilung, dass die Zusammenarbeit mit Sponsoren aus der Sicht der Verwaltung eine wirtschaftliche Betätigung ist, weil bei Gelegenheit der Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben zusätzlich der eigene Name zu Werbezwecken wirtschaftlich genutzt wird. Dies ist dem Staat grundsätzlich nicht verwehrt, da er aber jedes Tätigwerden auf einen öffentlichen Zweck zurückführen muss und die pure Gewinnerzielung (das sog. erwerbswirtschaftliche Tätigwerden) hierfür als nicht hinreichend angesehen wird, kommt eine Rechtfertigung nur unter der Voraussetzung in Betracht, dass es sich lediglich um eine sog. Rand-

25 Allgemeine Verwaltungsvorschrift des BMI vom 7.7.2003 – 04 – 634140 – 1/7, BAnz Nr. 126 vom 11. 7. 2003, S. 14906. 26 O. Fußn. 8. 27 Ebenso Remmert (o. Fußn. 2), 586.

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nutzung handelt.28 Das bedeutet, dass die erfolgreiche Erledigung der eigentlichen Verwaltungsaufgaben (der Hauptaufgaben), beispielsweise die Erteilung des Schulunterrichts oder die Durchführung von Polizeistreifen bzw. ministeriellen Sommerfesten, nicht beeinträchtigt werden darf. Dies kann bei Sponsoringmaßnahmen dann der Fall sein, wenn der Sponsor und seine Produkte bzw. Dienstleistungen in einer Weise in den Vordergrund treten, dass der eigentliche Veranstaltungszweck (die Erteilung von Unterricht, die Durchführung von Streifenfahrten oder die Repräsentation des Staates) überlagert oder gar in den Hintergrund zu treten droht. Diese Gefahr besteht gegenwärtig am ehesten bei durch Sponsoren unterstützten Aufklärungskampagnen; im Regelfall dürfte die sich aus dem Verbot einer rein erwerbswirtschaftlichen Betätigung ergebende Verpflichtung auf eine bloß randständige Nutzung des eigenen ökonomischen Potenzials angesichts der gegenwärtig durchaus überschaubaren Dimension des Vewaltungssponsoring nicht beeinträchtigt sein. 2. Grundsatz der Unparteilichkeit Die zweite, nach Inhalt und Reichweite wichtigere verfassungsrechtliche Grenze ergibt sich aus dem Grundsatz der Unparteilichkeit. Er verpflichtet zur „Beschränkung auf den jeweils sachangemessenen Handlungs- und Entscheidungsmaßstab unter Abwehr entscheidungsfremder Einflüsse“29 und ermöglicht die Bewältigung der oben (II) beschriebenen Korruptionsgefahren. Als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips nach Art. 20 Abs. 3 GG30 knüpft er daran an, dass die relevanten Handlungs- und Entscheidungsmaßstäbe sich zum einen aus dem jeweils anwendbaren Gesetz und zum anderen aus dem jedes Staatshandeln leitenden Gemeinwohl resultieren. Konkrete Ausformungen bestehen in der Verpflichtung, etwaige Eigeninteressen jenseits von Gemeinwohl und Gesetzesbindung herauszuhalten und vor allem eine Identifikation mit Partikularinteressen zu unterlassen.31 Der Grundsatz der Unparteilichkeit zielt nicht nur (aber natürlich auch) auf die Person des einzelnen Amtsträgers, sondern auch auf die Entscheidungen der Verwaltung als solcher sowie auf ihre Organisation und auf die von ihr durchgeführten Verfahren.32 Dadurch, dass jedes Sponsoring mit einer Gewährung von Mitteln zugunsten der Verwaltung verbunden ist, und dass dieser Umstand überdies (wesensmäßig) kommuniziert wird, besteht nach außen hin der Anschein, dass der Staat dem privaten Sponsor gegenüber in künftigen Verwaltungszusammenhängen nicht mehr unabhängig agieren könnte. 28 Ausführlich und näher entfaltet (im Anschluss an Meininger, o. Fußn. 2, S. 160 ff.; F. Oschmann, Die Finanzierung der inneren Sicherheit, 2005, S. 248 f.) bei Burgi/Hampe/ Friedrichsmeier (o. Fußn. 4), S. 118 ff.; zustimmend Remmert (o. Fußn. 2), 585. 29 M. Fehling, Verwaltung zwischen Unparteilichkeit und Gestaltungsaufgabe, 2001, S. 21. 30 Ebenso K.-P. Sommermann, in: v.Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, II, 6. Aufl. 2010, Art. 20 Rdnr. 307; J. Heimlich, Zur Zulässigkeit der Werbung von Hoheitsträgern am Beispiel der öffentlichen Feuerwehr, NVwZ 2000, 747; Fehling (o. Fußn. 29), S. 44 ff., 235 ff. 31 Näher und mit weiteren Nachweisen Burgi/Hampe/Friedrichsmeier (o. Fußn. 4), S. 99 ff. 32 Ausführlich Fehling (o. Fußn. 29), S. 195 ff.

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Freilich ist Unparteilichkeit relativ, d. h. auf den jeweiligen Handlungs- und Entscheidungsrahmen bezogen. Dieser wiederum differiert je nach betroffener Verwaltungsaufgabe. Daraus folgt, dass das Sponsoring zugunsten des Staates nicht von vornherein unstatthaft ist, dass es aber durchaus Aufgaben geben kann, die „so grundlegend oder so sensibel sind, dass tatsächlich jeder mit einer privaten Finanzierung verbundene Verlust an Entscheidungsrationalität und jeder diesbezügliche böse Schein vermieden werden muss“.33 Zur Ermittlung der Vereinbarkeit von Maßnahmen des Sponsorings zugunsten der öffentlichen Hand mit dem Grundsatz der Unparteilichkeit sei der Vorschlag bekräftigt, danach zu differenzieren, ob sich die Unterstützung auf Verwaltungsaufgaben bezieht, die durch den Vollzug von Gesetzen geprägt sind oder auf Verwaltungsaufgaben, die primär durch tatsächliche Handlungen dienstleistenden Charakters geprägt sind.34 Bei Verwaltungsaufgaben, bei der die Tätigkeit der Verwaltung primär im Vollzug besteht, würde die Annahme von Sponsoringleistungen unweigerlich den Anschein entstehen lassen, dass andere als die gesetzlich vorgegebenen Wertungen einen Einfluss auf die zu treffenden Entscheidungen gehabt haben könnten. Dem Grundsatz der Unparteilichkeit kann dann nur durch den vollständigen Verzicht auf Sponsoring entsprochen werden. Dies betrifft im Bereich der zahlreichen Aufgabenfelder der Polizei sämtliche Vollzugsaufgaben, hingegen nicht die Aufgaben der Verwaltung von Polizeigebäuden, Polizeiuniformen etc. Neben der Ordnungs- ist auch die Umwelt-, Bau-, Wirtschafts- und Regulierungsverwaltung bei ihren vollziehenden Tätigkeiten vom Sponsoring ausgeschlossen. Anders sieht es etwa bei der Feuerwehr aus, die zwar primär im Interesse der Gefahrenabwehr agiert, dabei aber keine Gesetze vollzieht, sondern Handlungen primär faktisch-dienstleistender Art erbringt. Ebenfalls ausgeschlossen sind wiederum sämtliche mit der Erteilung des Schulunterrichts zusammenhängenden Aufgaben (nicht aber die Aufgaben der Schulunterhaltung) und auch sämtliche Aufgaben beim Vollzug der Sozialgesetze. Das bedeutet konkret, dass auch die mit dem Vollzug der sog. Hartz IV-Gesetze betrauten Dienststellen (obgleich Teil der Leistungs-, nicht der Eingriffsverwaltung) keine Sponsoringleistungen annehmen können, und dass auf ihren Briefbögen bzw. an ihrer Dienstbekleidung keine entsprechenden kommunikativen Effekte entstehen dürfen. Das Gleiche gilt für die gesamte Subventionsverwaltung, für die Beschaffungs- und für die Personalverwaltung. 33

Remmert (o. Fußn. 2), 586. Erstmals entfaltet bei Burgi/Hampe/Friedrichsmeier (o. Fußn. 4), S. 103 f. Dem Vorschlag von Remmert (o. Fußn. 2), 586 f., an die in Art. 33 Abs. 4 GG den Beamten vorbehaltenen Aufgaben anzuknüpfen, ist entgegenzuhalten, dass diese Vorschrift nicht auf Aufgaben, sondern auf (hoheitsrechtliche) „Befugnisse“ abstellt und damit an ein bis heute vielfach umstrittenes Merkmal. In der Sache dürften beide Vorschläge weitgehend zu den gleichen Ergebnissen führen, wobei die hier vorgeschlagene Differenzierung nach der Intensität der Gesetzesgeprägtheit der jeweiligen Aufgabenerledigung infolge seiner größeren Unabhängigkeit von der Wahl der (öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen) Handlungsform insgesamt zu einem etwas größeren Kreis der nicht sponsoringgeeigneten Aufgaben kommen dürfte. 34

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Auf der anderen Seite des Spektrums stehen die faktisch geprägten Dienstleistungen, in deren Bereich der Grundsatz der Unparteilichkeit nicht schon zur Unstatthaftigkeit des Sponsoring führt, wohl aber durchaus noch Wirkungen auf das Verfahren und die Organisation beim Umgang mit Sponsoringleistungen (welche hier nicht näher verfolgt werden können) zu erzeugen vermag. Zu dieser Kategorie gehören die verschiedenen Aufgaben, die mit der Pflege des dem Staat bzw. den Kommunen gehörenden Vermögens und den zahlreichen Sachgegenständen, die zur Erfüllung der unmittelbar publikumszugewandten Verwaltungsaufgaben benötigt werden, verbunden sind: Verwaltung des Gebäudebestands, Fahrzeuge bei Straßenmeistereien, Uniformen der Polizei, Schulgebäude und Unterrichtsmaterialien etc. Eine zweite Gruppe von Verwaltungsaufgaben dieser Kategorie ist zwar adressatenbezogen, aber nicht dadurch gekennzeichnet, dass Entscheidungen gegenüber Adressaten getroffen werden. Das gilt für sämtliche Aufgaben der Unterhaltung von öffentlichen Sachen, Häfen und öffentlichen Einrichtungen, insbesondere des kulturellen Bereichs; sie müssen wiederum strikt unterschieden werden von den sachlich und äußerlich durchaus mit ihnen verbundenen Aufgaben der Planfeststellung bzw. Widmung jener Einrichtungen bzw. Sachen für die Benutzung durch die Allgemeinheit (deren Erledigung in Vollzug gesetzlicher Vorgaben erfolgt). Eine dritte Gruppe bilden schließlich die Aufgaben der Repräsentation des Staates und seiner Organe sowie der Aufklärung gegenüber Gefahren bzw. der Verbreitung von Hinweisen für eine bestimmte Lebenshaltung (Gesundheits- und Umweltkampagnen etc.). Sie alle sind zwar adressatenbezogen, erfolgen aber nicht im Vollzug gesetzlicher Wertungen, sondern lediglich im allgemeinen Rahmen zu beachtender gesetzlicher Vorgaben. Selbst wenn ein Sponsoringprojekt zu dieser grundsätzlich unproblematischen Kategorie der faktisch geprägten Dienstleistungsaufgaben gehört, kann der Grundsatz der Unparteilichkeit durch einzelne Modalitäten beeinträchtigt sein, was dann deren Einschränkung zur Folge hätte. In sachlicher Hinsicht betrifft dies die Verwendung bestimmter kommunikativer Mittel. So ist zwar die Verwaltungsaufgabe der Pflege des Schulmobiliars grundsätzlich sponsoringgeignet, konkrete Hinweise auf einen Sponsor auf der im Schulzimmer stehenden Tafel verstoßen aber gegen den Grundsatz der Unparteilichkeit, weil die Tafel so untrennbar mit der eigentlichen Schul- und Unterrichtsleistung verbunden ist, dass der bei den Schülern entstehende „böse Anschein“ nicht mehr zerstreut werden kann. Gleiches gilt für den Einsatz kommunikativer Mittel auf Uniformen oder anderen Bekleidungen von Bediensteten mit unmittelbarem Bürgerkontakt. In beiden Fällen ist aber die Verwendung anderer kommunikativer Mittel möglich, so etwa der Hinweis des Sponsors auf seinen eigenen Werbeunterlagen oder Briefköpfen. Eine Modalität in zeitlicher Hinsicht betrifft parallel verlaufende Vergabe- oder Subventionsgewährungsverfahren. Würde beispielsweise beabsichtigt, Schulgebäude finanziell zu unterstützen (was grundsätzlich statthaft wäre), so müsste ein entsprechendes Engagement unterbleiben, wenn der Sponsor temporär oder gar dauerhaft zu den Bietern in öffentlichen Vergabeverfahren gehört. Eine letzte modalitätenbezogene Wirkung entfaltet der Grundsatz der Un-

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parteilichkeit im Hinblick auf das Profil bestimmter Sponsoren. Infolge der untrennbaren Assoziierung von potenziellem Sponsor und gesponserter Verwaltungsaufgabe sind Aktivitäten von Sponsoren aus dem politischen, weltanschaulichen und religiösen Bereich m. E. per se, und das heißt auch bei den grundsätzlich in Betracht kommenden Verwaltungsaufgaben mit primär faktischem Gepräge, ausgeschlossen.35 V. Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung 1. Vorbehalt des Gesetzes und weitere Argumente Wie bereits erwähnt, behilft sich die Praxis mit dem Erlass von Verwaltungsvorschriften in mittlerweile beeindruckender Zahl und mit vielen hilfreichen, teilweise aber auch sehr weitgehenden und systematisch nicht abgestimmten Regelungen.36 Gesetzliche Aussagen finden sich nur vereinzelt und nur zu einzelnen Aspekten. So enthält etwa § 78 Abs. 4 der Gemeindeordnung für Baden-Württemberg eine Bestimmung dahingehend, dass die Gemeinde zur Erfüllung ihrer Aufgaben auch „Spenden, Schenkungen und ähnliche Zuwendungen einwerben und annehmen“ darf, wobei die Einwerbung und die Entgegennahme von Angeboten dem Bürgermeister obliegen, während über die Annahme der Gemeinderat zu entscheiden hat; es handelt sich mithin in erster Linie um eine organisationsbezogene Regelung. In den Schulgesetzen beinahe aller Länder finden sich Regelungen vergleichbar mit der des Art. 84 Abs. 1 Bayerisches Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen vom 31. 5. 2000,37 wonach der Vertrieb von „Gegenständen aller Art, Ankündigungen, Ankündigungen und Werbung hierzu, das Sammeln von Bestellungen sowie der Abschluss sonstiger Geschäfte … in der Schule untersagt“ sind, wobei „Ausnahmen im schulischen Interesse“ durch die Schulordnung geregelt werden können. Es liegt auf der Hand, dass die zumeist im Arkanbereich der Verwaltung erfolgende Diskussion über und die Verabschiedung von Verwaltungsvorschriften, die gegenüber dem Sponsoring bestehenden Vorbehalte nicht auszuräumen geeignet ist, zudem können Verwaltungsvorschriften gegenüber den immerhin grundrechtsgeschützten Sponsoren infolge ihres Charakters als Innenrecht nicht unmittelbar Rechte und Pflichten begründen. Da Einschränkungen der verfassungsrechtlich geschützten Garantie der kommunalen Selbstverwaltung (vgl. etwa Art. 28 Abs. 2 GG) nur durch Gesetz bzw. auf gesetzlicher Grundlage vorgenommen werden können, kann der quantitativ bedeutendste Bereich des Sponsoring, nämlich die Erfüllung kommunaler Verwaltungsaufgaben, mit Verwaltungsvorschriften des Bundes oder des jeweiligen Landes überhaupt nicht erfasst werden. Zwar haben verschiedene, insbesondere 35

Zurückhaltender insoweit Remmert (o. Fußn. 2), 587. Eine ausführliche Dokumentation sämtlicher auf Bundes- und Landesebene bestehender Verwaltungsvorschriften auf dem Stand von 2010 findet sich bei Burgi/Hampe/Friedrichsmeier (o. Fußn. 4), S. 124 ff., 176 ff. 37 GVBl., S. 414, ber. S. 632, zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. 12. 2011 (GVBl., S. 689). 36

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größere Kommunen ihrerseits Verwaltungsvorschriften erlassen, eine flächendeckende Steuerung ist aber nicht erkennbar.38 Sicherlich ist die gegenwärtige Regulierungspraxis nicht wegen eines Verstoßes gegen den ungeschriebenen Vorbehalt des Gesetzes verfassungswidrig,39 dies kann sich mit der weiteren Zunahme der Sponsoringaktivitäten jedoch verändern. Bereits jetzt sehen sich die beteiligten Akteure auf Verwaltungsseite (allzu) rasch dem Vorwurf der Korruption ausgesetzt. Ein Sponsoringgesetz könnte hier im Hinblick auf die etwaigen strafrechtlichen Konsequenzen und den Bestimmtheitsgrundsatz nach Art. 103 Abs. 2 GG die Rechtssicherheit erhöhen. Wenngleich der weitere Umstand, dass das Verwaltungssponsoring politisch umstritten ist, für sich allein genommen noch nicht eine Wesentlichkeit im Sinne des Gesetzesvorbehalts zu begründen vermag, ist doch eine Bedeutungszunahme unverkennbar, ebenso wie die wachsende Professionalisierung und Institutionalisierung, die den Charakter als Randnutzung in Frage stellen könnte. Wie bereits erwähnt, ist insbesondere im kommunalen Bereich die Diskrepanz zwischen (relativ hohem) Sponsoringaufkommen und (relativ geringer) Regelungsdichte groß.40 Ein Tätigwerden des Gesetzgebers zumindest in der Grundsatzfrage nach Ob und Reichweite der Statthaftigkeit des Sponsoring sollte damit zwar noch nicht unmittelbar gefordert, aber doch ernsthaft diskutiert werden. 2. Wichtige Regelungsbausteine Vor der etwaigen Kodifizierung von Regelungen über das Verfahren, die Organisation, das Vergabe- und das Haushaltswesen beim Umgang mit Sponsoring und Sponsoren wären neben einer knappen Begriffsbestimmung mit dem einleitend skizzierten Inhalt (I.) in zwei konzentrierten Vorschriften die sich aus der verfassungsrechtlichen Analyse (IV.) ergebenden Grenzen des Sponsoring der öffentlichen Hand zu benennen. So müsste festgehalten werden, dass Sponsoringvereinbarungen nur im Interesse der Erledigung von Verwaltungsaufgaben (und nicht primär zur Erzielung von Einnahmen) getroffen werden dürfen und dass die Aufgabenerledigung durch Art, Umfang oder Wirkung der Sponsoringleistungen nicht beeinträchtigt werden darf, weil der Charakter als Randnutzung eine verfassungsrechtlich vorgegebene Grenze darstellt. Die sich aus dem Grundsatz der Unparteilichkeit (IV. 2.) ergebenden, ja nicht bereits unmittelbar dem Text der Verfassung zu entnehmenden Grenzen 38 Einige Beispiele hierfür sind dokumentiert bei Burgi/Hampe/Friedrichsmeier (o. Fußn. 4), S. 206 ff. 39 Welcher sowohl auf rechtsstaatlichen als auch auf demokratischen Erwägungen fußt und den Gesetzgeber dazu verpflichtet, die „wesentlichen“ Entscheidungen selbst zu treffen (BVerfGE 40, 237 [248]; BVerfGE 58, 257 [268]; vgl. F. Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof [Hrsg.], HdbStR V, 3. Aufl. 2007, § 101 Rdnr. 18 ff.). 40 Dass dort in der Praxis in erheblichem Maße nicht nur Klarstellungs-, sondern auch Regelungsnotwendigkeiten erkannt werden, dokumentieren die Umfrageergebnisse, über die bei Burgi/Hampe/Friedrichsmeier (o. Fußn. 4), S. 169 ff., berichtet wird; zur daraus abgeleiteten Forderung nach Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen auch Remmert (o. Fußn. 2), 584.

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sollten dergestalt beschrieben werden, dass Sponsoringvereinbarungen nicht getroffen werden dürfen im Hinblick auf Verwaltungsaufgaben, die durch den Vollzug von Gesetzen geprägt sind. Im Hinblick auf faktisch geprägte Dienstleistungen (insbesondere Unterhaltung öffentlicher Sachen und Einrichtungen, Pflege des Vermögens- und Sachbestands sowie Aufgaben der Repräsentation und Aufklärung) sollten Sponsoringvereinbarungen für ausdrücklich möglich erklärt werden, allerdings mit der Einschränkung, dass im Einzelfall nicht die Unparteilichkeit des Verwaltungshandelns durch Art, Umfang oder Wirkung der Sponsoringleistungen gefährdet wird.41 Selbstverständlich könnten bei Vorhandensein eines entsprechenden politischen Willens auch weitere Grenzen festgelegt werden. Zum Zwecke der Erhöhung der Rechtssicherheit und der Mobilisierung der bürgerschaftlichen Potenziale des Verwaltungssponsoring würde eine Kodifikation der durch Verfassungsinterpretation gewonnenen beiden Restriktionen aber genügen. Der Schweiß der Edlen sollte sodann stärker auf die Gestaltung des Wie, d. h. auf die hier nur erwähnten Fragen des Verfahrens, der Organisation sowie des Vergabe- und Haushaltswesens gerichtet werden. Um mit dem Jubilar zu schließen: Geht es darum, im Interesse einer Stärkung der Bürgertugenden die rechtlichen Rahmenbedingungen zu verbessern, gilt es dabei liberale Gestaltungen zu wählen; diese im Hinblick auf das Stiftungswesen gebildete Einschätzung42 muss im Hinblick auf das Sponsoringwesen dahingehend modifiziert werden, dass noch zuvor über die rechtlichen Rahmenbedingungen Klarheit geschaffen werden muss. Dies würde der Korruptionsgefahr entgegenwirken und der zivilgesellschaftlichen Perspektive Rechnung tragen.

41 Konkrete Formulierungsvorschläge zu beiden Aussagen bei M. Burgi, Bausteine eines Verwaltungssponsoring-Gesetzes, in: Burgi (o. Fußn. 2), S. 307 ff. 42 Papier (o. Fußn. 3), S. 140.

Über Transparenz Von Winfried Hassemer I. Widmung Der Beitrag geht zurück auf einen Vortrag, den ich im September 2012 auf einem Symposium über Datenschutz und Informationsfreiheit gehalten habe. Ich widme ihn Hans-Jürgen Papier in Erinnerung an gemeinsame Jahre am Bundesverfassungsgericht, da der Datenschutz zur Zuständigkeit des Ersten Senats gehörte, den Zweiten Senat aber – insbesondere beim Verhältnis von Freiheit und Sicherheit – ebenfalls intensiv beschäftigt hat. Das Phänomen der Transparenz hat die lobende Rede verdient, die ich im ersten Teil meines Beitrags halten werde,1 um sie danach eins nach dem andern in einer üblen Nachrede wieder zu relativieren und einzupacken.2 Dabei können Lobrede und Nachrede auf Transparenz natürlich keine gänzlich voneinander getrennten Gegenstände sein, die einer nach dem anderen abzuarbeiten wären; der Gegenstand ist ja nur ein und derselbe. Er sieht nur bisweilen ganz verschieden aus, je wie man ihn anschaut: Transparenz ist auf der einen Seite eine selbstverständliche und nicht weiter wahrgenommene Kategorie unseres Alltags; sie ist aber zugleich auch ein Zauberwort, das uns derzeit fasziniert und daran hindert, Transparenz ernsthaft unter die Lupe zu nehmen. Deshalb sind die kritischen Konnotationen von Transparenz3 in deren faszinierendem Auftritt4 schon angelegt und wäre der – äußere – Eindruck falsch, hier werde die Kritik an Transparenz unterbelichtet. Anders herum: Das Lob der Transparenz birgt bereits ihre Kritik. Lässt man sich von ihr faszinieren, so bereitet man schon dadurch die Fesseln vor, ohne die sie unerträglich wäre. II. Lobrede „Transparenz“ ist eines der Zauberwörter unserer Moderne – womöglich ähnlich unangefochten, strahlend und verführerisch wie etwa „Bio“ oder „frisches Geld“. Wörter dieser Art gehören derzeit so fraglos zu unserer verbalen Ausstattung, und 1

Gleich unter II. Unter III. 3 Unten unter III. 4 Unten unter II. 2

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sie vermitteln Güte und Kraft der von ihnen bezeichneten Gegenstände so nachdrücklich, dass schon eine Menge Mut oder auch nur intellektuelle Verzweiflung dazu gehört, sie in der Öffentlichkeit zu hinterfragen. Hinterfragen darf – und soll – man natürlich ihre Anwendungen: ob dieses Geld wirklich „frisch“ ist, dieser Schinken wirklich „bio“ oder ein Wahlvorgang wirklich „transparent“. Fragen dieser Art festigen ja die Alleinstellung der Kategorien und helfen ihnen zusätzlich auf, indem sie sie einfach zu Maßstäben einer öffentlichen Beurteilung machen. Nicht hinterfragen sollte man dagegen heutzutage die Kategorien selbst: ob „Bio“ und seine Brüder es nämlich wirklich verdient haben, unseren normativen Alltag so unangefochten zu regieren, wie sie das derzeit tun. 1. Sehen, Ordnen, Verstehen Auch wenn man – wozu ich neige – zugestehen muss, dass Transparenz nicht schon immer den Rang besetzt gehalten hat, der sie heute zum Zauberwort macht, so genügen einige einfache Beobachtungen und Überlegungen, um sicher zu sein, dass sie diesen Rang der Sache nach schon immer verdient gehabt hätte – der Sache nach. a) Orientierung Vermutlich war die Durchsichtigkeit der Welt für die Menschen und Tiere, die in ihr leben (so möchte ich „Transparenz“ vorläufig für den Hausgebrauch einmal übersetzen),5 über unvorstellbar lange Zeit als Voraussetzung jeglicher Orientierung in dieser Welt so selbstverständlich, dass ihre Existenz und Wichtigkeit so wenig des Nachdenkens und der Rede wert waren wie die Luft, die wir atmen: In einer undurchsichtigen Welt kommt niemand und nichts zurecht, und das ist nicht erst seit gestern so. Durchsichtigkeit sowohl der Gegenstände, die für uns in der Welt von Bedeutung sind, als auch der Strukturen, die diesen Gegenständen ihren Ort geben, ist unabdingbare Voraussetzung dafür, dass wir uns zwischen diesen Gegenständen und mit ihnen bewegen können. Wer nicht weiß, wie der Hase läuft, scheitert schon deswegen mit seinem ersten Schritt in die Welt hinein; er kann sie nicht verstehen, und er kann sie deshalb auch nicht ordnen, sie macht ihm keinen Sinn. Sehen, Ordnen, Verstehen – das sind schon immer die unverzichtbaren Voraussetzungen eines Handelns in der Welt, das nicht auf Zufall beruht und das sich aus diesem Grund zu diesen Voraussetzungen auch verhalten kann. Und Voraussetzung von Sehen, Ordnen und Verstehen wiederum ist Durchsichtigkeit dessen, was verstanden werden soll, ist Transparenz. Wer vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht, sieht noch nicht einmal die Bäume; er sieht nichts. 5 Unter II. 2. wird sich – freilich auf eher allgemeine Weise und nicht bis in die Einzelheiten – zeigen, dass sich hinter diesem Verständnis von Transparenz komplexe Annahmen und Verfahren verbergen.

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b) Enkulturation Schon beim Nachdenken über diese Grundeinsicht muss man sich freilich vor der nahe liegenden Falle hüten, diese Einsicht sei, weil selbstverständlich, auch simpel – so, als verfügten wir als Lebewesen so fraglos über die Voraussetzungen einer Orientierung in der Welt wie wir über Augen und Füße verfügen. Augen und Füße nämlich sind, bei Mensch und Tier, ihrerseits wiederum nur physische Voraussetzungen einer Enkulturation, also einer langfristigen und komplexen individualen und sozialen Unterweisung in den jeweiligen kulturellen Techniken des Wahrnehmens, Ordnens und Verstehens innerhalb der Welt, in der sich das Lebewesen bewegt. Diese Enkulturation ist unverzichtbar. Gelingt die Unterweisung nicht, so misslingt das Leben. Und Enkulturation ist kein schlichtes Mitbringsel eines jeglichen neuen Erdenbürgers, sondern ein langwieriges und schwieriges Geschäft, das mit ihm veranstaltet werden muss, sobald er in der Welt angekommen ist. Denn es geht in dieser Welt ja nicht nur um Sachen, sondern auch um Strukturen und Zusammenhänge, also um komplexe Gebilde. Wer die Regeln des Eishockey oder des Bridge nicht kennt, wird die Wahrnehmungen, die ihm dort geboten werden, ohne den Zusammenhang erleben, der ihnen erst ihren Sinn gibt; er wird sie, im strengen Sinn des Wortes, deshalb nicht „wahr-nehmen“. Und dieses Schicksal teilt er mit dem Besucher einer strafrechtlichen Hauptverhandlung, der zwar sieht und hört, was dort geschieht, aber mangels einer Einsicht in die Agenda von Sinn und Ordnung des Geschehens nicht verstehen kann, warum und zu welchem Ende dies geschieht, auf Deutsch: der ein Geschehen zwar beobachten, sich zu ihm aber nicht verhalten kann. c) Summa Es wird sich nicht bestreiten lassen, dass Transparenz, also die Durchsichtigkeit der Welt, eine notwendige Bedingung dafür ist, dass Lebewesen in dieser Welt zurechtkommen. Sehen, Ordnen und Verstehen der Welt setzen voraus, dass diese Welt zugänglich ist, dass ihre Gegenstände, ihre Strukturen und ihre jeweiligen kulturellen Zusammenhänge sichtbar werden können. Leben in der Welt setzt Transparenz dieser Welt voraus. Transparenz ist uns also eine grundlegende Kategorie. 2. Wissenschaft vom Verstehen Auch wenn es richtig bleibt, dass Transparenz als Kategorie in unserem verbalen Alltag den Rang nicht besetzt, der ihr als Voraussetzung jeglicher Orientierung des Lebendigen eigentlich zukommt,6 sondern vor allem als billiges Zauberwort in Umlauf ist, so lassen sich jenseits dieses Alltags doch Versuche entdecken, benennen und studieren, die einem nicht nur die Zentralität von Durchsichtigkeit vor Augen führen, 6

Oben unter II. 1. a).

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sondern auch Grundlagen und Einzelheiten des Verstehens mitteilen können, in deren Licht genauer sichtbar wird, was Transparenz in unserem Leben sein und was sie bewirken kann – und was nicht. Es gehört nicht nur zu den Erzählungen der Kriminalromane, dass die handelnden Figuren zu spät entdecken, was für sie lebenswichtig war; Geheimnisse, das Verschweigen und Verzögern des Erwarteten sind Mittel, mit denen auch andere Zweige der Kunst uns die Welt auf ihre besondere Weise vorspielen. Transparenz und Intransparenz gehören zu ihrem Spielmaterial – von der Musik bis zur darstellenden Kunst. Damit leben wir, daraus lernen wir. a) Hermeneutik Am ehesten freilich darf man – in unserer Kultur – eine präzise theoretische Aufklärung über Transparenz von der Philosophie erwarten, und dort von der Erkenntnistheorie. Ihr Geschäft ist es ja, Voraussetzungen, Verhinderungen, Deformationen und Möglichkeiten auszumachen, die zwischen uns und einem Verstehen unserer Welt am Werke sind. Für einen Juristen wie mich ist es auf den Feldern der Erkenntnistheorie insbesondere die Hermeneutik,7 die Lehre vom Verstehen, bei der ich Zuflucht suche und finde, wenn es um Transparenz und Verstehen geht. Die Hermeneutik beglaubigt, was hier zum hohen Rang der Transparenz behauptet worden ist,8 und sie treibt die Erkenntnis voran, dass die Frage nach der Durchsichtigkeit dessen, was verstanden werden soll, selber in einem komplexen Zusammenhang steht, der verhindern kann, dass wir vom Verstehen ein unterkomplexes Bild gewinnen; damit bereitet sie zugleich den Boden vor, auf dem dann Relativierung und Kritik von Transparenz9 gedeihen können: Die Hermeneutik zeigt auf, dass das erkennende Subjekt nicht in der Lage ist, auf den Gegenstand der Erkenntnis gleichsam „durchzugreifen“, sich seiner unvermittelt zu bemächtigen und zu versichern, und sie beschreibt die Wege, wie Verstehen trotzdem gelingen kann. Diese Wissenschaft bietet uns am Ende ein Verständnis von Transparenz an, das sowohl der Potenz als auch der Schwierigkeit von Transparenz gerecht wird und das deshalb die groben und einfachen Kategorien von Sehen, Ordnen und Verstehen weit hinter sich lässt. Das will ich mit ein paar schnellen Strichen jedenfalls im Ergebnis verständlich machen, um die Lobrede auf Transparenz10 hier nicht allzu fröhlich flattern zu lassen.

7 Überblick in W. Hassemer (Hrsg.), Dimensionen der Hermeneutik. Arthur Kaufmann zum 60. Geburtstag, 1984. 8 Oben unter II. 1. 9 Später unter III. 10 Konzentriert oben unter II. 1. c).

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Hermeneutik bestellt, richtig verstanden, ein weites Feld in unserem Verhältnis zur Welt, sie ist eine grund-legende Wissenschaft. Sie ist, als Lehre vom Verstehen, nicht auf das Verstehen von Texten beschränkt, und sie erschöpft ihre Kraft bei weitem nicht in der Unterweisung von Juristen.11 Sie ist ein anerkannter Spross der Philosophie (Gadamer)12, und sie hat anderen Wissenschaften und Praxen, die es mit dem Verstehen zu tun haben (wie etwa der Geschichtswissenschaft, Droysen),13 ihre Dienste geleistet, sich aber auch selber an ihnen entwickelt und reich gemacht. Die hermeneutische Lehre besteht darauf, dass jegliches Verstehen komplex und voraussetzungsvoll ist: dass es nicht schlicht in Beobachtung und Abbildung von Gegenständen besteht, sondern das zu verstehende Objekt in einer bestimmten Weise selber konstituiert: durch Sinnerwartung und Vor-Verständnis der Person, die zu verstehen sucht. Ohne eine Aktivierung dieser personalen und kulturellen Ausstattung des Menschen kann Verstehen sich nicht ereignen. Die Gegenstände des Verstehens sind uns nämlich nicht einfach zur Hand, sie bieten sich uns nicht an, wir können sie der Welt nicht ablesen, sondern müssen uns ihnen mithilfe komplexer und fehleranfälliger Verfahren nähern. In dieser Sicht gelingt Verstehen nicht durch die simple Übereinstimmung von Gegenstand und Erkenntnis (durch adaequatio rei et intellectus), sondern erst durch ein „Hin- und Herwandern des Blicks“ des verstehenden Subjekts (Engisch)14, also durch ein in seiner Wahrheit immer gefährdetes und nicht abgeschlossenes Verfahren. Die Person ist am Verstehen nicht nur äußerlich beteiligt. b) Kontextualität und Unabgeschlossenheit Wenn man das auf Transparenz überträgt, so wird klar: Die Hermeneutik kann, nach alledem, Transparenz nicht verstehen als eine Eigenschaft, die den Gegenständen der Welt schon immer anhaftet oder eben nicht. Transparenz kann in ihrer Sicht nur das Ergebnis einer erkennenden Arbeit am jeweiligen Gegenstand sein – also ein konkretes, ein immer neues und deshalb immer gefährdetes Ergebnis. Transparenz „gibt“ es nicht, sie ist Frucht einer Konstruktion, einer Herstellung – nicht als „Erfindung“ oder gar als „Lüge“ des Verstehenden, aber doch als Produkt, an dessen Entstehen er als Person mitgewirkt hat (und das er deshalb auch mitverantworten muss). Mit ihren Behauptungen über Konkretheit, Kontextualität und Unabgeschlossenheit des Verstehens öffnet, wie man sich denken kann, die Hermeneutik als Erkenntnistheorie nicht nur Türen, sondern wahre Tore zur Erkenntnis von Wissen und Verstehen. Man wird sich freilich auch denken können, dass ich durch diese Tore hier 11

A. Kaufmann, Die Geschichtlichkeit des Rechts im Lichte der Hermeneutik, in: Bockelmann (Hrsg.), Festschrift für Karl Engisch zum 70. Geburtstag, 1969, S. 243 ff. 12 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 1965. 13 J. G. Droysen, Grundriss der Historik, 1857, 1858. 14 K. Engisch, Wahrheit und Richtigkeit im juristischen Denken, 1963.

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nicht gehen kann.15 Was für ein Verstehen von Transparenz wichtig ist, mag diese kühne Verkürzung der ausgedehnten Lehre vom Verstehen immerhin im Umriss klar gemacht haben. c) Summa Transparenz ist uns nicht gegeben, und sie bleibt uns auch nicht als Geschenk erhalten, nachdem sie sich einmal hat herstellen lassen. Sie teilt mit allem, was lebendig ist, die relative Unvorhersehbarkeit ihres Erscheinens, ihrer Inhalte und Entwicklungen. Sie ist nur der Möglichkeit nach eine Eigenschaft; in Wirklichkeit ist sie ein Ereignis. Transparenz ist, in hermeneutischer Perspektive, situationsbezogen, sie ist kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-Als auch, und sie ist ein fragiles Gebilde. Diese Perspektive kann uns zu Realitätsnähe und zu Vorsicht verhelfen: Sobald aus dem Zauberwort die Beschreibung eines Verfahrens wird, ist es nicht mehr so einfach, sich von ihm schlicht faszinieren zu lassen. Dann beginnt nämlich die Arbeit am Gegenstand. 3. Prozeduralisierung Nachdem ein wenig Licht gefallen ist auf die zentrale Rolle und ihre Voraussetzungen, welche die Transparenz der Welt für jegliche Orientierung in der Welt spielt,16 und nachdem klar geworden ist, dass Durchsichtigkeit jedenfalls keine stabile Eigenschaft von gegebenen Objekten ist, die verstanden werden sollen,17 bleibt als letzter Gegenstand meiner Lobrede auf Durchsichtigkeit die Frage, warum ausgerechnet wir ausgerechnet „Transparenz“ als Zauberwort erleben. a) Einordnungen und Positionen Diese Frage werde ich hier nicht gültig beantworten können, dazu sind ihre Hintergründe und Verzweigungen zu weiträumig; sie laufen auf nichts weniger als auf eine historisch begründete Kulturtheorie hinaus. Gleichwohl müssen wir uns der Frage stellen; ohne eine Ahnung von den Dingen, die sie in Frage stellt, lässt sich keine begründete Vorstellung dessen entwickeln, wie eine Gesellschaft beschaffen ist, die sich der Transparenz verschreibt, und wie wir uns in ihr vernünftigerweise bewegen sollten: abweisend, zustimmend, wechselnd. Immerhin mögen schon einige wenige Gedankensplitter für eine Einordnung von Transparenz hilfreich sein, eine Einordnung, die wenigstens gestattet, unsere heutigen Erfahrungen alltäglicher Orientierung mit der Kategorie der Transparenz in eine Beziehung zu bringen, aus der sich besser begründete Urteile ergeben sowohl für diese Orientierung als auch für die Bedürfnisse, die sie mit sich führt und die sich auf sie richten.

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Kurzer Überblick bei W. Hassemer, Juristische Hermeneutik, ARSP 1986, 195 ff. Oben unter II. 1. 17 Oben unter II. 2. 16

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Diese Einordnung ist im Ergebnis immer angreifbar – sowohl hinsichtlich der Unterscheidungen, die für eine Einordnung als fruchtbar herangezogen werden sollen, als auch hinsichtlich der Position, die innerhalb der Einordnung für „Transparenz“ freigehalten werden soll. Ohne eine Einordnung dieser oder ähnlicher Art ist aber eine Antwort auf die Frage nicht zu haben, warum und mit welchem Ergebnis wir uns zu Zauberwörtern dieses Kalibers verhalten sollen. Also springe ich ins kalte Wasser und biete einen Einstieg an, der immerhin einen Zugang für ein Verständnis von Transparenz verspricht, einen Zugang, mit dem sich der Rang von Transparenz heute besser erklären lassen könnte. Prozeduralisierung ist das Schlüsselwort, das in meinen Augen die vollständigste und sachnächste Sammlung von Ereignissen und Entwicklungen bezeichnet und bereithält, die imstande sind, uns die Wertschätzung verständlich zu machen, die wir der Transparenz heute entgegenbringen. Ich setze sie, anderen Autoren und einer mittlerweile verbreiteten Auseinandersetzung18 folgend, in abgrenzenden Gegensatz zu Substantialisierung und will damit zweierlei sagen: dass die Unterscheidung von Substantialisierung und Prozeduralisierung Aussagekraft hat für die Beurteilung der Bedeutung von Transparenz in unserer Kultur und dass man Transparenz im Rahmen dieser Abgrenzung mit theoretischem Gewinn als eine prozedurale Kategorie verstehen kann. b) Substanzen und Verfahren Anders als etwa „Menschenrechte“, „Kriminalitätsbekämpfung“ oder „Datenschutz“ gibt „Transparenz“ die Richtung guter und gerechter Entscheidungen in einer bestimmten Gesellschaft nicht inhaltlich vor, sie urteilt nicht über substantielle Gebilde, sondern, ähnlich wie etwa „Bürgerbeteiligung“19 oder „Information“, über Prozeduren. Ihr kann man nicht entnehmen, wo etwa die Grenzen unlauterer Bereicherung oder die Minima von Hartz IV verlaufen, sondern wie eine Welt eingerichtet sein soll, in der über solche Grenzen und deren Durchsetzung verhandelt wird. „Transparenz“ ist durchaus ein Maßstab richtiger Entscheidung – nur eben nicht über Inhalte, sondern über Verfahren, die es mit diesen Inhalten zu tun haben (sollen). Dass die Grenzen zwischen Substantialität und Prozeduralisierung fließen, ist klar und nicht überraschend; Inhalte und Verfahren stehen, wie nicht erst die Hermeneutik20 herausgearbeitet hat, jedenfalls dann miteinander in einem offensichtlich fruchtbaren Verhältnis, wenn es um „Problemadäquanz“ oder um „Sachnähe“ geht, wenn 18 A. Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts. Zur Entstehung, Bedeutung und Zukunft eines Paradigmenwechsels, 2010; ders., Prozedurales Denken als Innovationsanreiz für das materielle Strafrecht. Kolloquium zum 70. Geburtstag von Detlef Krauß, 2006; W. Hassemer, Prozedurale Rechtfertigung, in: Däubler-Gmelin/Kinkel/Meyer/Simon (Hrsg.), Gegenrede. Aufklärung – Kritik – Öffentlichkeit. Festschrift für Ernst Gottfried Mahrenholz, 1994, S. 731 ff. 19 Vgl. schon Gustav Heinemann-Initiative (Hrsg.), Demokratie im 21. Jahrhundert. Mehr Bürgerbeteiligung?!, 2002. 20 Oben unter II. 2. a).

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also Inhalte und Prozeduren von vorneherein mit Gründen aufeinander bezogen werden. Auch strategische Interessen können eine kluge Verschränkung von substanziellen und prozeduralen Elementen gebieten. So kann eine Entscheidung für „offene“ Verfahren – als solche – auch Konsequenzen für substantielle Optionen haben, und nicht alle „Substanzen“ passen mit alle „Prozeduren“ zusammen; man muss sich nur die Vorgänge um „Stuttgart 21“ genauer betrachten, um die verbindenden Linien zwischen Substanz und Prozedur nachzeichnen zu können.21 Diese strukturelle Nähe substantiellen und prozeduralen Räsonnements zwingt freilich nicht dazu, eine Unterscheidung beider für unmöglich oder gleisnerisch zu halten – im Gegenteil: Eine Unterscheidung lässt sich treffen und handhaben, und sie kann unsere Instrumente einer Orientierung in der Welt gerade wegen dieser Nähe vermehren und verfeinern. Das will ich kurz zeigen: Wir beobachten heutzutage bei uns und in Rechtskulturen, die mit der unsrigen vergleichbar sind – natürlich mit mannigfachen und begründeten Unterschieden, wie in der Rechtsvergleichung nicht selten -, eine wachsende Prozeduralisierung von ethischen und rechtlichen Entscheidungen, die wir in den Zeiten zuvor substantiell getroffen hatten. Wir erleben eine schnelle Ausbreitung von Ethikräten, Schlichtungsstellen, Ombudsleuten, „Compliance“-Einrichtungen und Mediation innerhalb und außerhalb der Justiz, die – als Ergänzung, bisweilen aber auch als Konkurrenz zur staatlichen Rechtspflege – substantielle Entscheidungen vorbereiten, durchspielen, versuchsweise begründen; ihr Verhältnis zur Justiz und auch zur Gesetzgebung ist im Fluss.22 Wir nehmen zur Kenntnis, dass diese Einrichtungen prozedural arbeiten: dass ihre Entscheidungstätigkeit – und darum handelt es sich! – Justiz und Gesetzgebung in der Sache also keine substantielle Konkurrenz macht. Wir erklären uns diese Beobachtungen als Antworten auf eine komplexer gewordene – oder besser: auf eine als komplexer empfundene – Entscheidungswelt; wir sind in einer wachsenden Zahl von Konstellationen davon überzeugt, dass das kommunikative Konzert, das uns umgibt und an dem wir irgendwie beteiligt sind, uns keine hinreichende Ruhe für die Bildung einer vernünftigen Meinung lässt. Und Prozeduralisierung entlastet: Wir sind uns der Richtigkeit unserer moralischen Urteile nicht mehr sicher und beauftragen Ethikräte, etwa im Bereich des Lebensschutzes, mit professioneller Vorbereitung späterer Gesetzgebung; wir verschieben substantielle Entscheidungen beispielsweise in Fragen der Beschneidung muslimischer und jüdischer Kinder auf den erhofften klärenden Abschluss einer breiten Diskussion um deren Zulässigkeit. Wir realisieren, dass der große Aufklärer Wissenschaft die Zeiten längst hinter sich hat, da seine Ergebnisse für uns Gebot waren, und dass wir deshalb prozedurale Regeln brauchen, um den Streit der Experten zuerst einmal verständlich und dann 21

Genauer und umfangreicher W. Hassemer, Im Namen des Volkes. Populismus und Teilhabe in der Rechtspolitik, in: Festschrift für Jan Philipp Reemtsma, erscheint demnächst. 22 Ausführlicher dazu W. Hassemer, Vorläufiges zur Rolle des Ombudsmanns, in: Freytag (Hrsg.), Verbraucherintelligenz, 2012, S. 184 ff.

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inhaltlich fruchtbar zu machen, weil wir selber substantiell zu wenig von dem wissen, was wir – in unserer Sicht – wissen müssten, um eine begründete Entscheidung zu treffen. Kurz: Wir lechzen nach Transparenz der Welt, nachdem wir Gewissheiten über diese Welt eingebüßt haben, die uns früher fraglos geleitet hatten und ohne die wir heute nicht zurechtzukommen glauben. c) Summa In dieser Lage ist „Transparenz“ der goldene Ausweg. Sie mit Nachdruck zu fordern, ist dann keine Kunst mehr, sondern belegt Durchblick und Anstand. Transparenz hat, auch wenn sie komplex und schwierig ist,23 den Charme der alltäglichen Selbstverständlichkeit,24 sie erfüllt, gewissermaßen nebenbei, einen Traum der Wissens- und Informationsgesellschaft, nämlich die Verständlichkeit von allem für alle, und sie bedient – mit der Forderung nach Durchsichtigkeit von Politik und Herrschaft – einen cantus firmus der modernen Demokratietheorie. Transparenz ist uns ein Zauberwort. III. Nachrede So einfach aber kann es am Ende nicht sein; dies alles beschreibt offensichtlich nicht mehr als die schimmernde Oberfläche des Problems und ignoriert vollständig die Besonderheiten und Relativierungen, welche die Lehre vom Verstehen am Konzept der Transparenz anbringt25. Deshalb muss nach den Risiken gefragt werden. welche Transparenz im Gefolge haben kann. Die Antwort auf diese Frage ist im Stadium der Lobrede schon vorbereitet worden26. Sie folgt der basalen Phänomenologie27, den Präzisierungen28 und den Einordnungen29, die wir zur Kategorie der Transparenz erarbeitet haben, und baut auf ihnen auf. Zum Sprachgebrauch vorweg: Als Gesellschaft, die sich der Transparenz verschreibt, bestimme ich hier – auf der Grundlage der bisherigen Überlegungen30 – eine Kultur der Weltorientierung, welcher „Transparenz“ ein Zauberwort ist31: eine Kultur also, welche die Kategorie der Durchsichtigkeit als Voraussetzung der Orientierung nicht hinterfragt, sondern sie vielmehr als Maßstab Tag für Tag verwendet und damit bestätigt, einer Orientierung also, welcher Transparenz fraglos ein zentrales, ja ein faszinierendes Kriterium des guten Lebens ist. Man wird sagen können, 23

Oben unter II. 2. Oben unter II. 1. 25 Oben unter II. 2. 26 Siehe schon oben unter I. 27 Oben unter II. 1. 28 Oben unter II. 2. 29 Oben unter II. 3. 30 Oben unter II. 31 Des Näheren oben unter II., am Anfang, und II. 1. a). 24

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dass unsere Gesellschaft diese Kennzeichen aufweist, und man kann dafür Hintergründe und Beispiele benennen32. 1. Methodik und Erfahrung Zum Einstieg in die Sache eine Erinnerung: Wer – etwa unter der nichtssagenden Parole „Post-Privacy“ oder der schiefen Flagge, wahre Demokratie oder Herrschaftsfreiheit gingen nur mit absoluter Transparenz zusammen – die schrankenlose Durchsichtigkeit der Welt fordert, setzt damit auf ein Bild von der Welt, bezüglich dessen die Befürchtung nicht fern liegt, er selbst wolle in dieser Welt am Ende nicht leben: Eine so radikale Vereinfachung blendet sowohl eine Fähigkeit als auch ein Recht der Menschen aus, die – in meinen Augen – zur conditio humana gehören: die gesicherte Möglichkeit, Geheimnisse zu haben und zu behalten. Man muss nicht an die schwarze Pädagogik erinnern, wonach „ein Auge alles sieht, auch was bei finstrer Nach geschieht“, um zu sehen, dass ohne das Recht auf Geheimnisse auch Menschenrechte es schwer hätten, außerhalb der Gesetzesbücher zu überleben, genauer: dass der Rechtsstaat in unserer Zeit auch die Garantie der Privatheit umfasst und dass zum Konzept der Privatheit auch das Geheimnis gehört. Die Vorstellung einer totalen Transparenz ist totalitär – gerade dann, wenn sie von gutem Gewissen oder gar von Sendungsbewusstsein befeuert wird. Im Hintergrund dieser Erinnerung, die in manchen von uns auch die eigene Kindheit heraufrufen mag, wird sichtbar, dass die Forderung nach Schrankenlosigkeit von Transparenz sowohl im Leben der Menschen, auf dem Feld der sozialen Kontrolle, aber auch in Recht und Politik einen doppelten Fehler macht: Methodisch entwirft sie Transparenz einlinig als Konzept, das sich uneingeschränkt und ohne Rücksicht auf andere, ihm möglicherweise widersprechende, Grundwerte durchsetzen kann; sachlich bleibt sie unbelehrt durch die Erfahrung, wonach Lebensbereiche und Konstellationen sich gerade auch dadurch unterscheiden können, dass sie unterschiedlich begründete und unterschiedlich ausgestaltete Bedürfnisse an Geheimhaltung aufweisen, die man nicht mit dem Rasenmäher begradigen sollte, wenn es auf Sachnähe und Gerechtigkeit ankommt. Beispiel für diesen Doppelfehler sind öffentliche Begründungen, die – bisweilen im warmen Licht eines technisch gelungenen Aufbrechens fremder Geheimnisse etwa von Geheimdiensten oder Verteidigungsministerien – keinen Grund und schon gar kein Argument erkennen können, wonach diese Geheimnisse irgendeines Schutzes vor Veröffentlichung und Verbreitung bedürften. Dieses Verständnis von Transparenz ist naiv und unterkomplex; es kann in seinen Konsequenzen gefährlich sein für eine ausgewogene und kluge Rechtsordnung, welche Probleme zu Ende denkt und sich von Erfahrungen leiten lässt: Diesem Verständnis entgeht auf der einen Seite – methodisch –, dass Grundwerte im Rechtsstaat allenfalls in seltenen, konstitutiven Ausnahmesituationen außerhalb 32

Oben unter II. 3.

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eines normativen Geflechts vorkommen, innerhalb dessen sie von anderen Grundwerten relativiert und eingeschränkt werden. Der Schutz der Menschenwürde kann ein Beispiel sein. Diesem Verständnis entgeht auf der anderen Seite die Erfahrung, dass – soweit es in einer vergesellschafteten und rechtlich geordneten Welt Institutionen gibt – bestimmte Handlungsräume existieren, ohne die wir nicht leben können und nicht leben wollen und zu deren Überlebensbedingungen der Schutz von Geheimnissen gehört: von Abstimmungen im Kabinett der Regierung über vertrauliche Verhandlungen auf internationaler Ebene bis hin zur Beratung in richterlichen Gremien oder der Verschwiegenheit der Post. Von Mechanismen zum Schutz privater Geheimnisse ganz zu schweigen. Unberatener Überschwang beim Einsatz für Demokratie, Offenheit und Transparenz kann eine demokratische Ordnung in Gefahr bringen. Einschränkender Gegenpol von Transparenz sind ja nicht nur Grundrechte wie die informationelle Selbstbestimmung, die sich einer uneingeschränkten Durchsichtigkeit mit Gründen entgegensetzen, sondern ist auch das Prinzip der Öffentlichkeit, das ohne ein Verständnis und eine Praxis der Geheimhaltung nicht auskommt. 2. Das Beispiel Datenschutz Das Grundrecht auf Schutz der persönlichen Daten auf dem aktuellen Stand seiner Entwicklung in der Bundesrepublik ist ein gutes Beispiel für Grund und Grenzen von Transparenz, wie sie hier vorgestellt worden sind. Das Recht auf Datenschutz ist ein „modernes“ Grundrecht33 : Es wurzelt für unser Verständnis in einer Verbürgung herkömmlicher Provenienz, und es öffnet sich derzeit einer Entwicklung, welche die gesellschaftlichen Bedürfnisse nach Durchsichtigkeit und Informiertheit bündelt, mit anderen Worten: Der Datenschutz ist, trotz seiner Anbindung an die Entwicklungen der modernen Informationstechnologie, ein klassisches Abwehrrecht gegen den Staat als informationshungrigen Leviathan; er ist ein Abkömmling des Grundrechts auf Privatheit und sichert die bürgerliche Selbstbestimmung angesichts einer technologischen Entwicklung, welche diese Selbstbestimmung spezifisch bedroht. Zugleich aber verlässt die Konzeption dieses Grundrechts in Theorie und Praxis heute ihr enges abwehrrechtliches Gehäuse und ergänzt sich um eine prozedurale Dimension: Sie nimmt, vor allem auf den Feldern der Theorie des Datenschutzes und der Zuständigkeit der Datenschutzbehörden, ein Grundrecht auf Information in ihr Tableau mit auf, ohne den Schutz des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung aufgeben oder auch nur schmälern zu wollen. Damit hat sich die Theorie des Datenschutzes nicht nur erweitert, sondern auch kompliziert: Sie hat die substantielle Grenzbestimmung des Schutzes persönlicher Daten durch einen Ausgriff auf das pro33 Das ist umfänglicher entwickelt, begründet und mit Beispielen versehen in meinem Aufsatz: W. Hassemer, Datenschutz – ein modernes Grundrecht, in: Dix u. a. (Hrsg.), Informationsfreiheit und Informationsrecht. Jahrbuch 2010, 2011, S. 27 ff.

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zedurale Instrument der Information ergänzt und damit eine Spannung in sich aufgenommen. Die Datenschutzbeauftragten, die zugleich die informationelle Selbstbestimmung und das Recht auf Informationsfreiheit zu gewährleisten haben, müssen einen Spagat schaffen (wobei klar ist, dass ein Spagat noch nicht tödlich ist). Sie müssen Türen verschlossen halten und andere Türen weit öffnen, müssen abwehren und ausgreifen, müssen sowohl Verschweigen als auch Durchsichtigkeit Raum geben. Weil das so ist, dürfte es in unserem Kulturkreis nicht viele Professionen geben, die auf Begründung und Begrenzung von Transparenz so gut vorbereitet sind wie die Datenschützer, denen zugleich die Sicherung der Informationsfreiheit obliegt; denen ist die Spannung, um die es bei der Transparenz geht34, geläufig. Dass dieser Spannung kein Paradoxon zugrunde liegt, lässt sich schon der wie in Stein gemeißelten Begründung entnehmen, mit der das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung über den Datenschutz als Grundrecht35 Information und Selbstbestimmung wie selbstverständlich in einen Zusammenhang gebracht hat, indem es eine hinreichende Information des Menschen als Voraussetzung selbstbestimmten Handelns qualifiziert hat36 und so der Lobrede auf Durchsichtigkeit, wie sie hier geführt worden ist37, in der Sache ein Vorbild geworden ist. Aber auch der Umstand, dass sich Informationsfreiheit und Datenschutz mit jeweils unterschiedlichen Anweisungen an unterschiedliche Adressaten richten, darf ein Beleg dafür sein, dass der Spagat allenfalls im Einzelfall, nicht aber im Grundsatz der Konzeption schmerzlich ausfallen kann. Was aber das Wichtigste Ist: 3. Summa Ein Denken und Handeln, das in der Konzeption der informationellen Selbstbestimmung und ihrer täglichen Praxis bewandert ist, wird der naiven Annahme38 nicht auf den Leim gehen, Transparenz sei das Zauberwort der Moderne und der Wegweiser in eine heile Welt verbreiteter Erleuchtung. Das ist sie nämlich nicht. Sie ist die Voraussetzung einer Orientierung in der Welt, und sie kann die Verheißung besseren Verstehens sein, wenn sie mit Bedacht und Erfahrung einhergeht.

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Oben unter II. 2. BVerfGE 65, 1. 36 Ebenda, 43: „Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß.“ 37 Oben unter II. 1. 38 Oben unter III. 1. 35

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IV. Zusammenfassung „Transparenz“ gehört zu den Zauberwörtern unserer Alltagskultur. Das ist verständlich. Transparenz ist unabdingbare Voraussetzung einer Orientierung in der Welt, und sie vermittelt heute den Eindruck fragloser Richtigkeit und unwiderstehlicher Überzeugungskraft. Die Gefahren von Transparenz liegen in einem naiven Umgang mit ihrem Konzept, der Probleme nicht zu Ende denkt und Erfahrungen übersieht. Theorie und Praxis des modernen Datenschutzes, der sowohl die informationelle Selbstbestimmung schützt als auch die Informationsfreiheit sichert, können Muster eines rationalen Umgangs mit Gründen und Grenzen von Transparenz sein.

Freiheitseinbußen durch staatliche Leistungen Von Andreas Heusch Die grundrechtlichen Freiheitsrechte des Grundgesetzes sind Abwehrrechte gegen den Staat. Sie schirmen im Sinne des Freiheitsprinzips des liberalen Rechtsstaats eine Sphäre individueller und gesellschaftlicher Freiheit gegen staatliche Eingriffe und Beschränkungen ab.1 Dem Staat sind nicht schlechthin Eingriffe in die ihm vorausliegende Freiheit verwehrt, sie bedürfen aber grundsätzlich einer gesetzlichen Grundlage und sind vor allem rechtfertigungsbedürftig. Die verfassungsrechtliche Anerkennung dieses fundamentalen Verteilungsprinzips des bürgerlichen Rechtsstaats ist unverändert Kern unserer freiheitlichen Ordnung.2 Angesichts einer in den letzten Jahrzehnten ständig weiter ausgreifenden Staatstätigkeit ist der Schutz vor staatlichen Eingriffen zur Bewahrung der Freiheit unvermindert aktuell. Allerdings beschränkt sich das staatliche Instrumentarium zur Gestaltung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht auf Eingriffsmaßnahmen. Der Staat erbringt vielmehr in großem Umfang Leistungen der Daseinsvorsorge, der wirtschaftlichen wie der individuellen materiellen Förderung. Solche Leistungen sind zunehmend Mittel staatlicher Steuerung geworden. Dabei erscheinen sie mit Blick auf die grundrechtlichen Freiheitsgewährleistungen zunächst minder brisant: Der leistende Staat nimmt dem Bürger keine Freiheit; er reduziert nicht dessen Möglichkeiten, sondern erweitert diese – so der erste Befund. Das Verhältnis zwischen staatlicher Leistungsgewährung und grundrechtlicher Freiheit erschöpft sich indes nicht in dieser Feststellung, es erweist sich als sehr viel ambivalenter. Dabei sollen die freiheitsfördernden Intentionen und Effekte staatlicher Leistungen keineswegs bestritten werden (hierzu I.). Vergessen werden darf hierüber jedoch nicht, dass der Staat sich die notwendigen Mittel zur Leistungserbringung zuvor – im Zweifel durch Erhebung von Steuern und damit durch Eingriffe in Freiheit und Eigentum – beschaffen muss. Staatliche Leistungen bedingen zudem nicht nur in dieser mittelbaren Weise freiheitsverkürzende Eingriffe, sondern können im Verhältnis zu Dritten auch unmittelbar Freiheitseinbußen evozieren (hierzu II.). Selbst gegenüber dem potentiellen Empfänger entfalten staatliche Leistungen jedoch unter verschiedenen Aspekten durchaus zwiespältige Wirkungen. So kann staatliche Leistungsgewährung Abhängigkeit und Unmündigkeit des Bedachten befördern und ihn so in seiner Freiheitsfähigkeit und Eigenverantwortung schwächen (hierzu III.). Die Freiheit des Empfän1 E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, 1529 (1530, 1537). 2 C. Schmitt, Verfassungslehre, 8. Auflage, 1993, S. 164.

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gers ist schließlich – wenngleich in ganz anderer Weise – auch dann tangiert, wenn der Staat Leistungen und Subventionen zur Lenkung und Steuerung in seinem Sinne einsetzt (hierzu IV.). I. Förderung der Freiheit durch staatliche Leistung Fördert der Staat durch Leistungen deren Empfänger in ihrer Freiheit, so kann dies gezielt geschehen. Das freiheitsförderliche Ergebnis kann aber auch Effekt oder Reflex einer anders motivierten staatlichen Leistung sein. 1. Gezielte staatliche Förderung realer Freiheit Gewähren die Grundrechte als Abwehrrechte gleiche Freiheit von staatlichem Zwang, überlässt es der Staat grundsätzlich jedem einzelnen, ob und wie er von dieser Freiheit Gebrauch macht. Es entspricht dem unserer Verfassung zugrunde liegenden Bild des Menschen als eigenverantwortlicher Person, dass der Staat der Freiheit mit Rücksicht auf die Freiheit anderer und sonstige Gemeinwohlbelange zwar Grenzen setzt, den positiven Gebrauch der Freiheit aber grundsätzlich nicht erzwingt. Ob der einzelne die Chancen der Freiheit für sich ergreift, hängt maßgeblich von ihm selbst ab, von seiner Tatkraft und Energie, seinem Fleiß und seiner Disziplin. Hinzu kommen jedoch auch äußere Faktoren, auf die der einzelne oftmals keinen oder nur geringen Einfluss hat. Die Umstände, die einer sinnvollen Freiheitsausübung entgegenstehen, können so beschaffen sein, dass von der rechtlich garantierten Freiheit nichts mehr übrigbleibt. Es erweist sich, dass rechtliche Freiheit von staatlichem Zwang nicht notwendig gleichbedeutend ist mit realer Freiheit als tatsächlicher Möglichkeit, sich entsprechend den eigenen Vorstellungen und Entschlüssen verhalten zu können. Reale Freiheit in diesem Sinne bedarf vielmehr äußerer, auch materialer Bedingungen, die der einzelne selbst nicht in jedem Fall bewerkstelligen kann. Er ist dann auf Unterstützung von außen, auf Hilfe auch der staatlich organisierten Gemeinschaft angewiesen.3 Dem versucht die sog. sozialstaatliche Grundrechtstheorie Rechnung zu tragen: Der Staat wird grundrechtlich in die Pflicht genommen, nicht nur negativ-ausgrenzende Freiheit zu gewähren, sondern auch die notwendigen sozialen Voraussetzungen für die Realisierung der Freiheit zu schaffen.4 Ein solches Grundrechtsverständnis entspricht indes nicht dem Grundgesetz. Wortlaut und Entstehungsgeschichte sind insoweit eindeutig.5 Die Umdeutung der Grundrechte in Leistungsansprüche ließe die Grundrechte auch in ihrem liberalen Gehalt nicht unberührt: Da sie angesichts der Begrenztheit der materiellen staatlichen Ressourcen und damit der staatlichen Leistungsfähigkeit keine strikten Leistungsansprüche vermitteln könn3 D. Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IX, 3. Aufl. 2011, § 192 Rdnr. 29 ff. 4 P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (80 ff.). 5 Murswiek (o. Fußn. 3), § 192 Rdnr. 97 f.

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ten, wäre ihre Geltungskraft insoweit auf bloße Verfassungsaufträge reduziert – damit bestünde jedenfalls die Gefahr eines Übergreifens dieses reduzierten Verständnisses auf die Grundrechte in ihrer Abwehrdimension.6 In ihrer letzten Konsequenz würden die zur Erfüllung sozialer Leistungsansprüche notwendigen staatlichen Maßnahmen und Planungen zur Aufhebung der liberalen Grundrechte führen.7 Scheidet vor diesem Hintergrund eine solche sozialstaatliche Aufladung der Grundrechte des Grundgesetzes aus, so verharrt unsere Verfassung nicht in dieser Absage. Das in Art. 20 Abs. 1 GG verankerte Sozialstaatsprinzip begründet die Verantwortung des Staates, die notwendigen sozialen Voraussetzungen grundrechtlicher Freiheitsausübung zu schaffen und zu sichern. Dieser Auftrag ist zugleich der verfassungsrechtliche „Titel“, der den Staat berechtigt in Wahrnehmung seiner sozialstaatlichen Verantwortung Eingriffe in Freiheit und Eigentum vorzunehmen, etwa um sich die notwendigen finanziellen Mittel zu beschaffen, derer er zur Herstellung freiheitsfördernder Bedingungen bedarf. Der sozialstaatlichen Verpflichtung des Staates entspricht grundsätzlich kein subjektivrechtlicher Anspruch; überdies steht sie im Grundsatz unter dem Vorbehalt der stets begrenzten Ressourcen und lässt auch im Übrigen Raum für politische Prioritäten. Eine Ausnahme gilt für die Gewährleistung des Mindeststandards. So hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts unter dem Vorsitz des Jubilars im Urteil vom 9. Februar 2010 anknüpfend an seine frühere Rechtsprechung ausgeführt, dass sich aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ergibt: Art. 1 Abs. 1 GG begründe diesen Anspruch. Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG erteile dem Gesetzgeber den Auftrag, jedem ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern, wobei ihm jedoch bei der Bestimmung der Höhe des Existenzminimums ein Gestaltungsspielraum zukomme.8 Die grundrechtliche Garantie beziehe sich nicht nur auf die physische Existenz, sondern auch auf die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben.9 Die Verpflichtung des Staates erstrecke sich somit nicht nur auf die Gewährleistung der physischen Basis eines Lebens in Freiheit, sondern auch auf die elementaren Grundbedingungen ihrer freien Entfaltung in der Gemeinschaft. Tatsächlich gewährt der umverteilende Sozialstaat der Gegenwart über diesen grundrechtlich gesicherten Mindeststandard hinaus vielfach Leistungen, um Menschen einen aktiven Gebrauch der eingeräumten Freiheiten zu ermöglichen. Dies gilt für Einrichtungen, zu denen der Staat seinen Bürgern den Zutritt eröffnet, ebenso wie für Sachleistungen, die er ihnen zum privaten Ge- oder Verbrauch gewährt, und zumal bei Geldleistungen, die er den Bürgern zu deren freien Disposition zukommen lässt. So eröffnet er etwa durch die Gewährung von Leistungen nach dem BAföG auch denen die Möglichkeit zu Bildung und sozialem Aufstieg, die selbst nicht 6

E.-W. Böckenförde (o. Fußn. 1), S. 1536. J. Isensee, Verfassung ohne soziale Grundrechte, Der Staat, Bd. 19,1980, S. 367 (380). 8 BVerfGE 125, 175 (222). 9 BVerfGE 125, 175 (223).

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über die hierfür notwendigen finanziellen Mittel verfügen. Der Staat befördert auf diese Weise nicht nur Chancengleichheit, sondern schafft zugleich die materiellen Voraussetzungen für einen positiven Grundrechtsgebrauch. 2. Staatliche Freiheitsförderung als Reflex Wenn der Staat in großem Umfang Wirtschaftssubventionen an im Inland ansässige Unternehmen vergibt und dadurch einen Beitrag zu deren Existenzsicherung oder zur Wahrung bzw. Verbesserung ihrer Chancen im weltweiten Wettbewerb erbringt, bewahrt er die Empfänger vor einer realen Minderung ihres Eigentums und fördert sie in ihrer wirtschaftenden Freiheit. Diese eigentumssichernde und freiheitsfördernde Wirkung ist jedoch regelmäßig nicht das eigentliche Ziel der staatlichen Maßnahmen. Zumeist geht es dem Staat vielmehr um den Erhalt der Arbeitsplätze in den inländischen Betrieben, aber auch die langfristige Sicherung einer gesamtwirtschaftlich bedeutsamen Industrie und damit negativ um die Vermeidung der mit einer Minderung oder gar Einstellung der Produktion verbundenen nachteiligen Folgen für die in dem Unternehmen Beschäftigten und darüber hinaus für die Sozialversicherungssysteme, aber auch die künftigen eigenen Steuereinnahmen. Unmittelbare Wirkung und beabsichtigter Effekt solcher Wirtschaftssubventionen fallen somit auseinander: Unter dem Aspekt der staatlichen Motivation ist die Subventionierung der Unternehmen und deren hierdurch eintretender Freiheitsgewinn nur Mittel zum Zweck, faktischer Effekt oder Reflex einer auf andere Ziele ausgerichteten Maßnahme. In ihrer Umsetzung befördert sie unmittelbar die Unternehmen in Eigentum und Freiheit, während die eigentlich verfolgten, mittelbaren Effekte allenfalls in Auflagen oder sonstigen Nebenbestimmungen festgehalten werden. II. Freiheitseinbußen bei Dritten durch staatliche Leistungen Mit der Gewährung staatlicher Leistungen können Einbußen an Freiheit bei Dritten verbunden sein. Dabei kann der Eingriff in die Freiheit des Dritten Voraussetzung für die spätere Leistungsgewährung sein. Eingriff und Leistung fallen nicht in einem Akt zusammen, sind aber in dem Sinne verbunden, dass die Leistung ohne vorherigen Eingriff nicht erbracht werden kann. Hiervon zu unterscheiden ist die Konstellation, in der ein einheitlicher staatlicher Akt gegenüber dem Empfänger freiheitsfördernd und im Verhältnis zum Dritten freiheitsverkürzend wirkt. 1. Eingriffe in Freiheit und Eigentum zur Finanzierung staatlicher Leistungen Der Staat kann nur dann Leistungen erbringen, wenn er sich die hierfür notwendigen Mittel zuvor beschafft hat. Dies geschieht im Wesentlichen durch Erhebung von Steuern. Aus Sicht der steuerpflichtigen Bürger ist diese Beschaffung ein freiheitsverkürzender Eingriff. Soweit der Sozialstaat durch Leistungen an seine Bürger

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Sorge für die realen Voraussetzungen der Grundrechtsausübung trägt, erweitert sich freilich für den Empfänger durch die staatliche Leistung tendenziell der Kreis seiner Handlungsoptionen. Auch wenn eine solche sozialstaatlich initiierte Umverteilung letztlich den Grundrechten als Institution durch Förderung des Freiheits- und Gleichheitsniveaus der Gesellschaft im Ganzen dient10, ist es mit Blick auf die Grundrechte kein „Nullsummenspiel“. Es wäre im Ansatz verfehlt, eine solche Umverteilung wegen solcher Effekte als freiheitsneutral zu werten. Grundrechte schützen nicht eine Ordnung, deren Gesamtsaldo ein bestimmtes Freiheitsniveau nicht unterschreitet, sondern die konkreten Bürger in ihrer Freiheit. Sie gewähren kein Gesamtniveau, das es für den Staat zu halten gilt, sondern räumen individuelle Positionen ein. Der Freiheitsverlust auf Seiten der Steuerpflichtigen wird daher nicht kompensiert durch einen möglichen Gewinn an realer Freiheit bei den Empfängern der durch die Steuer finanzierten staatlichen Leistung. Aus diesem Grund ist es evident grundrechtsrelevant, wenn der Staat bei der Umverteilung das Maß verliert und übermäßig auf das zugreift, was seine Bürger in Ausübung ihrer wirtschaftlichen Freiheiten (Art. 12, 14 GG) erwirtschaftet haben.11 Eine solche Abgabenpolitik wird die Leistungs- und Risikobereitschaft der aktiven Bürger gewiss nicht heben. Es ist vielmehr legitimes privates Kalkül der Bürger, auf weitere persönliche Anstrengungen zu verzichten, wenn der wirtschaftliche Erfolg vom Staat in einem solchen Übermaß abgeschöpft wird. In die Illegalität begibt sich ein Bürger erst dann, wenn er in dieser Situation durch Schwarzarbeit sein (zusätzliches) Einkommen dem Steuerzugriff entzieht. Da der Staat von dem Ertrag seiner Bürger auch in materieller Hinsicht abhängig ist, ist er im Übrigen bereits aus eigennützigen Gründen gut beraten, deren Bereitschaft zum positiven und aktiven Gebrauch ihrer wirtschaftlichen Freiheiten nicht zu lähmen. Mag zu dieser Erkenntnis nicht allzu viel Weitsicht erforderlich sein, kann sie sich in der Politik nicht immer durchsetzen. Umso wichtiger ist es daher, dass das Bundesverfassungsgericht Maß an der Verfassung nimmt und eine Grenze der Abgabenlast setzt, die nicht überschritten werden darf. In seinem Beschluss vom 22. Juni 1995 hatte das Gericht mit Blick auf die Vermögenssteuer versucht, der Formulierung des Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG eine Grenze im Sinne einer hälftigen Teilung zu entnehmen.12 Von diesem Ansatz hat sich das Gericht nach mehr als zehn Jahren in seinem Beschluss vom 18. Januar 2006 wieder distanziert: Der Wortlaut des Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG reiche zur Begründung einer mit Sinn und Zweck der Vorschrift sowie seiner Entstehungsgeschichte zu vereinbarenden Herleitung einer Höchstbelastungsgrenze in der Nähe einer hälftigen Teilung nicht aus.13 Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers werde auch bei Auferlegung von Steuerlasten durch die allgemeinen Grundsätze der Verhältnismäßigkeit begrenzt. Dabei ist dem Gericht be10

So J. Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: Isensee/ Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band IX, 3. Aufl. 2011, § 190 Rdnr. 184. 11 Siehe hierzu H.-J. Papier, Die Beeinträchtigung der Eigentums- und Berufsfreiheit durch Steuern vom Einkommen und Vermögen, Der Staat 1972, S. 483 ff. 12 BVerfG, NJW 1995, 2615 (2617). 13 BVerfG, NJW 2006, 1191 (1193).

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wusst, dass Steuern zur Deckung des staatlichen Finanzbedarfs gemessen an diesem Zweck sich grundsätzlich immer als geeignet und erforderlich darstellen.14 So bleibt aus Sicht des Gerichts am Ende das Übermaßverbot, dem jedoch keine zahlenmäßig zu konkretisierende allgemeine Obergrenze der Besteuerung entnommen werden könne. Die steuerliche Belastung auch höherer Einkommen dürfe für den Regelfall nicht so weit gehen, dass der wirtschaftliche Erfolg grundlegend beeinträchtigt werde und nicht mehr angemessen zum Ausdruck komme.15 Ein wirksamer, weil gerichtlich kontrollierbarer Maßstab, anhand dessen der Staat bei Erhebung der Steuern in die Schranken gewiesen werden könnte, ist dies nicht. Es bleibt eine offene Flanke effektiven Grundrechtsschutzes. 2. Staatliche Leistungen als Eingriffe in die Freiheit des Wettbewerbers Die bereits unter dem Aspekt der Freiheitsförderung angesprochenen Wirtschaftssubventionen wirken begünstigend auf die Position des Empfängers ein. Er verbessert seine Situation, und zwar auch dann, wenn – wie üblich – die Gewährung der staatlichen Leistungen an die Beachtung und Einhaltung bestimmter Maßgaben gebunden ist. Solche verwendungsbezogene Pflichten oder Obliegenheiten sind keine selbständigen Eingriffe, sondern modifizieren lediglich die gewährte Leistung.16 Anders sieht die Situation für den Wettbewerber aus, der auf demselben Markt mit dem Empfänger der staatlichen Subventionen konkurriert. Es liegt auf der Hand, dass sich seine Position dadurch verschlechtert, dass der subventionierte Konkurrent unter Einsatz der gewährten Leistungen produzieren und auf dem Markt agieren kann. Im Ansatz besteht Einigkeit, dass solche staatliche Maßnahmen Eingriffe in die Berufsfreiheit des Konkurrenten sein können. Zwar schützt Art. 12 GG nicht vor Wettbewerb und Konkurrenz, wohl aber grundsätzlich vor staatlichen Maßnahmen mit objektiv berufsregelnder Tendenz im Bereich des Wettbewerbs.17 Eine solche berufsregelnde Tendenz ist bei staatlichen Wirtschaftssubventionen regelmäßig anzunehmen, da sich die der Berufsausübung dienende Begünstigung des einen im beruflichen Nachteil des auf dem gleichen Markt aktiven Wettbewerbers widerspiegelt.18 Dabei hängt selbstverständlich das Ausmaß der Folgewirkung bei den Wettbewerbern vom Umfang der Subvention, aber auch von der Gesamtgröße des 14 BVerfG, NJW 2006, 1191 (1194) unter Hinweis auf H.– J. Papier, Besteuerung und Eigentum, DVBl. 1980, 787 (793). 15 BVerfG, NJW 2006, 1191 (1194). 16 J. Kämmerer, in: v. Münch/Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 12 Rdnr. 52. 17 D. Umbach, in: ders./Clemens, Mitarbeiterkommentar zum GG, 2002, Art. 12 Rdnr. 57. Hierzu jüngst R. Schmidt, Konkurrenzschutz durch Grundrechte, in: Sachs/Siekmann (Hrsg.), Festschrift für Klaus Stern, 2012, S. 1475 (1478). 18 R. Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 12 (Juni 2006) Rdnr. 321; Kämmerer, in: v. Münch/ Kunig, GG, Art. 12 Rn. 52; G. Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte – Struktur und Reichweite der Eingriffsdogmatik im Bereich staatlicher Leistungen, 1988, S. 309 f.

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jeweiligen Marktes einschließlich der Anzahl der Wettbewerber ab: Je geringer die Subvention, je größer der Markt, umso eher verflüchtigt sich der wettbewerbsverändernde Effekt. Gleichwohl besteht kein Anlass, nur Maßnahmen mit erheblicher Lenkungsintensität oder gar nur solche mit erdrosselnder Wirkung als Eingriffe in die Berufsfreiheit zu qualifizieren.19 Das Maß der Auswirkungen auf die Wettbewerbsfreiheit der nichtsubventionierten Konkurrenten ist freilich auf der Ebene der Rechtfertigung des Eingriffs ein wesentlicher Aspekt. III. Freiheitseinbußen beim Leistungsempfänger Staatliche Leistungen haben einen freiheitsförderlichen Effekt, soweit sie die materiellen Voraussetzungen für einen aktiven Gebrauch der grundrechtlichen Freiheit schaffen. Diese oben getroffene Feststellung ist richtig – und doch beschreibt sie das Verhältnis zwischen staatlichen Leistungen und realer Freiheit nur unvollkommen. Die Wirkungen staatlicher Leistungen sind auch gegenüber dem Leistungsempfänger durchaus ambivalent. Die freiheitsverkürzenden Effekte, die mit staatlichen Leistungen unter verschiedenen Aspekten verbunden sein können, dürfen nicht übersehen werden. 1. Keine Freiheitsverkürzung: Unselbständige Obliegenheiten des Leistungsempfängers Der Gewährung staatlicher Leistungen geht regelmäßig ein Verfahren voraus, das auf einen entsprechenden Antrag des Bürgers initiiert wird. Die Angaben in diesem Antrag sind notwendig, damit sich die staatliche Behörde vergewissern kann, dass der Antragsteller die gesetzlich oder verwaltungsmäßig bestimmten Voraussetzungen für die begehrte Zuwendung erfüllt. Die Leistungsgewährung wird vielfach auch von der Vorlage anderer Nachweise, ggf. auch von einer Untersuchung abhängig gemacht. Die aufgenommenen Daten werden im Interesse einer ordnungsgemäßen Verwaltung erfasst und gespeichert, etwa um unrechtmäßige Doppelleistungen zu vermeiden. Nicht selten wird die Leistung oder das Behaltendürfen von nachgelagerten Nachweisen etwa über die Verwendung oder sonstigen Auflagen und Bedingungen abhängig gemacht. Josef Isensee hat vor diesem Hintergrund als eine Gefahrenzone der Freiheit im Sozialstaat die „Privatheit, belauert von Formular-Impertinenz, Auskunftszwang, medizinischer Untersuchung, Datenspeicherung“ skizziert.20 Gleichwohl wird man das Antragserfordernis und den Nachweis der materiellen Leistungsvoraussetzungen ebenso wenig als Freiheitseinschränkung qualifizieren können wie – im Falle der Zweckbindung der Leistung – die Verpflichtung zum Nachweis der ordnungsgemäßen Verwendung. Soweit die vom Leistungsempfänger geforderten Angaben und Nachweise in sachlichem Zusammenhang mit der von ihm begehrten Leistung stehen, handelt es sich vielmehr um – ggf. lästige – Modifikatio19 20

So aber J. Wieland, in: Dreier, GG, 2. Aufl. 2004, Art. 12 Rdnr. 88. Isensee (o. Fußn. 7), S. 384.

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nen der staatlichen Begünstigung.21 Erst dann, wenn der Staat mit den gewonnenen Erkenntnissen oder erhobenen Daten andere Zwecke verfolgt, die nicht in unmittelbarem Kontext mit der gewährten Leistung stehen, erhalten die Leistungsmodifikationen auch rechtlich eine eigenständige Bedeutung. Grundrechtsrelevant sind ebenso subventionsbegleitende Bestimmungen, die nicht der Sicherstellung bzw. Kontrolle der zweckentsprechende Verwendung der staatlichen Mittel, sondern der Einwirkung auf die allgemeine Unternehmenspolitik dienen.22 2. Freiheitsfähigkeit als Bedingung realer Freiheit Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen ist die bereits zuvor im Sinne staatlicher Leistungsgewährung fruchtbar gemachte Erkenntnis, dass reale Freiheit nicht nur die staatliche Garantie eines Freiraums im Sinne ausgrenzender Freiheit voraussetzt, sondern von gewissen tatsächlichen Bedingungen abhängig ist. Hierzu zählen äußere Umstände, ohne die der frei gefasste Wille des Einzelnen nicht in der Wirklichkeit umgesetzt werden kann. Reale Freiheit hat aber auch eine innere Seite: Eine der Umsetzung des Entschlusses vorausliegende und diesen ihrerseits bedingende Voraussetzung ist die Fähigkeit des Einzelnen zur Freiheit. Von zentraler und elementarer Bedeutung für die notwendige Freiheitsfähigkeit ist die menschliche Reife, die mit der eingeräumten grundrechtlichen Freiheit verbundene Verantwortung für sich selbst anzunehmen, die sich hieraus ergebenden Handlungsoptionen zu erkennen und zu bewerten und letztlich von der gewährten Freiheit mit Entschlusskraft einen positiven Gebrauch zu machen. Dabei ist der positive Gebrauch nicht aus staatlicher Sicht zu bestimmen. Reale Freiheit äußert sich nicht allein in gemeinwohlförderlichen Aktionen, mag der Staat auch ein legitimes, ja existentielles Interesse an einem insgesamt gemeinwohlförderlichen Gebrauch der grundrechtlichen Freiheiten durch seine Bürger haben. Die hier maßgebliche Perspektive ist vielmehr die des einzelnen Grundrechtsträgers. Auch indem er sich den Anforderungen der Allgemeinheit entzieht, kann er in voller Freiheit seinen Willen betätigen. Umgekehrt kann die Anpassung an das Vorgedachte und Vorgemachte nicht einer Einsicht in die innere Richtigkeit oder Notwendigkeit gewisser Traditionen entsprießen, sondern Ausdruck unzureichender innerer Eigenständigkeit oder fehlenden Mutes zur Unterscheidung sein. In jedem Fall kann das Verhalten eines Menschen umso weniger als Akt realer Freiheit verstanden werden, je mehr die Voraussetzungen für eine freie Entscheidung in seiner Person fehlen. In Deutschland ist die elementare Bedeutung der Freiheitsfähigkeit für den Einzelnen wie für ein freiheitlich verfasstes Gemeinwesen längst erkannt. Der Staat scheut in Form der allgemeinen Schulpflicht nicht einmal vor Zwang, also Freiheitseinschränkungen zurück, um den Einzelnen zu einem positiven Gebrauch seiner Freiheit zu befähigen. Mit der Normierung der Schulpflicht und ihrer exekutiven 21 22

Lübbe-Wolff (o. Fußn. 18), S. 275. Lübbe-Wolff (o. Fußn. 18), S. 275.

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Durchsetzung verfolgt der Staat (auch) das Ziel, die Schüler zunehmend in die Lage zu versetzen, von ihren Freiheiten verantwortlich Gebrauch zu machen.23 Hierzu gehören gewisse intellektuelle und fachliche Qualifikationen, die erst die Möglichkeit eröffnen, im Anschluss an die Schule eine Ausbildung, ein Studium und später einen Beruf zu ergreifen. Ebenso gehört hierhin die Vermittlung von Fleiß und Selbstdisziplin. Dies sind keine fremdnützigen Tugenden, sondern Grundbedingungen für ein selbstbestimmtes Leben, in dem kraftvoll die Chancen und Möglichkeiten genutzt werden, um das Ich in Freiheit zu entfalten. Auch insoweit haben im Übrigen die sog. Reformpädagogen seit den 1960er Jahren geirrt. Unternimmt der Staat somit erhebliche Anstrengungen, um die Menschen in ihrer Kindheit und Jugend freiheitsfähig zu machen, so handelt er seinem eigenen Ziel zuwider, wenn er die Freiheitsfähigkeit durch andere Maßnahmen wieder mindert und damit die reale Freiheit der Menschen verkürzt. Just dies geschieht, wenn und soweit er die Bürger zu Empfängern staatlicher Zuwendungen und Zuteilungen macht und ihnen dadurch den Ansporn nimmt, von ihrer Freiheit selbstbestimmt einen positiven Gebrauch zu machen.24 Zwar garantiert Art. 12 Abs. 1 GG nicht nur die Freiheit, Beruf, Arbeitspatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen, sondern zugleich auch die Freiheit, sich dieser Wahl zu verweigern, indem man keine Ausbildung beginnt und keinen Beruf ergreift. Art. 12 Abs. 2 und 3 GG ergänzt diese negative Freiheit vor dem Hintergrund der spezifischen Erfahrungen im national-sozialistischen Unrechtssystem um das grundsätzliche Verbot von Arbeitszwang und Zwangsarbeit. Art. 12 GG garantiert damit – wie auch die anderen grundgesetzlichen Freiheitsrechte – einen Freiraum, in den der Staat nur unter strengen Kautelen, insbesondere nur nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eingreifen darf. Keineswegs folgt aber aus Art. 12 GG, dass der Staat die nachteiligen Folgen, die sich aus der Verweigerung von Ausbildung, Beruf und Arbeit für den Einzelnen ergeben, auffangen oder auch nur mildern müsste. Der Staat darf die Bürger grundsätzlich nicht durch staatliche Zwangsmaßnahmen – sieht man einmal von der Schulpflicht ab – zum positiven Freiheitsgebrauch anhalten; sehr wohl kann er aber die Gewährung von Leistungen hiervon abhängig machen. Wer sich ohne Zwang für Untätigkeit entscheidet, weder einer Erwerbsarbeit bzw. einer entsprechenden Ausbildung nachgeht noch etwa im Rahmen einer einvernehmlichen Arbeitsteilung eine familiäre Aufgabe wahrnimmt, und durch seine mangelnde Aktivität in wirtschaftliche Bedrängnis gerät, kann nicht erwarten, dass ihm die Allgemeinheit die notwendigen ökonomischen Grundlagen zur Verfügung stellt.25 Ein solcher Anspruch des bewussten Totalverweigerers ergibt sich auch nicht aus Art. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip: Wer sich aus freien Stücken einer aktiven Mitwirkung zum Erhalt der eigenen Lebensgrundlagen begibt, kann nicht mit Erfolg unter Berufung auf seine Menschenwürde eine staatliche Alimentierung einfordern. Dass dies selbst 23

Isensee (o. Fußn. 10), Rdnr. 220. Isensee (o. Fußn. 10), Rdnr. 233. 25 Isensee (o. Fußn. 10), Rdnr. 233.

24

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nach christlichen Maßstäben die geforderte Solidarität überspannte, belegt ein Wort des Heiligen Paulus im zweiten Brief an die Thessalonicher. Dort heißt es klar und unmissverständlich: „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.“26 Ist der Verfassung danach keine Verpflichtung zur staatlichen Unterstützung des Totalverweigerers zu entnehmen, ist der Staat überdies von Verfassungs wegen im Interesse der Förderung realer Freiheit gehalten, alles zu unterlassen, was die Bürger von einem aktiven Grundrechtsgebrauch abhalten kann. Dass dies keineswegs nur eine abstrakte Gefahr darstellt, sondern einen kritischen Moment im gegenwärtigen System beschreibt, belegt ein Vergleich zwischen dem Nettoeinkommen eines Arbeitnehmers in den unteren Lohngruppen und der Summe der staatlichen Transferleistungen, die an eine nicht-arbeitende Person ohne Rücksicht auf früher erbrachte Beitragsleistungen bewirkt werden. Besonders auffällig wird das Missverhältnis bei größeren Bedarfsgemeinschaften. Bei rein ökonomischer Kosten-Nutzen-Analyse verhält sich ein Empfänger solcher Transferleistungen in nicht wenigen Konstellationen durchaus systemadäquat, wenn er die Aufnahme von Arbeit meidet. Umgekehrt bedarf es besonderer Anerkennung, dass viele Menschen sich dieser egoistisch-ökonomischen Rationalität verschließen, gleichwohl Arbeit suchen und im Rahmen ihrer Kräfte und Möglichkeiten zur wirtschaftlichen Lebensgrundlage für sich und ihre Familie beitragen. Hierzu halten natürlich auch die gesetzlichen Bestimmungen an: § 2 Abs. 1 SGB XII fordert von den Erwerbsfähigen alle zumutbaren Anstrengungen, um den Lebensunterhalt für sich und die Angehörigen der Bedarfsgemeinschaft selbst zu erwirtschaften. § 31a SGB XII knüpft an die Verletzung der einem Empfänger von Arbeitslosengeld II obliegenden Pflichten entsprechende Sanktionen an. Dies ist nicht nur mit Blick auf den gebotenen sparsamen Umgang mit den Finanzmitteln unabdingbar, sondern dient letztlich auch dazu, den Einzelnen zu einem positiven Grundrechtsgebrauch zu aktivieren und die Fähigkeit zu einem solchen Gebrauch seiner Freiheit zu bewahren. So wie Freiheitsfähigkeit zunächst durch gute Erziehung der Eltern und in der Schule, später durch die eigenständige und aktive Entfaltung der Persönlichkeit gefördert wird, so droht ein Verlust oder jedenfalls eine Minderung dieser Fähigkeit, je länger sie brach liegt. Wenn die zuständigen Behörden in der Praxis im Sinne des Gesetzes strenge Anforderungen an die fortlaufende Gewährung von Arbeitslosengeld II stellen, tun sie dies nicht nur in Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft derjenigen, die die Kosten für die Transferleistungen zu tragen haben, sondern letztlich auch im wohlverstandenen Interesse der Leistungsempfänger. Dies gilt zumal, wenn die Leistungsempfänger in Bedarfsgemeinschaft mit Kindern leben. Hier steht nämlich auch deren künftige Freiheitsfähigkeit in Rede. Ihnen wird ein positiver Gebrauch ihrer Freiheit wesentlich erschwert, wenn die Eltern insoweit als Vorbild ausfallen, wenn die Kinder nicht erleben, welche Möglichkeiten der Entfaltung sich erst durch ein beherztes, zuweilen auch anstrengendes Gebrauchmachen der eigenen Kräfte ergeben. Was für die Behörden gilt, gilt zumal für die im Streitfall berufenen 26

2. Thess 3, 10.

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Sozialgerichte. Sie sind daher gut beraten, die Bemühungen der Behörden nicht zu konterkarieren, indem sie die Anforderungen an die staatliche Leistungserbringung in falsch verstandener Freigebigkeit – sei es durch eine entsprechende Auslegung der Normen, sei es durch eine entsprechende Wertung des tatsächlichen Geschehens – senken. Abgesehen davon, dass Freigebigkeit eine edle Tugend nur dann ist, wenn sie aus eigenen privaten Mitteln schöpft, würden die Gerichte auf diese Weise dem dem Gesetz zugrundeliegenden freiheitlichen Konzept zuwider handeln. Verlangt daher schon das bisherige System im Sinne eines Erhalts der Freiheitsfähigkeit der Menschen eine strikte Handhabe, so ist allen, zuweilen aus dem politischen Raum vorgebrachten Vorschlägen zur Gewährung eines von der Allgemeinheit finanzierten, von keinen weiteren Bedingungen abhängigen Grundeinkommens nicht nur aus volkswirtschaftlichen Gründen eine Absage zu erteilen, sondern auch aus verfassungsrechtlichen. Die Beschaffung der notwendigen finanziellen Mittel für eine solche Grundfinanzierung selbst auf niedrigem Niveau dürfte nur mit unverhältnismäßigen Eingriffen möglich sein. Im Übrigen wäre eine solche Alimentierung der Freiheitsfähigkeit der Empfänger nicht förderlich und würde damit im Ganzen zu einem Abbau realer Freiheit führen. 3. Freiheit und Verantwortung Zwischen Freiheit und Verantwortung besteht ein enger Zusammenhang. Verantwortung setzt Freiheit voraus. Ohne Freiheit ist Verantwortung im ethisch-moralischen Sinne nicht begründbar. So entspricht es unserem natürlichen Gerechtigkeitsempfinden, dass nur derjenige für die Folgen seines Tuns verantwortlich gemacht werden kann, der auch hätte anders handeln können.27 Besteht – aus ihrerseits nicht frei zu verantwortenden – inneren oder äußeren Zwängen keine Alternative, ist der ursächliche Beitrag des Menschen für das spätere Ergebnis einer moralischen Bewertung nicht zugänglich, weil der Mensch letztlich wie ein mechanischer Gegenstand, ein bloßes Objekt in die Kausalkette eingebunden war. Diese Grundsätze gelten auch in unserer Rechtsordnung, jedenfalls im Strafrecht und Deliktsrecht. Das Polizei- und Ordnungsrecht, dem es um eine effektive Gefahrenabwehr geht, lockert diesen Konnex, indem es bei der Zurechnung von Gefahren zuvörderst auf den letzten maßgeblichen Ursachenbeitrag abstellt, ohne freilich die innere Verbindung gänzlich in Frage zu stellen. 27 In der abendländischen christlichen Theologie zieht sich freilich der Streit um die Prädestination und die menschliche Freiheit durch die Jahrhunderte. Gegen die Gnadenlehre des späten Augustinus, nach der die Verbannung in die Hölle allein nach Gottes unerdenklichen Ratschluss ohne Zutun des Menschen erfolgt, haben Zeitgenossen wie Julian von Aeclanum ihre Stimme erhoben. Als Luther im Anschluss an Augustinus in seiner Schrift De servo arbitrio den reinen Willen des Menschen vernichtet, hält Erasmus von Rotterdam dagegen und verteidigt nicht nur die Freiheit des Menschen, sondern auch die Vorstellung von einem gerechten Gott; zu diesen Kontroversen siehe K. Flasch, Kampfplätze der Philosophie – Große Kontroversen von Augustinus bis Voltaire, 2008, S. 11 ff.; 243 ff.

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Fraglich ist, ob der Zusammenhang auch in umgekehrter Richtung gilt: Bedingt Freiheit auch Verantwortung, so dass sie gewissermaßen als andere Seite derselben Medaille angesehen werden kann? Anders formuliert: Umfasst die Freiheit auch die Zurechnung der Folgen eines willentlichen Verhaltens? Mit Blick auf die günstigen Folgen einer Handlung wird man dies bejahen können. Es ist Teil der Freiheit, dass demjenigen, der – im Rahmen der Gesetze – aktiv von den damit eröffneten Handlungsmöglichkeiten Gebrauch macht und etwa die beruflichen Chancen zu seinem Vorteil ergreift, auch die mit dieser Tätigkeit einhergehenden Erträge zugeordnet sind. Schöpft der Staat diese Erträge gezielt ab und nivelliert damit insoweit die Folgen der beruflichen Entscheidung und Anstrengungen, ist dies nicht nur ein Eingriff in das Vermögen, sondern wirkt zurück auf die berufliche Freiheit, die durch solche Maßnahmen verkürzt wird. Tangiert wird auf diese Weise die grundrechtliche Freiheit in ihrer negativen, den Staat ausgrenzenden Wirkung. Sehr viel schwieriger ist das Verhältnis zwischen Freiheit und Verantwortung, wenn die nachteiligen Folgen einer Handlung in Rede stehen. Erweitert sich nicht der Radius der Handlungsoptionen und damit auch der Freiheit, wenn der Handelnde nicht für die ungünstigen Folgen seiner Entscheidung einzustehen hat? Kann er nicht unbelastet von der Einstandspflicht für etwaige nachteilige Folgen viel freier entscheiden? Wird Freiheit als Beliebigkeit verstanden, so sind diese Fragen zu bejahen. Und in der Tat gewähren ja die Grundrechte als negative Abwehrrechte – im Rahmen der Gesetze – einen Raum der privaten Beliebigkeit. Wird Freiheit nur in diesem negativen Sinne verstanden, könnte man die Folgenverantwortung als deren Korrelat begreifen: Der grundrechtlich garantierten freien Entscheidung entspräche die legitime Verpflichtung, für die Folgen der frei getroffenen Entscheidung geradezustehen. Diese Verpflichtung hätte danach zweifelsohne ihre grundsätzliche innere Rechtfertigung, wäre aber nicht Teil, sondern gewissermaßen Gegenstück zur Freiheit. Begreift man aber Freiheit als den Status, in dem der Einzelne als mündige Person über sich selbst bestimmen kann, wird just diese Mündigkeit tangiert, wenn die den Handelnden treffenden nachteiligen Folgen seiner autonomen Entscheidung durch staatliche Leistungen aufgefangen werden. Nach Maßgabe dieses anspruchsvolleren Freiheitsbegriffs gewinnt diese nicht, wenn sie von ihrer Verantwortung entbunden wird. Dies heißt selbstverständlich nicht, dass der Sozialstaat in bestimmten Konstellationen nicht gleichwohl unterstützend tätig werden darf oder muss und den Handelnden von den nachteiligen Folgen seines autonomen Handelns durch Gewährung von Leistungen entlastet. Dabei dürfen jedoch auch die freiheitsverkürzenden Effekte solcher staatlicher Leistungen nicht aus dem Blick geraten. 4. Staatliche ökonomische Anreize zum Nichtgebrauch der Freiheit Es gehört zum gängigen Instrumentarium des modernen Staates, finanzielle Anreize zu setzen, um die potentiellen Empfänger zu einem von ihm erwünschten Verhalten zu veranlassen. Dies geschieht etwa im Falle der bereits thematisierten Wirt-

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schaftssubventionen. Der Staat setzt darauf, dass der Unternehmer mithilfe der Subventionen von seiner Freiheit zu wirtschaften zu eigenem Nutzen, damit zugleich aber auch im Interesse der staatlich verfolgten Ziele Gebrauch macht. Der Unternehmer, der legitimerweise sein unternehmerisches Handeln an der Gewinnmaximierung ausrichtet, entscheidet nüchtern und kühl nach den Kriterien der ihm eigenen spezifischen Sachlogik, wenn er die wirtschaftlichen und finanziellen Folgen der ihm eröffneten verschiedenen Optionen abwägt und dann für die Annahme der Subvention unter staatlich festgesetzten Kautelen votiert. Der Staat verhält sich seinerseits mit seinem Subventionsangebot im Rahmen der Sachlogik des speziellen Lebensbereichs. Mit Blick auf den Empfänger ist die Subvention also durchaus eine freiheitsfördernde Maßnahme. Wie aber ist es zu bewerten, wenn der Staat in einem dem strengen ökonomischen Nutzendenken entrückten Bereich finanzielle Leistungen gewährt, die die potentiellen Empfänger im Ergebnis davon abhalten, von der ihnen im Grundgesetz eingeräumten Freiheit aktiven Gebrauch zu machen? Just dies geschieht vor dem Hintergrund eines rasanten Paradigmenwechsels im Bereich der Familienpolitik der letzten Jahre nahezu systematisch. Mit Hilfe eines umfangreichen Instrumentariums befördert der Staat, dass die Pflege und Erziehung der Kinder in einem frühen Stadium von den Eltern weitgehend auf staatliche bzw. (staatlich geförderte) öffentliche Einrichtungen übertragen wird.28 Entsprechend wird die Fremdverwahrung und -betreuung schon für Kleinstkinder in umfangreichem Stile mit steuerfinanzierten Mitteln ausgebaut und subventioniert. Zudem werden durch die Ausgestaltung des Elterngeldes gezielt doppelerwerbstätige Ehepaare mit Kindern im Vergleich zu Einverdienerehen mit Kindern begünstigt. In der Begründung zum Gesetzentwurf heißt es, dass das Elterngeld die Entscheidung für eine Verbindung von Beruf und Familie gegenüber einem Verzicht auf Kinder begünstigen solle und daher Einkommensunterschiede zwischen kinderlosen Paaren und Paaren mit Kindern abmildern wolle.29 Abgesehen davon, dass das Ziel auf das Ganze gesehen – wie die Geburtsstatistiken zeigen – verfehlt worden ist, leidet die der Gesetzesbegründung zugrunde liegende einseitige Ausrichtung an der Vergleichsgruppe der kinderlosen Doppelverdiener an einer Verengung der Perspektive: Nimmt man nämlich diejenigen in den Blick, die sich bereits für eine Familie mit Kindern entschieden haben, sind die Unwuchten unübersehbar. So werden gerade jene Eltern, die aufgrund ihrer früheren doppelten Erwerbstätigkeit 28

Die diesen Paradigmenwechsel befürwortende Koalition ist recht bunt: So weisen die Wirtschaftsverbände mit Blick auf die demographische Entwicklung darauf hin, dass die Wirtschaft mehr weibliche Erwerbstätige benötige. Genderideologen erhoffen sich durch eine durchgehende Erwerbstätigkeit von Mann und Frau eine weitere Nivellierung der natürlichen Geschlechterunterschiede. Die unverdrossenen Staatsgläubigen hegen schließlich ein Grundmisstrauen gegen die elterliche Erziehung und wollen daher – wider alle Erfahrungen des letzten Jahrhunderts mit zwei totalitären Erziehungssystemen – die Erziehung der Kinder möglichst früh und umfassend dem Staat – beginnend mit der „Lufthoheit über den Kinderbetten“ (so ein Ausdruck des heutigen Ersten Bürgermeisters der Stadt Hamburg Olaf Scholz) – anvertrauen. 29 BT-Drs. 16/1889, S. 14.

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ohnehin schon ein größeres Einkommen zur Verfügung hatten und entsprechende Rücklagen bilden konnten, massiv begünstigt; die Eltern, die die Sorge und Erziehung für ihre Kinder dauerhaft selbst übernehmen und zu diesem Zweck über eine längere Spanne auf ein zweites Einkommen verzichten, profitieren nur in geringem Umfang von den staatlichen Leistungen. Diese staatlichen Leistungen und Subventionen seien – so der gängige Einwand – allenfalls ein Problem der Gleichheit, nicht aber – wie hier behauptet – ein solches der Freiheit. Der Staat mache nur ein Angebot, um die Handlungsoptionen der jungen Eltern auszuweiten. Den Eltern sei es ja ohne weitere Nachteile unbenommen, sich für das herkömmliche Familienmodell zu entscheiden und deshalb jedenfalls für einen längeren Zeitraum auf ein zweites Einkommen zu verzichten. Dies sei unverändert ihre freie Entscheidung, die der Staat respektiere. Dieser Einwand verfängt jedoch nicht. Eine solche vordergründige Betrachtung verkennt, dass der Staat auf die Entscheidungsfindung der Eltern durch die ökonomischen Anreize einwirkt. Zwar ohne hoheitlichen Zwang, nimmt der Staat gleichwohl – wie auch das Bundesverfassungsgericht einräumt – Einfluss auf eine private Entscheidung.30 Ergebnis dieser gezielten Einflussnahme ist nicht ein Zugewinn an realer Freiheit, da die ökonomischen Vorteile an die Entscheidung der Eltern für ein vom Staat präferiertes Familienmodell gebunden sind. Damit bleibt zwar die Entscheidung für ein anderes Modell rechtlich möglich, sie wird aber faktisch dadurch erschwert, dass mit ihr der bewusste Verzicht auf die in Aussicht gestellten materiellen Vorteile verbunden ist.31 Diese einseitigen staatlichen Anreize und Leistungen sind verfassungsrechtlich gerade deshalb von besonderer Brisanz, weil sie daran anknüpfen, dass von einer grundrechtlich gewährten Freiheit nur in reduziertem Umfang aktiv Gebrauch gemacht wird. Nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG sind Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern. Soweit die Eltern die Pflege und Erziehung anderen (staatlichen) Einrichtungen überlassen, nehmen sie in diesem Umfang ihr Recht zur Pflege und Erziehung nicht wahr. Daran ändert auch nichts, dass die Eltern regelmäßig die Betreuungseinrichtung bewusst und gezielt ausgesucht haben. Wäre das in Art. 6 Abs. 2 GG garantierte Elternrecht ein Grundrecht wie die anderen, ließe sich einwenden, dass die Grundrechte eben auch die Freiheit einräumen, keinen ak30 BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), NJW 2012, 214 (215). Das Gericht meint allerdings, dass das Elterngeld die Entscheidung, ob und in welchem Umfang die Erziehungsverantwortung durch die Eltern selbst wahrgenommen oder an Dritte übertragen werde, nur „am Rande“ beeinflusse. Wenn die Kammer die insoweit begrenzte Wirkung im Folgenden damit begründet, dass die Einkommensersatzfunktion des Elterngeldes gerade einen Anreiz schaffe, die Erwerbstätigkeit wegen der Betreuung eines Kindes vorübergehend zu unterbrechen, wird offenkundig, dass auch das Gericht gerade nicht die Eltern im Blick hat, die dauerhaft und langfristig – und nicht nur in vorübergehender Unterbrechung der Erwerbstätigkeit – die Erziehungsverantwortung in eigener Person wahrnehmen. 31 Dass nach dem Willen der Betreiber des Paradigmenwechsels nicht einmal ansatzweise die Wahlfreiheit junger Elternpaare gefördert werden soll, zeigen die – nicht nur in ihrer Diktion – völlig entgrenzten Invektiven gegen das Betreuungsgeld.

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tiven Gebrauch von ihnen zu machen. Der Verfassunggeber hat aber nicht allein darauf vertraut, dass die Eltern seiner Erwartung gemäß von ihrem Erziehungsrecht Gebrauch machen werden. Nach Art. 6 Abs. 2 GG sind Pflege und Erziehung der Kinder nicht nur das Recht der Eltern, sondern zugleich auch die ihnen zuvörderst obliegende Pflicht. Diese Pflicht ist weniger eine Beschränkung des Elternrechts, sondern dessen wesensbestimmender Bestandteil.32 Hat der Verfassunggeber gerade nach den Erfahrungen der national-sozialistischen Diktatur bewusst die Eltern in die Pflicht genommen, von ihrem Recht und ihrer Freiheit zur Erziehung aktiv Gebrauch zu machen, widerspricht es dieser verfassungsrechtlichen Grundentscheidung, wenn der Staat nun ökonomische Anreize für Eltern setzt, die Pflege und Erziehung ihrer Kinder möglichst früh für viele Stunden des Tages aus der Hand zu geben. Der Staat trägt bei zur Erosion des in Art. 6 GG verankerten Modells der elterlichen Verantwortung für die Kinder in der freiheitlich verfassten und individuell ausgestalteten Sphäre der Familie, indem er die – aus Sicht der Eltern – heteronom determinierte und standardisierte Betreuung auch von Kleinstkindern in außerfamiliären Kollektiveinrichtungen massiv befördert – wenngleich (bisher) nicht mit Zwang, sondern durch Leistungen, so doch gewiss auf Kosten der Freiheit.

32

BVerfGE 56, 363 (381 f.); 68, 176 (190).

Standards für die Verwirklichung der Versammlungsfreiheit in Europa Von Wolfgang Hoffmann-Riem In seiner Zeit als Präsident des Bundesverfassungsgerichts war der Jubilar als Vorsitzender des Ersten Senats und der für Fragen der Versammlungsfreiheit zuständigen Kammer maßgeblich an fast allen Entscheidungen zur Versammlungsfreiheit beteiligt. Stets engagiert und bereit, verfassungsrechtlich erhebliche Fehlentwicklungen in der behördlichen und verwaltungsgerichtlichen Praxis zu korrigieren, war er eine treibende Kraft bei dem Bemühen, die Versammlungsfreiheit als Grundrecht bürgerschaftlicher Selbstbestimmung in der deutschen rechtsstaatlichen Demokratie zu sichern. Der folgende Beitrag gilt einzelnen Aspekten des Schutzes der Versammlungsfreiheit in europäischen Staaten. I. Rechtlicher Rahmen für die Versammlungsfreiheit in Europa Neben nationalen Grundrechtsnormen (in Deutschland also Art. 8 GG) sind die Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention (insbesondere Art. 11 EMRK) maßstabsbildend für das innerstaatliche Versammlungsrecht in Europa für Staaten, die die EMRK ratifiziert haben.1 Normative Orientierungen bietet ferner die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Sie verbürgt das Grundrecht der Versammlungsfreiheit in Art. 12. Auch wenn ihr Anwendungsbereich begrenzt ist (siehe Art. 51 GR-Charta), ist es wichtig, die Charta auch bei nationalen Regelungen als Orientierung zu beachten und für Kohärenz, hier der Versammlungsfreiheit in Europa, zu sorgen. Von Bedeutung sind ebenfalls die Verfassungstraditionen (siehe für die EU etwa Art. 6 Abs. 2 EUV)2 und die internationalen Verpflichtungen der Staaten. Eine Prüfung, auf welche Weise die Versammlungsfreiheit in Europa geschützt wird, ist durch solche Vorgaben nahegelegt, lohnt aber auch deshalb, weil nicht aus1 Die Bindungskraft besteht ungeachtet des Umstandes, ob die EMRK – wie es in Deutschland nicht der Fall ist – mit Verfassungsrang ausgestattet ist. Zur allgemeinen Bedeutung der EMRK für das deutsche Verfassungsrecht siehe BVerfGE 111, 307 (328 ff.). 2 Die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen gelten seit langem als Maßstab für den Grundrechtsschutz in der EU.

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zuschließen ist, dass es in Zukunft vermehrt grenzüberschreitende Anlässe für Demonstrationen und für grenzüberschreitende Kooperation der Behörden bei der Durchführung von Versammlungen geben wird. Im Übrigen kann es als eine Art Selbstvergewisserung dienen, zu klären, auf welchem Freiheitsniveau das eigene Recht im Vergleich zu anderen Rechtsordnungen liegt. Bei der Auswertung von „best practices“ können eventuell Anregungen für eigene rechtspolitische Entscheidungen gewonnen werden. Je bedeutsamer die Grundrechte und dabei auch die politischen Grundrechte im europäischen Verbund sind – etwa für die politische Kultur, aber auch für die Praxis der Verwirklichung von Kommunikationsgrundrechten allgemein –, desto näher liegt es, die Verwirklichung eines Grundrechts wie der Versammlungsfreiheit als Indikator für die Entwicklung rechtsstaatlicher Demokratien in Europa zu nehmen. Einen – wenn auch begrenzten – Blick auf die Gewährleistung der Versammlungsfreiheit in europäischen Staaten und auf mögliche gemeinsame Standards will dieser Beitrag vornehmen. Das schwer zu bewältigende Problem eines umfassenden Vergleichs wird dabei durch eine Beschränkung handhabbar gemacht: Vorrangig wird das von der Venedig-Kommission des Europarats3 gemeinsam mit dem „Office for Democratic Institutions and Human Rights“ der OSZE (ODIHR) in gutachterlichen Stellungnahmen („opinions“/„studies“) zum Versammlungsrecht europäischer Staaten aufbereitete und das in abstrakt-generell gefassten Leitlinien („guidelines“) kondensierte Material zum Schutz der Versammlungsfreiheit herangezogen. Hier findet sich Anschauungsmaterial für gemeinsame Grundlinien des Freiheitsschutzes und schließlich auch für unterschiedliche Ausgestaltungen. In diesem (im Umfang begrenzten) Bericht können allerdings nur einzelne Elemente des versammlungsrechtlichen Schutzes betrachtet werden. II. Zwischenbemerkung zur Venedig-Kommission und zum ODIHR Die beiden hier als Akteure benannten Einrichtungen sind in Deutschland – anders als in mehreren anderen, insbesondere den osteuropäischen Staaten – wenig bekannt. Beide sollen hier kurz vorgestellt und es soll skizziert werden, anhand welcher Maßstäbe sie arbeiten (1., 2.). Anschließend werden Einzelfragen behandelt: nämlich die dem Versammlungsrecht zugrunde gelegten Leitideen (III.), ferner Anmeldeund Erlaubnispflichten sowie Ausnahmen dazu (IV.) und Vorgaben für Beschränkungen der Versammlungsfreiheit (V.). Es folgen Hinweise auf rechtspolitische Anregungen (VI.) und ein Ausblick (VII.).

3 Der Verfasser ist deutsches Mitglied der Venedig-Kommission und hat an mehreren Stellungnahmen zur Versammlungsfreiheit mitgearbeitet.

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1. Die Venedig-Kommission und das ODIHR Im Jahre 1990 wurde auf der Grundlage einer Resolution des Europarats die „European Commission for Democracy Through Law“ gegründet.4 Da sie ihre Plenarsitzungen in Venedig abhält, wird sie allgemein Venice Commission (im Folgenden abgekürzt: VC) oder Venedig-Kommission genannt. Ihr gehören zurzeit 59 Staaten als Mitglieder an, nämlich die 47 Staaten des Europarats sowie einzelne außereuropäische Staaten (darunter Brasilien, Südkorea, USA). Ihre Arbeit wird durch ein in Straßburg ansässiges Sekretariat unterstützt. Träger der Ausarbeitungen sind die von den Regierungen der Mitgliedstaaten entsandten Experten. Jedes Land stellt einen Experten als Mitglied und einen Stellvertreter. Im Statut garantiert sind deren Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit.5 Die im Plenum mit Mehrheit – in der Praxis fast immer ohne Gegenstimmen – verabschiedeten „opinions“, „guidelines“ u. ä. (im Folgenden mit dem Oberbegriff „Gutachten“ versehen) werden auf Anforderung („request“) von Mitgliedsstaaten sowie internationalen Institutionen, wie dem Europarat, der Europäischen Union und anderen Organisationen erarbeitet, können aber auch, soweit sie nicht auf einzelne Staaten bezogen sind, auf Initiative der VC erstellt werden. Die Gutachten sind rechtlich unverbindlich. Sie werden ausnahmslos veröffentlicht.6 Das Office for Democratic Institutions and Human Rights (ODIHR) ist eine Einrichtung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) mit Sitz in Warschau. Thematisch beschäftigt das 1991 eingerichtete und seit 1992 diesen Namen tragende ODIHR sich mit Wahlrechtsfragen, Menschenrechten und dem Demokratieprozess. Die Gutachten zum Versammlungsrecht werden in Kooperation mit seinem „Expert Panel on Freedom of Peaceful Assembly“ unabhängig und weisungsfrei erarbeitet und erfolgen gemeinhin auf Anforderung („request“) von OSZE Teilnehmerstaaten oder OSZE Missionen (in anderen Worten: Außendienststellen). Auch ODIHRs Gutachten werden veröffentlicht.7 Soweit VC und ODIHR in ihren versammlungsrechtlichen Gutachten zusammenarbeiten – das war bisher in den meisten Fällen so –, verabschieden sie sogenannte „joint opinions“. Auch die abstrakt-generell formulierten „Guidelines on Freedom of Peaceful Assembly“8 – im Folgenden: „Guidelines“ – sind ein gemeinschaftlich erarbeitetes Dokument. 4

Ihre aktuelle Rechtsgrundlage ist das „Revised Statute of the European Commission for Democracy Through Law“, Resolution 2002, 3, adopted by the Committee of Ministers on 21 February 2002. 5 Art. 2 Abs. 1 Satz 2 Revised Statute (o. Fußn. 4). 6 Zu verweisen ist insbesondere auf die Homepage der VC, abrufbar unter: www.venice. coe.int. 7 ODIHRs Gutachten werden auf der Internetseite www.legislationline.org veröffentlicht. 8 OSCE/ODIHR – Venice Commission Guidelines on Freedom of Peaceful Assembly, 2nd edition, CDL-AD, (2010) 020. Die Guidelines sind auch als selbständige Buchveröffentlichung von OSCE-ODIHR verfügbar, Warsaw 2011.

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Gegenstand der Gutachten sind Verfassungsnormen, Gesetze oder entsprechende Entwürfe. Nicht beurteilt werden konkrete Einzelmaßnahmen, im Versammlungsbereich also etwa nicht einzelne Versammlungsverbote oder Gerichtsentscheidungen zu versammlungsrechtlichen Fragen. Die Arbeit der Institutionen ist nicht der einer Kontrollbehörde oder der eines streitentscheidenden Gerichts vergleichbar. Daher ergeben ihre Ausarbeitungen grundsätzlich kein Anschauungsmaterial für die konkrete Versammlungspraxis, etwa den Grad der praktizierten Normentreue oder der Übereinstimmung bzw. des Auseinanderklaffens von Versammlungsrecht als „law in the book“ und als „law in action“. Soweit allerdings Informationen über die Praxis des Schutzes der Versammlungsfreiheit verfügbar sind,9 wird untersucht, ob und wieweit Defizite der Verwirklichung der Versammlungsfreiheit bestehen, die ihre Ursache (auch) in den Formulierungen oder Auslassungen der Versammlungsgesetze oder des verfassungsrechtlichen Schutzes haben. Insbesondere wird geprüft, ob die Normen – etwa wegen der Unbestimmtheit der Begriffe oder wegen Defiziten im Rechtsschutz – Anlass zur Befürchtung geben, der Auftrag zur praktischen Gewährleistung der Versammlungsfreiheit sei in den Normen unzureichend ausgefüllt oder die Ermächtigungen zu Beschränkungen könnten missbräuchlich gehandhabt werden. 2. Maßstäbe10 VC/ODIHR nutzen für ihre Gutachten als Maßstab – insoweit verstanden als Minimalstandard – vorrangig die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und die darauf bezogene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Auch stützen sie sich – wie allgemein auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte11 – auf internationale Abkommen oder Dokumente wichtiger internationaler Institutionen. Darüber hinausgehend entwickeln sie für rechtspolitische Empfehlungen Standards unter Herausarbeitung von „best practices“, die sie durch einen vergleichenden Blick auf nationale und internationale Regelungen gewinnen. Ziel ist es, Maßstäbe zu erarbeiten, die (möglichst) zum „Common European Heritage“ gezählt werden können. Bei der Formulierung entsprechender Standards greifen VC/ODIHR vielfach auch auf die in früheren eigenen Gutachten entwickelten Maßstäbe zurück und justieren sie gegebenenfalls in Anbetracht neuer Entwicklungen. Soweit diese Maßstäbe als normative Orientierung genutzt

9

Siehe etwa die Darstellung in CDL-AD (2012) 006, §§ 7 ff. (Belarus). Ausführungen zu der Art der Maßstabsbildung finden sich beispielsweise in CDL-AD (2009) 006, §§ 11 f. (Turkey, betreffend Parteienverbote), sowie CDL-AD (2010) 004, §§ 15 – 18 (Report on the Independence of the Judicial System [Part I]). 11 Siehe dazu allgemein etwa EGMR, App. no. 23459/03 (Bayatyan v. Armenia), § 107; App. no. 34503/97 (GK) (Demir and Bayakra v. Turkey), §§ 65 ff., 69 ff; kritisch dazu C. Grabenwarter/K. Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, § 5 Rdnr. 11. 10

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werden, aber nicht bindenden Rechtsnormen – wie denen der EMRK – entsprechen, lassen sie sich als „soft law“12 einordnen. III. Leitende Grundideen Die große Bedeutung der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR als Maßstäbe hat erheblichen Einfluss auf die von der VC/ODIHR zugrunde gelegte Grundkonzeption. Ihre Stellungnahmen zielen insbesondere darauf, den Charakter des Versammlungsgesetzes als Gesetz zur Sicherung eines bedeutsamen Freiheitsbereichs zu betonen. Dies sei an drei Themenfeldern illustriert. 1. Titel des Versammlungsgesetzes Ein wichtiges Bemühen von VC/ODIHR zielt darauf, das Versammlungsrecht aus den Begrenzungen seiner polizeirechtlichen, vorrangig von Regulierungs- oder gar Repressionsbedürfnissen des Staates geprägten Vergangenheit zu befreien. Deshalb betonen VC/ODIHR immer wieder, Ausgangspunkt jeglicher rechtlicher Regulierung habe die Versammlungsfreiheit, nicht ihre Beschränkbarkeit, zu sein. Um dies auch sichtbar zu machen, haben sie verschiedentlich angeregt, dies schon im Titel des Gesetzes zum Ausdruck zu bringen, das Versammlungen regelt. Es solle nicht schlicht „Assembly Law“, sondern „Law on the Freedom of Assembly“ heißen.13 2. Leitende Grundideen für die Versammlungsgesetzgebung VC/ODIHR betonen immer wieder, dass Versammlungsgesetze sich von mehreren Grundprinzipien leiten lassen sollen;14 auch sollen sie diese ausdrücklich im Wortlaut der Normen benennen und damit ihre verbindliche Kraft unterstreichen. Von besonderer Bedeutung sind: (1) Eine Vermutung zugunsten der Versammlungsfreiheit; (2) eine Pflicht des Staates, friedliche Versammlungen und deren Durchführung aktiv zu schützen; 12 Zum Soft Law, seiner Entstehung und seiner Bedeutung, siehe allgemein etwa U. Sieber, Rechtliche Ordnung in einer globalen Welt, in: Rechtstheorie 41, 2010, S. 151 ff.; M. Knauff, Der Regelungsverbund: Recht und Soft Law im Mehrebenensystem, 2010; J. Schwarze, Soft Law im Recht der Europäischen Union, EuR 2011, 3 ff.; Gunnar Folke Schuppert, Governance und Rechtsetzung, Grundfragen einer modernen Regelungswissenschaft, 2011, S. 340 ff., 397 ff.; s. auch u. Fußn. 87. 13 So etwa CDL-AD (2010) 050, § 19 (Kyrgyz Republic); CDL-AD (2012) 007, § 9 (Russia). 14 Guidelines (o. Fußn. 8), Section A, 2; Section B, §§ 29 ff.; sowie als Beispiele von opinions: CDL-AD (2007) 042, § 15 (Azerbaijan); CDL-AD (2010) 016, § 11 (Bosnia and Herzogovina); CDL-AD (2012) 007, § 25 (Russia).

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(3) der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei der Überprüfung von Beschränkungen; (4) Nichtdiskriminierung. Vor allem die ersten beiden Grundprinzipen verdeutlichen das Anliegen, die immer noch in vielen, vor allem osteuropäischen, Staaten maßgebende Tradition der Beschränkung und Repression von Versammlungen zu überwinden. Im Vordergrund soll die Sicherung der Möglichkeit stehen, Versammlungen durchzuführen, und zwar grundsätzlich nach Maßgabe der Vorstellungen der Veranstalter. Beschränkungen sind als Ausnahmen rechtfertigungsbedürftig. VC/ODIHR betonen deshalb das Bestehen einer Vermutung zugunsten der Versammlungsfreiheit.15 VC/ODIHR reicht es aber nicht, das Ziel des Freiheitsschutzes nur im Rahmen einer abwehrrechtlichen Grundrechtskonzeption zu verfolgen. Vielmehr ist – in Übereinstimmung mit dem EGMR16 – von einer Pflicht des Staates auszugehen, die Durchführung von Versammlungen durch positives Tun zu ermöglichen und ihre Durchführung zu unterstützen, beispielsweise auch durch Schutz vor Störungen Dritter.17 Der rechtsstaatlichen Dimension bei der Anwendung des Grundrechts im Einzelfall dient die Betonung der Bedeutung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit als Prüfungsmaßstab. Dessen – hier als bekannt vorausgesetzte – Einzelelemente kennzeichnen zudem die verschiedenen Schritte in der Prüfungsmethode.18 Das an vierter Stelle aufgeführte Gebot der Nichtdiskriminierung – das ebenfalls auf das Gleichbehandlungsgebot bezogen ist – wird auch deshalb betont, weil die Versammlungsfreiheit in der Praxis in erheblichem Maße als Minderheitengrundrecht wichtig ist. Nichtdiskriminierung ist daher ein Kernanliegen nicht nur allgemein von Freiheitsschutz, sondern muss insbesondere in der Praxis der Gewährleistung von Versammlungsfreiheit strikt befolgt werden.19 3. Schutzgegenstand: Versammlungen Welches Konzept der Versammlungsfreiheit zugrunde gelegt wird, lässt sich auch am Versammlungsbegriff erkennen. Durch ihn wird der Schutzgegenstand der Versammlungsfreiheit bestimmt; die dafür angelegten Kriterien sind auch aussagekräftig für die Zielrichtung des Schutzes. Bekanntlich wird dieser Begriff weder in der ERMK noch in den meisten Verfassungen definiert. Schutzgegenstand von Art. 8 Abs. 1 GG ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts „die Freiheit, mit anderen Personen zum Zwecke einer gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichte15

Guidelines (o. Fußn. 8), Section A, 2.1; Section B, § 30. EGMR, App. no. 10126/82 (Plattform „Ärzte für das Leben“ v. Austria), § 32. 17 CDL-AD (2006) 033, § 10 (Ukraine); CDL-AD (2010) 049, § 16 (Armenia). 18 Zu ihnen siehe Guidelines (o. Fußn. 8), Section A, 2.4; Section B, §§ 39 ff. 19 Guidelines (o. Fußn. 8), Section A, 2.5; Section B, §§ 46 ff. (dort auch Hinweise auf die Verankerung des Grundsatzes in anderen internationalen Dokumenten). 16

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ten Erörterung oder Kundgebung örtlich zusammenzukommen“.20 Einem Teil der Literatur ist eine solche Definition zu eng.21 Von den Autoren wird die Versammlungsfreiheit weiter verstanden, etwa als Freiheit kollektiver Entfaltung ohne bestimmenden Bezug auf den Prozess kollektiver Willensbildung und Meinungsäußerung. Bei der Entscheidung für einen engen oder weiten Versammlungsbegriff ist mitentscheidend, ob für kollektives Handeln ohne Bezug zur öffentlichen Meinungsbildung der Schutz durch andere Grundrechte, in Deutschland etwa Art. 5, 6, 9 und 2 Abs. 1 GG, ausreicht. Da andere Rechtsordnungen insofern nicht die gleichen verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen vorfinden, kann es nicht überraschen, dass es in Europa auch andere, insbesondere weiter gefasste Umschreibungen des Schutzbereichs der Versammlungsfreiheit gibt, als sie das BVerfG im Rahmen des mit weiteren Freiheitsverbürgungen ausgestatteten Grundgesetzes vorsieht. Dies betrifft vor allem Staaten, in denen mangels ergänzender Schutznormen sonst angemessener Freiheitsschutz für kollektives Handeln nicht gewährt wäre. VC/ODIHR verwenden keine einheitliche, abstrakt vorgegebene Definition des Versammlungsbegriffs, sondern gehen eher pragmatisch vor. Im Ausgangspunkt betonen sie – in Übereinstimmung mit dem EGMR22 – bei ihren Beschreibungen des Schutzbereichs die essentielle Bedeutung der Versammlungsfreiheit für die Demokratie. Dementsprechend fokussieren sie viele ihrer Überlegungen auf „public assemblies“.23 Sie beanstanden es nicht, wenn keineswegs alle Formen kollektiver Entfaltung unter den Schutz der Versammlungsfreiheit fallen. So betonen sie, dass eine gesetzliche Regelung mit dem Gedanken der Versammlungsfreiheit vereinbar ist, die den Schutz von kulturellen und sportlichen Ereignissen, Heiraten, Familien- und Freundesfesten, Beerdigungen oder religiösen Zeremonien von der Versammlungsfreiheit ausnimmt.24 Noch allgemeiner wird formuliert, dass Zusammenkünfte „for social purposes“ nicht von der Versammlungsfreiheit des Art. 11 EMRK erfasst seien.25 Religiöse oder kulturelle Veranstaltungen deuten VC/ODIHR aber als Ver20 BVerfGE 104, 92 (104); 111, 147 (154); in neuen Kodifikationen, so in Art. 2 Abs. 1 BayVersG, wird als Versammlung definiert: „eine Zusammenkunft von mindestens zwei Personen zur gemeinschaftlichen, überwiegend auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung“. 21 Siehe für Deutschland statt vieler W. Höfling/S. Augsberg, Versammlungsfreiheit, Versammlungsrechtsprechung und Versammlungsgesetzgebung, ZG 2006, 151 ff.; H.-W. Laubinger/U. Repkewitz, Die Versammlung in der verfassungs- und verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, 1. Teil, VerwArch 92, 2001, 585 (593 ff.); meist wird in der Literatur dargelegt, der EGMR verfolge ebenfalls einen weiten Versammlungsbegriff: siehe statt vieler D. Harris/M. O’Boyle/E. Bates/C. Buckley, Law of the European Convention on Human Rights, 2nded. 2009, p. 516 f., m. w. N. aus der Rechtsprechung; H. Pünder, Kommunikationsgrundrechte, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2009, S. 531 (554 f.); diese Frage sei hier nicht weiter verfolgt. 22 Siehe etwa EGMR, App. no. 10519/03 (Barankevich v. Russia), § 24 f. 23 So etwa CDL-AD (2010) 031, § 13 (Serbia). 24 CDL-AD (2009) 035, § 14 (Bulgaria). 25 Ebd., § 15.

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sammlungen, wenn diese „for expressive purposes“ durchgeführt werden.26 Andererseits wird festgehalten: „Commercial activities which are not covered by freedom of expression should not be included in the act but rather be subject of greater regulation than public assemblies“.27 Derartige Äußerungen verdeutlichen das Bemühen, die Versammlungsfreiheit wegen ihres Bezugs auf das Demokratieprinzip nicht uferlos auf alle kollektiven Betätigungen zu beziehen, sondern an einem besonderen Schutzbedarf zu orientieren, der insbesondere maßgebend wird, wenn es um Beschränkungen der Versammlungsfreiheit geht. IV. Kontrollermöglichung durch Anmeldung oder Erlaubnispflichten sowie Ausnahmen davon 1. Anmelde- und Erlaubnispflichten VC/ODIHR gehen davon aus, dass eine Pflicht zu einer vorherigen und fristgemäßen Anmeldung („notification“) grundsätzlich mit dem Ziel gerechtfertigt werden kann, den Behörden zu ermöglichen, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die praktische Durchführung von Versammlungen zu gewährleisten.28 Sie erwähnen aber auch, dass es Gesetze gibt,29 die für bestimmte Versammlungen keine vorherige „notification“ fordern. Betroffen sind von solchen Ausnahmen z. B. kleine Versammlungen (etwa bei weniger als 50 Teilnehmern) oder Versammlungen auf bestimmten Plätzen, für die ausdrücklich auf Anmeldepflichten verzichtet wird.30 Pflichten zur Beantragung einer Erlaubnis („authorisation“) stehen VC/ODIHR ablehnend gegenüber,31 es sei denn, mit ihnen sei ein Anspruch auf Erlaubnis für den Fall verknüpft, dass keine hinreichenden Tatsachen bewiesen seien, die eine Verweigerung rechtfertigten.32 Der EGMR scheint demgegenüber Erlaubnispflichten und der Sanktionierung einer Pflichtverletzung großzügiger zu bewerten.33 Unterschiedliche Vorgehensweisen von VC und EGMR zeigten sich deutlich, als die VC und der EGMR sich fast zur gleichen Zeit mit der russischen Regulierung über „notifications“ zu befassen hatten. Die unterschiedlichen Vorgehensweisen von EGMR und VC seien hier näher beschrieben. Das russische Versammlungsgesetz kennt kein Erlaubnisverfahren, wohl aber eine Pflicht zur Anmeldung. Nach Art. 5 Abs. 5 dieses Gesetzes darf eine Versammlung allerdings nicht mehr durchge26

CDL-AD (2010) 049, § 22 (Armenia). CDL-AD (2010) 016 (Bosnia and Herzegovina). 28 CDL-AD (2012) 007, § 37 (Russia). 29 So in Moldau und Polen, siehe dazu Guidelines (o. Fußn. 8), § 115. 30 Guidelines (o. Fußn. 8), Section B, § 115. 31 Guidelines (o. Fußn. 8), Section B, § 118. 32 Guidelines (o. Fußn. 8), Section B, § 119. 33 Siehe etwa EGMR, App. no. 34202/06 (Berladir and others v. Russia), § 41.

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führt werden, wenn die Behörde nach Anmeldung einseitig vorschlägt,34 die Modalitäten – etwa Ort oder Zeitpunkt – zu ändern. Von dieser Möglichkeit pflegen die russischen Behörden insbesondere bei Versammlungen durch politisch unerwünschte Veranstalter oder mit politisch unerwünschten Inhalten großzügig Gebrauch zu machen. Unterbreitet die Behörde einen solchen „Vorschlag“, hat sich die Rechtslage für den Veranstalter schlagartig zu seinem Nachteil verändert. Zwar geht das Gesetz davon aus, dass eine Vereinbarung zwischen Veranstalter und Behörde möglich ist. Es gibt aber keine Pflicht der Behörde, eine solche Vereinbarung abzuschließen. Auch ist nicht für ein Verfahren zur Ausräumung von Bedenken der Behörde oder zur stärkeren Berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechts des Veranstalters gesorgt – etwa in Ausführung einer Kooperationsobliegenheit der Behörden, wie sie nach deutschem Recht besteht. Nach einer weiteren Novellierung des Versammlungsgesetzes im Jahre 201235 darf der Veranstalter auch keine Werbung für seine geplante Veranstaltung machen, solange die Bedenken der Behörde nicht ausgeräumt sind oder ein Gericht zu seinen Gunsten entschieden hat. Der Veranstalter hat, wenn die Behörde zu keiner (auch ihm zusagenden) Vereinbarung bereit ist, nur die Möglichkeit, den Änderungsvorschlag so wie vorgesehen zu akzeptieren oder die Versammlung nicht durchzuführen bzw. deren Auflösung zu riskieren. Er kann sich zwar gerichtlich gegen die Änderung wehren, hat aber angesichts der engen zeitlichen Grenzen für die Anmeldung praktisch keine realistische Chance, eine Gerichtsentscheidung rechtzeitig oder jedenfalls so rechtzeitig zu erhalten, dass er die Versammlung erfolgreich durchführen kann. Der EGMR sah sich in der hier heran gezogenen Entscheidung – wie er es auch sonst grundsätzlich nicht tut – nicht zur Überprüfung der Konformität dieser Regelung des Versammlungsgesetzes mit der EMRK berechtigt.36 Er beschränkte sich auf die Prüfung der Anwendung der russischen Norm im Ausgangsfall. Dies bedeutete, dass der EGMR die Norm nicht auch auf andere Anwendungssituationen hin besah und die Konstruktion nicht auch unter der Perspektive beurteilte, ob die Norm grundsätzlich Missbrauchspotential enthält, selbst wenn es sich im Ausgangsfall nicht verwirklicht haben sollte. Der EGMR beanstandete im konkreten Fall ebenfalls die Rechtsanwendung nicht. Dies war vor allem dem Umstand geschuldet, dass er meinte, das Vorgehen der Behörde habe sich in dem weiten Beurteilungsspielraum abgespielt, den er für die Bewertung der Gründe für die Forderung nach einer Modifikation der Modalitäten und für die Beurteilung der Ablehnung des Änderungsvorschlags durch den Veranstalter einräumte. In der Folge kam es weder zu einer kritischen Analyse der im konkreten

34 Art. 12 Abs. 1 Nr. 2 fordert – in englischer Übersetzung – insofern einen „reasoned proposal“, nennt aber keine näheren inhaltlichen oder prozeduralen Anforderungen. 35 s. u. Fußn. 40. 36 EGMR (Berladir, o. Fußn. 33), § 58.

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Fall von der Behörde herangezogenen Anlässe für den Vorschlag der Modifikation,37 noch zu einer grundsätzlichen Prüfung der spezifischen Konstruktion des russischen Versammlungsgesetzes. Anders als der EGMR betrachten VC/ODIHR gesetzliche Regelungen umfassender. Ihre Gutachten gelten grundsätzlich den Normen als solchen. Dementsprechend hat die VC – in diesem Fall war das ODIHR nicht auch eingeschaltet worden – die russische Regulierung in grundsätzlicher Hinsicht beurteilt und angenommen, dass es sich bei der gesetzlichen Konstruktion um ein verkapptes Erlaubnisverfahren handele. Dieses berge erhebliche Missbrauchspotentiale in sich. Zusammenfassend wird formuliert:38 „In conclusion as regards the procedure for notification of public events as set out in the Assembly Law, the Venice Commission considers that this procedure is in substance a request for permission. Furthermore, the Assembly Law confirms too broad discretion on the executive authorities to restrict assemblies, for instance by giving them the power to alter the format of the public event for aims (in particular the need to preserve the normal and smooth circulation of traffic and people) which go beyond the legitimate aims contained in Article 11 ECHR. The law fails to indicate explicitly that such discretion must be exercised with due respect for the essential principles of ,presumption in favour of holding assemblies‘, ,proportionality‘ and ,non-discrimination‘. Judicial review is potentially rendered ineffective because the courts do not have the power to reverse decisions which are within the broad discretion of the executive authorities and they cannot complete review in time before the proposed date of the public event to preserve its original timeframe.39 As a consequence, in the opinion of the Venice Commission the Assembly Law does not sufficiently safeguard against the risks of an excessive use of discretionary power or even arbitrariness or abuse. Risks of an overbroad use of discretionary powers in order to suppress assemblies can always arise and therefore any assembly law 37 In dieser Entscheidung wurden als Gründe für die Verlegung des Versammlungsortes Gefahren für die „security of the participants and the need to avoid causing obstruction to pedestrians and vehicles“ benannt. Die entsprechende Einschätzung der Mehrheit des Gerichts wird in dem Dissent der Richter Vajic und Kovler deutlich kritisiert. 38 CDL-AD (2012) 007, § 30 (Russia). 39 In einer Entscheidung vom 14. Februar 2013 hat das Verfassungsgericht der Russischen Föderation – in Kenntnis der Kritik der Venedig-Kommission – im Rahmen verfassungskonformer Auslegung entschieden, die russischen Gerichte seien verpflichtet, über die Rechtmäßigkeit von Rechtsmitteln gegen das Nichtzustandekommen einer Vereinbarung in der kürzestmöglichen Zeit, und zwar vor dem Datum der geplanten Versammlung, zu entscheiden. Der Veranstalter dürfte nach der Novellierung aus dem Jahre 2012 zwar vor einer solchen Entscheidung nicht Werbung für die geplante Versammlung machen, wohl aber dürfe er die Öffentlichkeit darüber informieren, dass er eine solche Versammlung plane und dass er sich um die Ermöglichung der Versammlung gerichtlich bemühe (2.2 des Urteils). Auch diese Auslegung gewährt allerdings keinen Schutz dagegen, dass, wenn die vom Veranstalter begehrte Gerichtsentscheidung vor dem geplanten Versammlungstermin erlassen wird, dies so kurzfristig davor erfolgt, dass kein hinreichender Zeitraum für eine erfolgreiche Planung der und Werbung für die Versammlung möglich wird. Dies hat die Venedig-Kommission in einem weiteren Gutachten – neben vielem anderen – kritisiert. CDL-AD (2013), 003, § 37.

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must aim at reducing them as far as possible.“ Es darf davon ausgegangen werden, dass die VC solche Formulierungen im Bewusstsein dessen gewählt hat, dass nur ein begrenztes Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit des russischen Gerichtssystems gerechtfertigt ist.40 2. Sonderformen von Versammlungen Würden Anmelde- oder gar Erlaubnispflichten auf jedwede Versammlung angewandt oder würde eine Pflichtverletzung durch ein Verbot oder eine Auflösung sanktioniert, müssten Versammlungen schutzfrei bleiben, bei denen die Anforderungen – insbesondere die an die zeitlichen Vorgaben – nicht eingehalten werden können oder bei deren Einhaltung der Zweck der Versammlung vereitelt zu werden droht. Dies betrifft Spontan- und Eilversammlungen, für die auch das Bundesverfassungsgericht Ausnahmen vom Anmeldeerfordernis begründet und dabei ausgeschlossen hat, dass solche Versammlungen allein wegen Nichteinhaltung der Frist verboten oder aufgelöst werden dürfen.41 Auf ähnliche Weise hat der EGMR argumentiert.42 Auch VC/ ODIHR betonen, dass die Behörden verpflichtet seien, Spontan- und Eilversammlungen zu schützen und ihre Durchführung zu ermöglichen, solange die Versammlungen friedlich verliefen.43 Die Pflicht zum positiven Schutz von Versammlungen könne allerdings mit solchen Beschränkungen verbunden sein, die Voraussetzungen für die praktische Möglichkeit des Schutzes seien. Soweit die Einhaltung der Fristen allerdings nicht durch derartige Gründe hinreichend gerechtfertigt sei, könne das Fehlen einer rechtzeitigen Anmeldung nicht als Anlass für ein Verbot oder andere Restriktionen genommen werden.44 3. Simultanversammlungen Anmelde- oder Erlaubnispflichten schaffen die Möglichkeit, im Vorwege darüber zu entscheiden, ob mehrere Versammlungen zum gleichen Zeitpunkt den gleichen 40 In der wenig später erfolgten Novellierung des russischen Versammlungsgesetzes (Gesetz Nr. 65 – FZ vom 08. 06. 2012) ist die kritisierte Regelung beibehalten und eher noch verschärft worden. Auf Antrag einer Gruppe von Abgeordneten der Duma hat das russische Verfassungsgericht die Novellierung des russischen Versammlungsgesetzes einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung unterzogen und dabei eine Reihe von Vorschriften für verfassungswidrig erklärt sowie bei anderen durch verfassungskonforme Auslegung einzelne Bedenken ausgeräumt. Die Venedig-Kommission hat die Entscheidung grundsätzlich begrüßt, aber in ihrer opinion CDL-AD (2013) 013 weiterhin erhebliche Kritik geübt. Die oben im Text kritisierte Regelung über die notification und die Notwendigkeit eines agreement hat das russische Verfassungsgericht nicht beanstandet, allerdings im Hinblick auf Gerichtsschutz die Notwendigkeit einer Entscheidung vor dem geplanten Versammlungstermin betont (s. o. Fußn. 39). Diese Zeitbegrenzung hat das russische Verfassungsgericht nicht beanstandet. 41 Siehe BVerfGE 69, 315 (350 ff.); siehe auch BVerwGE 26, 135 (137). 42 Siehe etwa EGMR, App. no. 25691/04 (Bukta and others v. Hungary), §§ 31 ff., m. w. N. 43 Siehe etwa CDL-AD (2010) 016, § 36 (Bosnia and Herzegovina). 44 So auch EGMR (Bukta, o. Fußn. 40), § 10.

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Ort beanspruchen dürfen. Dies bejahen VC/ODIHR im Grundsatz: „The guidelines explicitly provide that where notification is given for two or more assemblies at the same place and time, they should all be permitted and facilitated as much as possible, notwithstanding who submitted the notification first and how close to each other they plan to gather. This owes also to the fact that all persons and groups have an equal right to be present in public places to express their views“.45 Andererseits halten VC/ ODIHR es nicht für ausgeschlossen, nach dem Prioritätsgrundsatz vorzugehen, wenn die gleichzeitige Durchführung am selben Ort problematisch ist.46 Der Grundsatz zeitlicher Priorisierung wird insbesondere anerkannt, wenn es an Möglichkeiten, insbesondere an hinreichenden Polizeikräften, fehlt, die Durchführbarkeit beider Versammlungen am gleichen Ort und zur selben Zeit zu ermöglichen. 4. Zeitlicher Korridor für Anmeldungen Anmelde- und Erlaubnispflichten sind gelegentlich mit Terminen verkoppelt, zu denen eine Anmeldung bzw. ein Antrag frühestens erfolgen darf. Dies verhindert allzu frühe „Vorratsanmeldungen“ (die es etwa in Deutschland in exzessivem Maße gibt). Zusammen mit einer Frist für die spätest mögliche Anmeldung oder Antragstellung ergibt sich ein zeitlicher Korridor für Anmeldungen. Dies ist nicht per se rechtsstaatlich bedenklich, birgt aber auch Risiken. Eine solche Terminierung kann nämlich einen Weg schaffen, bestimmte Versammlungen unmöglich zu machen, etwa wenn der von der Versammlung vorgesehene Versammlungsort schon durch eine andere Veranstaltung belegt ist, die keine Anmeldung benötigt oder die einen solchen zeitlichen Korridor nicht zu beachten hat. Eine solche Situation kann sich in Russland ergeben und ist dort vielfach eingetreten: Versammlungen dürfen in Russland nicht früher als 15 (und nicht später als zehn) Tage vor der geplanten Versammlung angemeldet werden (Art. 7 Abs. 1 des russischen Versammlungsgesetzes). Diese Regelung hat dazu geführt, dass Versammlungen, die einen aus Sicht des Veranstalters für den Anlass der Versammlung besonders geeigneten Platz nutzen wollen, sich vor der Situation finden können, dass am selben Ort und zur selben Zeit schon eine andere – meist eine „kulturelle“ – Veranstaltung zu einem früheren Zeitpunkt geplant worden ist und ins Werk gesetzt wird. Vertreter von NGOs klagen darüber, dass dies häufig als Strategie angewandt werde, um politisch unerwünschte Versammlungen unmöglich zu machen oder sie auf Plätze zu verdrängen, die dem Versammlungsanliegen nicht gerecht werden. Angesichts solcher Risiken hat die VC festgestellt: „… it violates the freedom of assembly if the assembly cannot take place solely due to the fact that someone else wants to use the place for another kind of event at the same time, who is not bound by the same timeframe-restriction as the organiser of an assembly. Public place should be available to all and other events like cultural events should not have automatic priority. The con45 46

CDL-AD (2009) 052, § 53 (Ukraine). CDL-AD (2009) 035, § 36 (Bulgaria).

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stitutional protection to conduct cultural or similar events is not superior to the constitutional protection of the freedom of assembly.“47 V. Beschränkungen der Versammlungsfreiheit Beschränkungen der Versammlungsfreiheit thematisieren VC/ODIHR48 anhand des durch Art. 11 Abs. 2 EMRK vorgegebenen Prüfungsrasters.49 Hier sei nur auf einzelne Aspekte eingegangen. 1. Hinreichend bestimmte Eingriffsnormen So betonen VC/ODIHR im Hinblick auf die Notwendigkeit einer gesetzlichen Grundlage (Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK) und das Erfordernis ihrer rechtsstaatlichen Bestimmtheit immer wieder: Mögliche Restriktionen müssten hinreichend präzise im Gesetz geregelt sein, damit Grundrechtsträger selber beurteilen können, ob ihr Verhalten rechtmäßig ist oder nicht.50 Sie müssten sich ferner im Rahmen der durch Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK vorgegebenen Zielsetzungen halten und verhältnismäßig sein. Pauschale Verbote ohne Ausnahmemöglichkeiten seien grundsätzlich nicht hinzunehmen.51 2. Anlässe von Beschränkungen Die in Art 11 Abs. 2 EMRK und in vielen anderen Gesetzen genutzten Begriffe sind weit gefasst und wertausfüllungsbedürftig. Die Konkretisierung entsprechender Generalklauseln – wie „Aufrechterhaltung der Ordnung“, „nationale oder öffentliche Sicherheit“ – gelingt wegen der Vielfalt möglicher Gefahrensituationen nur selten auf der Gesetzesebene. Entscheidend ist daher die Anwendungspraxis. Soll diese rechtsstaatlichen Anforderungen genügen, ist sie auf rechtsstaatlich geschulte und auf das Ziel (auch) des Freiheitsschutzes ausgerichtete Rechtsanwender angewiesen – eine nicht in allen europäischen Staaten zweifelsfrei gegebene Voraussetzung. Da VC/ODIHR in ihren Gutachten allerdings grundsätzlich nicht die Anwendungspraxis in Einzelfällen thematisieren können, haben sie wenig dazu beitragen können, die Begriffe und die Anforderungen an die tatsächlichen Voraussetzungen einer Rechtfertigung von Beschränkungen näher zu konkretisieren. Allerdings haben sie versucht, gewisse Orientierungspunkte zu formulieren. Beispielsweise haben sie

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CDL-AD (2012) 007, § 40 (Russia). Siehe etwa Guidelines (o. Fußn. 8), Section B, §§ 68 ff. 49 Näher dazu Grabenwarter/Pabel (o. Fußn. 11), S. 351 ff. 50 Guidelines (o. Fußn. 8), Section A, 2.3; Section B, § 35 ff.; CDL-AD (2010) 031, § 29 (Serbia). 51 CDL-AD (2008) 025, § 11, e (Serbia); CDL-AD (2010) 049, § 33 (Armenia); CDL-AD (2012) 007, § 34 (Russia). 48

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den Begriff der „public disorder“ mit dem Gebrauch von Gewalt verkoppelt52 oder bei der Berufung auf Gefährdungen der Moral gefordert, dass diese ein gesetzlich – etwa durch die Strafbarkeit – definiertes Maß erreicht haben müssten53. Zum möglichen Konflikt mit rechtlich geschützten Interessen Dritter betonen sie beispielsweise den praktisch wichtigen Grundsatz, dass eine vorübergehende Behinderung des Straßen- oder Fußgängerverkehrs nicht als Grundlage einer Beschränkung der Versammlungsfreiheit ausreiche.54 3. Beschränkungen wegen des Inhalts Prekär ist in allen Rechtsordnungen die Frage, wie weit Versammlungsbeschränkungen mit dem Inhalt des von der Versammlung verfolgten Anliegens begründet werden dürfen. VC/ODIHR betonen die Notwendigkeit der Inhaltsneutralität staatlicher Beschränkungen. Die insbesondere für Deutschland wichtige Frage, wie weit Versammlungen verboten werden dürfen, die nationalsozialistische Gewaltherrschaft billigen, leugnen oder verharmlosen (siehe etwa § 130 Abs. 3 StGB55), ist bisher nicht Gegenstand von Gutachten von VC/ODIHR geworden. Die Möglichkeit von Beschränkungen der Versammlungsfreiheit mit Rücksicht auf die in Versammlungen geäußerten Inhalte wird üblicherweise etwa wie folgt und damit eng umschrieben: „Any restrictions on the message of any content expressed […] must only be imposed if there is an imminent threat of violence. Therefore, speeches and demonstrations which call for territorial changes or constitutional changes do not automatically amount to a threat to the country’s territorial integrity and national security, unless the element of incitement to hatred or violence is included“.56 Verbote werden akzeptiert hinsichtlich „events aimed to make public calls to war, to incite hatred towards racial, ethnic, religious or other groups, or for other manifestly bellicose purposes“.57 4. Beschränkungen von Ort und Zeit VC/ODIHR erkennen das Recht der Veranstalter bzw. der Versammlung zur Entscheidung über den Ort, Zeitpunkt und Zeitraum sowie sonstige Modalitäten der Versammlungsdurchführung ebenso an wie das Recht der Behörden, im Interesse des Rechtsgüterschutzes gegebenenfalls Beschränkungen vorzunehmen. Kritik haben VC/ODIHR an ausnahmslosen Verboten („blanket prohibitions“) von Versammlungen an bestimmten Orten (wie Regierungsgebäuden, Gerichten, Krankenhäusern, Denkmälern, nicht aber bei Verboten für Versammlungen an beson52

Siehe Guidelines (o. Fußn. 8), Section B, § 71. Guidelines (o. Fußn. 8), Section B, § 78. 54 Guidelines (o. Fußn. 8), Section B, § 30. 55 Dazu BVerfGE 124, 300 (320 ff.). 56 CDL-AD (2010) 031, § 45 (Serbia). 57 CDL-AD (2010) 049, § 29 (Armenia).

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ders gefährlichen Anlagen) geäußert58 und nur auf den konkreten Fall bezogene Gefährdungen als Grundlage für Beschränkungen akzeptiert. Gleiches gilt für ausnahmslose zeitliche Beschränkungen, etwa das Verbot nächtlicher Versammlungen zwischen 23 und 7 Uhr.59 Die Versammlungsfreiheit schützt nach Auffassung von VC/ODIHR Versammlungen auf öffentlichem, wie auch auf privatem Grund. Ob und wieweit die Versammlungsfreiheit aber auch ein Recht auf Durchführung von Versammlungen auf privatem Grund gegen den Willen des Eigentümers gewährt, haben sie bisher nicht grundsätzlich behandelt. Die Zulässigkeit von Versammlungen auf dem für die Nutzung durch die Öffentlichkeit bereitgestellten Privatgrund, die im Umfeld der Fraport-Entscheidung des BVerfG60 zunehmend in Deutschland diskutiert wird,61 hat auch den EGMR beschäftigt. Er erkennt ein solches Recht, allerdings nur ausnahmsweise, an.62 5. Gegendemonstrationen Bei Gegendemonstrationen63 bedarf es – da hier die Versammlungsfreiheit unterschiedlicher Träger kollidiert – insbesondere der Abklärung, wieweit sie die Durchführung der Ausgangsversammlung behindern dürfen. Der Grundsatz lautet: „Thus, persons have a right to assemble as counter-demonstrators to express their disagreement with a view expressed by another public assembly. Indeed, in such a case, there is a possibility of disruption of an assembly by a counter-demonstration, and it is the state’s positive obligation to prevent disruption of the event, against which counterdemonstrations are organized. Where possible, the authorities should take measures to ensure all assemblies can take place, rather than use the notification of simultaneous events as a justification of imposing automatic restrictions and prohibitions. Fur58 CDL-AD (2008) 025, § 11, e, § 28 (Serbia); CDL-AD (2012) 007, § 34; CDL-AD (2013) 013, § 41 f (Russia). 59 CDL-AD (2012) 007, § 35 (Russia); durch Novellierung des russischen Versammlungsgesetzes im Jahre 2012 ist der Zeitraum weiter eingeschränkt worden: Er beginnt schon um 22 Uhr. Diese Zeitbegrenzung hat das russische Verfassungsgericht (s. o. Fußn. 40) nicht beanstandet. 60 Siehe BVerfGE 128, 226 (243 ff.). 61 Siehe etwa M. Kniesel/R. Poscher, in: Lisken/Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 4. Aufl. 2007, Kap. J Rdnr. 73; J. Kersten/F. Meinel, Grundrechte in privatisierten öffentlichen Räumen, JZ 2007, 1127 (1133). 62 EGMR, App. no. 44306/98 (Appleby v. United Kingdom), §§ 43 et seq., 47; im armenischen Versammlungsgesetz (Art. 2 Nr. 4) gibt es allerdings sogar eine ausdrückliche Lösung. Es heißt dort (in der englischen Übersetzung): „The place of the assembly is a stateowned, community-owned or private-open air space (street, sidewalk, square, garden, park, etc.) or building, to which everyone has access with the purpose of conducting the assembly.“ Ob damit eine Öffnung des Platzes speziell für Versammlungen erfolgt sein muss, ergibt dieser Wortlaut allerdings nicht. 63 Zu ihnen siehe CDL-AD (2005) 007 (Armenia), § 20; CDL-AD (2009) 052 (Ukraine), § 22; CDL-AD (2012) 007, § 37 (Russia).

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thermore, the state has a positive obligation to provide adequate policing to facilitate counter-demonstrations within sight and sound of one another“.64 Praktisch besonders bedeutsam ist der Grundsatz, dass Gegendemonstrationen ihr Anliegen in Sicht- und Hörweite der Versammlung, gegen die sie sich richten, verfolgen dürfen. Dies ist eine Konkretisierung des allgemein für Versammlungen anerkannten Grundsatzes, dass sie „within, sight and sound’ of its object or target audience“ durchgeführt werden können.65 Nur ausnahmsweise dürfen Gegendemonstrationen auf einen anderen Ort als den der Ausgangsversammlung verwiesen werden, so, „when the risk of violence is ,serious’ and the police authorities cannot handle the situation“.66 Hier sei nur angemerkt, dass sich in Deutschland in den vergangenen Jahren das Problem dadurch verschärft hat, dass sich bei Gegendemonstrationen – insbesondere bei solchen, die auf Versammlungen aus der rechten Szene reagieren – zunehmend, und zwar auf „beiden“ Seiten des politischen Spektrums, ein deutliches Gewaltpotential entwickelt hat. Vielfach ist es zu Eskalationen gekommen, wenn Versammlungen des rechten und des linken radikalen Spektrums örtlich und zeitlich aufeinander trafen. Der von VC/ODIHR betonte Grundsatz, dass Gegendemonstrationen in Hör- und Sichtweite der Ausgangsversammlung stattfinden dürfen, lässt sich in vielen Fällen nicht verwirklichen, so dass Ausnahmen gerechtfertigt sein können. Darüber hinaus gilt der – auch vom EGMR betonte und in § 8 BVersG normierte – Grundsatz, dass Gegendemonstranten nicht das Recht haben, die Durchführung von Versammlungen anderer zu unterbinden67 und dass zur Durchsetzung dieses Grundsatzes Beschränkungen zulässig sind. 6. Weitere Risikofelder Nur stichwortartig seien weitere Problembereiche benannt, in denen immer wieder Defizite in den Gesetzen oder Gesetzesentwürfen ausgemacht worden sind. Beanstandet werden von VC/ODIHR fehlende Pflichten der Behörden, den Eingang einer Anmeldung zu bestätigen und rechtzeitig zu entscheiden. Als defizitär werden häufig die Möglichkeiten zur Erreichung von Rechtsschutz rechtzeitig vor dem Versammlungszeitpunkt angesehen.68 Hier wird angeregt, einstweiligen Rechtsschutz zu gewähren.69 Kritisiert wird häufig, dass die Rechtsmacht zur Beschränkung von Versammlungen oder zu ihrer Auflösung zu unbestimmt geregelt ist; gleiches gilt für

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CDL-AD (2009) 052, § 53. Guidelines (o. Fußn. 8), Section B, §§ 33, 45, 101, 123. 66 CDL-AD (2007) 042, § 22 (Aserbeijan). 67 Vgl. etwa EGMR, (Plattform „Ärzte”, o. Fußn. 16), § 32; Guidelines (o. Fußn. 8), Section B, § 124. 68 Guidelines (o. Fußn. 8), Section B, § 135. 69 Guidelines (o. Fußn. 8), Section B, § 138. 65

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viele Regelungen vom Zwangsmitteleinsatz bis hin zum Waffeneinsatz.70 Beanstandet werden auch überhöhte Pflichten für die Veranstalter,71 etwa die zu große Reichweite der Pflicht zur Abwehr von Störungen innerhalb von Versammlungen. Gleiches gilt für Regeln, die eine Verantwortlichkeit des Veranstalters für das Verhalten von Versammlungsteilnehmern ungeachtet seiner Bemühungen um die Einhaltung der Vorgaben vorsehen.72 Auch wird beanstandet, wenn dem Veranstalter Kosten für die Aufgabenwahrnehmung durch die Ordnungsbehörden auferlegt werden.73 VI. Rechtspolitische Anregungen Die Guidelines enthalten auch rechtspolitische Anregungen für die Durchführung von Versammlungen. Insoweit geht es unter anderem um „good administration and transparent decision-making“74 und um das „policing [of] public assemblies“75. Zu den rechtspolitischen Empfehlungen gehört die Anregung, durch geeignete Ausbildung der Polizeikräfte eine Kultur und ein Ethos der Rechtsdurchsetzung zu erreichen, die den Grundsätzen des Freiheitsschutzes gerecht werden.76 1. Mediation Hier seien aus dem großen Themenfeld beispielhaft nur zwei Fragenbereiche näher angesprochen. Das seit der Brokdorf-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts77 in Deutschland betonte Kooperationsprinzip ist zwar nicht Gegenstand von Aussagen von VC/ODIHR, wohl aber das mit diesem Prinzip verfolgte Anliegen. So wird formuliert, vor der Nutzung repressiver Mittel sei es vorzugswürdig, eine Verständigung, etwa über Modalitäten der Versammlung, im Vorwege zu erreichen. Begrifflich wird hier von „negotiation“ und „mediation“ gesprochen. Angeregt wird etwa eine Konfliktbewältigung durch Mediatoren, die weder der Behörde noch dem Veranstalter nahestehen.78 Mediation wird gegenwärtig für Versammlungen auch in Deutschland diskutiert.79 Versammlungsbehörden gehen dabei aber eher davon aus, dass Polizeibeamte bzw. Behördenvertreter als Mittler wirken; diese sollten dazu über eine Mediationsausbildung verfügen. In Deutschland wird auch über 70

Dazu siehe Guidelines (o. Fußn. 8), Section B, §§ 171 ff. Siehe Guidelines (o. Fußn. 8), Section B, §§ 179 ff., 158 ff.; CDL-AD (2013) 013, §§ 21 ff., 25 ff. (Russia). 72 Dazu siehe Guidelines (o. Fußn. 8), Section B, § 179; CDL-AD (2010) 049 (Armenia). 73 Guidelines (o. Fußn. 8) Section A, 5.2.; CDL-AD (2010) 031, §§ 26 – 27 (Serbia). 74 Guidelines (o. Fußn. 8), Section B, §§ 61 ff. 75 Guidelines (o. Fußn. 8), Section B, §§ 144 ff. 76 Guidelines (o. Fußn. 8), Section B, §§ 147 f. 77 BVerfGE 69, 315 (354, 355 ff.). 78 Guidelines (o. Fußn. 8), Section A, 5.4; Section B, §§ 134, 157. 79 Dies hat etwa die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Schleswig-Holsteinischen Landtag in § 13 ihres Gesetzentwurfs vorgeschlagen, LT-Drucks. 17/1955 vom 02. 11. 2011. 71

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andere Wege des Konfliktmanagements bei Versammlungen diskutiert.80 Hierfür können die Guidelines Anregungen geben. 2. Monitoring Ein anderes in Deutschland allenfalls angedachtes, aber noch nicht ausgebautes Modell besteht im „Monitoring“ von Versammlungen. Versammlungsmonitoring ist offensichtlich eine Fortentwicklung des in vielen, vor allem osteuropäischen, Staaten eingesetzten Konzepts unabhängiger Wahlbeobachtung. Das ODIHR hat für den Bereich des Versammlungswesens eine 83 Seiten dicke Broschüre „Handbook on Monitoring“ vorgelegt.81 Auch die Guidelines sprechen sich für Monitoring aus.82 In Deutschland ist zwar über die Frage der Zulässigkeit von Audio- und Videoaufnahmen durch die Behörden viel diskutiert worden und es bestehen gesetzliche Regelungen dafür.83 Auch gibt es Diskussionen darüber, wieweit Polizeibeamte in Versammlungen fotografiert und gefilmt werden dürfen. Es besteht aber immer noch eine gewisse Asymmetrie der Verfügbarkeit von Beweismitteln und es gibt erhebliche Schwierigkeiten zur Beurteilung der Neutralität von Dokumentationen – etwa des Gewalteinsatzes – und damit ihres Beweiswerts. Hier kann Monitoring eine Abhilfe schaffen. Ziel des für Versammlungen vorgeschlagenen Monitoring soll nach den Vorstellungen von VC/ODIHR nicht nur die Aufarbeitung von Konflikten – etwa vor Gericht oder für Schulungszwecke – sein. Der Zweck von Berichten der Versammlungsbeobachter reicht vielmehr weiter: „The report can thus serve as the basis for a dialogue and engagement on such matters as the effectiveness of the current law and the extent to which the state is respecting its positive obligations to protect freedom of peaceful assembly. Monitoring reports may also be used to engage with the relevant law-enforcement agencies or with the municipal authorities and might highlight areas where further training, resources or equipment may be needed“.84 Die Rolle der Beobachter wird wie folgt definiert: „Monitors are defined as nonparticipant third-party individuals or groups whose primary aim is to observe and record the actions and activities taking place at public assemblies. Independent monitoring may be carried out by local NGOs, human rights defenders, domestic ombudsmen offices or national human rights institutions; or by international human rights

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Siehe dazu etwa die Beiträge zum Thema Deeskalation in DPolBl, Heft 5, 2011. OSCE/ODIHR, Handbook on Monitoring Freedom of Peaceful Assembly, Warsaw 2011. 82 Guidelines (o. Fußn. 8), Section A, 5.9; Section B, §§ 199 ff. 83 Zur Problematik siehe auch etwa BVerfGE 142, 342 (368 ff.). 84 Guidelines (o. Fußn. 8), Section B, § 203. 81

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organisations […] Such individuals and groups should, therefore, be permitted to operate freely in the context of monitoring freedom of assembly“.85 In dem erwähnten Handbuch wird auch näher ausgeführt, wie das Monitoring praktisch vor sich gehen soll. Es bleiben allerdings noch viele Fragen ungeklärt, so die, auf welche Weise die Neutralität der Personen und ihrer konkreten Vorgehensweise sowie des Umgangs mit erstellten Dokumenten rechtlich und faktisch gesichert werden kann. Empfehlen sich eine Akkreditierung oder Zertifizierung der Organisationen oder einzelner Monitore?86 Wieweit haben Monitore besondere Rechte, etwa Anwesenheits- und Fortbewegungsrechte auch dort, wo diese für Versammlungsteilnehmer beschränkt werden? Welche Datenschutzvorschriften gelten? Dies alles soll hier nicht weiter ausgeführt werden. Das Beispiel Monitoring zeigt aber, dass die Beschäftigung mit der Verwirklichung von Freiheitsrechten in anderen Staaten Anregungen auch für den Umgang mit Problemlagen in Deutschland geben kann. VII. Abschließende Bemerkung Die Gutachten von VC/ODIHR verdeutlichen, dass es möglich ist, Standards aus schon vorhandenen nationalen und internationalen Regelungen abzuleiten und relativ einheitliche Maßstäbe zur Beurteilung der Freiheitlichkeit des Versammlungswesens zu entwickeln. Zugleich sind die zugrunde gelegten Anlässe ein Beleg dafür, dass eine Reihe von Mitgliedsstaaten das Versammlungsrecht immer noch als ein Rechtsgebiet versteht, in dem vorrangig dafür gesorgt werden soll, Unruhepotentiale zu bändigen, die sich in Versammlungen dokumentieren können. VC und ODIHR finden sich bei ihrer Arbeit im ständigen Dialog mit den betreffenden Ländern und können, zum Teil auch ohne formelle Beanstandung, auf problematische Regulierungen hinweisen und Anregungen zur Verbesserung geben oder auch die Aufgabe von Plänen für Verschlechterungen bewirken. Derartige Interaktionen haben häufig, aber keineswegs immer, zu Änderungen in dem jeweiligen Gesetz oder Gesetzentwurf geführt.87 Wieweit die Arbeit dieser Organisationen dazu beigetragen hat, das rechtsstaatliche und demokratische „Niveau“ des Freiheitsschutzes im Versammlungsbereich zu heben, ist bisher noch nicht systematisch untersucht worden. Insbesondere für Staaten, die die Mitgliedschaft in der EU anstreben oder die Sanktionen wie ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH vermeiden wollen, gibt es besondere Anreize, den Empfehlungen von VC/ODIHR Rechnung zu tragen. Insofern erfolgt die Arbeit der beiden Organisationen im Schat85

Guidelines (o. Fußn. 8), Section B, § 201. In dem erwähnten Schleswig-Holsteinischen Gesetzentwurf (o. Fußn. 77) wird für entsprechende Verbände eine Akkreditierung durch das Justizministerium des Landes vorgesehen (§ 17). 87 Allgemein zu den (begrenzten) Reaktionen der Mitgliedstaaten auf Gutachten der Venedig-Kommission – und des ODIHR – siehe meine Ausarbeitung: „Soft Law“ und „Soft Instruments“ in der Arbeit der Venedig-Kommission des Europarats, Zur Wirkungsmacht einer beratenden Einrichtung, Festschrift Bryde 2013, S. 595 ff. 86

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ten einer über Dritte (etwa Organe der EU oder des Europarats) vermittelten Drohmacht, die den unverbindlichen Empfehlungen ein besonderes Gewicht verleihen kann. Auch der Wunsch, öffentliche Kritik in den Medien oder durch die politische Opposition abzufedern, kann den Empfehlungen von VC/ODIHR besondere Erfolgschancen vermitteln. Aber auch dort, wo die Arbeit dieser Organisationen nur langsam zu Erfolgen führt, ist es ein positives Zeichen, dass es Instanzen gibt, die Maßstäbe des Freiheitsschutzes für Europa – und gegebenenfalls darüber hinaus – entwickeln und auf konkrete Normen anwenden. Dadurch können sie mit zum Diskurs darüber beitragen, welche Garantien von Freiheit rechtsstaatliche Demokratien benötigen.

„Das Leben ist wie ein Fahrrad“ oder: Die Sicherungsverwahrung im Konflikt zwischen Freiheit und Sicherheit Von Dieter Hömig I. Einleitung „Das Leben ist“, nach J. W. von Goethe, „wie ein Fahrrad: Man muss in Bewegung bleiben, um die Balance zu halten“.1 Um Balance geht es auch beim Bemühen, in Staat und Gesellschaft Freiheit und Sicherheit zueinander in das rechte Verhältnis zu setzen. Der Jubilar, der dem Fahrradfahren allerdings das Wandern auf sicherem Grund vorzieht, widmete sich diesem Thema gerade in jüngerer Zeit in zumindest dreifacher Hinsicht: Als Richter des Bundesverfassungsgerichts und dessen Vizepräsident, zuletzt Präsident, wirkte er – erstens – bis unmittelbar vor dem Ende seiner Amtszeit im Jahr 2010 in einer Reihe grundlegender Entscheidungen dieses Gerichts2 am praktischen Ausgleich zwischen den beiden Verfassungswerten3 mit und gab dabei als „unbeugsame[r] Wächter des Rechtsstaates“4 der Verfassungswirklichkeit auf diesem die Allgemeinheit besonders eindringlich berührenden Gebiet maßgeblich Gestalt und Gesicht. Als Wissenschaftler leuchtete er – zweitens – das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit in zahlreichen Beiträgen auch literarisch umfassend aus.5 Als Hochschullehrer schließlich machte er – drit1

Vgl. etwa www.norbertkoehler.com/Kunst.htm. Im Einzelnen siehe insbesondere BVerfGE 100, 313 (Telekommunikationsüberwachung I); 109, 279 (akustische Wohnraumüberwachung); 110, 33 (Außenwirtschaftsgesetz, Zollkriminalamt); 113, 348 (Telekommunikationsüberwachung II); 115, 118 (Luftsicherheitsgesetz I); 115, 320 (Rasterfahndung); 120, 274 (Online-Durchsuchung); 120, 378 (automatisierte Kennzeichenerfassung); 125, 260 (Vorratsdatenspeicherung). 3 Die Freiheit vor allem verankert in den Freiheitsgrundrechten und im Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes, die Sicherheit als Voraussetzung und unverzichtbare Grundlage verfasster Staatlichkeit (vgl. BVerfGE 49, 24 [56 f.]; 115, 320 [346]; 120, 274 [319]; BVerwGE 49, 202 [209]). 4 R. Lamprecht, Das Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 269. 5 Vgl. vor allem H.-J. Papier, „Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit“: das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: Glanzlichter der Wissenschaft: ein Almanach, 2008, S. 107; dens., Die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit (Interview), DRiZ 2009, 130; dens., Das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: FS Schenke, 2011, S. 263; dens., Das Bundesverfassungsgericht und die innere Sicherheit, in: Schwarz (Hrsg.), 10 Jahre 11. September – Die Rechtsordnung im Zeitalter des Ungewissen, 2012, S. 27. 2

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tens – auch den bei ihm Studierenden die Brisanz dieses Themas nachdrücklich bewusst. So behandelte am 25. und 26. Juli 2011 in dem von ihm in der Akademie für Politische Bildung Tutzing abgehaltenen Grundlagenseminar „Freiheit und Sicherheit“ gleich ein Dutzend Referate die volle Breite der mit diesem Programm zur Diskussion gestellten Problematik.6 Eines dieser Referate trug den Titel „Sicherungsverwahrung zwischen Straßburg und Karlsruhe“7 und hatte damit – im doppelten Sinne8 – eine Thematik zum Gegenstand, die das Gegen- und Miteinander von Freiheit und Sicherheit9 im Lichte der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts (künftig: BVerfG) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) auf geradezu klassische Art und Weise hervortreten lässt und die Öffentlichkeit in Deutschland über Jahre beschäftigte und noch heute beschäftigt und bewegt. II. Die Sicherungsverwahrung in Gesetzgebung und Rechtsprechung Dieser Konflikt spiegelt sich auch in der wechselvollen Geschichte wider, auf die das Rechtsinstitut der Sicherungsverwahrung hier inzwischen zurückblicken kann. 1. Gesetzgebung Durch das Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933 (RGBl. I S. 995) nicht als Strafe, sondern als eine zusätzlich zu dieser in Betracht kommende Maßregel der Besserung und Sicherung erstmals in das deutsche Strafrecht aufgenommen,10 blieb die Sicherungsverwahrung als dessen „zweite Säule“11 auch unter der Geltung des Grundgesetzes bis zum Inkrafttreten des Ersten Strafrechtsreformgesetzes vom 25. Juni 1969 (BGBl. I S. 645) weitgehend unverändert aufrechterhalten. Voraussetzung für die Anordnung der prinzipiell zeitgleich mit der Verhängung der Strafe im 6

Themen waren – neben dem des sogleich im Text zu nennenden Beitrags –: „Staatsaufgabe Sicherheit – Staatsaufgabe Freiheit“, „Verfassungsfragen des Luftsicherheitsgesetzes“, „Verfassungsrechtlicher Rahmen des Einsatzes der Bundeswehr im Inland“, „Rechtlicher Rahmen von Auslandseinsätzen der Bundeswehr“, „Präventive Inhaftierung mutmaßlicher Terroristen“, „Versammlungsfreiheit nach der Föderalismusreform“, „Online-Durchsuchungen und Telefonüberwachungen“, „Vorratsdatenspeicherung und Kfz-Kennzeichen-Erfassung“, „Der große Lauschangriff – eine Bilanz“, „Rechtsschutz gegen Anti-Terror-Listen des UN-Sicherheitsrats und der EU“, sowie „Die Übermittlung von Überweisungsdaten an die USA (SWIFT-Abkommen)“. 7 Referent: C. Whittaker. 8 Vgl. nachstehend unter III. 9 Papier, in: FS Schenke (o. Fußn. 5), S. 263, spricht von Wechselbezüglichkeit. 10 Vgl. dazu und zur weiteren Entwicklung der Gesetzgebung im Einzelnen BVerfGE 128, 326 (335 ff.). 11 Zum zweispurigen Sanktionensystem des Strafgesetzbuchs siehe BVerfGE 109, 133 (135); 130, 373 (374) m. w. N.

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Strafurteil auszusprechenden Maßregel (primäre Sicherungsverwahrung) war nach diesem Gesetz, neben der Begehung mehrerer vor der aktuellen Anlassverurteilung liegender Straftaten von bestimmter Schwere, die Gefährlichkeit des Täters für die Allgemeinheit infolge seines Hangs zu erheblichen weiteren Straftaten. Durch das alsbald folgende Zweite Strafrechtsreformgesetz vom 4. Juli 1969 (BGBl. I S. 717) wurde die Dauer der nach wie vor primären Sicherungsverwahrung bei erstmaliger Anordnung auf höchstens zehn Jahre begrenzt. Diese Frist, nach deren Ablauf der Verwahrte zu entlassen war, ist durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl. I S. 160) mit der Maßgabe aufgehoben worden, dass die Maßregel nach zehnjähriger Unterbringung in der Verwahrung vom Vollstreckungsgericht für erledigt zu erklären ist, wenn nicht nach dessen Überzeugung – ausnahmsweise – die Gefahr der Begehung weiterer erheblicher Straftaten mit schweren seelischen oder körperlichen Schäden für die potentiellen Opfer besteht; dies sollte rückwirkend auch für so genannte Altfälle gelten, in denen die Dauer der Sicherungsverwahrung bis zum Inkrafttreten des neuen Gesetzes bei Anordnung auf höchstens zehn Jahre beschränkt und noch nicht erledigt war (nachträglich verlängerte primäre Sicherungsverwahrung). Ab 2002 wurde das Institut der Sicherungsverwahrung im Bestreben, „in der Kriminalitätsbekämpfung auf Sicherung zu setzen“,12 in zwei Schritten erheblich verschärft. Zuerst ist durch Gesetz vom 21. August 2002 (BGBl. I S. 3344) die vorbehaltene Sicherungsverwahrung eingeführt worden. Sofern im Zeitpunkt der Verurteilung zu bestimmten schweren Straftaten die Gefährlichkeit des Täters für die Allgemeinheit nicht hinreichend sicher festgestellt werden kann, kann die Maßregel im Urteil vorbehalten und über ihre Anordnung unter Einbeziehung der während des Strafvollzugs gewonnenen Erkenntnisse erst am Ende der Strafvollstreckung entschieden werden. Dann ist durch Gesetz vom 23. Juli 2004 (BGBl. I S. 1838) vor allem für im Gesetz näher bestimmte Fälle schwerer Kriminalität die Möglichkeit geschaffen worden, die Sicherungsverwahrung nachträglich anzuordnen, wenn vor Ende des Vollzugs der gegen den Straftäter verhängten Strafe Tatsachen erkennbar werden, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen, und eine hohe Wahrscheinlichkeit erheblicher weiterer Straftaten mit schweren seelischen oder körperlichen Schäden für die betroffenen Opfer anzunehmen ist (nachträgliche Sicherungsverwahrung). Eine grundlegende Neuordnung hat das Recht der Sicherungsverwahrung, in das im Laufe der Jahre hinsichtlich der vorbehaltenen und der nachträglichen Verwah-

12 B. Böhm, Ausgewählte Fragen des Maßregelrechts, in: FS Schöch, 2010, S. 755 (761); siehe auch Th. Ullenbruch, Walter H. in den Rückfängen des ThUG – aktuellster Spaltpilz zwischen EGMR und BVerfG?, StV 2012, 44 (44): „Verhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit … sukzessive zu Lasten der Freiheit verschoben“.

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rung auch Heranwachsende und Jugendliche einbezogen wurden,13 durch Gesetz vom 22. Dezember 2010 (BGBl. I S. 2300) erfahren. Es hat mit Wirkung vom 1. Januar 2011 die Voraussetzungen für die Anordnung der primären Sicherungsverwahrung wesentlich verschärft, dafür den Anwendungsbereich der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung erweitert und die nachträgliche Verwahrung im Grundsatz für die Zukunft beseitigt. Außerdem hat es in Art. 5 für Straftäter, die an einer psychischen Störung leiden und auf Grund einer rechtskräftigen Entscheidung nicht länger in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden können, weil ein Verbot rückwirkender Verschärfungen im Recht der Sicherungsverwahrung zu berücksichtigen ist, mit dem Therapieunterbringungsgesetz (ThUG) die Grundlage für die Unterbringung in einer geeigneten geschlossenen Einrichtung geschaffen. Die Anordnung dieser Maßnahme setzt weiter voraus, dass der psychisch Gestörte mit hoher Wahrscheinlichkeit Leben, körperliche Unversehrtheit, persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung einer anderen Person erheblich beeinträchtigen wird und die Unterbringung deshalb zum Schutz der Allgemeinheit erforderlich ist. 2. Rechtsprechung Die Regelungen in dem zuletzt genannten Gesetz waren eine erste Reaktion auf die Rechtsprechung, die sich mehrfach – auf nationaler wie europäischer Ebene – mit der Sicherungsverwahrung in Deutschland und ihrer gesetzlichen Ausgestaltung zu befassen hatte. a) BVerfGE 109, 133 Die erste – im Verfassungsbeschwerdeverfahren ergangene – Entscheidung, die die verfassungs- und menschenrechtlichen Probleme des Rechtsinstituts der Sicherungsverwahrung umfassend zu würdigen hatte,14 traf das BVerfG mit Urteil vom 5. Februar 2004.15 Dieses bezog sich auf einen Fall, in dem der Beschwerdeführer auf der Grundlage des 1998 geänderten Rechts nach Ablauf der im Zeitpunkt der Anordnung der Maßregel geltenden zehnjährigen Höchstfrist wegen der Gefahr weiterer erheblicher Straftaten mit für die Opfer schweren seelischen oder körperlichen Schäden nicht entlassen worden war. Das BVerfG hielt die dem zugrunde liegende Regelung – ebenso wie die zeitlich unbegrenzte Sicherungsverwahrung (S. 149, 13

Vgl. Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften vom 27. Dezember 2003 (BGBl. I S. 3007) und Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht vom 8. Juli 2008 (BGBl. I S. 1212). 14 Frühere Senatsentscheidungen unterzogen die Sicherungsverwahrung inhaltlich einer nur punktuellen Überprüfung (vgl. BVerfGE 2, 118 [119 ff.]; 42, 1 [6 ff.]; 45, 187 [242]; 98, 169 [200 f., 216]) oder behandelten ausschließlich verfahrensrechtliche Fragen (siehe BVerfGE 17, 139 [143 ff.]; 18, 419 [422 f.]; letztlich auch BVerfGE 42, 229 [232 ff.]). Aus der späteren Kammerrechtsprechung vgl. auch BVerfGK 1, 13 (14 f.); 1, 15 (16 ff.). 15 BVerfGE 109, 133.

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152)16 – für verfassungsrechtlich unbedenklich17 und verneinte sowohl einen Verstoß gegen die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG (S. 149 ff.) als auch eine Verletzung des Rechts auf Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG (S. 156 ff.). Darüber hinaus sah es die Möglichkeit einer Verlängerung der Sicherungsverwahrung in Altfällen über die Frist von zehn Jahren hinaus auch im Einklang mit dem absoluten Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG (S. 167 ff.) und dem rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgebot nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG (S. 180 ff.). Die Entscheidung ist ausschlaggebend auf Sicherheitserwägungen gestützt. Sie finden, soweit es um die Vereinbarkeit der rückwirkenden Verlängerung der Sicherungsverwahrung mit Art. 103 Abs. 2 GG geht, schon darin ihren Niederschlag, dass das BVerfG die Unterbringung in der Verwahrung nicht als dem Schuldausgleich dienende Strafe im Sinne dieser Gewährleistung ansieht, sondern – entsprechend der Einordnung des Gesetzgebers gemäß § 61 Nr. 3 StGB – als Maßregel der Besserung und Sicherung qualifiziert (S. 167 ff.). Auch im Übrigen betont das Gericht den besonderen Charakter der Sicherungsverwahrung, dem durch einen privilegierten Vollzug Rechnung zu tragen sei (S. 166) und der verlange, „dass ein Abstand zwischen dem allgemeinen Strafvollzug und dem Vollzug der Sicherungsverwahrung gewahrt bleibt, der den allein spezialpräventiven Charakter der Maßregel … deutlich macht“ (S. 167).18 Konsequenzen zieht es daraus aber (noch19) nicht. Stattdessen gibt das BVerfG im Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des in der Sicherungsverwahrung Untergebrachten und dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit vor zu erwartenden weiteren erheblichen Rechtsgutverletzungen gefährlicher Straftäter (vgl. S. 159) eindeutig dem Letzteren den Vorzug. So schließt es eine Menschenwürdeverletzung durch Anordnung und Vollzug der Sicherungsverwahrung mit der Begründung aus, dass es der staatlichen Gemeinschaft nicht verwehrt sei, sich gegen fortdauernd gefährliche Straftäter durch Freiheitsentzug zu sichern (S. 151), desgleichen einen Verstoß gegen die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG deshalb, weil der mit der Sicherungsverwahrung verbundene schwerwiegende Eingriff in das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG bei Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durch gewichtige Sicherheitsinteressen gerechtfertigt sei (S. 156). Im Lichte des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgebots schließlich nimmt das BVerfG die Abwägung zwischen dem Vertrauen des Einzelnen auf den Fortbestand der bisherigen Rechtslage und der Bedeutung des Anliegens einer Gesetzesänderung für das Wohl der Allgemeinheit – gleichsam als Schlussstein 16 Die Klammerangaben verweisen auf die einschlägigen Seiten der hier und der nachfolgend referierten Entscheidungen. 17 Im Anschluss daran ergingen später die Kammerentscheidungen BVerfGK 3, 127 (128); 4, 176 (180 f., 184); 5, 67 (68); 9, 108 (111); 14, 254 (261 ff.); 14, 357 (363 ff.); 16, 98 (105 ff.), von denen die Beschlüsse BVerfGK 9, 108 (111); 14, 357 (364); 16, 98 (106), auch die nachträglich angeordnete Sicherungsverwahrung für verfassungskonform erachteten. 18 Vgl. auch BVerfG (K), NStZ-RR 2005, 92 (94). 19 Siehe nachstehend unter II. 2. c).

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der gesamten Entscheidung – dahin gehend vor, dass das öffentliche Interesse am möglichst umfassenden Schutz vor drohenden schwersten Rückfalltaten bereits als gefährlich bekannter, in der Sicherungsverwahrung untergebrachter Gewalt- und Sexualstraftäter Vorrang habe vor dem Freiheitsgrundrecht der Letzteren (vgl. S. 186 f.). b) EGMR, NJW 2010, 2495 Den EGMR überzeugte diese Sichtweise nicht. Er gab der Individualbeschwerde des von dem BVerfG-Urteil vom 5. Februar 2004 Betroffenen unter dem Blickwinkel der Gewährleistungen der – im Rang eines förmlichen Bundesgesetzes unter dem Grundgesetz stehenden20 – Europäischen Menschenrechtskonvention (im Weiteren: EMRK) mit – am 10. Mai 2010 endgültig (rechtskräftig) gewordenem21 – Urteil vom 17. Dezember 200922 statt und verurteilte die Bundesrepublik Deutschland zur Zahlung einer Entschädigung an den Beschwerdeführer nach Art. 41 EMRK, weil seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung über die ursprünglich geltende Höchstfrist von zehn Jahren hinaus gegen Art. 5 und Art. 7 EMRK verstoße. Anders als beim BVerfG überwiegen beim EGMR Erwägungen, die den Aspekt der Freiheit stärker gewichten als das Interesse der Allgemeinheit an größtmöglicher Sicherheit vor rückfallgefährdeten Straftätern. Das wird besonders deutlich bei der Überprüfung der rückwirkend verlängerten Sicherungsverwahrung am Maßstab des Art. 5 EMRK. Dieser garantiert in Absatz 1 Satz 1 das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Wohl deshalb, weil nach seiner bis dahin ergangenen Rechtsprechung aus dieser Regelung ein Recht auf Sicherheit der Person, das Eingriffe in die Freiheit anderer rechtfertigen könnte, nicht ableitbar sein soll,23 nimmt der EGMR auch hier über Absatz 1 Satz 2 nur die Freiheitsgewährleistung in den Blick und hält diese vor allem deshalb für verletzt, weil zwischen der auf einer Schuldfeststellung beruhenden Verurteilung durch das Strafgericht, die die Erstanordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung gerechtfertigt habe,24 und der im Anschluss an diese Verurteilung erst durch eine Änderung des Strafgesetzbuchs ermöglichten Verlängerung der Unterbringung über die Höchstdauer von zehn Jahren hinaus nicht der nach Buchstabe a im Hinblick auf die Formulierung „Freiheitsentziehung nach Verurteilung“ erforderliche hinreichende Kausalzusammenhang gegeben sei (S. 2496 f.).

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BVerfGE 111, 307 (316 f.); 120, 180 (200); 128, 326 (367); st. Rspr. Vgl. BVerfGE 128, 267 (342 f.). 22 NJW 2010, 2495. 23 Siehe dazu – mit Nachweisen – B. Elberling, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, 2012, Art. 5 Rdnr. 5; Chr. Grabenwarter/K. Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl., 2012, § 21 Rdnr. 3. 24 Vgl. auch zur – unbefristeten – primären Sicherungsverwahrung EGMR, EuGRZ 2011, 20 (23 f.); NJW 2012, 1707 (1708). 21

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Auch der vom EGMR weiter festgestellte Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot des Art. 7 EMRK wird vom Gericht in erster Linie aus der Sicht des von der rückwirkend verlängerten Freiheitsentziehung Betroffenen begründet. Dabei wird allein auf den Begriff „Strafe“ in dieser Vorschrift abgestellt. Er sei unabhängig von der Einstufung im Recht der Vertragsstaaten der EMRK zu definieren und hier erfüllt, weil die Sicherungsverwahrung wie eine Freiheitsstrafe eine Freiheitsentziehung zur Folge habe und Sicherungsverwahrte in regulären Strafvollzugsanstalten, wenn auch in separaten Abteilungen, untergebracht seien. Auch sonst gebe es keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem Vollzug einer Freiheitsstrafe und dem der Sicherungsverwahrung. Vor allem fehlten besondere, auf Sicherungsverwahrte gerichtete Maßnahmen, Instrumente oder Einrichtungen mit dem Ziel, die von den in Sicherungsverwahrung Untergebrachten ausgehende Gefahr zu verringern und damit ihre Haft auf die Dauer zu beschränken, die unbedingt erforderlich sei, um sie von weiteren Straftaten abzuhalten (S. 2498 f.). c) BVerfGE 128, 326 Die – spektakuläre25 – Entscheidung des EGMR, der alsbald weitere mit im Wesentlichen gleichem Inhalt folgten,26 löste in der Bundesrepublik zum Teil hysterische Reaktionen aus. Die Presse, vor allem die Boulevardpresse, machte gegen das Urteil mobil.27 Politiker, auch prominente, gaben unmissverständlich zu erkennen, dass die (bis dahin ergangene) Rechtsprechung aus Karlsruhe dem Straßburger Urteil vorzuziehen sei, weil sie dem Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit besser gerecht werde.28 Der Gesetzgeber reagierte mit dem (unter II. 1. a. E. dargestellten) Änderungsgesetz vom 22. Dezember 2010 auf das Urteil des EGMR nur halbherzig.29 Und unter den Straf- und Strafvollstreckungsgerichten30 wurde wie im Schrift-

25 J. Kinzig, Das Recht der Sicherungsverwahrung nach dem Urteil des EGMR in Sachen M. gegen Deutschland, NStZ 2010, 233 (233). 26 Vgl. vor allem EGMR, EuGRZ 2011, 255; Urteil vom 14. April 2011 – Nr. 30060/04 – juris = DÖV 2011, 570 LS, und die Hinweise in der Entscheidung BVerfGE 128, 326 (343, 394 f.). Zur nachträglichen Sicherungsverwahrung ferner EGMR, NJW 2011, 3423; EuGRZ 2012, 383, sowie das Urteil vom 7. Juni 2012 – Nr. 65210/09 – juris; schließlich auch Urteil vom 7. Juni 2012 – Nr. 61827/09 – juris. 27 Siehe z. B. E. Koch, Wer schützt uns vor diesen Richtern?, Bild-Zeitung vom 18. Dezember 2009; Weiteres bei K. Drenkhahn/Chr. Morgenstern, Dabei soll es uns auf den Namen nicht ankommen – Der Streit um die Sicherungsverwahrung, ZStW 2012, 132 (171 Fußn. 151). 28 Vgl. etwa den Bericht „Auch Heiratsschwindler betroffen“ im Schwäbischen Tagblatt vom 15. November 2010 über eine Podiumsdiskussion am 12. November 2010 auf dem Haus der Akademischen Gesellschaft Stuttgardia in Tübingen. 29 Ebenso die Einschätzung von H. Schöch, Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sicherungsverwahrung, GA 2012, 14 (14). 30 Vgl. die Nachweise in dem Urteil BVerfGE 128, 267 (343 f., 351) .

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tum31 lebhaft darüber gestritten, ob Sicherungsverwahrte, deren Unterbringung in der Verwahrung wie die des in Straßburg erfolgreichen Beschwerdeführers nachträglich über die Höchstfrist von zehn Jahren hinaus verlängert worden war, sofort zu entlassen waren oder weiter untergebracht bleiben konnten. Das BVerfG hat diesem Streit mit dem Pauken-,32 ja Befreiungsschlag33 seines Urteils vom 4. Mai 201134 ein zumindest vorläufiges Ende bereitet,35 indem es den Großteil der Vorschriften über Anordnung und Fortdauer der Sicherungsverwahrung – teilweise in entsprechender Anwendung des § 78 Satz 2 BVerfGG (S. 404) – wegen Verstoßes gegen das im Lichte der EMRK völkerrechtsfreundlich ausgelegte (S. 366 ff.) Grundrecht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG),36 die Regelungen über die Möglichkeit rückwirkender Verlängerung der Sicherungsverwahrung und Vorschriften über die rückwirkende Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung für Erwachsene37 und Jugendliche überdies wegen Verletzung des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgebots (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG) für verfassungswidrig erklärt hat (S. 329 – 332). Diese Entscheidung ist, soweit sie die Unvereinbarkeit mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG betrifft, expressis verbis das Ergebnis der im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommenen Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des in der Sicherungsverwahrung Untergebrachten und dem Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit und macht das Verdikt der Verfassungswidrigkeit vor allem daran fest, dass das schon in der Entscheidung vom 5. Februar 2004 postulierte Abstands- und Trennungsgebot38 nicht gewahrt sei. Dieses verlange im Rahmen eines Gesamtkonzepts einen bisher nicht gewährleisteten freiheitsorientierten und therapiegerichteten Vollzug der Sicherungsverwahrung in deutlichem Abstand 31 Siehe z. B. Grabenwarter, Wirkungen eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – am Beispiel des Falls M. gegen Deutschland, JZ 2010, 857 (868 f.); Kinzig (o. Fußn. 25), 238. 32 T. Hörnle, Der Streit um die Sicherungsverwahrung – Anmerkung zum Urteil des 2. Senats des BVerfG vom 4. 5. 2011, NStZ 2011, 488 (488). 33 M. Zscherpe, Sicherungsverwahrung in der Übergangszeit, Betrifft JUSTIZ 2011, 196 (198); Schöch (o. Fußn. 29), 14; vgl. auch U. Volkmann, Fremdbestimmung – Selbstbehauptung – Befreiung, JZ 2011, 835 (839). 34 BVerfGE 128, 326. 35 Vgl. auch B. Zabel, Bürgerrechte ernstgenommen, JR 2011, 467 (468). 36 Insoweit für die vorbehaltene Sicherungsverwahrung durch BVerfG, EuGRZ 2012, 458 (463 f., 464 ff.), mit der weiteren Feststellung bestätigt, dass diese Maßregel nicht noch aus anderen Gründen gegen das Grundgesetz verstoße, insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahre und in diesem Kontext auch den von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK geforderten hinreichenden Kausalzusammenhang mit der Verurteilung im Sinne dieser Vorschrift aufweise. 37 Bekräftigt und ergänzt durch BVerfGE 129, 37 (45 ff.); geltungserweiternd auch BGHSt 56, 254 (260). 38 Vgl. oben II. 2. a).

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zum Strafvollzug in besonderen, von diesem getrennten Gebäuden oder Abteilungen und sei so auszugestalten, dass die Perspektive der Wiedererlangung der Freiheit sichtbar die Praxis der Unterbringung bestimme (S. 372 ff.). Aufgabe des Bundesgesetzgebers und der Landesgesetzgeber war es danach, bis spätestens zum 31. Mai 2013 (S. 332, 404) gemeinsam ein solches Konzept zu entwickeln, falls am Institut der Sicherungsverwahrung als letztem Mittel zum Schutz der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit (S. 379) festgehalten wird (S. 387 f.). Auch für den vom BVerfG weiter angenommenen Verstoß gegen das rechtsstaatliche Vertrauensschutzprinzip haben die Anforderungen an das Abstandsgebot im Rahmen des – strikt zu beachtenden und im Lichte der EMRK zu würdigenden (S. 389) – Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes39 ausschlaggebende Bedeutung. Denn nach Auffassung des Gerichts kann eine rückwirkend angeordnete oder verlängerte Freiheitsentziehung durch Sicherungsverwahrung ausnahmsweise nur dann als verhältnismäßig angesehen werden, wenn der gebotene Abstand zur Strafe gewahrt wird, eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder aus dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist40 und die Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK erfüllt sind (S. 389, 399). Dem würden die überprüften Vorschriften nicht gerecht (S. 399 ff.). Um eine nachhaltige Beeinträchtigung des zweispurigen Maßregel- und Strafrechtssystems zu vermeiden, (und damit auch im Interesse der öffentlichen Sicherheit) hat das BVerfG auf eine Nichtigerklärung der verfassungswidrigen Normen verzichtet, es stattdessen bei der Verfassungswidrigerklärung belassen und die Fortgeltung dieser Normen bis zu einer Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung, längstens bis zum 31. Mai 2013, angeordnet (S. 332, 404 f.). Dabei wird hinsichtlich der bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Übergangsmaßgaben unterschieden: Sie tragen, soweit es um die Weitergeltung der allein wegen Verstoßes gegen das Abstandsgebot verfassungswidrigen Vorschriften geht, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der Weise Rechnung, dass Sicherungsverwahrung nur noch angeordnet werden oder fortdauern durfte, wenn von dem Betroffenen die Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten ausging (S. 406). Auf der Grundlage der mit dem rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgebot kollidierenden Strafrechtsnormen waren eine Fortdauer der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus und eine nachträgliche Anordnung der Maßregel dagegen vorübergehend nur noch dann erlaubt, wenn personen- oder verhaltensbedingt schwerste Gewalt- oder Sexualstraftaten hochgradig drohten und der straffällig Gewordene außerdem an einer psychischen Störung im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 ThUG litt, der vom BVerfG als Konkretisierung des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK verstanden wird (S. 332, 406 f.).

39 Zur Verschärfung des Prüfungsmaßstabs insoweit gegenüber der Entscheidung BVerfGE 109, 133, siehe Hörnle (o. Fußn. 32), 490. 40 Vorbildgebend insoweit BGHSt 56, 73 (87).

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III. Kooperativer Wettlauf von BVerfG und EGMR um die richtige Balance von Freiheit und Sicherheit Die Abfolge dieser Entscheidungen macht ein Zweifaches deutlich: 1. Gemeinsames Ringen um angemessenen Ausgleich BVerfG und EGMR spielen sich im gemeinsamen Ringen um die richtige Balance von Freiheit und Sicherheit auf dem besonders sensiblen Gebiet der Sicherungsverwahrung wechselseitig die Bälle zu. Ist die Entscheidung des BVerfG von 2004 noch verstärkt an der Befriedigung der Sicherheitsbedürfnisse der Allgemeinheit ausgerichtet41 mit der Folge, dass die Freiheit des in der Sicherungsverwahrung Untergebrachten und die Möglichkeit ihrer Wiedererlangung im Konflikt mit der Sicherheit eher zurücktreten müssen, geht das Urteil des EGMR vom 17. Dezember 2009 tendenziell in die entgegengesetzte Richtung. Es dominiert der Gedanke der Freiheit über das Bedürfnis nach Sicherheit.42 Obwohl Art. 5 Abs. 1 Satz 1 EMRK, wie erwähnt,43 nach seinem Wortlaut jeder Person ausdrücklich auch die Sicherheit als Recht garantiert, kommt diese in der Entscheidung des EGMR als eigenständige, abwägungsfähige Größe selbst ansatzweise nicht vor. Das liegt gewiss an dem vom EGMR in Bezug auf die Sicherheit schon bisher sehr eingeschränkt interpretierten Schutzbereich der Vorschrift,44 aber auch an der Struktur des Art. 5 EMRK, der der Sicherheit im Rahmen dieser Norm nur in den – nach Auffassung des EGMR abschließend aufgeführten45 – Fällen dienlich ist, in denen die Freiheit nach Absatz 1 Satz 2 (insbesondere Buchstaben a–c, e und f) entzogen werden darf. Eine extensive, stärker sicherheitsorientierte Auslegung der Regelung ist vor diesem Hintergrund für den Gerichtshof wohl ausgeschlossen. Auch für die Annahme einer menschenrechtlich fundierten Schutzpflicht des Staates gegenüber den potentiellen Opfern weiterer Straftaten von in der Sicherungsverwahrung untergebrachten Straftätern ist danach offensichtlich kein Raum;46 jedenfalls ist dazu in den Gründen des EGMR-Urteils nichts zu finden.47 Das Gleiche gilt für die Interpretation des Art. 7 EMRK, die 41 Siehe dazu auch A. Windoffer, Die Maßregel der Sicherungsverwahrung im Spannungsfeld von Europäischer Menschenrechtskonvention und Grundgesetz, DÖV 2011, 590 (593). 42 Vgl. auch M. Payandeh/H. Sauer, Menschenrechtskonforme Auslegung als Verfassungsmehrwert: Konvergenzen von Grundgesetz und EMRK im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sicherungsverwahrung, JURA 2012, 289 (291). 43 Siehe oben II. 2. b) bei Fußn. 23. 44 Auch dazu vorstehend unter II. 2. b) bei Fußn. 23. 45 NJW 2010, 2495 (2495) m. w. N. 46 Vgl. auch – freilich insgesamt zu EGMR-kritisch – Windoffer (o. Fußn. 41), 593 f. 47 Vgl. auch Zabel (o. Fußn. 35), 469; Schöch (o. Fußn. 29), 20; ausdrücklich gegen die Annahme einer die Freiheitsentziehung rechtfertigenden Schutzpflicht dagegen EGMR, EuGRZ 2012, 383 (391); siehe auch K. Höffler/J. Kaspar, Warum das Abstandsgebot die Probleme der Sicherungsverwahrung nicht lösen kann, ZStW 2012, 87 (97); allgemein zur

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der EGMR nur aus der Sicht des von Freiheitsentziehung Bedrohten und im Blick auf die tatsächliche Situation von Sicherungsverwahrten im Vollzug der Maßregel vornimmt. Nicht nur die Sicherheit der Gemeinschaft abstrakt, sondern auch die womöglich konkret bedrohte Freiheit einzelner Opfer wird deshalb – ebenso wie weitere insbesondere nach Art. 2 EMRK unter Menschenrechtsschutz stehende Rechtsgüter – nicht auf die Freiheit und Sicherheit balancierende Waagschale gelegt. Im Ergebnis anders das BVerfG in dem Urteil vom 4. Mai 2011. Zwar finden sich auch in ihm – anders als noch in der Entscheidung von 200448 – keine Ausführungen zum Schutzpflicht-Gedanken als subjektiver Berechtigung.49 In der Sache werden der Sicherheitsaspekt und der Schutzanspruch der Allgemeinheit und damit das Schutzbedürfnis potentiell übergriffsgefährdeter Opfer von Wiederholungstätern vom BVerfG aber im Konflikt mit der Freiheit des Straftäters deutlich stärker gewichtet, als dies in der Rechtsprechung des EGMR geschehen ist.50 Das BVerfG stellt schon im Ausgangspunkt seiner Entscheidung Freiheit und Sicherheit als prinzipiell gleichgewichtige Schutzgüter zur Abwägung und weist dabei der Sicherheit eine freiheitsbegrenzende Funktion zu: „Dem Freiheitsanspruch des Untergebrachten ist das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit entgegenzuhalten; beide sind im Einzelfall abzuwägen.“51 Allerdings sind Anordnung und Vollzug der Sicherungsverwahrung im Verständnis des Gerichts als ultima ratio „nur dann legitim, wenn das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit das Freiheitsrecht des Betroffenen im Einzelfall überwiegt“.52 Der von Sicherungsverwahrung Bedrohte darf also nicht vorschnell und möglicherweise auf Dauer einfach weggesperrt werden. Die Freiheit verdient vielmehr im Zweifel den Vorzug; sie hat „im Einzelfall“ nur dann zurückzutreten, wenn sich im Rahmen prognostischer Einschätzung mit hinreichender Gewissheit annehmen lässt, dass dem Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit das stärkere Gewicht zukommt, weil es nach der gebotenen Abwägung im Rahmen strikter Verhältnismäßigkeitsprüfung das Freiheitsrecht überwiegt.53 Und – ganz wichtig – das gilt nicht nur für die Anordnung der Maßregel, sondern auch für deren Vollzug. Die Abwägungspflicht für Gerichte und Strafvollstreckungsbehörden besteht für die gesamte Vollzugsdauer und führt, je länger diese anhält, entsprechend Sinn und Zweck der freiheitsorientierten und therapiegerichteten Sicherungsunterbringung verstärkt, Schutzpflichtproblematik nach der EMRK Grabenwarter/Pabel (o. Fußn. 23), § 19 Rdnr. 3 ff.; I. Schübel-Pfister, in: Karpenstein/Mayer (o. Fußn. 23), Art. 2 Rdnr. 30 ff. 48 Siehe BVerfGE 109, 133 (186). 49 Vgl. auch K. F. Gärditz, Sicherungsverwahrung: Tastende Orientierung zwischen Polizeirecht und Strafrecht, Straßburg und Karlsruhe, in: Menzel/Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl., 2011, S. 901 (907 f.); Schöch (o. Fußn. 29), 20. 50 Siehe auch F. Streng, Die Zukunft der Sicherungsverwahrung nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, JZ 2011, 827 (828); Zabel (o. Fußn. 35), 469. 51 BVerfGE 128, 326 (373). 52 BVerfGE 128, 326 (376 f.). 53 Dazu näher (und im Hinblick auf die Probleme verlässlicher Gefährlichkeitsprognosen auch kritisch) Streng (o. Fußn. 50), 828 ff.

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wenn auch abhängig vom Ergebnis der verfassungsrechtlich geforderten Betreuung und therapeutischen Behandlung, zu einem Anwachsen des Gewichts des Freiheitsrechts des in der Sicherungsverwahrung Untergebrachten. Ergibt die Abwägung im Einzelfall bei der mindestens jährlich durchzuführenden und mit zunehmender Unterbringungsdauer zu intensivierenden Überprüfung des Fortbestands der Verwahrung, dass die Schutzinteressen der Allgemeinheit dieses Recht nicht länger überwiegen, weil diesen Interessen auf andere Weise als durch Freiheitsentziehung ausreichend Rechnung getragen werden kann, muss der Maßregelvollzug deshalb „umgehend beendet werden“.54 Dass bei der Abwägung von Freiheit und Sicherheit im Problemfeld der Sicherungsverwahrung neben der Rückfallwahrscheinlichkeit Schwere und Gewicht der Straftaten zu berücksichtigen sind, vor deren Begehung die Allgemeinheit durch die Maßregel geschützt werden darf, versteht sich angesichts des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als Dreh- und Angelpunkt der Abwägung von selbst. In dem dem Abstandsgebot gewidmeten Hauptteil des Urteils vom 4. Mai 2011 geht das BVerfG darauf allerdings nur eher beiläufig und noch wenig konkret ein, wenn es davon spricht, dass präventive Eingriffe in das Freiheitsgrundrecht, die wie die Sicherungsverwahrung nicht dem Schuldausgleich dienen, nur zulässig seien, wenn der Schutz hochwertiger Rechtsgüter dies unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfordere.55 Erst bei der Würdigung der rückwirkend virulent gewordenen Vorschriften zur Sicherungsverwahrung und bei der Darstellung des Übergangsrechts bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber wird das Gericht konkreter. Dabei ließ es die Weiteranwendung der wegen Verstoßes gegen das Abstandsgebot verfassungswidrigen Strafrechtsnormen grundsätzlich nur für den Fall zu, dass die Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten zu besorgen war,56 während es bei der Vertrauensschutzprüfung und für die Fortgeltung der rückwirkend angewandten Regelungen auf das Vorliegen einer hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten abstellte.57 Gerade hier wird auf eindrucksvolle Weise deutlich, dass das BVerfG die Sicherheit der Allgemeinheit und der in Deutschland lebenden Menschen zwar gewahrt wissen will, gleichzeitig aber die Freiheit des schwer straffällig Gewordenen für so schützenswert hält, dass ihr im Grundsatz der Vorzug gebührt, weil sie „nur“ „zum Schutz höchstwertiger Rechtsgüter“58, nämlich „höchster Verfassungsgüter“,59 entzogen werden darf.

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BVerfGE 128, 326 (377). BVerfGE 128, 326 (372 f.). 56 BVerfGE 128, 326 (332 i. V. m. 406). 57 BVerfGE 128, 326 (389, 399; 332 i. V. m. 406 f.). 58 BVerfGE 128, 326 (389). 59 BVerfGE 128, 326 (389). 55

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2. Funktionierende Kooperation im Gerichtsverbund BVerfG/EGMR Ohne die mit dem Urteil vom 17. Dezember 2009 eingeleitete Rechtsprechung des EGMR zu Grund und Grenzen der Sicherungsverwahrung in Deutschland, die die strukturellen Mängel dieser Maßregel aufgedeckt60 und damit die BVerfG-Entscheidung von 2004 in zentralen Punkten in Frage gestellt hat,61 wäre das Urteil des BVerfG vom 4. Mai 2011 nicht denkbar. Das zeigt anschaulich, wie effizient und wechselseitig bereichernd das Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und EGMR62 im europäischen Verfassungsgerichtsverbund63 inzwischen funktioniert.64 Beide Gerichte haben mit ihren Urteilen zur Sicherungsverwahrung nach den Judikaten zur baden-württembergischen Feuerwehrabgabe,65 zum Aufeinandertreffen von Medienfreiheit und Persönlichkeitsschutz66 und zum gemeinsamen Sorgerecht der Eltern nichtehelicher Kinder67 ein weiteres Mal nach ursprünglich unterschiedlicher Fallbeurteilung im Ergebnis zueinander gefunden, indem sie, in Anwendung unterschiedlicher, aber inhaltlich vielfach übereinstimmender Prüfungsmaßstäbe judizierend, die nach ihrer Auffassung danach maßgeblichen Argumente aufgegriffen, gewogen, sich, wo möglich, wechselseitig zu eigen gemacht68 und auf diese Weise den Konsens gesucht und am Ende weithin auch erreicht haben.69 Dabei hat das BVerfG, das wegen des Gebots der innerstaatlichen Rechtswegerschöpfung nach Art. 35 Abs. 1 EMRK in Fällen, die gemäß Art. 34 EMRK zur Individualbeschwerde zum EGMR führen können, argumentativ zwangsläufig in Vorlage treten und damit den ersten Stein ins Wasser des gemeinsamen Verfassungsgerichtsverbunds werfen muss, im letzten der angeführten drei Judikate zur Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ein Musterbeispiel dafür geliefert, was es heißt, die menschenrechtlichen Gewährleistungen der EMRK und die Judikatur des EGMR im Sinne der ständigen Rechtsprechung des BVerfG70 auf der Ebene des innerstaatlichen Verfassungsrechts soweit wie möglich als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und 60

Payandeh/Sauer (o. Fußn. 42), 289. Siehe dazu auch Payandeh/Sauer (o. Fußn. 42), 296. 62 Dazu D. Hömig, Das Kooperationsverhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, NdsVBl. 2011, 126. 63 A. Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, 1. 64 Ähnlich Payandeh/Sauer (o. Fußn. 42), 298; siehe auch Voßkuhle im Interview „Der Weg nach Karlsruhe ist für viele die letzte Hoffnung“, DRiZ 2011, 378 (379). 65 Vgl. BVerfGE 13, 167; EGMR, EuGRZ 1995, 392; BVerfGE 92, 91. 66 Vgl. dazu vor allem die Caroline von Hannover-Entscheidungen BVerfGE 101, 361; EGMR, NJW 2004, 2647; BVerfGE 120, 180; EGMR, NJW 2012, 1053. 67 Vgl. BVerfGE 107, 150; EGMR, EuGRZ 2010, 42; BVerfGE 127, 132. 68 Von „wechselseitigen Rezeptionsprozessen“ sprechen Payandeh/Sauer (o. Fußn. 42), 296. 69 Vgl. J. Feest, Grundsatzurteil zur Sicherungsverwahrung: Karlsruhe sucht Konsens mit Straßburg, Legal Tribune ONLINE, 04. 05. 2011. 70 Vgl. dazu die Nachweise in der Entscheidung BVerfGE 128, 326 (368). 61

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Reichweite der Grundrechte und der rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes heranzuziehen und ihnen damit zu quasi innerstaatlicher Verfassungsqualität zu verhelfen.71 Im Lichte des verfassungsrechtlichen Gebots zur völkerrechtsfreundlichen und damit auch konventionsfreundlichen Auslegung des Grundgesetzes und seiner Grundrechte werden in dem Urteil vom 4. Mai 2011 in einem ersten, gewissermaßen allgemeinen Teil Rang, verfassungsrechtliche Bedeutung sowie Durchdringungsund Orientierungswirkung der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR geradezu lehrbuchhaft entfaltet72 und dabei die Aussagen des Görgülü-Beschlusses vom 14. Oktober 200473 teils bekräftigt, teils aber auch, wie bei der Darstellung des methodischen Vorgehens beim „Umdenken“ der Gewährleistungsgehalte der EMRK,74 konkretisiert und verfeinert. In beispielloser Breite75 werden sodann die Begrifflichkeiten und Wertungen der Art. 776 und 5 EMRK77 für die Überprüfung der Sicherungsverwahrung an den innerstaatlichen Verfassungsmaßstäben nutzbar gemacht. Das geschieht durchgehend so, dass die Ebenen des innerstaatlichen Verfassungsrechts und des völkerrechtsvertraglichen Menschenrechtsschutzes inhaltlich soweit wie möglich in Einklang gebracht und die von beiden Normenkomplexen geforderten Voraussetzungen für eine sowohl verfassungs- als auch konventionskonforme Sicherungsverwahrung aufgezeigt werden. Der EGMR hat die auf diese Weise vollzogene „Änderung der Rechtsprechung des BVerfG über die Sicherungsverwahrung in dessen Leiturteil vom 4. Mai 2011“ positiv aufgenommen, ausdrücklich den vorstehend wiedergegebenen verfassungsgerichtlichen Ansatz begrüßt, „die Bestimmungen des Grundgesetzes auch im Lichte der Konvention und der Rechtsprechung [des] Gerichtshofs auszulegen“, und hervorgehoben, dass dieses Vorgehen „den fortwährenden Einsatz des BVerfG für den Grundrechtsschutz nicht nur auf nationaler, sondern auch auf europäischer Ebene unterstreicht“. Darüber hinaus wird vom Gerichtshof die Erwartung geäußert, dass bei künftigen Überprüfungen die Sicherungsverwahrung in Deutschland „nur nach einer strikten Prüfung der Verhältnismäßigkeit verlängert wird, wie sie das BVerfG in seinem Urteil verlangt“.78 Allgemein sei davon auszugehen, dass das BVerfG durch das Urteil vom 4. Mai 2011 die Feststellungen des EGMR in dessen Urteilen zur deutschen Sicherungsverwahrung „in der innerstaatlichen Rechtsordnung umgesetzt hat“. Sowohl den innerstaatlichen Strafgerichten als auch dem Gesetzgeber habe das BVerfG so „klare Leitlinien dazu an die Hand gegeben, welche 71

Zu Letzterem siehe Hömig (o. Fußn. 62), 129 m. w. N. in Fußn. 74. BVerfGE 128, 326 (367 ff.). 73 BVerfGE 111, 307. 74 BVerfGE 128, 326 (370). 75 In der Sache ebenso Volkmann (o. Fußn. 33), 837. 76 BVerfGE 128, 326 (374 ff., 391 ff.). 77 BVerfGE 128, 326 (393 ff.). 78 Vgl. EGMR, NJW 2012, 1707 (1708); ähnlich EGMR, NJW 2012, 2093 (2095 f.). 72

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Konsequenzen in der Zukunft daraus zu ziehen sind, dass zahlreiche Bestimmungen des Strafgesetzbuchs zur Sicherungsverwahrung für mit dem Grundgesetz, wie es unter anderem im Lichte der Konvention ausgelegt wird, unvereinbar gehalten wurden“.79 BVerfG und EGMR sprechen also miteinander. Das fördert die Kooperation, lässt erkennen, dass beide Gerichte bei der Bewertung der Sicherungsverwahrung aufeinander zugehen wollen,80 und nährt die Hoffnung, dass dies in der Zukunft auch auf anderen Gebieten des gemeinsamen Gerichtsverbunds zu noch größerer Annäherung führt. IV. Schluss: Folgenbeseitigung und Ausblick Scheint auch vor diesem Hintergrund mit dem BVerfG-Urteil vom 4. Mai 2011 – ungeachtet kritischer Stellungnahmen zu Einzelfragen81 – in einem „klugen Kompromiss“82 der grund- und menschenrechtliche Boden für eine in Deutschland weiterhin mögliche, Freiheit und Sicherheit gleichermaßen verpflichtete Sicherungsverwahrung bereitet, ging es in der Übergangsphase bis zum 31. Mai 2013 und geht es in der Zeit danach darum, die Folgen aus der in der Vergangenheit defizitären Rechtslage zu bereinigen. Das gilt für den Bereich der Judikative ebenso wie für den der Legislative. 1. Folgenbeseitigung durch die Gerichte Die Gerichte hatten nach Maßgabe der Übergangsregelungen, die das BVerfG in seiner Entscheidung getroffen hat,83 darüber zu befinden, in welchen Fällen Sicherungsverwahrung (nur noch) angeordnet werden durfte und ob bereits Untergebrach79 EGMR, Urteil vom 24. November 2011 – Nr. 48038/06 – juris = DÖV 2012, 201 LS; ähnlich die Urteile vom 24. November 2011 – Nr. 4646/08 – juris und vom 19. Januar 2012 – Nr. 28527/08 und Nr. 21906/09 – jeweils juris. 80 Differenzen scheinen, worauf die in Fußn. 26 aufgeführten, nach dem BVerfG-Urteil vom 4. Mai 2011 ergangenen Entscheidungen des EGMR zur nachträglichen Sicherungsverwahrung hindeuten dürften, noch bei der Beurteilung dieses – nicht unwichtigen – Teilaspekts zu bestehen. 81 Siehe vor allem zu dem – im Kammerbeschluss EuGRZ 2011, 645 (649 f.), aus der Sicht des BVerfG weiter erläuterten – Begriff der psychischen Störung gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG im Verhältnis zu Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK Hörnle (o. Fußn. 32), 491; G. Merkel, Zum Begriff der psychischen Störung nach dem Therapieunterbringungsgesetz, Betrifft JUSTIZ 2011, 202 (204 ff.); Streng (o. Fußn. 50), 832; Volkmann (o. Fußn. 33), 838 f.; R. P. Anders, Kritik der nachträglichen Therapieunterbringung, JZ 2012, 498 (503 f.); K. Höffler/C. Stadtland, Mad oder bad? Der Begriff „psychische Störung“ des ThUG im Lichte der Rechtsprechung des BVerfG und des EGMR, StV 2012, 239 (244); Ch. Krehl, Beschlussanmerkung, StV 2012, 27 (29 ff.); Ullenbruch (o. Fußn. 12), 47; vgl. auch Elberling (o. Fußn. 23), Art. 5 Rdnr. 70 f.; Schöch (o. Fußn. 29), 23 ff.; aus der Judikatur etwa OLG Karlsruhe, StV 2012, 228 (229 f.); OLG Hamm, StV 2012, 231 (232). 82 Schöch (o. Fußn. 29), 20; ders., Anmerkung zu BGHSt 56, 254, in: JR 2012, 173 (173); kritischer Volkmann (o. Fußn. 33), 841 f.; Windoffer (o. Fußn. 41), 598. 83 Oben II. 2. c) letzter Absatz.

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te weiterhin in Verwahrung bleiben konnten.84 Klärungsbedürftig war und ist ferner, ob Straftäter, die in der Vergangenheit rechtswidrig in Sicherungsverwahrung genommen worden waren, dafür nach ihrer Entlassung Entschädigung verlangen können. a) Sicherungsverwahrung in der Übergangszeit Auf der Grundlage der Vorschriften, die allein wegen Verstoßes gegen das Abstandsgebot für verfassungswidrig erklärt worden sind, waren Anordnung der Maßregel und ihr weiterer Vollzug in der Übergangszeit bis 31. Mai 2013 in der Regel nur noch dann zulässig, wenn die gebotene – strikte – Verhältnismäßigkeitsprüfung ergab, dass konkrete Umstände in der Person oder im Verhalten des Betroffenen die Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten befürchten ließen.85 Fehlte es daran, war auf die (fortdauernde) Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ersatzlos zu verzichten,86 sofern nicht eine weniger eingriffsintensive Maßnahme wie die Aussetzung der Maßregel zur Bewährung87 oder die Anordnung von Führungsaufsicht88 getroffen werden konnte. Anders verhielt es sich bei der Unterbringung nach den Vorschriften, die auch wegen Verletzung des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzprinzips verfassungswidrig sind. Hier hingen Anordnung und Fortbestand der Sicherungsverwahrung, sofern die Unterbringung nicht schon in der Folge des EGMR-Urteils vom 17. Dezember 2009 beendet worden war, davon ab, dass vom Straftäter, konkret personen- oder verhaltensindiziert, eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten ausging und er an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG litt.89 War eine dieser Voraussetzungen nicht (oder nicht mehr) gegeben, kam die Maßregel der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nicht (mehr) in Betracht; bereits in

84 Zum grundrechtlichen Anspruch des Sicherungsverwahrten auf einen dem Abstandsund Trennungsgebot entsprechenden Vollzug der Verwahrung schon in der Übergangszeit siehe BVerfG (K), NStZ-RR 2013, 26 (27). 85 BVerfGE 128, 326 (332 i.V.m. 406); 129, 37 (46); BVerfG, EuGRZ 2012, 458 (464); BVerfG (K), Beschluss vom 18. April 2012 – 2 BvR 741/10 – juris; weiter etwa BGH, Beschlüsse vom 17. Mai 2011 – 1 StR 190/11 – juris und vom 25. Mai 2011 – 4 StR 164/11 – juris; NStZ 2011, 574 (575); Urteil vom 3. August 2011 – 2 StR 190/11 – juris. 86 Vgl. z. B. BGH, StV 2012, 212 (212 f.); StV 2012, 213 (214); NStZ-RR 2012, 141 (142); NStZ-RR 2012, 205 (206); siehe auch BGH, Urteil vom 7. Juli 2011 – 5 StR 192/11 – juris. Zur Aufhebung der Maßregel im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahrens LG Fulda, StV 2012, 401. 87 Vgl. BVerfG (K), EuGRZ 2011, 665 (666); OLG Frankfurt a. M., NStZ-RR 2012, 171 (172); LG Rostock, StV 2012, 226 (228); zum verfassungswidrigen Widerruf einer solchen Aussetzung siehe BVerfG (K), Beschluss vom 20. Dezember 2012 – 2 BvR 659/12 – juris. 88 Vgl. BVerfGE 128, 326 (408); 129, 37 (46); siehe auch OLG Frankfurt a. M., NStZ 2012, 154 (155). 89 BVerfGE 128, 326 (332): Tenormaßgabe III. 2. a); BVerfGE 129, 37 (47 f.); vgl. auch BGH, NStZ 2011, 693 (694).

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der Verwahrung Untergebrachte waren in die Freiheit zu entlassen.90 Die in letzterer Hinsicht notwendige Überprüfung war nach dem Urteil des BVerfG vom 4. Mai 2011 von den Vollstreckungsgerichten unverzüglich nach dessen Verkündung vorzunehmen und, wenn auf die Fortdauer der Unterbringung entschieden wurde,91 binnen der im Urteil weiter genannten Fristen92 zu wiederholen. Ein Ermessen hinsichtlich des Entlassungszeitraums stand den Gerichten nicht zu.93 In Verfahren, deren Entscheidungen vor dem genannten Urteil mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen worden waren, aber erst nach dessen Erlass vom BVerfG aufgehoben wurden, war die Überprüfung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung – wie in den in diesem Urteil selbst zur Neuverhandlung zurückverwiesenen Rechtssachen94 – nach Rückverweisung an die zuständigen Fachgerichte durchzuführen.95 b) Entschädigung für rechtswidrige Sicherungsverwahrung? In allen Fällen, in denen Straftäter nach dem Urteil des EGMR von 2009 und nach der geläuterten Rechtsprechung des BVerfG in menschen- und grundrechtswidriger Weise in der Sicherungsverwahrung untergebracht waren, ist im Fall der Klageerhebung darüber hinaus zu entscheiden, ob ihnen für die zu Unrecht erfolgte Freiheitsentziehung Schadensersatz, Entschädigung oder Schmerzensgeld zu gewähren ist. Diese Frage ist noch nicht abschließend geklärt. Das Landgericht und das Oberlandesgericht Karlsruhe haben sie für den Fall der nachträglich über zehn Jahre hinaus verlängerten Sicherungsverwahrung mit Urteilen vom 24. April und 29. November 201296 dahin beantwortet, dass den davon Betroffenen von dem für den Maßregelvollzug zuständigen Land Schadensersatz nach Art. 5 Abs. 5 EMRK in Höhe von etwa 500 Euro je Monat unrechtmäßiger Unterbringung zu leisten sei.97 Auch in diesen Judikaten kann der Versuch gesehen werden, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit herzustellen, und sei es nur nachträglich im Wege materiell-pekuniärer Wiedergutmachung. In Öffentlichkeit und Politik sind die Ent90

BVerfG (K), EuGRZ 2011, 645 (648); EuGRZ 2011, 665 (666); OLG Karlsruhe, StV 2012, 228 (228 ff.). Zur einschlägigen Judikatur der Fachgerichte siehe auch Zscherpe (o. Fußn. 33), 196 f.; Schöch (o. Fußn. 29), 26 f. 91 Vgl. etwa OLG Celle, StV 2012, 40 (41 ff.). 92 BVerfGE 128, 326 (333): Tenormaßgabe III. 2. c). 93 Vgl. BVerfG (K), EuGRZ 2011, 645 (648). 94 Siehe BVerfGE 128, 326 (333 f., 407 f.). 95 Vgl. BVerfG (K), Beschluss vom 21. Juni 2010 – 2 BvR 1879/10 – juris sowie Beschlüsse vom 16. April 2012 – 2 BvR 1396/10 bzw. 2 BvR 1940/10 – jeweils juris. Im Fall des ebenfalls stattgebenden Kammerbeschlusses vom 17. April 2012 – 2 BvR 1762/10 – juris war die Sachprüfung zwischenzeitlich erfolgt, eine Zurückverweisung daher entbehrlich. 96 Siehe LG Karlsruhe, EuGRZ 2012, 260 (262 ff.), mit Fußn. 1; OLG Karlsruhe, Justiz 2013, 9 (10 ff.), ebenso laut Presseerklärung des Gerichts in den Verfahren 12 U 61/12, 62/12 und 63/12. 97 Vgl. auch – freilich nur unter Rechtsweggesichtspunkten – VG Schleswig, NordÖR 2012, 372 ff.

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scheidungen freilich auf zum Teil heftige Kritik gestoßen.98 Auch deshalb ist in dieser Frage das letzte Wort wohl noch lange nicht gesprochen. 2. Folgenbeseitigung durch die Gesetzgeber von Bund und Ländern Die Gesetzgeber von Bund und Ländern waren aufgefordert, früher zu entscheiden. Sie hatten, um für die Sicherungsverwahrung ab dem 1. Juni 2013 ein Rechtsvakuum zu verhindern, spätestens bis zu diesem Zeitpunkt in gemeinsamer Anstrengung das vom BVerfG geforderte Gesamtkonzept eines freiheitsorientierten und therapiegerichteten Vollzugs der Sicherungsverwahrung zu entwickeln und auf hinreichend bestimmte normative Grundlagen zu stellen. Die Vorgaben, die das Gericht hierfür gemacht hat, sind das Ergebnis verfassungsrechtlich gebotener Balance zwischen Freiheit und Sicherheit,99 aber so anspruchsvoll, dass es großer Anstrengungen und – auf Bundesebene, im Bund/ Länder-Verhältnis und in den Ländern – weitgehender Kompromissbereitschaft bedurfte, sie so wie vom BVerfG gewollt umzusetzen. Gespaltene, aber kooperativ auszuübende Gesetzgebungskompetenzen,100 Finanznot auf allen Ebenen, grundsätzliche Einwände gegen das Institut der Sicherungsverwahrung von Seiten der deutschen Strafverteidiger101 und unterschiedliche politische Vorstellungen darüber, wie Freiheit und Sicherheit in der Rechtswirklichkeit en detail zu gewährleisten sind, machten das Vorhaben, das Recht der Sicherungsverwahrung in grund- und menschenrechtskonformer Weise neu zu ordnen und umzusetzen, zu einer Herkulesaufgabe mit hoher Brisanz. Ob sie auf der Grundlage des vom Bundesgesetzgeber erlassenen Gesetzes zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung vom 5. Dezember 2012102 und der Begleitgesetzgebung der Länder103 erfolgreich bewältigt sein wird, lässt sich am Festtag Hans-Jürgen Papiers, kurz nach Ablauf der äußersten Frist für die Fortgeltung der im BVerfG-Urteil vom 4. Mai 2011 für verfassungswidrig erklärten Bestimmungen, noch nicht sicher beurteilen. Denn das Leben ist auch danach wie ein Fahrrad: Ob die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit im Recht der Sicherungsverwahrung künftig gehalten und nicht nur die Sicherheit, sondern 98 Vgl. nur Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. April 2012, Weitere Klagen von Straftätern, S. 4: Urteil „schwer vermittelbar“, „Die Opfer dieser … Gewalttäter fühlen sich verhöhnt“. Zustimmend dagegen M. Köhne, Zwischenruf: „Das auch noch!“ – Schmerzensgeld für ehemalige Sicherungsverwahrte?, ZRP 2012, 181 (181 f.). 99 Vgl. BVerfGE 115, 320 (358). 100 Siehe dazu BVerfGE 128, 326 (387 f.). 101 Geäußert in der einschlägigen Arbeitsgruppe des 36. Strafverteidigertags vom 16.–18. März 2012 in Hannover (vgl. auch Überblick über die Ergebnisse des 36. Strafverteidigertages Hannover 2012, StV 2012, 437 [438]). 102 BGBl. I S. 2425. 103 Siehe etwa Gesetz zur Schaffung einer grundgesetzkonformen Rechtsgrundlage für den Vollzug der Sicherungsverwahrung in Baden-Württemberg (GBl. BW S. 581).

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auch die Freiheit auf Dauer optimal geschützt sein wird, werden abschließend wohl wieder das BVerfG und gegebenenfalls der EGMR zu entscheiden haben.

Freiheit braucht Mut Von Peter M. Huber Seit 20 Jahren ist Hans-Jürgen Papier Mitglied der Ludwig-Maximilians-Universität München, zu deren wichtigsten ideellen Orientierungspunkten das Vermächtnis der Weißen Rose gehört. Dies und die Berührungspunkte, die er als Präsident des Bundesverfassungsgerichts mit den täglichen Herausforderungen der Freiheit in der Demokratie und als Vorsitzender der „Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR“ mit den Funktionsbedingungen einer Diktatur gehabt hat, sollen Anlass sein, über den Zusammenhang von Freiheit und Mut etwas länger nachzudenken. I. Einleitung Als sich Sophie und Hans Scholl zu Beginn des Jahres 1943 die Freiheit nahmen, hier an der Universität München regimekritische Flugblätter auszulegen und zum Widerstand gegen den Krieg und die NS-Diktatur aufzurufen, konnten sie die Konsequenzen ihres Handelns zwar nicht im Detail voraussehen; dass diese Inanspruchnahme von Pressefreiheit – denn um nichts anderes handelte es sich bei der Verteilung der Flugblätter1 – gravierende Konsequenzen haben würde, wenn sie aufflögen, ja dass sie sie möglicherweise mit ihrem Leben würden bezahlen müssen, war ihnen jedoch durchaus bewusst. Wie furchtbar die Konsequenzen tatsächlich sein würden, zeigte sich, als sie der Hausmeister der Universität am 18. Februar 1943 bei der Verteilung ihres letzten Flugblattes überraschte und bei der Gestapo denunzierte. Schon vier Tage später, am 22. Februar 1943 wurden sie vom eigens nach München angereisten Volksgerichtshof unter dem Vorsitz des berüchtigten Roland Freisler zum Tode verurteilt und noch am selben Tag ermordet. Die Inanspruchnahme von Freiheit, vor allem von politisch relevanten Freiheiten wie der Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit, der Freiheit der Wissenschaft und der Kunst, der Versammlungs- und der Vereinigungsfreiheit, war unter den Bedingungen der Diktatur mit hohen Risiken verbunden, ja mit dem Risiko des Todes.

1 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, IV/1, 2006, § 109 I 4 b, S. 1529.

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II. Freiheit als Minderheitenproblem „Freiheit“ ist Selbstbestimmung. Indem Menschen sich nach eigenem Willen fortbewegen, einen Glauben haben und praktizieren, einen Beruf wählen, heiraten und Kinder kriegen, indem sie ihre Meinung sagen und diese über Presse, Rundfunk oder das Internet an die Öffentlichkeit gelangen lassen, indem sie mit anderen demonstrieren oder sich in Parteien und Vereinen zusammenschließen – immer üben sie in dem jeweiligen Lebensbereich ein Stück Selbstbestimmung aus. Selbstbestimmung aber ist, wie voraussetzungsvoll sie im Hinblick auf Sozialisation, Verstand und Bildung auch sein mag, in erster Linie individuelle Selbstbestimmung. Sie fließt aus der Persönlichkeit des Einzelnen, verwirklicht sich in individuellen Präferenzentscheidungen und ist ein Teil jenes Kunstwerks, das Pico della Mirandola darin gesehen hat, dass der Einzelne „plastes et fictor“ seiner selbst, sein eigener Bildhauer ist oder doch sein kann.2 M. a. W.: Freiheit ist die Fähigkeit, seines eigenen Glückes Schmied zu sein. Wenn aber Freiheit zuvörderst Selbstbestimmung ist und ihre Ausübung damit durch unsere je individuelle Persönlichkeit geprägt wird, dann liegt es auf der Hand, dass und warum sie zugleich politischer und sozialer Sprengstoff ist. Weil wir alle unterschiedliche Persönlichkeiten sind, haben wir auch alle unterschiedliche Vorstellungen von der Art und Weise, wie wir unsere Selbstbestimmung verwirklichen wollen, von unserer je individuellen „pursuit of happiness“ – und seien es nur Nuancen. Diese höchstpersönliche Prägung der Freiheitsausübung hat unweigerlich zur Folge, dass sich derjenige, der sie in Anspruch nimmt, weil er damit gewissermaßen aus der Reihe tanzt, immer irgendwie in der Minderheit befindet. Das macht Freiheit zur Herausforderung für Diktatoren und Autokraten, aber auch für die Mehrheit in einer offenen Gesellschaft. Und deshalb sind Freiheitsrechte jedenfalls auch potentielle Instrumente des Minderheitenschutzes.3 III. Mut als Freiheitsvoraussetzung Die Geschwister Scholl und die anderen Mitglieder der Weißen Rose haben mit ihren Aktionen großen Mut bewiesen. Ihre Entscheidung, die Bevölkerung gegen den Krieg und das NS-Regime mobilisieren zu wollen, beruhte auf einem freien Entschluss und auf der Erkenntnis, dass Moral und Religion sie zu aktivem Tätigwerden drängten. Sie wussten, dass eine Entdeckung Haft oder Tod für sie bedeuten würde, aber natürlich hatten sie die Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang, hofften sie,

2

G. Pico della Mirandola, Oratio de hominis dignitate, Übersetzung von N. Baumgarten, 1990, S. 6 f. 3 Die Schutzfunktion auch für die Mehrheit betont J. Aulehner, Grundrechte und Gesetzgebung, 2011, S. 177 ff.

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nicht nur nicht entdeckt zu werden, sondern das Volk aufzurütteln und das Regime am Ende zu überwinden.4 Nach dem modernen Begriffsverständnis, wie es sich seit dem 16. Jahrhundert nach und nach durchgesetzt hat, bedeutet Mut, dass der Einzelne (1) aufgrund eines freien Willensentschlusses, (2) der auf der Grundlage einer mit Klugheit und Besonnenheit gewonnenen Erkenntnis über das moralisch Gebotene getroffen wird, (3) eine Gefahr auf sich nimmt, die den Tod, körperliche Verletzung, soziale Ächtung oder emotionale Entbehrungen zur Folge haben kann, wobei der Handelnde (4) zumindest die Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang hegt.5 1. Freiheit und Mut unter den Bedingungen der Diktatur a) „Das Geheimnis der Freiheit ist der Mut“. Diese auf Perikles zurückgehende 2500 Jahre alte Einsicht – unter den Bedingungen der Diktatur bedarf sie keiner weiteren Begründung. Der Fall der Geschwister Scholl und des Christoph Probst ist insoweit ein besonders grausames Beispiel für einen Befund, der sich für alle Diktaturen und autoritären Regime festhalten lässt. Er reicht vom Vormärz, als die Göttinger Sieben ihren Protest gegen die Aufhebung der Hannover’schen Verfassung mit dem Verlust ihrer Ämter und teilweise auch dem Exil „bezahlen“ mussten (1837), über die faschistischen und kommunistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts – pars pro toto sei hier nur an Alexander Solschenizyn und Lew Kopelew erinnert, die wie Millionen anderer wegen regimekritischer Äußerungen in den Archipel Gulag verbannt wurden, oder an Wolf Biermann, den die DDR wegen seiner regimekritischen Lieder, juristisch gesehen, wegen Inanspruchnahme der Kunstfreiheit ausbürgerte. Aber es gilt auch für die sog. gelenkten Demokratien Osteuropas unserer Tage, in denen Journalisten wie Anna Politkowskaja ihre Vorstellung von freier Berichterstattung mit dem Leben bezahlen müssen. All diesen sehr heterogenen Beispielen ist gemeinsam, dass die Betroffenen damit rechneten, dass ihre Meinungsäußerungen, ihre auf religiösen, ethischen oder politischen Überzeugungen gründende Positionierung, empfindliche Konsequenzen haben könnte und letztlich auch hatte. Sie dienen uns als – tragische – Vorbilder, weil sie bei der Inanspruchnahme von Freiheit Mut bewiesen haben. b) Das Recht bot und bietet hier wenig Schutz. Für die Mitglieder der Weißen Rose, die – wie Horst Dreier es ausgedrückt hat – in einer „form- und normentleerten Welt absoluter personaler Allgewalt“ leben mussten, in der sich das gesamte Staats4 Nachweise u. a. bei I. Scholl, Die Weiße Rose, 2009, u. a. S. 148 ff.; H. Scholl/S. Scholl, Briefe und Aufzeichnungen, 2005, S. 143. 5 Ähnlich A. Dick, Mut – Über sich hinauswachsen, 2010.

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recht und weite Teile des Verwaltungsrechts6 auf den einzigen Satz reduzierten „Es gilt der Wille des Führers“,7 ist dies offensichtlich. Es gilt aber auch für andere Diktaturen. So erkannte z. B. die DDR-Verfassung von 1974 Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit (Art. 27 DDR-Verf. 1974), Versammlungs- (Art. 28 DDR-Verf. 1974) und Vereinigungsfreiheit (Art. 29 DDR-Verf.) und andere Grundrechte dem Wortlaut nach durchaus an; nur, diese Garantien waren das Papier nicht wert, auf das sie gedruckt wurden. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Jedenfalls aus dem Blickwinkel der praktizierten Herrschaftsordnung einer Diktatur ist die Inanspruchnahme von Freiheit immer ein Stück weit eine Regelverletzung, und dies erfordert besonderen Mut. Frei sind hier allenfalls die Gedanken, und auch das nicht wirklich. c) Mitunter führt der Mut jedoch auch zum Erfolg. Die polnische Solidarnoscz und die ostdeutschen Bürgerrechtler, die im Herbst 1980 bzw. im Herbst 1989 gegen das kommunistische System aufbegehrten, konnten sich zu Beginn ihrer Proteste keineswegs sicher sein, dass sie am Ende triumphieren würden. Zu Beginn der Revolution kam es ja auch zu einzelnen Inhaftierungen und anderen Repressalien. Am Ende haben sie jedoch nicht nur sich überwunden, sondern die Welt zum Positiven verändert. 2. Freiheit und Mut im demokratischen Verfassungsstaat a) Die dunklen Zeiten der Diktatur haben wir in Deutschland seit 1945 bzw. 1989 hinter uns gelassen. Seit 1949 verbürgt das Grundgesetz, gegründet auf die für unantastbar erklärte Würde des Menschen, die freie Selbstbestimmung des Einzelnen als einklagbares und gerichtlich durchsetzbares Recht. In 127 Bänden hat das Bundesverfassungsgericht unsere gesamte Rechtsordnung auf die Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen hin ausgerichtet und mittlerweile vielleicht nicht alle, aber doch die allermeisten Winkel dieser Rechtsordnung mit ihrem Licht ausgeleuchtet. Von der Ausreisefreiheit8 über den Strafvollzug9 und die Vorratsdatenspeicherung10 bis zur Zwangsbehandlung in psychiatrischen Krankenhäusern11 – es gibt praktisch keinen Lebensbereich, in dem individuelle Selbstbestimmung und Freiheit keinen effektiven Schutz genössen.

6 Zur Daseinsvorsorge als einzigem „Modernisierungsbeitrag“ dieser Zeit W. Pauly, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, VVDStRL 60 (2001), 73 (98 f.). 7 H. Dreier, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, VVDStRL 60 (2001), 9 (54). 8 BVerfGE 6, 32 ff. – Elfes. 9 Grundlegend BVerfGE 33, 1 ff. – Strafgefangene. 10 BVerfGE 125, 260 ff. – Vorratsdatenspeicherung. 11 BVerfG, NJW 2011, 2113 ff.

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Seit 1951 wird dieser Schutz auch noch durch die in den letzten Jahren vermehrt in das allgemeine Bewusstsein drängende EMRK ergänzt12 und mehr und mehr auch auf EU-Ebene. In jüngerer Zeit scheint der EuGH mit dem Schutz der Freiheitsrechte auch gegenüber den Organen der EU – der Kommission, dem Rat und dem Europäischen Parlament – (endlich) Ernst zu machen.13 b) Sind Freiheit und Selbstbestimmung unter diesen Bedingungen heute noch ein Problem oder bare Selbstverständlichkeit und so alltäglich, dass es darüber nicht zu reden lohnt? Ist der Appell an den Mut zur Freiheit somit nur eine Reminiszenz für Gedenktage? Persönliche Freiheit und individuelle Selbstbestimmung werden heute täglich millionenfach gelebt. Von der freien Fahrt für freie Bürger über die Freiheit der Ausbildungsstätte und des Berufs bis zu den täglichen Demonstrationslagen; von der zunehmend pluralistischen religiösen und weltanschaulichen Landschaft über das blühende Vereinswesen bis zu einer Presse und Rundfunkordnung, die den öffentlichrechtlichen Anstalten sogar grundrechtlich radizierte Ansprüche vermittelt, die Gebühren um 21 Cent mehr erhöht zu erhalten, als es der Gesetzgeber vorgesehen hatte –14 Freiheit und Selbstbestimmung sind für unser gesellschaftliches, politisches und persönliches Leben ebenso prägend wie alltäglich. Und doch kann die Ausübung von Freiheit für den Einzelnen auch heute noch die Schädigung von Leib und Leben, soziale Ausgrenzung oder die Destabilisierung der eigenen Persönlichkeit zur Folge haben und insoweit nach wie vor Mut erfordern. c) Das gilt freilich weniger für das Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Interventionen von Politikern in die Pressefreiheit lassen, wie das aktuelle Beispiel des Bundespräsidenten Wulff zeigt, jedenfalls die Adressaten in den Chefetagen heute einigermaßen kalt und sind eher ein Risiko für den Intervenierenden. Selbst mitunter übersteigerte und gemeinwohlwidrige, weil mit Regelverletzungen verbundene Inanspruchnahmen einer (vermeintlichen) Freiheit zur Durchführung von Sitzblockaden oder zur Intervention in den behördlichen Vollzug des Ausländer- und Asylrechts bleiben für die Betroffenen meist ohne nennenswerte Konsequenzen und erfordern daher keinen allzu großen Mut (mehr). Zum einen zollen der Staat, d. h. Verwaltung und Justiz der moralischen Dimension solch „zivilen Ungehormsams“ bei der Verhängung von Sanktionen Rechnung. Zum anderen werden die 12

EGMR NJW 2004, 2647 ff. – Caroline von Hannover; EGMR, Urt. v. 26. 2. 2004, Nr. 74969/01, Rn. 37, 26; Urt. v. 17. 12. 2009, Nr. 19359/04, Mücke ./. Deutschland; Urt. v. 13. 1. 2011, Nr. 17792/07, Kallweit ./. Deutschland; Urt. v. 13. 1. 2011, Nr. 20008/07, Mautes ./. Deutschland; Urt. v. 13. 1. 2011, Nrn. 27360/04 und 42225/07, Schummer ./. Deutschland; Urt. v. 13. 1. 2011, Nr. 6587/04, Haidn ./. Deutschland, Rn. 84. 13 EuGH, Urt. v. 6. 12. 2005 – Rs. C 453/03 – The Queen ex parte: ABNA Ltd. ./. Secretary for Health and Food Standards Agency, Slg. 2005, I – 10423, 85 ff; verb. Rs. C-402/05P und C-415/05P, Kadi und Al Barakaat, Slg. 2008, I-6351, Rn. 335; Urt. v. 9. 11. 2010 C – 92/09 – Volker und Markus Schecke u. a. ./. Land Hessen. 14 BVerfGE 119, 181 ff. – Rundfunkgebühren II.

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Betroffenen i. d. R. durch Gleichgesinnte und erhebliche Teile der Öffentlichkeit unterstützt, was das Exklusionsrisiko begrenzt. Der Leviathan, jenes allmächtige Ungeheuer aus dem Buch Hiob, als das Thomas Hobbes den Staat empfunden hat – es scheint insoweit in der Tat zum nützlichen Haustier15 geschrumpft. d) Anders liegt dagegen der uns aus der Politik der vergangenen Monate geläufige Fall, dass einzelne Abgeordnete gegen die mehrheitlich beschlossene Linie ihrer Fraktion aufbegehren. Das gilt etwa für Wolfgang Bosbach, der dem Kurs der Bundesregierung in Sachen Euro-Rettung nicht folgen mochte und dafür in einer Weise – man würde heute sagen – gemobbt wurde, dass auch für jeden Fernsehzuschauer erkennbar wurde, wie rauh es werden kann, wenn man als unabhängiger Abgeordneter aus der Reihe tanzt. Ähnliche Konstellationen hat es auch früher schon gegeben. Der ursprünglich der Fraktion die GRÜNEN angehörende Abgeordnete Wüppesahl hat Rechtsgeschichte geschrieben, weil er dem Bundesverfassungsgericht Gelegenheit bot, die Rechtsstellung fraktionsloser Abgeordneter zu klären.16 Vielleicht gilt das auch für die SPD-Abgeordneten Danckert und Schulz, die Antragsteller in dem noch anhängigen Verfahren zum sog. 9er-Gremium,17 die sich von ihrer Fraktionsführung sagen lassen mussten, sie seien nicht steuerbar – und das war nicht als Kompliment gemeint. Ein paar andere Namen ließen sich in diesem Zusammenhang ebenfalls nennen, doch ihre Zahl ist überschaubar. Rechtlich mag das überraschen. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind, so steht es in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Sie genießen Indemnität, dürfen also zu keiner Zeit wegen ihrer Abstimmung oder einer Äußerung, die sie im Bundestag getan haben, verfolgt oder zur Verantwortung gezogen werden (Art. 46 Abs. 1 GG). Das schließt aber nicht aus, dass ein solches Verhalten politisch sanktioniert wird – vor allem dadurch, dass sich der oder die Betreffende den „Aufstieg“ in bestimmte Ämter – des Ausschussvorsitzenden, des parlamentarischen Geschäftsführers, des (stellvertretenden) Fraktionsvorsitzenden, des Staatssekretärs oder Ministers – verbaut, dass er oder sie ihre abermalige Nominierung auf den Landeslisten gefährdet und in der Partei insgesamt an den Rand gedrängt wird. Auch deshalb sind Fälle, in denen Abgeordnete sich gegen ihre Fraktion stellen, eine seltene Ausnahme. e) Auch für Journalisten kann die Inanspruchnahme der Pressefreiheit immer noch Mut erfordern. Sollte es zutreffen, dass Bundespräsident Wulff einem Journalisten der Welt am Sonntag im Herbst 2011 vor der Veröffentlichung einer Geschichte über seine Stiefschwester mit empfindlichen Konsequenzen gedroht und später bei der Chefredak15 H. Schulze-Fielitz, Der Leviathan auf dem Weg zum nützlichen Haustier?, in: Voigt (Hrsg.), Abschied vom Staat – Rückkehr zum Staat, 1993, S. 95. 16 BVerfGE 80, 188 ff. – Wüppesahl. 17 BVerfG, 2 BvE 8/11.

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tion interveniert hat,18 war es jedenfalls eine mutige Handlung des Journalisten, sich nicht unter Druck setzen zu lassen, wie geschmackvoll oder geschmacklos die Berichterstattung in der Sache auch gewesen sein mag. Denn es hätte ihn den Job kosten können, sich mit dem Staatsoberhaupt anzulegen. Auch auf europäischem Parkett kann journalistisches Arbeiten gefährlich werden. So wurde das Verhältnis zwischen OLAF und den Medien im März 2004 erheblich belastet, als die belgische Polizei auf Antrag von OLAF die Wohnung und das Büro des Brüsseler Stern-Korrespondenten Hans-Martin Tillack durchsuchte und Unterlagen beschlagnahmte. Der Korrespondent hatte wiederholt in kritischen Berichten zu OLAF interne Papiere des Amtes zitiert. Klagen von Tillack gegen die Übermittlung der zur Durchsuchung führenden Unterlagen u. a. an die belgische Staatsanwaltschaft wurden vom EuG als unzulässig zurückgewiesen.19 Erst beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) hatte Tillack dann im November 2007 Erfolg. Seine Menschenrechtsbeschwerde endete mit der Verurteilung Belgiens zur Zahlung von 30.000 E Schadensersatz und 10.000 E Schmerzensgeld wegen Verletzung der Pressefreiheit.20 3. Multipolare Rechtsverhältnisse – Mehrpolige Freiheitsprobleme Die eigentliche Bewährungsprobe für die Freiheit ist heute jedoch ihre Behauptung im gesellschaftlichen Kontext, im Verhältnis zwischen Bürger und Bürger. Ob wir willens sind, für das, was wir als richtig erkannt haben, auch einzutreten, das Risiko in Kauf zu nehmen, uns in der Minderheit, als Außenseiter oder Verlierer wiederzufinden, ausgegrenzt und gemobbt zu werden, entscheidet nicht nur über unsere Freiheitsbefähigung; es erfordert häufig auch Mut. Sich als Arbeitnehmer aus religiösen, politischen oder sonstigen Gründen mit dem Arbeitgeber anzulegen, kann empfindliche, bis zu Kündigung und Schadensersatzansprüchen reichende Konsequenzen nach sich ziehen; sich in einem Dorf für in der Nachbarschaft untergebrachte Asylbewerber einzusetzen, kann soziale Ausgrenzung bedeuten, gegen Neonazis in der eigenen Umgebung aufzustehen, die physische Integrität gefährden und als Zeichner Karikaturen des Propheten Mohamed anzufertigen, das Leben kosten. In ihrer Laudatio für den dänischen Karikaturisten Kurt Westergaard hat Bundeskanzlerin Angela Merkel vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen mit der SED-Diktatur insoweit treffend festgestellt: „Freiheit zu leben, erfordert Mut, und zwar jeden Tag aufs Neue, im Kleinen wie im Großen – wenn ein Jugendlicher nicht mehr mitmacht beim Mobbing eines Klassenkameraden und den Ausschluss aus der Gruppe riskiert, wenn ein Manager nicht 18 Spiegel Online vom 6. 1. 2012 – http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518, 806867,00.html. 19 EuG, Urt. v. 4. 10. 2006 – T 193/04. 20 EGMR, Urt. v. 27. 11. 2007, Az. 20477/05 – Tillack ./. Belgien.

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mehr mitmacht bei unlauteren Unternehmenspraktiken und dafür seine Karriere riskiert … . Ja, so ist es: Mut fängt mit der Überwindung der eignen Verzagtheit an“.21 Zwei Beispiele aus dem universitären Milieu seien hier noch illustrandi causa angefügt. Ende der 1990er Jahre diskutierte man im Baurecht, ob Kommunen – etwa die Landeshauptstadt München – mittels städtebaulicher Verträge den Planungswertzuwachs abschöpfen dürfen. Es war damals praktisch einhellige Auffassung, dass dies nur zulässig wäre, wenn mit dieser Abschöpfung auch tatsächlich entstandene Folgekosten abgeschöpft würden. Die Humboldt-Universität zu Berlin plante für November 1998 einen wissenschaftlichen Kongress, auf dem diese Frage näher erörtert werden sollte. Kurz zuvor, im September, war es in Bonn zu einem Regierungswechsel gekommen, und die neue rot-grüne Bundesregierung hatte die Einführung einer isolierten Planungswertabschöpfung in ihren Koalitionsvertrag aufgenommen. Als dann die Tagung stattfand, war zu beobachten, dass eine substantielle Anzahl von Professoren und Ministerialbeamten ihre noch kurz vor der Bundestagswahl vertretene Position aufgegeben hatte und nun das Gegenteil vertrat. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. Vielleicht wollten sie sich den neuen Amtsträgern als Sachverständige empfehlen oder in dieser Frage am Ende auch nur Recht behalten und bei der Mehrheit sein. Genau wird man das nie erfahren. Das zweite Beispiel: In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 11. Januar 2012 berichtet der Präsident der FU Berlin, Peter Alt, ein Literaturwissenschaftler, unter der Überschrift „Ist der Kandidat auch gut vernetzt?“ über einen Paradigmenwechsel in der Wissenschaft im Allgemeinen und in der Berufungspolitik im Besonderen, den viele von uns ansatzweise sicher auch schon beobachtet haben. Archimedischer Punkt unseres Wissenschaftssystems war über Jahrhunderte hinweg der Forscherdrang und die Neugier der Wissenschaftler, ihre Curiositas, und natürlich auch ein gerüttelt Maß an Eitelkeit. Je freier sie in ihrer methodisch angeleiteten Suche nach Wahrheit – das versteht die Rechtsprechung unter Wissenschaft – agieren konnten, umso reichere Früchte trug aufs Ganze gesehen ihr Bemühen. Diese Triebfeder droht jedoch zu erlahmen: „Betrachtet man die Programmatik aktueller akademischer Karriereplanungen, so lässt sich sagen: Neben der Förderung von Strukturen und Projekten wird bei der Qualifizierung junger Wissenschaftler zu wenig auf die Pflege und Entwicklung der Neugierde als Erkenntnisprinzip geachtet. … An ihre Stelle tritt eine pragmatische oder strategische Ausrichtung an wissenschaftlichen Zielen, die als karriererelevant eingestuft werden. Die Befassung mit solchen Zielen ersetzt nicht selten die intrinsische Motivation. …. Doktoranden, die Publikationen nach rein taktischen Gesichtspunkten anlegen, Zitierkartelle bedienen und frühzeitig ,Networking‘ im Sinne eines Aufbaus von Laufbahn-Agenturen bilden, sind keine Seltenheit. … Wie die Etablierten organisieren die Junioren Tagungen mit den ,richtigen‘ (also einflussrei21

A. Merkel, Laudatio für Kurt Westergaard, Die Welt v. 3. 9. 2010.

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chen) Kollegen, verabreden wechselseitige Rezensionen ihrer Arbeiten und praktizieren systematisch Zitatpolitik“.22 Selbst unter der Ägide des Art. 5 Abs. 3 GG kann die Inanspruchnahme der Wissenschaftsfreiheit offenbar an der eigenen Verzagtheit scheitern, weil sie für die Betroffenen – nicht nur im Bereich der Theologie, wo es mit dem Tendenzschutz der Kirchen23 immer Konflikte geben kann – negative Folgen haben kann: bei Berufungen, bei der Einwerbung von Drittmitteln, dem „Marktwert“ als Ratgeber, Gutachter etc. IV. Der Mensch als animal sociale 1. Allgemeines Grund für diese alltägliche Verzagtheit ist wohl, dass die Inanspruchnahme von Freiheit einsam machen kann. Einsamkeit und soziale Ausgrenzung sind ein Problem, ja sie sind wider die menschliche Natur. Deshalb versuchen wir sie zu vermeiden und entwickeln sensible Antennen, die uns bereits weit im Vorfeld einer ernsthaften Exklusionsgefahr reagieren, häufig auch überreagieren lassen. Seit Aristoteles wissen wir, dass der Mensch auch, wenn nicht sogar in erster Linie ein auf die Gemeinschaft mit anderen angelegtes Wesen ist, ein „zoon politikon“ bzw. ein animal sociale. Das Bundesverfassungsgericht wendet sich deshalb in ständiger Rechtsprechung dagegen, das Leitbild des freiheitsbefähigten und -gestaltenden Menschen zu verabsolutieren. Das Menschenbild des Grundgesetzes dient ihm vor allem dazu, die Grenzen individueller Selbstbestimmung zu markieren und die Gemeinschaftsgebundenheit und -bezogenheit des Menschen zu betonen.24 An dieser mittleren Linie zwischen Individualismus und Kollektivismus25 orientiert sich auch die Organisation unseres Zusammenlebens – in der Familie, in der Gemeinde, im Land und im Bund sowie in der Europäischen Union. Auch wenn die Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen Grundlage unserer Rechtsordnung und ihr archimedischer Punkt ist, so nehmen wir im Alltag doch vor allem die zahlreichen Beschränkungen wahr, die sie im Interesse des Gemeinwohls, der Rechte anderer oder der Solidarität erfährt. Der Blick in ein beliebiges Rechtsgebiet – das Verbraucherschutzrecht, das Miet-, Steuer- oder Sozialrecht, das Regulierungs- oder das Kreislaufwirtschafts- und Abfallrecht – zeigt, was ich meine. Die Beschränkungen machen unsere Vereinigung unter Rechtsgesetzen aus26 und prägen das europäische 22

P. Alt, Ist der Kandidat auch gut vernetzt?, FAZ v. 11. 1. 2012. P. M. Huber, Konkordate und Kirchenverträge unter Europäisierungsdruck, in: Archiv für Kath. Kirchenrecht, 177 (2008), 411 (436 ff.). 24 BVerfGE 4, 7 (15 ff.). 25 G. Dürig, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, 1992, Art. 1 Abs. 1 Rn. 47; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, III/1, 1988, § 58 II 7. 26 I. Kant: „Ein Staat (civitas) ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen.“ (RL VI 313). 23

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und deutsche Gesellschaftsmodell. Das Pathos eines Friedrich Schiller, der seinem Wilhelm Tell das geflügelte Wort „Der Starke ist am mächtigsten allein“27 in den Mund legt – es markiert nicht das Bild, das sich unsere Verfassung vom Menschen macht und würde – als Leitbild missverstanden – wohl auch die anthropologischen, jedenfalls die zivilisatorischen Grundlagen unseres Daseins verfehlen. Das Grundgesetz will keine Gesellschaft aus lauter Menschen vom Schlage eines Michael Kohlhaas, von Rechthabern und Sektierern. Der lonesome Cowboy, der einsam in die Abendsonne reitende Westernheld – nach Europa will er nicht so recht passen. Andererseits: Je breiter der von der Rechtsordnung und Freiheitsschranken gezogene Rahmen ausfällt, desto weniger Mut braucht es, die verbliebene Freiheit zu leben. 2. Die deutsche Präferenz für die Gleichheit Für Deutschland gilt das in besonderem Maße. Mehr als alle anderen Gesellschaften des Westens schätzen wir die Gleichheit vor der Freiheit. Weil die krude Forderung nach Gleichheit jedoch zu unverblümt klingt, verwendet man vielfach den positiv konnotierten Begriff der sozialen Gerechtigkeit, meint in der Sache jedoch dasselbe.28 Das Institut für Demoskopie Allensbach untersucht die Frage nach den Präferenzen bei Freiheit und Gleichheit seit den 1950er Jahren, und auch wenn die Wertschätzung der Freiheit allmählich an Boden gewonnen hat, so sind wir doch eher als unsere Freunde in Frankreich, Großbritannien oder den USA bereit, die Freiheit im Interesse sozialer Gerechtigkeit ein Stück weit zurückzustecken. In seiner letzten großen Untersuchung zu diesem Thema aus dem November 2003 kommt Allensbach zu folgendem Befund: „Es konnte gezeigt werden, dass Freiheit, verstanden im Sinne von Handlungs- und Entscheidungsfreiheit, ein zentraler Wert sowohl für den ökonomischen Erfolg einer Gesellschaft als auch für die subjektive Lebenszufriedenheit des einzelnen ist. Die Bevölkerung in Westdeutschland, mit einigen Abstrichen aber auch in den neuen Bundesländern, misst diesem Wert auch eine hohe Bedeutung bei, wenn auch im Verlaufe des letzten Jahrzehnts, besonders in der ersten Hälfte der 90er Jahre, Verschiebungen zugunsten der konkurrierenden Werte Gleichheit und Sicherheit zu beobachten waren. Untersucht mach jedoch die persönliche Lebenseinstellung der Bevölkerung etwas genauer, stellt sie vor konkrete Alternativen, bei denen sie sich zugunsten der Freiheit oder der Gleichheit oder Sicherheit auf Kosten der Freiheit entscheiden … muss, fällt die Entscheidung oft zuungunsten der Freiheit aus. Im konkreten Einzelfall scheuen viele Menschen die Folgen, die eine konsequente Orientierung an diesem unbequemen Wert nach sich ziehen würde.“29

27

F. Schiller, Wilhelm Tell I, S. 3. J. Strube, Das Geheimnis der Freiheit ist der Mut, in: Hanns Martin Schleyer-Preis 2010 und 2011, S. 57 (62). 29 Institut für Demoskopie Allensbach, Der Wert der Freiheit – Ergebnisse einer Grundlagenstudie zum Freiheitsverständnis der Deutschen, 2003, S. 118. 28

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Die Präferenz für die Gleichheit scheint ihre Wurzeln demnach in dem Bestreben zu haben, Unbequemlichkeiten zu vermeiden, in einer tendenziellen Scheu vor unangenehmen Konsequenzen und davor, Verantwortung übernehmen zu müssen, m. a. W. in einer gewissen Angst vor dem rauen Wind der Freiheit. In der Gemeinschaft – der Europäer, der Deutschen, einer Partei, einer Kirche, eines Verbandes oder Vereins, von Greenpeace oder Attac lässt sie sich besser ertragen. Oder, um auch Stauffacher, den Gesprächspartner Wilhelm Tells zu Wort kommen zu lassen: „Verbunden werden auch die Schwachen mächtig.“30 3. Die Angst vor der Freiheit Mit der geschilderten Verzagtheit, individuelle Verantwortung zu übernehmen, könnte auch die strukturelle Krise der Freiheit zusammenhängen, die Paul Kirchhof31 und Udo Di Fabio in den letzten Jahren immer wieder beschrieben haben, und die sich – um nur ein paar Beispiele herauszugreifen – an der zurückgehenden Zahl von Eheschließungen ebenso festmachen lässt wie an der nach wie vor zu niedrigen Geburtenrate oder an der zu geringen Neigung der Menschen, sich selbständig zu machen. Die insoweit vermissten Tätigkeiten werden durch die Garantie von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) und die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) umfassend geschützt. Aber diese Grundrechte enthalten, wie die meisten Grundrechte, nur die Erwartung, dass die Bürger von ihnen auch Gebrauch machen. Das scheint den Menschen jedoch schwer zu fallen, weil es die Übernahme von Verantwortung bedeutet und die Bereitschaft, auch das Risiko des Scheiterns zu übernehmen – in der Ehe, bei der Einbeziehung der Kinder in den eigenen Lebensentwurf oder im Beruf. Das kann einsam machen. Ihre Zweckbestimmung können die Grundrechte aber nur erfüllen, wenn die zur Selbstbestimmung befähigten Bürger sie auch für ihr ganz persönliches Leben aktivieren, indem sie heiraten, Kinder kriegen oder Unternehmen gründen. Sie verpflichten den Einzelnen zu nichts; aber ohne tatsächliche Inanspruchnahme bleiben sie „law in the books“. 4. Hypothese Woran aber liegt es, dass – sehr typisierend gesprochen – wir Deutschen offenbar einen stärkeren Hang zum Kollektiv aufweisen als unsere Freunde im Westen, dass wir eine größere Verzagtheit an den Tag legen, wenn es darum geht, Verantwortung zu übernehmen? Belastbare Antworten darauf gibt es nicht, aber eine Hypothese.

30

Schiller (o. Fußn. 27), S. 3. P. Kirchhof, Grundrechtsinhalte und Grundrechtsschranken, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR I, 2004, § 21 Rdnr. 2 ff. 31

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Die Sozialpsychologie geht davon aus, dass sich kollektive Identitäten über einen Zeitraum von etwa 400 Jahren bilden und nur ganz allmählich ändern. Wenn das richtig ist, könnten die Wurzeln unserer Gleichheitsliebe im Korporatismus des Alten Reichs liegen, in der Mediatisierung des Einzelnen durch Stände, Zünfte, partikulare Landesherren und Städte, durch Konfessionen, die stets als solche gehandelt und das Individuum entlastet haben. Mehr als in anderen europäischen Staaten war der Einzelne in Deutschland Teil eines größeren Ganzen, eines Kollektivs, und in diesem Teil einer (relativen) Mehrheit. Hinzu kommt der damit verbundene fürsorgliche Paternalismus, der die deutsche Obrigkeit schon im 16. Jahrhundert ausgezeichnet hat und sich von den sich herausbildenden Nationalstaaten im Westen des Kontinents, aber auch von den USA deutlich unterschied. Die Etablierung der „guten Policey“ in den Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548 und 1577 gehört ebenso hierher wie das mit vielen – zeitadäquaten – Tropfen sozialen Öls gesalbte Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 oder die Bismarck’sche Sozialversicherung der Jahre nach 1881. Vor diesem Hintergrund erscheint es plausibel, dass unsere Vorfahren insgesamt weniger Gelegenheit hatten als andere Europäer, individuelle Freiheit und Verantwortung sowie, als Folge davon, auch politische Auseinandersetzungen um die richtige Konkretisierung des Gemeinwohls als prägende Erfahrung zu erleben. Darauf hat auch Klaus von Dohnanyi in seiner 1999 gehaltenen Weiße Rose-Gedächtnisvorlesung hingewiesen. Natürlich gab es auch gegenläufige Erfahrungen wie die Reformation, die erste große Revolution in Europa lange vor 1789, und es gab das historische Narrativ prägende Ereignisse wie den Auftritt Martin Luthers auf dem Reichstag zu Worms (1521), auf dem er mit dem – allerdings nicht belegten – Ausspruch: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen“32 ein epochales Zeugnis für unerschrockenes, d. h. mutiges Eintreten für die Religions- und Gewissensfreiheit abgelegt hat. Allein, als wirkmächtige Freiheitserfahrung taugte die Reformation nicht. Der in ihrem Gefolge ausgelöste Bauernkrieg scheiterte, und so erging es unseren Vorfahren auch bei der Revolution von 1848/49. Dass der – den Einzelnen bevormundende – Obrigkeitsstaat jedenfalls in unserem Unterbewusstsein bis heute fortlebt, belegt unser Glaube an den Staat, den wir „Vater“ nennen, statt uns an seine Stelle zu setzen, unser im weltweiten Vergleich einzigartiges Vertrauen in das – staatlich gesetzte – Recht und eine gewisse Distanz zu politischen Auseinandersetzungen, die noch immer virulente Vorstellung, zwischen Staat und Bürger gäbe es ein Über- und Unterordnungsverhältnis (Subjektionstheorie!) und nicht zuletzt die Ausgestaltung unseres Rechtsschutzsystems, das den Bürger auf die Verteidigung seiner subjektiven Rechte festlegt, statt ihn auch als Staatsbürger für die Wahrung des Rechts in die Verantwortung zu nehmen.

32 Martin Treu, in: Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt (Hrsg.), Martin Luther in Wittenberg. Ein biografischer Rundgang, 2006, S. 45 ff.

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V. Stärkung der Freiheitsbefähigung und Verantwortungsbereitschaft Bei dieser Beschreibung handelt es sich freilich nur um eine Momentaufnahme. Die Zeit steht nicht still und es kommen täglich neue Erfahrungen hinzu, die Gesellschaft verändern. Auch deren Zusammensetzung ändert sich. Die Erfahrung eines nun bald 63jährigen freiheitlichen und demokratischen Verfassungsstaates, in dem Bürger immer wieder – zu Recht oder zu Unrecht – aufbegehrt haben und in dem – wie das Beispiel der 68er Generation zeigt – auch Generationenkonflikte mit Vehemenz ausgetragen worden sind, werden ihre Spuren im kollektiven Bewusstsein unserer Gesellschaft ebenso hinterlassen wie die geglückte Revolution von 1989/90 oder die Veränderungen, die unsere Gesellschaft durch die Einwanderung erfahren hat. Migranten – gleichgültig, ob es sich um die Flüchtlinge nach 1945, die sog. Gastarbeiter und ihre Kinder und Enkel oder Asylbewerber handelt – sind millionenfach dauerhafter Teil unserer Gesellschaft geworden. Ihre in den vergangenen Jahrzehnten vielfältig gesammelten Minderheitserfahrungen, die Erfahrung, Opfer von unmittelbaren und mittelbaren, plumpen und subtilen Diskriminierungen gewesen zu sein und in größerem Umfang als die Mehrheitsgesellschaft bestimmte Freiheiten auch um den Preis der Ausgrenzung in Anspruch nehmen zu müssen, werden die Identität der nachfolgenden Generationen mit prägen. Diese Veränderungen werden weitergehen, Pluralisierung der Gesellschaft durch Freizügigkeit, Migration, den Zerfall traditioneller Milieus oder das Auftreten kompakter, am Geschlecht, der Abstammung, der Heimat, des Glaubens, der sexuellen Orientierung oder der Behinderung orientierter Interessen wird uns allen in Zukunft vermehrte Minderheitserfahrungen bescheren. Sie wird uns zwingen, im gesellschaftlichen Miteinander, in der Auseinandersetzung zu Hause, in der Schule, am Arbeitsplatz und in der Öffentlichkeit noch entschiedener für unsere je individuelle Konzeption von Freiheit und Selbstbestimmung einzutreten. Gleichzeitig werden wir auch mehr Toleranz für die Lebensentwürfe anderer aufbringen (müssen). Das wird anstrengend, aber es ist alternativlos. VI. Ausblick Der Staat wird vor diesem Hintergrund in noch größerem Maße als heute durch einen lückenlosen Schutz der Grundrechte, einen effektiven Rechtsschutz, einen wirksamen Justizgewährungsanspruch gegenüber Privaten, die Förderung von Gemeinsamkeiten wie der Werte des Grundgesetzes, der deutschen Sprache und kultureller Traditionen, sowie durch die Reduzierung der mit einer Minderheitenposition verbundenen Risiken dieses Zusammenleben und die Übernahme von Verantwortung erleichtern müssen. Ein Ausbau der Antidiskriminierungsgesetzgebung kann dazu ebenso einen Beitrag leisten wie sozialstaatliche Instrumente. Bekanntlich kann, um nur ein Beispiel zu nennen, ein ausreichendes Angebot an Betreuungsplätzen das „Ja“ zum Kind erleichtern.

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Der Staat wird unsere Möglichkeiten verbessern müssen, an der Konkretisierung des Gemeinwohls aktiv mitzuwirken und dabei für unsere Überzeugungen aktiv einzutreten, durch die Etablierung von Instrumenten der direkten Demokratie auf Bundesebene oder den Ausbau von Partizipationsmöglichkeiten im Fachplanungsrecht (Stuttgart 21). Und er wird sich verstärkt Gedanken darüber machen müssen, ob die vor allem auf Wissensvermittlung und weniger auf charakterliche Bildung ausgerichtete Gestaltung des Schulunterrichts die Schüler den in der Bayerischen Verfassung niedergelegten obersten Bildungszielen wirklich näher bringt, zu denen u. a. die Achtung vor der religiösen Überzeugung (anderer) und der Würde des Menschen gehören, aber auch Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl, Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft und die Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne (Art. 131 Abs. 2 BV). Das ist im Übrigen auch eine Herausforderung für die Universität und macht eine Renaissance des Studium generale zum Desiderat. Hans Scholl ist mit den Worten gestorben „Es lebe die Freiheit“.33 Die Besinnung darauf, die Besinnung auf die Weiße Rose, auf das leuchtende Beispiel für den Mut zur Freiheit, das ihre Mitglieder im Frühjahr 1943 hier an der LMU gegeben haben, mag dazu beitragen, dass es in Deutschland nie wieder eines solchen Maßes an Mut bedarf, um Freiheit und Selbstbestimmung leben zu können. Dazu aber müssen wir alle, jeden Tag aufs Neue, die uns vom Grundgesetz verbürgten Freiheiten auch wahrnehmen, sie mit Leben füllen und dabei hin und wieder auch ein bisschen mutig sein.

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H. Scholl/S. Scholl (o. Fußn. 4), S. 143.

Der Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse Von Hans D. Jarass Die „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ bilden seit langem eine Figur des primären Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts, deren Anwendung manche Schwierigkeiten bereitet. Gleichzeitig betreffen sie interessante Grundsatzfragen: In der Sache geht es um das angemessene Verhältnis zwischen Markt und Staat und die Frage, wer die Verantwortung für gemeinwohlorientierte Leistungen zu tragen hat und auf welche Weise das geschehen soll.1 Nunmehr ist diesen Dienstleistungen in der „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ (GRCh), die gem. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV zum 1. Dezember 2009 im Rang des primären EU-Rechts verbindlich geworden ist, in Art. 36 GRCh eine neue Vorschrift gewidmet. Ihrer Bedeutung soll im Folgenden nachgegangen werden, auch in der Hoffnung, dem Jubilar damit eine Freude zu machen, hat er doch ähnliche Fragestellungen mehrfach behandelt.2 I. Grundlagen, Bedeutung, Abgrenzung 1. Grundlagen und Bedeutung der Gewährleistung Auslegung und Anwendung der Vorschrift des Art. 36 GRCh müssen von Anfang an in den Blick nehmen, dass sich in Art. 14 AEUV eine ähnliche Vorschrift findet.3 Zwar dürfte die „Harmonisierungsvorschrift“ des Art. 52 Abs. 2 GRCh auf das Verhältnis dieser beiden Regelungen nicht anwendbar sein, da Art. 16 AEUV kein (subjektives) Recht enthält.4 Doch wurde in den vom Präsidium des Konvents erlassenen 1 W. Pöcherstorfer, Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse, in: Grabenwarter/Pöcherstorfer/Rosenmayr-Klemenz (Hrsg.), Die Grundrechte des Wirtschaftslebens nach dem Vertrag von Lissabon, 2012, S. 123. 2 Etwa H.-J. Papier, Die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Dienste der kommunalen Daseinsvorsorge aus nationalstaatlicher und europäischer Sicht, BWGZ 2002, 862; H.-J. Papier, Kommunale Aufgabenerfüllung im Lichte der europäischen Integration, BWGZ 2005, 293. Die folgenden Überlegungen stützen sich in Teilen auf meine Kommentierung in: H.-D. Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2010. 3 Für den Wettbewerbsbereich enthält Art. 106 Abs. 2 AEUV eine weitere Regelung; zu dieser Vorschrift unten V. 2. a). 4 Vgl. T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 52 GRCh Rdnr. 8 f.

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Charta-Erläuterungen, die gem. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 EUV und gem. Art. 52 Abs. 7 GRCh bei der Auslegung der Charta zu berücksichtigen sind, festgehalten, dass die Vorschrift des Art. 36 GRCh „vollauf im Einklang“ mit der Regelung des Art. 14 AEUV (früher Art. 16 EGV) steht.5 Zudem ist für die Auslegung bedeutsam, dass Art. 14 AEUV durch das dem Vertrag von Lissabon beigefügte Protokoll Nr. 26 über Dienste von allgemeinem Interesse ergänzt wird;6 das Protokoll ist gem. Art. 51 EUV Teil des Vertrags. Dagegen findet sich eine Art. 36 GRCh entsprechende Bestimmung weder im Recht der Mitgliedstaaten noch in der Europäischen Menschenrechtskonvention.7 Die Gewährleistung des Art. 36 GRCh bringt zusammen mit Art. 14 AEUV die Verantwortung des Staates für die Erbringung von Dienstleistungen mit besonderem Gemeinwohlbezug zum Ausdruck.8 Es geht um Dienstleistungen, die auch dann angeboten werden sollen, wenn der Markt nicht genügend Anreize liefert und daher die Sicherstellung der Dienstleistungen durch den Markt nicht oder nicht zuverlässig erreicht werden kann.9 Wie bei der Parallelregelung des Art. 14 AEUV geht es um eine Ergänzung bzw. ein Gegenstück zur Betonung des Wettbewerbs und des Marktprinzips im primären Recht,10 insbesondere in den Vorschriften zum Wettbewerbsrecht und zu den Grundfreiheiten. Es wird (mit deutlichen Modifikationen) Vorstellungen Rechnung getragen, wie sie in der französischen Figur des „service public industriel et commercial“ zum Ausdruck kommen. Mit dem Auftrag des Art. 36 GRCh soll der soziale und territoriale Zusammenhalt (Kohäsion) der Union gefördert werden, worauf Art. 14 S. 1 AEUV hinweist, um dadurch die Bindung des Bürgers an die Union zu stärken.11 Dies zielt vor allem auf die flächendeckende Sicherstellung der fraglichen Dienste und fügt sich in die Verankerung des „wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts“ in zahlreichen Normen des Primärrechts ein.12 Insgesamt macht Art. 36 GRCh zusammen mit Art. 14 AEUV die Sicherstellung der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse zu einem Ziel des Uni-

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Charta-Erläuterungen, ABl 2007 C 303/27. C. Jung, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 14 AEUV Rdnr. 14. 7 P. V. v.Vormizeele, in: Schwarze u. a. (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 36 GRCh Rdnr. 2; Pöcherstorfer (o. Fußn. 1) 132. 8 J.-C. Pielow, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Europ. Grundrechte-Charta, 2006, Art. 36 Rdnr. 24. 9 Europäische Kommission, ABl 2001 C 17/4 ff.; R. Klotz, in: v. d. Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Aufl. 2003/2004, Art. 16 EUV Rdnr. 13; Pöcherstorfer (o. Fußn. 1), S. 125. 10 C. Koenig/J. Paul, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 14 AEUV Rdnr. 1. 11 Vgl. Europäische Kommission, KOM (2000) 580 endg., Rdnr. 64; Pöcherstorfer (o. Fußn. 1), S. 141 f. 12 Vgl. Art. 3 Abs. 3 UAbs. 3 EUV, Art. 4 Abs. 2 lit. c AEUV, Art. 174 Abs. 1 AEUV, Art. 175 Abs. 2 AEUV und Art. 326 Abs. 2 AEUV. 6

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onsrechts.13 Der Funktion nach geht es um eine Teilhabegewährleistung;14 ein Teilhabeanspruch ergibt sich aus Art. 36 GRCh jedoch nicht.15 2. Abgrenzung zu Parallelregelungen der Charta Bestimmte Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse werden auch in anderen Vorschriften der Charta angesprochen. Für soziale Sicherungssysteme ist insoweit auf Art. 34 GRCh hinzuweisen, für Einrichtungen des Gesundheitsschutzes auf Art. 35 GRCh. Diese Vorschriften dürften der allgemeinen Regelung des Art. 36 GRCh vorgehen.16 Des Weiteren kommen im Hinblick auf den diskriminierungsfreien Zugang die Diskriminierungsverbote des Art. 21 GRCh und des Art. 23 GRCh sowie der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 20 GRCh zum Einsatz.17 Diese Rechte enthalten, anders als Art. 36 GRCh, echte subjektive Rechte, keine bloßen Grundsätze i. S. d. Art. 52 Abs. 5 GRCh. II. Einstufung als Recht oder Charta-Grundsatz 1. Zur Unterscheidung von Rechten und Grundsätzen Die Grundrechte-Charta enthält neben Grundrechten im engeren Sinn auch sog. Grundsätze, wie schon der Grundlagenregelung des Art. 6 Abs. 1 EUV zu entnehmen ist. Bereits im Grundrechte-Konvent, der im Jahre 2000 seine Arbeit abschloss, wurde die Unterscheidung von Rechten und Grundsätzen diskutiert, die ähnlich auch im französischen und spanischen Verfassungsrecht auftritt.18 Im Rahmen der Überarbeitung der Charta im Verfassungskonvent wurde die Unterscheidung durch die Regelung des Art. 52 Abs. 5 GRCh konkretisiert. Auf den grundsätzlichen Unterschied zwischen „Rechten“ und „Grundsätzen“ wird des Weiteren in den Charta-Erläuterungen hingewiesen, wobei die Rechte als „subjektive Rechte“ bezeichnet werden.19 Die Grundsätze enthalten einerseits bindendes Recht, da sich die Verpflichteten gem. Art. 51 Abs. 1 S.2 GRCh an sie zu „halten“ haben.20 Andererseits unterliegt ihre gerichtliche Geltendmachung erheblichen Einschränkungen. Die Grundsätze sind objektiv-rechtliche Vorgaben, die einerseits von den Verpflichteten verlangen, 13

Pöcherstorfer (o. Fußn. 1), S. 129; v. Vormizeele (oben Fußn. 7), Art. 36 GRCh Rdnr. 6. Dazu Jarass (o. Fußn. 2), Art. 51 Rdnr. 54. 15 Unten II. 2. a). 16 Pielow (o. Fußn. 8), Art. 36 Rdnr. 23. 17 E. Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2011, Art. 36 Rdnr. 13. 18 Dazu Grewe, Grundrechte in Frankreich im Rechtsvergleich, in : Papier/Merten (Hrsg.), Grundsatzfragen der Grundrechtsdogmatik, 2007, S. 1 (5 f.); C. Ladenburger, in: Tettinger/ Stern (Hrsg.), Europäische Grundrechtecharta, 2006, Art. 52 Rdnr. 85. 19 Charta-Erläuterungen, ABl 2007 C 303/35. 20 Dazu Jarass (o. Fußn. 2), Einl. 6; Kingreen (o. Fußn. 4), Art. 52 GRCh Rdnr. 14. 14

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nicht durch (aktive) Maßnahmen das fragliche Schutzgut unangemessen zu beeinträchtigen und sie andererseits dazu berechtigen (evtl. auch verpflichten), das Schutzgut durch den Erlass von Durchführungsmaßnahmen zu fördern.21 Darüber hinaus kennzeichnet die Grundsätze ihre besondere Umsetzungs- und Ausfüllungsbedürftigkeit.22 Anders als die Grundrechte im engeren Sinn, vermitteln die Grundsätze im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRCh keine subjektiven Rechte; solche Rechte können sich erst aus den Durchführungsakten ergeben.23 Die Grundsätze dürfen daher nicht mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts verwechselt werden, wie sie vom Europäischen Gerichtshof entwickelt wurden und die eine viel weitergehende Bedeutung besitzen.24 Um den Unterschied klarzustellen, könnte man die Grundsätze im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRCh als „Charta-Grundsätze“ bezeichnen. 2. Art. 36 GRCh als bloßer Charta-Grundsatz a) Grundsatzcharakter und fehlendes subjektives Recht Der Schutz des Zugangs zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse in Art. 36 GRCh enthält nach ganz h. A. nur einen Grundsatz i. S. d. Art. 52 Abs. 5 GRCh,25 trotz des Umstands, dass sich die Gewährleistung auf den „Zugang“ beschränkt, was für ein echtes Recht sprechen könnte. Die Einstufung als Grundsatz ist aber klar den Charta-Erläuterungen zu entnehmen. Auch spricht dafür, dass die Vorgaben des Art. 36 GRCh objektiv formuliert und für ein unmittelbar einklagbares Recht zu unbestimmt sind. Folglich ergibt sich aus der Gewährleistung kein subjektives Recht auf Zugang zu bestimmten Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse.26 Immerhin können Durchführungsakte subjektive Rechte verleihen.

21 Zur Frage der Verpflichtung zum Erlass von Durchführungsmaßnahmen im Bereich des Art. 36 GRCh unten V. 1. a). 22 A. Vitorino, La Charte des droits fondamenteux de l‘Union européenne, RDUE 2001, 45. 23 Kingreen (o. Fußn. 4), Art. 52 GRCh Rdnr. 13; M. Kober, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, 2009, S. 84 f.; a. A. für die Abwehrgehalte der Grundsätze H,-M. Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, 2010, S. 301 ff. 24 Dazu Jarass (o. Fußn. 2), Art. 52 Rdnr. 71. 25 Charta-Erläuterungen, ABl 2007 C 303/27; G. Schmittmann, Rechte und Grundsätze in der Grundrechte-Charta, 2007, S. 122 f.; Riedel (o. Fußn. 17), Art. 36 Rdnr. 8; Pielow (o. Fußn. 8), Art. 36 Rdnr. 19; Pöcherstorfer (o. Fußn. 1), S. 133; a. A. H. Krieger, in: Grote/ Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, 2006, Kap. 6 Rdnr. 95, 102. 26 Koenig/Paul (o. Fußn. 10), Art. 14 AEUV Rdnr. 22.

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b) Beschränkung des Rechtsschutzes Wegen des Charakters als Charta-Grundsatz unterliegt die gerichtliche Durchsetzung des Art. 36 GRCh nicht unerheblichen Beschränkungen.27 Die Vorschrift kann im Rahmen von Rechtsmitteln nicht eingesetzt werden, soweit es auf den subjektivrechtlichen Charakter der herangezogenen Normen ankommt, wie das bei der Klagebefugnis regelmäßig der Fall ist.28 Ausgeschlossen sind Klagen auf Erlass von Durchführungsakten, selbst wenn ihr Erlass geboten ist. Auch Schadensersatzansprüche bei Verletzung des Art. 36 GRCh können nicht entstehen, wenn und weil sie ein Recht voraussetzen.29 Erst recht ist eine unmittelbare Bindung Privater von vornherein ausgeschlossen.30 Ist aber ein Gerichtsverfahren auf anderer Grundlage eröffnet, dann ist ein Grundsatz zu berücksichtigen, wie das Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRCh andeutet. Dementsprechend kann im Rahmen einer Inzidentkontrolle die Vereinbarkeit von Rechtsvorschriften mit dem Grundsatz überprüft werden.31 Will ein Kläger eine Beeinträchtigung abwehren, steht meist ein Rechtsmittel zu Verfügung; daher hat die Einschränkung der gerichtlichen Kontrolle in der Abwehrsituation nur geringe Wirkungen. Bedeutung kommt ihr aber in der Leistungssituation, bei positiven Verpflichtungen zu. Dementsprechend wird in den Charta-Erläuterungen die gerichtliche Verwendung von Grundsätzen ausgeschlossen, wenn sie die Grundlage für „direkte Ansprüche auf Erlass positiver Maßnahmen“ bilden sollen.32 Wenn im Übrigen Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRCh eine gerichtliche Kontrolle nur zulässt, soweit es um die Auslegung und Rechtmäßigkeit von Durchführungsakten geht, dann ist bedeutsam, dass darunter nicht allein Akte zu verstehen sind, die den Zweck des betreffenden Grundsatzes, hier den des Art. 36 GRCh, fördern (sollen); es genügt, wenn der Akt den Schutzbereich des Grundsatzes wesentlich betrifft, auch wenn das Ziel des Grundsatzes eher beeinträchtigt statt gefördert wird.33 Schließlich können Durchführungsakte i. S. d. Art. 52 Abs. 5 GRCh auch bereits vor Inkrafttreten der Charta erlassene Rechtsakte sein.34

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Näher dazu Jarass (o. Fußn. 2), Art. 52 Rdnr. 80 – 82. Kingreen (o. Fußn. 4), Art. 52 GRCh Rdnr. 15; Kober (o. Fußn. 23), S. 91. 29 Kober (o. Fußn. 23), S. 84 f.; Ladenburger (o. Fußn. 18), Art. 52 GRCh Rdnr. 86. 30 Jarass (o. Fußn. 2), Art. 52 Rdnr. 80. 31 Dazu Jarass (o. Fußn. 2), Art. 52 Rdnr. 81. Dabei ist allerdings der noch zu erörternde Spielraum zu beachten, den Art. 36 GRCh belässt. 32 Charta-Erläuterungen, ABl 2007 C 303/35. 33 Ebenso K. Lenaerts/P. van Nuffel, Constitutional Law of the European Union, 2. Aufl. 2005, Rdnr. 17 – 086; Kober (o. Fußn. 23), S. 87; Sagmeister (o. Fußn. 23), 283 f.; W. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, 2009, Rdnr. 459; Schmittmann (o. Fußn. 25), S. 48 f. 34 Vgl. Sagmeister (o. Fußn. 23), S. 290. 28

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III. Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse und deren Niveau 1. Der Begriff der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse Der Terminus der „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ („services of general economic interest“/„services d‘intérêt économique général“) ist wie in Art. 14 AEUV (und Art. 106 Abs. 2 AEUV) zu verstehen. In Art. 14 AEUV ist allerdings von „Diensten“, nicht von „Dienstleistungen“ die Rede. Auch wird in Art. 14 AEUV ein doppelter Dativ benutzt, nicht aber in Art. 36 GRCh. Die Begriffe sind gleichwohl deckungsgleich,35 wie ein Vergleich mit den anderen Sprachfassungen belegt. So stimmen die Formulierungen sowohl in den französischen wie in den englischen Fassungen jeweils vollständig überein. Erfasst werden „marktbezogene Tätigkeiten, die im Interesse der Allgemeinheit erbracht und daher von den Mitgliedstaaten mit besonderen Gemeinwohlverpflichtungen verbunden werden“.36 Der Dienstleistungsbegriff ist somit weit zu verstehen und umfasst alle wirtschaftlichen Leistungen, auch die Lieferung von Sachleistungen bzw. von Produkten.37 Das allgemeine Interesse wird im Wesentlichen von den Mitgliedstaaten festgelegt38 und ist an den Gemeinwohlverpflichtungen zu erkennen, die vom Mitgliedstaat dem betreffenden Unternehmen auferlegt werden.39 Ein starkes Indiz für das notwendige Allgemeininteresse ist es, wenn auch unrentable Dienstleistungen erbracht werden müssen.40 Schließlich ist der Begriff des wirtschaftlichen Interesses ebenfalls weit zu verstehen; er deutet auf marktbezogene Tätigkeiten hin, die darin bestehen, „Güter oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt anzubieten“.41 Auf eine Gewinnerzielungsabsicht kommt es nicht an.42 Daher werden etwa auch öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten oder die staatliche Arbeitsvermittlung erfasst.43 Generell spielt es keine Rolle, ob die Einrichtungen vom Staat oder von Privatpersonen getragen werden.44 35

Pöcherstorfer (o. Fußn. 1), S. 135; Koenig/Paul (o. Fußn. 10), Art. 14 AEUV Rdnr. 27. Europäische Kommission, ABl 1996 C 281/3; 2001 C 17/4; Riedel (o. Fußn. 17), Art. 36 Rdnr. 10; T. Mann, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 34 Rdnr. 22. Die Definition mag angesichts des Wortlauts überraschen. Doch dürfte im Hintergrund die französische Figur des „Service public industriel et commercial“ stehen. 37 Pöcherstorfer (o. Fußn. 1), S. 135 f.; Jung (o. Fußn.6), Art. 86 AEUV Rdnr. 36; Mann (o. Fußn. 36), § 34 Rdnr. 21; vgl. Riedel (o. Fußn. 17), Art. 36 Rdnr. 11. 38 Jung (o. Fußn. 6), Art. 14 AEUV Rdnr. 12. 39 Pielow (o. Fußn. 8), Art. 36 Rdnr. 22. 40 EuGH, Rs.C-147/97 (Deutsche Post), Slg. 2000, I-825 Rdnr. 44; Pöcherstorfer (o. Fußn. 1), S. 136. 41 EuGH, Rs.C-309/99 (Wouters), Slg. 2002, I-1577, Rdnr. 47 f.; Pielow (o. Fußn. 8), Art. 36 Rdnr. 23. 42 EuGH, Rs.C-244/94 (Société Paternelle), Slg. 1995, I-4013, Rdnr. 21. 43 Vgl. Riedel (o. Fußn. 17), Art. 36 Rdnr. 11. 36

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Diese Begriffsmerkmale sind bedeutsam, obwohl die Entscheidung darüber, ob eine Tätigkeit als Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse erbracht werden soll, wie sich noch zeigen wird, weitgehend bei den Mitgliedstaaten liegt.45 Im Anwendungsfall ist aber zu klären, ob sich ein Mitgliedstaat tatsächlich für eine Dienstleistung i. S. d. Art. 36 GRCh bzw. des Art. 14 AEUV entschieden hat. Typischerweise sind solche Dienstleistungen in den Feldern der Infrastrukturwirtschaft anzutreffen, insbesondere in den Bereichen der Telekommunikation, der Energieversorgung, des Postwesens, in der Wasserversorgung und der Abfall- sowie Abwasserentsorgung, im öffentlichen Verkehrswesen und im Bereich des Rundfunks.46 2. Sicherung eines hohen Niveaus Die Vorschrift des Art. 36 GRCh enthält keine Angaben dazu, welches Niveau die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse haben sollen. Dazu finden sich aber Vorgaben im Protokoll Nr. 36 über Dienste von allgemeinem Interesse, das, wie dargelegt, auch im Bereich des Art. 26 GRCh zu beachten ist. Nach Art. 1 dieses Protokolls wird „ein hohes Niveau in Bezug auf Qualität, Sicherheit und Bezahlbarkeit, Gleichbehandlung und Förderung des universellen Zugangs und der Nutzerrechte“ bezweckt. Damit wird das Zielniveau durchaus anspruchsvoll umschrieben. IV. Anwendungsbereich und Begünstigte 1. Anwendungsbereich a) Verpflichtete Art. 51 Abs. 1 GRCh legt unter der Überschrift „Anwendungsbereich“ fest, wer durch die Grundrechte-Charta verpflichtet wird. Dies gilt auch für die Charta-Grundsätze, wie Satz 2 dieser Regelung ausdrücklich zu entnehmen ist. Art. 36 GRCh wendet sich daher zunächst an die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union sowie an die Union als Rechtsperson. Unsicher erscheint, ob auch die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, da Art. 36 GRCh allein von „Union“ spricht. Doch dürften damit auch die Mitgliedstaaten gemeint sein, soweit sie Unionsrecht durchführen.47 Das entspricht nicht nur den Vorgaben des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh, sondern auch der Regelung des Art. 14 AEUV, die ausdrücklich neben der Union die Mitgliedstaaten verpflichtet. Weiter ist Art. 36 GRCh bei der Auslegung des einschlägigen Sekundärrechts und (im Rahmen der Durchführung von Unionsrecht) des nationalen Rechts zu berücksichtigen. Privatpersonen werden, wie ange44

Pielow (o. Fußn. 8), Art. 36 Rdnr. 21. Unten IV. 1. b). 46 Pöcherstorfer (o. Fußn. 1), S. 125. 47 Ladenburger (o. Fußn. 18), Art. 51 Rdnr. 7, allgemein Jarass (o. Fußn. 2), Art. 52 Rdnr. 75. 45

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sprochen, generell nicht (unmittelbar) gebunden.48 Das gilt auch für private Unternehmen, die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse anbieten. Sie können allenfalls durch Regelungen des Sekundärrechts verpflichtet werden. b) Grenze der Zuständigkeiten und Kompetenzen Der Grundsatz des Art. 36 GRCh steht unter dem Vorbehalt der Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten, wie dies in Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRCh, in Art. 52 Abs. 2 GRCh und in Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUVallgemein für die Grundrechte und Grundsätze festgehalten wird.49 Zudem wird diese Grenze durch den Verweis auf Art. 4 EUV in der Parallelregelung des Art. 14 AEUV unterstrichen,50 der – wie dargelegt – im Rahmen der Gewährleistung des Art. 36 GRCh ebenfalls zum Tragen kommt. Das sichert insbesondere die Entscheidungsspielräume der Mitgliedstaaten bei der Entscheidung, ob und wieweit sie Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse als geboten ansehen.51 Dies betrifft auch die Ausgestaltung der Dienstleistungen.52 Unberührt bleiben allerdings die Vorgaben des (sonstigen) Unionsrechts. Solche Vorgaben finden sich etwa in den Sekundärrechtsakten, wie sie für die Bereiche der Telekommunikation, der Elektrizitätsversorgung und des Postwesens ergangen sind. Entsprechendes gilt für die Vorgaben zur öffentlichen Auftragsvergabe. 2. Begünstigte und individualnützige Aspekte Art. 36 GRCh enthält, wie dargelegt, kein subjektives Recht. Die Vorschrift sichert aber objektiv-rechtlich den Zugang zu den fraglichen Dienstleistungen. Sie kommt damit bestimmten Personen zugute, denen der Zugang zu den Dienstleistungen eröffnet wird. Diese Personen können als Begünstigte des Grundsatzes bezeichnet werden. Darunter fallen alle Personen, die die fraglichen Dienstleistungen in Anspruch nehmen oder in Anspruch nehmen wollen und damit den „Zugang“ nutzen. Nicht gemeint sind dagegen die Dienstleistungserbringer,53 was nicht ausschließt, dass sie sich bei Eingriffen auf die Regelung des Art. 36 GRCh berufen. Auf die Staatsangehörigkeit dürfte es nicht ankommen. Doch ist der territoriale Anwendungsbereich der Leistungsrechte zu beachten.54 Dieser Befund zeigt, dass die Gewährleistung des Art. 36 GRCh trotz des Umstandes, dass sie nur einen Charta-Grundsatz und kein subjektives Recht enthält, gewisse individualnützige Wirkungen entfaltet. Darüber hinaus ist anerkannt, dass der Ge48

Oben II. 2. b). Dazu Jarass (o. Fußn. 2), Art. 51 Rdnr. 7 – 9, 14. 50 Dazu Koenig/Paul (o. Fußn. 10), Art. 14 AEUV Rdnr. 4. 51 Vgl. EuG, Rs. T-289/03, Slg. 2008, II-81 Rdnr. 167. 52 So ausdrücklich Art. 1 Protokoll Nr. 26; ebenso Pöcherstorfer (o. Fußn. 1), S. 138. 53 Pielow (oben Fußn. 8), Art. 36 Rdnr. 24; Pöcherstorfer (o. Fußn. 1), S. 138. 54 Dazu Jarass (o. Fußn. 2), Art. 51 Rdnr. 28. 49

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setzgeber, der einen Grundsatz i. S. d. Art. 52 Abs. 5 S. 1 GRCh umsetzt, sehr wohl subjektive Rechte verleihen kann55. Speziell bei Art. 36 GRCh ist zudem zu erwägen, ob der Gesetzgeber, der Durchführungsvorschriften zu dieser Gewährleistung erlässt, subjektive Rechte zugunsten der Begünstigen des Art. 36 GRCh einräumen muss, weil die Vorschrift den „Zugang“ eröffnen soll. Dafür kann man auch anführen, dass die Zugangsformulierung nur in Art. 36 GRCh zu finden ist, nicht aber in Art. 16 AEUV. Die mittelbar subjektivrechtliche Bedeutung würde damit erklären, warum die Gewährleistung des Art. 36 GRCh neben der (herkömmlichen) Regelung des Art. 16 AEUV steht. Bei der Bestimmung der Reichweite der durch die Umsetzungsvorschriften verliehenen Rechte wird allerdings dem Gesetzgeber, wie generell bei Grundsätzen, ein erheblicher Spielraum zukommen. V. Beeinträchtigung, Abwägung, Begrenzung durch sonstiges Unionsrecht 1. Beeinträchtigung und Abwägung a) Beeinträchtigung durch Handeln und Unterlassen Der Grundsatz des Art. 36 GRCh wird beeinträchtigt, wenn die Verpflichteten, insb. Stellen der Union, den Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse behindern.56 Bei allen Maßnahmen, die sich negativ auf die betreffenden Dienste und die Erfüllung ihrer Aufgaben (vgl. Art. 14 S.1 AEUV) auswirken können, muss die Entscheidung des Art. 36 GRCh Berücksichtigung finden. Dies gilt insb. dann, wenn Maßnahmen der Union die von den Mitgliedstaaten geschaffenen oder geförderten Einrichtungen der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse behindern. Unsicher ist, ob die Verpflichteten (im Rahmen ihrer Zuständigkeiten) nicht nur ein Recht, sondern sogar ein Pflicht haben, den Zugang durch geeignete Durchführungsakte zu fördern.57 Der Wortlaut des Art. 36 GRCh („anerkennt“ und „achtet“) spricht eher dagegen,58 während der Wortlaut des Art. 14 AEUV („tragen … dafür Sorge“) in die umgekehrte Richtung zielt. Jedenfalls beschränkt sich eine solche Verpflichtung gem. Art. 14 S. 1 AEUV auf den Anwendungsbereich der Verträge, also des EU-Rechts, wie das auch Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh entspricht. Auch bleibt den Mitgliedstaaten überlassen, wieweit sie solche Einrichtungen schaffen oder fördern, solange nicht Durchführungsakte entsprechende Pflichten vorsehen.59 55

Jarass (o. Fußn. 2), Art. 52 Rdnr. 79. H.-W. Rengeling/P. Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004, § 29 Rdnr. 1029. 57 Dagegen Ladenburger (o. Fußn. 18), Art. 52 GRCh Rdnr. 100; Pielow (o. Fußn. 8), Art. 36 Rdnr. 30; dafür Mann (o. Fußn. 36), § 34 Rdnr. 26. 58 Pöcherstorfer (o. Fußn. 1), S. 140 f. 59 Oben IV. 1. b). 56

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b) Abwägung und Spielräume Die Vorgaben des Art. 36 GRCh werden dadurch relativiert, dass die Verpflichtung nur einen Grundsatz enthält.60 Das verleiht den Verpflichteten weite Spielräume bei der Ausgestaltung und Begrenzung.61 Darüber hinaus greift Art. 36 GRCh nur nach Maßgabe der „einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“, was als Ausgestaltungs- und Regelungsvorbehalt einzustufen sein dürfte und den Mitgliedstaaten zusätzliche Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet.62 Insgesamt verpflichtet Art. 36 GRCh zu einer Abwägung, in der die Vorgaben dieser Vorschrift berücksichtigt werden. 2. Begrenzung durch sonstiges Unionsrecht a) Begrenzung durch Primärrecht Vorschriften zur Konkretisierung des Art. 36 GRCh müssen nach der ausdrücklichen Vorgabe dieser Regelung „im Einklang mit den Verträgen“ stehen. Mit „Verträgen“ sind gem. Art. 18 GRCh der Vertrag über die Europäische Union und der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union gemeint. Das gilt auch bei anderen Grundsätzen. Im Bereich des Art. 36 GRCh hat das aber besonderes Gewicht, weshalb darauf ausdrücklich hingewiesen wurde. Bedeutung entfaltet der Vorbehalt insbesondere für die Vorgaben zu den Grundfreiheiten (des Binnenmarkts) und für die des Wettbewerbsrechts. In die gleiche Richtung zielt der Vorbehalt in Art. 14 S. 1 AEUV zugunsten der Regelung für die öffentlichen Unternehmen (Art. 106 AEUV) und der allgemeinen Beihilferegelung (Art. 107 AEUV) sowie der Beihilferegelung im Verkehrssektor (Art. 93 AEUV). Auf der anderen Seite bildet Art. 36 GRCh eine materielle Legitimation für Durchführungsakte,63 auch dann, wenn sie mit sonstigem Primärrecht in Konflikt treten.64 Unsicher ist, wie Kollisionen zwischen dem Auftrag des Art. 36 GRCh und den sonstigen Primärrechtsnormen aufzulösen sind. Für das Verhältnis zum Wettbewerbsrecht wird einerseits der Weg der praktischen Konkordanz vorgeschlagen,65 andererseits ein Regel-Ausnahme-Verhältnis angenommen.66 Für die zweite Auffassung spricht, dass insoweit die auf diesen Konflikt bezogenen Vorgaben des 60

Vgl. Jarass (o. Fußn. 2), Art. 52 Rdnr. 76, 78. Pielow (o. Fußn. 8), Art. 36 Rdnr. 26. 62 Näher dazu Jarass (o. Fußn. 2), Art. 52 Rdnr. 85 f. 63 Allgemein dazu Jarass (o. Fußn. 2), Art. 52 Rdnr. 78. 64 Vgl. Rengeling/Szczekalla (o. Fußn. 56), § 29 Rdnr. 1027; Pielow (o. Fußn. 8), Art. 36 Rdnr. 29. 65 So J. Schwarze, Daseinsvorsorge im Lichte des europäischen Wettbewerbsrechts, EuZW 2001, 334 (339). 66 A. Hatje, in: Schwarze u. a. (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 14 AEUV Rdnr. 3, 11; i. E. Koenig/Paul (o. Fußn. 10), Art. 14 AEUV Rdnr. 18. 61

Der Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse

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Art. 106 Abs. 2 AEUV zu beachten sind. Aus dieser Vorschrift ergibt sich ein grundsätzliches Regel-Ausnahme-Verhältnis zugunsten des Wettbewerbsrechts. Andererseits sind bei der Auslegung und Anwendung des Art. 106 Abs. 2 AEUV die Grundentscheidungen des Art. 14 AEUV und des Art. 36 GRCh zugunsten einer Sicherstellung der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse zu berücksichtigen.67 Dem wird es nicht gerecht, wenn Ausnahmen nur sehr restriktiv anerkannt werden. Ähnliches gilt für das Verhältnis des Art. 36 GRCh zu den Grundfreiheiten des Binnenmarkts, insbesondere zur Niederlassungs- und zur Dienstleistungsfreiheit. Einschränkungen der Grundfreiheiten bedürfen auch im Bereich der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse einer Rechtfertigung mit einer Prüfung der Verhältnismäßigkeit.68 Im Rahmen dieser Prüfung ist aber die Entscheidung des Art. 36 GRCh (und des Art. 14 AEUV) in Rechnung zu stellen. Für das Verhältnis zu Grundrechten gilt ganz Entsprechendes, weshalb in den Charta-Erläuterungen festgehalten wird, dass Art. 36 GRCh im Rahmen des Einschränkungsvorbehalts des Art. 52 Abs. 1 GRCh zum Tragen kommen kann.69 b) Begrenzung durch Sekundärrecht Der Hinweis auf die Einhaltung der Verträge erfasst auch die Einhaltung von Vorschriften des Unionsrechts, die aufgrund der Verträge erlassen wurden. Bedeutsam ist das insbesondere für die Regelungen des Sekundärrechts zu den Universaldienstleistungen in den Bereichen der Post und der Telekommunikation.70 VI. Ausblick Die praktische Reichweite des neuen Grundsatzes des Zugangs zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse in Art. 36 GRCh lässt sich gegenwärtig noch nicht abschätzen. Sie wird vor allem von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs abhängen, die sich bislang mit der Regelung noch nicht beschäftigt hat.71 Die Vorschrift unterstreicht aber erneut die Bedeutung, die das Unionsrecht diesen Dienstleistungen zuweist. Über die Parallelregelung des Art. 16 AEUV könnte vor allem der Umstand hinausgehen, dass die Vorschrift des Art. 36 GRCh zwar nicht selbst ein subjektives Recht vermittelt, dem Durchführungsgesetzgeber aber wohl den Auftrag zur Schaffung eines solchen Rechts erteilt. 67

v. Vormizeele (o. Fußn. 7), Art. 106 AEUV Rdnr. 54; W. Frenz, Konkretisierungsbedürftige Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse, GewArch 2011, 16 (17). 68 So zur Dienstleistungsfreiheit P.-C. Müller-Graff, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 56 AEUV Rdnr. 139. 69 Charta-Erläuterungen, ABl 2007 C 303/32. 70 Pöcherstorfer (o. Fußn. 1), S. 139. 71 Skeptisch hinsichtlich der praktischen Bedeutung Pöcherstorfer (o. Fußn. 1), S. 142.

Leistungsurteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte? Von Ferdinand Kirchhof I. Befugnis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Erlass von Feststellungsurteilen Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist mit der Überwachung der Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention beauftragt. Er erlässt dazu Urteile, die feststellen, dass die Verpflichtung der Konvention von einer der Hohen Vertragsparteien nicht eingehalten wurde. Während Art. 1 Menschenrechtskonvention allen Personen unter der Hoheitsgewalt der Vertragsparteien Menschenrechte und Grundfreiheiten zusichert und Art. 19 Menschenrechtskonvention dem Gerichtshof die Aufgabe erteilt, „die Einhaltung der Verpflichtungen sicherzustellen“, regeln die Art. 33 f., 39, 41 und 46 f. Menschenrechtskonvention sein Verfahren und den Inhalt seiner Urteile. Art. 39 Menschenrechtskonvention sieht eine gütliche Einigung der Parteien mit der Folge vor, dass der Gerichtshof die Rechtssache aus seinem Register streicht. Nach Art. 41 Menschenrechtskonvention kann der Gerichtshof im Fall einer Verletzung der Konvention der verletzten Partei „eine gerechte Entschädigung zusprechen“. Art. 46 Abs. 1 Menschenrechtskonvention verpflichtet die Vertragsparteien, „das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen“. Dieses ist nach Erlass dem Ministerkomitee zur Überwachung seiner Durchführung zuzuleiten. Art. 46 Abs. 3 – 5 Menschenrechtskonvention gibt diesem Ministerkomitee die Möglichkeit, bei unzureichender Befolgung des Urteils erneut den Gerichtshof anzurufen; jener kann daraufhin allerdings nur Feststellungen treffen, die den politischen Druck auf die säumige Vertragspartei erhöhen soll. Im Ergebnis ist der Gerichtshof demnach grundsätzlich nur befugt, Feststellungsurteile zu erlassen.1 Lediglich nach Art. 41 Menschenrechtskonvention wird ein Leistungsurteil möglich, in dem einer verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zugesprochen wird; es ist also auf einen ganz bestimmten Inhalt begrenzt. II. Der Übergang von Feststellungs- zu Leistungsurteilen Dennoch greift der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seit 2003 häufiger zu Urteilsformeln, in denen er neben der Feststellung einer Verletzung der Kon1 Z. B. Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, § 16 Rdnr. 3.

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vention zugleich dem prozessbeteiligten Staat konkrete Maßnahmen – meist unter Fristsetzung – vorschlägt, sie nahelegt oder verbindlich anordnet. Der Gerichtshof betont dabei zwar stets, dass seine Urteile grundsätzlich deklaratorischer Natur seien2 und es „in der Theorie“3 oder „im Prinzip“4 nicht seine Aufgabe wäre, die zur Beseitigung einer Konventionsverletzung erforderlichen Maßnahmen zu bestimmen, weil deren Auswahl im Ermessen des verurteilten Staates läge.5 Der Gerichtshof fährt aber dann häufig mit dem Hinweis fort, dass er im entschiedenen Fall ausnahmsweise6 konkrete Maßnahmen anordnen müsse. Damit geht er von Feststellungs- auf Leistungsurteile über, die neben Fristsetzungen auch legislative,7 administrative8 oder finanzielle9 Maßnahmen von prozessbeteiligten Vertragsparteien verlangen. So fordert er z. B. die Wiederaufnahme gerichtlicher Prozesse,10 die Änderung von Gesetzen,11 eine Einführung von Rechtsinstituten12 oder Entschädigungsansprüchen13 sowie Änderungen im Gefängniswesen.14 Er wählt seine Formulierung dabei zwar sehr vorsichtig, indem er angibt, der jeweiligen Vertragspartei bei Befol-

2 EGMR, Aleksanyan ./. Russland, Urteil vom 22. 12. 2008, Nr. 46468/06, Ziff. 238; EGMR, Assanidze ./. Georgien, Urteil vom 8. 4. 2004, Nr. 71503/01, Ziff. 202. 3 EGMR (Vierte Sektion), Driza ./. Albanien, Urteil vom 13. 11. 2007, Nr. 33771/02, Ziff. 125 („In theory“). 4 EGMR (Vierte Sektion), Karanovic´ ./. Bosnien-Herzegowina, Urteil vom 20. 11. 2007, Nr. 39462/03, Ziff. 29 („in principle“). 5 EGMR, Assanidze ./. Georgien, Urteil vom 8. 4. 2004, Nr. 71503/01, Ziff. 202; vgl. S. Hass, Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrecht: Charakter, Bindungswirkung und Durchsetzung, 2006, S. 183. 6 EGMR, Assanidze ./. Georgien, Urteil vom 8. 4. 2004, Nr. 71503/01, Ziff. 202 a. E.; EGMR (Fünfte Sektion), Kharchenko ./. Ukraine, Urteil vom 10. 2. 2011, Nr. 40107/02, Ziff. 97. 7 EGMR (Vierte Sektion), Manole u. a. ./. Moldavien, Urteil vom 17. 9. 2009, Nr. 13936/02, Ziff. 117; EGMR (Vierte Sektion), Eltari ./. Albanien, Urteil vom 8. 3. 2011, Nr. 16530/06, Ziff. 99. 8 EGMR (Vierte Sektion), Slawomir Musial ./. Polen, Urteil vom 20. 1. 2009, Nr. 28300/06, Ziff. 107; EGMR (Fünfte Sektion), Balitskiy ./. Ukraine, Urteil vom 3. 11. 2011, Nr. 12793/03, Ziff. 54. 9 EGMR (Vierte Sektion), Eltari ./. Albanien, Urteil vom 8. 3. 2011, Nr. 16530/06, Ziff. 99. 10 EGMR (Erste Sektion), Stoichkov ./. Bulgarien, Urteil vom 24. 3. 2005, Nr. 9808/02, Ziff. 81; EGMR, Maksimov ./. Aserbaidschan, Urteil vom 8. 10. 2009, Nr. 38228/05, Ziff. 46. 11 EGMR, Ürper u. a. ./. Türkei, Urteil vom 20. 10. 2009, Nr. 14526/07, 14747/07, 15022/ 07, 15737/07, 36137/07, 47245/07, 50371/07, 50372/07 und 54637/07, Ziff. 52. 12 EGMR (Vierte Sektion), Mutishev u. a. ./. Bulgarien, Urteil vom 28. 2. 2012, Nr. 18967/ 03, Ziff. 38. 13 EGMR (Zweite Sektion), Kostic´ ./. Serbien, Urteil vom 25. 11. 2008; Nr. 41760/04, Ziff. 79; EGMR, Papamichalopoulos u. a. ./. Griechenland, Urteil vom 31. 10. 1995, Nr. 14556/89, Ziff. 38. 14 EGMR (Vierte Sektion), Dybeku ./. Albanien, Urteil vom 18. 12. 2007, Nr. 41153/06, Ziff. 64.

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gung der Urteile durch Vorschläge und Anregungen zu assistieren,15 lässt aber in Wortlaut und Ergebnis keinen Zweifel, dass er ein Leistungsurteil ausspricht. III. Die Probleme von Leistungsurteilen Diese Entwicklung zum unmittelbaren Zugriff auf die nationalen Rechtsordnungen der Vertragsparteien erstaunt, denn sie haben sich in der Konvention lediglich gerichtlichen Feststellungen unterworfen. Zwar wurde die Konvention in den durch Leistungsurteil entschiedenen Fällen meistens schwerwiegend oder dauerhaft verletzt, indem z. B. die persönliche Freiheit Einzelner polizeilich oder strafgerichtlich für lange Zeit beschränkt16 oder eine irreversible Ausweisung vorbereitet wurde17. Die gerechte Empörung über die Konventionsverletzung in solchen Fällen befugt den Gerichtshof aber nicht zur Ausweitung seiner Zuständigkeiten; der gute Zweck heiligt eben nicht immer die Mittel. Auch die völkerrechtliche Ausgangssituation der Konvention sperrt sich gegen derartige Leistungsurteile. Die Entscheidungen des Gerichtshofs sollen zwar die Vertragsparteien binden; ein Eingriff in deren Souveränität durch Zugriff auf ihren Innenbereich und ihre nationale Rechtsordnung ist damit aber nicht gestattet. Ein Feststellungsurteil würde einer Vertragspartei lediglich eine allgemeine Pflicht auferlegen, die Konvention wieder einzuhalten, während Leistungsurteile bestimmte staatliche Stellen in Legislative, Exekutive und Jurisdiktion zu ganz bestimmten Handlungen zwingen. Raum für andere Lösungen wird damit nicht mehr gelassen. Der Gerichtshof begibt sich damit in gefährliche Nähe zur Kassation nationaler Hoheitsakte; er hebt sie mit solchen Leistungsurteilen zwar noch nicht selbst auf, verlangt aber ihre Rückgängigmachung. Sie werfen überdies die Frage nach der demokratischen Legitimation der Richter in Straßburg auf.18 Auch werden die Befugnisse des Ministerkomitees zu Überwachung der Durchführung der Urteile nach Art. 46 Abs. 2 – 5 Menschenrechtskonvention entwertet.19 Die Norm gibt zu erkennen, dass das Ministerkomitee mit politischen Mitteln die Befolgung von Urteilen des Gerichtshofs besorgen soll; mit einem Leistungsurteil reißt der Gerichtshof diese Aufgabe an sich und führt das Ministerkomitee auf eine bloße Beobachterfunktion zurück. Obwohl die jeweiligen konkreten Prozessfälle politisch einen weitergehenden Zugriff des Gerichtshofs auf nationale Rechtsordnungen nahelegen und der Gerichtshof 15

EGMR (Fünfte Sektion), Kharchenko ./. Ukraine, Urteil vom 10. 2. 2011, Nr. 40107/02, Ziff. 101; EGMR (Vierte Sektion), Driza ./. Albanien, Urteil vom 13. 11. 2007, Nr. 33771/02, Ziff. 126. 16 EGMR, Assanidze ./. Georgien, Urteil vom 8. 4. 2004, Nr. 71503/01. 17 EGMR (GK), M.S.S. ./. Belgien und Griechenland, Urteil vom 21. 1. 2011, Nr. 30696/09. 18 Vgl. M. Breuer, Zur Fortentwicklung der Piloturteilstechnik durch den EGMR, EuGRZ 2012, 1 (5). 19 M. Breuer, Zur Anordnung konkreter Abhilfemaßnahmen durch den EGMR. Der Gerichtshof betritt neue Wege im Fall Asanidse gegen Georgien, EuGRZ 2004, 257 (262); ders. (o. Fußn. 18), 6.

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selbst wohl überzeugt ist, hier einen Königsweg gefunden zu haben, dürfte er konventionsrechtlich einen Holzweg eingeschlagen haben. IV. Die gerichtliche Selbstermächtigung in Art. 61 VerfO Im Bewusstsein seiner konventionsrechtlich prekären Befugnisausstattung hat der Gerichtshof zur Selbsthilfe gegriffen und sich in seiner Verfahrensordnung mit einer Selbstermächtigung zum Leistungsurteil ausgestattet. In Art. 61 Abs. 3 VerfO hat er sich die Befugnis zugesprochen, in einem dort vorgesehenen „Piloturteil-Verfahren“ die „Art der Abhilfemaßnahmen, die der betroffene Vertragsstaat aufgrund des Urteilstenors auf innerstaatlicher Ebene zu treffen hat“ zu bezeichnen. Dass diese selbstbestimmte Verfahrensordnung dem Gerichtshof keine weiteren Befugnisse verleihen kann, als sie ihm die Menschenrechtskonvention selbst zugesteht, ist wegen seiner allein aus der Konvention abgeleiteten Satzungsbefugnis des Gerichtshofs offensichtlich.20 Derselbe Befund ergibt sich aus Art. 25 d) der Konvention, nach dem das Plenum des Gerichtshofs eine Verfahrensordnung beschließen kann. Verfahrensordnungen dürfen lediglich in ihrer Ermächtigungsgrundlage enthaltene Befugnisse detaillieren und anwendbar machen;21 von einer Befugnis zur Aufnahme weitergehender Urteilswirkungen in die Verfahrensordnung ist dort nicht die Rede. Das Gleiche ergibt sich aus den genannten Vorschriften der Art. 33 f. und 46 f. Menschenrechtskonvention, die den Gerichtshof allein zur Feststellung ermächtigen und die Überwachung der Durchführung seiner Urteile dem Ministerkomitee überantworten. V. Die Ansätze aus ungeschriebenem Recht Mangels positiver Befugnisnormen könnte eine gerichtliche Rechtsmacht zum Erlass von Leistungsurteilen also nur in ungeschriebenen Rechtsgrundlagen vorhanden sein, die sich aus der Menschenrechtskonvention selbst ergeben. Der Gerichtshof hat sie hingegen zuerst in zwei exzeptionellen Situationen, nämlich im Falle des „no real choice“22 sowie bei „systemischen oder strukturellen Problemen“23 der Konventionseinhaltung gesehen. Er hat aber nach Erprobung dieses Ansatzes der exzeptionellen Situationen seine Selbstermächtigung sogleich zum festen Tatbestand regelmäßiger Anwendbarkeit umgeformt.24 Mittlerweile ist er dazu übergegangen, die 20

Breuer (o. Fußn. 19), 259; Art. 19 ff. EMRK. Vgl. Art. 19 i. V. m. Art. 25 c) EMRK. 22 EGMR, Assanidze ./. Georgien, Urteil vom 8. 4. 2004, Nr. 71503/01, Ziff. 202 a. E. („does not leave any real choice“); EGMR (Vierte Sektion), Slawomir Musial ./. Polen, Urteil vom 20. 1. 2009, Nr. 28300/06, Ziff. 107 („does not leave any real choice“). 23 EGMR (Fünfte Sektion), Balitskiy ./. Ukraine, Urteil vom 3. 11. 2011, Nr. 12793/03, Ziff. 54 („the structural nature of the problem“); EGMR (Vierte Sektion), Boguslaw Krawcak ./. Polen, Urteil vom 31. 5. 2011, Nr. 24205/06, Ziff. 128 („structural problem“). 24 Vgl. Breuer, Urteilsfolgen bei strukturellen Problemen – Das erste „Piloturteil“ des EGMR. Anmerkungen zum Fall Broniowski gegen Polen, EuGRZ 2004, 445 (450). 21

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von ihm beanspruchte Befugnis zu Leistungsurteilen ohne die Voraussetzung von Sondersituationen unmittelbar auf die Art. 41 und 46 Menschenrechtskonvention zu stützen.25 1. Fälle des „no real choice“ In den Fällen des „no real choice“26 erkennt das Gericht, dass die Prüfung eines Sachverhaltes notwendig einen Vertragsstaat zur Vornahme einer einzigen, ganz bestimmten Handlung zwingt, um einen Konventionsverstoß zu beseitigen. Wenn das ansonsten bestehende Ermessen des Vertragsstaats zur Auswahl der die Konventionswidrigkeit beseitigenden Maßnahme auf Null reduziert ist, spricht der Gerichtshof selbst in seinem Urteil die Ermessensreduzierung an und nimmt in seinen Tenor eine Verpflichtung zur einzig möglichen, vom Vertragsstaat nach der Konvention geschuldeten Handlung auf. Das ist z. B. in Fällen geschehen, in denen eine Person vom Vertragsstaat rechtswidrig gefangen gehalten wurde27 und die konventionsgerechte Lösung ausschließlich darin bestand, ihn sofort freizulassen. Diese Methode scheint keine Probleme aufzuwerfen, denn der Gerichtshof nimmt in seine Urteilsformel nur einen Zusatz auf, der lediglich die für jeden erkennbare, zwingende Rechtsfolge seines Urteils bekräftigen würde. Diese Vorgehensweise ist aber nicht so harmlos, wie sie scheint, denn damit geht er vom Feststellungs- zum Leistungsurteil über und beansprucht materiell die abschließende Entscheidung, dass nur eine einzige bestimmte Handlung des Vertragsstaats die festgestellte Konventionsverletzung beseitigen könne. Überdies fragt man sich, warum der Gerichtshof in seine Urteilsformel überhaupt ein Leistungsgebot aufnimmt, das sich nach seiner Auffassung ohnedies schon zwingend aus der Feststellung der Konventionsverletzung und der daraus folgenden Pflicht des Vertragsstaates ihr abzuhelfen, ergeben würde. Warum muss der Gerichtshof solche Selbstverständlichkeiten, die nach seiner Ansicht klar auf der Hand liegen, nochmals in seine Urteilsformel aufnehmen? Es gibt weder einen rechtlichen Grund noch eine praktische Notwendigkeit, in solchen Fällen zu einem Leistungsurteil überzugehen. Außerdem sind derartige Fälle der Ermessensreduzierung auf Null wohl kaum noch als exzeptionelle Sondersituationen zu deklarieren, die als Ausnahmefälle den Gerichtshof zu einem Leistungsurteil befugen könnten. Es würde sich vielmehr um eine regelhafte Konsequenz für die Tenorierung in bestimmten Prozesssituationen handeln.

25 Vgl. EGMR-Fälle: Gatt ./. Malta, Urteil vom 27. 7. 2010, Nr. 28221/08, Ziff. 59; Kostic´ ./. Serbien, Urteil vom 25. 11. 2008; Nr. 41760/04, Ziff. 79; Abuyeva ./. Russland, Urteil vom 2. 12. 2010, Nr. 27065/05, Ziff. 243. 26 Siehe o. Fußn. 22. 27 EGMR, Assanidze ./. Georgien, Urteil vom 8. 4. 2004, Nr. 71503/01, Ziff. 203; EGMR (Zweite Sektion), Tehrani u. a. ./. Türkei, Urteil vom 13. 4. 2010, Nr. 32940/08, 41626/08, 43616/08, Ziff. 107.

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2. Situationen „struktureller und systemischer Probleme“ In der zweiten Fallgruppe „des strukturellen und systemischen Problems“28 mit der Einhaltung der Menschenrechtskonvention in einem Vertragsstaat sieht sich der Gerichtshof geradezu in einer Situation prozessrechtlicher Notwehr29 und geht aus diesem Grund zur Leistungsanordnung über. Solche Fälle hat er z. B. in grundlegenden rechtlichen oder tatsächlichen Mängeln nationaler Strafprozesse,30 in einer menschenunwürdigen Gefangenenunterbringung31 oder bei einer Diskriminierung von Bevölkerungsgruppen gesehen,32 in denen ein Vertragsstaat permanent bei der Einhaltung der Menschenrechtskonvention versagte. Solche Fälle geben aus praktischen Gründen in der Tat Anlass, grundsätzlich dadurch Remedur zu schaffen, dass der Gerichtshof allgemeine und generelle Maßnahmen von der Legislative oder anderen nationalen Stellen verlangt. Die Zweckmäßigkeit oder moralische Legitimation eines solchen Vorgehens berechtigen aber noch nicht zur Ausweitung seiner konventionsbegründeten Befugnisse. Der Gerichtshof hat den Anlass des „systemischen und strukturellen Problems“ zu einem „Piloturteil-Verfahren“ ausgebaut, sofern das Problem eine größere Anzahl von Personen oder anhängiger bzw. bekannt gewordener Fällen gleichen Zuschnitts betraf.33 Dann geht er in der Weise vor, die er mittlerweile in Art. 61 seiner Verfahrensordnung für sich selbst geregelt hat. Es stellt im jeweiligen Fall eine Konventionsverletzung fest und fordert unter Fristsetzung die dafür verantwortlichen nationalen Stellen dazu auf, ganz bestimmte Abhilfemaßnahmen durchzuführen; sie können in der Verpflichtung zu einer konkreten Maßnahme bestehen34 oder im Sinne rechtlich verbindlicher Leitlinien eine gewisse Richtung oder eine Bandbreite möglicher Handlungen zur künftigen Einhaltung der Konvention vorgeben.35 Oft verpflichtet der Gerichtshof einen Prozessbeteiligten zusätzlich, derartige Konventionsverstöße auch in anderen Fällen, die noch beim nationalen Gericht oder schon bei ihm selbst anhängig sind, in gleicher Weise zu beseitigen. Dann mu28

Art. 61 Abs. 3 VerfO; siehe auch o. Fußn. 23. Grabenwarter/Pabel (o. Fußn. 1), § 16 Rdnr. 7. 30 EGMR (Vierte Sektion), Boguslaw Krawczak ./. Polen, Urteil vom 31. 5. 2011, Nr. 24205/06, Ziff. 127. 31 EGMR (Fünfte Sektion), Balitskiy ./. Ukraine, Urteil vom 3. 11. 2011, Nr. 12793/03, Ziff. 51; EGMR (Fünfte Sektion), Kharchenko ./. Ukraine, Urteil vom 10. 2. 2011, Nr. 40107/ 02, Ziff. 97. 32 EGMR (Fünfte Sektion), Karanovic ./. Bosnien-Herzegowina, Urteil vom 20. 11. 2007, Nr. 39462/03, Ziff. 27. 33 EGMR, Broniowski ./. Polen, Urteil vom 22. 6. 2004, Nr. 31443/96, Ziff. 189; EGMR (Vierte Sektion), Hutten-Czapska ./. Polen, Nr. 35014/97, Ziff. 190. 34 Z. B. EGMR (Vierte Sektion), Delvina ./. Albanien, Urteil vom 8. 3. 2011, Nr. 49106/06, Ziff. 87; EGMR (Vierte Sektion), Gatt ./. Malta, Urteil vom 27. 7. 2010, Nr. 28221/08, Ziff. 59. 35 Z. B. EGMR (Zweite Sektion), Gülmez ./. Türkei, Urteil vom 20. 5. 2008, Nr. 16330/02, Ziff. 63; EGMR (Erste Sektion), Abbasov ./. Aserbaidschan, Urteil vom 17. 1. 2008, Nr. 24271/05, Ziff. 37, 41 f. 29

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tiert sein Urteil nicht nur von einer Feststellung zum Leistungsgebot, sondern greift zugleich über den konkreten Prozessanlass hinaus auf andere Fälle zu, obwohl er zu diesen überhaupt noch keine Tatsachenermittlungen oder rechtlichen Überlegungen angestellt hat. Das Urteil erhält dadurch eine begrenzte Allgemeinwirkung; es leidet aber zugleich daran, dass nicht mehr mit der erforderlichen Rechtssicherheit festzustellen ist, auf welche anderen Fälle das Urteil nach Meinung des Gerichtshofs anzuwenden ist, denn er benennt sie nicht im Einzelnen konkret sondern erfasst sie nur durch den allgemein formulierten Tatbestand einer im Prozessfall festgestellten Konventionsverletzung. VI. Die wechselnden Argumente für eine Befugniserweiterung Diese weitreichende Erweiterung seiner Befugnisse und deren rechtliche Kanalisierung als regelmäßiges Verfahren in Art. 61 VerfO bedürften einer entsprechend soliden und starken Rechtsgrundlage in der Menschenrechtskonvention. Mangels ausdrücklicher Ermächtigung gerät der Gerichtshof hier auch sofort in rechtliche Schwierigkeiten. Zu Anfang hat er deshalb die stillschweigende Befugniserweiterung ausschließlich, später als zusätzliche Begründung auf die Erwägung gestützt, seine Arbeitsbelastung erzwinge Pilotverfahren mit Wirkung für dritte, am jeweiligen Verfahren gar nicht beteiligte Beschwerdeführer.36 In Konsequenz dieser Erwägung ist er sodann dazu übergegangen, bereits bei ihm anhängige Verfahren befristet ohne weitere Bearbeitung zu vertagen37 oder erkennbar künftig auf ihn zukommende Individualbeschwerden mit dem Hinweis von vorneherein abzulehnen,38 dass der verklagte Vertragsstaat sie schon vorher im nationalen Innenbereich mit seinem Bordmitteln vorausschauend nach den Leitlinien des entschiedenen Pilotverfahrens lösen solle. Dass der Gerichtshof damit unter der Hand zum Gesetzgeber für eine Vielzahl anderer Fälle wird, ist offensichtlich, wird aber vom Gericht überhaupt nicht als Problem seiner demokratischen oder konventionsrechtlichen Legitimation thematisiert.39 Diese Ausweitung seiner Befugnisse mit der Begründung auf seine eigene prekäre Verfahrenssituation – er schiebt zur Zeit etwa 144.000 ungelöste Beschwerdefälle vor sich her,40 fordert aber zugleich von den Vertragsstaaten die Einführung von Verzögerungsbeschwerden wegen zeitlich viel kürzer bemessener, nach seiner Auffas-

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Breuer (o. Fußn. 18), 5. EGMR (Erste Sektion), Burdov ./. Russland (Nr. 2), Urteil vom 17. 1. 2009, Nr. 33509/ 04, Ziff. 143. 38 EGMR (Dritte Sektion), Lukenda ./. Slowenien, Urteil vom 6. 10. 2005, Nr. 23032/02, Ziff. 98. 39 Vgl. Breuer (o. Fußn. 18), 5 f. 40 EGMR-Statistik, Stand 30. 06. 2012, abrufbar unter: . 37

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sung aber schon überlanger Prozessdauer von Beschwerden41 – ist denkbar unglücklich. Interne Defizite in der Verfahrensbewältigung können ein Gericht niemals zur Befugniserweiterung nach außen ermächtigen sondern sind von ihm selbst mit Bordmitteln zu lösen. Der Gerichtshof erkennt das mittlerweile selbst und hat seine Begründung für die Pilotverfahren mehrfach umgestellt. Zuerst verweist er auf die – in der Praxis zweifellos vorhandene – Vielzahl von Personen, die von einer identischen Konventionsverletzung betroffen sind und denen rasch und effektiv geholfen werden müsse.42 Der prozessual geforderte, von allen anderen Gerichten eingeschlagene Weg wäre es aber, unter Hinweis auf eine erste Grundsatzentscheidung die anderen Folgefälle rasch mit einer identischen Klagebegründung unter Berücksichtigung eventuell abweichender Sachverhalte abzuarbeiten. Das würde auch hinsichtlich der Zahl der vom Gerichtshof entschiedenen Fälle Rechtssicherheit schaffen. Danach greift er zur weiteren Begründung seiner Befugniserweiterung auch zum Grundsatz der Subsidiarität der Individualbeschwerde:43 Unter Berufung auf dieses Rechtsinstitut möchte er nationalstaatlichen Abhilfemaßnahmen gegen Konventionsverletzung nicht vorgreifen und entscheidet auch künftig bei ihm eingehende Beschwerden im Grundsatz bereits in seinem Pilotverfahren-Urteil. Damit ändert er letztlich den Grundsatz der Subsidiarität materiell: Jener soll als Prozessvoraussetzung Individualbeschwerden solange verhindern, als noch gegen eine Konventionsverletzung ein nationales Rechtsmittel eingelegt werden kann;44 er soll aber nicht dazu berechtigen, künftige Anträge im Voraus abzuwehren. Mit dieser Technik eines verfehlten Einsatzes des Subsidiaritätsgrundsatzes verweigert der Gerichtshof letztlich den einem Pilotverfahren-Urteil nachfolgenden Anträgen identischer Konventionsverletzung den individuellen Rechtsschutz.45 Mittlerweile stützt der Gerichtshof diese Piloturteil-Verfahren auf die Erwägung, dass er ein effektives Funktionieren der Menschenrechtskonvention gewährleisten müsse.46 Den Beleg, dass ein solcher Schutz statt durch Entscheidungen aller anhängigen Verfahren im Einzelfall nur durch ein Pilotverfahren-Urteil mit einer grundsätzlichen Aussage unklarer Breitenwirkung gegeben werden könne, bleibt er aber schuldig. Letztlich entledigt sich der Gerichtshof damit der bei Richtern immer unbeliebten individuellen Bewältigung von Massenverfahren. 41

EGMR (Dritte Sektion), Lukenda ./. Slowenien, Urteil vom 6. 10. 2005, Nr. 23032/02, Ziff. 91. 42 EGMR (Erste Sektion), Ananyev u. a. ./. Russland, Urteil vom 10. 1. 2012, Nr. 42525/07 und 60800/08, Ziff. 190. 43 EGMR (Erste Sektion), Burdov ./. Russland (Nr. 2), Urteil vom 15. 1. 2009, Nr. 33509/ 04, Ziff. 127; EGMR (Vierte Sektion), Driza ./. Albanien, Urteil vom 13. 11. 2007, Nr. 33771/ 02, Ziff. 123 a. E. 44 Grabenwarter/Pabel (o. Fußn. 1), § 13 Rdnr. 22. 45 Breuer (o. Fußn. 18), 7 f. 46 EGMR (Erste Sektion), Ananyev u. a. ./. Russland, Urteil vom 10. 1. 2012, Nr. 42525/07 und 60800/08, Ziff. 182.

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Im Gesamten betrachtet zeigt das mehrfache Auswechseln dieser Erwägungen und deren teilweise gleichzeitige Anwendung in den Pilotverfahren-Urteilen, dass die Befugniserweiterung auf Sand gebaut ist. Dem Gerichtshof ist zuzugeben, dass strukturelle und systemische Probleme einer raschen und effektiven Lösung bedürfen, weil sie dauerhaft eine Vielzahl von Personen betreffen und geradezu eine Attacke auf die grundsätzliche Geltung der Europäischen Menschenrechtskonvention bilden. Andererseits liegt aber ebenso auf der Hand, dass allgemeine Probleme einer normativen Lösung durch die dazu demokratisch legitimierte, nationale Gesetzgebung bedürfen und der Gerichtshof nach der Konvention dazu nur Anstöße im jeweiligen konkreten Fall geben darf; dabei bleibt es ihm unbenommen, gleichzeitig in einer Vielzahl von Beschwerdefällen mit einer leitsatzmäßigen, identischen Begründung zu entscheiden und auf diese Weise auf die systemische Problematik aufmerksam zu machen. Selbst wenn – wie Kreise des Gerichts als zusätzliche Begründung mündlich anführen – manche Staaten sogar um eine grundsätzliche Aussage des Gerichts zur generellen Bewältigung ihrer nationalen Probleme mit Konventionsvorschriften gebeten haben sollten, und der Gerichtshof deswegen in seinen Urteilen häufig davon spricht, dass er der Vertragspartei nur assistierende Hilfe47 leisten wolle, wäre das durch eine Grundsatzentscheidung im ersten Individualbeschwerdeverfahren und einer schnellen individuellen Bewältigung der Folgeverfahren möglich; dass allein die Bitte eines Vertragsstaats um Hilfe das Gericht nicht zur Erweiterung seiner Urteilsbefugnisse ermächtigen kann, ist offensichtlich. Auch begründet es bereits einen Widerspruch in sich, ein mittlerweile regelmäßig angewandtes und in Art. 61 VerfO als allgemeines Prozessinstitut vom Gerichtshof ausgeformtes Pilotverfahren jeweils als „Ausnahmefall“ zu etikettieren,48 nur um die vom Konventionsrecht als Regel geforderte Formel von der „grundsätzlich deklaratorischen Natur“ der Urteile aufrechterhalten zu können. VII. Der Übergang zum Leistungsurteil als Regelfall Die Fälle der „Piloturteil-Verfahren“ und der „no real choice“-Situationen erfassen tatbestandlich deutlich konturierte Sachverhalte und Individualbeschwerden. In einer Zahl von anderen vom Gericht als „Ausnahmefälle“ apostrophierten Individualbeschwerden geht das Gericht mittlerweile gar nicht mehr von einer Sondersituation aus, sondern stützt seine Leistungsurteile auf die allgemeine Pflicht zur Befolgung der Konvention aus Art. 1 und 19 Menschenrechtskonvention49 sowie auf seine 47 EGMR (Fünfte Sektion), Kharchenko ./. Ukraine, Urteil vom 10. 2. 2011, Nr. 40107/02, Ziff. 101; EGMR (Zweite Sektion), Gülmez ./. Türkei, Urteil vom 20. 5. 2008, Nr. 16330/02, Ziff. 62. 48 EGMR (Erste Sektion), Abbasov ./. Aserbaidschan, Urteil vom 17. 1. 2008, Nr. 24271/ 05, Ziff. 37. 49 EGMR, Broniowski ./. Polen, Urteil vom 22. 6. 2004, Nr. 31443/96, Ziff. 189.

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Urteilsbefugnisse in den Art. 41 und 46 Menschenrechtskonvention.50 Die Einführung des Pilotverfahrens bewegt ihn also, auch in anderen Fällen zu Leistungsurteilen von allgemeiner Breitenwirkung zu greifen, obwohl dort die Begründung mit der Sondersituation gar nicht mehr greift. Die neuen Rechtfertigungsansätze halten einer genauen Prüfung nicht stand. Eine allgemeine Pflicht zur Befolgung der Menschenrechtskonvention besteht ohne Zweifel. Angesichts eines in der Konvention deutlich auf das Verfahren der „Individualbeschwerde“ (sic!) festgelegten Gerichts51 und seiner dort auf Feststellungsurteile beschränkten Befugnis kann diese allgemeine Befolgungspflicht als ein materielles Recht keine prozessualen Befugnisse des Gerichts erweitern. Zudem ergibt sich für die Vertragsstaaten die Befolgungspflicht im jeweiligen konkreten Fall; dieser führte auch zur Individualbeschwerde. Daraus lässt sich aber keine Leistungsanordnung oder sogar eine Aufforderung zur Beseitigung systemischer und struktureller Probleme ableiten, die der nationalen Legislative verbindliche Vorschriften zur Gestaltung ihrer Rechtsordnung macht. Allgemeine Gesichtspunkte der Effektivität52 oder der Geschwindigkeit der Durchführung der Konvention können allenfalls Auslegungshilfen für die Normen ihres Prozessrechts liefern. Zur Begründung eigenständiger Befugnisse sind sie nicht einsetzbar. Auch die Lehre von den „implied powers“53 hilft hier nicht weiter. Zum Einen enthalten sie den klassischen strukturellen Fehlschluss von einer Aufgabe auf eine Befugnis.54 Sie würden zum Anderen allenfalls für das Konventionsorgan Europarat gelten, aber nicht für seine Unterorganisation, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.55 Drittens reicht für eine derartig umfassende Selbstermächtigung ein knapper Hinweis auf diese Argumentationsfigur nicht aus; sie könnte wohl auch nur bei unausweichlichem Zwang und einer Lücke im Konventionsrecht Bestand haben.56 Der Gerichtshof stützt seine von ihm selbst erweiterte Befugnis auch auf Art. 41 Menschenrechtskonvention. Mit der Überlegung, dass die Vorschrift eine „restitutio in integrum“ vorsehe, die bei Konventionsverletzungen allein durch Änderung nationaler Vorschriften oder sonstigen Staatshandelns beseitigt werden könne, rechtfertigt

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EGMR, Gatt ./. Malta, Urteil vom 27. 7. 2010, Nr. 28221/08; EGMR (Dritte Sektion), Görgülü ./. Deutschland, Urteil vom 26. 2. 2004, Nr. 74969/01, Ziff. 64. 51 Art. 34 EMRK; vgl. auch Grabenwarter/Pabel (o. Fußn. 1), § 9 Rdnr. 1. 52 EGMR, Broniowski ./. Polen, Urteil vom 22. 6. 2004, Nr. 31443/96, Ziff. 193; EGMR (Vierte Sektion), Dimitrov und Hamanov ./. Bulgarien, Urteil vom 10. 5. 2011, Nr. 48059/06 und 2708/09, Ziff. 116. 53 Hass (o. Fußn. 5), S. 200. 54 Hass (o. Fußn. 5), S. 204. 55 Hass (o. Fußn. 5), S. 201 f. 56 A. M. Hass (o. Fußn. 5), S. 202.

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er den Übergang zu Leistungsurteilen.57 Dieser Gedanke eines Schadensersatzes durch Wiederherstellung des status quo trifft im Grundsatz zu. Er kann aber nicht auf Art. 41 Menschenrechtskonvention angewendet werden. Sein Wortlaut ermächtigt den Gerichtshof nämlich gar nicht zur Anordnung einer Wiedergutmachung; sie ist dort nur tatbestandliche Voraussetzung, der verletzten Partei „eine gerechte Entschädigung“ zuzusprechen, wenn „eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung“ innerstaatlich nicht möglich ist. Überdies führt eine „Entschädigung“ im Gegensatz zum Schadensersatz stets nur zu einem angemessenen monetären Ausgleich,58 gerade nicht zur Wiederherstellung des status quo. Art. 41 Konvention ermächtigt den Gerichtshof zu Leistungsurteilen im Sinne der Begründung einer monetären Entschädigungspflicht, nicht aber zur Wiederherstellung eines konventionsgerechten Zustandes. Auch richtet sich Art. 41 Menschenrechtskonvention nur auf die Folgen einer historischen Konventionsverletzung statt auf die generelle und prophylaktische Vermeidung künftiger Verstöße. Wie bereits dargelegt, erbringt auch Art. 46 Abs. 1 und 2 Menschenrechtskonvention keine Befugnis zum Erlass von Leistungsurteilen.59 Die Vertragsparteien verpflichten sich, die Urteile des Gerichtshofs zu befolgen, ermächtigen ihn aber nicht, ein Leistungsgebot auszusprechen. Zudem überwacht das Ministerkomitee die Durchführung seiner Judikate, d. h. die Konsequenzen aus seinen Feststellungsurteilen sollen von einem anderen Konventionsorgan und allein politisch gezogen werden.60 VIII. Die Notwendigkeit konventions- und einzelfallgerechter Bescheidung in Feststellungsurteilen Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte bewegt sich also auf unsicherem Boden mit der Ausweitung seiner Tenorierungsbefugnisse auf Leistungsurteile, vor allem wo er sie noch mit allgemeiner Breitenwirkung versieht und an die nationalen Rechtsetzungsorgane richtet. Diese Ausweitung ist politisch-praktisch verständlich, weil der Gerichtshof Individualbeschwerdeführer rasch, voraussehbar und umfassend aus ihrer Rechtsnot befreien will. Damit lässt er sich zwar von sympathischen Zweckmäßigkeitserwägungen führen, kann sich aber nicht auf dogmatisch belastbare Ableitungen aus der Europäischen Menschenrechtskonvention stützen. Ein europäisches Vertragsgericht, das seine gesamten Befugnisse aus einer Konvention bezieht, kann sich nicht allgemein-praktischer Erwägungen bedienen, um sich – gleichsam wie Münchhausen in der bekannten Fabel – am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, auf diese Weise seine eigenen Rechtsgrundlagen erweitern 57 EGMR (K), Papamichalopoulos ./. Griechenland, Urteil vom 31. 10. 1995, Nr. 14556/89, Ziff. 34; EGMR (Dritte Sektion), Qufaj Co. SH.P.K. ./. Albanien, Urteil vom 18. 11. 2004, Nr. 54268/00, Ziff. 55. 58 EGMR (Erste Sektion), Burdov ./. Russland (Nr. 2), Urteil vom 15. 1. 2009, Nr. 33509/ 04, Ziff. 143. 59 Breuer (o. Fußn. 18), 2; Hass (o. Fußn. 5), S. 194. 60 Breuer (o. Fußn. 18), 5 f.

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und sich selbst in Art. 61 VerfO zu Leistungsurteilen ermächtigen. Der Gerichtshof sollte wieder zu seinen Vertragsgrundlagen, d. h. zu Feststellungsurteilen, zurückfinden. Diese könnten durchaus bei allgemeinen und systemischen Problemen in konzertierter Aktion in einem Grundsatzurteil über das erste Individualbeschwerdeverfahren und in einer nachfolgenden raschen Bearbeitung der Folgeverfahren bestehen, einer Arbeitsweise der sich alle anderen europäischen und nationalen Gerichte in diesen Situationen bedienen. Ein solches Vorgehen entspricht dem allgemein anerkannten Standard der Rechtsprechung, den Antrag jedes einzelnen Beschwerdeführers in einem gesonderten Verfahren unter Ermittlung des jeweiligen Sachverhalts und der daraus entspringenden Rechtsfolgen einzelfallgerecht zu bescheiden.

Kann Recht Naturkatastrophen verhindern? Von Michael Kloepfer * I. Einleitung Das Katastrophenrecht befasst sich sowohl mit technischen Katastrophen bzw. Störfällen wie mit Naturkatastrophen, wobei es Überschneidungen zwischen diesen Katastrophenarten gibt, wie in jüngster Zeit insbesondere wieder die Katastrophe in Fukushima im Jahre 2011 gezeigt hat. Weil sich hier übergreifende Prinzipien und Strukturen herauskristallisieren, kann das Recht der technischen Katastrophen heute als eigenständiges Rechtsgebiet begriffen werden. Das kann so vom Naturkatastrophenrecht (noch?) nicht behauptet werden, welches eher eine Untergliederung des Katastrophenrechts darstellt. Dabei wird hier als Naturkatastrophe der mögliche Großschadensfall aufgrund eines natürlichen Ereignisses verstanden, der nur von den Katastrophenschutzbehörden bewältigt werden kann. Die Betrachtung von Naturkatastrophen aus juristischer Perspektive befindet sich in der deutschen Rechtswissenschaft – trotz extremer Naturereignisse wie zuletzt etwa den Hochwasserkatastrophen in den Jahre 1997 bzw. 2002 – bisher eher in den Anfängen. Soweit ersichtlich, hat eine auf Naturkatastrophen konzentrierte Befassung der Rechtswissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland bislang kaum stattgefunden.1 Trotz der juristischen Beurteilung, die hier im Vordergrund stehen soll, gilt es zunächst, die politische Dimension von Naturkatastrophen ins Bewusstsein zu rufen. Auf den ersten Blick scheint es, dass Forderungen nach politischer Verantwortung für eingetretene Katastrophen bisher eher bei technischen Großunfällen (z. B. Reaktorstörfälle, Explosionen in Chemiefabriken) erhoben werden. Zunehmend wird aber * Meinen Mitarbeitern, Andreas Walus und Hrvoje Sˇantek, danke ich für ihre Unterstützung. 1 Anders stellt sich die Situation wohl in Österreich dar. Im August 2008 wurde dort ein „Handbuch Naturkatastrophenrecht“ veröffentlicht, das die Ergebnisse einer Pilotstudie am Institut für Umweltrecht der Johannes Kepler Universität Linz beinhaltet: Kerschner (Hrsg.), Handbuch Naturkatastrophenrecht – Vorsorge, Abwehr, Haftung und Versicherung bei Naturkatastrophen, Schriftenreihe Recht der Umwelt, Bd. 24, Wien 2008; in Österreich existiert auch eine umfassendere praxisorientierte Fachliteratur zur Beherrschung von Naturkatastrophen, vgl. Rudolf/Milkau, Naturgefahrenmanagement in Österreich – Vorsorge, Bewältigung, Information, Wien 2009.

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auch die Frage nach der politischen Verantwortung für Naturkatastrophen oder gemischte Katastrophen (Natur- und Technikkatastrophen) laut. Ein aktuelles Beispiel stellen die kaskadenhaften Katastrophenereignisse in Japan im März 2011 dar. Das Seebeben und der durch ihn ausgelöste Tsunami verursachten – neben zahlreichen anderen Schäden – einen nicht bzw. nur teilweise beherrschten GAU mit Kernschmelze im Kernkraftwerk Fukushima. Der Rücktritt des japanischen Ministerpräsidenten Naoto Kan erfolgte zwar nicht im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang, jedoch wurden schon sehr bald nach der Katastrophe Rufe nach politischen Konsequenzen in Japan artikuliert. Es ist anzunehmen, dass ein sofortiger Rücktritt Kan’s nur deshalb ausblieb, weil er im akuten Krisenmanagement unabkömmlich und die Nachteile seines Rücktritts daher weitaus schwerwiegender gewesen wären. Hinzu kam die Gefahr eines – gerade in Asien schwerwiegenden – Gesichtsverlusts. Die Gründe für Kan’s Rücktritt sind gewiss vielfältig, allerdings dürfte die Nuklearkatastrophe in Fukushima (bzw. das diesbezügliche Katastrophenmanagement) den Hauptgrund darstellen. Einzig aufgrund der eingetretenen Naturereignisse – Seebeben und Tsunami – wäre es aller Wahrscheinlichkeit nach in dem schon seit jeher von Erdbeben geplagten Japan nicht zu einer Regierungskrise gekommen. Nicht das natürliche Ereignis selbst hat politische Konsequenzen, sondern die aus dem Ereignis herrührenden katastrophalen Folgen für das Leben, die Gesundheit oder das Eigentum von Menschen und deren Bewältigung. Dabei tauchte dann die Frage nach dem Anteil menschlicher Mitverursachung bei Naturkatastrophen auf (z. B. die Errichtung von Gebäuden in überschwemmungsgefährdeten Gebieten oder das Unterlassen von Kontrollen oder fehlende Katastrophenwarnungen). Dies führte in Japan u. a. zur Diskussion darüber, ob der Staat alles getan hat, um die verheerenden Folgen des Tsunami zu verhindern oder doch zu verringern bzw. zu bewältigen. Das Beispiel Japan zeigt jedenfalls insgesamt die auch politische Sprengkraft von Naturkatastrophen, wobei die jeweiligen politischen Wirkungen dieser Katastrophe von Japan weltweit, insbesondere auch in Deutschland, zu spüren waren. M. a. W.: Katastrophen können eben nicht nur verheerende humanitäre, wirtschaftliche und soziale Folgen haben, sondern eben auch schwerwiegende politische Folgen. Große Katastrophen können gewiss auch zu Herrschaftsdelegitimierung und Herrschaftsgefährdung führen. II. Normierbarkeit von Naturkatastrophen Im Folgenden soll der Frage näher nachgegangen werden, inwieweit die Menschheit Naturkatastrophen einfach ausgeliefert ist oder ob sie zur Vermeidung von solchen Naturkatastrophen oder jedenfalls zur Begrenzung von einschlägigen Katastrophenfolgen imstande ist. 1. Grundsätzliches Angesichts der großen humanitären, aber auch wirtschaftlichen Bedeutung von Katastrophen und angesichts ihrer politischen Folgen für Individual- und Gemein-

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schaftsgüter aller Art stellt sich die Frage nach der Rolle des Rechts hierbei. Sind Naturkatastrophen rechtlich normierbar? Sind sie mit Mitteln des Rechts vermeidbar oder doch in ihren Wirkungen wenigstens verringerbar? Auf den ersten Blick scheint dies unmöglich, da Recht grundsätzlich nur menschliches Verhalten beeinflussen kann. Jenseits von Menschen (bzw. von juristischen Personen als menschlich geschaffenen Organisationen) kann es nach allgemeiner Auffassung keine Adressaten von Rechtsetzung, Rechtsausführung und Rechtsprechung geben. Jedenfalls können die „Natur“, die Vorsehung oder Gott nicht die Adressaten rechtlicher Gebote des Menschen sein. Die alte Sicht der Naturkatastrophen als „God’s acts“ oder „höhere Gewalt“ bestätigt diese Sicht. Insoweit ist der Einwirkungskreis normativer Entscheidungen des Rechts immanent auf Menschen bzw. menschliche Organisationen beschränkt. Dies bedeutet allerdings keineswegs, dass sich Naturkatastrophen als menschlich nicht gesteuertes Verhalten der rechtlichen Normierbarkeit gänzlich entziehen würden.2 Das Gegenteil ist der Fall. Naturkatastrophen stellen wie alle Arten von Katastrophen gerade auch soziale Phänomene dar. Nicht selten werden aus natürlich verursachten Großschäden schließlich wirtschaftliche oder politische Krisen. Aus wirtschaftlichen Krisen können umgekehrt auch schädliche Wirkungen von Katastrophen verursacht bzw. vergrößert werden, wenn z. B. aus ökonomischen Gründen notwendige Maßnahmen der Deichpflege unterbleiben. Erst im gesellschaftlichen Kontext gewinnt ein zunächst als Naturereignis zu kategorisierendes Geschehen die Eigenschaft, auf die Menschen derart schädlich einzuwirken, dass von einer Katastrophe gesprochen werden kann.3 Aus juristischer Perspektive tritt hier hinzu, dass Gefahren erst dann rechtlich als Katastrophen qualifiziert werden können, wenn sie – erstens – rechtlich relevante Schutzgüter (d. h. regelmäßig dem Menschen zugeordnete oder von ihm geschaffene Schutzgüter) in außerordentlichem Maße verletzen bzw. gefährden und wenn – zweitens – ihre Bekämpfung eine Modifizierung der Verwaltungsstruktur erforderlich macht.4 Angesichts dieser Konnexität von Naturereignissen und ihren zerstörerischen Wirkungen auf die menschliche Zivilisation ist der Begriff „Naturkatastrophe“ leicht irreführend. Er suggeriert, dass es sich bei Naturkatastrophen um Phänomene handelt, deren Ursachen einzig in der Natur liegen bzw. in der Vergangenheit – religiös aufgeladen – als „Gottesstrafen“ verstanden wurden. In seiner Uneingeschränktheit ist die Sicht der Naturkatastrophen als Vorgänge nur der Natur bzw. in der Natur aber nicht haltbar. Das Zusammenspiel von Mensch bzw. menschlicher Zivilisation steht dem entgegen. Aus einem natürlichen Ereignis wird letztlich nur dann eine Naturka2 So aber eine in der Soziologie anzutreffende Sichtweise, vgl. Clausen, Sind Katastrophen beherrschbar?, in: Kloepfer (Hrsg.), Katastrophenrecht: Grundlagen und Perspektiven, Bd. I, 2008, S. 15; Dombrowsky, Katastrophe und Katastrophenschutz, 1988, S. 98. 3 Vgl. Max Frisch, Der Mensch erscheint im Holozän, 1979, S. 103: „Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt; die Natur kennt keine Katastrophen.“ 4 Vgl. exemplarisch § 2 Abs. 3 S. 2 SächsBRKG.

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tastrophe, wenn es sich schädigend oder gefährdend auf die menschliche Zivilisation auswirkt. „Mother nature“ kann allein ein Naturereignis hervorrufen. Die schädigende Einwirkung dieses Geschehens auf die Menschheit und damit auch seine Qualität als eine Naturkatastrophe hängen stets maßgeblich von den Auswirkungen für die menschliche Zivilisation ab. Insoweit zeigt sich an dieser Stelle, dass durchaus Anknüpfungspunkte bestehen, an denen das Recht – wenn auch nur mittelbar über die Verhaltenssteuerung des Menschen – auf Naturkatastrophen bzw. auf deren Bewältigung einwirken kann. Dies gilt insbesondere für die Vermeidung bzw. Verminderung der schädigenden Wirkungen von natürlichen Ereignissen, z. B. durch das Vorschreiben erdbebensicherer Bautechniken oder das Verbot, Bauten in Überschwemmungsgebieten oder in der Nähe von Vulkanen zu errichten. Rechtliche Einwirkungsmöglichkeiten bei Naturkatastrophen sind sowohl auf präventiver als auch auf reagierender Ebene denkbar. Die rechtliche Einflussnahme auf Naturkatastrophen betrifft also insbesondere das – gleich noch näher zu beleuchtende – Gebiet der Katastrophenvermeidung, obwohl die zugrundeliegenden natürlichen Ereignisse sich als solche regelmäßig der rechtlichen Steuerung entziehen. Wesentlich deutlicher als bei Naturkatastrophen ist das Verhinderungspotential des Rechts freilich bei technischen Katastrophen, da Technik als menschliche Schöpfung auf menschliches Verhalten in Gestalt von Errichten und Betreiben von Anlagen usw. zurückgeht, das bekanntlich durch rechtliche Vorschriften (z. B. durch das technische Sicherheitsrecht) geregelt werden kann und geregelt wird.5 Da das Recht die menschlichen Beiträge zur Verursachung bzw. Vergrößerung von Naturgefahren (siehe die Diskussion zum Klimawandel) und die menschlichen Maßnahmen zur Prävention von Naturkatastrophen steuern kann, sind Naturkatastrophen jedenfalls partiell normierbar. Aber auch die Regelungen der Katastrophenabwehr (vor allem in den Landeskatastrophenschutzgesetzen) sind Anknüpfungspunkte des Rechts bei Katastrophen, seien diese nun technische Katastrophen oder Naturkatastrophen. Soweit beispielsweise die Landeskatastrophenschutzgesetze besondere Änderungen der Verwaltungsstrukturen (Bestimmung von Katastrophenschutzbehörden) im Katastrophenfall vorsehen, sind diese auch bei Naturkatastrophen anwendbar. 2. Technische Katastrophen und Naturkatastrophen Die Katastrophenschutzgesetze der Länder definieren Katastrophen regelmäßig unabhängig von ihren Ursachen. Demgegenüber liegt dem Grundgesetz die eher unmoderne und überholte Gegenüberstellung von Naturkatastrophen und Unglücksfällen zugrunde.6 Indem das Grundgesetz z. B. in Art. 35 Abs. 2 und 3 GG von „Natur-

5 Vgl. dazu Peine, Gerätesicherheitsrecht, in: Schulte (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, 2. Aufl. 2011, S. 405 ff. 6 Dazu und zum Folgenden Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, Rdnr. 17 ff.

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katastrophen“7 und „schweren Unglücksfällen“ spricht, reißt es die natürlichen und die technischen Katastrophen auseinander und übersieht, dass viele „Naturkatastrophen“ auch menschlich verursacht oder zumindest vom Menschen begrenzt werden können. Auch das Europäische Primärrecht (z. B. in Art. 21 Abs. 2 lit. g EUV) differenziert zwischen „Naturkatastrophen und vom Menschen verursachten Katastrophen“. Jedenfalls eine strikte Unterscheidung zwischen den von der „Natur“, dem Schicksal, der Vorsehung bzw. Gott verursachten Naturkatastrophen einerseits und den menschlich verursachten, d. h. den sog. „man-made“-Katastrophen andererseits ist wegen zahlreicher Überschneidungen indessen nicht bzw. nicht durchgängig haltbar, wie erneut insbesondere die Katastrophe von Fukushima zeigt. Im grundgesetzlichen Zusammenhang bleibt allerdings die Aufteilung zwischen Naturkatastrophen und (menschlich verursachten) Unglücksfällen letztlich ohne Konsequenzen, da an beide die gleichen Rechtsfolgen geknüpft werden. Gleichwohl soll einer undifferenzierten und hermetisch abgeschlossenen Unterscheidung zwischen Naturkatastrophen einerseits und von Menschenhand verursachten Katastrophen andererseits hier deutlich entgegengetreten werden. Denn in dieser unterscheidenden Gegenüberstellung ist auch stets die Gefahr begründet, dass die etwaige Mitverursachung des Menschen an Naturkatastrophen verschleiert oder zumindest doch stark relativiert wird. Wenn aber der Mensch eine Naturkatastrophe hätte verhindern oder zumindest effektiver bewältigen oder doch seine Folgen hätte verringern können, so ist kein Platz für Exkulpationen derart, dass das Schadensereignis seinen Ursprung in der Natur hat.8 Insgesamt steht einer Normierung menschlichen Verhaltens zur Vermeidung und Bekämpfung von Naturkatastrophen nichts entgegen, auch wenn die „Natur“ selbst natürlich nicht Normadressat sein kann. 3. Wissensprobleme Die eigentliche Schwierigkeit der rechtlichen Normierung von Naturkatastrophen liegt eher in dem begrenzten Wissen des Menschen um Eintritt, Ablauf, Wirkungen

7 Freilich enthält das Grundgesetz keine Legaldefinition von „Naturkatastrophen“. In der Kommentierung zu Art. 35 GG wird dieser Begriff oftmals unter Rückgriff auf den Katastrophenhilfe-Erlass der Bundeswehr umrissen, vgl. v. Danwitz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. II, 6. Aufl. 2010, Art. 35 Rdnr. 70: „Als Naturkatastrophen werden demzufolge unmittelbar drohende Gefahrenzustände oder Schädigungen von erheblichem Ausmaß angesehen, die durch Naturereignisse wie Erdbeben, Hochwasser, Eisgang, Unwetter, Wald- oder Großbrände durch Selbstentzündungen oder Blitze, Dürre oder Massenerkrankungen ausgelöst werden.“ 8 Exemplarisch genügt hier ein Blick auf Hurrikan Katrina, der im August 2005 insbesondere in der Golfküste enorme Schäden anrichtete. Durch den Sturm und seine Folgen kamen etwa 1.800 Menschen ums Leben. Der Sachschaden belief sich auf ca. 81 Milliarden US-Dollar, vgl. Wikipedia, Hurrikan Katrina.

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und Bekämpfungsmöglichkeiten von Naturkatastrophen.9 Hierin zeigt sich die Notwendigkeit, dass Wissenschaft und Verwaltung, aber gerade auch Private (etwa Betreiber von Hochrisikoanlagen) das Wissen mehren und verbreiten und damit dazu beitragen, Naturkatastrophen wirksam vorherzusehen und begegnen zu können. Dies ist auch die Grundvoraussetzung für die Normierbarkeit von Naturkatastrophen, denn rationales Recht setzt ein Mindestwissen über die Wirkzusammenhänge seines Regelungsgegenstandes voraus. Freilich stehen Wissenslücken oder nur begrenztes Wissen einer Normierung von Naturkatastrophen nicht per se entgegen, denn das Handeln des Gesetzgebers im Ungewissen auch außerhalb des Katastrophenrechts ist nichts Ungewöhnliches. Das Anlagenrecht im Umweltrecht ist ein markantes Beispiel hierfür. Das Problem des begrenzten Wissens um Katastrophen kann die Rechtsordnung jedenfalls teilweise durch unbestimmte Rechtsbegriffe einfangen. Das Naturkatastrophenrecht muss prospektiv, offen und unbestimmt sein, da detaillierte Regelungen ausgesprochen lückenanfällig sind und drohen, alsbald von der Wirklichkeit überspielt oder gar widerlegt zu werden. Rechtstechnisch lassen sich diese Anforderungen an das Naturkatastrophenrecht durch die Verwendung sog. unbestimmter Rechtsbegriffe sowie durch die Einräumung von Ermessen im Gesetzesvollzug erzielen. Die notwendige Offenheit des Rechts darf aber nicht zu seiner völligen Unbestimmtheit und zu normativer Richtungslosigkeit führen. 4. Ansatzpunkte für die Normierbarkeit von Naturkatastrophen Wie erwähnt, kann das Naturkatastrophenrecht überall dort ansetzen, wo menschliches Verhalten im Hinblick auf die Vermeidung und Bekämpfung von Naturkatastrophen bzw. bei der Begrenzung und Beseitigung von Katastrophenfolgen in Betracht kommt. Zur näheren Differenzierung sind im Kern vier Phasen des Katastrophenschutzes zu unterscheiden: Die Katastrophenvermeidung, die Katastrophenvorsorge, die (eigentliche) Katastrophenbekämpfung und die Katastrophennachsorge. In den Katastrophengesetzen der Länder stehen die Katastrophenbekämpfung (Katastrophenrecht i. e. S.) und deren Vorbereitung (Katastrophenvorsorge) im Vordergrund (also z. B. der Einsatz der Feuerwehr und die Vorbereitung dieses Einsatzes). Die optimale Form der rechtlichen Bewältigung von Katastrophen ist allerdings die bisher nur relativ wenig erörterte (vorgelagerte) Katastrophenvermeidung.

9 Vgl. Kloepfer, Rechtliche Grundprobleme des Katastrophenschutzes, in: Dolde/Sellner (Hrsg.), Verfassung – Umwelt – Wirtschaft, FS Sellner zum 75. Geburtstag, 2010, S. 397.

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III. Zur Vermeidung von Naturkatastrophen durch Recht 1. Grundsätzliches Die Katastrophenvermeidung sollte deshalb der Königsweg des Katastrophenrechts sein, weil eine vermiedene Katastrophe nicht bekämpft werden muss und letztlich auch die Einübung der Katastrophenbekämpfung erübrigt (also z. B. Katastrophenübungen). Bei wirksamer Katastrophenvermeidung gehen die Regelungen zur Katastrophenbekämpfung ins Leere. Bei Untersuchung der Vermeidung von Naturkatastrophen durch Recht ist von vornherein klarzustellen, dass sich eine Gleichstellung des Katastrophenbegriffs mit dem Begriff der „höheren Gewalt“ („God’s acts“ etc.) verbietet. Dieser Begriff verleitet auf den ersten Blick dazu, Katastrophen als unvermeidbare Geschehen zu kategorisieren. In der Tat hat die Rechtsfigur der „höheren Gewalt“ im Haftungsund Versicherungsrecht die Funktion, Haftungsbegrenzungen aufgrund des Eintritts eines außergewöhnlichen, unvermeidlichen Ereignisses zu begründen. Nach herrschender Ansicht ist höhere Gewalt „ein betriebsfremdes, von außen durch elementare Naturkräfte oder durch Handlungen dritter Personen herbeigeführtes Ereignis, das nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbar ist, mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch die äußerste nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht werden kann und auch nicht wegen seiner Häufigkeit in Kauf zu nehmen ist“10. Während bei technischen Katastrophen der Gedanke der Katastrophenvermeidung offenkundig einleuchtet (und z. B. ein Zentralthema des Umweltrechts oder des Atomrechts darstellt), scheint dies bei Naturkatastrophen – jedenfalls auf den ersten Blick – insoweit anders, als man der Natur Risikovermeidung oder auch nur Risikoverminderung nicht durch Rechtsgebote aufgeben kann. Was die Rechtsordnung erreichen kann, ist nicht der Ausschluss eines natürlichen Ereignisses (z. B. Erdbeben, Vulkanausbruch oder Starkregen), sondern die Verhinderung bzw. die Verringerung schädigender Wirkungen durch menschliches Verhalten, damit sich aus einem natürlichen Ereignis keine bzw. keine großen Schadensfolgen, d. h. keine Katastrophen entwickeln.

10 Vgl. Filthaut, Haftpflichtgesetz, Kommentar, 8. Aufl., 2010, § 2 Rdnr. 72: „Von außen kommende Ereignisse sind vor allem Naturgewalten, wie Feuersbrunst, Erdbeben, Sturm, Wolkenbruch und Blitzschlag. Auch menschliche Handlungen können von außen eingreifen und den Haftungsausschluss der höheren Gewalt begründen. Zu denken ist dabei insbesondere an einen Flugzeugabsturz oder an Attentate, Sabotageakte oder sonstige rechtswidrige Eingriffe, z. B. die Entfernung der Isolierung eines stromführenden Erdkabels in Diebstahlsabsicht (LG Hagen, best. d. OLG Hamm VersR 1951, 246 = ElWirtsch RB 1952, 58), das Absägen eines Strommastes als Protest gegen den Atomstrom (BGH, VersR 1988, 1150 = NJW 1988, 2733)“.

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2. Stufen der Naturkatastrophenvermeidung Im Öffentlichen Recht, insbesondere im Risiko- und Gefahrenabwehrrecht, gibt es zahlreiche Anknüpfungspunkte, an denen Maßnahmen des Menschen zur Naturkatastrophenprävention ansetzen können. Zu unterscheiden sind insbesondere zwei – nicht völlig trennscharf abgrenzbare – Stufen der Katastrophenprävention und zwar eine schadensverhindernde Primärstufe einerseits und eine primär schadensvermindernde Sekundärstufe andererseits. Die Primärstufe zielt auf die Verhinderung einer Naturkatastrophe ab, d. h. darauf, dass ein gefährliches natürliches Ereignis mit Großschadenspotential gar nicht erst eintritt. Die Verhinderung des Eintritts eines natürlichen Ereignisses lässt sich als Katastrophenprävention in Reinform bezeichnen, da sie aktiv den Katastrophenfall zu vermeiden versucht. Aufgrund ihrer frühzeitigen Einwirkung auf den Katastrophenzyklus, im Stadium vor der Entstehung einer Katastrophe, ist sie die wohl effektivste Form der Katastrophenprävention. Als Beispiel sei die vorzeitige Ableitung von Hochwasser genannt. Praktisch wichtiger ist der Ansatz, beim Eintritt gefährlicher natürlicher Ereignisse die Entstehung von Naturkatastrophen zu verhindern (z. B. durch Ansiedlungsverbote in Hochwassergebieten). Dadurch wird zwar nicht das Hochwasser, wohl aber etwa die Überschwemmung von Gebäuden verhindert. Die Sekundärstufe der Folgenverminderung soll den Schaden eines eingetretenen, d. h. nicht verhinderten natürlichen Ereignisses bzw. einer Naturkatastrophe durch die Existenz von technischen Schutzvorrichtungen vermindern. Im Mittelpunkt der Katastrophenprävention der Sekundärstufe steht daher die Begrenzung der durch das Naturereignis verursachten möglichen Schäden. Hierbei soll durch das (passive) Vorhalten von Schutzmechanismen der Schaden derart minimiert werden, dass das Schadensausmaß letztlich die Katastrophenschwelle nicht erreicht. Dabei kommen insbesondere technische Schutzbauten in Gestalt z. B. von Deichen und Lawinenwänden, aber z. B. auch Schutzwälder und Steinschlagverbauungen in Betracht. Zu denken ist auch an Maßnahmen des baulich-technischen Gebäudeschutzes z. B. mit Schutzvorkehrungen gegen Steinschläge, Stürme und Erdbeben. 3. Gesetzliche Regelungsansätze Im Sonderbereich des Naturkatastrophenrechts wird insbesondere mit Hilfe des Bau- und Raumordnungsrechts versucht, den Eintritt von Naturkatastrophen zu verhindern. Die Beachtung insbesondere von Hochwassern stellt etwa einen Planungsleitsatz des Bauplanungsrechts nach § 1 Abs. 6 Nr. 12 BauGB dar.11 Durch sie sollen Siedlungen und Wirtschaftsbetriebe räumlich so gesteuert werden, dass bereits im 11

Die Belange des Hochwasserschutzes sind demnach bei der Aufstellung von Bauleitplänen als gewichtige Belange einzubeziehen und nach § 1 Abs. 7 BauGB gegebenenfalls mit anderen öffentlichen oder privaten Belangen gegeneinander und miteinander abzuwägen. Vgl. dazu Battis/Krautzberger/Löhr (Hrsg.), Baugesetzbuch, Kommentar, 11. Aufl., 2009, § 1 Rdnr. 100 ff.

Kann Recht Naturkatastrophen verhindern?

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Voraus gefährliche oder gar katastrophale Situationen vermieden werden. Weitere Maßnahmen der Katastrophenvermeidung der 1. Stufe sind etwa Flussregulierungen und die Bereitstellung von Hochwasserretentionsflächen. Aktuell (am 30. 07. 2011) ist in das BauGB eine klimagerechte Stadtentwicklung als Leitsatz der Bauleitplanung aufgenommen worden. Durch diese in § 1 Abs. 5 BauGB eingeführte Vorgabe adaptiert das deutsche Recht die Bedürfnisse an den Klimaschutz zum einen und die Anpassung an den Klimawandel zum anderen. Die klimagerechte Stadtentwicklung gilt seitdem als Ziel der Bauleitplanung. Die Anpassung an den Klimawandel findet sich ebenfalls in § 2 Abs. 2 Nr. 6 ROG als Grundsatz der Raumordnung.12 4. Kompetenzprobleme Eine besondere Schwierigkeit des Katastrophenmanagements in der Bundesrepublik Deutschland – insbesondere der Katastrophenprävention und der Katastrophenabwehr – liegt aus juristischer Sicht vor allem darin, dass es sich dabei um zwei Regelungsmaterien handelt, die weitgehend unterschiedlichen Rechtssetzungs- und Verwaltungsebenen – nämlich einerseits des Bundes und andererseits der Länder – zugehören. Während die Katastrophenvermeidung zu einem beträchtlichen Teil unter die Rechtsetzungsgewalt des Bundes (mit Bundesrechtsvollzug durch die Länder, Art. 84 GG) fällt, liegen die Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen auf dem Gebiet der Katastrophenbekämpfung (Katastrophenschutz i. e. S.) bzw. der Katastrophenvorsorge (Einübung des Katastrophenschutzes) bei den Ländern. Zu diesem Zweck haben die Länder durchweg allgemeine oder auch spezifische (von ihnen selbst vollzogene) Katastrophenschutzgesetze erlassen und Katastrophenschutzbehörden eingerichtet. Diese Zuständigkeits- und Aufgabenzersplitterung ist im Bereich der Katastrophenbewältigung problematisch, da der Katastrophenschutz i. e. S., d. h. die Katastrophenabwehr auf Grundlage der Landeskatastrophenschutzgesetze, typischerweise erst beim Versagen der Katastrophenvermeidung einzugreifen hat,13 allerdings dabei aber über zu geringe kompetenzrechtliche Bezüge zur Regelung des Rechts der Katastrophenvermeidung besitzt. Derzeit existieren auf normativer Ebene praktisch kaum rechtliche Schnittstellen zwischen der Katastrophenvermeidung einer12

In § 2 Abs. 2 Nr. 6 ROG heißt es: „Der Raum ist in seiner Bedeutung für die Funktionsfähigkeit der Böden, des Wasserhaushalts, der Tier- und Pflanzenwelt sowie des Klimas einschließlich der jeweiligen Wechselwirkungen zu entwickeln, zu sichern oder, soweit erforderlich, möglich und angemessen, wiederherzustellen. […] Den räumlichen Erfordernissen des Klimaschutzes ist Rechnung zu tragen, sowohl durch Maßnahmen, die dem Klimawandel entgegenwirken, als auch durch solche, die der Anpassung an den Klimawandel dienen. Dabei sind die räumlichen Voraussetzungen für den Ausbau der erneuerbaren Energien, für eine sparsame Energienutzung sowie für den Erhalt und die Entwicklung natürlicher Senken für klimaschädliche Stoffe und für die Einlagerung dieser Stoffe zu schaffen.“ 13 So auch Trute, Katastrophenschutzrecht – Besichtigung eines verdrängten Rechtsgebiets, KritV 2005, 342 ff.

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seits und der Katastrophenbekämpfung bzw. Katastrophenvorsorge andererseits.14 Dies ist auch deshalb problematisch, weil die Katastrophenschutzbehörden bei Eintritt von Katastrophen auf die Expertise der Fachbehörden angewiesen sind, in deren Kompetenzbereich z. B. das Hochwassermanagement fällt. IV. Schlussfolgerungen Der kurze Einblick in das Naturkatastrophenrecht hat gezeigt, welchen Beitrag das Recht zum auch präventiven Naturkatastrophenmanagement leisten kann: Es kann im bestimmten Rahmen den Eintritt von Naturkatastrophen verhindern, aber auch die Eindämmung von Naturgewalten ermöglichen sowie die Reaktion des Menschen auf schädliche Naturereignisse steuern. Eine große Herausforderung liegt dabei in der Eigenschaft des Naturkatastrophenrechts als einer rechtlichen Querschnittsmaterie. Katastrophenrecht wie Katastrophenschutz und Katastrophenmanagement verlangen nach einem interdisziplinären, ressort- und fachübergreifenden Handeln aller Akteure. Dies ist eine Herausforderung, in der sich der Charakter des Katastrophenschutzes als einer gesamtstaatlichen und gesamtgesellschaftlichen Aufgabe widerspiegelt. Insgesamt kann nicht bestritten werden, dass es bei Naturkatastrophen viele Varianten der menschlichen Verantwortung gibt. An solche Verantwortungssituationen können Anforderungen an menschliches Verhalten gestellt werden. Daran können dann aber eben auch Rechtsnormen ansetzen. Fest steht jedenfalls, dass die Qualifizierung von Ereignissen als „Naturkatastrophen“ den Menschen, die Gesellschaft und den Staat nicht aus deren Verantwortung für solche Notsituationen entlässt. Dabei gibt es Verantwortlichkeiten des Menschen insbesondere im Hinblick auf die Vermeidung und Bekämpfung von Katastrophen sowie auch auf die Beseitigung von Katastrophenfolgen.

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Vgl. zu dieser Problematik auch schon Trute (o. Fußn. 13), 342 ff.

Unionsbürgerliche Kernrechte? Zur Zambrano-Rechtsprechung des EuGH Von Johannes Masing I. Einleitung: Die Vielfalt des Schutzes von Grundrechten und anderen fundamentalen Rechten in der Europäischen Union Der Grundrechtsschutz in Europa steht vor großen Herausforderungen. Die Problemlage hat sich dabei gegenüber früher umgedreht: In der frühen Phase der heutigen Europäischen Union, den damaligen Europäischen Gemeinschaften, lag das Problem in einem Grundrechtsvakuum: Die Gemeinschaftsorgane waren mit unmittelbarer Entscheidungsmacht und eigenen Hoheitsbefugnissen ausgestattet, für die sie unmittelbaren Vorrang vor nationalem Recht in Anspruch nahmen, ohne hierbei jedoch Beschränkungen durch Grundrechte oder gar einer Kontrolle anhand von Grundrechten zu unterliegen.1 Dieses Vakuum drohte deren Legitimität zu untergraben und führte zu einem Prüfungsvorbehalt nationaler Verfassungsgerichte gegenüber dem Unionsrecht,2 der die Autorität und die Eigenverantwortung des Gemeinschaftsrechts gefährden musste.3 Heute sind auf der Unionsebene durch zunächst die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und inzwischen das Inkrafttreten der Europäischen Grundrechtecharta Grundrechtsverbürgungen herangewachsen, die umgekehrt einen Überdruck im Verhältnis zwischen Unionsrecht und nationalem Recht hervorrufen: Für sie wird immer weitergehend ein Geltungsanspruch erhoben, der sich nicht mehr allein auf die grundrechtliche Unterlegung der auf europäischer Ebene getroffenen Entscheidungen beschränkt, sondern zunehmend auf alle auch nationalen Entscheidungsebenen im Gebiet der Europäischen Union ausgreift. Dies ge1 Siehe dazu T. von Danwitz, Aktuelle Entwicklungen im Grundrechtsschutz der Europäischen Union, in: Sachs/Siekmann (Hrsg.), Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat. Festschrift für Klaus Stern zum 80. Geburtstag, 2012, S. 669 (671 f.); siehe zur Entwicklung des Grundrechtsschutzes durch den Europäischen Gerichtshof: V. Skouris, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. VI/2, 2009, § 171, Rdnr. 3 – 22. 2 Vgl. für Deutschland BVerfGE 37, 271 (Solange I); in Frankreich: Conseil d’Etat (CE) Nr. 287110 Ass. 8. 2. 2007 (Arcelor), dazu F. Mayer/E. Lenski/M. Wendel, Der Vorrang des Europarechts in Frankreich, EuR 2008, 63; siehe ferner zur Rechtsprechung der Mitgliedstaaten F. Mayer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 19 EUV, Rdnr. 92 ff. 3 Dazu von Danwitz (o. Fußn. 1), S. 672 m. w. N.

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fährdet heute die Eigenständigkeit und Differenzierungskraft der verschiedenen Rechts- und Grundrechtstraditionen der Mitgliedstaaten. Im Zentrum dieses Spannungsfeldes steht die Frage nach dem sachlichen Anwendungsbereich der unionsrechtlichen Grundrechtsverbürgungen und damit dem Raum für die mitgliedstaatlichen Grundrechte und deren Kontrollmechanismen. Es stehen sich hier zwei Grundkonzepte gegenüber, ein zentralistisches und ein föderales: Das zentralistische Konzept zielt letztlich auf eine einheitlich-umfassende europäische Grundrechtsbindung aller Mitgliedstaaten und damit einen übergreifenden unionsrechtlichen Grundrechtsstatus, der allen einzelstaatlichen Grundrechtsverbürgungen vorgeht. Die mitgliedstaatlichen Grundrechte können dann nur noch in dem Rahmen, in dem dieser übergreifende Grundrechtsstatus Freiräume belässt, zur Anwendung kommen.4 Das föderale Konzept5 hingegen intendiert eine den verschiedenen Entscheidungsebenen folgende Schichtung von verschiedenartigen Grundrechtsbindungen. Es anerkennt ein Nebeneinander eines einerseits unionsrechtlichen und andererseits mitgliedstaatlichen Grundrechtsstatus, die im Verhältnis zueinander nicht hierarchisch geordnet sind, sondern – in ihrem Anwendungsbereich getrennt – in einem Ergänzungsverhältnis stehen.6 Die Frage, welche Auffassung sich durchsetzen wird, wird für das Gesicht der Europäischen Union ganz entscheidend sein. Diese Spannungslage, die nicht zu verwechseln ist mit der Frage des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts, ist noch wenig geklärt. Sie wird verdunkelt durch die wiederum anders gelagerten Fragen, die sich hinsichtlich des Nebeneinanders von Grundrechten und Europäischer Menschenrechtskonvention ergeben. Denn in der Menschenrechtskonvention liegt unbestritten die Gewährleistung eines übergreifenden Grundrechtsschutzes, der sich auf jede Art hoheitlicher Aufgabenwahrnehmung aller Konventionsstaaten – und damit auch aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union – erstreckt.7 Insoweit lässt sich in Bezug auf die Europäische Menschenrechtskonvention tatsächlich von einem europäisch übergreifenden, einheitlichen Grundrechtsstatus sprechen – und zwar insoweit bezogen sogar auf Europa im geographischen Sinne und damit Länder wie Russland, die Ukraine und die Türkei einschließend. Auf die Europäische Union selbst findet die EMRK dabei zwar formell (und

4 Für Nachweise zu dieser Ansicht vgl. Generalanwältin E. Sharpston, Schlussanträge v. 30. 9. 2010, EuGH, Rs. C-34/09 (Zambrano), Rdnr. 163 ff. 5 T. von Danwitz/K. Paraschas, A Fresh Start for the Charter – Fundamental Questions on the Application of the European Charter of Fundamental Rights, Fordham International Law Journal (FILJ) 2012, 1396 (1401); T. von Danwitz, Funktionsbedingungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, EuR 2008, 769 (783). 6 W. Frenz, Handbuch Europarecht, Band 4: Europäische Grundrechte, 2009, § 4, Rdnr. 131. 7 D. Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009, § 2, Rdnr. 4, 7.

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insbesondere die Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte) noch keine Anwendung. Aber ein solcher Beitritt ist in Vorbereitung.8 Mit der EMRK ist dem Ringen um das Verhältnis von unionsrechtlichem und mitgliedstaatlichem Grundrechtsschutz seine Bedeutung jedoch nicht genommen. Denn die Menschenrechtskonvention zielt anders als das Unionsrecht nicht auf eine einheitliche Rechtsanwendung. Ihre Aufgabe ist allein die Gewährleistung eines Mindestmaßes an Grundrechtsschutz.9 Sie versteht sich nicht als der den Grundrechtsschutz der Einzelstaaten überwölbende Schlussstein eines handlungsgeeinten Europas, beansprucht vom Grundsatz her auch nicht zwingend eine unmittelbare Anwendung und einen Vorrang als eigenständige Kodifikation, sondern will gewährleisten, dass die ganz verschiedenen Grundrechtsordnungen der im geographischen Europa gelegenen Staaten unbeschadet ihrer prinzipiellen Eigenständigkeit und Vielfalt in Anerkennung ihrer je eigenen geschichtlichen Erfahrungen und Akzente im Ergebnis ein menschenrechtliches Minimum nicht unterschreiten. Auch hier ergeben sich angesichts einer sich ausdifferenzierenden Rechtsprechung erhebliche Spannungen und muss um die Frage, was als Mindestschutz zu gelten hat, immer neu gerungen werden.10 Die Herausbildung eines einheitlichen Grundrechtsstatus auf Unionsebene aber, der nun Teil einer europäischen Rechtsordnung wäre, die von den europäischen Organen mit eigenen Hoheitsbefugnissen, unmittelbarer Durchgriffswirkung und dem Anspruch auf Vorrang zur Entfaltung gebracht wird, hätte demgegenüber eine eigene, ungleich weitergehende Bedeutung. In ihm läge eine Wirkung, die über diejenige der Menschenrechtskonvention weit hinausgehend auf die Eigenständigkeit der verschiedenen Rechtstraditionen tiefgreifende Auswirkungen hätte. Inhalt und Reichweite des Grundrechtsschutzes auf Unionsebene bestimmten sich früher nur nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu den „Allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts“.11 Als reines Richterrecht blieben die Aussagen insoweit insgesamt gesehen zunächst punktuell, griffen dabei im Einzelfall aber durchaus außerordentlich weit.12 Durch das Inkrafttreten der Europäi8 F. Schorkopf, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (o. Fußn. 2), Art. 6 EUV, Rdnr. 43, 49; W. Obwexer, Der Beitritt der EU zur EMRK. Rechtsgrundlagen, Rechtsfragen und Rechtsfolgen, EuR 2012, 115 (123 ff.). 9 Ehlers (o. Fußn. 7), § 2, Rdnr. 18. 10 Vgl. etwa die Auseinandersetzungen um Caroline (BVerfGE 101, 361; EGMR, NJW 2004, 2647 = AfP 2004, 348), Sicherungsverwahrung (BVerfGE 109, 133; BVerfGE 109, 190, dazu EGMR, NJW 2011, 3427) und das Kruzifix (BVerfGE 93, 1; EGMR, NVwZ 2011, 737 = EuGRZ 2011, 677); zu den Wirkungen der Urteile des EGMR in Deutschland C. Grabenwarter, Grundrechtsvielfalt und Grundrechtskonflikte im europäischen Mehrebenensystem – Wirkungen von EGMR-Urteilen und der Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten, EuGRZ 2011, 229 ff.; E. Pache, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsordnung, EuR 2004, 393 ff. 11 Vgl. hierzu nur EuGH, Rs. C-29/69 (Stauder), Slg. 1969, I-419. 12 Etwa die Entscheidungen EuGH, Rs. C-60/00 (Carpenter), Slg. 2002, I-6279; EuGH, Rs. C-465/00 (ORF), Slg. 2003, I-4989; EuGH, Rs. C-260/89 (ERT), Slg. 1991, I-2925; vgl. hierzu kritisch M. Ruffert, Die künftige Rolle des EuGH im europäischen Grundrechts-

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schen Grundrechtecharta wurde dann die Rechtsprechung auf eine kodifizierte, von den Vertragsstaaten ausdrücklich politisch gestaltete Rechtsgrundlage gestützt. Der europäische Grundrechtsschutz sollte so klarere Konturen erhalten.13 Dabei werden mit Art. 51 ff. EuGrCh auch Bestimmungen zur sachlichen Reichweite der Grundrechtecharta getroffen, die mit einer bewusst begrenzenden Formulierung eine Abschichtung zwischen unionsrechtlichem und mitgliedstaatlichem Grundrechtsschutz herzustellen sucht.14 Umso erstaunlicher ist es, dass der Europäische Gerichtshof nunmehr eine weitere Quelle von grundrechtsgleichen Verbürgungen aufgetan hat, die an der Grundrechtecharta und Art. 51 ff. EuGrCh vorbeiführt: die Unionsbürgerschaft.15 Zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts, zu den Rechten, Freiheiten und Grundsätzen der Grundrechtecharta sowie zu den gleichfalls als „Fundamentalrechte“ einzustufenden Grundfreiheiten tritt nun noch ein Kernbestand von Rechten, der sich aus der Unionsbürgerschaft ergeben soll: Die – kurz gesagt – unionsbürgerlichen Kernrechte. Die folgenden Überlegungen gelten allein der kritischen Würdigung dieser Rechtsprechung. Ich widme sie Hans-Jürgen Papier in Anknüpfung an viele gemeinsame Diskussionen in unserer Karlsruher Zeit. Der zunehmenden Bedeutung des Europarechts für die Entscheidungsfindung des Bundesverfassungsgerichts entsprach es, dass die Frage nach der richtigen Bauform Europas diese Diskussionen – innerhalb und außerhalb des Senats – als Ostinato durchzog. Als Vorsitzenden wie als privaten Gesprächspartner habe ich den Geehrten als unprätentiösen, lebendigen und humorvollen Richter und Wissenschaftler erlebt, dem es in bewundernswerter Gelassenheit gelang, auf sich verhärtende Fronten entspannend einzuwirken, Blockaden aufzulösen und zu pragmatischen Kompromissen zu führen. Diese Kunst braucht Europa auch – gut, dass Hans-Jürgen Papier sich in diese Fragen immer wieder einmischt.16 schutzsystem, EuGRZ 2004, 466 (470); U. Mager, Anmerkung, JZ 2003, 204; T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV, AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 51 GrCh, Rdnr. 7 – 17. 13 H. Jarass, in: ders. (Hrsg.), Charta der Grundrechte, 2010, Einl., Rdnr. 3. 14 T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (o. Fußn. 12), Art. 51 GrCh, Rdnr. 8; H. Jarass/S. Beljin, Die Bedeutung von Vorrang und Durchführung des EG-Rechts für die nationale Rechtsetzung und Rechtsanwendung, NVwZ 2004, 1 (6 ff.). 15 Vgl. als Ausgangspunkt Art. 20 AEUV; dazu S. Magiera, in: Streinz (Hrsg.), EUV/ AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 20 AEUV. 16 Vgl. H.-J. Papier, Die Einwirkungen des europäischen Gemeinschaftsrechts auf das nationale Verwaltungs- und Verfahrensrecht, in: Die Bedeutung der Europäischen Gemeinschaften für das deutsche Recht und die deutsche Gerichtsbarkeit. Seminar zum 75. Geburtstag von K. A. Bettermann, 1989, S. 51; ders., Zum Vertrag über eine Verfassung für Europa, ThürVBl. 2005, 193; ders., Koordination des Grundrechtsschutzes in Europa, ZSR 124 (2005), 113; ders., Das Rechtsprechungsdreieck Karlsruhe – Luxemburg – Straßburg, in: Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften (Hrsg.), Speyerer Vorträge, Heft 89/ 2006; ders., Das Bundesverfassungsgericht im Kräftefeld zwischen Karlsruhe, Luxemburg und Straßburg, in: Hestermeyer u. a. (Hrsg.), Coexistence, Cooperation and Solidarity. Liber amicorum für Rüdiger Wolfrum, 2011, Band 2, S. 2041.

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II. Die Entdeckung unionsbürgerlicher Kernrechte Die Geburtsstunde der neu entdeckten Fundamentalrechte liegt in der ZambranoEntscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 8. März 2011.17 Geschöpft werden sie unmittelbar aus der abstrakten Idee der Unionsbürgerschaft: Als grundlegender Status aller Unionsbürger setze diese einen Kernbestand an Rechten voraus, die ohne weiteres gegenüber jedem Mitgliedstaat, auch dem eigenen, unmittelbar aus diesem Status selbst folgten.18 1. Die Unionsbürgerschaft als Quelle von Kernrechten Dieser Rückgriff auf die Unionsbürgerschaft als Quelle von Fundamentalrechten überrascht. Die Unionsbürgerschaft zielte ihrer Grundidee nach allein auf die Erstreckung der Wirkungen der je einzelstaatlichen Staatsangehörigkeit in den EG-Raum hinein.19 Es handelt sich um einen Status der Zugehörigkeit zur Union, der akzessorisch zur jeweiligen Staatsangehörigkeit ist: Der einzelne Mitgliedstaat entscheidet frei, wer Staatsangehöriger ist, diese Entscheidung wirkt dann aber auch gegenüber allen anderen Mitgliedstaaten. Die Rechtsstellung des Einzelnen gegenüber seinem Mitgliedstaat wird als Ausgangspunkt genommen, um im grenzüberschreitenden Verkehr – in Form der Zusammenfassung anderweitig durch Gemeinschaftsrecht begründeter Rechte – als Rechtsstellung auch gegenüber den anderen Mitgliedstaaten Wirkung zu entfalten. Verbunden wurde dies mit der Schaffung einiger neuer Rechte, die an die Unionsbürgerschaft anknüpfen, wenn sich die Betreffenden im europäischen Ausland befinden. Hierzu gehört insbesondere das Recht auf Teilnahme an Kommunalwahlen und das Recht auf diplomatischen Schutz.20 Bei diesen Rechten handelt es sich jedoch allein um spezielle Rechte gegenüber anderen Staaten, die überdies explizit ausgestaltet und hierbei auch begrenzt wurden.21 Das Verhältnis 17 EuGH, Rs. C-34/09 (Zambrano), NJW 2011, 2033; K. Hailbronner/D. Thym, Ruiz Zambrano – Die Entdeckung des Kernbereichs der Unionsbürgerschaft, NJW 2011, 2008; M. Nettesheim, Der „Kernbereich“ der Unionsbürgerschaft – vom Schutz der Mobilität zur Gewährleistung eines Lebensumfelds, JZ 2011, 1030; B. Huber, Die ausländerrechtlichen Folgen des EuGH-Urteils Zambrano, NVwZ 2011, 856; D. Kochenov, A real european citizenship: A new jurisdiction test: A novel chapter in the development of the Union in Europe, Columbia J. of Europ. L. 18 (2011), 55. 18 EuGH, Rs. C-34/09 (Zambrano), Rdnr. 42, 45. 19 Magiera (o. Fußn. 15), Art. 20 AEUV, Rdnr. 24; A. Randelzhofer, Marktbürgerschaft – Unionsbürgerschaft – Staatsbürgerschaft, in: Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz, 1995, S. 581 (582 f.). 20 Vgl. Art. 19 EGV a. F. = Art. 22 AEUV, Art. 20 EGV a. F. = Art. 23 AEUV; dazu T. Oppermann/C. Classen/M. Nettesheim, Europarecht, 4. Aufl. 2009, § 17, Rdnr. 25 – 29; Einzelheiten zum diplomatischen Schutz im Beschl. 95/553/EG v. 19. 12. 1995 (ABl. L 314/ 73). 21 Vgl. zunächst Art. 19 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 EGV a. F. = Art. 22 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 AEUV, sowie in Bayern Art. 39 GKWG und in Sachsen § 49 Abs. 1 S. 1 GO, § 45 LKrO; vgl. weiterhin § 2 FreizügG/EU.

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zwischen dem Bürger und dem eigenen Staat, das Anknüpfungspunkt, nicht aber Gegenstand der Erweiterung der Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft sein sollte, schien hierdurch unberührt. In diesem Verständnis konnte die Unionsbürgerschaft lautlos eingeführt werden22 – ein symbolisches Zeichen der Gemeinsamkeit für anderweitig erkämpfte Errungenschaften, ohne erkennbaren politischen Preis und jedenfalls ohne Auswirkungen auf das Gefüge der Union. Der Europäische Gerichtshof hat es bei diesem ursprünglichen Verständnis der Norm freilich schon bald nicht mehr belassen und der Unionsbürgerschaft eigene Konsequenzen implantiert.23 Vor der Zambrano-Entscheidung blieben diese von strukturell begrenzter Bedeutung und brauchen hier nicht aufgegriffen zu werden.24 Mit der Zambrano-Rechtsprechung jedoch, die auch durch die im Ergebnis wieder restriktiver ausgefallenen Folgeentscheidungen25 keineswegs eindeutig zurückgenommen wurde,26 gibt der Gerichtshof der Unionsbürgerschaft eine ganz neue Wendung: Die Unionsbürgerschaft wird nun mit Rechten aufgeladen, die über die anderweitig vertraglich begründeten Rechte substantiell hinausgehen und dabei von grenzüberschreitenden Bezügen abgelöst allen Staaten, auch dem je eigenen Staat, entgegengesetzt werden können. Der Gerichtshof verselbständigt so die Unionsbürgerschaft endgültig gegenüber der Staatsangehörigkeit, bringt sie gegen diese in Stellung und erhebt die Europäische Union zur allgemeinen und übergreifenden Schutzmacht des Einzelnen auch gegenüber dem eigenen Staat. Mitgliedstaatliche Staatsangehörigkeitsbeziehungen und ihr entsprechende Schutzpflichten werden darüber mediatisiert. Die Unionsbürgerschaft wird nun – unabhängig von positiv-rechtlichen, insbesondere vertraglichen Zuschreibungen – zur Quelle eines „Kernbestandes an Rechten“ für jedermann.

22 Zur Entwicklung von der Marktbürgerschaft zur Unionsbürgerschaft vgl. Randelzhofer (o. Fußn. 19), S. 581 (584 ff.). 23 Zur Entwicklung S. Kadelbach, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 611; C. Schönberger, Unionsbürger. Europas föderales Bürgerrecht in vergleichender Sicht, 2005. 24 Vgl. insoweit etwa die Fälle EuGH, Rs. C-85/96 (Martínez Sala), Slg. 1998, I-2691; EuGH, Rs. C-148/02 (Garcia Avello), Slg. 2003, I-11613; EuGH, Rs. C-209/03 (Bidar), Slg. 2005, I-2119; EuGH, Rs. C-200/02 (Zhu/Chen), Slg. 2007, I-9161; von Bedeutung freilich insbesondere schon EuGH, Rs. C-135/08 (Rottmann), Slg. 2010, I-1449, DÖV 2010, 445; vgl. kritisch dazu D. Kochenov, CMLR 47 (2010), 1831 (1843); G. N. Toggenburg, European Law Reporter 5 (2010), 165; all diese Fälle erreichten jedenfalls nicht ansatzweise die Dimension, die die hier aufgegriffene Rechtsprechungslinie Zambrano und folgende eröffnet. 25 EuGH, Rs. C-434/09 (McCarthy), NVwZ 2011, 867; EuGH, Rs. C-256/11 (Dereci), NVwZ 2012, 97; zudem EuGH, Rs. C-40/11 (Iida), Urteil vom 8. 11. 2012, DÖV 2013, 77, das vor allem auch die Entscheidung Dereci zitiert. 26 Siehe unten im Text (IV. 2.).

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2. Zum Sachverhalt der Zambrano-Entscheidung Der Sachverhalt, der zur Zambrano-Entscheidung führte, sei hier nur kurz und vereinfachend zusammengefasst: Eine kolumbianische Familie beantragt in Belgien Asyl. Das Asylgesuch wird abgelehnt, die Familie aber geduldet. Sie verbleibt deshalb weiter in Belgien, ohne insoweit über einen rechtmäßigen Aufenthaltstitel zu verfügen. Während dieser Zeit werden zwei weitere Kinder geboren. Da die Eltern sie nicht – was ihnen möglich gewesen wäre, aber unzumutbar erschien – bei der kolumbianischen Botschaft anmelden, erhalten die Kinder nicht die kolumbianische Staatsbürgerschaft und erwerben nach Maßgabe des damals geltenden belgischen Staatsangehörigkeitsrechts stattdessen die belgische Staatsangehörigkeit. Die Eltern beantragen daraufhin ein von ihren belgischen Kindern abgeleitetes eigenes Aufenthaltsrecht, das ihnen jedoch – zunächst – versagt wird.27 Grob vereinfacht kann man die vom EuGH entschiedene Frage wie folgt zusammenfassen: Durfte Belgien nach den Maßgaben des Unionsrechts den beiden belgischen Kindern indirekt den Aufenthalt in Belgien verunmöglichen, indem es deren Eltern als Drittstaatsangehörige auswies? Steht einer solchen Ausweisung Unionsrecht entgegen? Der Fall ist in dieser Fragestellung sehr vereinfacht. Genau genommen lag der Fall wesentlich weniger dramatisch und ging es nicht unmittelbar um die Ausweisung, sondern darum, ob dem Vater der Kinder Arbeitslosengeld versagt werden durfte mit dem Argument, er habe sich zu Unrecht und ohne Arbeitserlaubnis in Belgien aufgehalten, obwohl er dort seine belgischen Kinder versorgt hatte. Das Ergebnis der Entscheidung ist bekannt und hat auch in der Literatur einige Aufmerksamkeit gefunden28 : Eine Ausweisung der kolumbianischen Eltern (genauer: die Versagung von Arbeitslosengeld unter Berufung auf den nichtrechtmäßigen Aufenthalt des Vaters) sei aufgrund der Unionsbürgerschaft der Kinder ausgeschlossen. Die Kinder seien als belgische Staatsangehörige zugleich Unionsbürger. Aus der Unionsbürgerschaft folge ein Kernbestand an Rechten, zu dem das Aufenthaltsrecht in der Europäischen Union gehöre. In dieses Aufenthaltsrecht werde mittelbar unverhältnismäßig eingegriffen, weil die unterhaltspflichtigen und sorgeberechtigten Eltern der Minderjährigen ausgewiesen würden und diese damit de facto gezwungen wären, ihnen zu folgen.29 Alle dem Verfahren beigetretenen Mitgliedstaaten und auch die Europäische Kommission hatten dies anders beurteilt: Ob belgische Staatsangehörige durch den belgischen Staat mittelbar gezwungen werden könnten, ihr Heimatland zu verlassen und mit ihren Eltern in einen Drittstaat zu ziehen, sei eine Frage, die sich nicht

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Vgl. EuGH, Rs. C-34/09 (Zambrano), Rdnr. 21 – 23. Literatur siehe o. Fußn. 17. 29 Vgl. EuGH, Rs. C-34/09 (Zambrano), Rdnr. 44. 28

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nach Unionsrecht richte, sondern nach belgischem Recht und hierbei auch nach dem Recht der Europäischen Menschenrechtskonvention.30 III. Exkurs: Menschenrechtliche Überlegungen Es besteht keine Frage, dass es sich bei dem Sachverhalt – zumindest, soweit man diesen auf die Kernfrage der Ausweisung selbst zurückführt – um eine für die Betroffenen wichtige Frage mit menschenrechtlicher Dimension handelt. Jedenfalls wirft die Ausweisung der Eltern von minderjährigen Kindern, die belgische Staatsangehörige sind, Rechtfertigungsbedarf nach Art. 22 und Art. 22bis der belgischen Verfassung auf. Und dieses gilt auch hinsichtlich des Schutzes durch Art. 8 EMRK. Insoweit mag man in der Tat Zweifel haben, ob die Entscheidung der belgischen Behörden mit dem Schutz der Familie vereinbar war. Zwar war das Vorgehen der kolumbianischen Eltern trickreich. Indem sie die nach kolumbianischem Recht zur Erlangung der kolumbianischen Staatsangehörigkeit erforderliche Anmeldung ihrer Kinder bei der Botschaft nicht vornahmen – was freilich aus Sicht einer Person, die sich als politisch verfolgt versteht, auch unabhängig von strategischen Überlegungen verständlich ist – erreichten sie, dass ihre Kinder belgische Staatsangehörige wurden und versuchten auf diese Weise auch ihr eigenes Ziel zu verwirklichen, nämlich selbst dauerhaft in Belgien zu bleiben. Im Zentrum standen damit Wunsch und Ziel der Eltern, in Belgien zu verbleiben, nicht aber der Kinder. Wären ihre Eltern freiwillig in ein anderes Land gezogen, wären die Kinder ihnen selbstverständlich gefolgt und hätte niemand den Eltern einen Vorwurf gemacht. Jedoch liegt hierin jedenfalls nicht eine missbräuchliche Berufung auf die belgische Staatsangehörigkeit, die es erlaubte, diese als materiell zu Unrecht erworben zu übergehen. Als formeller Rechtsstatus muss die Staatsangehörigkeit nach formellen Kriterien beurteilt werden, ohne sie durch Erwägungen zum mehr oder weniger „legitimen“ Erwerb zu verbessern. Hier haben die kolumbianischen Eltern für ihre Kinder eine Großzügigkeit des belgischen Rechts genutzt. Damit aber sind die Kinder vollwertige Staatsbürger, deren Rechte nicht unter Berufung auf die Erwerbsgründe relativiert werden können. Wenn man in diesen Fällen den Erwerb der Staatsangehörigkeit für nicht gerechtfertigt hält, so muss das entsprechende Staatsangehörigkeitsrecht geändert werden. Auch werden in solchen Fällen jedenfalls oftmals gewichtige Gründe dafür sprechen, ein abgeleitetes Bleiberecht auch der Eltern mit Blick auf den Schutz der Familie anzuerkennen. Wenn man die Maßstäbe des deutschen Grundrechtsschutzes anlegen würde, käme es insoweit konkret auf eine Abwägung zwischen dem Kindeswohl und den einwanderungspolitischen Belangen an, wobei dem Kindeswohl und der Erhaltung (bzw. Herstellung) der familiären Lebens- und Erziehungsgemein30

EuGH, Rs. C-34/09 (Zambrano), Rdnr. 37.

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schaft maßgebliches Gewicht zukommen würde.31 Legt man diesen Maßstab zugrunde, wäre es allerdings denkbar, dass den genannten schutzwürdigen Interessen auch bei einer Ausreise in das Herkunftsland der Eltern Rechnung getragen werden könnte. Jedoch müsste dies den aufenthaltsberechtigten Kindern im Hinblick auf ihre Sozialisation auch zumutbar sein. Die besondere Schutzwürdigkeit der Kinder und die insoweit unbefriedigende Rechtslage hatte Belgien – und zwar noch vor der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs – im Übrigen in der Zwischenzeit auch selbst erkannt. Es hatte zwischenzeitlich sein Staatsangehörigkeitsrecht dahingehend geregelt, dass in solchen Fällen die Kinder nicht mehr automatisch die belgische Staatsangehörigkeit erlangen.32 Umgekehrt war den Eltern schließlich doch ein Aufenthaltsrecht verliehen worden.33 Im Ergebnis mag damit der Familie Zambrano zu Recht geholfen worden sein. Nach dem Maßstab grundrechtlicher Erwägungen spricht hinsichtlich des materiellen Ergebnisses jedenfalls einiges für die Richtigkeit oder zumindest Vertretbarkeit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs – wobei es hier keiner Vertiefung der Frage bedarf, ob dieses Ergebnis auch nach dem nur als Mindeststandard ausgelegten Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention für den konkreten Fall ein unabdingbares Ergebnis war. Die menschenrechtliche Überzeugungskraft oder Vertretbarkeit ist jedoch nicht der Maßstab dafür, ob die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs richtig ist. Das entscheidende Problem liegt vielmehr darin, ob es in diesem Fall auch Aufgabe gerade des Europäischen Gerichtshofs war, diese Frage zu entscheiden. Denn dessen Aufgabe ist es nicht schon, sich allgemein um die Durchsetzung von Menschenrechten und Gerechtigkeit zu kümmern. Zwar ist es verständlich, dass ein Gericht auch materiell für Gerechtigkeit sorgen will, und sicher ehrt und adelt dieses Bestreben jede Rechtsprechung. Dennoch bedarf es hierbei großer Disziplin hinsichtlich der Wahrung der eigenen Kompetenzen. Dies gilt insbesondere im Rahmen des europäischen Gerichtsverbundes,34 in dem die verschiedenen Zuständigkeiten nicht schlicht hierarchisch organisiert sind. Hier trägt jedes Gericht nicht nur die Verantwortung für ein gerechtes Einzelfallergebnis, sondern auch für die Gesamtbalance, im vorliegenden Fall für die Balance zwischen Europäischem Gerichtshof, belgischem Verfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte. Vielleicht liegt es in der einzelfallbezogenen Perspektive der gerichtlichen Entscheidung, dass Gerichte ihre Kompetenzen, ihr Prozessrecht und die ihnen vorgegebenen Maßstäbe ins31 Vgl. BVerfGE 51, 386 (386 f.); BVerfGE 80, 81 (93); BVerfG, Beschl. v. 23. 1. 2006, NWvZ 2006, 682; BVerfG, Beschl. v. 9.1.2009, NVwZ 2009, 387; BVerwGE 98, 31 (46); BVerwGE 106, 13 (17); BVerwG, Beschl. v. 20. 9. 1978, ZAR 1982, 48 – 49; BVerwG, Beschl. v. 10. 2. 2011, 1 B 22/10. 32 Generalanwältin Sharpston (o. Fußn. 4), vgl. nur Rdnr. 104. 33 EuGH, Rs. C-34/09 (Zambrano), Rdnr. 32. 34 Vgl. A. Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, 1 (7).

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besondere dann leichtfüßig zu überspringen bereit sind, wenn es um die Herstellung – wirklich oder vermeintlich – gerechter Ergebnisse geht. Mit diesem Druck hat wohl jedes Gericht zu kämpfen – auch das Bundesverfassungsgericht. Gerade im europäischen Miteinander ist jedoch stets zu bedenken, dass kein Gericht für die Herstellung der Gerechtigkeit allein verantwortlich ist. Kompetenzübergriffe im Namen der Einzelfallgerechtigkeit können gerade hier Zerstörungen von differenzierten Strukturen zur Folge haben, deren Kosten auch für die Gerechtigkeit am Ende deutlich größer sind als die unmittelbare Durchsetzung der eigenen Gerechtigkeitsvorstellung im einzelnen Fall. In der Zambrano-Entscheidung ist eine solche Kompetenzüberschreitung erkennbar. IV. Kritik der Figur der unionsbürgerlichen Kernrechte Der Europäische Gerichtshof stützt seine Entscheidung nicht auf Grundrechte, sondern auf die Unionsbürgerschaft als solche. Er verweist darauf, dass er „mehrfach hervorgehoben“ habe, dass dieser Status dazu bestimmt sei, „der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein“. Aus diesem Grund dürfe der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleihe, nicht verwehrt werden.35 1. Der „grundlegende Status“ als Grund und Grenze von Kernrechten? Die Beschwörung der Unionsbürgerschaft als „grundlegender Status“ ergibt jedoch bei nüchterner Betrachtung keineswegs ein Argument für bestimmte Rechte. Als Status regelt die Unionsbürgerschaft nicht mehr als die Zugehörigkeit selbst. Weder folgt aus dem Charakter der Unionsbürgerschaft als Status, dass aus ihm überhaupt verselbständigte Unionsrechte gegenüber dem eigenen Mitgliedstaat folgen, noch welche Rechte das sein sollen.36 In der Tat freilich setzt ein Status die Zuordnung von Rechten voraus. Diese müssen jedoch aus den Vorschriften hergeleitet werden, die sie jeweils begründen. Aus dem Status selbst ergeben sie sich nicht. Die Anstrengung einer Herleitung von Rechten aus genaueren Vorschriften fehlt indes in der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs. Mit der Evokation des „grundlegenden Status“ ersetzt diese eine Begründung mittels Zuschreibung durch Pathos. Auch die vom Europäischen Gerichtshof herangezogenen Urteile Grzelczyk37, Baumbast38, Garcia Avello39, Zhu und Chen40 sowie Rottmann41 stützen eine solche 35

EuGH, Rs. C-34/09 (Zambrano), Rdnr. 41 f. Dass sich insoweit keine denklogischen Ableitungen ergeben, zeigt etwa das deutsche Recht, das die Staatsangehörigkeit in Art. 16 GG als Status gerade unabhängig von den einzelnen Rechten selbst regelt, vgl. J. Masing, in: Dreier, GG, 2. Aufl. 2004, Art. 16 GG, Rdnr. 77, 80. 37 EuGH, Rs. C-184/99 (Grzelczyk), Slg. 2001, I-6193. 38 EuGH, Rs. C-413/99 (Baumbast), Slg. 2002, I-7091. 36

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unmittelbare und absolute Herleitung von Rechten aus der Unionsbürgerschaft nicht. Es ist hier nicht der Ort, sich mit diesen Entscheidungen – auch wenn einzelne kritikwürdig sind – im Einzelnen auseinanderzusetzen. Denn jedenfalls ließ sich in den ihnen zugrundeliegenden Sachverhalten stets ein grenzüberschreitender Bezug ausmachen.42 Von daher lassen sich all diese Entscheidungen zumindest so interpretieren, dass in ihnen letztlich transnationale Wirkungen der jeweiligen Staatsangehörigkeit zum Tragen kommen – beziehungsweise kann Kritik an diesen Entscheidungen weithin auf die Frage der richtigen Begründung reduziert werden.43 Demgegenüber liegt in der Zambrano-Entscheidung eine rechtsschöpferische und grundlegende Erweiterung des Staat-Bürger-Verhältnisses. Aus der Unionsbürgerschaft werden verselbständigte, auch dem jeweils eigenen Mitgliedstaat entgegenzuhaltende „Kernrechte“ abgeleitet, die im Ergebnis Grundrechtsqualität haben. Die Entscheidung ist insoweit freilich bisher eine Einzelfallentscheidung geblieben, die durch nachfolgende Entscheidungen nicht ausgebaut, sondern zunächst vielmehr begrenzt gehalten wurde.44 Beunruhigend ist sie aber nicht allein wegen ihres argumentativ entgrenzenden Potenzials, sondern auch deshalb, weil sie vor dem Hintergrund eines Schlussantrags der Generalanwältin Eleanor Sharpston erging, mit dem die prinzipielle Erweiterung des Staat-Bürger-Verhältnisses auf der Grundlage der Unionsbürgerschaft offen und rückhaltlos gefordert wurde.45 Der Europäischen Union käme insoweit ein genereller und eigenständiger Schutzauftrag zur Gewährleistung aller grundrechtlichen Freiheiten zu.46 Die Generalanwältin plädierte dafür, aus der Unionsbürgerschaft eine umfassende und egalitäre Geltung einheitlicher europäischer Grundrechte für alle Bereiche abzuleiten, die auch nur potenziell in den Regelungsfokus der Union treten können.47 Gegenüber diesem mit Verve und Ausführlichkeit vorgetragenen Plädoyer mutet die apodiktisch kurze und inhaltlich allein auf den konkreten Fall beschränkte Entscheidung des Gerichtshofs zwar zurückhaltend an. Diese Kürze und Offenheit ihrer Begründung schließt aber eine Weiterentwicklung in dem von Sharpston geforderten Sinne – wie man vermuten darf: bewusst – auch nicht aus. Der diffuse Verweis auf den „Kernbestand der Rechte“ der Unionsbürgerschaft lässt sich vielmehr problemlos in diese Richtung deuten und weiterentwickeln. 39

EuGH, Rs. C-148/02 (Garcia Avello), Slg. 2003, I-11613. EuGH, Rs. C-200/02 (Zhu und Chen), Slg. 2004, I-9925. 41 EuGH, Rs. C-135/08 (Rottmann), Slg. 2010, I-1449. 42 Vgl. Hailbronner/Thym (o. Fußn. 17), 2008. 43 So etwa bezüglich EuGH, Rs. C-135/08 (Rottmann), Slg. 2010, I-1449, bei der – auch wenn der Europäische Gerichtshof diesen Bezug nicht explizit herausarbeitete – ein solcher Bezug vorlag. 44 Siehe unten im Text (IV. 2.). 45 Generalanwältin Sharpston (o. Fußn. 4), vgl. nur Rdnr. 100 f. 46 Generalanwältin Sharpston (o. Fußn. 4), Rdnr. 155. 47 Generalanwältin Sharpston (o. Fußn. 4), Rdnr. 163. 40

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Eine solche Interpretation der Unionsbürgerschaft ist geeignet, diese zu einem neuen Motor der Zentralisierung werden zu lassen.48 Verbindet man sie – im Sinne des Plädoyers der Generalanwältin – mit den Grundrechten insgesamt, ist ein praktisch umfassender Grundrechtsstatus geschaffen, der nicht nur die Grenzen des Anwendungsbereichs der Grundrechtecharta in Art. 51 ff. EuGrCh überspielt, sondern auch die Vorbehalte Großbritanniens und Polens. Nach dem Strukturplan eines stark zentralisierten Bundesstaates würden die Grundrechte der Mitgliedstaaten hierarchisch untergeordnet und wären nicht mehr als ausfüllende Ergänzungsnormen mit der Qualität von folkloresicherndem Regionalrecht. Sie setzt eine Unitarisierung in Gang, die zu einer Elimination von Vielfalt und den jeweiligen mitgliedstaatlichen Traditionen führen müsste, die gerade im Grundrechtsbereich aufgrund der verschiedenen geschichtlichen Erfahrungen, der institutionellen Rückkopplungen und der gesellschaftlichen Einbindung besonders bedeutsam sind. In der Anerkennung unionsbürgerschaftlicher Kernrechte eröffnet sich damit der Gerichtshof ein Zugriffsrecht, das seiner inneren Logik nach nur schwer zu begrenzen ist. Zu Kernrechten können – so wie in den Schlussanträgen der Generalanwältin gefordert – ohne weitere argumentative Anstrengungen praktisch alle Grundrechte erklärt werden und auch diese können hierbei noch ergänzt werden. 2. Zurückhaltung, aber keine Problembewältigung in den Folgeentscheidungen Der Gerichtshof selbst allerdings ist, wie anzuerkennen ist, hinsichtlich des Ergebnisses in den konkreten Folgerungen bisher vorsichtig und zurückhaltend. In den Entscheidungen McCarthy49 und Dereci50 ist er diesen Weg nicht nur nicht weitergegangen, sondern hat ihn vom Ergebnis her weiter eingegrenzt. Ersichtlich wurde hier bewusst das Signal gesetzt, dass die Figur der unionsbürgerschaftlichen Kernrechte vorerst keine weiteren Anwendungsfälle finden soll. Es bleibt zu hoffen, dass diese Entscheidungen nicht nur die Beruhigungstropfen zur Absicherung einer hinreichenden Inkubationszeit für dieses Argumentationsmuster sind. Denn eine argumentativ verlässliche Einhegung dieser Figur ist bisher nicht erkennbar. Gerade auch die Entscheidung Dereci zeigt vielmehr, dass solche Zurückhaltung nicht auf stringenten Argumenten, sondern vielmehr auf einer freien Wertung (oder auf der Zusammensetzung der Sitzgruppe) beruht. Der Gerichtshof stellte hier fest, dass der Familiennachzug nicht zu den unionsbürgerschaftlichen Kernrechten gehöre.51 Die Unionsbürgerschaft stünde einer Maßnahme nicht entgegen, die im Ergebnis eine erwachsene Österreicherin faktisch dann zur Ausreise zwinge, wenn sie und ihre drei Kinder mit ihrem türkischen Mann bzw. Vater zusammenwohnen wollen. 48

Vgl. dazu auch Nettesheim (o. Fußn. 17), 1034, 1037 sowie Kochenov (o. Fußn. 17), 106. EuGH, Rs. C-434/09 (McCarthy), NVwZ 2011, 867. 50 EuGH, Rs. C-256/11 (Dereci), NVwZ 2012, 97. 51 EuGH, Rs. C-256/11 (Dereci), NVwZ 2012, 97 (100). 49

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Im Vergleich zur Zambrano-Konstellation ist dieses Ergebnis wenig evident. Zwei Kleinkindern, die erst kurze Zeit in einem EU-Staat leben, kann es nicht zugemutet werden, mit ihren Eltern in einen Drittstaat auszureisen – obwohl doch die Eltern, wenn diese selbst denn wollten, die Kinder hierzu ohne weiteres zwingen könnten. Einer erwachsenen Frau hingegen, die ihr ganzes Leben in einem EU-Staat verbracht hat und dort zivilisiert ist, wird es zugemutet, das bereits zur Heimat gewordene Land ihrer Staatsangehörigkeit zu verlassen, wenn sie mit ihrem Mann zusammenleben und den Kindern ihren Vater nicht vorenthalten will. Jedenfalls mit Blick auf die persönliche Belastung der Betreffenden kann man lange sinnieren, welcher Fall das Kernrecht auf Aufenthalt schwerwiegender trifft. Ein anderes Kriterium aber ist nicht ersichtlich. Die mögliche Dynamik der Zambrano-Entscheidung wird so zwar abgebremst. Aber die Folgeentscheidungen nehmen das Postulat von unmittelbar aus der Unionsbürgerschaft folgenden Kernrechten nicht zurück. Es wird lediglich durch engere Wertungen gestoppt, die kaum vorhersehbar sind und sich jederzeit wieder ändern können. Und in der Logik solcher Wertungen kann selbst bei restriktivem Verständnis im Grunde auch jede Verhängung einer Freiheitsstrafe, die rechtsstaatlich als bedenklich angesehen wird, als Vorenthaltung der unionsbürgerschaftlichen Rechte qualifiziert – und damit unter die Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofs gezogen werden. 3. Übergriff in die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Die Zambrano-Entscheidung überzeugt auch deshalb nicht, weil in ihr ein Übergriff in die Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte liegt. Der Sache nach ging es in ihr um die Frage, welche Bedeutung der Schutz der Familie für das Aufenthaltsrecht hat, wenn Familienmitglieder verschiedene Staatsangehörigkeiten besitzen. In Frage stand, ob es den Anspruch eines Kleinkindes auf Betreuung durch die Eltern in seinem Heimatland nach Maßgabe der Entscheidung der insoweit vertretungsberechtigten Eltern gibt. Bei dieser Frage aber handelt es sich nicht um einen Statusstreit, sondern um ein Grundrechtsproblem, das nicht nur nach Maßgabe des nationalen Verfassungsrechts zu entscheiden, sondern auch an Art. 8 EMRK zu messen ist. Die diesbezügliche Kontrolle obliegt jedoch dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dabei ist seine Kontrolle – bewusst – andersartig und als weitmaschigere Prüfung ausgestaltet. Ihm obliegt nicht die Durchsetzung eines einheitlichen europäischen Grundrechtsstandards mit unmittelbar wirkendem Vorrang vor nationalem Recht, sondern die Einforderung von Mindestregeln, die überdies auch nur ihrem Ergebnis nach gewährleistet sein müssen.52 Entsprechend beschränkt sich der Straßburger Gerichtshof auf eine Kontrolle gegenüber dem Mitgliedstaat als solchem. Er stellt sich nicht unmittelbar zwischen die handelnde Behörde und den betroffenen Bürger, d. h. beansprucht keinen quasistaatlichen Schutzanspruch unmit52

Ehlers (o. Fußn. 7), § 2 Rdnr. 18.

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telbar gegenüber dem Einzelnen, sondern wirkt von außen auf die Mitgliedstaaten ein, dass sie ihren Bürgern gegenüber menschenrechtlich vertretbare Lösungen gewährleisten. V. Ein Ausweg: Engführung der Kernrechte auf vertragliche Rechte Die Herleitung von Kernrechten aus der abstrakten Idee der Unionsbürgerschaft ist haltlos und muss, wenn man diesen Weg weitergeht, aus dem Ruder laufen. Der Europäische Gerichtshof selbst scheint, wie dargelegt, wenn nicht Zweifel, so zumindest doch die Notwendigkeit künftiger Zurückhaltung erkannt zu haben, hat hierfür aber noch kein Maß gefunden. Wie lässt sich die Rechtsprechung Zambrano argumentativ wieder einfangen? Die Begründung von Rechten aus der Unionsbürgerschaft darf sich nicht auf ein abstraktes Bild der Unionsbürgerschaft bzw. auf deren Charakter als „grundlegenden Status“ stützen, sondern muss die aus der Unionsbürgerschaft folgenden Rechte streng aus den vertraglichen Bestimmungen herleiten. Art. 20 Abs. 2 AEUV bietet hierfür eine Basis. Die aus der Unionsbürgerschaft folgenden Rechte sind hier vertraglich ausdrücklich und enumerativ aufgelistet. Hier werden tatsächlich Rechte geschaffen, die unmittelbar durch Unionsrecht spezifisch und eigens an die Unionsbürgerschaft anknüpfen. Insofern schafft Art. 20 Abs. 2 AEUV tatsächlich auch eine eigenständige Rechtsstellung der Unionsbürger, die unmittelbar an der Unionsbürgerschaft anknüpft. Man mag insoweit das durch Art. 20 Abs. 2 S. 2 lit. a AEUV gewährleistete Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, dann als genuin unionsrechtliches Aufenthaltsrecht verstehen, das die Betreffenden auch dem eigenen Staat entgegenhalten können.53 Eine solche Auslegung des Art. 20 Abs. 2 S. 2 lit. a AEUV ist freilich außerordentlich weit, und bei unbefangener Sicht scheint es zweifelhaft, ob diese mit der Unionsbürgerschaft vertraglich wirklich gewollt war. Angesichts der Grundkonstruktion der Unionsbürgerschaft als abgeleitetem Status von der jeweiligen Staatsangehörigkeit läge es wesentlich näher, die Vorschrift dahin zu verstehen, dass sie lediglich darauf zielt, dass von einem Mitgliedstaat für das eigene Gebiet verliehene Aufenthaltsrecht auch auf die anderen Mitgliedstaaten zu erstrecken.54 Man mag hierüber aber streiten können. Jedenfalls würde eine Lesart der Zambrano-Entscheidung, die die Herleitung des Aufenthaltsrechts in der Sache auf das durch Art. 20 Abs. 2 S. 2 lit. a AEUV gewährleistete Recht stützt, diese wirksam begrenzen können. Sie hätte zur Konsequenz, dass künftig nicht nach einem abstrakten, aus der Unionsbürgerschaft folgenden Kernbestand an Rechten gesucht werden, sondern man sich an konkreten Normen, insbesondere an Art. 20 Abs. 2 AEUVabarbeiten müsste.

53 54

Hailbronner/Thym (o. Fußn. 17), 2008 f. Vgl. dazu Nettesheim (o. Fußn. 17), 1036 f.

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Bisher ist eine solche Begrenzung des Verständnisses der Zambrano-Entscheidung allerdings nicht zu erkennen. Diese selbst enthält eine solche Begrenzung nicht – Art. 20 Abs. 2 AEUV und irgendeine Interpretation des hier gewährleisteten Aufenthaltsrechts finden sich in der Entscheidung nicht. Vor dem Hintergrund des Schlussantrags von Sharpston kann dieses auch nicht als Zufall gewertet werden. Auch die Folgeentscheidungen Dereci und McCarthy zeigen keine bewusste Begrenzung auf die der Unionsbürgerschaft ausdrücklich vertraglich zugeordneten Rechte – auch wenn sie letztlich zu deutlich restriktiveren Ergebnissen kommen. In einer solchen Begrenzung läge aber ein Weg, mit dem der EuGH die Zambrano-Entscheidung einfangen und ihre Sprengkraft entschärfen könnte. VI. Ausblick Noch ist nicht klar, ob die Zambrano-Entscheidung eine zweifelhafte Einzelentscheidung bleibt oder zu einer grundlegenden Verschiebung der Architektur der Europäischen Union führen wird. Das Potenzial dazu hat sie. Nimmt man ihren argumentativen Ansatz ernst, verändert sie die Unionsbürgerschaft von dem grundlegenden zu einem unabhängigen Status. Sie mediatisiert das Staat-Bürger-Verhältnis und errichtet über diesem unabhängig von jedem grenzüberschreitenden Bezug die Europäische Union als vorrangige und übergreifende Schutzmacht des einzelnen Bürgers. Der mit ihr reklamierte Anspruch, dem Einzelnen unabhängig von den Mitgliedstaaten eine grundlegende allgemeine Rechtstellung zu garantieren, ist nichts anderes als eine Verstaatlichung der Beziehung von Bürger und Union: Er schafft eine eigenständige Bundesgewalt über den Einzelbürger. Zwar verbleibt das Erfordernis einer vorangehenden Zuerkennung einer Staatsangehörigkeit durch einen Mitgliedstaat. Dies ist aber nun nicht mehr als ein erforderlicher äußerer Anknüpfungspunkt, wie es auch in Bundesstaaten bekannt ist,55 nicht aber mehr die Anerkennung der ursprünglichen Staatsangehörigkeit als der primären Grundbeziehung für die allgemeine Rechts- und Pflichtenstellung des Einzelnen.56 Dass eine solche Interpretation der Zambrano-Entscheidung nicht theoretische Übersteigerung, sondern die realistische Beschreibung eines in ihr liegenden Potenzials ist, dessen Entfaltung jedenfalls nach Ansicht einiger Mitglieder des Gerichtshofs aktiv verfolgt wird, zeigen die Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston. Diese hatte eine solche Konzeption nicht nur mit Pathos vertreten, sondern dabei zugleich auch offen einen tiefgreifenden Umbau der Europäischen Union gefordert. In ihrem Antrag vergleicht sie das Verfahren mit dem Verfahren Van Gend en Loos, in 55 Vgl. die Rechtslage in der Schweiz, dazu R. Rhinow, Grundzüge des Schweizerischen Verfassungsrechts, 2003, S. 49 ff. 56 Diese Verselbständigung zeigt sich im Übrigen auch in der Entscheidung Rottmann, in der der EuGH – ohne hierbei (wie es möglich gewesen wäre) für die Aberkennung der Staatsangehörigkeit unionsrechtliche Anforderungen zu stellen – nicht explizit auf das vorhandene transnationale Moment abstellt; vgl. EuGH, Rs. C-135/08 (Rottmann), Slg. 2010, I1449.

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dem die Rechtsprechung die zunächst als zwischenstaatliche Vertragspflichten geregelten Beziehungen der Europäischen Gemeinschaften auf der Primärrechtsebene in eine eigene Rechtsordnung mit unmittelbarer Durchgriffswirkung und Vorrang gegenüber allen mitgliedstaatlichen Behörden und Organen umformte.57 Das Zambrano-Verfahren würde, wenn nun mit ihm, nach dem früheren Diktum des Generalanwalts Francis Geoffrey Jacobs civis europaeus sum,58 ein grundlegender europäischer Grundrechtsstandard anerkannt würde, diesem in nichts nachstehen.59 Es sei Zeit für eine Entscheidung wie 1925 in den USA die Entscheidung des US Supreme Court Gitlow vs. New York60 – eine Entscheidung, wie in Erinnerung gerufen sei, mit der 150 Jahre nach Gründung und nach langer Festigung der Vereinigten Staaten als echtem Bundesstaat die Grundrechte der Bill of Rights, die bis dahin nur für die Bundesgewalt galten, auf die Einzelstaaten erstreckt wurden, und zwar auf Grundlage einer Bestimmung, für deren Einfügung in die Verfassung es erst des amerikanischen Bürgerkriegs bedurft hatte. Die föderalisierende Wirkung dieser Rechtsprechung, führt die Generalanwältin insoweit klarstellend aus, sei bekannt.61 „Ein Wandel dieser Art würde die unionsrechtlichen Grundrechte in ihrem innersten Wesen rechtlich und politisch verändern.“ Wenn nicht jetzt, so müsse sich der Gerichtshof – eher früher als später – entscheiden, „ob er mit den sich entwickelnden Verhältnissen Schritt halten oder ob er legislativen und politischen Entwicklungen hinterherlaufen will. Er müsse sich insoweit die Frage stellen, ob die Union nicht nunmehr an der Schwelle zu einer Verfassungsänderung steht.“62 In solchen Forderungen geht es nicht mehr um eine Auslegung der Verträge in richterlicher Distanz, sondern um die Realisierung einer politischen Agenda in bewusster Überspielung des Vertragwillens. Genau eine solche Unitarisierung wollten die Mitgliedstaaten nicht. Für die Unionsbürgerschaft sollte dies deren strenge Akzessorietät sichern; man zielte mit ihr im Wesentlichen auf eine Erstreckung der Staat-Bürger-Beziehungen gegenüber den anderen Mitgliedstaaten, verbunden nur mit der Schaffung einzelner Rechte, wenn sich Bürger ins Ausland begeben.63 Für die Grundrechte schuf man zum Schutz vor einer solchen Vereinheitlichung bewusst Art. 51 EuGrCh. Es ist insoweit Aufgabe einer Gerichtsbarkeit – und auch der Generalanwälte – solche politische Grundentscheidungen ernst zu nehmen und sinnvoll, das heißt hier: in föderalem Geist, umzusetzen. Die Gerichtsbarkeit muss insoweit der Politik „hinterherlaufen“ – das ist ihre Aufgabe und einzige Legitimation. Ver57

EuGH, Rs. C-26/62 (Van Gend en Loos), Slg. 1963, 1. Generalanwalt F. Jacobs, Schlussanträge v. 9. 12. 1992, EuGH, Rs. C-168/91 (Konstantinidis), Slg. 1993, I-1198, Rdnr. 46. 59 Generalanwältin Sharpston (o. Fußn. 4), Rdnr. 68. 60 Vgl. Generalanwältin Sharpston (o. Fußn. 4), Rdnr. 172, unter Berufung auf USSC, 268 U.S. 652 (1925). 61 Generalanwältin Sharpston (o. Fußn. 4), Rdnr. 173. 62 Generalanwältin Sharpston (o. Fußn. 4), Rdnr. 177. 63 Die banale Ersetzung der ursprünglichen Formulierung „ergänzt“ (Art. 17 EGV) durch die Formulierung „tritt hinzu“ (Art. 20 Abs. 1 AEUV) sollte hieran nichts ändern. 58

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steht man Recht nicht mehr als das Entfalten vorgegebener politischer Grundentscheidungen, sondern als der Politik voranschreitende Schaffung von neuen Strukturen; je nachdem, ob sie jeweils gerade als gut, richtig und notwendig erscheinen, kappt man die demokratischen Wurzeln und fällt in ein soziologisch angereichertes Naturrecht zurück.64 Europa würde dann ein Konstrukt selbsternannter Eliten. Als solches könnte es uns eines Tages mit einem großen Knall um die Ohren fliegen. Der Europäische Gerichtshof ist den weitgehenden Forderungen von Sharpston bisher nicht gefolgt. Gemessen an diesen ist die Entscheidung beredt zurückhaltend und bleibt beschränkt auf den konkreten Fall. In den Folgeentscheidungen wird deutlich, dass jedenfalls vorläufig wohl auch nicht mit einer Fortentwicklung der unionsbürgerlichen Kernrechte im Sinne der Projektionen der Generalanwältin zu rechnen ist – auch wenn die argumentative Öffnung für eine solche Entwicklung nicht klar zurückgenommen wurde. Es ist zu hoffen, dass es hierbei bleibt. Das eigentliche Konfliktfeld einer föderalen Stufung des Grundrechtsschutzes ist damit aber keineswegs befriedet. Vielleicht verschiebt es sich nur auf eine andere Ebene, nämlich auf die Auslegung des Art. 51 EuGrCh: Wird diese Bestimmung nicht ernst genommen und in ehrlichem Bemühen um eine föderale Abschichtung des Grundrechtsschutzes zwischen der Union und den Mitgliedstaaten belastbar zur Entfaltung gebracht, kann sich dieselbe Entwicklung, die die Generalanwältin im Fall Zambrano über die Unionsbürgerschaft anzustoßen suchte, auch über die Grundrechtecharta vollziehen. Der Verzicht auf die Fortführung der Zambrano-Rechtsprechung wäre dann nicht mehr, als das Einschlagen eines anderen, stilleren Wegs. Tatsächlich gibt es hierfür in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Teil beunruhigende Ansätze. Aber insoweit gibt es gerade auch neuere Entscheidungen, die die Suche nach differenzierten Kriterien erkennen lassen65 – und damit nach einem Weg, der den Mitgliedstaaten nicht einen unionsrechtlich einheitlichen Grundrechtsschutz überstülpt, sondern ein substantielles Nebeneinander von europäischem und einzelstaatlichem Grundrechtsschutz. Im Europäischen Gerichtshof wird hierüber zur Zeit gerungen. Auf dass ein föderatives Miteinander gelinge!

64 Dies legt nicht etwa eine Auslegungsmethode nach der amerikanischen Lehre des original intent (vgl. dazu nur A. Scalia, Originalism. The Lesser Evil, U. Cinn. L. Rev.57 (1989), 849 ff.; Solum/Bennett (Hrsg.), Constitutional Originalism. A Debate, 2011) zugrunde: Selbstverständlich ist es den höchsten Gerichten aufgetragen, etwa Grundrecht und allgemeine Rechtsprinzipien je nach den Umständen mit neuem Inhalt zu füllen und fortzuentwickeln. Es handelt sich aber doch immer um die Entfaltung der vom Verfassungsgeber vorgegebenen „Gerechtigkeitsidee“ und um die Umsetzung des hierin liegenden Auftrags zur je neuen Aktualisierung und Ausdifferenzierung. 65 EuGH, Rs. C-400/10 (McB), Slg. 2010, I-8965, DÖV 2010, 1025; EuGH, Rs. C-483/09 und C-1/10 (Gueye und Sánchez), NJW 2012, 41; EuGH, Rs. C-40/11 (Iida); bezugnehmend auch auf EuGH, Rs. C-309/96 (Annibaldi). So bleibt etwa abzuwarten, wie der EuGH in der Rs. C-617/10 (Åkerberg Fransson) entscheiden wird, vgl. Schlussanträge des Generalanwalts P. Cruz Villalón v. 12. 6. 2012.

Verfassungsklippen einer „Lebensleistungsrente“ Von Detlef Merten I. Einleitung Mit dem Jubilar bin ich seit viereinhalb Dezennien aufgrund einer gemeinsamen Assistententätigkeit am Lehrstuhl von Karl August Bettermann in Berlin, durch verfassungsrichterliche Tätigkeit – wenn auch auf sehr unterschiedlichen Ebenen – und seit Beginn dieses Jahrtausends durch die gemeinsame Herausgabe eines „Handbuchs der Grundrechte in Deutschland und Europa“ verbunden. Darüber hinaus haben wir uns beide schon in jüngeren Jahren für das Sozialrecht interessiert, was wohl auch einer der Gründe dafür war, Hans-Jürgen Papier als Nachfolger von Hans F. Zacher auf den Lehrstuhl an der Ludwig-Maximilians-Universität in München zu berufen. Bereits als Privatdozent hatte der Jubilar vor vierzig Jahren in Band I der neu gegründeten „Vierteljahresschrift für Sozialrecht“ einen Beitrag über den „Verfassungsschutz sozialrechtlicher Rentenansprüche, -anwartschaften und -erwerbsberechtigungen“ vorgelegt, der grundsätzliche Ausführungen zum Verfassungsrecht und Sozialrecht enthält und noch heute von aktuellem Interesse ist. Deshalb kann auf ihn zurückgegriffen werden, um die Verfassungsklippen zu markieren, die für den sozialpolitischen Plan einer „Lebensleistungsrente“ gefährlich werden könnten. II. Neue und alte Pläne einer Zuschussrente 1. „Lebensleistungsrente“ Eine „Lebensleistungsrente“, wie sie die Regierungskoalition nennt, oder eine „Solidarrente“, wie sie die Opposition bezeichnet, meint ergänzende Rentenleistungen des Versicherungsträgers für Versicherte, die trotz langjähriger Versicherung und Beitragszahlung in der gesetzlichen Rentenversicherung sowie ergänzender Zusatzvorsorge für das Alter über ein Einkommen von weniger als E 850 verfügen. Für diese Personengruppe soll die gesetzliche Altersrente aus Steuermitteln bis zu dem Betrag von E 850 aufgestockt werden, was früher als „Zuschussrente“ bezeichnet wurde.1 Rententechnisch ist geplant, die Beitragszeiten für „Menschen mit geringen Einkom1 Vgl. hierzu A. Gunkel, Reformen in der Alterssicherung – Aktueller Stand der Diskussion, DRV-Schriften, Aktuelles Presseseminar der Deutschen Rentenversicherung Bund am 13. und 14. November 2012 in Würzburg, Bd. 100, Dezember 2012, S. 19 ff.

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men“ höher zu bewerten. Da die Pläne noch keine genauen Konturen angenommen haben, ist eine detaillierte verfassungsrechtliche Untersuchung nicht möglich, sondern muss sich die Prüfung auf die Übereinstimmung mit verfassungsrechtlichen Grundprinzipien und rentenversicherungsrechtliche Systemkonformität beschränken. 2. Rente nach Mindesteinkommen Die jetzt wieder aktuellen Pläne einer Zuschussrente ähneln in ihren Grundzügen der durch Art. 2 des Rentenreformgesetzes 19722 für Versicherungsfälle nach dem 31. Dezember 1972 eingeführten „Rente nach Mindesteinkommen“, die der Jubilar für verfassungswidrig erachtet hatte.3 Für Versicherte mit mindestens 25 anrechnungsfähigen Pflichtversicherungsjahren wurde bei der Rentenberechnung ein individuelles Einkommen zugrunde gelegt, das 75 % des durchschnittlichen allgemeinen Arbeitsverdienstes entsprach.4 Diese Rente nach Mindesteinkommen wurde durch Art. 1 des Rentenreformgesetzes 19925 dahingehend modifiziert, dass Versicherte, die wenigstens 35 Jahre mit rentenrechtlichen Zeiten zurückgelegt haben, aber für die Kalendermonate mit vollwertigen Pflichtbeiträgen nur einen Durchschnittswert von weniger als 0,0625 Entgeltpunkten erreichen, für diese Monate vor dem 1. Januar 1992 einen Durchschnittswert in Höhe des 1,5-fachen des tatsächlichen Durchschnittswertes, höchstens aber in Höhe von 0,0625 Entgeltpunkten erhalten (§ 262 Abs. 1 SGB VI)6. 3. Sozialpolitische Würdigung Der sozialpolitische Fehler der Rente nach Mindesteinkommen liegt in der Verkennung der Funktion der gesetzlichen Rentenversicherung. Deren Leistungen bezwecken für den Versicherungsfall des Alters keinen Lohnersatz, sondern nur eine Mindest- oder Grundsicherung7 des Zwangsversicherten. Das bezeugt schon das In-

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Gesetz zur weiteren Reform der gesetzlichen Rentenversicherungen und über die Fünfzehnte Anpassung der Renten aus den gesetzlichen Rentenversicherungen sowie über die Anpassung der Geldleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung v. 16. 10. 1972 (BGBl. I S. 1965). 3 H.-J. Papier, Verfassungsschutz sozialrechtlicher Rentenansprüche, -anwartschaften und -erwerbsberechtigungen, VSSR Bd. I (1973/74), S. 33 (56). 4 §§ 55 a Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz, 54 b Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz i. d. F. des Art. 2 RRG 1972. Zu Einzelheiten s. R. Hoernigk, Das Rentenreformgesetz in kritischer Würdigung, BB 1972, S. 1417 ff. (1419 f.). 5 Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung v. 18. 12. 1989 (BGBl. I S. 2261). 6 Für Versicherungsfälle vor 1992 enthielt Art. 82 RRG 1992 eine Sonderregelung, die durch Art. 67 Nr. 5 des Gesetzes zur Einführung des Euro im Sozial- und Arbeitsrecht sowie zur Änderung anderer Vorschriften v. 21. 12. 2000 (BGBl. I S. 1983) aufgehoben wurde. 7 Vgl. B. Schulin, Sozialrecht, 5. Aufl., 1993, Rdnr. 486, 429; ähnlich B. Igl/F. Welti, Sozialrecht, 8. Aufl., 2007, § 29 Rdnr. 3.

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stitut der verfassungsrechtlich erforderlichen Beitragsbemessungsgrenze8, die die Beitragspflicht auf eine bestimmte Einkommenshöhe des Versicherten begrenzt, woraus begrenzte Rentenleistungen resultieren. Aus diesem Grunde können beispielsweise Versicherte, deren Entgelt die Beitragsbemessungsgrenze deutlich übersteigt, aus systemimmanenten Gründen niemals mit einer den Lohn ersetzenden Altersrente rechnen, da sich der über der Beitragsbemessungsgrenze liegende Teil des Einkommens nicht in der Altersrente widerspiegelt.9 Der Charakter der Altersrente als einer Teil-Altersvorsorge zeigt sich auch daran, dass sie in dem „Drei-Säulen-Konzept“10 neben der Betriebsrente (oder der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst) und der Eigenvorsorge nur eine der drei Sicherungssäulen darstellt. Reicht die gesetzliche Altersrente einschließlich der Eigenvorsorge für den Lebensunterhalt des Versicherten nicht aus, so stehen ihm innerhalb der sozialrechtlichen Trias von Versicherung, Versorgung und Fürsorge11 Leistungen der Fürsorge (Sozialhilfe) zu. Allerdings sind Fürsorgeleistungen historisch12 wie sachlogisch mit dem Subsidiaritätsprinzip verbunden, so dass die Allgemeinheit für den Unterhalt Bedürftiger erst dann aufkommt, wenn diese „sich ihren Unterhalt nicht selbst verschaffen, und denselben auch von andern Privatpersonen, welche nach besondern Gesetzen dazu verpflichtet sind, nicht erhalten können“ (§ 1 II 19 ALR).13 Dass eigenes Vermögen und Unterhaltsansprüche eingesetzt werden müssen, bevor Fremdmittel beansprucht werden dürfen, macht den fundamentalen Unterschied zwischen Fürsorgerecht (Sozialhilferecht) einerseits und Sozialversicherungsrecht und Versorgungsrecht andererseits aus. Diesen Nachrangigkeitsgrundsatz für eine bestimmte Personengruppe zu überwinden, ist das Ziel aller sozialpolitischen Pläne einer rentenversicherungsrechtlichen Zuschussrente. Um die Privilegierung zu kaschieren, bedient man sich unrichtiger oder irreführender Etikettierungen. So handelt es sich bei dem Rentenzuschuss nach den jetzigen Plänen eben nicht um eine „Solidarleistung“, weil die Mittel hierfür nicht von den Mitgliedern der auch vom Solidarprinzip geprägten gesetzlichen Rentenversicherung aufgebracht werden,14 sondern um eine aus Steuern finanzierte Begünstigung. Mit dem Begriff der „Lebensleistungsrente“ wird das Bild eines jahrzehntelang für die Gesellschaft in hartem Einsatz tätigen, aber gering entlohnten Arbeitnehmers vorgespiegelt, dessen Lebensabend durch einen Zuschuss der Renten8

Vgl. BVerfGE 29, 221 (242 f.); BSGE 23, 241 (246 f.); BGHZ 67, 262 (270). Igl/Welti (o. Fußn. 7), § 33 Rdnr. 6. 10 Hierzu auch BVerfGE 65, 196 (212 f.); 97, 271 (294). 11 Vgl. hierzu G. Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. I, 1965, § 1, S. 1 ff. 12 Vgl. §§ 1 ff. II 19 des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten von 1794. 13 Vgl. jetzt §§ 2, 19 Abs. 1 SGB XII. 14 Vgl. BVerfGE 11, 221 (226); 22, 241 (253); 58, 81 (110, 114); 67, 231 (237); 70, 101 (111); 76, 256 (300 ff.); 109, 96 (109); 116, 96 (125); 117, 272 (294); 122, 151 (175); vgl. auch Papier, Der Einfluss des Verfassungsrechts auf das Sozialrecht, in: B. v. Maydell/ F. Ruland/U. Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, 5. Aufl., 2012, § 3 Rdnr. 13. 9

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versicherung erleichtert wird. Da diese Sozialversicherungsleistung ebenso wie die frühere Rente nach Mindesteinkommen aber nicht nach den Ursachen für die geringe Höhe der Sozialversicherungsbeiträge fragt, kommt der Rentenzuschuss auch der Golf spielenden Ehefrau des Schönheitschirurgen zugute, die neben ihrem Hobby nur wenige Stunden am Tag die Rechnungstellung in der Praxis überwacht hatte. Die geringe Beitragshöhe während eines Versicherungslebens kann die Ursache also auch in angemessen bezahlter nebenberuflicher oder Teilzeit-Tätigkeit haben. Wegen der strengen Voraussetzungen, insbesondere des Erfordernisses von 35 Jahren rentenrechtlicher Zeiten wird der geplante Rentenzuschuss ohnehin nur für einen relativ kleinen Kreis der Rentenversicherten von Bedeutung sein. Die Probleme der Altersarmut für Rentenversicherte15 und einer Sozialhilfe-Bedürftigkeit werden durch die geplante Reform nicht gelöst, sondern eher in den Hintergrund gedrängt. Sozialpolitische Unzweckmäßigkeit oder gar Ungerechtigkeit ist aber grundsätzlich noch keine Verfassungsklippe. III. Zuschussrente als Systemdurchbrechung? 1. Zur Beitragsäquivalenz Verfassungsrechtlich bedenklich wäre es, wenn die geplante Zuschussrente gegen das System der gesetzlichen Rentenversicherung verstieße, das durch das Prinzip der Beitragsäquivalenz gekennzeichnet ist.16 Dieser im Versicherungsprinzip wurzelnde Grundsatz besagt, dass eine Äquivalenz von Beitrag und Leistung besteht17 und die Versichertenrente „wesentlich durch die Beitragsleistung bestimmt“ wird.18 In neuerer Zeit wird diese Beitragsäquivalenz in ihrer rentenrechtlichen Ausprägung auch als „Teilhabeäquivalenz“ bezeichnet.19 Die Höhe einer Rente der gesetzlichen Rentenversicherung richtet sich vor allem nach der Höhe der während des Versicherungslebens durch Beiträge versicherten Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen (§ 63 Abs. 1 SGB VI). Die im einzelnen Kalenderjahr versicherten Zeiten werden in Entgeltpunkte umgerechnet, indem das individuelle Arbeitsentgelt durch das Durchschnittsentgelt aller Versicherten für dasselbe Jahr geteilt wird (§§ 63 Abs. 2, 70 Abs. 1 Satz 1 SGB VI). Die Teilhabeäquivalenz besteht nun darin, dass Versicherte mit gleichwertigen Anrechten auf Leistungen (Entgeltpunkte) die gleichen Renten erhalten, so dass zumindest innerhalb einer

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Vgl. hierzu D. Merten, Armutsfeste Alterssicherung und Verfassungsrecht, Deutsche Rentenversicherung, 2008, S. 382 ff. 16 Vgl. BVerfGE 74, 9 (30); 72, 9 (20). 17 BVerfGE 90, 226 (240). 18 BVerfGE 122, 151 (175); vgl. auch E 48, 346 (358); 67, 231 (237). 19 s. BVerfGE 122, 151 (181); 128, 138 (147); Ruland, Rentenversicherung, in: v. Maydell/ Ruland/Becker, Sozialrechtshandbuch (o. Fußn. 14), § 17 Rdnr. 176 f.

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Jahrgangskohorte20 eine „exakte Äquivalenz zwischen Beitrag und Leistung“ besteht.21 2. Systemdurchbrechung als Inkonsequenz Ist das Prinzip der Teilhabeäquivalenz Fundamentalgrundsatz der gesetzlichen Rentenversicherung, müssen sich spätere Regelungen des Gesetzgebers an dem früheren Programm orientieren,22 und muss die einmal getroffene Entscheidung „folgerichtig … umgesetzt werden“.23 Der Gesetzgeber ist also verpflichtet, „einen Grundgedanken (Leitidee, Prinzip), der für die rechtliche Normierung eines bestimmten Lebensbereichs leitend ist, folgerichtig und gleichmäßig durchzuführen …“.24 Zwar ist die Legislative nicht gehalten, ein einmal gewähltes System für immer beizubehalten und eine Neubewertung auch unter geänderten Umständen zu unterlassen.25 Jedoch muss eine Systemänderung ein „neues Regelwerk“ schaffen, so dass die Legislative nicht „jedwede[r] Ausnahmeregelung als (Anfang einer) Neukonzeption deklarieren“ kann.26 Will der Gesetzgeber aber das bisherige System als solches unangetastet lassen und es nur für einen Fall oder für einen bestimmten Sachverhalt nicht befolgen, so liegt eine Systemdurchbrechung vor, die Indiz für eine willkürliche und gleichheitswidrige Regelung sein kann, wenn in der Abweichung keine vernünftigen Kriterien zum Ausdruck kommen oder sie sachlich nicht gerechtfertigt ist.27 Den Gesetz20 An einer Äquivalenz zwischen Beitrag und Rentenhöhe kann es dagegen fehlen, wenn Versicherte zu unterschiedlichen Zeiten der Rentenversicherung angehörten und die Höhe des Beitragssatzes in diesen Perioden differierte. 21 Vgl. Ruland (o. Fußn. 19), § 17 Rdnr. 176 f. 22 Vgl. P. Kirchhof, Die Vereinheitlichung der Rechtsordnung durch den Gleichheitssatz, in: R. Mußgnug (Hrsg.), Rechtsentwicklung unter dem Grundgesetz, 1990, S. 49; Ch. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 52 ff. 23 BVerfGE 127, 224 (245); 127, 1 (88); 126, 268 (278); 124, 282 (295); 123, 111 (120 f.); 122, 210 (231); ebenso E 117, 1 (31); 116, 164 (180); 107, 27 (47); 105, 73 (126); 101, 151 (155); 101, 132 (138); 99, 280 (290); 99, 88 (95); 93, 121 (136); 84, 239 (271); 23, 242 (256); vgl. in diesem Zusammenhang auch A. Leisner, Kontinuität als Rechtsprinzip, 2002, S. 165 ff.; K.-A. Schwarz, Folgerichtigkeit im Steuerrecht. Zugleich eine Analyse der Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 3 Abs. 1 GG, in: O. Depenheuer u. a. (Hrsg.), Staat im Wort, FS für Isensee, 2007, S. 949 ff.; Ch. Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung, in: Der Staat 49 (2010), S. 77 ff.; M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik?, in: AöR 136 (2011), S. 578 ff.; M. Cornils, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, DVBl. 2011, S. 1053 (1054, 1056 ff.). 24 Papier, Der Einfluss des Verfassungsrechts auf das Sozialrecht (o. Fußn. 14), § 3 Rdnr. 95. 25 Hierzu BVerfGE 60, 16 (43); vgl. auch E 122, 210 (242); 85, 238 (247); 24, 174 (181); 18, 315 (334). 26 BVerfGE 122, 210 (242). 27 Vgl. BVerfGE 127, 224 (248); 126, 268 (280); 122, 1 (36); 118, 1 (28); 104, 74 (87); 97, 271 (291); 86, 237 (253); 85, 238 (247); 81, 156 (207); 67, 70 (84 f.); 66, 214 (223 f.); 61, 138

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geber trifft also, wie der Jubilar formuliert,28 „kein allgemeines und striktes Konsequenzgebot, sondern nur das Verbot willkürlicher Inkonsequenz und willkürlicher Prinzipiendurchbrechung“. Die Systemdurchbrechung liegt bei den geplanten Zuschussrenten („Lebensleistungsrente“, „Solidarrente“) darin, dass entgegen dem Grundsatz der Teilhabeäquivalenz oder Anteilsgerechtigkeit die Begünstigten durch den Zuschuss eine höhere Leistung erhalten als ihnen aufgrund ihrer Entgeltpunkte zustünde. Damit werden jene Rentenversicherten benachteiligt, die zwar im Ergebnis dieselbe Altersrente erhalten wie der durch den Zuschuss begünstigte Personenkreis, dafür aber eine wesentlich höhere Beitragsleistung erbringen mussten. Diese Systemdurchbrechung stellt zwar als solche noch keinen Gleichheitsverstoß dar, indiziert aber eine Ungleichbehandlung, die vor Art. 3 Abs. 1 GG gerechtfertigt sein muss.29 Die Systemdurchbrechung wird bei der Rente nach Mindesteinkommen anhand der Manipulation bei den Entgeltpunkten deutlich. Unterschreiten diese einen Mindestwert, so werden sie für die Begünstigten im Unterschied zu allen anderen Versicherten dadurch erhöht, „dass sich für die Kalendermonate mit vollwertigen Pflichtbeiträgen vor dem 1. Januar 1992 ein Durchschnittswert in Höhe des 1,5-fachen des tatsächlichen Durchschnittswerts, höchstens aber in Höhe von 0,0625 Entgeltpunkten ergibt“ (§ 262 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). 3. Steuerfinanzierung als Systembruch a) Beitragsfinanzierung als Strukturprinzip Das System der gesetzlichen Rentenversicherung wird ferner durchbrochen, wenn die geplante Zuschussrente allein durch Bundesmittel finanziert werden soll. Zu Recht verlangt das Bundesverfassungsgericht für den „verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff“ der Sozialversicherung, dass neue Sozialleistungen in ihren „wesentlichen Strukturelementen“, insbesondere „hinsichtlich der abzudeckenden Risiken“ und „der organisatorischen Durchführung“ dem Bild entsprechen, „das

(148); 60, 16 (43); 59, 36 (49); 55, 72 (88 sub II 1); 34, 103 (115); 24, 75 (100); 18, 315 (334); 18, 366 (372); 13, 331 (340); 9, 20 (28); s. ferner Chr. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976; U. Battis, Systemgerechtigkeit in: Hamburg-Deutschland-Europa, Festschrift für H. P. Ipsen, 1977, S. 11 ff.; F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, Die Selbstbindung des Gesetzgebers als Maßstab der Normenkontrolle, 1985; P. Lerche, „Systemverschiebung“ und verwandte verfassungsgerichtliche Argumentationsformeln, in: Festschrift für W. Zeidler, Bd. I, 1987, S. 557 ff.; M. Holoubek, Die Sachlichkeitsprüfung des allgemeinen Gleichheitssatzes, ÖZW 1991, S. 72 ff. (74 r.Sp.); A. Leisner-Egensperger, Selbstbindung des Gesetzgebers, ThürVBl. 2004, S. 25 (28 sub IV 3 c). 28 Papier, Der Einfluss des Verfassungsrechts auf das Sozialrecht (o. Fußn. 14), § 3 Rdnr. 96. 29 Ähnlich Papier, Der Einfluss des Verfassungsrechts auf das Sozialrecht (o. Fußn. 14), § 3 Rdnr. 96 a.E.

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durch die klassische Sozialversicherung geprägt ist“.30 Hierzu gehört vor allem, dass in der Sozialversicherung Arbeitgeber und Arbeitnehmer Beiträge leisten, „um die Aufwendungen der Sozialversicherungsträger ganz oder teilweise zu decken. Bei dieser Beitragserhebung stehen im Sozialversicherungsrecht der Risikoausgleich unter den verschiedenen Arbeitnehmern und die allgemeine Fürsorge der Arbeitgeber für die Arbeitnehmer im Vordergrund. Die Sozialversicherung soll einen sozialen Ausgleich innerhalb des Kreises der Versicherten, aber auch zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern herbeiführen“.31 Die Beiträge „sind die eigentliche und wichtigste Einnahmequelle der Rentenversicherungsträger“. Daher „ist in jeder Rentenzahlung anteilig ein Beitrag enthalten, der wirtschaftlich gesehen den Gegenwert für die früher eingezahlten Beiträge darstellt“.32 Dementsprechend bemessen sich die Rentenansprüche daher „nach dem Verhältnis des beitragspflichtigen Einkommens eines Versicherten im Vergleich zum Durchschnittslohn und bewirken eine Übertragung relativer Einkommenspositionen aus der Erwerbsphase in die Ruhestandsphase“.33 b) Differenzierung zwischen Bundeszuschuss und ausschließlicher Steuerfinanzierung Pläne, eine aus Bundesmitteln finanzierte Sockelrente für bestimmte Personengruppen zu zahlen, durchbrechen das System der gesetzlichen Rentenversicherung. Problematisch ist, dass bei Realisierung dieser Pläne die Strukturen der Sozialversicherung nur zu Hilfe genommen werden, um eine systemfremde, nämlich sowohl beitragsunabhängige als auch rein steuerfinanzierte Leistung durch die Sozialversicherungsträger auszahlen zu lassen. Zwar war die gesetzliche Arbeiterrentenversicherung von jeher auf staatliche Zuschüsse angewiesen, wobei heutzutage knapp ein Drittel der Altersrenten der gesetzlichen Rentenversicherung durch einen Bundeszuschuss finanziert werden. Aber es macht einen Unterschied, ob zusätzlich zu den Beiträgen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber staatliche Mittel gewährt werden, insbesondere um „Fremdlasten“ aufzufangen, oder ob eine Zusatzleistung geplant wird, deren Finanzierung von vornherein und ausschließlich durch Steuermittel erfolgen soll und die kaum als „Fremdlast“ deklariert werden kann. c) Grenzen des Bundeszuschusses Darüber hinaus wäre es an der Zeit, den Umfang der in Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG dem Bund auferlegten „Zuschüsse zu den Lasten der Sozialversicherung“ exakt auszumessen. Denn die Regelung, die sich in dem XI. Abschnitt „Übergangs- und Schlussbestimmungen“ befindet, garantiert nicht zweifelsfrei Bundeszuschüsse zu 30 BVerfGE 88, 203 (313); 87, 1 (84); 75, 108 (146); 63, 1 (35); 62, 354 (366); 11, 105 (112). 31 BVerfGE 14, 312 (317). 32 BVerfGE 76, 256 (299). 33 BVerfGE 122, 151 (181).

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kriegsunabhängigen „Lasten der Sozialversicherung“, wie das Bundesverfassungsgericht meint.34 Denn Art. 120 Abs. 1 GG handelt von den Aufwendungen für Besatzungskosten und den sonstigen inneren und äußeren Kriegsfolgelasten. Der auf den in Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG geregelten Bezuschussung der Sozialversicherung folgende Satz 5 bestimmt ausdrücklich, dass „die durch diesen Absatz geregelte Verteilung der Kriegsfolgelasten auf Bund und Länder“ die gesetzliche Regelung von Entschädigungsansprüchen für Kriegsfolgen unberührt lässt. Und Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG verheißt auch nicht wie § 213 Abs. 1 SGB VI Zuschüsse „zu den Ausgaben der allgemeinen Rentenversicherung“, sondern „Zuschüsse zu den Lasten der Sozialversicherung“, wobei eine begriffliche Verwandtschaft von „Kriegsfolgelasten“ und „Lasten“ besteht.35 Es geht hierbei nicht um Silbenstecherei, sondern um eine begrifflich wie systematisch, genetisch wie teleologisch sinnvolle Begrenzung von Ausuferungen, die neben dem „allgemeinen Bundeszuschuss“36 zu „einem zusätzlichen Bundeszuschuss“ (§ 213 Abs. 3 SGB VI) nebst „Erhöhungsbetrag“ (§ 213 Abs. 4 SGB VI) geführt und die die Allgemeinheit unter anderem mit einer Mehrwertsteuererhöhung belastet haben.37 Dabei bedarf es auch der grundsätzlichen Klärung, bis zu welcher Höhe der steuerfinanzierte Bundeszuschuss aufstockbar ist, der die Allgemeinheit belastet und nur Sozialversicherte begünstigt. Unabhängig davon handelt es sich nicht um einen „Zuschuss“, wenn für die geplante Zuschussrente der Bund von vornherein die Alleinfinanzierung übernimmt und die für die gesetzliche Rentenversicherung vorgesehenen Finanzierungsträger Arbeitnehmer und Arbeitgeber nicht einmal zur Mitfinanzierung herangezogen werden. Sachlich steht die geplante Zuschussrente der Fürsorge ohnehin näher als der Sozialversicherung. Wird diese jedoch unabhängig vom individuellen Bedürfnis gewährt, ist sie mit der „klassischen“ subsidiaren Fürsorge38 nicht vereinbar. IV. Gleichheitssatz als Differenzierungsgebot Die knappe Verfassungsaussage des Art. 3 Abs. 1 GG, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, statuiert zunächst nur personale Gleichheit, so dass jeder „in gleicher Weise durch die Normierungen des Rechts berechtigt und verpflichtet“ wird.39 Diese Kernforderung des Gleichheitssatzes40 wurde schon früh durch das Gebot materieller Gleichheit ergänzt, so dass der Gesetzgeber „im wesentlichen glei34 BVerfGE 14, 221 (235); ebenso die h.M.: s. Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 12. Aufl., 2012, Art. 120 Rdnr. 7. 35 Vgl. N. Kranz, Die Bundeszuschüsse zur Sozialversicherung, 1988, S. 131 ff. 36 § 213 Abs. 2 a SGB VI. 37 Zu den Einzelheiten Ruland (o. Fußn. 19), Rdnr. 193 f. 38 Hierzu BVerfGE 106, 62 (133); 108, 186 (214). 39 BVerfGE 71, 354 (362); 66, 331 (363); BVerfG (Kammer) NVwZ 2005, S. 81 (82). 40 Hierzu G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 165 m.N.

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che Tatbestände ohne Ansehen der Person gleich“ regeln muss.41 Wenn aber Gleiches gleich zu behandeln ist, darf Ungleiches nicht auch gleich, sondern muss unterschiedlich geregelt werden. Dies hatte auch der Parlamentarische Rat in einer später entfallenen Formulierung des Gleichheitssatzes mit den Worten vorgesehen: „Das Gesetz muß Gleiches gleich, es kann Verschiedenes nach seiner Eigenart behandeln“.42 Das Verbot der Gleichbehandlung ungleicher Sachverhalte ist notwendige Konsequenz des allgemeinen Gleichheitssatzes, weshalb auch das Bundesverfassungsgericht seine frühere Rechtsprechung rasch korrigiert und für den Gesetzgeber die Weisung gegeben hat: „Gleiches gleich, Ungleiches seiner Eigenart entsprechend verschieden“ bei „steter Orientierung am Gerechtigkeitsgedanken“ zu regeln, so dass die Kurzformel lautet, „wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln“.43 Insbesondere darf eine Regelung keine „ohne sachlich zureichenden Grund“ getroffene „Differenzierung von im wesentlichen gleich liegenden Sachverhalten oder Nichtdifferenzierung von im wesentlichen verschiedenen Sachverhalten“ vorsehen.44 Gerade Abweichungen von einem System ohne grundsätzliche Systemänderung bedürfen „eines besonderen sachlichen Grundes“.45 Sie sind mit Art. 3 Abs. 1 GG nur dann vereinbar, wenn sie „sachlich hinreichend gerechtfertigt“ sind,46 wenn eine im System „angelegte Sachgesetzlichkeit“ nicht „ohne ausreichenden Grund“ verlassen wird47 bzw. wenn hierfür „plausible Gründe“ sprechen.48 Das Verbot der Sachwidrigkeit im Rahmen des Gleichheitssatzes49 bedeutet, dass eine Regelung „sachbereichsbezogen“50 oder „bereichsspezifisch“51 sachgerecht sein muss. Bei Anwendung dieser Rechtsprechung ist schon die Durchbrechung des Systems der „Teilhabeäquiva41

BVerfGE 1, 97 (107). Vgl. W. Matz, JöR NF Bd. 1 (1951), S. 67 ff. (72). 43 BVerfGE 51, 60 (76); 61, 138 (147); 64, 158 (168); 69, 150 (159 f.); 71, 255 (271); 73, 1 (38); 78, 104 (121); 90, 145 (195 f.); 93, 319 (348); 93, 386 (396 f.); 97, 89 (101); 97, 332 (344); 98, 365 (385); 101, 275 (290); 103, 242 (258); 103, 310 (318); 108, 52 (67); 108, 186 (223); 110, 141 (167); 110, 370 (398 f.); 110, 412 (431); 112, 164 (174); 112, 268 (279); 113, 167 (214); 114, 258 (297); 115, 51 (61); 115, 381 (389); 116, 164 (180); 117, 1 (30); 118, 1 (27): 120, 1 (29); 121, 108 (119); 121, 317 (369); 122, 210 (230); 123, 1 (19); 123, 111 (119); 124, 251 (265); 125, 1 (17); 126, 268 (277); 126, 400 (416); 127, 263 (280 sub B I 3 a); 129, 49 (68). 44 BVerfGE 25, 198 (205). 45 BVerfGE 126, 268 (278); 122, 210 (231); 117, 1 (31); 116, 164 (180 f.); 107, 27 (47); 105, 73 (126). 46 BVerfGE 122, 1 (36); 118, 1 (28); 104, 74 (87). 47 BVerwG ZBR 2010, S. 381 (382 Rdnr. 11) unter Hinweis auf BVerfGE 85, 238 (247). 48 Vgl. BVerfGE 81, 156 (207). 49 Vgl. BVerfGE 23, 153 (191); 35, 79 (157); 37, 38 (51); 60, 16 (42); 65, 141 (149); 87, 1 (36); 103, 242 (258); 103, 310, 320); 108, 52 (68); 110, 412 (436); 112, 164 (175). 50 BVerfGE 75, 108 (157); 78, 249 (287); 85, 176 (187); 93, 319 (349); 93, 386 (397); 101, 275 (291); 103, 310 (318); 107, 218 (244); 107, 257 (270); 108, 52 (68); 115, 51 (61). 51 BVerfGE 84, 239 (268). 42

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lenz“ ausreichender Beleg für die sachlich nicht hinreichend gerechtfertigte Regelung einer nicht durch Beiträge gedeckten rentenversicherungsrechtlichen Zuschussrente. An diesem Ergebnis kann auch der Hinweis nichts ändern, dass das Sozialversicherungsrecht „auch auf dem Gedanken der Solidarität und des sozialen Ausgleichs“ beruht.52 Solidarität meint „wechselseitige Verbundenheit“ und „wechselseitige Verantwortlichkeit im Füreinander-Einstehen“53. Alle Angehörigen einer Gruppe sollen durch ihre Beiträge die Versorgung der wirtschaftlich Schwächeren sicherstellen.54 Sozialer Ausgleich bedeutet, dass die Beiträge innerhalb der Versichertengemeinschaft nicht nach dem Risiko, sondern nach dem Arbeitseinkommen bemessen, Sachleistungen unabhängig von den geleisteten Beiträgen gewährt und Familienangehörige in die Leistungen ohne Beitragserhöhung einbezogen werden.55 Die Solidargemeinschaft der gesetzlichen Rentenversicherung kennt Elemente des sozialen Ausgleichs (z. B. als Hinterbliebenenrenten, als Ausbildungs- oder Zurechnungszeiten). Die Altersrente wird jedoch so wesentlich durch das Versicherungsprinzip geprägt,56 dass die „Entgelt- bzw. Beitragsbezogenheit der Rente“ ein Fundamentalprinzip der gesetzlichen Rentenversicherung ist57 – in einer Kurzformel ausgedrückt: „Hohe Beiträge bringen hohe Rentenleistungen, geringe Beiträge geringe Rentenleistungen“58 (Beitragsadäquanz).59 Findet aber bei der Altersrente kein sozialer Ausgleich statt, erscheint eine Zuschussrente system- und gleichheitswidrig. Hinzu kommt, dass den Ursachen für die geringe Höhe der Altersrente nicht nachgegangen wird. Sie können, wie bereits ausgeführt,60 in einer zu geringen Beschäftigungsdauer infolge von Nebenbeschäftigung oder Teilzeitarbeit beruhen,61 aber auch in einvernehmlich geregelter nicht marktgerechter Entlohnung (z. B. bei der Beschäftigung von Familienmitgliedern, bei wirtschaftlich schlechter Lage des Unternehmens, bei karitativer Tätigkeit) liegen. Gründe können auch nicht-sozialversicherungspflichtige Teile des Arbeitsentgelts (Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeitszu-

52 BVerfGE 122, 151 (175); s. auch E 11, 221 (226); 22, 241 (253); 58, 81 (110); 67, 231 (237); 70, 101 (111); 76, 256 (300); 97, 271 (285); 109, 96 (109); 116, 96 (125); 117, 272 (293). 53 Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts (o. Fußn. 11), S. 175. 54 BVerfGE 78, 232 (240). 55 Wannagat (o. Fußn. 11), S. 176. 56 BVerfGE 122, 151 (175); ähnlich E 48, 346 (358); 67, 231 (237). 57 Vgl. Igl/Welti, Sozialrecht (o. Fußn. 7), § 29 Rdnr. 11. 58 Igl/Welti (o. Fußn. 7), § 34 Rdnr. 73. 59 Th. Kunig, in: ders./I. v. Münch, GG, 6. Aufl., 2012, Art. 74 Rdnr. 55, S. 108; Chr. Degenhart, in: Sachs, GG, 6. Aufl., 2011, Art. 74 Rdnr. 57; vgl. auch F. Kirchhof, Finanzierung der Sozialversicherung, in: J. Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 3. Aufl., 2007, § 125 Rdnr. 27, S. 1455. 60 s. oben II. 3. a.E. 61 Vgl. auch Papier (o. Fußn. 3), S. 56.

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schläge) sein.62 Selbst Fälle kollusiven Zusammenwirkens von Arbeitgeber und Arbeitnehmern zur Senkung der Steuer- und Sozialversicherungslast sind nicht auszuschließen. Sozialpolitisch gängigen Argumenten für eine zu niedrige Altersrente wie die zu geringe finanzielle Bewertung von Sachbezügen ist inzwischen durch realistisch festgesetzte Werte für Verpflegung und Unterkunft als Sachbezug63 Rechnung getragen worden. Schwerer fällt ins Gewicht, dass die geplante Zuschussrente nicht davon abhängig sein soll, ob im Einzelfall ein Bedürfnis nach einer Rentenerhöhung besteht. Da die gesetzliche Altersrente ohnehin nur eine Säule im „Drei-Säulen-Konzept“ der Alterssicherung darstellt,64 kann der Versicherte als ehemaliger Teilzeitbeschäftigter daneben andere Formen von Alterseinkünften beziehen, z. B. als Teilzeitbeamter eine Beamtenversorgung oder eine Rente aus berufsständischer Versorgung, wenn er als Selbstständiger nur einige Stunden in abhängiger Beschäftigung tätig war. Wer aus karikativem Mäzenatentum in gemeinnützigen Einrichtungen für einen Niedriglohn arbeitet, wird in der Regel ebenfalls nicht auf eine Zuschussrente angewiesen sein. Aus vielerlei Gründen wird daher die geplante Zuschussrente ihre Funktion als soziale Ausgleichsleistung nicht erfüllen, weil die Betroffenen nicht auf sie angewiesen sind. Dabei tritt wiederum ein Systembruch zutage. Denn auf Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung, die dem sozialen Ausgleich dienen (wie z. B. Renten wegen Todes), werden Einkommen und Einkommensersatzleistungen ansonsten in beträchtlicher Höhe angerechnet, wie § 97 SGB VI ausweist.65 V. Gleichheitssatz als Gruppengerechtigkeit Die durch die geplante Zuschussrente bewirkte Systemdurchbrechung wirkt als Indiz für eine gleichheitswidrige Regelung auch dann, wenn man sie an der für Art. 3 Abs. 1 GG vom Bundesverfassungsgericht entwickelten „neuen Formel“66 misst. Danach ist Art. 3 Abs. 1 GG vor allem dann verletzt, „wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten“.67 62 Vgl. § 1 der Verordnung über die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung von Zuwendungen des Arbeitgebers als Arbeitsentgelt (Sozialversicherungsentgeltverordnung) v. 21. 12. 2006 (BGBl. I S. 3385). 63 Vgl. § 2 f. der Sozialversicherungsentgeltverordnung (o. Fußn. 62). 64 s. oben II. 3. 65 Vgl. auch Ruland, Rentenversicherung (o. Fußn. 19), § 17 Rdnr. 118 ff. 66 Vgl. M. Sachs, Die Maßstäbe des allgemeinen Gleichheitssatzes – Willkürverbot und sogenannte neue Formel, JuS 1997, S. 124 ff.; R. Zippelius/Th. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl., 2008, § 23 Rdnr. 19 ff. 67 BVerfGE 55, 72 (88 sub II 1); 58, 369 (373 f.); 60, 123 (133 f.); 60, 329 (346 sub II 1); 62, 256 (274); 64, 229 (239); 65, 104 (112 f.); 67, 231 (236); 70, 230 (239 f.); st.Rspr.; aus jüngerer Zeit E 110, 141 (167); 110, 412 (431 f.); 111, 115 (137 sub C I 1 a); 112, 50 (67);

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Behandelt der Gesetzgeber vergleichbare Personengruppen dennoch unterschiedlich, so muss sich die Regelung – sachbereichsbezogen – „auf einen vernünftigen oder sonstigen einleuchtenden Grund von hinreichendem Gewicht zurückführen“ lassen.68 Dabei unterliegt die Legislative „regelmäßig einer strengen Bindung“.69 Unabhängig davon sind strengere Anforderungen an den Gesetzgeber zu stellen, je weniger die Betroffenen in der Lage sind, „durch ihr Verhalten die Verwirklichung der Kriterien zu beeinflussen, nach denen unterschieden wird“.70 1. Zuschussrente als Ungleichbehandlung vergleichbarer Gruppen Vergleicht man in der gesetzlichen Rentenversicherung die Gruppe, die infolge einer zu geringen Altersrente eine Zuschussrente erhält, mit den Versichertengruppen, die infolge höherer Beitragsleistungen nicht in den Genuss einer Zuschusszahlung kommen, so zeigt sich, dass die Gruppen mit höheren Beitragszahlungen im Ergebnis entweder genauso oder schlechter stehen wie die Versicherten, deren geringere Beiträge durch eine nicht beitragsgedeckte Zuschusszahlung aufgestockt werden. Der Grundsatz der Beitrags- oder Teilhabeäquivalenz wird also zugunsten der Versichertengruppe, die niedrigere Beiträge gezahlt hat, verletzt. Zum Zeitpunkt der Beitragszahlung war für die benachteiligten Versichertengruppen die jetzt geplante Kriterienänderung nicht absehbar; sie hätten sie darüber hinaus auch nicht beeinflussen können, da die gezahlten Sozialversicherungsbeiträge nicht von ihrer eigenen Entscheidung, sondern von der Höhe ihres Arbeitsentgelts abhängig waren. Selbst zukünftig müssten die benachteiligten Versichertengruppen auf einen Teil ihres Arbeitsentgelts verzichten, um Teilhabegerechtigkeit zu erreichen, wobei jedoch der eintretende Schaden in keinem Verhältnis zur Erreichung einer Anteilsgerechtigkeit stünde. 2. Nichtanrechnung von Vermögen als Begünstigung Vor dem aus Art. 3 Abs. 1 GG folgenden Gebot der Gruppengerechtigkeit muss nicht nur die Verletzung der Beitrags- und Teilhabeäquivalenz durch eine geplante Zuschussrente, sondern auch die Nichtanrechnung von Vermögen Bestand haben. Denn bei der geplanten Zuschussrente sollen andere Einkünfte (z. B. als Zusatzver112, 74 (86); 112, 368 (401); 113, 167 (214 f.); 116, 164 (181); 117, 272 (300 f.); 117, 302 (311 sub C I); 117, 316 (325 sub C I 1); 120, 125 (144); 121, 317 (369); 122, 39 (52 f.); 122, 151 (174); 123, 111 (116); 124, 199 (219 f.); 124, 251 (265); 126, 233 (263); 126, 369 (397); 126, 400 (418) ; 129, 49 (69); 129, 208 (262); 130, 52 (66); 130, 240 (253). 68 BVerfGE 107, 257 (270) unter Hinweis auf E 42, 374 (388); 75, 108 (157); 78, 232 (247); 100, 138 (174); 101, 54 (101). 69 BVerfGE 88, 87 (96); 90, 46 (56); 95, 39 (45); 95, 143 (155); 95, 267 (316); 98, 365 (389); 102, 68 (87); 105, 313 (363); 121, 317 (369); 129, 208 (262); vgl. auch E 126, 400 (417). 70 BVerfGE 129, 49 (69); vgl. ferner E 127, 263 (280 sub B I 1 a); 126, 400 (418); 122, 39 (52); 111, 160 (169); 95, 267 (316); 92, 26 (52); 90, 22 (26); 88, 87 (96); 88, 5 (12); 81, 156 (206); 68, 237 (250); 60, 329 (346); 55, 72 (89).

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sorgung, private Lebensversicherung etc.) und vorhandene Leistungen nicht berücksichtigt werden. Auf diese Weise wird den Sozialversicherten mit Zuschussrente eine Begünstigung, nämlich die Nichtanrechnung zusätzlichen Einkommens oder des Vermögens, gewährt, die anderen Gruppen vorenthalten wird, so dass ein gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss vorliegt.71 Zwar hat das Bundesverfassungsgericht die Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers betont, „an welche tatsächlichen Verhältnisse er Rechtsfolgen knüpft und wie er von Rechts wegen zu begünstigende Personengruppen definiert“.72 Auch wenn die Legislative bei der Gewährung von Sozialleistungen, die an die Bedürftigkeit des Empfängers anknüpfen, einen weiten Spielraum hat, „ob und in welchem Umfang das Vermögen des Empfängers auf den individuellen Bedarf angerechnet wird“,73 werden die dem Gesetzgeber gezogenen Grenzen jedoch überschritten, „wenn durch die Bildung einer rechtlich begünstigten Gruppe andere Personen von der Begünstigung ausgeschlossen werden und sich für diese Ungleichbehandlung kein in angemessenem Verhältnis zu dem Grad der Ungleichbehandlung stehender Rechtfertigungsgrund finden lässt“.74 Im Falle der geplanten Zuschussrente bleiben für die Begünstigten Einkommen und Vermögen unangetastet, da die Sozialleistung unabhängig davon gewährt wird. Demgegenüber müssen nicht sozialversicherte Personengruppen, die beispielsweise eine berufsständische Versorgung oder eine private Lebensversicherung in derselben zu geringen Höhe erhalten, ohne Zuschusszahlung die Sozialhilfe beanspruchen und dafür zunächst ihr privates Vermögen einsetzen, was bei Veräußerung einer Immobilie in wirtschaftlich schlechten Zeiten zu erheblichen Vermögensschäden führen kann. Wenn aber die Zuschussrente ohnehin vom Staat aus Steuermitteln finanziert wird, unterscheidet sich die Gruppe der Sozialversicherten von anderen Gruppen (Gewerbetreibenden, freiberuflich Tätigen), die ebenso lange gearbeitet haben und im Alter ebenfalls nur ein niedriges Einkommen beziehen, nicht in so relevanter Weise, dass die ungleiche Behandlung gerechtfertigt ist. Gerade bei der Inanspruchnahme von Steuermitteln ist die langjährige Zugehörigkeit zur Sozialversicherung kein sachlich gerechtfertigtes Merkmal, um vergleichbare Personengruppen, die sich in einer ähnlichen sozialen Lage befinden, von der Privilegierung auszuschließen. VI. Fehlende Totalkompetenz des Bundesgesetzgebers für das Sozialrecht Eine letzte Verfassungsklippe könnte die Gesetzgebungszuständigkeit für den Bundesgesetzgeber darstellen, dessen Zuständigkeit jedoch erst anhand eines formulierten Gesetzesentwurfs beurteilt werden kann. Jedenfalls fehlt dem Bund eine le71

BVerfGE 110, 412 (431); 112, 164 (174); 116, 164 (180); 121, 108 (119); 124, 199 (218); 124, 251 (265); 126, 29 (43); 126, 400 (416); 127, 263 (280 sub B I 3 a); 130, 131 (150). 72 BVerfGE 99, 165 (178). 73 Vgl. BVerfGE 100, 195 (205). 74 BVerfGE 99, 165 (178); vgl. auch E 82, 126 (146).

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gislative Totalkompetenz für das Sozialrecht (Recht der sozialen Sicherheit) schlechthin.75 Vielmehr sind ihm Gesetzgebungsbefugnisse jeweils nur für einzelne Sachgebiete eingeräumt. Eine Gesamtkompetenz kann auch nicht durch eine Zusammenschau aller Teilkompetenzen erreicht werden, da Art. 70 Abs. 1 GG nach dem Regel-Ausnahme-Prinzip eine grundsätzliche Landesgesetzgebungskompetenz und eine Bundesgesetzgebungskompetenz nur kraft besonderer Verleihung besteht. Für die geplante Zuschussrente kommt die konkurrierende Gesetzgebungsbefugnis des Bundes gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 für „die öffentliche Fürsorge“ und nach Nr. 12 GG für „die Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung“ in Betracht. Zwar ist der Bund nicht gehindert, neue Sozialleistungen gesetzlich einzuführen. Soweit er sich für diese auf die „Sozialversicherung“ stützen will, müssen sie in ihren „wesentlichen Strukturelementen“, insbesondere „hinsichtlich der abzudeckenden Risiken“ und der „organisatorischen Durchführung“ dem Bild entsprechen, „das durch die klassische Sozialversicherung geprägt ist.76 Dabei reicht für die Inanspruchnahme der Kompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG die bloße organisatorische Zuweisung an die Sozialversicherung nicht aus. Andernfalls könnte der Bund seine Zuständigkeit für beliebige Regelungen dadurch begründen, dass er die Sozialversicherungsträger mit dem Verwaltungsvollzug betraute, obwohl eine sachliche Nähe zur Sozialversicherung fehlte. Die organisatorische Bewältigung kann daher stets nur ein zusätzliches77, niemals aber das allein entscheidende Merkmal für eine „sozialversicherungsrechtliche“ Regelung sein.78 Vielmehr kommt es darauf an, dass neue Leistungen „dem Bild entsprechen, das durch die klassische Sozialversicherung geprägt ist. Entscheidend ist ein Verständnis der Sozialversicherung im Sinne der ,gemeinsamen Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit‘“.79 Gerade hieran fehlt es jedoch der Zuschussrente, weil die Mittel für die neue Sozialleistung nicht durch „Verteilung auf eine organisierte Vielheit“, nämlich die Solidargemeinschaft der Rentenversicherten erfolgt, sondern allein aus Bundesmitteln aufgebracht werden soll. Wegen dessen Alleinfinanzierung fehlt jede inhaltliche Verbindung zum Sozialversicherungsrecht, so dass der Sozialversicherungsträger hier letztlich als Sozialamt für Rentenversicherte tätig wird. Wollte der Gesetzgeber seine Kompetenz aber auf die „öffentliche Fürsorge“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7) stützen, so stehen seine Pläne im Widerspruch zu den Strukturprinzipien „klassischer Fürsorge“,80 die von dem Fundamentalprinzip der Subsidiarität oder des Nachrangs der Sozialhilfe geprägt ist. Als Sozialhilfeleistung müsste die „Lebensleistungsrente“ an die Bedürftigkeit der Empfänger geknüpft werden und dürfte sich aus Gründen der Gruppengerechtigkeit nicht 75

BVerfGE 11, 105 (111 ff.); Papier (o. Fußn. 14), Rdnr. 11. BVerfGE 88, 203 (313); 87, 1 (34); 75, 108 (146); aus jüngerer Zeit E 113, 167 (196). 77 Vgl. BVerfGE 87, 1 (34). 78 D. Merten, Verfassungsrechtliche Grundlagen, in: B. Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, Krankenversicherungsrecht, 1994, § 5 Rdnr. 118. 79 BVerfGE 87, 1 (34) unter Hinweis auf E 75, 108 (146). 80 Vgl. BVerfGE 106, 62 (133); 108, 186 (214). 76

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auf Sozialversicherte beschränken, sondern müsste alle in Betracht kommenden Bürger umfassen, womit jedoch keine Verbesserung des jetzigen Zustands erreicht wäre.

Sozialstaatsfragen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Von Udo Steiner I. Prozessuale und materielle Grundlagen der sozialstaatlichen Rechtsprechung des BVerfG 1. Zugangs- und Zuständigkeitsfragen Verfassungsfragen des deutschen Sozialrechts haben das BVerfG von Anfang an beschäftigt. Im Beschluss des Ersten Senats vom 29. April 1954 findet sich – soweit ersichtlich – erstmals eine sozialstaatliche Aussage, und sie ist schon so etwas wie prophetisch: „In verstärktem Maße ist die Behörde an das Prinzip der Sozialstaatlichkeit als Teil der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gebunden“.1 In der Folgezeit ist fast kein Band der Amtlichen Sammlung zu finden, in dem nicht Senatsentscheidungen zum Sozialrecht enthalten sind. Diese Dichte hat ihren Grund naturgemäß in dem großen Gewicht, das sozialrechtliche Fragen in der deutschen Nachkriegsgesetzgebung hatten und haben. Sie ist aber auch verfahrensrechtlich zu erklären. Die Anrufung der Sozialgerichte, Voraussetzung für die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG), löst in der Regel keine Gerichtskosten aus (§ 183 SGG). Die Beteiligten können vor dem Sozialgericht und dem Landessozialgericht den Rechtsstreit selbst führen (§ 73 Abs. 1 SGG). Vor dem BSG bestehen für die Vertretung durch Prozessbevollmächtigte, die erforderlich ist, mehrere Optionen (§ 73 Abs. 4 SGG). Dies erleichtert das Beschreiten des Rechtswegs. Hinzu kommt, dass die deutschen Sozialgerichte traditionell in beeindruckendem Umfang den Weg der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG beschreiten.2 Verfassungsfragen des Sozialrechts liegen im Zuständigkeitsbereich des Ersten Senats, dessen Vorsitzender der Jubilar von 1998 bis 2010 war. Bis 2007 waren sie fast ausnahmslos einem Dezernat anvertraut. Aber auch der Zweite Senat hat im Rahmen seiner verfahrensrechtlichen Zuständigkeiten (vgl. § 14 Abs. 2 BVerfGG) wegweisende Entscheidungen zum Sozialrecht gefällt. Ein prominentes Beispiel ist sein Beschluss zur Künstlersozialversicherung vom 8. April 1987.3 Aus jüngerer Zeit ist der Beschluss vom 18. Juli 2005 zum sog. Risikostrukturausgleich in der GKV zu 1

BVerfGE 3, 377 (381) – Schutzbestimmung für Schwerbeschädigte. Siehe dazu U. Steiner, Bundesverfassungsgericht, Bundessozialgericht und das deutsche Sozialrecht, in: v. Wulffen/Krasney, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 61 (67 ff.). 3 BVerfGE 75, 108. 2

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nennen.4 Für den Vollzug des SGB II war von weitreichender Bedeutung das Urteil vom 20. Dezember 2007 zu den sog. Arbeitsgemeinschaften.5 Zu den Entscheidungen der Senate kommen noch zahlreiche Kammerentscheidungen hinzu, die substanzielle Aussagen zu verfassungsrechtlichen Fragen des Sozialrechts enthalten. Für die Praxis des Ersten Senats ist charakteristisch, dass seine Entscheidungen in Sozialrechtsfragen sehr häufig im Einvernehmen ergehen.6 2. Sozialverfassungsrechtliche Rechtsprechung ohne Sozialverfassung Das unbestreitbare hohe Gewicht des Sozialverfassungsrechts innerhalb der Rechtsprechung des BVerfG ist zunächst einmal erstaunlich, enthält doch bekanntlich das Grundgesetz keine Sozialverfassung und insbesondere keine sozialen Grundrechte. Dies macht einen wesentlichen Unterschied zum deutschen Landesverfassungsrecht und nicht zuletzt zum bayerischen Verfassungsrecht aus, das der Jubilar an der Universität München in Forschung und Lehre vertreten hat.7 Die Bayerische Verfassung enthält, aus der Kriegs- und Noterfahrung von 1946 heraus entstanden, zahlreiche Sozialversprechen.8 Das deutsche Grundgesetz gilt als Beleg für die Erfahrung, dass die Qualität einer sozialstaatlichen Ordnung nicht von verfassungsrechtlichen Sozialgarantien abhängig ist, sondern primär in der Bereitschaft der Politik und der sie tragenden Wähler zu sozialer Verantwortung und in der Prosperität eines Landes begründet ist.9 Der soziale Stolz des Grundgesetzes ist das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG).10 Mit ihm konnte das BVerfG insgesamt behutsam umgehen. Es musste dieses Staatsziel nicht angestrengt normativ aktivieren, weil der Sozialgesetzgeber in der Nachkriegszeit selbst hinreichend aktiv war. Dem Sozialstaatsprinzip wird die – allerdings sehr wichtige – Legitimation des Gesetzgebers entnommen, soziale Belange Einzelner oder von Gruppen zum Gegenstand seines 4

BVerfGE 113, 167. BVerfGE 119, 331. 6 Von den Senatsentscheidungen des Ersten Senats zum Sozialrecht zwischen 1995 und 2007 sind drei Viertel mit 8:0 Richterstimmen getroffen worden. 7 Siehe z. B. H.-J. Papier, in: Berg/Knemeyer/Papier/Steiner, Staats- und Verwaltungsrecht in Bayern, 6. Aufl. 1996, S. 1 ff. 8 Siehe etwa Art. 106 Abs. 1 (Recht auf Wohnung), Art. 128 Abs. 1 (Recht auf Ausbildung), Art. 166 Abs. 2 (Recht auf Arbeit) und Art. 168 Abs. 3 (Recht auf Fürsorge). 9 Siehe dazu W. Wiederin, VVDStRL 64 (2005), 79 ff. und M. Stolleis, Die unvollendete Gerechtigkeit. Das Projekt Sozialstaat und seine Zukunft, 2005, S. 65 f. 10 Dazu statt vieler H.-J. Papier, Soziale Nachhaltigkeit nach dem Grundgesetz, in: FS Steiner, 2009, S. 564 ff.; P. Kirchhof, Das Soziale – Aufgabe der freiheitsberechtigten Gesellschaft und des freiheitsverpflichteten Staates, a.a.O., S. 430 ff.; J. Wieland, Der soziale Rechtsstaat als Gewährleistungsstaat, a.a.O., S. 932 ff. Vgl. ferner H. M. Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, 2008, S. 10 ff.; J. Aulehner, Grundrechte und Gesetzgebung, 2011, S. 182 ff. 5

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Gemeinwohlauftrags zu machen und sich dabei auch solcher Instrumente zu bedienen, die zur Förderung dieser Belange andere verpflichten und andere belasten, durch die Anordnung von Versicherungszwang beispielsweise und durch die Auferlegung von Pflichtbeiträgen im System der Sozialversicherung.11 Vor allem hat das BVerfG unter Berufung auf das Sozialstaatsprinzip dem Gesetzgeber beigestanden, wenn er bestimmte, als grundlegend geltende soziale Prinzipien, wie den Gedanken der Solidarität, zur Geltung gebracht und ausgeformt hat.12 Andererseits hat das BVerfG den im Auftrag des Sozialstaatsprinzips die Sozialordnung offensiv gestaltenden Gesetzgeber immer wieder in das Grundgesetz „eingefangen“ und seiner Tätigkeit vor allem grundrechtliche Grenzen gesetzt (II), den Grundrechten strukturelle Vorgaben für die Sozialpolitik entnommen (III) und ihm zudem von Zeit zu Zeit eine Neubestimmung seines Leistungskonzepts abverlangt (IV). Man kann daher – sieht man auf das Verhältnis von Verfassung und parlamentarischen Gesetzgeber – von einer ambivalenten Aktivierung des Sozialstaatsprinzips in der Rechtsprechung des BVerfG sprechen. Insgesamt hat das Gericht das Grundgesetz gerade im Sozialrecht zu eindrucksvoller Wirkung gebracht.13 II. Grundrechtliche Grenzen sozialpolitischer Gestaltung 1. Gleichheitsgewährung (Art. 3 Abs. 1 GG) im Sozialrecht Als verfassungsrechtlicher Maßstab für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit gesetzlicher, administrativer und gerichtlicher Entscheidungen und Maßnahmen im Bereich der Sozialordnung stehen die Grundrechte des Grundgesetzes im Vordergrund. Es ist vor allem der grundrechtliche Anspruch auf Gleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG, der als Maßstab in der Rechtsprechung in wohl mehr als der Hälfte aller Senatsentscheidungen dominiert. Der sozial aktive Gesetzgeber differenziert, weil er (sach-)gerecht entscheiden will, fast mit jedem seiner Rechtssätze nach Person, Sachverhalt und Zeit. Ralf Dahrendorf hat dies mit der fein pointierten Formulierung umschrieben, vor dem Gesetz seien alle gleich, danach nicht mehr. Es ist der Gleichbehandlungsgrundsatz, auf den sich die deutsche Gesellschaft wie kaum auf einen anderen Wert einigen kann. Das BVerfG entscheidet hier in einer sehr legitimen und eher defensiven Rolle. Es findet das Gesetz und dessen Entscheidungen vor und beurteilt die in ihm vorgenommene und mit der Verfassungsklage angegriffene Ungleichbehandlung (oder eben auch Gleichbehandlung) anhand allgemeiner Kriterien, 11 Siehe dazu U. Steiner, Versicherungsfreiheit und Versicherungszwang – Bilanz und Perspektiven, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 2004/II, 2005, S. 139 ff. 12 Siehe z. B. BVerfGE 56, 191 (196) – Grundsatz der einheitlichen Beitragsbemessung in der GKV. 13 Nachzulesen ist dies nicht zuletzt in den Veröffentlichungen des Jubilars. Siehe vor allem H.-J. Papier, Der Einfluss des Verfassungsrechts auf das Sozialrecht, in: v. Maydell/ Ruland/Becker, Sozialrechtshandbuch, 5. Aufl. 2012, § 3; ders., Staatsrechtliche Vorgaben für das Sozialrecht, in: FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 23 ff.

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die es zur Konkretisierung des Gleichheitsgrundsatzes entwickelt hat.14 Die hierzu ergangenen verfassungsgerichtlichen Entscheidungen gehen regelmäßig nicht zu Lasten der sozialen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Allerdings belassen die vom BVerfG entwickelten Formeln dem Gericht einen nicht unerheblichen Bewertungsspielraum, insbesondere bei der Prüfung der Rechtfertigung einer festgestellten Ungleichbehandlung. Prozessual drückt sich der Respekt des BVerfG vor dem legislativen Ermessen vor allem in der ständigen Praxis des Gerichts aus, die infrage stehenden und als verfassungswidrig beurteilten gesetzlichen Regelungen „nur“ als mit dem Grundgesetz für unvereinbar zu erklären und ggf. eine zeitlich begrenzte Fortgeltung anzuordnen. Es ist dann Sache des Gesetzgebers, die verfassungsgemäße Gleichheit herzustellen. 2. Eigentums- und Vertrauensschutz a) Die „Wirkmächtigkeit“ des Grundrechts auf Eigentum in Art. 14 Abs. 1 GG auf die Gestaltungsmacht des sozialrechtlichen Gesetzgebers wird man wohl differenziert sehen müssen. Ihre Geschichte beginnt bekanntlich im Rentenversicherungsrecht mit dem Urteil vom 28. Februar 1980.15 Hier formuliert der Erste Senat den Satz, Versichertenrenten und Rentenanwartschaften aus der Gesetzlichen Rentenversicherung unterliegen dem Schutz des Art. 14 GG. Eine Erfolgsgeschichte wird diesem Satz nicht notwendig zuerkannt.16 Die Judikatur und insbesondere die der jüngeren Zeit hat der Jubilar kritisch begleitet. Zu Recht folgt er nicht der Mehrheitsmeinung des Ersten Senats, die den Ansprüchen von Versicherten in der Gesetzlichen Rentenversicherung auf Versorgung ihrer Hinterbliebenen den Eigentumsschutz vorenthält.17 Es ist klar, dass das BVerfG damit dem Gesetzgeber die Option eröffnet, bei rentenpolitischem Bedarf zu Lasten der Hinterbliebenen zu kürzen, obgleich der Versicherte mit einem berechenbaren Anteil seiner Beiträge zu Lebzeiten die Hinterbliebenenrente finanziert. Profilierte Kritik erfährt aber auch von Seiten des Jubilars der Erste Senat, weil dieser im Zuge der Herstellung der Deutschen Einheit im Sozialversicherungsrecht seinem Grundsatzurteil vom 28. April 199918 den Leitsatz vorausschickt, die in der Deutschen Demokratischen Republik erworbenen und im Einigungsvertrag nach dessen Maßgaben als Rechtspositionen der gesamtdeutschen Rechtsordnung anerkannten Ansprüche und Anwartschaften aus Zusatz- und Son14 Siehe umfassend M. Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2, 2011, § 120. 15 BVerfGE 53, 257; grundlegend auch BVerfGE 69, 272, (298 ff.); aus jüngerer Zeit BVerfGE 126, 369 (390 f.); BVerfGE 128, 138 (147). 16 Siehe näher dazu H.-J. Papier (o. Fußn. 13), § 3 Rdnr. 42 ff.; ders., Grundrechte und Sozialordnung, in: D. Merten/H.-J. Papier, HdbGR, Bd. II, 2006, § 30 Rn. 23 ff.; U. Steiner, in: Merten (Hrsg.), Speyrer Sozialrechtsgespräche, 2002, S. 525, 534 ff.; siehe auch J. Adam, Eigentumsschutz in der Gesetzlichen Rentenversicherung, 2009. 17 H.-J. Papier (o. Fußn. 13), § 3 Rdnr. 64; siehe auch M. Mielke, Verfassungsfragen des Rechts der Witwen- und Witwerrenten, 2011, § 3, S. 51 ff. 18 BVerfGE 100, 1.

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derversorgungssystemen genössen den Schutz des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG.19 Diese Aussage hatte unmittelbare Konsequenzen. Auf ihrer Grundlage wurden bestimmte Regelungen des Überleitungsrechts im Recht der Rentenversicherung für verfassungswidrig erklärt.20 Diese Rechtsprechung ist zwar der Sonderrechtssituation der Deutschen Wiedervereinigung geschuldet.21 Sie steht aber andererseits ganz in der Tradition der verfassungsgerichtlichen Judikatur, weil auch sie betont, dass dem Gesetzgeber bei der Bestimmung von Inhalt und Schranken rentenversicherungsrechtlicher Positionen grundsätzlich eine weite Gestaltungsfreiheit zukommt. Diese Freiheit schließe auch die Befugnis des Gesetzgebers ein, Rentenansprüche und Rentenanwartschaften zu beschränken, Leistungen zu kürzen und Ansprüche und Anwartschaften umzugestalten, sofern dies einem Gemeinwohlzweck dient und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt.22 b) Es bleibt also bei den die Rechtsprechung des BVerfG zur Eigentumsfähigkeit rentenversicherungsrechtlicher Positionen von Anfang an begleitenden Zweifeln an ihrer grundrechtlichen Effizienz. Die auch in der jüngeren Rechtsprechung zu den sog. Fremdrenten23 erfolgte Verknüpfung des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes mit den sog. Eigenleistungen des Rechtsinhabers stellt sicher, dass nicht eine undifferenzierte Zuordnung aller Sozialleistungen zum Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG die Wirkungskraft dieses Grundrechts schwächt. Es bleibt dadurch ein juristischer Mehrwert gegenüber einer Beurteilung der Beseitigung oder Kürzung von sozialversicherungsrechtlichen Leistungen allein am Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes. Hinzu kommt als beachtliche Schranke sozialpolitischer Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers der Grundsatz des Vertrauensschutzes auf der Grundlage von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG.24 Ihm trägt im Allgemeinen der Gesetzgeber vorsorglich schon bei seinen Entscheidungen über die zeitliche Inkraftsetzung neuen Rechts Rechnung, insbesondere durch angemessene Übergangsfristen.25

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Kritisch H.-J. Papier (o. Fußn. 13), § 3 Rdnr. 60. BVerfGE 100, 1 (47 ff.); BVerfGE 100, 59 (90 ff.); BVerfGE 100, 138 (173 ff.); zu einem wichtigen Teilaspekt (§ 7 AAÜG) vgl. jetzt D. Merten, Probleme gruppengerechter Versorgungsüberleitung, 2012. 21 Zum Ganzen siehe U. Steiner, Verfassungsfragen der deutschen Wiedervereinigung im Sozialrecht, NZS 2010, 529 (531 ff.) – „sozialversicherungsrechtliches Begrüßungsgrundrecht“. 22 BVerfGE 100, 1 (37 f.); siehe aus jüngerer Zeit BVerfGE 128, 138 (148 f., 151 f.). Vgl. auch BVerwG, NZS 2012, 752 (Berufsständisches Versorgungswerk). 23 BVerfGE 116, 96 (121 ff.); BVerfGE 126, 369 (390 f.). 24 Vgl. etwa BVerfGE 128, 138 (155). 25 Siehe beispielsweise BVerfGK 3, 266 (271 ff.) – Anhebung des Renteneintrittsalters für Frauen von 60 auf 65 Jahre durch das Rentenreformgesetz 1999. 20

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III. Verfassungsrechtliche Strukturierung des Sozialrechts 1. Der verfassungsrechtliche Ordnungsrahmen für das Gesundheitswesen Das Grundgesetz enthält keine spezifischen Rechte des Einzelnen auf staatlichen Schutz seiner Gesundheit.26 Ihm hat jedoch das BVerfG zwei für das Gesundheitssystem in Deutschland zentrale verfassungsrechtliche Aussagen entnommen. Zum einen: Es ist die Pflicht des Staates, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG – Leben und körperliche Unversehrtheit – zu stellen.27 Zum anderen: Es ist eine dem Staat und insbesondere dem Gesetzgeber vom Grundgesetz aufgegebene staatliche Aufgabe, jedermann ohne Rücksicht auf Alter und Einkommen den Zugang zur notwendigen medizinischen Versorgung zu gewähren. Der Schutz des Einzelnen in Fällen von Krankheit ist in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine Grundaufgabe des Staates. Dies folgert das BVerfG aus der genannten Schutzpflicht und aus dem Sozialstaatsprinzip.28 Wie der Gesetzgeber diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben genügt, liegt in seinem sozialpolitischen Gestaltungsermessen. Er hat es mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz von 2007 genutzt, um mit der Einführung einer Krankenversicherung bzw. Krankheitskostenversicherung für alle auf Pflichtbasis den vielleicht letzten noch fehlenden Baustein in das Sozialstaatsgebäude der Bundesrepublik Deutschland einzufügen. Dabei waren die beiden Systeme der Krankenversicherung (GKV) bzw. der Krankheitskostenversicherung (Private Krankenversicherung) dem Gesetzgeber vom Grundgesetz nicht institutionell vorgegeben. Das Urteil des Ersten Senats vom 4. Juli 200129 zur Pflegepflichtversicherung hat jedoch klargestellt, dass die legislative Kompetenz des Bundes für die Gestaltung des privatrechtlichen Versicherungswesens nur innerhalb der Zuständigkeit nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG zu finden ist und nicht in der Wahrnehmung der Kompetenz zur Regelung der Sozialversicherung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG).30 Die Kompetenznorm „Sozialversicherung“ vermittelt dem Bundesgesetzgeber deshalb nicht die unbegrenzte Zuständigkeit, die private Krankenversicherung durch „soziales Öl“ zur gesetzlichen Krankenversicherung mutieren zu lassen. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG eröffnet dem Bundesgesetzgeber aber kompetentiell die Option, für den von ihm neu geschaffenen Typ privatrechtlicher Versicherung Regelungen des sozialen Ausgleichs vorzusehen, die die das pri-

26 Zum „Recht auf Gesundheit“ siehe H.-J. Papier, Recht auf Gesundheit, in: FS Knemeyer, 2012, S. 475. 27 BVerfGE 115, 25 (45). 28 BVerfGE 115, 25 (43); BVerfGE 123, 186 (242). Zusammenfassend U. Steiner, in: Spickhoff (Hrsg.), Kommentar zum Medizinrecht, 2010, GG, Art. 20 Rdnr. 5. 29 BVerfGE 103, 197. 30 BVerfGE 103, 197 (215 ff.); dazu auch J.-E. Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, 2008, S. 133 ff.

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vate Versicherungswesen prägenden Merkmale nur begrenzt wirken lassen.31 Insgesamt ist wohl eine Interpretation der Rechtsprechung in der Weise erlaubt, dass der Gesetzgeber des Wettbewerbsstärkungsgesetzes mit den von ihm vorgenommenen Modifikationen der Rechtstrukturen der Privaten Krankenversicherung die grundrechtlichen Grenzen nicht überschritten hat, weitergehende Schritte aber auch nicht unternehmen kann, ohne die Grundrechte der privaten Krankenversicherungsunternehmen aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG zu verletzen. Dies lässt sich als eine wichtige verfassungsrechtliche Vorgabe für das deutsche Gesundheitswesen bewerten.32 2. Generationengerechtigkeit im beitragsfinanzierten System der sozialen Sicherheit Zu den umstrittensten strukturellen Vorgaben für das Sozialversicherungsrecht, die das BVerfG aus dem Grundgesetz abgeleitet hat, gehören die Aussagen in seinem Urteil vom 3. April 2001 zur Gestaltung des Beitragsrechts in der sozialen Pflegeversicherung.33 Das Gericht hat entschieden, es sei mit Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren, dass Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung, die Kinder betreuen und erziehen und damit neben dem Geldbeitrag einen generativen Beitrag zur Funktionsfähigkeit eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems leisten, mit einem gleich hohen Pflegeversicherungsbeitrag wie Mitglieder ohne Kinder belastet werden. Das Urteil hat besondere Beachtung dadurch erhalten, dass der Gesetzgeber aufgefordert wurde, die Bedeutung dieses Urteils auch für andere Zweige der Sozialversicherung zu prüfen.34 Damit trägt das BVerfG der sozialversicherungsrechtlichen Relevanz von Kindererziehung und Kinderbetreuung sehr viel direkter als frühere Entscheidungen Rechnung35 und hält den Gesetzgeber an, überkommene Strukturen der Beitragsfinanzierung zu überdenken und gegebenenfalls zu korrigieren. Das Urteil hat heftigen Widerspruch von Seiten der Fachleute der Gesetzlichen Rentenversicherung erfahren,36 obgleich es in der Logik auch dieses Systems liegt, dass es auf Dauer nur funktioniert, wenn Menschen nachwachsen, die als dessen Mitglieder Beiträge zur Finanzierung der Rentenleis31 BVerfGE 103, 197 (216 f.); zum GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz BVerfGE 123, 186 (235). 32 Zum Ganzen siehe J. Isensee, Privatautonomie, in: Isensee/Kirchhof, HdbStR, Band VII, 3. Aufl. 2009, § 150 Rdnr. 130 ff. 33 BVerfGE 103, 242. 34 BVerfGE 103, 242 (270). 35 Vgl. etwa BVerfGE 87, 1. 36 Siehe vor allem Ruland, Das BVerfG und der Familienlastenausgleich in der Pflegeversicherung, NJW 2001, 1673. Siehe auch die Beiträge in: Familie und Sozialleistungssystem, Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsverbandes (SDSRV), Bd. 57, 2008. Positive Resonanz bei Th. Kingreen, Das Bundesverfassungsgericht und der Generationenvertrag, in: FS Steiner, 2009, S. 392 ff. Vgl. auch H.-J. Papier, Sozialstaatlichkeit unter dem Grundgesetz, in: FS Jaeger, 2010, S. 285 (289 ff.).

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tungen an die nicht mehr erwerbstätige Generation zahlen.37 Es wird sich in der Zukunft erweisen, ob das geltende System der Gesetzlichen Rentenversicherung, das die Kindererziehung auf der Leistungs- und nicht auf der Beitragsseite berücksichtigt, einer verfassungsgerichtlichen Prüfung standhält. IV. Das BVerfG im Grenzbereich von richterlicher Kontrolle und richterlicher Gestaltung 1. Leistungsrecht durch Richterrecht a) Das Sozialstaatsprinzip entfaltet seine größte Kraft, wenn es sich mit anderen Vorschriften des Grundgesetzes „verbündet“. Die aus diesem „Bündnis“ erwachsenden Entscheidungen des BVerfG gehören zu jenem Teil seiner Rechtsprechung, die dem Grenzbereich von richterlicher Kontrolle und richterlicher Gestaltung zugeordnet werden können. Es geht um die Bestimmung von Art und Ausmaß sozialrechtlicher Leistungen auf der Grundlage von Richterrecht. Als Beispiel im Recht der Gesetzlichen Krankenversicherung ist hier vor allem der Beschluss des Ersten Senats vom 6. Dezember 2005 zu nennen, der wegen seines Datums häufig als sog. Nikolaus-Beschluss bezeichnet wird.38 Das BVerfG hat hier bekanntlich entschieden, es sei mit den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Der sozialversicherungsrechtliche „Gerechtigkeitsgedanke“ liegt in der Feststellung des Senats, mit dem geltenden Beitragsrecht des SGB V gehe der Gesetzgeber davon aus, dass den Versicherten regelmäßig erhebliche finanzielle Mittel für eine zusätzliche selbständige Versorgung im Krankheitsfall und insbesondere für die Beschaffung von notwendigen Leistungen der Krankenbehandlung außerhalb des Leistungssystems der gesetzlichen Krankenversicherung nicht zur Verfügung stehen.39 Es bedürfe daher einer besonderen Rechtfertigung vor Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip, wenn dem Versicherten Leistungen unter den genannten Voraussetzungen vorenthalten werden. Diese Entscheidung ist in der Literatur auf Kritik, teilweise in arroganter Form, gestoßen,40 wurde aber von den Sozialrichtern der Tatsacheninstanzen wohl überwiegend begrüßt und 37

Dazu näher BVerfGE 103, 242 (263 ff.). BVerfGE 115, 25. 39 BVerfGE 115, 25 (43 f.). 40 Siehe dazu die Nachweise bei U. Becker/Th. Kingreen, SGB V, 2. Aufl. 2010, § 31 Rdnr. 23. 38

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vom BSG umgesetzt.41 Der Gesetzgeber hat die Formel des BVerfG inzwischen in das SGB V übernommen (§ 2 Abs. 1a SGB V). b) In eine ganz andere finanzielle Dimension stößt das Urteil des BVerfG vom 9. Februar 201042 vor, das leistungsrechtliche Vorgaben für den Gesetzgeber aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) enthält. Es ist bekanntlich im Zusammenhang mit dem Streit um die Höhe der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II ergangen. Seine materielle Reichweite ergibt sich daraus, dass das BVerfG dem Gesetzgeber vorgibt, jedem Hilfsbedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen normativ zu gewährleisten, die für dessen physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind. Inzwischen hat das BVerfG diese verfassungsrechtliche Vorgabe im Grundsatz auch auf die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz übertragen.43 Zutreffend hat man diese Rechtsprechung dogmatisch als Kompromiss zwischen einem eigenständigen Mandat zur Konkretisierung der grundgesetzlich für unantastbar erklärten Menschenwürde und einer nur unverbindlichen Verweisung auf das Sozialstaatsprinzip verstanden.44 Sie geht in ihrer Reichweite über die bisherige Objekt-Formel des BVerfG klar hinaus und begründet eine leistungsrechtliche Interpretation der Menschenwürdegarantie, auch wenn dem Gesetzgeber die Konkretisierung und Aktualisierung des verfassungsrechtlichen Grundanspruchs vorbehalten bleibt.45 2. Verfahrens- und Rationalitätskontrolle des Gesetzgebers durch das BVerfG Während in leistungsrechtlicher Hinsicht die Entscheidung des BVerfG zum sog. sozio-kulturellen Existenzminimum durch das Schrifttum und teilweise auch schon durch die Rechtsprechung46 vorbereitet war und nunmehr auf ihre Reichweite für an-

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Siehe BSG, SGb 2008, 42; siehe zum Ganzen U. Becker, Das Recht auf Gesundheitsleistungen, in: FS Steiner, 2009, S. 50. 42 BVerfGE 125, 175. Zur wissenschaftlichen Resonanz siehe etwa H. M. Heinig, Menschenwürde und Sozialstaatsprinzip als normative Grundlagen des Existenzminimums – eine theorieinteressierte Entwicklungsgeschichte, in: 50 Jahre Sozialhilfe, hrsg. v. J. I. Fahlbusch, 2012, S. 13 (36 ff.); H. Lang, Mäandern als Existenzminimum, in: FG Friauf, 2011, S. 309; St. Rixen, Entspricht die neue Hartz-IV-Regelleistung den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts?, Sozialrecht aktuell 2011, 121 und Ch. Seiler, Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, JZ 2010, 500. 43 BVerfG, NVwZ 2012, 1024. 44 Zu diesen Alternativen siehe J. Ebsen, Verfassungsgerichtliche Begründungs- oder Verfahrensanforderungen an den Gesetzgeber, in: Bieback/Fuchsloch/Kothe, Arbeitsmarktpolitik und Sozialrecht, 2011, S. 17 (22). 45 Siehe BVerfGE 125, 175 (223 f.). 46 Siehe dazu die Nachweise bei T. Hebeler, Ist der Gesetzgeber verfassungsrechtlich verpflichtet, Gesetze zu begründen?, DÖV 2010, 754 (756).

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dere Sozialleistungsbereiche analysiert wird,47 gilt das Interesse der wissenschaftlichen Interpreten bevorzugt den formellen Vorgaben an den Gesetzgeber, die Abschied zu nehmen scheinen von dem bekannten Satz von Klaus Schlaich, der Gesetzgeber schulde gar nichts anderes als das Gesetz.48 Das BVerfG verlangt vom Gesetzgeber, er habe zur Ermittlung des Anspruchsumfangs alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu benennen.49 Nun liegt es in der Eigenart verfassungsgerichtlicher Kontrolle der parlamentarischen Gesetzgebung, dass sich der Gesetzgeber dem Vorwurf der Verfassungswidrigkeit einer von ihm erlassenen Regelung bei prozessual zulässigen Angriffen stellen muss und dabei regelmäßig auch die Gründe darlegt oder darlegen lässt, die seine Regelungen verfassungsrechtlich tragen. Das ist ständige Praxis im deutschen Verfassungsprozess und bisher auch nicht in Frage gestellt worden. Dies geschieht sehr eingehend im Zusammenhang mit der Prüfung der Rechtfertigung einer gesetzlichen Ungleichbehandlung am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG. Insofern trägt Verfassungsrechtsprechung zur Rationalität gesetzgeberischen Handelns wesentlich bei. Im Schrifttum wird allerdings das SGB II-Urteil als verfassungsrechtlich ungewohnt hohe Anforderung an den Gesetzgeber und die Qualität seiner Arbeit verstanden.50 Ob die in Frage stehenden Aussagen des Urteils Bedeutung über den Fragenkreis des sog. Existenzminimums hinaus haben, darf aber bezweifelt werden. Zu klar hebt das Gericht hervor, es schulde die Formulierung solcher Anforderungen, weil es selbst nur in der Lage sei zu kontrollieren, ob die gesetzlich festgelegten Leistungen evident unzureichend sind.51 V. Zusammenfassung Sozialpolitik in Deutschland ist unbeschadet ihrer bekannten Differenzen52 wohl immer noch konzeptionell der Versuch, das Verhältnis von Freiheitlichkeit und So-

47 Siehe etwa W. Kohte, Hartz IV und Menschenrechte, in: Jahrbuch der Juristischen Gesellschaft Bremen, 2011, S. 73, 82 ff. 48 K. Schlaich, in: Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, VVDStRL 39 (1981), 99 ff. (109) unter Berufung auf W. Geiger (in Fußn. 23). 49 BVerfGE 125, 175 Ls. 4 und S. 225 ff. 50 Siehe aus der Literatur z. B. Ph. Dann, Verfassungsrechtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), 630; J. Ebsen (o. Fußn. 44) und Hebeler (o. Fußn. 46); M. Wallerath, Was schuldet der Gesetzgeber?, in: FS Schröder, 2012, S. 399; siehe schon U. Kischel, Die Begründung, 2003, S. 260; P. Skouris, Die Begründung von Rechtsnormen, 2002, S. 119 ff. und Chr. Waldhoff, „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“, in: FS Isensee, 2007, S. 325. 51 Siehe BVerfGE 125, 175 (226). 52 Siehe in diesem Zusammenhang auch F. Ruland, Sozialpolitik und Sozialrecht, NZS 2012, 321.

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lidarität im Sozialsystem53 ausgewogen zu bestimmen. Politisches Ziel ist der Sozialstaat, nicht der Wohlfahrtsstaat. Der deutsche Sozialstaat steht dem zur Seite, der seiner Hilfe bedarf, erwartet aber auch von ihm im Rahmen des Möglichen eine selbstverantwortete Lebensgestaltung. Die großen Lebensrisiken werden zwar für die meisten durch die Sozialversicherung abgesichert, aber substituiert oder ergänzt durch private Vorsorgesysteme im Bereich der Altersvorsorge und der Vorsorge gegen die Kosten von Krankheit. Die staatliche Studienförderung auf der Grundlage des BAföG kombiniert staatliche Zuschüsse mit Darlehen. Vielleicht ist es aber übertrieben zu formulieren, dass die deutsche Sozialpolitik immer noch das „Reich der Mitte“ sei, es sei denn, man sieht in der Neigung der deutschen Gesetzgebung zur Bildung von sozialversicherungsrechtlichen „Hybriden“ einen Beleg dafür. Mit Sozialstaatsfragen wird sich die deutsche Politik wieder intensiver beschäftigen, wenn die europäische Staatsschuldenkrise und die sog. Energiewende nicht mehr die politischen Kräfte in dem Maße wie jetzt binden. Zwar eignet sich der Verfassungsgerichtsprozess in Deutschland wohl kaum dazu, soziale Entwicklungen judikativ zu gestalten und „ein in sich stimmiges Sozialversicherungsrecht“ durch Richterrecht zu entwerfen.54 Aufgabe des BVerfG bleibt es aber, jetzt und in der Zukunft, wenn und soweit es angerufen wird, zur Lösung der Sozialstaatsfragen mit den Mitteln beizutragen, die ihm das Grundgesetz prozessual und materiell zur Verfügung stellt.

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Dazu grundsätzlich H.-J. Blanke, Die Reform des Sozialstaats zwischen Freiheitlichkeit und Solidarität, 2007, Einf. S. X. Vgl. auch Heinig (Fußn. 10), passim. 54 In dieser Richtung aber F. Kirchhof, Sozialversicherungsbeitrag und Finanzverfassung, NZS 1999, 161 (162).

Bepreisung der Wassernutzung als Freiheitsproblem – am Beispiel der Einführung eines umfassenden bundeseinheitlichen Wassernutzungsentgelts Von Christian Waldhoff Hans-Jürgen Papier hat sich in seinem ungewöhnlich weiten rechtswissenschaftlichen Interessenfeld nicht nur mit dem Umweltrecht, u. a. als Mitglied der Professorenkommission für ein Umweltgesetzbuch1, befasst, er hat – beginnend mit seiner Habilitationsschrift2 – auch ein ausgeprägtes finanzverfassungsrechtliches Interesse bewahrt. Noch heute bin ich ihm als Zweitgutachter meiner finanzverfassungsrechtlichen Dissertation3 für ein sehr klarsichtiges Münchener Zweitgutachten ausgesprochen dankbar. Als Assistent und Habilitand am Münchener Nachbarlehrstuhl habe ich zahlreiche Arbeitsgemeinschaften in den staatsrechtlichen Grundkursen HansJürgen Papiers veranstaltet, welche die Studienanfänger in das Verfassungsrecht einführten. Zu seinem 70. Geburtstag sei ihm unter dem Leitgesichtspunkt des fundamentalen Spannungsverhältnisses zwischen Umweltschutz und Freiheit die nachfolgende Analyse aus dem Themenfeld der freiheitssichernden Funktion der Finanzverfassung des Grundgesetzes bei Umweltabgaben zugeeignet. Anlass für die Analyse sind unionsrechtliche Bemühungen, eine umfassende Bepreisung der Wassernutzung unionsweit per Richtlinie durchzusetzen. Art. 9 Wasserrahmenrichtlinie (WRRL) dient interessierten Kreisen als Vehikel. In Deutschland besteht im Prinzip eine vorbildliche Wasserbewirtschaftung4. Die Richtlinie zielt in der Sache letztlich auf insoweit defizitäre Mitgliedstaaten an der südlichen Peripherie der EU, die – wie etwa Spanien – trotz Wassermangels kein vernünftiges Bewirtschaftungssystem und keine zum Wassersparen anleitende Bepreisung der Wassernutzung kennen, mit dem kostbaren Gut entsprechend großzügig umgehen. Es gehört zu den üblichen Verwerfungen des europäischen Integrationsprozesses, dass u. a. 1

Zu diesem Projekt statt anderer nur R. Breuer, Umweltschutzrecht, in: Schmidt-Aßmann/ Schoch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2008, Rdnr. 51 ff.; A. Voßkuhle, Kodifikation als Prozeß. Zur Bedeutung der Kodifikationsidee in heutiger Zeit unter besonderer Berücksichtigung der Arbeiten an einem Umweltgesetzbuch, in: Schlosser (Hrsg.), Bürgerliches Gesetzbuch 1896 – 1996, 1997, S. 77 ff. 2 Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1973. Zahlreiche weitere finanzverfassungsrechtliche Publikationen folgten. 3 C. Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Steuergesetzgebung im Vergleich Deutschland-Schweiz, 1997. 4 Vgl. als Gesamtdarstellung nur R. Breuer, Öffentliches und privates Wasserrecht, 3. Aufl. 2004, Rdnr. 156 ff.

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ausgerechnet das unter keiner Wasserknappheit leidende Deutschland – obwohl insoweit vergleichsweise vorbildlich – von der Kommission mit einem Vertragsverletzungsverfahren überzogen worden ist. Dementsprechend mangelt es zur Zeit nicht an Vorschlägen, vor allem aus der Perspektive und mit Unterstützung des Umweltbundesamts, das deutsche System der Bepreisung der Wassernutzung zu reformieren und auszubauen. Insbesondere gibt es Ambitionen des Bundes, ein bundeseinheitliches Wassernutzungsentgelt an die Stelle der von vielen Ländern erhobenen „Wasserpfennige“ sowie der Abwasserabgabe(n) zu setzen. Anliegen des Beitrags ist es, vor diesem Hintergrund die finanzverfassungsrechtlichen Grenzen von Gebühren für die Wassernutzung in Erinnerung zu rufen. Diese Grenzen, die sich finanzverfassungsrechtlich im Gedanken des Vorteilsausgleichs manifestieren, markieren ein Stück Freiheit gegenüber allzu ambitionierten umweltpolitischen Projekten. Fiele ein abgabenrechtlich valides Erfordernis des abzugeltenden Vorteils durch eine Wassernutzung als tragendes Legitimationskonzept fort, wären – um im Bild zu bleiben – abgabenrechtlich „alle Dämme gebrochen“, die notwendige und stets betonte klare Abgrenzung zur Steuer hinfällig; der Umweltgesetzgeber könnte sich quasi grenzenlos aus dem Baukasten der Abgabentypen für seine Ziele bedienen und jegliches umweltrelevante Verhalten bepreisen. I. Bundeseinheitliches Wassernutzungsentgelt – die finanzverfassungsrechtliche Sicht Vor dem Hintergrund von Plänen des Bundes, ein umfassendes bundeseinheitliches Wassernutzungsentgelt einzuführen, gilt es zunächst festzustellen, was überhaupt unter „Wassernutzung“ als notwendiger Basis entsprechender Abgaben zu verstehen ist. Nicht jede ökologisch motivierte Lenkungsabgabe mit dem Ziel des Schutzes von Wasser ließe sich unter derartige Gestaltungen fassen. In jedem Fall müsste nämlich eine „Nutzung“ von Wasser im überkommenen Sinn vorliegen, um die durch die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts für die Erhebung entsprechender Entgelte postulierten Voraussetzungen zu erfüllen. Dies aus einem doppelten Grund: Zum einen kann nur so die Rechtfertigung als nichtsteuerliche Abgabe vor dem Konzept des Vorteils aus einer Ressourcennutzung gelingen; zum anderen müsste sich eine nichtsteuerliche Abgabe auf die entsprechende Sachgesetzgebungskompetenz stützen. Die Abgabe muss mit anderen Worten von der Kompetenzgrundlage „Wasserhaushalt“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 32 GG als Nachfolgenorm von Art. 75 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 GG a. F. gedeckt sein. Dies ist jedoch nicht hinsichtlich jeder Einwirkung auf Wasser der Fall5. Das Bundesverfassungsgericht fasst darunter „Regeln für die haushalterische Bewirtschaftung des in der Natur vorhandenen Wassers nach

5 Vgl. grundsätzlich zu einer Begrenzung des Terminus „Wasserhaushalt“ im Vergleich etwa zu „Wasserwirtschaft“ o. ä. C. Pestalozza, in: von Mangoldt/Klein/Pestalozza, Das Bonner Grundgesetz. Kommentar, Bd. 8, 3. Aufl. 1996, Art. 75 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Rdnr. 554 ff., zu der Vorgängernorm.

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Menge und Güte“6, d. h. letztlich die Wasserbewirtschaftung7. Gefahrenabwehr gehört nicht dazu8. Stoffe – etwa Medikamente, Düngemittel oder Pflanzenschutzmittel – können auf sehr mittelbaren Wegen in das Wasser gelangen, etwa indem sie von Menschen oder Tieren ausgeschieden werden oder indem sie auf andere Gegenstände aufgebracht werden und erst im Laufe der Zeit und durch weitere menschliche oder Umwelteinwirkungen in das Grund- oder in Oberflächenwasser gelangen. Allein damit unterfallen sie aber noch nicht der wasserrechtlichen Regelungskompetenz, da es sich nicht um das gezielte Einleiten von Stoffen in Gewässer und damit auch nicht um eine „Wassernutzung“ i. e. S. handelt. Letztlich dürfte es eine juristische Wertungsfrage darstellen, was „Wassernutzung“ in diesem Sinne bedeutet – wobei die für die finanzverfassungsrechtliche Rechtfertigung entscheidende Kategorie, wie noch zu zeigen sein wird, nicht identisch mit den wasserhaushaltsrechtlichen Vorgaben sein muss. Ein wahrhaft umfassendes Konzept der Ausdehnung und Einführung von Abgaben zum Schutz von Wasser müsste daher flankierend auf steuerliche Maßnahmen zurückgreifen, indem etwa Verbrauch- oder Verkehrsteuern auf bestimmte Stoffe gelegt werden. Ein solches Unterfangen müsste – ganz abgesehen von seiner ökonomischen und steuerpolitischen Sinnhaftigkeit – weitere finanzverfassungsrechtliche Vorgaben berücksichtigen. II. Die individualschützende Funktion der Finanzverfassung des Grundgesetzes Das Bundesverfassungsgericht betont in ständiger Rechtsprechung die „Begrenzungs- und Schutzfunktion der Finanzverfassung“9: Der Bürger soll nur durch kompetenzgemäß erhobene Abgaben belastet werden, er muss sich darauf verlassen können, nur in dem durch die Finanzverfassung vorgezeichneten Rahmen abgeschöpft zu werden. Diese individualschützende Seite der finanzverfassungsrechtlichen Kompetenzordnung hat in ihren verschiedenen Spielarten die Gemeinsamkeit, dass es um Freiheitsschutz, in jedem Fall um eine abwehrrechtliche Dimension aus der Perspektive des Bürgers geht. Auf die Ebene der allgemeinen Bundesstaatsdogmatik gehoben spiegeln sich hier Elemente der vertikalen Gewaltenteilung. Es ist kein Zufall, dass diese „negativen“, freiheitsschützenden Wirkungen des Bundesstaates als letztes bundesstaatliches Legitimationsreservoir gerade in der Lehre vom „unitarischen Bundesstaat“ Konrad Hesses fungieren10. 6

BVerfGE 15, 1 (15); ferner BVerfGE 58, 45 (62); 58, 300 (339 ff.). H. W. Rengeling, Gesetzgebungszuständigkeit, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 6, 3. Aufl. 2008, § 135 Rdnr. 312 f. 8 Rengeling (o. Fußn. 7), Rdnr. 313. 9 Zuletzt BVerfGE 108, 1 (817); zuvor bereits BVerfGE 55, 274 (300, 302); 67, 256 (290). 10 Der unitarische Bundesstaat, 1962, S. 26 ff.; kritisch C. Möllers, Der parlamentarische Bundesstaat, in: Aulehner u. a. (Hrsg.), Föderalismus – Auflösung oder Zukunft der Staatlichkeit? 1997, S. 81 (94, 101); A. Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat des Grundgesetzes, 2004, S. 31 f. 7

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III. Besondere Rechtfertigungsbedürftigkeit nichtsteuerlicher Abgaben Vor dem Hintergrund der ständig bekräftigten Steuerstaatlichkeit des Grundgesetzes hat es das Bundesverfassungsgericht – in vertretbarer Deutung der Funktionenteilung zwischen (Verfassungs-)Rechtsprechung und Verfassungsrechtslehre – ausdrücklich abgelehnt, selbst ein geschlossenes finanzverfassungsrechtliches Gebäude der verschiedenen Abgabentypen zu entwickeln. Es obliegt zwar zunächst dem politischen Ermessen des Gesetzgebers, welcher Abgabeform sich der Staat zur Finanzierung seiner Aufgaben bedient11, aus dem allgemein anerkannten Prinzip des Steuerstaats folgt jedoch der grundsätzliche Vorrang der Steuerfinanzierung des Staates12. Anders herum gewendet: Nichtsteuerliche Abgaben müssen zu Zwecken der Staatsfinanzierung die Ausnahme bleiben und bedürfen stets einer besonderen verfassungsrechtlichen Rechtfertigung, die sich in konkret benennbaren und verwirklichten Legitimationsgründen finden müssen. Die Vorschriften der Art. 105 ff. GG über die Verteilung der Finanzzuständigkeiten und -mittel erwähnen als Einnahmen, die es gesetzlich zu regeln und zu verteilen gilt, nur die Steuern; die bundesstaatliche Finanzverfassung ist „Steuerfinanzverfassung“. Daneben findet allein noch die Kreditfinanzierung in Art. 115 GG ausdrückliche Erwähnung. Damit ist zwar noch nichts darüber ausgesagt, ob andere Einnahmen ausgeschlossen sind; würde aber der Staatsbedarf nicht mehr überwiegend durch Steuern, sondern stattdessen durch andere Einnahmen finanziert, so würde dadurch die sorgfältig ausgewogene Regelung des Finanzausgleichs im Grundgesetz und damit ein Kernstück der bundesstaatlichen Ordnung unterlaufen13. Die gesamte Finanzverfassung der Art. 104a ff. GG wäre funktionslos, wenn Haupteinnahmequelle des Staates nicht mehr die Steuern wären. Neben diesen kompetenzrechtlich-bundesstaatlichen14 tritt ein kompetenzrechtlich-organisatorischer Aspekt, wird doch zumindest durch parafiskalische Fonds die Etathoheit des Parlaments geschwächt15. Schließlich ist unter einem grundrechtlichen Aspekt alleine durch eine vorrangige Steuerfinanzierung die Wahrung der abgabenrechtlichen Lastengleichheit sicherzustellen16. Die voraussetzungslose Steuer und die unter der Prämisse des Gesamtdeckungsprinzips ungebundene Fi11

Zuletzt BVerfGE 108, 186 (215). K. Vogel, Der Finanz- und Steuerstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 30 Rdnr. 69 ff.; C. Waldhoff, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 3. Aufl. 2007, § 116 Rdnr. 5. 13 BVerfGE 78, 249 (266 f.). 14 Vgl. die Systematisierung bei K. Vogel/C. Waldhoff, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblattsammlung, Stand des Gesamtwerks: 159. Lfg. Dezember 2012, Vorb. z. Art. 104a-115, Rdnr. 405 (=dies., Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, 1999, Rdnr. 405). 15 Vgl. BVerfGE 93, 319 (343). 16 Vgl. BVerfGE 93, 319 (343). 12

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nanzmasse des Staatshaushalts bilden die demokratische Gleichheit der Staatsbürger ab und gehören zu den Prämissen des parlamentarisch-demokratischen Systems des Grundgesetzes. Nur im Rahmen einer Steuerfinanzierung können sozialstaatliche Postulate wie die Steuerfreiheit des Existenzminimums und eine gleichheitsgerechte Besteuerung nach der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Einzelnen durchgeführt werden. IV. Wasserentnahmeentgelte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 1. Abgabenrechtliche Qualifikation und Rechtfertigung Zur Zeit erheben 12 der 16 Länder Wasserentnahmeentgelte. Bayern, Hessen, Rheinland-Pfalz und Thüringen sehen eine derartige Abgabe nicht vor, wobei sie in Hessen und Thüringen wieder abgeschafft worden war. Die ursprünglich in Nordrhein-Westfalen vorgesehene Befristung wurde durch die Gesetzesnovelle vom 25. Juli 2011 wieder aufgehoben, das Saarländische Entgelt soll auslaufen. In Rheinland-Pfalz läuft gerade ein Gesetzgebungsverfahren. Wie alle nichtsteuerlichen Abgaben stützt sich das Wasserentnahmeentgelt auf die einschlägige Sachkompetenz. Seit der Föderalismusreform I aus dem Jahr 2006 ist dies die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes für den Wasserhaushalt aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 32 GG. Da – jenseits entsprechender Reformüberlegungen – im fortbestehenden WHG keine entsprechenden Regelungen zu finden sind, obliegt es den Ländern zu entscheiden, ob sie ein derartiges Entgelt einführen oder nicht. Der Wasserhaushalt unterliegt zudem der neu eingeführten Abweichungsgesetzgebung, Art. 72 Abs. 3 GG, so dass die Länder – führte der Bund ein einheitliches Entgelt ein – davon wiederum abweichen dürften17. Das Bundesverfassungsgericht hat sich bislang in drei Entscheidungen – einem Beschluss des Zweiten Senats und zwei Kammerentscheidungen – mit der Verfassungsmäßigkeit von Wassernutzungsentgelten („Wasserpfennig“) unter unterschiedlichen Aspekten befasst. Die Ausgangsentscheidung ist die sog. Wasserpfennig-Entscheidung des Zweiten Senats vom 7. November 1995, die auf Verfassungsbeschwerden verschiedener Industrieunternehmen – insbesondere der Chemischen Industrie und der Papierherstellung – gegen die seinerzeitigen Regelungen in Baden-Württemberg und Hessen erging18. Die beiden angegriffenen landesrechtlichen Regelungen unterschieden sich v. a. darin, dass nach hessischem Recht das Aufkommen der Wasserabgabe zweckgebunden für wasserwirtschaftliche und sonstige Zwecke des Umweltschutzes nach dem Gesetz zu verwenden war, während das Aufkommen in Baden-Württemberg in den allgemeinen Landeshaushalt floss. Gleichwohl gelangten auch die hessischen 17 Vgl. nur E. Gawel, Das neue nordrhein-westfälische Wasserentnahmeentgeltgesetz auf dem Prüfstand, NWVBl. 2012, 90 (91, 92 f.). 18 BVerfGE 93, 319.

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Erträge in den allgemeinen Landeshaushalt und unterlagen dann einer einfachgesetzlichen Zweckbindung. Der Zweite Senat knüpft nach einer hier weniger interessierenden bundesstaatlich-kompetenzrechtlichen Verortung an seine Entscheidungslinie zu den nichtsteuerlichen Abgaben an. Bemerkenswert ist zunächst, dass das Gericht keine Qualifikation der zu überprüfenden landesrechtlichen Abgaben vornimmt. Insbesondere wird ein abschließender verfassungsrechtlicher Gebührenbegriff abgelehnt, die bisherige Rechtsprechung habe sich ganz überwiegend mit der überkommenen Verwaltungsgebühr klassischen Zuschnitts befasst, ohne dass man den Begriff darauf verengen könne19. Nichtsteuerliche Abgaben seien nur unter bestimmten Voraussetzungen verfassungsrechtlich zulässig, da durch sie zum einen die bundesstaatliche Finanzverfassung der Art. 104a – 108 GG, die eine Steuerfinanzverfassung darstelle, umgangen werden könnte; daraus folge: „Sie [die nichtsteuerlichen Abgaben] müssen sich … ihrer Art nach von der Steuer, die voraussetzungslos auferlegt und geschuldet wird …, deutlich unterscheiden.“20 Daneben bedürften derartige Abgaben „einer besonderen Rechtfertigung aus Sachgründen“, da die Abgabenschuldner in ihrer Leistungsfähigkeit bereits durch die Steuern erfasst würden und es andernfalls zur Gleichheitswidrigkeit durch Auferlegung der nichtsteuerlichen Abgaben käme21; schließlich sei der Verfassungsgrundsatz der Vollständigkeit des Haushalts dann berührt, wenn es zur Organisation von Nebenhaushalten, wie dies insbesondere bei Sonderabgaben der Fall sei, komme22. Diese Kriterien der Rechtfertigung werden dann auf die Wasserentnahmeentgelte Baden-Württembergs und Hessens angewendet. Zentral für die sachliche Rechtfertigung, d. h. für die Abgrenzung zur Steuer, stellt sich dabei der Gedanke der Vorteilsabschöpfung dar: „Die Erhebung von Wasserentnahmeentgelten ist gegenüber dem Prinzip des Steuerstaates sachlich legitimiert. Es kann dahinstehen, ob dies bereits aus der Lenkungsfunktion dieser Abgaben folgt. Jedenfalls ergibt sich die sachliche Legitimation aus ihrem Charakter als Vorteilsabschöpfungsabgaben im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Nutzungsregelung. Knappe natürliche Ressourcen, wie etwa das Wasser, sind Güter der Allgemeinheit. Wird Einzelnen die Nutzung einer solchen, der Bewirtschaftung unterliegenden Ressource …, eröffnet, wird ihnen die Teilhabe an einem Gut der Allgemeinheit verschafft … Sie erhalten einen Sondervorteil gegenüber all denen, die das betreffende Gut nicht oder nicht in gleichem Umfang nutzen dürfen. Es ist sachlich gerechtfertigt, diesen Vorteil ganz oder teilweise abzuschöpfen. Dieser Ausgleichsgedanke liegt auch der herkömmlichen Rechtfertigung der Gebühr zugrunde …“.23

Die verfassungsrechtlich notwendige Abgrenzung zur Steuer, die auch in ihrem Verfassungsbegriff an die einfachrechtliche Ausgestaltung in der Abgabenordnung anknüpft, wird in der Gegenleistungsabhängigkeit der Wasserentgelte verortet: 19 BVerfGE 93, 319 (345) unter Bezugnahme auf die bis dahin leitende Gebührenentscheidung zum nordrhein-westfälischen Gebührenrecht BVerfGE 50, 217. 20 BVerfGE 93, 319 (343). 21 BVerfGE 93, 319 (343). 22 BVerfGE 93, 319 (343). 23 BVerfGE 93, 319 (345 f.) – Hervorhebungen nur hier.

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„Wasserentnahmeentgelte sind demgegenüber [der Steuer gegenüber] gegenleistungsabhängig. Sie werden für eine individuell zurechenbare öffentliche Leistung, die Eröffnung der Möglichkeit der Wasserentnahme, erhoben. Die Wasserentnahmeentgelte in BadenWürttemberg und Hessen werden allerdings nach der tatsächlich entnommenen Wassermenge berechnet. Diese Konstruktion der Abgabe bewirkt aber für die rechtliche Beurteilung keinen Unterschied: Abgeschöpft wird der in der Eröffnung der Nutzungsmöglichkeit liegende Vorteil nicht nach seinem rechtlichen, sondern nach seinem tatsächlichen Umfang. … Der Gegenleistungsbezug der Wasserentnahmeentgelte ergibt sich auch eindeutig aus dem Abgabentatbestand. Die Abgaben auf die Entnahme von Wasser unterscheiden sich daher klar von der Steuer und lassen deshalb die Finanzverfassung unberührt.“24

Damit bleibt offen, ob der „Vorteil“ in der rechtlichen Einräumung der Wassernutzung als solcher liegt (dann würde man von einer „Verleihungsgebühr“ oder „-abgabe“ sprechen) oder in den tatsächlichen Vorteilen durch die Nutzung des Wassers (dann passt der Terminus „Ressourcennutzungsgebühr“ besser). Diese durch den Gegenleistungsbezug hergestellte Abgrenzung zur Steuer wird schließlich noch durch ein weiteres Erfordernis betont; auch die Höhe der Abgabe muss sich in die Dichotomie Voraussetzungslosigkeit versus Gegenleistungsabhängigkeit einordnen: „Die für die Abgrenzung zur Steuer unerläßliche Abhängigkeit der Wasserentnahmeentgelte von einer Gegenleistung bleibt allerdings nur erhalten, wenn deren Höhe den Wert der öffentlichen Leistung nicht übersteigt. Andernfalls würde die Abgabe insoweit – wie die Steuer – ,voraussetzungslos’ erhoben. Sie diente dann nicht mehr nur der Abschöpfung eines dem Abgabenschuldner zugewandten Vorteils, sondern griffe zugleich auf seine allgemeine Leistungsfähigkeit im Blick auf die Finanzierung von Gemeinlasten zu.“25

Im Ergebnis erfüllten die überprüften wasserrechtlichen Regelungen der beiden Länder die so aufgestellten verfassungsrechtlichen Anforderungen, die Verfassungsbeschwerden waren unbegründet. Die Entscheidung der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Dezember 200226 erging auf Verfassungsbeschwerden zweier Papier-, eines Arzneimittel- und eines Düngemittelherstellers, die neben dem Wasserbezug aus der öffentlichen Wasserversorgung auch Grundwasser aus eigenen Brunnen förderten und in ihrer industriellen Produktion einsetzten. Neben der Unzulässigkeit nimmt die Kammer die Verfassungsbeschwerden auch deshalb nicht zur Entscheidung an, weil ihnen die „grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung“ fehle, „weil die mit ihr aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen hinreichend geklärt sind“ (unter Verweis auf die Wasserpfennig-Entscheidung BVerfG 93, 319 von 1995)27: „Die Kammer sieht auch unter Berücksichtigung der Stellungnahmen in

24

BVerfGE 93, 319 (346 f.). BVerfGE 93, 319 (347). 26 NVwZ 2003, S. 467. 27 BVerfG, NVwZ 2003, S. 467 (469). 25

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der Fachliteratur … keinen Grund für eine Änderung der im Beschluss vom 7. 11. 1995 … aufgestellten Grundsätze.“28 Für die hiesige Fragestellung sind die Passagen über die Vorteilsabschöpfung als dem zentralen Rechtfertigungsargument in Abgrenzung zur Steuer von besonderem Interesse. Die Kammer knüpft auch hier zunächst an den Wasserpfennig-Beschluss an: „Die sachliche Legitimation der Abgabe kann sich aus ihrem Charakter als Vorteilsabschöpfungsabgabe im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Nutzungsregelung ergeben.“29 Dass die damit zusammenhängenden Fragen jedoch keinesfalls abschließend geklärt sind, zeigt die Passage des Beschlusses, die diesen Gedanken mit dem schleswig-holsteinischen Wasserrecht in Verbindung setzt. Die wasserrechtlich genehmigungsbedürftigen Tatbestände korrespondieren nämlich nicht in gleicher Weise mit dem „Vorteil“ bei demjenigen, der die Genehmigung erhalten hat bzw. nutzen darf. Dies wird in den Formulierungen der Kammer implizit deutlich, wenn für die Begründung für den Vorteil fortwährend auf die „Entnahme“ von (Grund-)Wasser abgestellt wird, abgaberechtlich aber auch das „Ableiten“ von (Grund-)Wasser relevant ist. Das Argument der Beschwerdeführer, jeder benutze bzw. nutze (Grund-)Wasser, wird durch die unterschiedliche Intensität der Nutzung abgewiesen, wobei sich die Argumentation wiederum auf die Entnahme zu Produktionszwecken mittels des Wassers bezieht: „Das Gut der Allgemeinheit Grundwasser darf und wird von den Einzelnen aber nicht in gleichem Umfang genutzt. So nutzen die Bf. dieses Gut bei der Herstellung von Papier, Arzneimitteln oder Pflanzennährstoffvorprodukten in der Regel quantitativ wesentlich intensiver als die einzelnen Privathaushalte. Sie erhalten damit einen Vorteil, der durch die Grundwasserentnahmeabgabe ganz oder teilweise abgeschöpft werden kann.“30

Die Unterscheidung der „Entnahme“ und des „Ableitens“ und weitere Unabgestimmtheiten spielten freilich in den zu entscheidenden Verfassungsbeschwerden weiter keine Rolle, da es dort offensichtlich – genau wie in der „Wasserpfennigentscheidung“ von 1995 – stets ausschließlich um „Entnahmen“ von Grundwasser ging. In den Verfassungsbeschwerden eines Betreibers von Atomkraftwerken in Niedersachsen, die Oberflächenwasser zu Kühlzwecken entnahmen, wurde die kompetenzrechtliche Problematik der Wassernutzungsentgelte – die jetzt ohne nähere Begründung als „Gebühr“ bezeichnet werden – nicht mehr aufgegriffen, es ging ausschließlich um die Höhe dieser Abgaben, konkret um den Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum des Landesgesetzgebers bei der Festsetzung der Höhe des Entgelts31. Zwar erstreckten sich die verfassungsrechtlichen Zulässigkeitsanforderungen an nichtsteuerliche Abgaben insbesondere bei Gebühren auch auf die Höhe dieser Abgaben, da die Bemessung der Gebühr verfassungsrechtlich nur gerechtfertigt 28

BVerfG, NVwZ 2003, S. 467 (470). BVerfG, NVwZ 2003, 467 (469). 30 BVerfG, NVwZ 2003, S. 467 (470) – Hervorhebungen nur hier. 31 Entscheidung der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Januar 2010, 1 BvR 1801/07; 1 BvR 1878/07, NVwZ 2010, 831. 29

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sei, „wenn ihre Höhe durch zulässige Gebührenzwecke, die der Gesetzgeber bei ihrer tatbestandlichen Ausgestaltung erkennbar verfolgt, legitimiert ist“32. Für die verfassungsgerichtliche Kontrolle wird dann ein sehr großzügiger Maßstab angelegt, sie dürfe „dabei nicht überspannt werden“33. „Eine Gebührenbemessung ist jedoch dann sachlich nicht gerechtfertigt, wenn sie in einem groben Missverhältnis zu dem verfolgten Gebührenzweck steht …“.34 Für hiesigen Zusammenhang von Interesse sind wiederum die Ausführungen zur Vorteilsabschöpfung: „Der Vorteil einer solchen Leistung für den Gebührenschuldner lässt sich häufig nicht exakt und im Voraus ermitteln … Dies gilt auch für die Nutzung des hier in Streit stehenden Oberflächenwassers, für das kein Marktpreis existiert. Dies schließt die Erhebung einer Vorteilsabschöpfungsabgabe freilich nicht aus. Dem Gebührengesetzgeber kommt hier vielmehr ein Gestaltungs- und Einschätzungsspielraum bei der Schaffung eines angemessenen Gebührenrahmens zu. Sofern kein feststellbarer Marktpreis und keine allgemein anerkannte Bewertungsmethode für die Bestimmungen des Wertes des öffentlichen Gutes existieren, dessen Nutzungsvorteil abgeschöpft werden soll, hat der Gesetzgeber einen weiten Spielraum bei der Festlegung der Gebührensätze, die sich allerdings nicht an sachfremden Merkmalen orientieren und, gemessen an den vernünftigerweise in Betracht kommenden Hilfskriterien zur Bewertung des Vorteils, nicht in einem groben Missverhältnis hierzu stehen dürfen.“35

Wenig später führt die Kammer dann in der konkreten Überprüfung des niedersächsischen Gebührenrahmens, der nach Art des Wassers, dem Verwendungszweck und der Menge des entnommenen Wassers differenziert, aus: „Der Gesetzgeber hat damit ein gemessen am jeweiligen Nutzungsvorteil in sich schlüssiges, jedenfalls vertretbares System der Gebührenbemessung aufgestellt. … Da sich der Vorteil der jeweiligen Wasserentnahmen nicht in messbarer Weise ermitteln lässt, kann die Aufstellung eines derartigen Gebührensystems nicht als Fehlgriff des Gesetzgebers bewertet werden, mit dem er den Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen überschritten hätte.“36

Im Umkehrschluss wird man diesen Ausführungen entnehmen müssen, dass ein in sich unschlüssiges, ja widersprüchliches System der Vorteilsabschöpfung unter den Bedingungen auch der schwierigen Ermittlung abzuschöpfender Vorteile verfassungsrechtlich problematisch wäre. Darauf wird zurückzukommen sein. Die weiteren Ausführungen in diesem Beschluss gelten den legitimen Lenkungszwecken von Wasserentnahmeentgelten und deren hinreichender Verdeutlichung durch den Gesetzgeber im Gesetzgebungsverfahren und in den Abgabentatbeständen.

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NVwZ 2010, 831. Ebd. 34 Ebd. 35 NVwZ 2010, 831 (832). 36 NVwZ 2010, 831 (832). 33

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2. Enger Vorteilsbegriff zur Abgrenzung von Gewinnsteuern Nach der dargestellten verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ist die grundsätzliche Zulässigkeit von Wasserentnahmeentgelten verfassungsrechtlich geklärt. Der zentrale verfassungsrechtliche Rechtfertigungstopos ist der Gedanke der Vorteilsabschöpfung. Sämtliche Sachverhalte, die zu der Senatsentscheidung und zu den beiden Kammerbeschlüssen führten, betrafen die Entnahme von Grund- bzw. Oberflächenwasser, das dann konkret verwendet wurde im Sinne einer konkreten Nutzung – sei es zur Produktion selbst, sei es zur Kühlung industrieller Prozesse. Neuere Tendenzen in der Fortentwicklung der Wasserentnahmeentgelte, zuletzt die Gesetzesänderung in Nordrhein-Westfalen 2011, gehen in Richtung einer Ausweitung des Anwendungsbereichs. Jegliche Wassernutzung soll nun erfasst werden, teilweise wird die Abgabe vollständig von der Nutzung gelöst. Wenn dies in der Literatur als eigentliche Funktion von Wasserentnahmeentgelten angesehen wird37, ist dies eine unzulässige, von ökologischem Wunschdenken geprägte Umdeutung des bisherigen Konzepts, die in der Legislationsgeschichte keinen Anhalt findet und die finanzverfassungsrechtlichen Voraussetzungen derartiger Abgaben missachtet. Relevant wurde dieser neue Gedanke insbesondere für das sog. Sümpfungswasser im Bergbau. Der Unterschied zur Grundwassernutzung liegt darin, dass das Wasser hier einen Nachteil darstellt, denn es muss zunächst entfernt werden, um an die zu gewinnenden Bodenschätze zu gelangen38. Nicht nur in diesem Zusammenhang gilt es, den unmittelbaren Vorteil durch die Wassernutzung als zentrales Rechtfertigungskriterium des Wasserentnahmeentgelts als nichtsteuerlicher Abgabe gegenüber der Steuer zu schärfen und nicht zu verwässern. Hier ist in verschiedener Hinsicht in den letzten Jahren Unsicherheit zu beobachten: So hat das Bundesverwaltungsgericht im sog. Spandaukanalfall39 scheinbar einen gegenteiligen Weg beschritten; zudem finden sich nach wie vor in der Literatur Stimmen, die einen sehr lockeren, regelmäßig nur mittelbaren Vorteilszusammenhang ausreichen lassen wollen40. Nicht abschließend geklärt erscheint damit, worauf genau sich der Vorteil beziehen muss. a) Abstellen auf die Nutzung des Wassers Üblicherweise stellen die deutschen Wasserentnahmeentgelte auf die Nutzung des Wassers ab. Konsequenterweise waren dann diejenigen Wasserentnahmen, die nicht einer anschließenden Nutzung dienten und damit keinen konkreten, auf die Wassernutzung bezogenen Vorteil boten, von der Entgeltpflicht ausgenommen. In den drei oben referierten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ging es jeweils um eine sich an die Entnahme anschließende konkrete Nutzung des Wassers zu 37 Besonders krass Gawel (o. Fußn. 17), (94, wo die bisherige, nutzungsakzessorische Ausgestaltung pauschal als „funktionswidrig“ diffamiert wird). 38 Näher C. Waldhoff, Wasserentnahmeentgelte und Braunkohlebergbau, DVBl. 2011, 653. 39 BVerwG, NVwZ-RR 2007, 750. 40 Vgl. v. a. E. Gawel, Der Sondervorteil der Wasserentnahme, DVBl. 2011, 1000.

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Produktions- oder zu Kühlzwecken. Obwohl in der Wasserpfennig-Entscheidung von 1995 eine nähere Qualifikation der Entgelte als Ressourcennutzungs- oder als Verleihungsgebühr offengehalten wurde, nach der Konzeption des Gerichts grundsätzlich wohl beide Ausgestaltungen möglich sind, betrafen die entschiedenen Fälle ausschließlich Landesgesetze, die dem Konzept der konkreten Ressourcennutzung folgten. Die Zulässigkeit und insbesondere die verfassungsrechtlich korrekte Bestimmung des Vorteils bei der Bepreisung nicht konkret genutzten Wassers ist verfassungsgerichtlich noch nicht entschieden worden. Der Freiburger Umweltrechtler Dietrich Murswiek, dem der Zweite Senat 1995 in seiner Wasserpfennig-Entscheidung gefolgt ist, bringt dies in seiner Besprechung klar zum Ausdruck: „Trotz seiner mißverständlichen Formulierung stellt das BVerfG aber gar nicht in Abrede, daß die tatsächliche Ressourcennutzung im konkreten Fall der Belastungsgrund ist.“41 Das sieht in der Fachgerichtsbarkeit anders aus. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Juni 200742 billigt für die Rechtslage im Land Berlin die Erhebung eines Wasserentnahmeentgelts für Grundwasser, dass nicht weiter genutzt wird, sondern als Hindernis bei dem Ausbau eines oberirdischen Gewässers vorübergehend abgepumpt und in die Havel eingeleitet werden musste. Damit ähnelt der der Entscheidung zugrunde liegende Sachverhalt strukturell der Wasserentnahmeproblematik im Bergbau: In beiden Fällen stellt das Wasser als solches keinen Vor-, sondern einen Nachteil dar, der für die eigentlich intendierte Tätigkeit – Ausbau des Gewässers / Abbau von Bodenschätzen – vorübergehend beseitigt werden muss. Das Urteil ist jedoch m. E. falsch und schöpft insbesondere die verfassungsrechtliche Problematik der Wasserentnahmeentgelte für die zu entscheidende Situation nicht aus. Es schließt von wasserrechtlichen Tatbeständen auf die finanzverfassungsrechtliche Vorteilsproblematik. Das verletzt die Normenhierarchie selbst dann, wenn die Entnahmetatbestände ausdrücklich an die wasserrechtlichen Tatbestände anknüpfen würden. Ein Großteil der Entscheidungsgründe befasst sich mit der rein wasserrechtlichen Frage der Abgrenzung zwischen dem „Ausbau“ und der „Benutzung“ eines Gewässers – ausgehend von der Prämisse, dass der für das Urteil relevante § 13a Berliner Wassergesetz (BWG) unmittelbar an diese wasserrechtlichen Kategorien anknüpft. Der Siebte Senat des Bundesverwaltungsgericht musste sich in diesem Zusammenhang ausführlich mit der Frage befassen, ob das vorübergehende Abpumpen von Grundwasser zum Zwecke des Ausbaus eines oberirdischen Gewässers – im vorliegenden Fall eines Kanals als Bundeswasserstraße durch den Bund – als „Maßnahme […], die dem Ausbau eines oberirdischen Gewässers dien[t]“ eine „Benutzung“ im wasserrechtlichen Sinne darstellt oder dem „Ausbau“ des Gewässers zuzurechnen ist43. Dass hier der Schwerpunkt der Entscheidung liegt, wird schon daraus deutlich, 41 Ein Schritt in Richtung auf ein ökologisches Recht. Zum „Wasserpfennig“-Beschluß des BVerfG, NVwZ 1996, S. 417 (420). 42 BVerwG, NVwZ-RR 2007, 750. 43 Rdnr. 11 – 23; für die Behandlung des Wasserentnahmeentgelts bleiben dann nurmehr die Rdnr. 24 – 29. Deutlich dafür, dass die wasserrechtliche Abgrenzungsproblematik im Vordergrund steht Rdnr. 20: „Das Wasserhaushaltsgesetz unterscheidet bei Einwirkungen auf

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dass der amtliche Leitsatz sich ausschließlich auf die Abgrenzung der wasserrechtlichen Tatbestände des „Ausbaus“ und der „Benutzung“ bezieht, das Wasserentnahmeentgelt, welches den Rechtsstreit ausgelöst hatte, dort gar nicht erwähnt wird44. Im Anschluss an die Vorinstanz unterstellt das Bundesverwaltungsgericht wegen der in § 13a BWG verwendeten Begrifflichkeit und wohl auch wegen des legislatorischen Zusammenhangs die Identität der wasserrechtlichen Terminologie mit dem finanzverfassungsrechtlichen Vorteilsbegriff bei Wasserentnahmeentgelten. Das ist freilich ein doppelter Fehlschluss: Zum einen wird vom einfachen Recht auf verfassungsrechtliche Anforderungen geschlossen und damit tendenziell die Normenhierarchie verletzt; zum anderen folgt das Wasserrecht einer völlig anderen Logik als die finanzverfassungsrechtliche Rechtfertigung nichtsteuerlicher Abgaben und deren Abgrenzung gegenüber der Steuer. Selbst wenn das Gesetz an wasserrechtliche Tatbestände anknüpft, sagt dies noch nichts über die finanzverfassungsrechtliche Validität der daraufhin erhobenen Abgaben aus. Daher verwundert es nicht, dass die erstaunlich kurzen Ausführungen45 zur (Bundes-)Rechtmäßigkeit des Berliner Wasserentnahmeentgelts aus finanzrechtlicher Sicht nicht zu überzeugen vermögen. In Anknüpfung an den Wasserpfennig-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1995 wird der durch die Abgabe abzugeltende Sondervorteil in der bloßen Möglichkeit der Grundwasserentnahme gesehen. Das entspricht nicht der herrschenden Deutung des Wasserpfennig-Beschlusses von 199546. Andererseits führt der Senat aus, dass es gar nicht darauf ankomme, ob für das wasserwirtschaftliche Vorhaben eine Erlaubnis erforderlich war oder nicht. Damit wird – im Ergebnis zu Recht – die Qualifikation des Berliner Entgelts als Verleihungsgebühr abgelehnt. Der vom Bundesverwaltungsgericht entschiedene Fall ist vom Bundesverfassungsgericht – unabhängig von der Berufung des Siebten Senats auf BVerfGE 93, 319 – noch gar nicht entschieden worden. Trotz der m. E. unzureichenden Begründung muss festgehalten werden, dass das Bundesverwaltungsgericht offensichtlich keine Bedenken hat, auch nicht genutztes Wasser, dessen Menge in umgekehrtem Verhältnis zu einem etwaigen Vorteil des Entnehmers steht, von Wasserentnahmeentgelten erfasst zu sehen. ein Gewässer zwischen Benutzung, Unterhaltung und Ausbau. … Die Anwendungsbereiche der jeweiligen Rechtsinstitute bedürfen der Abgrenzung.“ 44 „Wird zum Zwecke der Beibehaltung eines konstanten Grundwasserstandes während des Ausbaus einer Bundeswasserstraße Grundwasser in ein oberirdisches Gewässer abgepumpt, handelt es sich um eine Benutzung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 6 WHG, die nicht nach § 3 Abs. 3 Satz 1 WHG von dem Begriff der Benutzung ausgenommen ist.“ 45 Rdnr. 24 – 29. 46 Vgl. D. Murswiek, Ein Schritt in Richtung auf ein ökologisches Recht. Zum „Wasserpfennig“-Beschluss des BVerfG, NVwZ 1996, 417 (419): „Die Abgabentatbestände knüpfen nicht an die Eröffnung der Möglichkeit der Wasserentnahme an – angesichts der Zulassungsbedürftigkeit (§ 2 I WHG) ist dies die Erteilung der Erlaubnis oder Bewilligung –, sondern an die tatsächliche Entnahme von Wasser; die Befugnis zur Wasserentnahme setzen sie lediglich voraus. Die faktische Nutzung der Ressource also ist der Belastungsgrund. Die Frage, wofür die Abgabe erhoben wird, beantworten die Gesetze in Baden-Württemberg und in Hessen ganz unzweideutig: für die Entnahme von Wasser, nicht dagegen für die Verleihung der diesbezüglichen subjektiven Rechtsstellung.“

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b) Auflösung der finanzverfassungsrechtlichen Rechtfertigung des Wasserentnahmeentgelts durch Entgrenzung des Vorteils Neuere Gesetzesnovellen haben den Vorteil ins Allgemeine gezogen. So hat der nordrhein-westfälische Landesgesetzgeber durch Gesetzesnovelle vom 25. Juli 2011 den engen, nutzungsbezogenen Vorteilsbegriff aufgegeben47. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger als einen Übergang von einer nutzungsakzessorischen zu einer nutzungsinakzessorischen Konzeption des Entgelts. Sofern Gawel behauptet, damit werde der eigentliche Zweck der Entgelte verwirklicht, die Nutzungsakzessorietät sei „funktionswidrig“ (!) liegt darin eine nicht nur ahistorische, sondern auch rechtswissenschaftlich verfehlte Prämisse. Den Zweck des Gesetzes bestimmt nach wie vor der Gesetzgeber. Insbesondere bei der nordrhein-westfälischen Gesetzesnovelle von 2011 wurde aus guten Gründen die Abkehr vom nutzungsakzessorischen Konzept nicht mit Lenkungsabsichten begründet. Zu prüfen ist, ob dieser in großer Abstraktion herangezogene Vorteil den Vorgaben durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entspricht48. Der Paradigmenwechsel besteht darin, jetzt auf den allgemeinen Unternehmenserfolg abzustellen: „Die wasserrechtlich zugestandenen Eingriffe in den Wasserhaushalt stellen eine unabdingbare Voraussetzung für die Gewinnung des Bodenschatzes dar und stellen damit zugleich einen Vorteil dar, der mit dem Instrument des Wasserentnahmeentgeltes abgeschöpft werden kann.“49 Im Übrigen wird darauf abgestellt, dass auch die Entnahme ohne anschließende Nutzung eine Wasserdienstleistung im Rahmen der EU-WRRL darstelle und daher schon von Europarechts wegen die Bepreisung geboten sei. aa) Finanzverfassungsrechtliches Erfordernis der Abbildung des Vorteilsausgleichs im Abgabentatbestand des Wasserentnahmeentgelts Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat in den letzten Jahren mit zunehmender Deutlichkeit die Abbildung von Abgabenzwecken im konkreten Abgabentatbestand eingefordert. Diese Zwecke müssen von einer erkennbaren Entscheidung des Gesetzgebers getragen sein und sich (kumulativ) im Abgabentatbestand auch zeigen und verwirklichen. Erstmals entfaltet wurde dieses Konzept in der neueren Rechtsprechung zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Lenkungssteuern50. Konnte der Steuergesetzgeber früher bei einem nachgewiesenen Verstoß 47

Ausführlich Gawel (o. Fußn. 17), 94 f., freilich mit anderen Ableitungen und Schlussfolgerungen. 48 Insofern wiederum verfehlt Gawel (o. Fußn. 17), 94 f.: „Nutzungsvorbehalte widersprechen dem Lenkungszweck von Wasserentnahmeabgaben und sind auch nicht durch die verfassungsrechtlichen Anforderungen nach der Sondervorteils-Lehre des BVerfG geboten.“ 49 Landtag NRW, Änderungsantrag der SPD-Fraktion und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Vorlage im HFA am 9. Juni 2011, hier zitiert nach der Tischvorlage, S. 1. 50 BVerfGE 93, 121 (147 f.); 99, 280 (296); 105, 73 (112 f.); insgesamt R. Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 240 f.

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gegen den Gleichheitssatz (in seiner steuerrechtlichen Ausprägung als Leistungsfähigkeitsprinzip) sich oftmals dadurch aus der Schlinge ziehen, dass er diese Ungleichbehandlung mit einem Lenkungszweck (Sozialzweck) der Steuer zu rechtfertigen suchte, fordert das Gericht inzwischen, dass die Lenkungsabsicht des Steuergesetzes bzw. der konkreten Steuernorm bereits im Gesetzgebungsverfahren deutlich werden und sich im Steuertatbestand auch abbilden muss; damit ist eine erkennbare Entscheidung des Gesetzgebers gefordert. Nachträgliche Schutzbehauptungen des (Steuer-)Gesetzgebers sind dadurch entscheidend erschwert. Dieser Gedanke ist auch auf nichtsteuerliche Abgaben übertragbar. In der Sonderabgabenjudikatur war dies schon immer anerkannt51. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die Übertragung der zugrundeliegenden Gedanken in seinem Urteil zu den Rückmeldegebühren Baden-Württemberg vom 19. März 2003 für das Gebührenrecht vollzogen, wobei sich die Entscheidung in ihrem ersten Leitsatz ausdrücklich in den Zusammenhang der ersten Wasserpfennig-Entscheidung von 1995 stellt52. Entscheidend für unsere Fragestellung ist die Aussage des Gerichts, dass auch eine dem Grunde nach legitime Abgabe in der konkreten tatbestandlichen Ausgestaltung die Begrenzungs- und Schutzfunktion der Finanzverfassung vereiteln könne: „Jedoch kann ihre [der Gebühr; C. W.] konkrete gesetzliche Ausgestaltung, insbesondere ihre Bemessung, mit der Begrenzungs- und Schutzfunktion der bundesstaatlichen Finanzverfassung kollidieren … Auch für die Gebührenbemessung gilt: Die grundgesetzliche Finanzverfassung verlöre ihren Sinn und ihre Funktion, wenn unter Rückgriff auf die Sachgesetzgebungskompetenzen unter Umgehung der finanzverfassungsrechtlichen Verteilungsregeln beliebig hohe Gebühren erhoben werden könnten. Die zentrale Zulässigkeitsanforderung an nichtsteuerliche Abgaben, eine besondere sachliche Rechtfertigung, die den bloßen Einnahmeerzielungszweck ergänzt oder ersetzt, wirkt deshalb (auch) bei Gebühren jedenfalls in zweierlei Richtung. Nicht nur die Erhebung der Gebühr dem Grunde nach bedarf der Rechtfertigung; rechtfertigungsbedürftig ist die Gebühr auch der Höhe nach. Auch

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Seit BVerfGE 55, 274 ständige Rechtsprechung. BVerfGE 108, 1 ff. Die Leitsätze des Urteils lauten: „1. Die Begrenzungs- und Schutzfunktion der Finanzverfassung begründet verbindliche Vorgaben auch für die Gebühren als Erscheinungsform der nichtsteuerlichen Abgaben. Die grundgesetzliche Finanzverfassung verlöre ihren Sinn und ihre Funktion, wenn unter Rückgriff auf die Sachgesetzgebungskompetenzen beliebig hohe Gebühren erhoben werden könnten; die Bemessung bedarf kompetenzrechtlich im Verhältnis zur Steuer einer besonderen, unterscheidungskräftigen Legitimation (Anschluss an BVerfGE 93, 319 ff.). 2. Nur dann, wenn legitime Gebührenzwecke nach der tatbestandlichen Ausgestaltung der Gebührenregelung von einer erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung getragen werden, sind sie auch geeignet, sachlich rechtfertigende Gründe für die Gebührenbemessung zu liefern. Wählt der Gesetzgeber einen im Wortlaut eng begrenzten Gebührentatbestand, kann nicht geltend gemacht werden, er habe auch noch weitere, ungenannte Gebührenzwecke verfolgt.“ 52

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ihre Bemessung, insbesondere die Höhe des Gebührensatzes, bedarf kompetenzrechtlich im Verhältnis zur Steuer einer besonderen, unterscheidungskräftigen Legitimation …“.53

Diese Aussagen sind ebenso relevant im Hinblick auf eine Entgrenzung des Vorteils bei der Rechtfertigung von Wasserentnahmeentgelten. Bildet die Bemessung nach der entnommenen Wassermenge den auszugleichenden oder abzuschöpfenden Vorteil, der das Wasserentnahmeentgelt legitimatorisch trägt, hinreichend genau ab? Der Zweite Senat verlangt bei der tatbestandlichen Gestaltung der Gebühr „Normenklarheit“ und „Normenwahrheit“: „Dass der Gebührengesetzgeber bei der Gebührenbemessung Zwecke der Kostendeckung, des Vorteilsausgleichs, der Verhaltenslenkung und soziale Zwecke verfolgen darf, hat allerdings nicht zur Folge, dass jeder dieser Zwecke beliebig zur sachlichen Rechtfertigung der konkreten Bemessung einer Gebühr herangezogen werden kann. Nur dann, wenn solche legitimen Gebührenzwecke nach der tatbestandlichen Ausgestaltung der konkreten Gebührenregelung von einer erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung getragen werden, sind sie auch geeignet, sachlich rechtfertigende Gründe für die Gebührenbemessung zu liefern …“.54

In der herangezogenen Entscheidung ging es um die Verfassungswidrigkeit einer überhöhten Rückmeldegebühr für Studenten, die sich als verkappte Studiengebühr erwies. Im vorliegenden Fall geht es demgegenüber um die Frage, ob sich der ins Allgemeine gezogene, von der Wassernutzung entkoppelte Vorteilsausgleich im Gebührentatbestand hinreichend konkret niederschlägt. bb) Verfassungswidrige Diskrepanz zwischen dem Konzept des Vorteilsausgleichs bei der Ressourcennutzungsgebühr und der Bemessungsgröße der entnommenen Wassermenge Wird auf die konkrete Nutzung des Wassers abgestellt, ist die Wassermenge als Bemessungsgrundlage für das Wasserentnahmeentgelt zwingend: Hier korrespondieren die Menge und der dadurch gewonnene, die Abgabe rechtfertigende Vorteil unmittelbar. Das kann am Beispiel der Mineralwasserwirtschaft, d. h. der Abfüllung von aus dem Boden gefördertem Mineralwasser zum Zwecke des Weiterverkaufs, verdeutlicht werden: Füllt der Mineralwasserproduzent viel Mineralwasser in Flaschen ab, hat er einen großen Vorteil, nutzt er nur wenig Wasser, ist sein Vorteil entsprechend geringer. Vorteil und Abgabentatbestand korrespondieren exakt miteinander. Entsprechendes gilt für den nach h.M. eine Verleihungsgebühr darstellenden bergrechtlichen Förderzins (Feldes- und Förderabgabe), da dieser an die gewonnenen Bodenschätze anknüpft55. Der das Entgelt legitimatorisch tragende und die verfassungsrechtlich geforderte Abgrenzung zur Steuer bewirkende Vorteilsausgleich 53 BVerfGE 108, 1 (17); jetzt auch BVerfG v. 6.11.2012 – 2 BvL 51/06; 52/06 – Berliner Rückmeldegebühr. 54 BVerfGE 108, 1 (19 f.). 55 H. Stallknecht, Lizenz und Lizenzentgelt, 1992, S. 179 f.

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bildet sich im Gebührentatbestand ab, ist insofern von einer klaren gesetzgeberischen Entscheidung getragen. Die Herausnahme des nichtgenutzten Wassers aus der Abgabepflicht in Nordrhein-Westfalen bis zur Novelle des entsprechenden LandesWasserentnahmegesetzes 2011 war daher konsequent, ja verfassungsrechtlich gefordert. Fasst man den Vorteilsbegriff allgemeiner, stellt man mithin auf den allgemeinen wirtschaftlichen Vorteil des Unternehmens ab, der durch das Abpumpen des Wassers überhaupt erst ermöglicht wird, stellt sich die Folgefrage, wie der Vorteil bemessen wird56. Damit hängt wiederum die Frage zusammen, wie sich die Vorteilsabschöpfung konkret im Abgabentatbestand niederschlägt. Auch hier sind Fälle denkbar, wo eine entsprechende Korrespondenzbeziehung zwischen Wassermenge und Vorteil besteht. Für den herangezogenen Fall der Förderung und Abfüllung von Mineralwasser bestünde kein Unterschied. Die Problematik des Maßstabs für den Vorteil zeigt sich jedoch in Fällen, wo Vorteil und Wassermenge in umgekehrter Wechselbezüglichkeit zueinander stehen. Die abgepumpte Wassermenge spiegelt hier gerade nicht den Vorteil wieder, dieser kann nur in dem letztlich erzielten Gewinn des Unternehmens gesehen werden. Andere Bezugsgrößen sind nicht ersichtlich oder werden zumindest nicht herangezogen. Die Relevanz dieser Tatsache ist von dem Umweltökonomen Erik Gawel bestritten worden. Er bezeichnet die Überlegungen zur umgekehrten Reziprozität zwischen Vorteil und Wassermenge beim Sümpfungswasser als „doch eher abwegig“57. Gleichwohl – oder gerade deswegen – vermag er die sich daraus ergebenden Widersprüche nicht aufzulösen. Zur „Rettung“ der Einbeziehung von nicht genutztem, aber entnommenem Wasser muss auch Gawel den auszugleichenden Vorteil ins Allgemeine, Ökonomische ziehen: „Der Vorteil der Ableitung von Sümpfungswasser liegt mithin schlicht im gesamten Ertragswert der auf den jeweiligen Standort bezogenen bergwirtschaftlichen Produktion.“58 Dies einmal anerkannt, kann Gawel dann freilich – ganz unabhängig von dem darin liegenden Übergriff in den Bereich der Steuer – die konkrete Bemessung nach entnommener Menge nicht erklären; die oben referierte Rechtsprechung einer von Verfassungs wegen geforderten Kongruenz zwischen Gebührenzweck und Gebührenbemessung wird ohnehin ignoriert. Auch aus einem zweiten Grund überzeugt die Argumentation nicht: Wenn ausgeführt wird, dass bereits das Entnehmen als solches und nicht erst die anschließende Nutzung des Wassers – etwa Verkauf als Trink- oder Mineralwasser – den eigentlichen Vorteil darstelle59, kann nicht erklärt werden, warum dann bei anschließender Nutzung das Entgelt nicht in doppelter Höhe erhoben wird. 56 Das wird als zentrales Problem auch von den Protagonisten einer Ausdehnung und Entgrenzung der Wasserentnahmeentgelte erkannt, vgl. nur J. Heimlich, Die Verleihungsgebühr als Umweltabgabe, 1996, S. 266 ff.; Gawel (o. Fußn. 40), 1001 und öfter. 57 Gawel (o. Fußn. 40), 1003. 58 Ebd., S. 1002; ähnlich ders. (o. Fußn. 17), 95 ff. 59 Ebd., S. 1002: „Zunächst ist grundsätzlich der wirtschaftliche Vorteil aus der Gewässerbenutzung durch Entnahmen von der anschließenden (gesonderten) Nutzung des dabei entnommenen Wassers zu unterscheiden. Konzeptionell relevant für ein Wasserentnahmeent-

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Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden: Tauscht man den abzuschöpfenden oder auszugleichenden Vorteil durch die Wasserentnahme von einer konkreten Nutzung durch den allgemeinen ökonomischen Vorteil, den die Wasserentnahme bietet, aus, geht man m.a.W. vom nutzungsakzessorischen zum nutzungsinakzessorischen Modell des Wasserentnahmeentgelts über, muss sich dies im konkreten Abgabentatbestand abbilden. Falls die Bemessungsgröße für die Abgabenhöhe, die entnommene Wassermenge, nicht geändert wird, bildet sich der Vorteil nicht hinreichend im Tatbestand des Wasserentnahmeentgelts ab. Dies führt zumindest bei denjenigen Wasserförderungen zur Verfassungswidrigkeit des Wasserentnahmeentgelts, wo der Vorteil in umgekehrter Relation zur entnommenen Wassermenge steht. Die Anforderungen, die der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in seiner Entscheidung zur Rückmeldegebühr Baden-Württemberg aufgestellt hat, werden damit verfehlt. cc) Übergriff in den Bereich der Steuer Der Austausch des abzuschöpfenden Vorteils von der konkreten Wassernutzung auf den ökonomischen Erfolg des Wasser entnehmenden Unternehmens, d. h. der Übergang vom nutzungsakzessorischen zum nutzungsinakzessorischen Modell der Wasserbepreisung mittels Entnahmeentgelts, führt zu einem verfassungswidrigen Übergriff in den Bereich der Ertragsbesteuerung60. Unternehmensgewinne werden nach der grundgesetzlichen Finanzverfassung über die Besteuerung zur Staatsfinanzierung abgeschöpft. Je nach Rechtsform sind hier die Einkommensteuer und die Körperschaftsteuer, ergänzt durch die in kommunaler Ertragshoheit stehende Gewerbesteuer, zu nennen. Die beiden zuerst genannten Steuern bilden neben der Umsatzsteuer als sog. Gemeinschaftsteuern – Art. 106 Abs. 3 GG – einen Eckpfeiler der Finanzverfassung und des bundesstaatlichen Verteilungssystems. Die Gemeinschaftsteuern machen insgesamt etwa Zwei-Drittel des Gesamtsteueraufkommens aus. Die Gesetzgebungskompetenz liegt hier beim Bund, Art. 105 Abs. 2 i. V. m. Art. 106 Abs. 3 GG. Wasserentnahmeentgelte knüpfen demgegenüber an die Sachgesetzgebungskompetenz für das Wasserrecht in der neuen Form der Abweichungskompetenz an, Art. 74 Abs. 1 Nr. 32 i. V. m. Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 GG. Wenn sich – wie oben dargelegt – der abzuschöpfende Vorteil nicht hinreichend im Entgelttatbestand abbildet, fehlt es an der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung, das Wasserentnahmeentgelt als Durchbrechung des Steuerstaatsprinzips anzuerkennen. Der Gegenleistungsbezug der nichtsteuerlichen Abgabe ist gelockert, er ist allenfalls noch mittelbar vorhanden. Der die nichtsteuerliche Abgabe allein rechtfertigende gelt ist aber gerade die Indienstnahme von Gewässern durch einen Entnahmevorgang. Die Entnahme selbst muss einen Wert besitzen, nicht zwingend das jeweils Entnommene.“ 60 Für die Verleihungsgebühr wird dies auch von deren Befürwortern anerkannt, vgl. nur Heimlich (o. Fußn. 56), S. 266: „Will man die Erhebung von Verleihungsgebühren zulassen, bedeutet das, eine partielle Durchbrechung des Steuerstaatsprinzips zu befürworten, denn diese Gebührenart wirft mangels zu deckender Kosten zwangsläufig Erträge ab, die zur Finanzierung allgemeiner Staatsaufgaben eingesetzt werden können.“ Ebd., S. 309 ff.

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Vorteil wird erst durch die weitere, unternehmerische Tätigkeit des Abgabenschuldners hervorgebracht; die Wasserentnahme ist nur einer von zahlreichen Faktoren, die erst unter Hinzutreten zahlreicher weiterer Aktivitäten zu einem Gewinn führt. Der Preis für die „generelle“ Ermöglichung wirtschaftlichen Erfolgs ist jedoch die Steuer (sog. generell-äquivalenztheoretische Steuerrechtfertigung)61. Diese ist voraussetzungslos, also gegenleistungsfrei geschuldet. Entsprechendes gilt für die grundrechtlichen Grenzen, die aus dem allgemeinen Gleichheitssatz in seiner abgabenspezifischen Konkretisierung folgen. Die Erfassung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zur Staatsfinanzierung erfolgt über die Steuer. Sie stellt das legitime Instrument zur Umverteilung dar. Vorzugslasten / Kausalabgaben wie Gebühren bedürfen auch unter grundrechtlichen Gesichtspunkten einer besonderen Rechtfertigung. Stellt den legitimatorischen Sondervorteil, der Wasserentnahmeentgelte vor der Finanzverfassung rechtfertigt, nicht mehr die Nutzung des Wassers, sondern der allgemeine ökonomische Erfolg des betr. Unternehmens dar, verschwimmt diese Abgrenzung. Weigert sich der Landesgesetzgeber, den auszugleichenden Vorteil hinreichend im Abgabentatbestand zu erfassen, greift das Wasserentnahmeentgelt zumindest in den Fällen, in denen der ökonomische Erfolg in umgekehrtem Verhältnis zur Menge des entnommenen Wassers steht, verfassungsrechtlich unzulässig in den Bereich der Steuer über. 3. Wasserentnahmeentgelte zwischen Ressourcennutzungs- und Verleihungsgebühr und die Problematik der Abgrenzung zu den (Gewinn-)Steuern Das Bundesverfassungsgericht hat in den ersten beiden herangezogenen Entscheidungen die Qualifikationsfrage des „Wasserpfennigs“ ausdrücklich offen gelassen, in der dritten hier zitierten Entscheidung wird dann stillschweigend vom Gebührencharakter ausgegangen. Für nachfolgende Erörterung wird von der Qualifikation als Gebühr oder zumindest von Gebührenähnlichkeit ausgegangen. Theoretisch sind zwei grundsätzliche Ausgestaltungen von Wasserentnahmeentgelten denkbar: als Ressourcennutzungsgebühr oder als Verleihungsgebühr62. Die Ressourcennutzungs61 Grundsätzlich M. Lehner/C. Waldhoff, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff (Hrsg.), Einkommensteuergesetz. Kommentar, Loseblattsammlung, Stand des Gesamtwerks: 237. Lieferung Januar 2013, § 1 Rdnr. A 100 ff. 62 Vgl. insgesamt dazu Heimlich (o. Fußn. 56); S. Meyer, Gebühren für die Nutzung von Umweltressourcen, 1995, S. 98 ff., 124; keine Differenzierung bei R. Sparwasser/R. Engel/ A. Voßkuhle, Umweltrecht, 5. Aufl. 2003, § 2 Rdnr. 147; M. Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, §§ 5 Rdnr. 254, 266, und C. Meyer, Abgaben auf Wasserentnahmen auf dem Prüfstand, Wasser und Abfall 2004, 22 f., gehen insgesamt von der Einordnung von Wassernutzungsentgelten als Ressourcennutzungsgebühren aus; deutlich insoweit auch Murswiek (o. Fußn. 46), 419: „Die Abgabentatbestände knüpfen nicht an die Eröffnung der Möglichkeit der Wasserentnahme an – angesichts der Zulassungsbedürftigkeit (§ 2 I WHG) ist dies die Erteilung der Erlaubnis oder Bewilligung –, sondern an die tatsächliche Entnahme von Wasser; die Befugnis zur Wasserentnahme setzen sie lediglich voraus. Die faktische Nutzung der Res-

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gebühr schöpft den Vorteil durch die konkrete Ressourcennutzung, hier also des Wassers, ab. Es besteht eine unmittelbare Korrelation zwischen der genutzten Wassermenge und dem Vorteil. Bemessungsmaßstab für die Entgelte ist damit konsequenterweise die entnommene Wassermenge. Die meisten Gesetze der Länder, die Wassernutzungsentgelte eingeführt haben, beruhen auf diesem Modell63. Für einige wenige Ausgestaltungen wird, freilich nicht stets überzeugend, die Qualifikation als Verleihungsgebühr diskutiert64. Demgegenüber stellt die Verleihungsgebühr auf den Akt der Rechtsverleihung und die dadurch dauerhaft gewährten Vorteile ab65. Die Verleihungsgebühr ist wiederum von der klassischen Verwaltungsgebühr abzugrenzen, welche die Kosten für den Verleihungsakt als solchen, also den Genehmigungsbescheid, als Bemessungsgrundlage heranzieht. Der Vorteil wird bei der Verleihungsgebühr dadurch notwendigerweise ins Allgemeine gezogen. Wird weiterhin auf die tatsächlich entnommene Wassermenge zur Gebührenbemessung abgestellt, fragt sich, ob es sich wirklich um eine Verleihungsgebühr und nicht doch um eine Ressourcennutzungsabgabe handelt. Konsequent wäre die Abgabenbemessung hier, wenn die Tatsache, ob von der Verleihung überhaupt Gebrauch gemacht wird, ohne Relevanz bliebe66. Dann müsste der Vorteil freilich anders bestimmt werden, denn das Paradigma des Vorteilsausgleichs als einzigem Rechtfertigungsansatz des Entnahmeentgelts als nichtsteuerlicher Abgabe gilt bei der Ausgestaltung als Verleihungsgebühr ohne Einschränkung. Wird daher ersatzweise auf den wirtschaftlichen Gewinn des begünstigten Unternehmens abgestellt, stellt sich die Frage der Abgrenzung zu den Ertragsteuern mit neuer und gesteigerter Dringlichkeit, denn der Gewinn (steuerlich: Ertrag) wird bereits über das Steuersystem belastet. Die Frage nach möglichen Anknüpfungspunkten für den abzuschöpfenden oder auszugleichenden Vorteil ist hier nach wie vor ungelöst67. Ein direktes Abstellen auf den mit der Wasserentnahme erzielten Gewinn, scheidet wegen der verschwimmenden Grenze zur Ertragsbesteuerung aus. Denkbar wäre allenfalls – wie bei der Abwasserabgabe – ein Bezug auf die durch die wasserrechtliche Gestattung erlaubte Entnahmemenge, unabhängig von der tatsächlichen Entnahme. Das kann zu ökologischen Fehlanreizen führen, da so ein indirekter Zwang entsteht, das zugebilligte source also ist der Belastungsgrund. Die Frage, wofür die Abgabe erhoben wird, beantworten die Gesetze in Baden-Württemberg und in Hessen ganz unzweideutig: für die Entnahme von Wasser, nicht dagegen für die Verleihung der diesbezüglichen subjektiven Rechtsstellung.“ 63 Heimlich (o. Fußn. 56), S. 319 ff. 64 Heimlich (o. Fußn. 56), S. 329 ff. 65 F. Kirchhof, Die Verleihungsgebühr als dritter Gebührentyp, DVBl. 1987, 554 ff.; J. Wieland, Die Konzessionsabgaben, 1991. 66 Vgl. auch Kirchhof (o. Fußn. 65), 557: „Entgolten wird anstatt der tatsächlichen Nutzung der Umwelt die Einräumung, Innehabung oder Benutzung des Rechts.“ Zu dem Problem auch Stallknecht (o. Fußn. 55), S. 179 f., mit der Beobachtung, dass diese Konsequenz praktisch selten gezogen werde, sondern zwischen dem Gebührentyp und der Bemessungsgrundlage unterschieden werde; letztere könne sich dann nach einem „Ausübungsmaßstab“ oder einem „Zeitmaßstab“ richten; vgl. so wohl auch BVerfGE 93, 319 (345). 67 Vgl. auch Meyer (o. Fußn. 62), 22.

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Kontingent auch voll auszuschöpfen und damit gerade nicht sparsam mit der Ressource Wasser umzugehen. Danach kann festgehalten werden: Eine Entgrenzung des Vorteils, der sich von der konkreten Wassernutzung entfernt, mithin eine nutzungsinakzessorische Ausgestaltung des Entgelts vermag die nichtsteuerliche Abgabe auf Wassernutzung nicht zu rechtfertigen und verwischt die finanzverfassungsrechtlich vorausgesetzte klare Abgrenzung zur (Ertrags-)Besteuerung. Knüpft das Wasserentnahmeentgelt an die Wassermenge an und steht diese in einem umgekehrten Verhältnis zum Vorteil führt dies zur Verfassungswidrigkeit einer derartigen Ausgestaltung. Wasserentnahmeentgelte können grundsätzlich als Ressourcennutzungsgebühr ausgestaltet werden, müssen dann an die entnommene Wassermenge anknüpfen und den Gedanken des Vorteilsausgleichs nutzungsakzessorisch strikt verwirklichen. Es ist nicht abschließend geklärt, wie daneben eine sinnvolle nichtnutzungsakzessorische Ausgestaltung, etwa als sog. Verleihungsgebühr Bestand haben könnte, ohne durch eine direkte oder indirekte Anknüpfung an den Unternehmensgewinn unzulässig zur Steuer zu mutieren. 4. Keine Ausdehnung auf weitere Nutzungsregime Oben wurde bereits erörtert, dass nicht jedes Ziel einer umfassenden bundesrechtlichen „Bepreisung“ von Wassernutzung und Wassereinwirkungen mit einer Ressoucennutzungsgebühr erfasst werden kann, sofern es nämlich gar nicht um „Nutzung“ o. ä. geht. Abschließend ist das Nutzungskonzept andersherum noch auf seine Übertragbarkeit auf andere Konstellationen als die Wassernutzung zu untersuchen. Könnte die „Bepreisung“ öffentlicher Güter, wie im Konzept der Wasserentnahmeentgelte, beliebig ausgedehnt werden, wären jahrzehntelange Bemühungen des Finanzverfassungsrechts und der entsprechenden Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zur Schutzfunktion der Finanzverfassungfür den Bürger68 hinfällig. Unter der positiv besetzten Flagge des Umweltschutzes könnte so ein ganz allgemeines Einfallstor für beliebige, und d. h. freiheitsgefährdende Abgabenbelastungen geöffnet werden69. Schon das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss von 1995 ein öffentlich-rechtliches Nutzungsregime als Voraussetzung und als Anknüpfungspunkt gefordert70. Für die Ressource Wasser ist dies gegeben71, für öffentliche Güter im Gemeingebrauch nicht. Das Ressourcenbewirtschaftungssystem muss sich unabhängig von der abgabenverfassungsrechtlichen Fragestellung grundrechtlich rechtfertigen lassen72. Für das (Grund-)Wasser hat das Bundesverfassungsgericht dies im sog. 68 Dazu insgesamt C. Waldhoff, Finanzautonomie und Finanzverflechtung in gestuften Rechtsordnungen, VVDStRL 66 (2007), S. 216 (235 ff.). 69 Vogel/Waldhoff (o. Fußn. 14), Rdnr. 423; ironisch Treffer, Der Luftpfennig ist verfassungsgemäß, DStZ 1997, 213. 70 BVerfGE 93, 319 (345); ebenso W. Kluth, Verfassungs- und abgabenrechtliche Rahmenbedingungen der Ressourcenbewirtschaftung, NuR 1997, 105 (110 ff.). 71 Statt aller nur Breuer (o. Fußn. 4), Rdnr. 156 ff. 72 Kluth (o. Fußn. 70), 106 ff., 110 ff.

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Nassauskiesungsbeschluss vorgeführt73. Hielte man sich nicht an diese Grenze, würde die Gebühr zum „Preis der Freiheit“, würde die Freiheit kommerzialisiert74. Die Frage, wie weit sich das Konzept des Wasserentnahmeentgelts verallgemeinern lässt, verlagert sich somit auf die nicht mehr finanzverfassungsrechtliche Frage nach der Zulässigkeit öffentlich-rechtlicher Nutzungsregime. Jenseits des Wassers dürften hier keine großen Spielräume für ein ähnlich umfassendes und rigides Regime sein.

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BVerfGE 58, 300 (333 ff.). Vgl. K. H. Friauf, „Verleihungsgebühren“ als Finanzierungsinstrumente für öffentliche Aufgaben?, in: FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahrfeier der Universität zu Köln, 1988, S. 683, 689. 74

Freiheit und Verpflichtung zugleich: Die Elternverantwortung als der zentrale Maßstab für die verfassungsrechtliche Beurteilung der neuen gesetzlichen Regelung zur Beschneidung Von Christian Walter Am 12. Dezember 2012 beschloss der Bundestag das „Gesetz über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes“.1 Vorausgegangen war eine intensive und kontroverse öffentliche Debatte,2 welche durch die Entscheidung einer kleinen Strafkammer des Landgerichts Köln ausgelöst worden war. In dieser hatte das Gericht angenommen, die Einwilligung in eine Beschneidung minderjähriger Jungen sei vom elterlichen Erziehungsrecht nicht gedeckt.3 1 Vgl. den Gesetzentwurf der Bundesregierung (BT-Drs. 17/11295 vom 5. 11. 2012), den Gegenentwurf einer Abgeordnetengruppe um die Abgeordneten Marlene Rupprecht, Katja Dörner und Diana Gole (BT-Drs. 17/11430 vom 8. 11. 2012), sowie die Änderungsanträge der Abgeordneten Burkhard Lischka, Christine Lambrecht, Rainer Arnold und weiterer Abgeordneter (BT-Drs. 17/11815 vom 11. 12. 2012), der Abgeordneten Jerzy Montag, Kerstin Andeae, Volker Beck (Köln) und weiter Abgeordneter (BT-Drs. 17/11816 vom 11. 12. 2012) und der Abgeordneten Dr. Carola Reimann, Kerstin Griese, Sabine Bätzing-Lichtenthäler und weiterer Abgeordneter (BT-Drs. 17/11835 vom 12. 12. 2012). 2 Die öffentliche Debatte ist gut dokumentiert auf den Seiten des Münsteraner Forum für Theologie und Kirche (http://www.theologie-und-kirche.de); dort unter „Beschneidung-Dossier“; siehe außerdem die Dokumentation der Beratungen des Deutschen Ethikrats zum Thema „Beschneidung“ unter http://www.ethikrat.org/sitzungen/2012/dokumente-plenarsit zung-23-08-2012 (zuletzt abgerufen am 20. 12. 2012). 3 LG Köln, NJW 2012, 2128 f.; dazu aus der Literatur J. Krüper, Anmerkung zur Entscheidung des LG Köln von 7.5. 2012 (151 Ns 169/11; NJW 2012, 2128) – Zur Unzulässigkeit der Beschneidung von Knaben, ZJS 2012, 547 ff.; H. Putzke, Recht und Ritual – ein großes Urteil einer kleinen Strafkammer, MedR 2012, 680 ff.; P. Wiater, Rechtspluralismus und Grundrechtsschutz: Das Kölner Beschneidungsurteil, NVwZ 2012, 1379 ff.; B. Rox, Anmerkung, JZ 2012, 806 ff.; T. Walter, Der Gesetzentwurf zur Beschneidung – Kritik und strafrechtliche Alternative, JZ 2012, 1110 ff.; die Entscheidung des LG Köln stützt sich vor allem auf einige strafrechtliche Publikationen, in denen Beschneidungen minderjähriger Jungen als strafbare Körperverletzung einstuft werden, vgl. H. Putzke, Die strafrechtliche Relevanz der Beschneidung von Knaben, in: H. Putzke u. a. (Hrsg.), Strafrecht zwischen System und Telos. Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg, 2008, S. 669 ff; G. Jerouschek, Beschneidung und das deutsche Recht, NStZ 2008, 313 ff. Anders dagegen etwa B. Fateh-Moghadam, Religiöse Rechtfertigung? Die Beschneidungvon Knaben zwischen Strafrecht, Religionsfreiheit und elterlichem Sorgerecht, RW 2010, 115 ff. oder M. Germann, Der menschliche Körper als

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Der nachfolgende Beitrag skizziert zunächst den wesentlichen Inhalt der gesetzlichen Regelung und analysiert die Gesetzesbegründung (I.), beschreibt anschließend den verfassungsrechtlichen Rahmen und die einfachrechtliche Ausgestaltung des elterlichen Erziehungsrechts im Familienrecht des BGB im Allgemeinen (II.) und zieht – darauf aufbauend – Konsequenzen für die verfassungsrechtliche Beurteilung der im Gesetzgebungsverfahren diskutierten Alternativen und die Interpretation der Neuregelung bei ihrer zukünftigen Anwendung (III.). Er gelangt insgesamt zu dem Ergebnis, dass der neu geschaffene § 1631d BGB eine verfassungskonforme und in der konkreten Ausgestaltung auch sachangemessene Regelung für das Problem der Beschneidung minderjähriger Jungen darstellt (IV.).4 I. Regelungskonzept und Regelungsinhalt des Gesetzes Mit der Neuregelung hat der Bundestag sich für eine Ergänzung der sorgerechtlichen Regelungen im Familienrecht des BGB entschieden. Die dort vorhandenen Bestimmungen werden um einen §§ 1631d BGB ergänzt, der wie folgt lautet: „Beschneidung des männlichen Kindes (1) Die Personensorge umfasst auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll. Dies gilt nicht, wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zweckes des Kindeswohl gefährdet wird. (2) In den ersten sechs Monaten nach der Geburt des Kindes dürfen auch von einer Religionsgesellschaft dazu vorgesehene Personen Beschneidungen gemäß Abs. 1 durchführen, wenn sie dafür besonders ausgebildet und, ohne Arzt zu sein, für die Durchführung der Beschneidung vergleichbar befähigt sind.“

Auch im Bundestag war man offensichtlich ganz überwiegend der Auffassung, dass eine Regelung im Familienrecht die richtige Lösung darstelle. Der im Gesetzgebungsverfahren vorliegende Alternativentwurf hatte auch eine Regelung im Familienrecht vorgeschlagen, nach dieser wäre eine Beschneidung allerdings erst ab dem 14. Lebensjahr und mit Einwilligung des betroffenen Jungen möglich gewesen.5 Alternative Regelungskonzepte wurden allerdings in der rechtswissenschaftlichen Fachöffentlichkeit diskutiert. Im Raum standen eine Ergänzung des Gesetzes über die religiöse Erziehung der Kinder oder des Patientenrechtegesetzes6 sowie eine Gegenstand der Religionsfreiheit, in: Kern/Lilie (Hrsg.), Jurisprudenz zwischen Medizin und Kultur. Festschrift zum 70. Geburtstag von Gerfried Fischer, 2010, S.35 (56). 4 Der vorliegende Beitrag beruht auf einer Stellungnahme im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags, vgl. http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse17/a06/anhoerungen/ archiv/31_Beschneidung/04_Stellungnahmen/index.html. Der dortige Text wurde erweitert und um Nachweise ergänzt. 5 BT-Drs. 17/11430 vom 8. 11. 2012. 6 Vgl. FAZ, „Gesetzentwurf bis zum Herbst“ vom 17. 7. 2012.

Verfassungsrechtliche Beurteilung der Regelung zur Beschneidung

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sog. „strafrechtliche Lösung“, mit der lediglich die Strafbarkeit von Beschneidungen bei einwilligungsunfähigen Jungen ausgeschlossen worden wäre7. Der vom Gesetz verfolgte Ansatz ist schon deswegen sachgerecht, weil er in weiten Teilen verfassungsrechtlichen Vorgaben folgt. Die sog. „strafrechtliche Lösung“ hätte bedeutet, dass in zivilrechtlicher Hinsicht eine Einwilligung in die Beschneidung eines einwilligungsunfähigen minderjährigem Jungen nicht vom elterlichen Sorgerecht gedeckt wäre. Dies hätte nicht nur problematische Folgen für die zivilrechtliche Beurteilung der Vereinbarungen über die Durchführung einer Beschneidung gehabt, sondern wäre – wie sogleich noch näher zu zeigen sein wird – vor dem Hintergrund von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG nur dann verfassungsrechtlich zulässig, wenn eine entsprechende Einwilligung der Eltern klar und eindeutig kindeswohlwidrig wäre. Das ist aber nicht der Fall.8 Eine Regelung im Gesetz über die religiöse Kindererziehung hätte diese Konsequenz zwar vermieden, mit ihr hätten aber lediglich Beschneidungen aus religiösen Gründen gerechtfertigt werden können. Der dem Gesetz zu Grunde liegende Ansatz verfolgt demgegenüber das Ziel, Beschneidungen ungeachtet der jeweiligen Motivation der Eltern zu rechtfertigen.9 Dadurch wird eine problematische Privilegierung gerade religiöser Gründe für eine Beschneidung vermieden. Des weiteren – und hierin liegt eine nicht unwesentliche Beschränkung der Regelung – wird es so möglich, unter den zahlreichen denkbaren Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit allein Beschneidungen zu regeln und damit zugleich Rückschlüsse auf andere Eingriffe (insbesondere solche rein ästhetischer Natur) zu erschweren. Eine Ausweitung auf andere Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit unter Berufung auf den Gleichheitssatz dürfte vor dem Hintergrund des klar begrenzten Regelungsanliegens, gerade Beschneidungen weiterhin zu ermöglichen, nur in engen Grenzen in Betracht kommen. II. Der verfassungsrechtliche Rahmen und seine bisherige einfachrechtliche Ausgestaltung im Familienrecht des BGB Maßgeblich für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Beschneidung minderjähriger Jungen ist ein Geflecht an Rechtsbeziehungen, das ganz überwiegend grundrechtlich determiniert ist: Auf der Seite der betroffenen Jungen ist das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) maßgeblich, für die Eltern gilt deren Elternverantwortung aus Art. 6 Abs. 2 GG, bei religiöser Motivation verstärkt um die Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Auf Seiten der Ärzte oder professionellen Beschneider wäre gegebenenfalls auch die Berufsfreiheit des Art. 12 7

So etwa T. Walter (o. Fußn. 3), 1110 ff. Siehe unten III. 1. 9 BT-Drs. 17/11295 vom 5. 11. 2012, S. 16.

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Abs. 1 GG zu berücksichtigen. Der Staat gerät in diesem Beziehungsgeflecht weniger als Adressat grundrechtlicher Bindungen in den Blick, sondern vielmehr als Organisator eines angemessenen Ausgleichs der genannten Grundrechtspositionen.10 Im Rahmen des Ausgleichs scheint dem Grundrecht des Kindes auf den ersten Blick die entscheidende Bedeutung zuzukommen, was nicht zuletzt an der Formulierung „Unversehrtheit“ liegt. Gleichwohl ist die körperliche Unversehrtheit aber nicht absolut geschützt.11 Sie steht unter einem (einfachen) Gesetzesvorbehalt und wird zudem nach allgemeiner Grundrechtsdogmatik durch kollidierende Grundrechtspositionen begrenzt. Es gibt deshalb keinen generellen Vorrang der körperlichen Unversehrtheit vor anderen grundrechtlich geschützten Gütern.12 Für die richtige verfassungsrechtliche Auflösung etwaiger Konfliktlagen rückt deshalb die Elternverantwortung aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG in den Mittelpunkt. Dieses Grundrecht ist insofern atypisch, als es ein Freiheitsrecht der Eltern begründet, zugleich aber auch eine Pflicht beinhaltet.13 Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besteht die Pflicht unmittelbar gegenüber dem Kind; ob hierdurch zugleich ein eigenes Recht des Kindes gegen seine Eltern begründet werden soll, ist umstritten.14 In jedem Fall werden Recht und Pflicht der Eltern durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG eng aufeinander bezogen, wobei die Pflicht nicht als eine von außen an das Elternrecht heran getragene Schranke verstanden wird, sondern als „wesensbestimmender Bestandteil des ,Elternrechts‘“15. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist das Wohl des Kindes die oberste Richtschnur bei der Ausübung des Elternrechts.16 Das Bundesverfassungsgericht spricht deshalb anschaulich von der „Elternverantwortung“.17 Die einfachgesetzliche Ausgestaltung im BGB entspricht diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben, indem § 1627 BGB die Eltern bei der Ausübung ihres Sorgerechts auf die Beachtung des Kindeswohls verpflichtet. Potentielle Verwirrung entsteht nun dadurch, dass das das sog. staatliche Wächteramt des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG, mit dem das Elternrecht begrenzt wird, seinerseits am Kindeswohl orientiert sein muss. Auch dies ist einfachrechtlich in § 1666 Abs. 1 BGB zum Ausdruck gebracht: „Wird das körperliche, geistige oder seelische 10 M. Jestaedt, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, GG, Art. 6 Abs. 2 und 3 (1995) Rdnr. 170. 11 H. Lang, in: Beck’scher Online-Kommentar, GG, Art. 2 Abs. 2 (2012) Rdnr. 68. 12 U. Di Fabio, in: Maunz-Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1 (2012) Rdnr. 52. 13 M. Jestaedt, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, GG, Art. 6 Abs. 2 und 3 (1995) Rdnr. 24; P. Badura, in: Maunz-Dürig, GG, Art. 6 Abs. 2, 3 (2012) Rdnr. 107. 14 BVerfGE 68, 256 (269), M. Jestaedt, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, GG, Art. 6 Abs. 2 und 3 (1995) Rdnr. 98. 15 B. Veit, in: Bamberger/Roth (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar, BGB, § 1626 BGB Rdnr. 9. 16 Siehe nur zuletzt BVerfGE 99, 145 (156) m. w. N. 17 BVerfGE 24, 119 (143).

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Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind.“18 Die Regelung in § 1666 Abs. 1 BGB wird treffend als „zivilrechtliche Ausführungsvorschrift“ zu Art. 6 Abs. 2 GG eingeordnet.19 Die Verpflichtung des staatlichen Eingreifens auf das Kindeswohl ist einerseits selbstverständlich, denn ein anderer Maßstab steht nicht zur Verfügung. Andererseits müssen aber die Verpflichtung der Eltern auf das Kindeswohl und das Kindeswohl als Schwelle für staatliches Eingreifen deutlich voneinander abgegrenzt werden. Ansonsten gewönne der Staat die ausschließliche Definitionsmacht über das Kindeswohl, was ersichtlich mit den Vorgaben des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbar wäre. Verwiesen sei noch einmal Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“20 Aus dieser Gegenüberstellung wird deutlich, dass die Kindeswohlbegriffe für die Verpflichtung der Eltern (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 GG und § 1627 BGB) und für die Eingriffsbefugnis des Staates (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG und § 1666 Abs. 1 BGB) nicht identisch sein können.21 Kennzeichnend für den die Eltern verpflichtenden Begriff des Kindeswohl ist, dass sie seinen konkreten Inhalt, also das, was für das Kind „gut“ ist, selbst mitbestimmen. Diese Befugnis ist die zentrale freiheitsrechtliche Komponente der Elternverantwortung als Abwehrrecht gegenüber dem Staat.22 Ihr kommt dabei auch eine Schutzfunktion zugunsten von gesellschaftlichen Minderheiten zu. Oft gibt es im Einzelfall gar kein bestimmtes, objektiv feststehendes Ergebnis, das allein den Anforderungen des Kindeswohls genügt. Was dem Kindeswohl entspricht, ist stark von subjektiven Wertungen abhängig. Im Rahmen ihrer durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Verantwortung ist es Eltern möglich, sich bestimmten gesellschaftlichen Moden zu entziehen – und es lässt sich nicht bestreiten, dass gerade im Bereich der Erziehung Mehrheitstrends erheblichen Druck entfalten können. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Funktion der Elternverantwortung aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG Mitte der 1970er Jahre in einer Entscheidung zur Begabtenförderung auf den Punkt gebracht: „Die Entscheidung über den weiteren Bildungsweg des Kindes hat das Grundgesetz zunächst den Eltern als den natürlichen Sachwaltern für die Erziehung des Kindes belassen. Damit wird jedenfalls dem Grundsatz nach berücksichtigt, dass sich das Leben des Kindes nicht nur nach seiner ohnehin von den Umweltfaktoren weitgehend geprägten Bildungsfähigkeit und seinen Leistungsmöglichkeiten gestaltet, sondern dass hierfür auch die Interes18

Hervorhebung vom Verfasser. M. Coester, in: Staudinger, BGB, 2009, § 1666 Rdnr. 3. 20 Hervorhebung vom Verfasser. 21 So ausdrücklich L. Peschel-Gutzeit, Staudinger, BGB, 2007, § 1627 Rdnr. 18. 22 M. Jestaedt, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, GG, Art. 6 Abs. 2 und 3 (1995) Rdnr. 42; P. Badura, in: Maunz-Dürig, GG, Art. 6 Abs. 2, 3 (2012) Rdnr. 97. 19

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sen und Sozialvorstellungen der Familie von großer Bedeutung sind. Diese primäre Entscheidungszuständigkeit der Eltern beruht auf der Erwägung, dass die Interessen des Kindes am besten von den Eltern wahrgenommen werden.“23

An diesem Maßstab hält das Gericht bis heute zu Recht fest.24 Wo nicht eindeutig und objektiv feststellbar ist, was das Kindeswohl verlangt, sondern subjektive Wertungen und die Abwägung verschiedener Gesichtspunkte erforderlich sind, muss es bei der Entscheidung der Eltern verbleiben. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass das Wächteramt aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG und § 1666 Abs. 1 BGB erst dann zum Zug kommt, wenn ein Verhalten der Eltern klar und eindeutig mit dem Kindeswohl unvereinbar ist.25 III. Konsequenzen für die rechtliche Beurteilung von Einzelfragen 1. Umgang mit der unterschiedlichen medizinischen Bewertung Für die Beurteilung der beiden Entwürfe spielt es eine zentrale Rolle, dass keine einheitliche oder zumindest erkennbar überwiegend geteilte medizinische Beurteilung der Beschneidung einschließlich ihrer physischen und psychischen Nebenund Folgewirkungen vorliegt.26 Als gesichert kann man eigentlich nur festhalten, dass die Beschneidung die körperliche Substanz verändert und Nebenwirkungen nicht mit völliger Sicherheit ausgeschlossen werden können. Ausmaß und Bedeutung dieser Folgen sind aber umstritten. Insbesondere gibt es offenbar sehr unterschiedliche Einschätzungen in verschiedenen Ländern der Erde, die keineswegs allein mit unterschiedlichen hygienischen Bedingungen erklärt werden können. Die Empfehlungen der WHO zugunsten einer Beschneidung dürfen in diesem Kontext durchaus berücksichtigt werden. Es geht dabei nicht darum, dass sie eine medizinische Indikation für Beschneidungen auch unter den hygienischen Bedingungen in Westeuropa liefern können. Aber sie dürften doch ein Indiz bei der Bewertung potentieller Komplikationen und psychischer Folgewirkungen darstellen. Jedenfalls wäre es sehr merkwürdig, wenn die WHO körperliche Eingriffe empfehlen würde,

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BVerfGE 35, 165 (184). Etwa BVerfGE NJW 2010, 2333 (2334). 25 M. Jestaedt, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, GG, Art. 6 Abs. 2 und 3 (1995) Rdnr. 195. 26 Überzeugend hierzu die Ausführungen von P. Dabrock in der Plenarsitzung des Ethikrats am 23. August 2012; verfügbar unter http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/plenarsitzung23 – 08 – 2012-dabrock.pdf, S. 2 f. (zuletzt abgerufen am 20. 12. 2012). 24

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die ein hohes Komplikationsrisiko oder regelmäßig schwere psychische Beeinträchtigungen mit sich bringen.27 Zu einem Verstoß der Beschneidung gegen das Kindeswohl kann man deshalb nur kommen, wenn man die Integrität der körperlichen Substanz für allein maßgeblich hält und Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit nur dann als mit dem Kindeswohl vereinbar ansieht, wenn es für sie eine klare medizinische Indikation gibt. Geht man dagegen von einem umfassenden Begriff des Kindeswohls aus, der sich auf die gesamte persönliche Entwicklung des Kindes bezieht, dann verbietet sich eine entsprechende Verkürzung auf allein den physischen Aspekt. Dabei führt auch das immer wieder vorgetragene Argument der Irreversibilität der Beschneidung zu keinem anderen Ergebnis.28 Hierbei wird nämlich nicht hinreichend berücksichtigt, dass auch die Nichtbeschneidung nur hinsichtlich des körperlichen Zustands als revisibel erscheint. Betrachtet man dagegen die sozio-kulturellen Konsequenzen, so wird deutlich, dass diese auch bei der Nichtbeschneidung nicht revisibel sind. Wenn eine vollständige Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft nur bei Durchführung der Beschneidung innerhalb einer bestimmten Frist erreicht wird,29 so lässt sich das nach Ablauf der Frist ebenfalls nicht mehr korrigieren. Das gilt im Übrigen ganz allgemein für das gelegentlich vorgetragene Argument, Kinder sollten bis zur Religionsmündigkeit möglichst von religiöser Beeinflussung frei gehalten werden: Die in den ersten 12 – 14 Lebensjahren verpasste religiöse Sozialisation lässt sich später nicht mehr nachholen. Darin liegt auch eine Irreversibilität. Nimmt man die vorstehenden Gesichtspunkte zusammen, so wird deutlich, dass die Elternverantwortung des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG der verfassungsrechtlich richtige Standort für die Verortung der Entscheidung über die Durchführung eine Beschneidung ist. Es gilt die physischen und psychischen Folgen für die weitere Entwicklung des Kindes gegeneinander abzuwägen. Nach der Systematik von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 GG darf der Staat hier nur eingreifen, wenn die Grenze für die Ausübung des Wächteramts überschritten ist, also die von den Eltern getroffene Entscheidung klar und eindeutig nicht mehr mit dem Kindeswohl vereinbar ist. Das gilt gerade auch für die Einschätzung möglicher Komplikationen. Auch bei anderen Eingriffen, etwa bei Impfungen, entscheiden die Eltern, ob sie das mit diesen verbundene Risiko von Komplikationen angesichts der Vorteile in Kauf nehmen wollen oder eben nicht. Deshalb ist auch bei einer Beschneidung eine umfassende Aufklärung der Eltern über mögliche Komplikationen erforderlich. Für die Annahme, 27 WHO, Information Package on Male Circumcision and HIV Prevention, abrufbar unter http://www.who.int/hiv/pub/malecircumcision/infopack_en_3.pdf (zuletzt abgerufen am 20. 12. 2012). 28 Siehe unter anderem Putzke (o. Fußn. 3), 678; Wiater (o. Fußn. 3), 1381; Fateh-Moghadam (o. Fußn. 3), 134; wobei letzterer dieses Argument nicht für ausschlaggebend hält. 29 Stellungnahme des Zentralrats der Juden bei der Anhörung im Rechtsausschuss am 26. 11. 2012 (o. Fußn. 4).

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dass die potentiellen Komplikationen so gefährlich und so dramatisch sind, dass eine Beschneidung nicht mehr von den Grenzen des elterlichen Sorgerechts umfasst wäre, reichen die derzeit vorliegenden medizinischen Aussagen aber nicht aus.30 Damit ist zugleich gesagt, dass der alternative Entwurf in der BT-Drucksache 17/ 11430 einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht standgehalten hätte. Weil er Beschneidungen erst ab dem 14. Lebensjahr zulässt, greift er in die in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verfassungsrechtlich geschützte Elternverantwortung ein, ohne dass hierfür ein hinreichend klarer und eindeutiger Verstoß gegen das Kindeswohl dargetan wäre. Der Staat maßt sich damit die Entscheidung darüber an, was für die Entwicklung minderjähriger Jungen bis zum 14. Lebensjahr die richtige Entscheidung ist. Das dürfte er aber nur, wenn entsprechend gesicherte Erkenntnisse über die Schädlichkeit der Beschneidung vorliegen. Der nun verabschiedete Text beachtet demgegenüber die verfassungsrechtlichen Vorgaben und überantwortet die Entscheidung darüber, ob überhaupt eine Beschneidung durchgeführt werden soll den Eltern. 2. Verfassungsrechtliche Grenzen bei der Durchführung der Beschneidung Als Eingriff in die körperliche Unversehrtheit muss eine Beschneidung die Regeln der ärztlichen Kunst beachten. Die neue gesetzliche Regelung verlangt dies ausdrücklich und stellt zudem klar, dass auch eine nach § 1631d Abs. 2 BGB in den ersten 6 Monaten von einem nicht-ärztlichen Beschneider oder einer nicht-ärztlichen Beschneiderin durchgeführte Beschneidung gleichfalls diesen Standards genügen muss.31 Außerdem wird eine hinreichende fachliche Qualifikation der betreffenden Personen verlangt. Hinsichtlich der Beteiligung der Jungen an der Entscheidung gibt es mit § 1626 Abs. 2 BGB eine allgemeine sorgerechtliche Regelung, nach der die Eltern das Kind entsprechend seines Alters an den Entscheidungen zu beteiligen haben. Daraus ergibt sich je nach Alter und persönlicher Entwicklung sicher auch eine Vetoposition des Kindes. Im Gesetzgebungsverfahren gab es Bestrebungen, diese Vetoposition verfahrensrechtlich zu stärken. In Änderungsanträgen wurde sie entweder ausdrücklich

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Vgl. etwa die Stellungnahmen vor dem Rechtsausschuss des Bundestages am 26. 11. 2012 von A. Deusel, O. Hakenberg und H. Graf (anders aber in der Stellungnahme von W. Hartmann) (o. Fußn. 4), oder die Gemeinsame Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP), des Berufsverbands für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland e. V. (BKJPP) und der Bundesarbeitsgemeinschaft der Leitenden Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. (BAG) vom 27. 09. 2012, abrufbar unter http://www.dgkjp.de/de_stn-knabenbeschneidung_215.html (zuletzt abgerufen am 20. 12. 2012). 31 Vgl. insoweit den ausdrücklichen Hinweis hierauf in der Begründung für den Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 17/11295, S. 19.

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formuliert32 oder es sollte darüber hinausgehend der Verordnungsgeber dazu ermächtigt werden, die „Anforderungen an die Ermittlung und Feststellung eines entwicklungsabhängigen Vetorechts des minderjährigen männlichen Kindes gegen eine Beschneidung“ festzulegen.33 Die Regelung des Vetorechts war angesichts der Vorgaben aus §§ 1626 Abs. 2 Satz 2 und 1631 Abs. 2 BGB nicht zwingend erforderlich,34 eine entsprechende Klarstellung wäre aber auch nicht schädlich gewesen. Letztlich folgt schon aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), dass ein körperlicher Eingriff nicht gegen den Willen einer selbst einsichts- und urteilsfähigen Person durchgeführt werden darf. Aber diese Eingriffe werden schon von vornherein von der gesetzlichen Regelung gar nicht erfasst, da diese sich ausdrücklich auf die „Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes“ bezieht. Das entscheidende praktische Problem ist sicherlich die Beurteilung der Einsichts- und Urteilsfähigkeit und die Einschätzung des Kindeswillens. Dies sind aber Fragen, die ganz entscheidend von den konkreten Umständen jedes einzelnen Falles abhängen. Hier im Verordnungswege Kriterien vorzugeben, hätte wahrscheinlich mehr Schaden als Nutzen gestiftet. Das Gleiche gilt für die meisten anderen Punkte, zu denen der Verordnungsgeber nach dem Änderungsantrag in der BTDrs. 17/11816 Präzisierungen hätte liefern sollen. Die medizinischen Standards für die Durchführung eines operativen Eingriffs und für die Schmerzbehandlung überlässt man auch sonst mit guten Gründen der Entwicklung und Fortentwicklung durch die jeweiligen Fachvertreter. Andernfalls müsste bei jeder Verbesserung der Standards erst der Verordnungsgeber aktiv werden, was zu unnötigen Verzögerungen führen würde. Unter den vorgeschlagenen Verordnungsermächtigungen wäre allein diejenige plausibel gewesen, die sich auf die Anforderungen an die fachliche Qualifikation nicht-ärztlicher Beschneiderinnen und Beschneider bezog. Angesichts der absehbar äußerst geringen Zahl (sie dürfte nach den in der Anhörung im Rechtsausschuss diskutierten Größenordnungen unter 5 liegen), erscheint es sehr nachvollziehbar, wenn man auf eine eigene Regelung hierfür verzichtet und es bei den allgemeinen Anforderungen in § 1631d Abs. 2 BGB belässt. 3. Die Ausnahmeklausel in § 1631d Abs. 1 Satz 2 BGB Die Regelung in § 1631d Abs. 1 Satz 2 BGB ist im Vorfeld der Anhörung in der Öffentlichkeit auf zum Teil vehemente Kritik gestoßen. Sie sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, dass die prinzipielle Frage über die Vereinbarkeit einer Beschneidung mit dem Kindeswohl nun in diese Teilregelung vorschoben worden sei. Dieser Lesart liegt ein fundamentales Missverständnis der gesamten Neuregelung zugrunde. 32

Siehe den Änderungsantrag in der BT-Drs. 17/11816. Siehe den Änderungsantrag in der BT-Drs. 17/11815. 34 Vgl. den Hinweis in der Begründung für den Gesetzentwurf der Bundesregierung, BTDrs. 17/11295, S. 18. 33

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Nach Sinn und Zweck des gesamten Gesetzgebungsverfahrens kann kein Zweifel daran bestehen, dass es darum geht, die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der elterlichen Entscheidung für die Beschneidung eines minderjährigen Jungen klar zu stellen. Schon aus diesem Grund kann § 1631d Abs. 1 Satz 2 BGB die Beschneidung nicht dem Generalvorbehalt des Kindeswohl unterwerfen. Das wäre aus den oben genannten Gründen verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar. Bei der Vorschrift geht es vielmehr darum, atypische Konstellationen zu erfassen, in denen die Beschneidung Ziele verfolgt, die mit Sinn und Zweck der Regelung unvereinbar wären, etwa entgegen der Regelung in § 1631 Abs. 2 BGB doch als Erziehungsmittel eingesetzt wird. Ob es für derartige atypische Fälle einer eigenen Regelung bedarf, mag man unterschiedlich beurteilen. Letztlich dürften sich die Fälle – wie das gerade genannte Beispiel zeigt – auch über andere Vorschriften sachgerecht lösen lassen. Gerade weil die Vorschrift aber nur ohnehin bereits geltende Ausnahmen unterstreicht, ist sie im Gesamtkontext des Regelungsziels unproblematisch. Sie enthält keine Relativierung der Grundentscheidung in Satz 1, sondern stellt eine allgemeine Auffangklausel für die sachgerechte Lösung von Sonderfällen zur Verfügung. 4. Internationaler menschenrechtlicher Rahmen und rechtsvergleichende Aspekte Besondere Hervorhebung verdient die Begründung zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung hinsichtlich ihrer internationalen menschenrechtlichen und ihrer rechtsvergleichenden Teile. Sie ist beeindruckend umfassend und gründlich. Insbesondere sind die Ausführungen zur Entstehungsgeschichte von Art. 24 Abs. 3 UNKinderrechtskonvention überzeugend. Mit dieser Vorschrift ist in der öffentlichen Debatte immer wieder argumentiert worden, um einen Verstoß gegen die Kinderrechtskonvention zu begründen. Sie verlangt von den Vertragsparteien, dass diese „alle wirksamen und geeigneten Maßnahmen, um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind“, abschaffen. Bei dieser Vorschrift handelt es sich aber um einen Kompromiss, mit dem die Beschneidung von Jungen sicherlich nicht erfasst werden sollte. Bei den Verhandlungen war es nämlich schon nicht möglich, sich auf eine Verpflichtung zum Verbot der weiblichen Genitalverstümmelung zu einigen.35 Im Übrigen sprechen auch die weltweite rechtliche Behandlung der Beschneidung von Jungen und ihre verbreitete Praxis gegen eine entsprechende Auslegung von Art. 24 Abs. 3 UN-Kinderrechtskonvention. Man kann nicht annehmen, dass die Vertragsparteien der UN-Kinderrechtskonvention mit der Regelung in Art. 24 Abs. 3 eine Praxis abschaffen wollen, die weit verbreitet und – soweit ersichtlich – nirgends verboten ist.36 Man kann sich auch kaum vorstellen, dass Israel oder die Ver35

Vgl. die Analyse der Entstehungsgeschichte bei G. Dorsch, Die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes, Berlin 1994, 171. 36 Vgl. dazu die ausführliche Darstellung in der Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 17/11295, 10 f.

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einigten Staaten von Amerika37 der Konvention beigetreten wären, wenn diese die Beschneidung von Jungen klar verbieten würde.38 Diese Überlegung wird verstärkt durch die Praxis der Menschenrechtsorgane, die bei der Auslegung internationaler Vorgaben die nationale Praxis zu der betreffenden Auslegungsfrage gerade dann berücksichtigen, wenn diese besonders umstritten ist.39 Im Ergebnis verstößt die neue Regelung nicht gegen derzeit geltendes internationales Recht. IV. Schlussbemerkung Alles in allem stellt die Neuregelung eine sachgerechte Lösung dar. Insbesondere vermeidet sie in einer medizinisch wie gesellschaftlich sensiblen Frage die einseitige Bestimmung des Kindeswohls durch den Staat und überlässt die Entscheidung stattdessen – den verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Art. 6 Abs. 2 GG folgend – den Eltern. Auffällig und deshalb zum Abschluss noch einmal besonders positiv hervorzuheben ist die ausführliche Begründung des Entwurfs, in der auch internationale und ausländische Entwicklungen außergewöhnlich gründlich berücksichtigt wurden. Wenn sich nun ausgerechnet dieses Gesetzgebungsvorhaben in der öffentlichen Diskussion dem Vorwurf eines „aktionistischen Schnellschusses“40 ausgesetzt sieht oder gar als „bizarr“41 bezeichnet wird, dann liegt darin eine einseitige, offensichtlich vom gewünschten Ergebnis getragene Wahrnehmung der öffentlichen Debatte. Wer dagegen die Entwicklung seit dem Bekanntwerden der Entscheidung des LG Köln im Frühsommer noch einmal nüchtern Revue passieren lässt, die Expertenanhörung im Bundesministerium der Justiz zur Erarbeitung des Entwurfs in Rechnung stellt, und insbesondere auch die Diskussion im Ethikrat betrachtet, der kommt nicht umhin festzustellen, dass es gelungen ist, ein komplexes rechtliches und gesellschaftliches Problem zügig (also in erfreulich kurzer Zeit, aber ohne inhaltliche Verkürzungen) einer angemessenen Lösung zuzuführen.

37 Die in der öffentlichen Debatte immer wieder in Bezug genommenen Zahlen der WHO für die USA aus dem Jahr 2006 gehen von einer Beschneidungsquote zwischen 76 und 92 % je nach Region aus (vgl. http://www.who.int/hiv/mediacentre/infopack_en_2.pdf [zuletzt abgerufen am 20. 12. 2012]). 38 Vgl. zum Ratifikationsstand (193 Staaten) die Angaben unter http://treaties.un.org/ Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-11&chapter=4&lang=en (zuletzt abgerufen am 20. 12. 2012). 39 Vgl. etwa EGMR, Beschw. Nr. 44362/04v om 4. Dezember 2007, Rn. 78 – Dickson gg. Vereinigtes Königreich. 40 So etwa die Deutsche Kinderhilfe, abrufbar unter https://www.kinderhilfe.de/blog/artikel/ beschneidungsgesetz-hebelt-kinderrechte-aus-gesetzgeberischer-schnellschuss-mit-schwerenhandwerklichen-maengeln/ (zuletzt abgerufen am 21. 12. 2012). 41 So etwa H. Putzke im Interview, in: Tagesspiegel, „Bizarre Missachtung kindlicher Rechte“ vom 29. 09. 2012.

Annäherungen an eine Phänomenologie des Sozialrechts Von Hans F. Zacher I. Vorbemerkung: Die Sache, der Jubilar und der Verfasser Der Verfasser dieser Zeilen ist dem Jubilar, dem diese Festschrift gewidmet ist, jenseits aller elementaren Gemeinsamkeit fachlicher Kollegialität auf zwei Weisen besonders verbunden. Die eine Weise: Der Verfasser hatte die Ehre, Hans-Jürgen Papiers Vorgänger auf dem Lehrstuhl für (wie er „zu meiner Zeit“ hieß) „deutsches und bayerisches Staats- und Verwaltungsrecht“ an der Juristischen Fakultät der LudwigMaximilians-Universität München gewesen zu sein. Die zweite Weise der Verbundenheit: Beide haben sich wesentlich mit dem Sozialrecht befasst.1 Insofern aber verbindet Jubilar und Verfasser eine weitere Eigentümlichkeit. Beide haben sich – nie ausschließlich, wohl aber in gewissen Perioden ihres wissenschaftlichen Werdeganges – auf das Verhältnis der Verfassung zum „einfachen“ (gesetzesrechtlichen) Sozialrecht konzentriert. Der Verfasser begann von vorneherein auf dieser Grundlage. Im Winter 1952/1953 überzeugte ihn sein Doktorvater, Hans Nawiasky,2 davon, wie wichtig und wie nachhaltig ergiebig es sein könnte, dem „Verfassungsrecht der sozialen Intervention“ eine Habilitationsschrift zu widmen. So hieß das Thema: „Die soziale Intervention des Staates nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und der Verfassung des Freistaates Bayern“. Wie rasch sich die sozialpolitische Rolle der Länder auf ihre Mitwirkung an der Bundespolitik beschränken würde, war noch nicht abzusehen. 1962 wurde ich auf Grund dieser Arbeit habilitiert. Die Arbeit wurde schließlich – um die spezifisch bayerischen Ausführungen gekürzt – 1980 veröffentlicht: „Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland“.3 1

Umfassend H.-J. Papier, Der Einfluss des Verfassungsrechts auf das Sozialrecht, in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, (1. Aufl. 1988, S. 114 ff.; 2. Aufl. 1996, S. 73 ff.; 3. Aufl. 2003, S. 81 ff.; 4. Aufl. 2008, S. 100 ff.; 5. Aufl. 2012, S. 112 ff.); H. F. Zacher, in: v. Maydell/Eichenhofer (Hrsg.), Abhandlungen zum Sozialrecht, 1993; H. F. Zacher, in: Becker/Ruland (Hrsg.), Abhandlungen zum Sozialrecht II, 2008. Im Einzelnen s. die dort abgedruckten Schriftenverzeichnisse. 2 Zu ihm s. zuletzt H. F. Zacher, Erinnerungen an Professor Hans Nawiasky, in: Ehrenzeller/Schindler (Hrsg.), Hans Nawiasky – Leben, Werk und Erinnerungen, 2012, S. 39 ff. 3 Die Arbeit war erst im Sommer 1961 abgeschlossen worden. Im Sommer 1962 wurde ich habilitiert. Das Missverhältnis zwischen der langen Dauer der „nebenberuflichen“ Arbeit und

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Hans-Jürgen Papier seinerseits setzte 1970 die Anfänge eines außergewöhnlich vielfältigen und wirkmächtigen Werkes zu zentralen und speziellen Fragen des Staats- und Verwaltungsrechts, dessen Vielfalt im Wesentlichen auch anhielt, als er 1998 in das Bundesverfassungsgericht zunächst als dessen Vizepräsident, 2002 als dessen Präsident berufen wurde. Früh schon fanden auch Probleme des Eigentumsschutzes sozialrechtlicher Positionen sein Interesse.4 Im Laufe der Zeit nahm sein sozialrechtliches Interesse zu. Indem seine Erfahrung als Richter des Bundesverfassungsgerichts wuchs, intensivierte sich zwar sein Interesse für das Verhältnis zwischen dem Verfassungsrecht und dem „einfachen“ Sozialrecht. Zugleich aber weitete sich sein Blick auch auf den Gesamtzusammenhang des Sozialstaates.5 Hinsichtlich der Probleme, die sich im Spannungsfeld zwischen der Verfassung und dem „einfachen“ Sozialleistungsrecht entwickeln, hat der Jubilar eine besondere Meisterschaft entwickelt. Er hat wesentlich dazu beigetragen, dass hinsichtlich der Gesamtwirkung von Verfassungs- und Gesetzesrecht zum „Sozialen“ mehr Rechtsgewissheit möglich geworden ist. Ihn mit einem Beitrag auf diesem Felde ergänzen zu wollen, erschiene dem Verfasser deshalb eitel. Der Raum aber, in dem das deutsche Verfassungsrecht, der „Sozialstaat“ und die Wirklichkeit des „Sozialen“ sich begegnen, ist weit. Ihn konnte auch Hans-Jürgen Papier noch nicht vollends besetzen. In ihm bewegen sich die nachfolgenden Überlegungen.

den raschen und vielfältigen Entwicklungen in den Aufbaujahren der Bundesrepublik hatte – meinte ich – Defizite hinterlassen, die Nachbesserungen erforderten. Die Veröffentlichung von 1980 verzichtete schließlich auf alles spezifisch Bayerische. Drei Jahrzehnte nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes hätte die sozialpolitische Rolle der Landesverfassungen einer ganz neuen Bearbeitung bedurft. Den Text zu Bundesrepublik und Grundgesetz ließ ich unverändert. 4 H.-J. Papier, Besteuerung und Eigentum, DVBl 1980, 787 ff.; ders., Die Differenziertheit sozialrechtlicher Positionen und der Anspruch der Eigentumsgarantie, in: Verfassungsrechtlicher Eigentumsschutz sozialer Rechtspositionen, 2. Sozialrechtslehrertagung, 1982, S. 193 ff.; ders., Eigentumsgarantie des Grundgesetzes im Wandel, Schriftenreihe der Juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe, Bd. 161, 1984.; ders., Verfassungsrechtliche Probleme der Eigentumsregelung im Einigungsvertrag, NJW 1991, 193 ff. 5 H.-J. Papier, Staatsrechtliche Vorgaben für das Sozialrecht, in: Wulffen/Krasney (Hrsg.), FS 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 23 ff.; ders., Grundrechte und Sozialordnung, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II, 2006, S. 253 ff.; ders., in: MaunzDürig, GG, Art. 14 (2010); ders., Die Zukunft des Sozialstaates in Deutschland und Europa, NDV 2010, 10 ff.; ders., Der Sozialstaat aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: Berufsgenossenschaft Energie, Textil, Elektro, Medienerzeugnisse (Hrsg.), 125 Jahre Veränderung, Beitrag zum 125-jährigen Bestehen der gesetzlichen Unfallversicherung, 2010, S. 47 ff.; ders., Sozialstaatlichkeit unter dem Grundgesetz, in: Hohmann-Dennhardt/Masuch/Villiger (Hrsg.), FS Jaeger, 2011, S. 286 ff.; ders., Das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes – der rechtliche Rahmen der sozialen Sicherung, in: Pöttering (Hrsg.), Die Zukunft des Sozialstaates, 2011, S. 47 ff.; ders., Der Einfluss des Verfassungsrechts auf das Sozialrecht, in: v. Maydell/Ruland/ Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, 2012, S. 112 ff.

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II. Die Herausforderung 1. Das Ärgernis Die Herausforderung, auf die der Verfasser mit diesem Versuch antworten möchte, ist die folgende. Sozialrecht ist genuin angefochtenes, a priori in Frage gestelltes Recht. Wann immer Sozialrecht neu gemacht wird, wird es an Alternativen gemessen: an den Nachteilen, welche die einen davon haben und die anderen nicht, und an den Vorteilen, welche die einen davon haben und die anderen nicht. Sozialrecht setzt Bedingungen für die Lebensverhältnisse der Menschen. Die Absicht einer Neuregelung ist es in der Regel, diese Bedingungen zu sichern oder zu verbessern. Aber die Verschiedenheit der Lebensverhältnisse ist groß.6 Und so gibt es, wann immer diese Bedingungen geändert werden, in der Regel Menschen und Gruppen, die sich in ihren Lebensmöglichkeiten benachteiligt sehen: verschlechtert, weniger verbessert als andere, von einer Verbesserung ausgeschlossen usw. Und wann immer eine Möglichkeit besteht, dass diese Bedingungen geändert werden, kann es Menschen geben, die davon einen Vorteil erwarteten, und Menschen, die davon einen Nachteil befürchteten.7 Je nach den Umständen können sich Kräfte der öffentlichen Meinungsbildung dieser „Ungleichheit“ annehmen: Verbände, Medien, einzelne Protagonisten. Und je nach den Umständen wird es Kräfte in der Politik (einer Partei usw.) geben, die das Defizit aufgreifen und eine (erneute) Änderung des Sozialrechts verlangen. Das Problem wird entsprechend in die Wahlwerbung und die Wählerentscheidung eingehen. Das Problem kann auch am anderen Ende beginnen: dass eine Kraft in der Politik die Initiative setzt: eine vorteilhafte oder nachteilige Alternative artikuliert, eine entsprechende Klientel anspricht und aktiviert, damit auch Teile der Öffentlichkeit interessiert, jedenfalls schließlich den Disput in die Politik einbringt. Diese Prozesse können sich vervielfältigen und überlagern. Sie können sich nicht weniger, als sie sich an Projekte „sozialer“ Verbesserung anschließen können, an Projekte der Reduktion „sozialer“ Standards anschließen. Die apriorische individuelle Verschiedenheit der Lebensverhältnisse der Menschen wird immer bedingen, dass sie sich unterschiedlich auswirken: dass sie als „ungleich“ abgelehnt werden. Und immer wird es politische und gesellschaftliche Kräfte geben, die darin eine Verantwortung oder ihr „Geschäft“ oder beides sehen.8 So entsteht Unrast und Unsicherheit. Das konterkariert eine „soziale“ Politik. „Soziale“ Politik sollte Lebensperspektiven eröffnen. Und es konterkariert „Sozialrecht“. Recht sollte vergewissern. Und „Sozialrecht“ sollte „soziale Sicherheit“ vermitteln. Aber der Schaden ist größer. Die Unrast entwertet das „Soziale“. Die Diskussion des „Sozialen“ wird kritiklastig. Die öffentliche Diskussion speichert immer mehr negative Argumente und Urteile und immer weniger 6

A. K. Sen, Inequality reexamined, 1995, S. 19 ff. R. Pitschas, Die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme, VVDStRL 64 (2005), S. 109 – 143 (115). 8 U. Davy, Pfadabhängigkeit in der sozialen Sicherheit, in: Sozialrechtsgeltung in der Zeit: 1. Sozialrechtslehrertagung des Deutschen Sozialrechtsverbandes e.V., 2007, S. 103 – 151. 7

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positive Argumente und Urteile. Man kann von der Gefahr einer „sozialen Enttäuschung“ sprechen. In der Geschichte der Bundesrepublik9 zeigte sich diese Gefahr lange Zeit nicht.10 In der Aufbauphase der Nachkriegszeit absorbierte das Wachstum die Aufmerksamkeit. Das steigerte sich zu den „sozialen“ Wachstumsvisionen der Ära Brandt.11 Im Schlüsseljahr 197312 – ein Jahr nach dem Anti-Wachstums-Weckruf des Club of Rome und dem Jahr der Erdölkrise – traten erstmals Grenzen zutage. Die Entwicklung der Sozialleistungssysteme hörte für immer auf, primär Wachstum zu sein. Der grandiose Aufbau der Sozialleistungssysteme, der sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in den entwickelten Ländern vollzogen hatte, hat seine immanente Grenze erreicht. Auch das wirtschaftliche Wachstum „an sich“ änderte seinen Charakter. Die großen Zuwächse wanderten in die „Nachholländer“. Und die Zuwachsraten, wie immer sie waren, waren „verpfändet“: für die hohen zivilisatorischen Standards, auch, aber nicht nur für die „Sozialausgaben“. Die Politik sah sich genötigt, die finanziellen Spielräume permanent zu überreizen. Die Grenzen, an welche die Staaten stießen, wenn sie sich verschuldeten, wurden zu den eigentlichen finanziellen Grenzen der Politik. Die „Sozialpolitik“ vollzog sich – großräumig gesehen – mehr und mehr in relativ engen Korridoren des finanziellen Spielraums. Diese Überschaubarkeit verschärfte die Beobachtung. Schon früh war beobachtet worden, dass das „Soziale“ ein Prozess ist, der sich dadurch legitimiert, dass der Umlauf der Vorteile über die Zeit hin den Menschen Befriedigung gibt und neue Hoffnung eröffnet.13 Die Verdichtung kritischer, negativer Bewertung, wie sie sich in diesen Korridoren wiederholt, entkräftet diesen Prozess. Man ist versucht zu sagen: Die Korridore verrußen; Rauch trübt den Blick; und zuweilen benehmen giftige Dämpfe den Atem. 2. Aspekte der Diagnose und der Therapie Eine umfassende Analyse der Probleme ist diesem kurzen Beitrag verwehrt. Er kann nur Aspekte vorlegen. Der Verfasser will das auf drei Pfaden einer Analyse tun: Erstens: Die normative Irritation des deutschen Sozialstaats. Ihr wird sich dieser Text vergleichsweise eingehend widmen.

9 H. F. Zacher, Grundlagen der Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung/Bundesarchiv (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 1, 2001, S. 333 ff. 10 H. G. Hockerts, Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, 2011. 11 H. F. Zacher, Faktoren und Bahnen der aktuellen sozialpolitischen Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland, Die Versicherungsrundschau: Zeitschrift für das Versicherungswesen, 1972, 254 ff. 12 Zacher, (o. Fußn. 9), S. 518 ff. 13 H. F. Zacher, Der Sozialstaat als Prozess, ZgS, 134 (1978), 16 ff.

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Die beiden anderen Pfade können im Rahmen des verfügbaren Platzes nur angedeutet werden. Zweitens: Die komplexe Ganzheit des „Sozialen“ und die Relevanz der Elemente. Drittens: Der Ungehorsam der Wirklichkeit. Die Unterschätzung der Zukunft gegenüber der Gegenwart und der Wirklichkeit gegenüber dem Recht. Und der Verfasser wird es auf drei Pfaden verfassungspolitischer Therapie versuchen: Erstens: Die Ergänzung politischer Institutionen um Einrichtungen und Verfahren, die Politik und Gesellschaft helfen, die wirklichen Gegebenheiten richtig – insbesondere umfassend – wahrzunehmen, zu verstehen und zu bewerten, „soziale“ Probleme optimal zu definieren und „soziale“ Lösungen optimal zu suchen. Zweitens: Die Ergänzung der normativen Anleitungen der Politik und des Rechts durch Verfahren der Verständigung und der Konsensbildung. Drittens: Indem Politik und Öffentlichkeit sich der unterschiedlichen Strategien der Gleichheit bewusst werden. III. Aspekte einer Analyse 1. Die normative Irritation des deutschen Sozialstaates Die Diskussion um den deutschen Sozialstaat ist von normativen Konzepten geprägt. Die Erwartungen an ihn sind von Normen getragen. Und die Verwirklichung des „Sozialen“ bezieht wesentliche Anstöße aus Normen. Dass dies so ist, verdankt sich nicht zuletzt dem Rechtsvertrauen, dem die Verfassungen der Nachkriegszeit, vor allem auch das Grundgesetz, vielfältig Ausdruck gegeben haben (s. vor allem Art. 1, 19, 20, 28 GG).14 Deutschland wandte sich von der Erfahrung des totalitären Staates ab. Und die normative Steuerung des Gemeinwesens war eine der Hoffnungen auf einen neuen, „guten“ Staat. Auf der anderen Seite ist der deutsche Sozialstaat durch ein Zuviel an normativen Konzepten tief irritiert. Damit ist nicht das positive rechtsstaatliche Gefüge gemeint. Damit ist vielmehr die Vielfalt von ungeschriebenen Normen gemeint, die hinter, neben und zwischen dem positiven Recht normative Assoziationen auslösen. Sie sind unbestimmt. Aber sie erlauben es, eine grundsätzlich indefinite Vielfalt von Konkretisierungen daraus herzuleiten und zu legitimieren. Sie erlauben es, fast unkontrolliert viele Leitbilder des „Sozialen“ darauf zu stützen und zu erwarten, dass gerade dieses und jenes Leitbild verwirklicht wird – und so auch: dass gerade diese und jene Leitbilder verwirklicht werden, selbst wenn diese einander widersprechen oder ausschließen. Mit dieser Offenheit sind sie eine Quelle der Motivation, dem 14 H. F. Zacher, Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland, 1980, S. 369 ff., 744 ff.

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„Sozialen“ einen immer wieder neuen Sinn abzugewinnen. Sie sind eine Quelle von Energien, die Entfaltung in immer wieder neuen Richtungen voranzutreiben. Zugleich aber verzehren sie die Kraft jeweils anderer Interpretationen und Projekte. Und sie sind der Boden, aus dem endlos Enttäuschungen wachsen. a) Die Grundwelle: „Mehr Gleichheit“ aa) Die Sache: Die Verantwortung gegenüber der Verschiedenheit der Lebensverhältnisse Das elementarste Phänomen ist die Forderung nach „mehr Gleichheit“. Nicht nach „Gleichheit“. Nicht nach Absolutem, sondern nach etwas Relativem: „mehr Gleichheit“. „Gleichheit“ wäre utopisch, wäre zu radikal. Würde sich denn eine Allgemeinheit finden, die das wollte? Sich auch nur darauf einließ? „Gleichheit“ wäre auch zu schwierig. Die Menschen sind verschieden und leben in den verschiedensten Verhältnissen. „Gleichheit“ wäre ferner riskant. Da könnte es auch Verlierer geben. Und dazu könnte einer, der die Forderung nach „Gleichheit“ erhebt, auch selbst gehören. „Mehr Gleichheit“ lässt die Hoffnung auf eine Optimierung der Situation. Diese Formel von „mehr Gleichheit“ ist neu und keineswegs communis opinio. Gleichwohl: Um die allgemeinste Idee hinter dem „Sozialen“ zu verstehen, gibt es keine Alternative zu dieser Annahme. Sie ist der Ertrag der sozialrechtlichen Arbeitserfahrung, die der Verfasser angesammelt hat, seit er in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts angefangen hat, auf diesem Gebiet zu arbeiten. Ende der neunziger Jahre, als er zwei größere Projekte in Angriff nahm,15 suchte der Verfasser, sich Rechenschaft zu geben: Was ist die Idee hinter allem „Sozialen“? Die Antwort war und ist immer wieder: „Mehr Gleichheit“.16 Ein allgemeines, vielfach gruppenweises, politisch verallgemeinertes, im Kern aber individuelles Vergleichen der Lebensverhältnisse ist die große, unwiderstehliche, immer wieder unruhige Kraft hinter dem „Sozialen“. Die Menschheit hatte sich früh dem Glauben an die Ungleichheit der Menschen hingegeben: die Eigenen und die Fremden, die Freien und die Sklaven und so vieles mehr. Das Christentum verkündete die Gleichheit aller vor Gott.17 Aber es wagte nicht, die Ungleichheit unter den Menschen auch hinsichtlich ihres irdischen Lebens vollends in Frage zu stellen.18 Der Feudalismus und die ständische Ordnung der Spät15

Zacher, (o. Fußn. 9) sowie H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II: Verfassungsstaat, 2004, S. 659 ff. 16 Zacher, (o. Fußn. 9), S. 345 ff. und passim; ders., Das soziale Staatsziel, in: Isensee/ Kirchhof (o. Fußn. 15), S. 685 ff. und passim. 17 „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau“ (Briefe des Apostel Paulus: 1. Korinther 12, 13; Galather 3, 28). 18 „Ihr Sklaven, gehorcht euren irdischen Herren in allem! … Ihr Herren, gebt den Sklaven, was recht und billig ist.“ (ebenda Kolosser 3, 22 – 24 und 4, 1).

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antike und des Mittelalters gaben der Ungleichheit unter den Menschen in Europa vielfältige neue Gestalt. Erst die Entdeckung des Individuums durch den Humanismus der Renaissancezeit gab der Idee einer apriorischen Gleichheit der Menschen neue Kraft.19 Im Zeitalter der Aufklärung wurde sie selbstverständlich. Die Amerikanische20 und die Französische Revolution manifestierten sie unwiderruflich. Als sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Verfassungsstaat ausbreitete, begannen auch deutsche Länder, die „Gleichheit vor dem Gesetz“ zuzusagen. Über den gleichen Zeitraum – vom Ausgang des Mittelalters bis zum Anbruch der Moderne – vollzogen sich in Europa viele weitere Entwicklungen: vor allem die Ablösung der partikularen Herrschaften und Untertänigkeiten des Feudalismus durch den souveränen, absolutistischen Staat und die Entstehung einer am Staat orientierten Gesellschaft; die Ausbreitung der Geldwirtschaft, der technische Fortschritt, die Anfänge der Industrialisierung und ein grundlegender Wandel des Arbeitslebens. Für die Gleichheit der Individuen bedeutete das: Der Einzelne war nun so viel wert, wie er in den Prozess der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter an Boden und/oder Kapital und/oder Arbeitskraft gegen Entgelt oder Gewinn einbringen konnte, und so wenig wert, wie er weder Boden noch Kapital noch Arbeitskraft anzubieten hatte und „verkaufen“ konnte. Faktisch heißt das: Neben die Not der klein- und kleinstbäuerlichen Hintersassen trat die neue Not der industriellen Lohnarbeiter. Diese Not aber hatte andere Bedingungen der Wahrnehmung und Geltendmachung als die überkommene Not der Opfer des Feudalismus und des Ständestaates. Sie fiel auf, weil sie neu war. Sie hatte wirkungsvolle „Advokaten“. Die Interessen der Betroffenen waren organisierbar – jedenfalls mehr organisierbar als die der Opfer des Feudalismus. Der Staat hatte sich – zudem – seit der Jahrhundertwende mehr und mehr als die elementare und umfassende Einheit einer elementaren Inklusion derer etabliert, die ihm zugehörten. So wuchs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Ahnung, dass die Gleichheit der Menschen nicht bei einer rein ideellen oder einer rein rechtlichen Anerkennung stehen bleiben kann. Die Gleichheit der Menschen musste auch Konsequenzen für die Lebensverhältnisse der Menschen haben. Nichts Bestimmteres als diese Verantwortung des Staates und auch der gesellschaftlichen Kräfte drückt sich in „mehr Gleichheit“ aus. Aber so unbestimmt diese Verantwortung ist, so groß ist auch die Vielfalt der Ziele, für die sie geltend gemacht werden kann.

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In einem bösen Widerspruch dazu stand, dass zu eben der Zeit, in der die Gleichheit aller unter allen geahnt wurde, das Zeitalter der Entdeckungen der apriorischen Ungleichheit der Menschen in der Gestalt der Sklaverei der „frühglobalen“ Moderne eine neue Bahn brach. 20 Dass die amerikanische Verfassung die allgemeine Gleichheit verkündete, die staatliche ebenso wie die gesellschaftliche Praxis sich ihr jedoch verweigerten, gab der kolonialen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen einen noch lange anhaltenden Ausdruck.

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bb) Der vorrechtliche Charakter der Norm Diese Norm ist keine Rechtsnorm. Sie ist eine vorrechtliche, politische Norm. Der Kreis derer, die sie in Anspruch nehmen können, ist ebenso offen wie der Kreis derer, die sich durch sie in der Pflicht sehen. Ebenso offen ist, was auf Grund der Norm unternommen oder eingefordert wird. Das prägt alle Politik und alles Recht des „Sozialen“. Keine Politik kann verlangen, dass ein Programm, das sie verwirklicht, um die Norm zu erfüllen, andere, konkurrierende Forderungen ausschließt. Und die Rechtsordnung kann nicht vorschreiben, dass Kataloge „sozialer Rechte“ andere soziale Projekte ausschließen. Wer sich vergleichend mit „sozialen“ Verfassungsprogrammen befasst hat, konnte immer schon feststellen, wie unwichtig sie für den effektiven Standard der sozialen Verhältnisse in den verschiedenen Staaten der Welt sind. Die vorrechtliche Norm von „mehr Gleichheit“ lässt sich durch das Recht nicht absorbieren. Verfassungsgarantien können die vorrechtliche Norm positivieren: in dem Sinne, in dem sie sie dem positiven Recht einfügen wollen; und nach Maßgabe der Geltung, die diese Positivierung haben soll. Aber sie können nicht hindern, dass die vorrechtliche Norm als politische Norm auch mehr und anders geltend gemacht wird.21 Wie die Menschen sich befinden, wie sie die Ungleichheit ihrer eigenen Lebensverhältnisse erfahren, wie sie die Ungleichheit der Lebensverhältnisse der jeweils anderen erfahren, entzieht sich einer rechtlichen Regelung. Natürlich: Welche Möglichkeiten die Menschen in einem Land haben, Ungleichheit wahrzunehmen und zu bewerten, welche Möglichkeiten sie haben, sich darüber zu verständigen, vielleicht auch verändernd einzugreifen, hängt vom politischen System und vom Recht (oder auch dem Unrecht, das in einem Lande herrscht) ab. Aber was die Menschen billigen oder missbilligen, ertragen oder ablehnen und was die Menschen anders haben wollen, was also die Menschen „sozial“ wollen oder nicht, lässt sich nicht durch Recht bestimmen. Darum kann die Grundwelle von „mehr Gleichheit“ jede Politik begleiten. Potentiell ist sie allgegenwärtig. Sie kann immer, auch neben einer „sozialen“ Politik, ein „besseres“, anderes „Soziales“ einfordern. Sie kann den Befriedungseffekt einer jeden „Sozialpolitik“ unterlaufen. Diese Macht des Sich-Vergleichens – eines im Kern individuellen, potentiell aber massenhaften Sich-Vergleichens – ist eine Wirkungsbedingung alles „Sozialen“. Sie ist faktische Normativität. b) Der zentrale Nenner: „sozial“ aa) Die Sinnstufen des „Sozialen“ Politisch bewusst wurde jene weite und vage Idee der Verantwortung für die gleichheitsgerechte Verschiedenheit der Lebensverhältnisse unter dem Namen des „Sozialen“. Dieser Begriff war, als er die Funktion, die er heute hat, übernahm, relativ leer. Und die konkrete Bedeutung war relativ eng: die Arbeiterfrage. In der Rückschau möchte man meinen: Das war ein Experiment der Geschichte! 21 U. Davy/P. Axer, Soziale Gleichheit: Voraussetzung oder Aufgabe der Verfassung, in: Erosion von Verfassungsvoraussetzungen, VVDStRL 68 (2009), S. 122 ff.

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Im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit begannen die feudalen Einheiten der Untertänigkeit und der Herrschaft an Bedeutung und Kraft zu verlieren. Die größeren Einheiten des souveränen Staates entstanden. Die Zusammenhänge zwischen den Menschen weiteten sich. Vielheiten, wie wir sie heute „Gesellschaft“ nennen, entstanden. Vielleicht auch: Sie wurden wahrnehmbar und relevant. Aber entsprechende Kategorien des Denkens und Redens fehlten. Und so hatte man auch den Namen nicht. Man griff in die sprachliche Schatztruhe der europäischen Zivilisation: das Latein. Man fand den „socius“, den Gefährten, die „societas“, den Zusammenschluss derer, die ein gemeinsames Interesse verfolgen, und das entsprechende Adjektiv „socialis“. Daraus schöpfend nannte man die nun beobachteten Phänomene offener, aber doch kohärenter Vielheiten im Englischen „society“ und im Französischen „société“. Im Deutschen gab man dem vorfindlichen Wort „Gesellschaft“ nun auch diesen neuen Sinn. Für Eigenschaften, die diesem Neben- oder Miteinander von Menschen entsprechen, verwendete man in wohl allen europäischen Sprachen das Adjektiv „social“ oder – so im Deutschen – „sozial“. Diese Begriffe dienten zunächst – also im 16./17. Jahrhundert – dem Wahrnehmen und Beschreiben der entsprechenden Phänomene. Die Karriere der „sozial“-Begriffe begann also mit der Benennung und Beschreibung der Wirklichkeit zumeist staatsbezogener Vielheiten. Das ist bis heute eine von drei Sinnstufen des Begriffes „sozial“. Später, vom 17./18. Jahrhundert an, trat die Möglichkeit des Bewertens, eines Sollens, hinzu: als Bezeichnung für eine Gesellschaft, „wie sie sein soll“. Oder als Bezeichnung für die Mitglieder einer Gesellschaft, die dem Sollen dieser Gesellschaft in besonderer Weise entsprechen. Der „contrat social“ ist ein Beispiel. Heute ist dieser wertorientierte, normative Sinn in der „sozialen Kohäsion“ geläufig. Auf das Individuum bezogen findet sich dieser Sinn in der Verneinung: „asozial“. Diese hinsichtlich des Gegenstandes unbestimmte, durch seine normative Orientierung qualifizierte Bedeutung von „sozial“ bildete die zweite Sinnstufe des Begriffs. Die Herausforderung der „Arbeiterfrage“22 ergab schließlich die dritte Sinnstufe von „sozial“. Auf dieser Sinnstufe mündet die Entwicklung des Begriffs „sozial“ in die Entwicklung des Satzes von der Gleichheit aller Menschen ein: in seine Materialisierung als ein Anspruch an die Lebensverhältnisse der Menschen. Es geht auf dieser Sinnstufe um das Verhältnis zwischen der Gleichheit der Menschen und der Verschiedenheit ihrer Lebensverhältnisse. bb) Konkretisierung und Geschichtlichkeit Damit begann ein bis heute anhaltender Prozess. Seine Beschreibung hat von der Tatsache auszugehen, dass die Zahl der Konstellationen menschlicher Verhältnisse, hinsichtlich derer die Lebensverhältnisse der Menschen unter dem Anspruch der Gleichheit miteinander verglichen werden können, unendlich ist. Welche von ihnen sollten als „soziale“ Herausforderungen verstanden werden? Und auf welche 22 G. A. Ritter, Der Sozialstaat, Entstehung, Entwicklung im internationalen Vergleich, 1992, S. 19.

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von ihnen sollte eine „soziale“ Antwort gegeben werden? Das Wort „sozial“ hat keinen apriorischen Sinn. Und „das Soziale“ als Antwort auf die „sozialen“ Fragen hat keine apriorische Gestalt. Da waren also keine Kriterien, die im Sinne eines WennDann-Programmes hätten einfach angewendet werden können. Nur eines war offensichtlich: Es bedurfte und bedarf einer Arena der Wirklichkeit, hinsichtlich derer es – wie im Fall der Arbeiterfrage – geboten, aber auch möglich ist, die Verschiedenheit der Lebensverhältnisse in Richtung auf „mehr Gleichheit“ hin zu verändern. Im Übrigen war und ist das Aufgreifen „sozialer Fragen“ und sind die „sozialen Antworten“ ein politisches Geschäft.23 „Sozial“ im ungleichheitskritischen, gleichheitsorientierten Sinn der dritten Sinnstufe ist der Nenner für eine Summe historischer Erfahrungen mit ungleichheitskritischer, gleichheitsorientierter Politik, mit ungleichheitskritischem, gleichheitsorientiertem gesellschaftlichen Verhalten und ungleichheitskritischem, gleichheitsorientiertem Recht. Für Deutschland wurde „sozial“ der Nenner für eine breite Entwicklung einer ungleichheitskritischen, gleichheitsorientierten Politik, die mit der Arbeitergesetzgebung um die Mitte des 19. Jahrhunderts begann, sich nach dem Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik auf immer mehr Lebensbereiche ausdehnte und bis heute anhält.24 Im Anfang der Entwicklung waren die Worte „sozial“ und „sozialistisch“ weitgehend vertauschbar. Im Laufe der Zeit verband sich der Begriff „sozialistisch“ jedoch immer wieder mit speziellen Ideologien und Konzepten, während der Begriff „sozial“ offen blieb. Doch stützte sich der Anspruch beider Begriffe wechselseitig. International verlief die Entwicklung vielfältiger. Der angelsächsische Sprachraum blieb weitgehend der „society“ im Sinne der ersten und der zweiten Sinnstufe verpflichtet, die schließlich auch den Staat selbst einbeziehen konnte. Eine allgemeine Gleichheitsorientierung wurde deshalb mit „welfare“ benannt – ein entsprechender Staat mit „welfare state“. Die romanischen Länder blieben dagegen der Konzentration auf die Arbeiterfrage verbunden. Sie war und ist zumeist immer noch die „soziale Frage“. Gleichwohl ist weltweit „sozial“ der allgemeinste Name für eine ungleichheitskritische Bewertung und gleichheitsorientierte Entwicklung der Lebensverhältnisse der Menschen. Daraus ergibt sich auch das Gesetz, nach dem sich das „Soziale“ entwickelt: Keine ungleichheitskritische Entwicklung kann sich von den gegebenen geschichtlichen Erfahrungen lösen: ob sie diesen Vorbildern folgt, ob sie sich mit den vorfindlichen Institutionen auseinandersetzt, sie verändert oder sie – das Gegebene kritisch überwindend – durch neue Lösungen ersetzt. Dem Pfad folgend oder ihn verlassend.25

23 H. F. Zacher, Entwicklungsländer-Forschung des MPI für ausländisches und internationales Sozialrecht, ZIAS 2008, 11 ff. 24 M. Stolleis, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, 2003. 25 Davy, (o. Fußn. 8), S. 103 – 151.

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cc) „Sozial“ als Norm Die Geschichtlichkeit gibt dem Begriff „sozial“ einen eigenen Anspruch von menschheitsgeschichtlicher Autorität. Unter dem Leitwort „sozial“ hat sich die Verwirklichung von „mehr Gleichheit“ als möglich erwiesen und immer weiter ausgebreitet. Aber ein operationales Programm ist aus „mehr Gleichheit“ dadurch nicht geworden. Wie „mehr Gleichheit“ benennt auch „sozial“ zunächst eine vorrechtliche, faktische, politische Normativität. Eine Normativität, die jedermann zuhanden ist und jedem Zusammenschluss, jedem Medium usw. – auch der Politik. Eine Normativität, deren tatsächlichen Anspruch auch jeder Adressat kennt. Wenn, wie im Grundgesetz, das „Soziale“ jedoch zu einem Verfassungsprinzip erhoben ist (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 Satz 1 GG), ist gleichwohl zu fragen, welche normative Substanz damit zur verbindlichen Rechtsnorm gemacht wurde. Die ein-wörtige Positivierung des Grundgesetzes muss hierzu aus der Geschichte des „Sozialen“ und aus der Gesamtheit der Verfassung verstanden und ergänzt werden.26 Diese Nachfrage ergibt, dass das „Soziale“ eine Gesamtleistung des Staates und der Gesellschaft ist und dass das Grundgesetz von einer Reihe überkommener Institutionen (z. B. der Sozialversicherung) ausgeht. Aber die Masse dessen, was als das „Soziale“ denkbar ist, ist eine Verantwortung der Politik und der Gesellschaft. Immerhin ist „sozial“ so auch ein Rechtsbegriff. Er steht jetzt auf beiden Seiten: bei den vorrechtlichen Normen und bei den Rechtsnormen. Zusammen mit „mehr Gleichheit“ ist „sozial“ weiterhin der Nukleus einer vorrechtlichen Norm. Gewiss: „Sozial“ hat einen irgendwie anderen Sinn als „mehr Gleichheit“. „Mehr Gleichheit“ ist für jede Individualität offen. „Sozial“ meint – so wie die Arbeiterfrage – weiter greifende Verhältnisse. Aber wie auf „mehr Gleichheit“ kann sich auch auf „sozial“ jeder berufen, der die Kritik und die Veränderung der Lebensverhältnisse der Menschen anstrebt. Wie „mehr Gleichheit“ hat „sozial“ nie aufgehört, ein vorrechtlicher, politischer Titel in jedermanns Hand zu sein. Aber „sozial“ ist nunmehr auch eingebunden in die positive Rechtsordnung. An diesem Platz ist die Verwirklichung des Rechtsbegriffs „sozial“ auf die Spielräume beschränkt, die den Gerichten – und insbesondere dem Bundesverfassungsgericht – vorbehalten sein können und vorbehalten bleiben müssen, wenn die Verantwortung, um die es geht, eine Verantwortung der Politik und der Gesellschaft ist und bleiben soll.27 c) Die Flut der vielen Begriffe Die normative Szene des „Sozialen“ wird ergänzt durch eine Reihe weiterer Leitworte wie „Gerechtigkeit“, „Solidarität“, „Teilhabe“, „Einschluss“ und anderes 26

Zacher, (o. Fußn. 15), S. 676 ff. H.-J. Papier, Staatsrechtliche Vorgaben für das Sozialrecht, in: Wulffen/Krasney (o. Fußn. 5), S. 23 ff. 27

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mehr.28 Sie werden vielfach durch die Hinzufügung „sozial“ bekräftigt: „Soziale Gerechtigkeit“, „soziale Teilhabe“ usw.29 Auch andere Querlinien werden gezogen: z. B. „Teilhabegerechtigkeit“. Und ihre jeweils eigene Vielfalt entsprechender Formeln kann sich in Ausfächerungen ausdrücken. Besonders reich findet sich das hinsichtlich der Gerechtigkeit: vor allem in der klassischen Trias von ausgleichender, austeilender und Gesetzesgerechtigkeit; oder wenn die spezifisch „soziale Gerechtigkeit“ in „Bedarfs-, Leistungs-, Besitzstands- und Chancengerechtigkeit“ zur Geltung gebracht wird. Als ein Sinnelement des „Sozialen“ kommt auch „Subsidiarität“ in Betracht. Schließlich können auch Leit-Bilder wie „Wohlfahrtsstaat“ das „Soziale“ verdeutlichen. Eine ganz besondere Stellung hat die „Soziale Sicherheit“. Zu „mehr Gleichheit“ steht sie in einem schwierigen Verhältnis. Alle diese Begriffe sind vorrechtlicher – philosophischer, ethischer, politischer – Natur. Zumeist sind sie vieldeutig. Viele von ihnen sind in häufigem Gebrauch – sowohl fachsprachlich als auch alltagssprachlich. Die meisten lassen einen hohen moralischen Rang vermuten. So gut wie alle lassen vermuten, dass sie dem, was „mehr Gleichheit“ und „sozial“ bedeuten können, Wichtiges hinzufügen können: Vertiefendes, Unterscheidendes, Einordnendes usw. Sie bieten sich an, um aus den zentralen Begriffen Konsequenzen herzuleiten usw. Wer immer mit „mehr Gleichheit“ oder mit „sozial“ bestimmte Intentionen, bestimmte Wertungen, bestimmte Interessen usw. verbindet, findet in dem Korb dieser Leitworte einen Vorrat an Argumenten, um Recht zu haben oder zu bekommen. Die Kehrseite aber ist, dass die Begriffe nicht eindeutig und nicht verbindlich sind. Ob eine der Annahmen, die an sie anknüpfen, auch anerkannt wird, hängt möglicherweise von Prozessen der Auseinandersetzung ab. Dass diese Begriffe in Rechtstexte aufgenommen werden, ist die Ausnahme. Und wenn, dann ist zu fragen, was ihr – über „mehr Gleichheit“ oder „sozial“ hinaus – spezieller Sinn im Zusammenhang der rechtlichen Normen, in die sie eingebracht wurden, bedeuten kann. Grundsätzlich jedoch sind alle diese Begriffe Ausdruck der vorrechtlichen Nachfrage nach „mehr Gleichheit“ und dem „Sozialen“. Ein wesentlich anderer Typus von Leitbegriffen, um das Normenfirmament des „Sozialen“ zu füllen, sind „soziale Rechte“.30 In der Regel entfalten sie eine sehr spezifische politische Normativität. Sie können, um die Raumgrenzen des Beitrags zu respektieren, hier nicht weiter erörtert werden.

28 Vgl. zu dem Überfluss der Wertbegriffe die Übersicht „Tabelle zur Häufigkeit der Wertbegriffe in bundesdeutschen Wahlprogrammen“: F. Nullmeier/S. Köppe/J. Friedrich, Legitimationen der Sozialpolitik, in: Obinger/Rieger (Hrsg.), Wohlfahrtsstaatlichkeit in entwickelten Demokratien – Herausforderungen, Reformen, Perspektiven, 2009, S. 151 (173). 29 H. F. Zacher, Die Herausforderung des Sozialstaats und die Interpretation des sozialen Staatsziels, in: Boecken/Ruland/Steinmeyer (Hrsg.), Sozialrecht und Sozialpolitik in Deutschland und Europa, FS v. Maydell, 2002, S. 832 ff. 30 Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa, 2009.

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d) Das Elend der Enttäuschungen Das Nebeneinander dieser vielen und vielfältigen vorrechtlichen normativen Ansätze führt zu einem fatalen Effekt. Sie haben Autorität und Appellwirkung. Sie motivieren zur Verantwortung. Sie erinnern an mögliche und wichtige Maßstäbe. Und sie lösen die Erwartung aus, dass alle, die Dispositionen treffen können, die für jeweils andere bedeutsam sind, durch diese Normen wohlgeleitet, ja auch gebunden sind. Genauer: dass diese Dispositionen unvermeidlich dem entsprechen, was die Betroffenen als das Richtige aus ihnen folgern. Meinungsführer und Klientelen finden relativ leicht Zugang zu Anhaltspunkten, Recht zu haben, ein berechtigtes Interesse zu vertreten, Verantwortung für das Richtige zu tragen. In Wahrheit aber gilt für alle diese normativen Ansätze, dass ihre Umsetzung in Wirklichkeiten einer weiteren Erkenntnis, einer weiteren Willensbildung bedarf: das In-Betracht-Ziehen von Wirklichkeiten, von Werten, Belangen, Interessen, von verbindlichen Normen und das Verantworten von Schlussfolgerungen. Die normativen Ansätze selbst geben den Weg für eine große Vielzahl von Ergebnissen frei. Und letztlich stehen alle unter der elementaren Herausforderung durch die Grundwelle von „mehr Gleichheit“. Die faktische Macht des „Sich-Vergleichens“ ist unerschöpflich. Auch gegenüber der Geschichtlichkeit des „Sozialen“. Die Rücksicht auf das geschichtlich Vorfindliche ist wenig mehr als ein Denkschritt. Aus entsprechenden Gründen wächst die Mächtigkeit gegensätzlicher oder jedenfalls konkurrierender Standpunkte und Anliegen. Die Entscheidung zwischen ihnen fällt letztlich politisch. Nur eines der Projekte kann obsiegen. Die anderen unterliegen. Obwohl ihre Vertreter so gut wissen oder zu wissen meinen, dass sie Recht haben. Und dabei auf die Geltung großer Normen vertrauten. Sie klagen das System an, dass es ihre „gerechte Sache“ nicht positiv annimmt. Schließlich wird der „soziale“, der „solidarische“ usw. Charakter des Systems in Frage gestellt. Am Ende wird, wie derzeit alltäglich, „die Gerechtigkeit“ des Systems in Frage gestellt. 2. Die komplexe Ganzheit des „Sozialen“ und die Relevanz der Elemente a) Das ökonomische Paradigma des „Sozialen“ Das „Soziale“ wird durch das Verhältnis konstituiert, in dem die Güter, die zur Deckung der Bedarfe der Menschen dienen, vorhanden und auf die Menschen verteilt – ihnen verfügbar, ihnen zugängig, für sie erreichbar – sind. Die Unterschiede des Verhältnisses, in dem die Bedarfe der Menschen dazu stehen, welche Güter ihnen verfügbar oder erreichbar sind, bilden jene Verschiedenheiten, die gegenüber der Gleichheit aller der Menschen verantwortet werden müssen. Der Praxis des „Sozialen“ liegt dabei ein – wenig bewusstes – Paradigma voraus: Eine „soziale“ Ungleich-

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heit ist grundsätzlich nur eine Ungleichheit, die entweder wirtschaftliche Ursachen oder wirtschaftliche Wirkungen hat. Das waren die Situationen, welche die „soziale Frage“ verursachten.31 Gleichheitswidrige Verschiedenheiten, die nicht diese ökonomische Bedingtheit teilen, berühren andere Werte und stellen andere Fragen des Ausgleichs. Im Gesamtgeschehen des „Sozialen“ ergänzen sich der Aspekt der Menge der jeweils mit den Bedarfen korrespondierenden Güter und der Aspekt ihrer Verteilung. „Verteilung“ meint dabei auch: das Verhältnis der Menge der Güter zu dem Zugang, den die Menschen als Einzelne, in ihren Familien oder in analogen Bedarfsgemeinschaften zu diesen Gütern haben. Insbesondere gilt: „Sozialleistungen“ können Defizite der allgemeinen Güterversorgung nicht kompensieren. Anders gewendet: Die Menge der Güter ist schon vor der Sorge um die Verteilung ein Wert an sich. b) Strukturen der Herausforderung und der Antwort Das „Soziale“ vollzieht sich als eine Vielfalt komplementärer, vielfach dialektischer Prozesse. In ihnen realisieren sich eine große Vielzahl von sehr unterschiedlichen Motiven, Verantwortlichkeiten, Wertvorstellungen, Interessen, Zwängen usw. Ein grundlegendes Gegenüber ist das zwischen den Prozessen, die sich im Wesentlichen im Raum des Privaten (der Einzelnen und der Familien) vollziehen, und den Prozessen, die sich im Wesentlichen im Raum des gesellschaftlich oder politisch Öffentlichen vollziehen. aa) Der Raum der Privatheit: Der Einzelne und die Familie Der freiheitliche Sozialstaat geht davon aus, dass jeder Erwachsene (der nicht alt oder durch Familienarbeit gebunden ist) die Möglichkeit hat, aber auch die Verantwortung trägt, den Unterhalt für sich und seine Familie zu verdienen. Staat und Gesellschaft teilen sich in die Verantwortung, dass dieses „Verdienen“ (in der Regel durch Arbeit) möglich ist und dass „das Verdiente“ in der Regel auch die Bedarfe deckt. Dieser „Verdiener“ hat eine Schlüsselstellung im System. Kann er seine Rolle nicht erfüllen – aus externen Gründen (Arbeitslosigkeit) oder aus individuellen Gründen (Kindheit und Jugend, Alter, Krankheit, Invalidität usw.), ist es Sache des Staates, für einen Ausgleich auch hinsichtlich der Unterhaltsabhängigen zu sorgen (den Ausgleich zu leisten oder zu organisieren). Aber auch die Zahl und die Befindlichkeiten der Unterhaltsabhängigen können den „Verdiener“ oder auch den familiären Unterhaltsverband selbst überfordern (sei es wegen allgemeiner Umstände: z. B. Wohnkosten; sei es wegen individueller Umstände: Erziehungs- und Bildungsaufwand, Krankheits- oder Pflegekosten usw.). Schließlich kann auch der „Verdiener“ selbst fehlen (durch Tod usw.). Diese Defizit-Fälle wurden schon früh als „soziale 31 H. F. Zacher, Das Sozialrecht im Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft, VSSR Bd. VII (1979), 145 – 164; Zacher, Sozialstaat und Prosperität, in: Becker/Ruland (o. Fußn. 1), S. 257 – 280; E.-W. Luthe, Optimierende Sozialgestaltung, 2001.

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Risiken“ differenziert – ein wesentliches Strukturelement aller „Sozialleistungssysteme“ (das freilich nie die „soziale“ Verantwortung für die atypischen Fälle unvertretbar ungleicher Verschiedenheit übrig lässt). Diese Verhältnisse des privaten Raumes stellen sich grundlegend unterschiedlich dar, je nachdem, ob es sich um Einzelne oder Familien (oder analoge Bedarfsgemeinschaften) handelt. Die Familie ist ein zentraler Wert und zugleich ein unauflösbares Problem des ganzen Systems. Zentraler Wert wegen des spezifischen potentiell irrationalen, emotionalen, potentiell rationalen, prinzipiell sittlichen Grundes ihrer Leistungsfähigkeit und ihrer einzigartigen Kapazität, die unterschiedlichsten Bedarfe zu decken. Problem wegen der extremen Nichtlinearität zwischen der Verantwortung der Leistungsträger und der Zahl und der Befindlichkeit der Leistungsnachfrager; ferner wegen der verbreiteten Gefahr, zu zerbrechen und eine neue Leistungsnachfrage zu hinterlassen. Rationalität und Irrationalität des Sozialstaates bilden hier ein besonders dichtes Geflecht. bb) Der Raum der Öffentlichkeit: Gesellschaft und Staat Die Fülle dessen, was damit an Zwecken, an Potentialen, Aufgaben, Wirkungen und Verantwortungen gemeint sein kann, entzieht sich jeder knappen Skizze. Der Autor muss die Leser bitten, ihre eigenen Kenntnisse und Erfahrungen, aber auch ihre Phantasie einzusetzen. Doch sei an die Frage der Legitimation erinnert: dass die gesellschaftlichen Kräfte, die sich an den Prozessen des „Sozialen“ (positiv oder negativ) beteiligen, auf dem Boden ihrer Freiheiten und aller ihrer sonstigen Rechte stehen; der Staat hingegen handelt auf Grund seines Mandats, das Gemeinwohl zu wahren und zu mehren, und alles dessen, was ihm die Verfassung dazu sagt. Die Wahrnehmung dieses Gesamtgeschehens kann viele Zugänge nehmen. Und mit jedem weiteren Zugang wird die Sachgerechtigkeit des Verstehens und des Bewertens des Gesamtgeschehens zunehmen. So etwa mit dem Erfassen, Verstehen und Bewerten – dessen, was der Staat (die Einheiten innerhalb des Staates) und die Gesellschaft (will heißen: die Subjekte und Einheiten, welche die Gesellschaft bilden) tun oder tun können; – der Situationen, die einen „sozialen“ Ausgleich gebieten oder gebieten könnten, und den Verläufen („Geschichten“), mit denen sie zusammenhängen; – der Voraussetzungen und Inhalte der Leistungen, die den „sozialen“ Zweck verwirklichen oder verwirklichen sollen; der Menschen oder Einheiten, die sie erbringen; der Umstände und Verfahren, wie sie erbracht werden; – der finanziellen Mittel, die dafür benötigt werden, wie sie aufgebracht und wie diese Last verteilt wird; – der Institutionen, die das organisieren und regeln;

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– der Systeme, in denen sich dieses Geschehen vollzieht und Aufgaben, Subjekte, Mittel usw. zur Kooperation und/oder Abfolge verbunden werden; nach den Stufen der Subsidiarität, nach der Logik der Funktionen usw. verbunden sind; der Dichte und Weite, in denen diese Systeme ausgreifen und einbeziehen (in Mikrokosmen wie einem Arbeitsverhältnis, einem Mesokosmos wie einer Krankenversicherung; mit dem Makrokosmos Staat; mit geschlossenen Systemen und offenen Systemen wie ein Markt oder die „globale Welt“). Der Text hier muss sich auf zwei signifikante Phänomene beschränken: auf die Polarität zwischen den „allgemeinen Lebensvollzügen der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter“ und den „Sozialleistungen“. cc) Allgemeine Lebensvollzüge der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter versus „Sozialleistungen“ Mit den allgemeinen Lebensvollzügen der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter ist grundsätzlich alles gemeint, was schon vor aller Frage nach Gleichheit oder Ungleichheit das Zusammenleben der Menschen ausmacht. Und weil die Menschen a priori verschieden sind, hängt selbst ein „gleiches“ Leben davon ab, unter Verschiedenheiten gedeihen zu können. So haben auch die Ordnungen der allgemeinen Lebensvollzüge der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter die Vielfalt der Möglichkeiten zu entfalten, ihre Eigengesetzlichkeiten zu integrieren und zu optimieren. dd) Die Bedingtheit der „Sozialleistungen“ durch die allgemeinen Lebensvollzüge der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter Die „Sozialleistungen“ sind so etwas wie des „Gesicht“ des „Sozialstaates“. Aber die allgemeinen Lebensvollzüge der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter prägen das Sein des „Sozialen“ nicht minder. Aus ihnen ergibt sich – nicht allgemein, aber doch in sehr vielen Zusammenhängen –, wo und welche gleichheitswidrigen Defizite entstehen, die durch „Sozialleistungen“ ausgeglichen werden können und sollen. Sie sind das „Negativ“, in das der Stoff der „Sozialleistungen“ gegossen wird. Vor allem aber: Die Mittel, die als „Sozialleistungen“ oder für „Sozialleistungen“ ausgegeben werden, kommen von den allgemeinen Lebensvollzügen der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter. Die „Sozialleistungen“ sind produktiv nur in der Erbringung der Sozialleistungen selbst. Die allgemeinen Lebensvollzüge dagegen sind von sich aus produktiv. ee) Die „Sozialleistungen“ Das spezifische Instrument, um „gleichheitsgerechte“ Lebensverhältnisse auch dort herzustellen, wo sie sich nicht „von sich aus“ ergeben, sind die „sozialen Leis-

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tungen“: Geld-, Dienst- und Sachleistungen, die dazu dienen, gleichheitswidrige Verschiedenheiten der Lebensverhältnisse auszugleichen. Diese Leistungssysteme sind, soweit sie eine spezifische rechtliche Regelung gefunden haben, das, was „Sozialrecht“ genannt wird. Und obwohl sie es nicht allein sind, was das „Soziale“ ausmacht (das vielmehr nur zusammen mit den allgemeinen Lebensvollzügen der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter), ist die Konzentration des Begriffs „Sozialrecht“ auf sie berechtigt. Die rechtlichen Regelungen der allgemeinen Lebensvollzüge der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter haben ein vorfindliches Gefüge von Interessen und Belangen zu integrieren, das in sich zur Verwirklichung drängt: horizontal die Interessen der Bürger untereinander; vertikal die Belange des Gemeinwohls gegenüber den Interessen des Bürgers, wie das Recht sie schützt. „Sozialleistungen“ werden von keiner vergleichbaren Spannung bestimmt. Man könnte sagen: Sie verbinden das Gemeinwohl und die Interessen der Bürger auf einer schrägen Ebene. Sich auf dem Weg dort zu halten, bedarf einer ganz besonderen Aufmerksamkeit des Rechts und derer, die es handhaben.32 ff) Die Polarität zwischen den „Sozialleistungen“ und den allgemeinen Lebensvollzügen der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter Die Polarität zwischen den allgemeinen Lebensvollzügen der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter einerseits und den „Sozialleistungen“ andererseits zu respektieren, ist ein Kernprinzip für das Gelingen eines „freiheitlichen Sozialstaates“. Beide Bereiche zugleich und unmittelbar für die Gleichheitsgerechtigkeit des Gesamtgeschehens in die Pflicht zu nehmen, überfordert die Politik und erstickt die produktiven Kräfte, die selbst andere Ziele als die der Gleichheit haben. Beide Bereiche in sich zu optimieren, ist der sachgerechte Weg. Das Scheitern einer Politik der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“, wie sie der Sozialismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts versucht hat, warnt vor dieser Option. Jedoch ist es auch nicht möglich und nicht zulässig, die beiden Pole völlig auseinanderzuhalten. – Im Rahmen der Lebensvollzüge der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter entstehen Verhältnisse, denen eine Tendenz zu einer gleichheitswidrigen Verschiedenheit zwischen den Beteiligten innewohnt. Das klassische Beispiel ist das Arbeitsverhältnis. Gewährleistungen gegen gleichheitswidrige Verschiedenheit in das Arbeitsrecht einzufügen, ist unvermeidlich. – „Soziale Dienste“ (Gesundheitsdienste, Pflegedienste usw.) bilden – je nach ihrer Gestaltung – eine Brücke zwischen den „Sozialleistungen“ und den allgemeinen Lebensvollzügen der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter. 32 H. F. Zacher, Entwicklung einer Dogmatik des Sozialrechts, in: Wallerath (Hrsg.), FS Krause, 2006, S. 3 – 36.

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Doch bestehen auch dort, wo die allgemeinen Lebensvollzüge der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter konzipiert und gestaltet werden, Möglichkeiten, der Gleichheitsorientierung Raum zu geben, ohne ihre Eigengesetzlichkeit zu entkräften. Das historisch wichtigste Beispiel ist die „soziale Marktwirtschaft“.33 Sie setzte und setzt die Impulse zur Produktion und Bereitstellung der Güter frei, die mit der Gewerbefreiheit verbunden sind. Zugleich aber begrenzt eine angemessene Wettbewerbsordnung die Gefahr, dass wirtschaftliche Machtgefälle das Preis-Leistungs-Verhältnis der Güterangebote verzerren. Diese positive Integration der Gleichheitsorientierung in die allgemeinen Lebensvollzüge der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter hat sich als ein sehr wichtiger Weg zu „mehr Gleichheit“ erwiesen. gg) Die Risiken der Situation Das „Soziale“ ist ein Dickicht von Tatsachen, Regelungen, Politiken, Praktiken, von Bedarfen und Gütern, von Maßstäben und Akteuren. Alle Zusammenhänge wahrzunehmen, erscheint unmöglich. Darum besteht eine relativ große Freiheit für Politiker, Betroffene, Interessierte, Verbände, aber selbst für die Wissenschaft und die Medien, die Potentiale einer Veränderung selbst zu steuern und die Debatte auf Felder eines bestimmten Interesses zu lenken. Die Last, das ganze Gefüge des „Sozialen“ systematisch zu durchschauen, lässt ratlos. Kehren wir zurück zu der Beobachtung, dass das Pathos der „Normen“ ein fast beliebiges Medium dafür bildet, dass Aktionsgemeinschaften aus Politik, Verbänden, publizistischen Akteuren, Betroffenen und Interessierten den Vorhaben ihres Interesses den Namen des „Sozialen“, des „Gerechten“, des “Solidarischen“ usw. geben und einen Misserfolg des Vorhabens als Beweis für den „unsozialen“ Charakter, die „Ungerechtigkeit“, die „Nicht-Solidarität“ usw. des ganzen Systems beklagen. Ausgewählte Ensembles von Ursachen und Wirkungen stehen pars pro toto. Auffälligkeiten, Wahrscheinlichkeiten und Plausibilitäten werden entscheidend. Der „erste Blick“ und die „Augenscheinlichkeit“ triumphieren. Der „gefühlte“ Vorteil erhält Gewicht: individuelle Leistungen vor allgemeinen Verbesserungen, Geldleistungen vor Dienst- und Sachleistungen, Verteilung der Leistungen vor der Verteilung der Belastungen usw. Diese Motive und Kriterien entscheiden im Wettbewerb um den politischen Erfolg. Diesen „Gesetzen“ folgen die Betroffenen, die Medien, die Politik, aber auch die Wissenschaft. Politik und Wissenschaft halten die „Sozialausgaben“ für einen vorrangigen Indikator für den „sozialen“ Charakter eines Gemeinwesens,34 obwohl zwischen den verschiedenen Typen und Gestaltungen der „Sozialleistungen“ wesentliche Unterschiede bestehen und obwohl „Sozialleistungen“ immer im Gegenlicht der Gleichheitsnähe und der Gleichheitsferne der Bedin33

Siehe zuletzt H. F. Zacher, Geschichte und Krise der sozialen Marktwirtschaft, Akademie Aktuell 2011, Heft 3, Ausgabe Nr. 38, S. 30 ff. 34 Zur Problematik s. F. G. Castles, Wesen und Effekte von Wohlfahrtsstaaten, in: Obinger/ Rieger (Hrsg.) (o. Fußn. 28), S. 217 ff.

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gungen gesehen werden müssen, die den Lebensverhältnissen in einer Gesellschaft durch die allgemeinen Lebensvollzüge der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter vorgegeben sind. 3. Der Ungehorsam der Wirklichkeit. Die Unterschätzung der Wirklichkeit gegenüber dem Recht a) Ausgangspunkte Alles Recht braucht Wirklichkeit. Genauer: Die Menschen brauchen Recht, um in ihrer Vielheit mit der Wirklichkeit zurechtzukommen. So ist es auch mit dem „Sozialrecht“. Was von der „Sozialpolitik“ projektiert wird, muss der Wirklichkeit gerecht werden. „Sozialrecht“ soll und will das Projekt der „Sozialpolitik“ fixieren, in vollziehbarer Sprache allgemein bekannt machen und allseits verbindlich setzen. Und so muss „Sozialrecht“ nicht weniger auf eine bestimmte Wirklichkeit eingerichtet werden. Dass Wirklichkeit nicht unverändert bleibt, ist evident.35 Und es gehört zum Wesen des Rechts, der Veränderlichkeit der Wirklichkeit gerecht zu werden. Die Spielräume der abstrakten Normen lassen allemal einen Mindestraum für Veränderungen. Sie können – je nach dem Umfang und der Qualität der Veränderungen – um Stufen der Anpassung des Rechts erweitert werden. Auf Änderungen, denen so nicht a priori Rechnung getragen werden kann oder Rechnung getragen wurde, muss mit einer entsprechend späteren Änderung des Rechts reagiert werden.36 So braucht auch „Sozialrecht“, wenn es projektiert wird, Annahmen darüber, welche Nachfrage sich auf die „Sozialleistungen“ richtet – mit anderen Worten: welche Bedarfe gedeckt werden sollen. Eine Frage, die sich einerseits auf den virtuellen Kreis der Adressaten von „Sozialleistungen“ bezieht: auf ihre Zahl, ihre wahrscheinlichen Bedarfe usw. Eine Frage aber auch, die sich andererseits an die Wirklichkeit der allgemeinen Lebensvollzüge der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter richtet. Sie stellen ja die „sozialen Verhältnisse“ dar, auf welche die „Sozialleistungen“ reagieren. Annahmen aber auch darüber, welche Ressourcen die allgemeinen Lebensvollzüge der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter für die „Sozialleistungen“ ergeben – ergeben können. Einmal mehr: Die allgemeinen Lebensvollzüge der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter sind im umfassendsten Sinne die Bedingung für die „Sozialleistungen“. Die Annahmen über die Wirklichkeit müssen sich auch auf die mögliche Entwicklung der Wirklichkeit beziehen. Wie können sich die Bedarfe ändern? Nach ihrer Art, nach ihrer Menge? Wie können sich die Potentiale ändern, die zur Deckung der Bedarfe benötigt werden und vorhanden sind? In Geld, in Personen (vor allem in Gestalt 35 H. F. Zacher, Der deutsche Sozialstaat am Ende des Jahrhunderts, in: Leibfried/Wagschal (Hrsg.), Der deutsche Sozialstaat – Bilanzen – Reformen – Perspektiven, Bd. 10, 2000, S. 53 ff. 36 F. Hase, Sozialrecht, in: Vesting/Korioth (Hrsg.), Der Eigenwert des Verfassungsrechts, 2011, S. 121 ff.

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von Dienstleistern), in Sachen (Einrichtungen, Geräten, Verbrauchsgütern wie Medikamenten, Hilfsmitteln usw.)? Wie kann diesen Veränderungen entsprochen werden? Wie kann ihnen das Recht folgen? Durch die Öffnung, durch Flexibilität der Regelungen? Durch Techniken der Anpassung, welche die jeweils zukünftige Entwicklung begleiten? Durch die jeweils spätere Änderung der Regelungen? Und was, wenn die Ressourcen die Deckung der Bedarfe nicht mehr hergeben? Für die Politik gilt: Gegenwart geht vor Zukunft. Für die institutionelle Politik gilt: Gewählt wird jetzt! Für die Jedermanns-Politik gilt: Was man jetzt hat, das hat man. Trotzdem heißt „soziale Sicherheit“37 vor allem: Fortbestand des Wohlstands – „Besitzstandswahrung“, „Besitzstandsgerechtigkeit“. Und es ist der Ehrgeiz des Rechts, „(wohl)erworbene Rechte“ zu schützen. Das ist das von jeher überkommene Geschäft des Rechts. Aber was aus allem Geschehen der allgemeinen Lebensvollzüge der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter tatsächlich geleistet werden kann und soll, um den Bedarfen derer gerecht zu werden, die „Sozialleistungen“ brauchen und erwarten, wird immer ein Mandat der Politik bleiben. b) Spezifisches aa) Funktionales Der Sozialstaat verlagert Potentiale: nimmt sie, wo sie (genügend) vorhanden sind; und gibt sie dorthin, wo (und soweit) sie fehlen: Geld, Dienste (oder das Geld, um Dienste zu „kaufen“), Sachen (oder das Geld, um Sachen zu „kaufen“). Das geschieht zwischen Vielheiten von Personen. Es geschieht zwischen Vielheiten, die zur gleichen Zeit leben, und es geschieht zwischen Vielheiten, die zu verschiedenen Zeiten leben – zumeist als „Generationen“ begriffen. Nicht selten gehören die Einzelnen vielen verschiedenen Vielheiten an: Vielheiten von solchen Einzelnen (und Familien), denen genommen wird; und Vielheiten von Einzelnen, denen gegeben wird. Und in aller Regel sind die Einzelnen von Situation zu Situation unterschiedlich an diesen Prozessen als Gebende und als Nehmende beteiligt: über die Grenzen einzelner Vielheiten hinweg; oder innerhalb ein und derselben Vielheit. Von größter Relevanz ist dies: dass eine dieser Vielheiten die Allgemeinheit (das Staatsvolk, alle Einwohner oder Ähnliches) ist, während sich die anderen Vielheiten durch besondere Gemeinsamkeiten davon unterscheiden. Das Gelingen des „Sozialen“ hängt davon ab, dass die Leistungsfähigkeit derer, die geben sollen, den Bedarfen derer entspricht, die bekommen sollen; und dass die Bedarfe derer, die bekommen sollen, der Leistungsfähigkeit derer entsprechen, die geben sollen. Dieses Gesamtgeschehen bedarf einer übergreifenden Einheit, die diese Prozesse ordnet. Insbesondere bedarf diese übergreifende Einheit der Fähigkeit, hinter den primären Prozessen sekundäre, tertiäre usw. Prozesse zu etablieren, die Defizite der primären Prozesse ausgleichen können und sollen. Die umfassende Einheit hat – anders gewendet – Garantien dagegen zu organisieren oder selbst zu gewähren, dass die Leistungs37

F.-X. Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 1973.

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fähigkeit der Vielheiten, die in den primären Prozessen geben sollen, nicht wesentlich hinter den Bedarfen derer zurückbleibt, die in diesen primären Prozessen bekommen sollen. bb) Das nationalstaatliche Muster Der Sozialstaat ist ein „Kind“ des Nationalstaates.38 Erst im Nationalstaat wurde dieses System denkbar. Erst durch die wachsende zivilisatorische Geschlossenheit des Nationalstaates wurde es möglich, die partikularen Einheiten des Gebens und des Nehmens zu definieren und zu organisieren. Erst der Nationalstaat hatte die Kompetenz und die Autorität, die Prozesse des Ausgleichs zwischen ihnen zu ordnen. Und erst der Nationalstaat hatte die Hoffnung für sich, dass er auf unvorhergesehene Entwicklungen angemessen und wirkungsvoll reagieren könnte. Auch der Nationalstaat hatte freilich keine vollständige Kontrolle über die Entwicklungen. Die Märkte waren relativ offen. Jedoch war das nationalstaatliche Regime dominant. Die tiefgreifenden Wechselfälle, welche die Staatlichkeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlitt, können hier nicht einbezogen werden. Allenfalls als Beweis dafür können sie dienen, dass, wenn sich die Wirklichkeit zu weit von den Annahmen entfernt, die dem Recht zugrunde lagen, ein elementarer Neuanfang unerlässlich ist: auf der Seite der „Sozialleistungen“ und auf der Seite der allgemeinen Lebensvollzüge der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter. So wie im Deutschen Reich nach 1919 und den westlichen Besatzungszonen in Deutschland und ihren Ländern nach 1945 und erst recht in der Bundesrepublik Deutschland nach 1949. cc) Die Entwicklung in der Bundesrepublik 1948 wurde mit der Währungsreform die „soziale Marktwirtschaft“ ausgerufen. Die Marktwirtschaft wuchs in eine Idylle quasi-nationaler Geschlossenheit hinein.39 Seither hat sich ein immenser Prozess der Veränderungen vollzogen: durch die Vermehrung und Ausweitung der als „sozial“ wahrgenommenen Probleme, durch die Individualisierung der Gesellschaften, durch den Zerfall der Familien, durch die transnationale Mobilität der Menschen. Die europäische Integration40 berührte das „Soziale“ dagegen zunächst nur sehr zurückhaltend. Der Gemeinsame Markt selbst war das zentrale Instrument des „wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts“ und der „Besserung der Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse“.41 Bemerkenswert: Der Pro38 Der Begriff des Nationalstaates hat mit der „nationalen“ Geschlossenheit des Staats nur bedingt etwas zu tun. Es geht darum, dass die gemeinsame Staatlichkeit eine Gesellschaft hinreichend eint, um den Staat – mehr oder weniger – gelingen zu lassen. Die Schweiz ist der Prototyp eines Staates, dessen Staatsvolk nicht durch eine „natürliche“, vorgegebene Gemeinsamkeit geeint ist, sondern durch die gemeinsame Staatlichkeit (insbesondere deren gemeinsame geschichtliche Erfahrung). 39 Zacher (o. Fußn. 33), S. 30 ff. 40 H. F. Zacher, Der Europäische Sozialstaat, Schweizerische Zeitschrift für Sozialversicherung und berufliche Vorsorge 52 (2008), S. 1 – 21. 41 Art. 2, 117 EWGV.

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zess der Vergemeinschaftung konzentrierte sich auf die allgemeinen Lebensvollzüge der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter. Zu einer wesentlich und übergreifend neuen Entwicklung wurde die Alterung der Gesellschaft.42 Gewiss auch durch den „sozialen“ Wohlstand, den der „Sozialstaat“ vermittelte, wurden und werden die Menschen immer älter. Alterssicherung wurde immer teurer. Da zugleich die Kinderzahlen schwanden und schwinden, verschlechtert sich das Verhältnis zwischen der Last, die aus der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter getragen werden soll, und der Zahl derer, die diese Leistung erbringen sollen, immer mehr. Für Arbeitnehmer wurde dies zu einem vieldimensionalen Problem. Ihr „soziales“ Geschick vollzieht sich in kaleidoskopischer Vielfalt auf der Seite der Produzenten und auf der Seite der Leistungsadressaten. dd) Zum Stand der Probleme Gegen Ende des Jahrhunderts begannen die Veränderungen sich zu radikalisieren. Die Stichworte sind Globalisierung, Europäisierung, Transnationalisierung, Internationalisierung.43 Die allgemeinen Lebensvollzüge der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter stehen in immer höherem Maße in einem subkontinentalen und weltweiten Zusammenhang. Sind sie primär in Deutschland verortet, strahlen sie in das Ausland aus.44 Sind sie primär im Ausland verortet, setzen sie Wirkungen auch für Deutschland und in Deutschland.45 Sie sind abhängig von außer-nationalen Gegebenheiten und Entwicklungen. Das wird verschärft durch strukturelle Veränderungen innerhalb der Wirtschaft: durch die Trennung der Finanzwirtschaft von der Realwirtschaft, die radikale Internationalisierung der Finanzwirtschaft und die Loslösung des Managements aus dem klassischen Struktur-Verbund von Boden, Arbeit und Kapital. Das alles immunisiert die Prozesse der Wirtschaft gegenüber den Steuerungsabsichten der nationalen Ordnungen und Politiken. Ein Äußerstes an Wirkung ergibt sich für alle Prozesse, die sich mit und um Geld vollziehen. Geld ist das prioritäre Medium des Transfers von Potentialen auch im „Sozialen“ – auch und gerade im Be-

42 U. Becker, Die Alternde Gesellschaft – Recht im Wandel, JZ 2004, 929 ff.; Heilemann (Hrsg.), Demografischer Wandel in Deutschland, 2010; F. Ruland, Rentenversicherung, in: v. Maydell/Ruland/Becker (o. Fußn. 5), S. 921. 43 C. Dietze, Das Projekt Europa in der Dialektik von freiem Markt und sozialer Gerechtigkeit, 2009; R. Hauser, Zukunft des Sozialstaats, in: v. Maydell/Ruland/Becker (o. Fußn. 5), S. 112 ff.; F. Schulz-Nieswandt, „Europäisierung“ der Sozialpolitik und der sozialen Daseinsvorsorge?, 2012; H. F. Zacher, Globale Sozialpolitik – Einige Zugänge, in: Herdegen/ Klein/Papier/Scholz (Hrsg.), FS Herzog, S. 537 – 558. 44 W. Schmähl, Ökonomische Grundlagen sozialer Sicherung, in: v. Maydell/Ruland/Becker (o. Fußn. 5), S. 211 – 212. 45 U. Becker, „Die Finanzmarktkrise und die Zukunft der Arbeits- und Sozialrechtsordnungen – Krisenbewältigung und grundlegender Reformbedarf im Rechtsvergleich“, 33. Tagung der Gesellschaft für Rechtsvergleichung, Fachgruppe Arbeits- und Sozialrecht Trier, 15.–17. September 2011, ZIAS 2012, 121 – 124; R. Waltermann, Die Finanzmarktkrise und die Zukunft der deutschen Arbeits- und Sozialrechtsordnung, ZIAS 2012, 125 – 142.

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reich der „Sozialleistungen“. Der Wert eines jeden Euro hängt von unüberschaubaren und unbeherrschbaren Bedingungen ab, die sich jederzeit ändern können. Die für die Gesamtheit aller Zusammenhänge maßgebende Regel der Entwicklung wird sein: Der für die allgemeinen Lebensvollzüge der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter relevante Raum wird – sei es selektiv, sei es allgemein – immer mehr ein übernationaler und immer mehr der globale sein; die Verantwortung für die „Sozialleistungen“ jedenfalls bleibt wesentlich nationaler Natur. Die für die Gestaltung des „Sozialen“ gebotene Antwort muss sein: die „Distanzen“ – zwischen dem „Ort“ der Herausforderung einer „Sozialleistung“ durch einen „sozialen“ Bedarf – und dem „Ort“ der Lebensvollzüge der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter, aus denen heraus die „Sozialleistung“ die Antwort geben soll, so „kurz“ (so „gering“) wie möglich zu halten. – Das gilt für die „Distanz“ der Zeit zwischen dem Erwerb und der Dauer einer „sozialen“ Zugehörigkeit, dem Entstehen der Herausforderung und der Zeit der Antwort. – Das gilt für die „Distanz“ zwischen dem „Raum“ (der Solidargemeinschaft, dem Gemeinwesen), zu dem eine „soziale“ Zugehörigkeit bestand oder besteht, dem „Raum“, in dem die Herausforderung entstand oder besteht, und dem „Raum“, aus dem (und insbesondere aus dessen allgemeinen Lebensvollzügen der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter) heraus die Antwort gegeben werden soll. Nicht zuletzt für die „Distanz“ zwischen einem „geschlossenen Raum“ (einer Versicherungsgemeinschaft, eines Staates) und einem „offenen Raum“ (eines Marktes, der globalen Welt). Auf den Versuch, weitere Orte und Distanzen zu exemplifizieren, muss verzichtet werden. Die meisten dieser Zusammenhänge werden sich immer wieder in den Haushalten der Staaten treffen. In ihnen sind die Möglichkeiten eines „Raumes“ und die „sozialen“ Erwartungen eines Raumes, aber auch alle anderen finanziellen Verantwortlichkeiten des Staates für einen bestimmten Zeitraum (ein Jahr oder mehrere Jahre) zum Ausgleich zu bringen. Die Staatshaushalte sind die funktionalen Stätten der Begegnung zwischen „sozialer“ Politik, „sozialem“ Recht und Wirklichkeit: zwischen einer im Wesentlichen nationalen Welt der Politik und des Rechts und einer transnationalen und globalen Wirklichkeit. Mutmaßungen über die Konsequenzen, die das für das „Soziale“ hat, sind hier nicht sinnvoll. Dass das systematische Nachdenken darüber ein höchst dringendes Postulat ist, ist jedoch offensichtlich. Man ist versucht zu fragen, was „Nachhaltigkeit“ in diesem Zusammenhang bedeuten könnte. Aber beim gegenwärtigen Stand grundsätzlichen Nachdenkens ist auch das kaum mehr als ein Wortspiel.

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In welche schwindelerregende Höhe sich diese Probleme steigern können, zeigt sich, wenn die Vielfalt und Gesamtheit der Entwicklungen in Betracht gezogen werden, die der Menschheit bevorstehen oder bevorstehen können.46 Das Wachstum der Weltbevölkerung und die Knappheit der Rohstoffe etwa können sich zu einem äußersten Missverhältnis steigern. Was wird das für das nationale oder auch kontinentale Verhältnis zwischen den allgemeinen Lebensvollzügen der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter und den „Sozialleistungen“ bedeuten? Können die weltweiten Entwicklungen der allgemeinen Lebensvollzüge der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter sinnvoll reguliert werden? Können die „Sozialleistungen“ so „befestigt“, „gehärtet“ werden, dass sie den Schleuderbewegungen der Wirtschaft widerstehen? IV. Projekte der Therapie 1. Worum geht es? Der Sozialstaat hat keine eigenen Institutionen. Er ist in den Händen der Demokratie, des Rechtsstaates, des Bundesstaates. Und er ist in den Händen der Gesellschaft, wie sie die Grundrechte konstituieren und wie das Ineinander mit dem Staat die Gesellschaft prägte. Der Sozialstaat ist, was alle diese Faktoren aus ihm gemacht haben. Dieses Zusammenspiel hat sich von 1946 an, als die Länder teils wie46

Eindrucksvoll ist das Programm der Leopoldina, Nationale Akademie der Wissenschaften: Jahresversammlung „Rolle der Wissenschaften im Globalen Wandel“, 22. bis 24. September 2012, Berlin: Die Erde im Globalen Wandel: Globaler Wandel aus dem All; Belastungsgrenzen der Erde; Global Change of the World Population and Urbanization; Globaler Wandel der Biodiversität; Die Kommunikation von Risiken in einer Welt im Globalen Wandel; Finanzsysteme im Globalen Wandel: Die europäische Zahlungsbilanzkrise. Herausforderungen des Globalen Wandels I: Der Klimawandel und seine Folgen für das Erdsystem; Herausforderungen beim Umbau unseres Energiesystems; Kritikalität mineralischer Ressourcen; Billiger als mit einer technologischen Revolution kommen wir nicht davon. Herausforderungen des Globalen Wandels II: Political Violence and Global Change; Welternährung und Wasserversorgung im Globalen Wandel; Weltgesundheit im Wandel am Beispiel der Epidemiologie von Tumorerkrankungen. Lösungswege von Problemen des Globalen Wandels: Möglichkeiten zur Bekämpfung der Weltseuche Nährstoffmangel; Prävention von Zoonosen; Sicherung gesunder tierischer Nahrungsmittel; Herausforderungen der Grünen Landwirtschaft und Perspektiven Grüner Gentechnik; Dilemma zwischen Energie- und Nahrungspflanzen; Perspektiven der Roten Gentechnik; Nachhaltige Fischerei und Aquakultur; Wasser-Management im Globalen Wandel; Eckpunkte einer globalen Klima- und Energiepolitik; Perspektiven solarthermischer Kraftwerke; Dekarbonisierung im Baustoffsektor. Politische und gesellschaftliche Herausforderungen und Lösungswege von Problemen des Globalen Wandels: Herausforderungen globaler gesellschaftlicher Strukturveränderungen; Herausforderungen alternder Gesellschaften; Gesundheitspolitische Maßnahmen angesichts der Last chronischer Krankheiten; Instrumente zur Vermittlung von Wertewandel und Verhaltensänderungen im nachhaltigen Umgang mit den Ressourcen der Erde; Population and Climatic Impacts on Energy, Water and Food Security: The Future and the Inescapable Challenges of the Next 15 Years?. Zur Bewertung dieser Entwicklung s. Hase, (o. Fußn. 36), S. 121 ff.

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der, teils neu entstanden, und von 1949 an mit Grundgesetz und Bundesrepublik neu konstituiert. So wie der deutsche Sozialstaat in dieser Zeit einen neuen Anfang nahm. Die Zeit seither führte den Sozialstaat jenseits der „Arbeiterfrage“ in eine noch in der Weimarer Zeit unvorstellbare Vielfalt. Nationalsozialistische Herrschaft, Krieg, Kriegsfolgen usw. haben ein neues Spektrum gleichheitswidriger Verschiedenheiten hinterlassen. Die alten Institutionen der Verwirklichung entstanden wieder und wurden weiter entwickelt: Sozialversicherungsträger, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Tarifautonomie usw. Aber nur die Gewerkschaften wuchsen für eine gewisse Zeit in den ersten Rang der systembestimmenden Institutionen auf. Versuche spezifischer Institutionen (Arbeitskammern in Bremen und dem Saarland) blieben marginal. Umso mehr richteten sich die Kräfte, aus denen Demokratie und Rechtsstaat lebten – wie vor allem die Parteien, die Mitglieder von Regierungen –, darauf ein, ihre Interessen mit den Interessen, die am „Sozialen“ bestehen, zu koordinieren. Und ebenso richteten sich die Akteure der Gesellschaft – in den Verbänden, in den Medien usw. – darauf ein, in dem Spiel, wie es sich nun ergab, das Mögliche zu erreichen. Daraus entstanden Gefälle, die das „Soziale“ immer tiefer prägten: der Vorzug des Vordergründigen vor dem Hintergründigen, der Vorzug des Gegenwärtigen vor der Zukunft, der Vorzug des Partikularen vor allem Gesamthaften, der Vorzug der Geldleistungen vor allen anderen Pfaden zu „mehr Gleichheit“, der Vorzug der Erwachsenen vor den Kindern, das Ausblenden der globalen Bedingungen. Der Reichtum der Beispiele entzieht sich diesem Beitrag. Nur eines sei hinzugefügt: die sekundären Effekte. Da sich zum Beispiel alle primären Kräfte dieses Spiels darüber einig sind, dass sie über die Chancen, die ihnen dieses Spiel bietet, nicht reden, schweigt auch die Wissenschaft. Oder haben Sie, verehrte Leser, schon eine Untersuchung über diese Empirie des Sozialen gelesen? Oder kennen Sie, verehrte Leser, eine Untersuchung, die aufklärt, was an den Interventionen der Medien in das „Soziale“ Absicht – nicht wirklich „soziale“ Absicht – oder Zufall ist? Oder eine Untersuchung, welche Fragen Nicht-Regierungs-Organisationen aufgreifen oder nicht? Das alles lässt ahnen, auf welches Maß von Widerständen jeder – jeder Politiker, jeder Akteur einer Gruppe, jeder Publizist, jeder Wissenschaftler usw. – stößt, der an diesen Gegebenheiten des „sozialpolitischen Spiels“ etwas ändern möchte. Und trotzdem muss diese Verengung der Spur des „Sozialen“ überwunden werden. Das „Soziale“ wird so die Differenz zwischen den Visionen von „mehr Gleichheit“, vom „Sozialen“, auf der einen Seite und dem, was politisch bewirkt wird und bewirkt werden kann, immer weiter steigern. Und auf lange Sicht: Das „Soziale“ wird immer kleinere Verschiedenheiten als „ungleich“ auszugleichen suchen und unfähig werden, neuere und größere, wahrhaft „ungleiche“ Verschiedenheiten zu bewältigen.

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2. Topoi der Korrektur a) Der Verlust der Gemeinsamkeit – der Wiedergewinn an Verständigung und Befriedung Die gegenwärtige Praxis lebt zu sehr vom kleinen Unterschied: vom Unterschied zwischen einem vielleicht „sozialeren“, vielleicht „gerechteren“ usw. Zustand als dem schlechthin „sozialen“, dem schlechthin „gerechten“ auf der einen Seite und einem anderen, vielleicht auf eine Weise auch „sozialen“, vielleicht auch „gerechten“ Zustand als dem schlechthin „unsozialen“, dem schlechthin „ungerechten“ auf der anderen Seite. Sie setzt voraus, dass es von den „Normen“ her möglich ist, zwischen „richtig“ (das heißt: „sozial“, „gerecht“) und „falsch“ (das heißt: „unsozial“, „ungerecht“) zu unterscheiden. Kommt es zu einer Entscheidung, bleiben Sieger und Besiegte zurück, solche, die das „Richtige“ gewollt haben, und solche, die das „Falsche“ gewollt haben, und vor allem bleibt der Unterschied zwischen dem „Richtigen“ und dem „Falschen“ selbst. Und alsbald wird sich eine neue Auseinandersetzung ergeben. In der Regel aber geben die „Normen“ die Gewissheit, die dabei angenommen wird, nicht her. In der Regel geht es um eine Vielzahl von Pros und Contras und darum, welche Kombination der Pros und Contras gewählt wird. Und das betrifft alle, die im gleichen Gemeinwesen leben. Um diese Entscheidung zu erreichen, gibt es ein alternatives Verfahren: die Verständigung. Wo sie gelingt, bleiben weniger oder keine Besiegten zurück. Und die Lösung, die akzeptiert wurde, wird von möglichst vielen als eine „richtige“ verstanden und von möglichst vielen als eine „richtige“ gewertet. Der gesellschaftliche und politische Friede, der so erreicht wurde, hat eine Chance, länger zu dauern als bis in die Zeit der nächsten Wahlen. Warum also hat man es im Raum des „Sozialen“ verlernt, den trennenden (!) Kategorien von „sozial“ und „unsozial“, „gerecht“ und „ungerecht“ die verbindenden Werte von Verständigung und Befriedung zur Seite zu stellen? Gewiss: Im Anfang hatte sich das „Soziale“ gegen Elend, Not, Ausbeutung und Unterdrückung zu wenden. Aber als das „Soziale“ anfing, sich auf Wohlstandsteilhabe zu richten, war die Versuchung zu groß, die Entwicklung durch Siege und Niederlagen zu bewirken. So ist es dringend, in das „Soziale“ Werte wie Verständigung47 und Befriedung,48 Konzepte wie den Kompromiss und Institutionen wie die Mediation49 einzubringen. Dem Arbeitsrecht sind sie vertraut. Dem „Sozialleistungsrecht“ sind sie fremd.

47 F. Hengsbach, Leistungslegenden im Spiegel gleicher Gerechtigkeit, in: Benz (Hrsg.), Soziale Politik, Soziale Lage, Soziale Arbeit, 2010, S. 64 ff. 48 K. A. Schachtschneider, Das Sozialprinzip, 1974, S. 43. 49 N. Friedrich, Mediation in der Sozialgerichtsbarkeit, 2011; zu weiteren Möglichkeiten s. H. F. Zacher, Das Wichtigste: Kinder und ihre Fähigkeit zu leben. Anmerkungen zur intergenerationellen Solidarität, in: Igl/Klie (Hrsg.), Das Recht der älteren Menschen, 2007, S. 113 ff.

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b) Ausgleich von Vorteilen und Nachteilen – Gleichheit durch Allgemeinheit Gleichheit als Politik ist nicht als solche, unmittelbare, zu haben. Aus dem Meer der Verschiedenheiten unter den Menschen eine oder einige herauszugreifen, um „ungleiche“ Verschiedenheiten durch „gleiche“ Verschiedenheiten zu ersetzen, wird nur im Wege der Willkür möglich sein. Willkür aber ist die Ungleichheit schlechthin. Der Versuch, eine Welt gleichheitsferner Verschiedenheiten zu einer Welt gleichheitsnaher Verschiedenheiten zu machen, bedarf eines Plurals der Strategien. Drei davon sind hier von besonderer Bedeutung. Der Wettbewerb zwischen den „sozialeren“ und den „weniger sozialen“ oder „unsozialen“ Lösungen greift in aller Regel die Strategie der „Gleichheit durch die Minderung oder Aufhebung von Nachteilen“ (etwa einer Sozialleistung an Eltern, um eine Belastung wie etwa durch den Unterhalt von Kindern auszugleichen) oder die Strategie der „Gleichheit durch die Minderung oder die Aufhebung von Vorteilen“ (wie etwa der Ausgleich des höheren Einkommens durch die steuerliche Belastung) auf. Diese Strategien sind unentbehrlich. Aber sie haben ein Risiko gegen sich: Ihre Anlässe sind unendlich und die Richtigkeit der Auswahl bleibt nur zu oft ungewiss – sei es das Ob eines Ausgleichs, sei es das Wie und das Wieviel des Ausgleichs. Gerade das aber begründet eine eminente Nähe zwischen diesen Strategien und dem Wettbewerb zwischen einer „sozialeren“ (der „sozialen“) und einer „weniger sozialen“ (der „unsozialen“) Lösung. Demgegenüber hat die „Gleichheit durch Allgemeinheit“50 eine apriorische Nähe zur Gleichheit der Menschen. Die „Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz“ ist deshalb die unverzichtbare Basis des Rechts – und so auch und erst recht die unverzichtbare Basis des „Sozialrechts“. Als Daseinsvorsorge ist sie auch die elementare Basis für eine Bereitstellung und Verteilung der Güter, wie sie die Gleichheit aller erfordert. Aber weit darüber hinaus ist sie (wie in Gestalt der inneren Sicherheit, der Hygiene, der Infrastruktur, der öffentlichen Veranstaltungen der Kultur und der Bildung usw.) eine wichtige Hilfe, um die „Sozialleistungen“ von einer individuellen – jedem Zweifel der Teilhabeverweigerung, der Exklusivität usw. ausgesetzten – Zuteilung der Teilhabe zu lösen. Im „Sozialstaat“ sollte eine Vermutung gelten, dass diese Strategie so weit wie möglich ausgeschöpft werden soll. Zudem vergegenwärtigt sie auch jene Gemeinsamkeit, die über die Auseinandersetzungen um die „richtigen“ Lösungen so rasch vergessen wird.

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G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009.

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c) Selektivität und Beliebigkeit der Wahrnehmung der Wirklichkeiten, der Regelungen und der Zusammenhänge – Ausweitung und Vertiefung der Wahrnehmung und des Verstehens aa) Allgemeines Das „Soziale“ ist eine immense Masse an Wirklichkeiten und eine große Vielfalt an Politiken und rechtlichen Ordnungen. Desgleichen bedeutet es ein vielfältiges Netz von Zusammenhängen zwischen diesen Phänomenen. Darin liegt eine elementare Schwierigkeit für jedes Gelingen des Sozialen. Das ist ein Risiko für die Richtigkeit allen Planens, Entscheidens und Handelns. Und das kann zum Kalkül der jeweils Besser-Wissenden werden. Nicht nur falsches Wissen, sondern ebenso begrenztes, vordergründiges Wissen ist eine verbreitete Ursache für verfehlte Politiken, für die verfehlte Verwirklichung von Politiken und für die verfehlte Bewertung von Politiken. Die Vervollständigung und Vertiefung, sekundär auch die Vermittlung und Ausbreitung des Wissens über das „Soziale“ sind deshalb Desiderate von höchster Priorität. Auf der anderen Seite ist es unmöglich, ein lückenloses, umfassendes Wissen über das „Soziale“ vorzuhalten. Immer wird es nötig sein, institutionell oder individuell vorgehaltenes Wissen zu ergänzen: allgemeineres durch spezielleres, spezielleres durch allgemeineres, spezielleres durch spezielleres. Schließlich wird es immer nötig sein, Bestandswissen weiter zu entwickeln und den durch Forschung und/ oder Erfahrung erschlossenen Zugewinn an Wissen als Bestandswissen verfügbar zu halten. Nicht zuletzt im Hinblick auf die Gesamtheit des Wissens, das notwendig ist, um den Auftrag des „Sozialen“ zu erfüllen – sei es in Bezug auf die vielen Dimensionen des „Sozialen“, sei es in Bezug auf die Vielfalt der disziplinären oder sonst wie fachlichen Zusammenhänge, sei es in Bezug auf die transnationale, kontinentale und globale Weite der Probleme und Problemlösungen –, kommt diesem Aspekt der Systembildung eine nicht geringere Priorität zu als dem Erwerb und der Vorhaltung und Ausbreitung des Wissens selbst. bb) Ein nationales Konzept Im nationalen Rahmen ist es notwendig, das politische und juridische System durch eine Institution zu ergänzen, die ein entsprechendes System zwar nicht sein kann, die jedoch den Kern eines entsprechenden nationalen Systems bilden könnte und sollte. Notwendig ist die Vervollständigung der Kenntnisse über die Wirklichkeit der wirtschaftlich verursachten oder wirtschaftlich wirksamen Verschiedenheiten in unserer Gesellschaft. Nicht weniger notwendig ist es, die Kenntnisse über die Wirklichkeit der Wirkungen, die von den Ordnungen, Strukturen, politischen Programmen und rechtlichen Regelungen des „Sozialen“ ausgehen, zu verbessern. Notwendig ist ferner die Verbesserung der Kenntnisse über die Maßstäbe, anhand derer verschie-

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dene Lebensverhältnisse untereinander verglichen werden und werden können. Welche Kriterien können die Suche nach gleichheitswidrigen Verschiedenheiten und nach Möglichkeiten ihres Ausgleiches anleiten? Welche Verfahren können die Beobachtungen vom Vordergrund des Auffälligen, von der scheinbaren Evidenz und von der Beschränktheit einer zweckhaft begrenzten Arena der Wahrnehmungen lösen? Und auf tiefer liegende, weiter ausgreifende Zusammenhänge lenken?51 Einschlägige Sachverhalte und Zusammenhänge werden zwar vielfach von Behörden und gesellschaftlichen Einrichtungen, insbesondere auch von Persönlichkeiten und Einrichtungen der wissenschaftlichen Forschung erhoben, kritisch untersucht, erklärt und vermittelt. Aber die so verfügbaren Ergebnisse sind partikular: sowohl in der Fläche der jeweiligen Gegenstände als auch hinsichtlich ihrer Zwecke und ihrer Methoden. Deshalb muss eine Institution geschaffen werden, die das so gegebene Material überschaubar macht und zu einem Ganzen fügt, das der Politik – der institutionellen Politik und der Jedermanns-Politik – Grundlagen für möglichst richtige Annahmen, Bewertungen und Entscheidungen gibt. Das Verhältnis zwischen den „Sozialleistungen“ und den allgemeinen Lebensvollzügen der Produktion, Bereitstellung und Verteilung der Güter sollte permanent beobachtet und bewertet werden. Die Institution sollte die Öffentlichkeit durch die Publikation von Material, Befunden und Empfehlungen unterrichten. Sie sollte das Recht haben, die Politik und die Öffentlichkeit von sich aus auf Probleme aufmerksam zu machen und Lösungsvorschläge vorzulegen. Die Institution muss sich durch die wissenschaftliche Kompetenz der leitenden Persönlichkeiten und der Mitarbeiter auszeichnen. Auch entsprechende fachliche Erfahrung wird nützlich sein. Die Leitung muss unabhängig sein. Das Verfahren ihrer Bestellung sollte ihre Autorität in Politik, Gesellschaft und Wissenschaft gewährleisten. Sie sollte ihre Ergebnisse in Diskussionen mit der Wissenschaft, Fachleuten aus der Praxis und Repräsentanten Betroffener überprüfen. Der Sozialstaat braucht eine Kultur der rationalen Erkenntnis, des rationalen Verstehens und des rationalen Bewertens der Wirklichkeit, ihrer Entwicklung und ihrer rechtlichen Ordnung. Die Institution sollte die Treuhänderin dieses Anliegens sein.

51 Zacher, Das soziale Staatsziel, in: Isensee/Kirchhof (o. Fußn. 15), S. 775 ff., 781 – 783; s. auch R. Schlegel, Ansprache auf der Sitzung des Verbandsausschusses des Deutschen Sozialrechtsverbandes e. V. vom 25. November 2009 in Kassel, abrufbar unter: http://www.sozi alrechtsverband.de/pdf/Ansprache-Schlegel-Verbandsausschuss-2009.pdf.

C. Eigentum und Staatshaftung

Amtshaftung und Auslandseinsätze der Bundeswehr Von Michael Brenner I. Einleitung Die Bundeswehr führt in zunehmendem Maße bewaffnete Auslandseinsätze durch, Einsätze mithin, bei denen Soldaten der Bundeswehr sowohl mittelbar als auch unmittelbar in bewaffnete Kampfhandlungen im Ausland verwickelt sind, beispielsweise im Rahmen des ISAF-Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan.1 Das Spektrum dieser Auslandseinsätze ist mittlerweile weit gespannt und macht deutlich, dass die Bundeswehr in der Tat zu einer „Armee im Einsatz“2 geworden ist, die nicht nur im Rahmen der internationalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung, sondern auch zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus tätig wird.3 Umfasst vom Aufgabenbereich der Bundeswehr sind zwischenzeitlich auch solche Einsätze, die das Völkerrecht nach dem gemeinsamen Art. 2 der Genfer Abkommen von 1949 als „bewaffnete internationale Konflikte“ begreift, Konflikte also, bei denen ein Staat jenseits der Sphäre polizeilicher Aufgabenwahrnehmung mit einer gewissen Intensität und Dauer Waffengewalt gegen den völkerrechtlich geschützten Bereich eines anderen Staates einsetzt und ihm dieser Waffeneinsatz zurechenbar ist.4 Vor dem Hintergrund dieser weitreichenden Auslandsaktivitäten der Bundeswehr gewinnt die Frage zunehmend Bedeutung, ob sich Soldaten der Bundeswehr, die an solchen Auslandseinsätzen beteiligt sind und dabei eine einen Schaden verursachende Amtspflichtverletzung begangen haben, möglicherweise einem Amtshaftungsanspruch ausgesetzt sehen müssen.5 Hans-Jürgen Papier hat im Rahmen seiner Kommentierung des Art. 34 GG im Grundgesetzkommentar von Maunz/Dürig insoweit 1

Dieser Einsatz ist vom Generalbundesanwalt in seiner rechtlichen Bewertung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Oberst Klein im Rahmen des Luftangriffs in Kunduz/Afghanistan als „nicht-internationaler bewaffneter Konflikt“ im Sinne des humanitären Völkerrechts bewertet worden – eine Bewertung, der sich die SPD-Fraktion im Kunduz-Untersuchungsausschluss ausdrücklich angeschlossen hat, vgl. das Sondervotum der Fraktion der SPD im Kunduz-Abschlussbericht, BT-Drucks. 17/7400, S. 255. 2 Bundesministerium der Verteidigung, Weißbuch 2006, S. 9. 3 Bundesministerium der Verteidigung, Weißbuch 2006, S. 12. 4 Vgl. A. Huhn, Amtshaftung im bewaffneten Auslandseinsatz, 2010, S. 7, unter Bezugnahme u. a. auf J. Ipsen, in: ders. (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl., § 66, Rdnr 3 ff. 5 Die nachfolgenden Überlegungen gehen im Wesentlichen auf ein Gutachten zurück, das der Verfasser im Jahr 2012 der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag erstattet hat.

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die Auffassung vertreten, dass im Hinblick auf durch Soldaten der Bundeswehr verursachte Schäden, die in völkerrechtswidriger Weise im Rahmen von Kampfhandlungen verursacht wurden, zwar die Regeln über die Amtshaftung grundsätzlich räumlich anwendbar seien, diese aber durch das völkerrechtliche Haftungsregime, das insoweit lex specialis sei, verdrängt seien.6 Aus Anlass des runden Geburtstags des Jubilars soll diese Sicht der Dinge im Folgenden nochmals genauer beleuchtet werden. II. Keine individualrechtlichen Ansprüche nach Kriegsvölkerrecht Klarzustellen ist einleitend zunächst, dass sich dem Kriegsvölkerrecht schadensersatz- oder entschädigungsrechtliche Individualansprüche, die dem nationalen Amtshaftungsregime ggf. vorgehen oder dieses verdrängen könnten, nicht entnehmen lassen.7 Dies folgt daraus, dass das Völkerrecht traditionell als zwischen Staaten geltendes Recht konzipiert ist.8 Nicht der Einzelne ist Völkerrechtssubjekt, sondern der jeweilige Staat;9 dieser zeichnet völkerrechtlich verantwortlich für Verletzungen des Völkerrechts. Dem Einzelnen gewährt das Völkerrecht lediglich mittelbaren internationalen Schutz, und zwar in der Weise, dass bei völkerrechtlichen Delikten durch Handlungen gegenüber fremden Staatsbürgern deren Heimatstaat ein Anspruch auf Beachtung des Völkerrechts zukommt, der mittels Gewährung völkerrechtlichen Schutzes umgesetzt wird. Die völkerrechtlichen Beziehungen sind daher im Grundsatz Sache der und eine Angelegenheit zwischen den Staaten, einschließlich der Wahrnehmung der Interessen Einzelner. Ansprüche auf individuellen Schadens- oder Unrechtsausgleich würden mithin einen Fremdkörper im System des Völkerrechts darstellen.10 Diese überkommene Ausrichtung des Völkerrechts wird auch nicht durch dessen weitreichende Kodifizierung in Frage gestellt.11 So lassen sich weder dem Haager Abkommen vom 18. 10. 1907, den vier Genfer Abkommen vom 12. 8. 1949 noch den Zusatzprotokollen zu den Genfer Abkommen vom 8. 6. 1977 – Abkommen mithin, die das Kriegsvölkerrecht, das ius in bello, zum Inhalt haben – schadensersatzrechtliche Individualansprüche Einzelner entnehmen; vielmehr sind diese kriegsvölkerrechtlichen Normen sämtlich staatengerichtet. Dieser überkommenen, individualrechtliche Ansprüche grundsätzlich ausschließenden Interpretation des kodifizier6

H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand 2012, Art. 34, Rdnr. 288 a. A. A. z. B. A. Huhn, Amtshaftung im bewaffneten Auslandseinsatz, 2010, S. 132 ff. s. auch B. Heß, BerDGVR 40 (2003), 107/188. 8 BGHZ 169, 348, Rdnr. 6. 9 H. M., vgl. insoweit etwa N. v. Woedtke, Die Verantwortlichkeit Deutschlands für seine Streitkräfte im Auslandseinsatz und die sich daraus ergebenden Schadensersatzansprüche von Einzelpersonen als Opfer deutscher Militärhandlungen, 2010, S. 63 ff. 10 Vgl. in diesem Sinn die sog. Distomo-Entscheidung des BGH, NJW 2003, 3488. 11 Näher hierzu etwa A. Dutta, Amtshaftung wegen Völkerrechtsverstößen bei bewaffneten Auslandseinsätzen deutscher Streitkräfte, AöR 133 (2008), 191/198 ff. 7

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ten Kriegsvölkerrechts hat sich auch das Bundesverfassungsgericht angeschlossen, indem es klargestellt hat, dass Art. 3 des Haager Abkommens aus dem Jahr 1907 grundsätzlich keinen individuellen Entschädigungsanspruch begründet, sondern lediglich den allgemeinen völkerrechtlichen Grundsatz einer Haftungsverpflichtung zwischen den Vertragsparteien positiviert. „Dieser sekundärrechtliche Schadensersatzanspruch“, so das Gericht, „besteht jedoch nur in dem Völkerrechtsverhältnis zwischen den betroffenen Staaten.“12 Diese Sicht der Dinge schließt nahtlos an einen aus dem Jahr 1996 datierenden, das Arbeitsentgelt für NS-Zwangsarbeiter betreffenden Beschluss an, in dem das Bundesverfassungsgericht ausgeführt hat, dass die traditionelle Konzeption des Völkerrechts als eines zwischenstaatlichen Rechts den Einzelnen nicht als Völkerrechtssubjekt versteht, sondern ihm lediglich mittelbaren internationalen Schutz gewährt. Bereits in dieser Entscheidung stellte das Gericht klar, dass bei völkerrechtlichen Delikten durch Handlungen gegenüber fremden Staatsangehörigen ein Anspruch nicht dem Betroffenen selbst, sondern nur seinem Heimatstaat zusteht.13 Diese Auffassung wird im Übrigen auch vom BGH vertreten, hat dieser doch klargestellt, dass weder Art. 3 der Haager Landkriegsordnung noch Art. 91 des Ersten Zusatzprotokolls vom 8. 6. 1977 zu dem Genfer Abkommen vom 12. 8. 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte solche individualrechtlichen Schadensersatzansprüche verankern,14 zumal Art. 91 des Zusatzprotokolls lediglich die Art. 3 der Haager Landkriegsordnung zugrunde liegende Rechtslage bekräftigt und bestätigt. III. Das deutsche Amtshaftungsregime bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr: Keine einheitliche Linie der Rechtsprechung Im Lichte der Erkenntnis, dass jedenfalls auf kriegsvölkerrechtlicher Grundlage Individualansprüche gegenüber Soldaten der Bundeswehr nicht geltend gemacht werden können, gewinnt die Frage besondere Bedeutung, ob auf der Grundlage des deutschen Amtshaftungsrechts entsprechende Ansprüche gegen Soldaten der Bundeswehr gerichtet werden können, die im Rahmen von Auslandseinsätzen eine Amtspflichtverletzung begangen haben.

12 BVerfG, NJW 2004, 3257/3258, unter Bezugnahmen auf Art. 1 der Artikel der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen, International Law Commission – ILC, zum Recht der Staatenverantwortlichkeit, Anl. zur Resolution 56/83 der Generalversammlung der Vereinten Nationen v. 21. 12. 2001. 13 BVerfG, NJW 1996, S. 2717/2719, unter Bezugnahme auf A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl., S. 878 f m. w. N.; J. Kokott, in: Ress/Stein, Der diplomatische Schutz im Völker- und Europarecht, 1996, S. 45 ff. 14 Ausführlich hierzu BGHZ 169, 348, Rdnr. 9 ff.

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1. Die Rechtsprechung des BGH Beleuchtet man mit Blick auf diese Fragestellung die einschlägige Rechtsprechung, so ist zunächst die sog. Distomo-Entscheidung des BGH vom 26. 6. 200315 in den Blick zu nehmen. In dieser Entscheidung führte der BGH aus, dass nach dem seinerzeitigen Verständnis des Amtshaftungsrechts jedenfalls bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs militärische Kriegshandlungen im Ausland vom Amtshaftungstatbestand des § 839 BGB i. V. m. Art. 131 WRV ausgenommen waren.16 Der BGH begründetet dies damit, dass der Krieg als völkerrechtlicher Ausnahmezustand angesehen wurde, der seinem Wesen nach auf Gewaltanwendung ausgerichtet ist, weshalb die im Frieden geltende Rechtsordnung weitgehend suspendiert gewesen sei.17 Aus diesem Grund, so das Gericht weiter, standen nach den überkommenen Grundsätzen des Völkerrechts Entschädigungsansprüche regelmäßig nicht der verletzten Person selbst zu, sondern nur ihrem Heimatstaat. Die traditionelle Konzeption des Völkerrechts als eines zwischenstaatlichen Rechts verstand den Einzelnen nicht als Völkerrechtssubjekt, sondern gewährte ihm nur mittelbaren internationalen Schutz; und in dieser Perspektive der ausschließlichen Staatenberechtigung konnte der Einzelne grundsätzlich weder die Feststellung von Unrecht noch einen Unrechtsausgleich verlangen18. Die sich dem BGH im Jahr 2006 bietende Gelegenheit, klärende Worte zur Anwendbarkeit des deutschen Amtshaftungsregimes bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr unter der Geltung des Grundgesetzes zu finden, hat das Gericht freilich verstreichen lassen. Die Frage, ob nach heutigem Amtshaftungsrechtsverständnis der Bundesrepublik Deutschland im Lichte des Grundgesetzes und der Weiterentwicklungen im internationalen Recht die Aussagen der Distomo-Entscheidung auch für nach Inkrafttreten des Grundgesetzes auftretende Konstellationen Geltung erlangen könnten „oder ob etwa auch im Blick auf § 839 BGB i. V. mit Art. 34 GG der von Ossenbühl19 zum Rechtsinstitut des allgemeinen Aufopferungsanspruchs geäußerte Gedanke ohne weiteres durchgriffe, dieser Anspruch sei nur für den ,Normalfall‘ gedacht“, während hingegen staatliche Katastrophenfälle – wie namentlich Kriege – besonderer Ausgleichsnormen und Ausgleichsmaßstäbe bedürften, die in entsprechenden Gesetzen niederzulegen seien,20 hat der BGH in seinem Varvarin-Urteil 15

NJW 2003, 3488. Der Name Distomo resultiert daraus, dass der BGH über Schadensersatzansprüche griechischer Staatsangehöriger im Zusammenhang mit einer „Sühnemaßnahme“ einer in die deutsche Wehrmacht eingegliederten SS-Einheit gegen das in Böotien gelegene Dorf Distomo zu befinden hatte. Vgl. auch die Urteilsanmerkung von R. Geimer, LMK 2003, 215. 16 BGHZ 155, 279/295 ff. 17 BGH, NJW 2003, 3488/3491, mit Blick auf den Zeitpunkt unter Bezugnahme auf BVerfGE 94, 315/329 f. Hierauf Bezug nehmend OLG Köln, NJW 2005, 2860/2862. 18 BGH, NJW2003, 3488/3491. 19 F. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl., 1998, S. 126 f. 20 BGH, NJW 2003, 3488/3493.

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vom 2. 11. 2006 ausdrücklich offen gelassen21 – und dies, obgleich sich die Vorinstanzen mit dieser Frage ausführlich befasst hatten.22 2. Das OLG Köln So hatte das OLG Köln als Vorinstanz in seinem Urteil vom 28. 7. 200523 ausgeführt, dass eine Suspendierung des deutschen Amtshaftungsrechts durch das ius in bello nicht in Betracht komme. Das Gericht erklärte vielmehr § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG neben dem Völkerrecht für anwendbar und verneinte lediglich im konkreten Fall mangels einer zurechenbaren kausalen Verknüpfung eine Haftung der Bundesrepublik Deutschland24. Unter Bezugnahme auf das Bundesverfassungsgericht25 und eine Entscheidung des BGH26 machte das OLG Köln in seiner Entscheidung deutlich, dass es entgegen der von einem Teil der Literatur vertretenen Auffassung der völkerrechtlichen Exklusivität, wonach individuelle Ansprüche in zwischenstaatlichen Reparationsansprüchen aufgehen, „eine allgemeine Regel des Völkerrechts, wonach Ansprüche aus innerstaatlichem Recht, die auf Kriegsereignissen beruhen, nicht individuell durchsetzbar sind, sondern nur auf zwischenstaatlicher Ebene geltend gemacht werden können“, nicht gebe27, somit eine Anspruchsparallelität zwischen Völkerrecht und nationalem Recht bestehe. Diese Anspruchsparallelität bestehe erst recht, „wenn ein nationaler Anspruch nicht aus einem Sonderrecht für Kriegsfolgen abgeleitet werde, sondern aus einem allgemeinen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch, da ein solcher Erstattungsanspruch – und darum handelt es sich in diesem Sinne auch bei § 839 BGB i. V. mit Art. 34 GG – in keinerlei spezifischem Zusammenhang mit der Regelung von Kriegsfolgen stehe“28. Insbesondere aber würde, so das OLG Köln, eine Suspendierung des § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG bedeuten, „jeglichen Anspruch des einzelnen Menschen für jedes noch so 21

BGHZ 169, 348. Eine Auseinandersetzung mit dieser Frage hätte insbesondere deshalb nahe gelegen, weil dem Varvarin-Urteil des BGH vom 2. 11. 2006 eine gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtete Klage zugrunde lag, in der verschiedene Kläger wegen einer möglichen Unterstützung deutscher Luftstreitkräfte an einer NATO-Luftoperation gegen eine über den Fluss Morava führende, in der serbischen Kleinstadt Varvarin gelegene Brücke von der Bundesrepublik Deutschland billige Entschädigungen in Geld für immaterielle Schäden (Schmerzensgeld) wegen der Tötung von Angehörigen und eigener erlittener Verletzungen begehrten; bei der Luftoperation waren 10 Menschen getötet, weitere 30 Menschen verletzt und die Brücke von Varvarin zerstört worden. 23 NJW 2005, 2860. 24 Die Entscheidung z. B. begrüßend S. Schmahl, Amtshaftung für Kriegsschäden, ZaöRV 2006, 699; C. Johann, Amtshaftung und humanitäres Völkerrecht, Humanitäres Völkerrecht, 2004, S. 86; P. Stammler, Paradigmenwechsel im deutschen Staatshaftungsrecht – OLG Köln läutet das Ende der „Nachkriegsordnung“ ein, Humanitäres Völkerrecht, 2005, S. 292. 25 BVerfG, NJW 2004, 3257; BVerfGE 94, 315 = NJW 1996, 2717. 26 NJW 2003, 3488. 27 OLG Köln, NJW 2005, 2860/2861. 28 OLG Köln, NJW 2005, 2860/2861. 22

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schwerwiegende unrechtmäßige staatliche Handeln zu verneinen, ihm jegliche individuelle Rechtsgewährung zu verweigern und ihn auf den (ungesicherten) Weg des diplomatischen Schutzes zu verweisen. Dies entspricht nicht dem Menschenbild und dem Anspruch auf Rechtsgewährung des Grundgesetzes“29. Und weiter: „Es kann sich daher nur die Frage stellen, wie weit der Schutz des § 839 BGB i. V. mit Art. 34 GG im Krieg bzw. im Rahmen bewaffneter Auseinandersetzungen reicht, nicht aber die, dass er jedenfalls grundsätzlich zu gewähren ist.“30 Nach Auffassung des OLG Köln spricht jedenfalls nichts dafür, die allgemeine Staatshaftung dem Individuum gegenüber auf den „Normalfall“ staatlichen Handelns zu beschränken und diese „in staatlichen Katastrophenfällen, die besonders schadensgeneigt sein können“, grundsätzlich auszuschließen31 – was im Ergebnis eine vollumfängliche Haftung von Bundeswehrsoldaten bei Auslandseinsätzen bedeutet, auch wenn der auf der Grundlage der anspruchsbegründenden Norm des § 839 BGB geltend gemachte Anspruch auf Schadensersatz aufgrund der haftungsüberleitenden Norm des Art. 34 GG vom einzelnen Soldaten auf die Bundesrepublik Deutschland übergeleitet wird. 3. Die Auffassung des LG Bonn Als Vorinstanz hatte demgegenüber das LG Bonn in seinem Urteil vom 10. 12. 2003 die Auffassung vertreten, dass das deutsche Staatshaftungsrecht in Fällen eines pflichtwidrigen Verhaltens deutscher Amtsträger bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr nicht zur Anwendung kommt.32 Nach Auffassung des Gerichts schließt zwar das völkerrechtliche Grundprinzip des diplomatischen Schutzes nicht aus, dass das nationale Recht eines Staates dem Verletzten einen Anspruch außerhalb völkerrechtlicher Verpflichtungen gewährt, der neben die völkerrechtlichen Ansprüche des Heimatstaates tritt.33 Jedoch gewähre das deutsche Recht keinen solchen Anspruch, es fehle insoweit bereits an einer Anspruchsgrundlage. Namentlich das deutsche Staatshaftungsrecht komme in Fällen bewaffneter Konflikte deshalb nicht zur Anwendung, weil es durch die Regelungen des internationalen Kriegsrechts überlagert werde.34 Bewaffnete Auseinandersetzungen seien nach wie vor als völkerrechtlicher Ausnahmezustand anzusehen, der die im Frieden geltende Rechtsordnung weitgehend suspendiere; daher seien die Verantwortlichkeit für den Beginn der Auseinandersetzung und die Folgen der Gewaltanwendung grundsätzlich auf der Ebene des Völkerrechts zu regeln.

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OLG Köln, NJW 2005, 2860/2862. OLG Köln, NJW 2005, 2860/2862. 31 OLG Köln, NJW 2005, 2860/2862. 32 Kritisch hierzu etwa C. Johann, Amtshaftung und humanitäres Völkerrecht, Humanitäres Völkerrecht, 2004, S. 86. 33 LG Bonn, NJW 2004, 525/526, unter Bezugnahme auf BVerfG, NJW 1996, 2717; BGH, NJW 2003, 3488. 34 LG Bonn, NJW 2004, 525/526. 30

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IV. Die Anwendbarkeit des deutschen Amtshaftungsrechts bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr Auch wenn durchaus beachtliche Argumente gegen die Anwendbarkeit des Amtshaftungsrechts im Zusammenhang mit Auslandseinsätzen der Bundeswehr sprechen, so sind die für dessen Anwendbarkeit streitenden doch gewichtiger. Neben weiteren Aspekten sind es insbesondere die grundgesetzlich verankerte Wertordnung wie auch die systematische Interpretation des Auslandsverwendungsgesetzes, die diese Sicht der Dinge untermauern. 1. Das Wortlautargument Selbst wenn man berücksichtigt, dass sich die „spezifische Situationslage im Rahmen von Auslandseinsätzen“ deutlich von rein nationalen Amtshaftungskonstellationen unterscheidet, so wird man hieraus gleichwohl nicht den Schluss ziehen können, dass das nationale Haftungsregime für Auslandseinsätze der Bundeswehr nicht zur Anwendung kommen soll.35 Dies folgt schon daraus, dass sich weder dem Wortlaut des § 839 BGB noch dem des Art. 34 S. 1 GG eine Ausnahme von der Geltung des deutschen Amtshaftungsregimes für Auslandseinsätze der Bundeswehr entnehmen lässt.36 Wollte man daher Amtspflichtverletzungen von Bundeswehrsoldaten im Zusammenhang mit Auslandseinsätzen vom Anwendungsbereich beider Normen ausnehmen, so müsste eine solche Haftungsbeschränkung gleichsam stillschweigend in beide Bestimmungen hineininterpretiert werden; da indes die Grenze jeder Normauslegung der Wortlaut der Norm darstellt, käme eine solche haftungsbeschränkende Interpretation von § 839 BGB i. V. mit Art. 34 GG schon aus diesem Grund nicht in Betracht. 2. Auslandseinsätze als Ausnahmezustand? Auch das vom BGH in der Distomo-Entscheidung angeführte Argument, dass der Krieg einen Ausnahmezustand darstellt, der die nationale Rechtsordnung und damit auch das nationale Amtshaftungsregime suspendiert, kann der Anwendbarkeit des deutschen Amtshaftungsrechts letztlich nicht entgegen gehalten werden. Ohne Frage hat das Argument eines die nationale Rechtsordnung suspendierenden Ausnahmezustands in Zeiten des Krieges erhebliches Gewicht; doch büßt es in Zeiten relativen Friedens an argumentativer Schlagkraft erheblich ein.37 Auslandseinsätze der Bundeswehr im Jahr 2013 unterscheiden sich mit anderen Worten in grundlegender Weise vom Einsatz der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg; und schon aus diesem Grund kann eine Gleichsetzung beider Sachverhalte letztlich nicht in Betracht kommen – was zugleich bedeutet, dass aufgrund der Verschiedenartigkeit beider Konstellationen das deutsche Amtshaftungsrecht bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr je35 In diesem Sinn der Jubilar Hans-Jürgen Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand 2011, Art. 34, Rdnr. 288 a. 36 A. Dutta, (o. Fußn. 11), S. 191/209. 37 A. Dutta, (o. Fußn. 11), S. 191/217 f.

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denfalls mit dem Argument des Ausnahmezustands nicht außer Anwendung gesetzt werden kann. Im Übrigen entfalten die Bestimmungen für den Verteidigungsfall für Auslandseinsätze der Bundeswehr ohnehin keine rechtliche Wirkung. So setzt ein Auslandseinsatz der Bundeswehr keinen tatsächlichen oder drohenden Angriff auf das Bundesgebiet mit Waffengewalt voraus (vgl. Art. 115 a Abs. 1 S. 1 GG). Zudem haben Auslandseinsätze der Bundeswehr durch das Parlamentsbeteiligungsgesetz,38 das Art. 115 a GG ausdrücklich unberührt lässt, eine besondere Ausgestaltung erfahren – woran deutlich wird, dass Auslandseinsätze der Bundeswehr vom Verteidigungsfall strikt zu trennen sind. Auch aus diesem Grund vermag das Argument des „Ausnahmezustands Krieg“ die Suspendierung des Amtshaftungsregimes bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr letztlich nicht zu rechtfertigen. 3. Die außenpolitische Einschätzungsprärogative der Bundesregierung Auch das Argument, dass im Falle der Anwendbarkeit des deutschen Amtshaftungsregimes bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr eine Einschränkung der außenpolitischen Handlungsfähigkeit der Bundesregierung zu besorgen ist, da eine Haftung Deutschlands im konkreten Einzelfall die Außenpolitik der Bundesregierung dem Heimatstaat des Geschädigten gegenüber beeinflussen oder festlegen könnte,39 vermag letztlich nicht zu überzeugen. Dies folgt schon daraus, dass außen- und sicherheitspolitische Akte der Bundesregierung jenseits des verfassungsrechtlich abgesicherten und geschützten Eigenbereichs der Regierung nicht von einer gerichtlichen Kontrolle freigestellt sind, sondern, wie andere Rechtsakte auch, grundsätzlich einer gerichtlichen Nachprüfung unterworfen werden können. Auch insoweit gilt das in Art. 19 Abs. 4 GG statuierte Gebot umfassender gerichtlicher Kontrolle, nicht zuletzt deshalb, weil in Deutschland die aus dem angelsächsischen Raum stammende political question-Doktrin keine Wirkung entfaltet.40 Einen in diesem Sinn bestehenden generellen außen- bzw. sicherheitspolitischen Vorbehalt kennt das deutsche Verfassungsrecht nicht, ungeachtet der Maßgabe, dass den Gerichten „größte Zurückhaltung“ bei der Feststellung etwaiger völkerrechtlich fehlerhafter Rechtsauffassungen der Bundesregierung obliegt.41 Aus demselben Grund kann auch der Gedanke der „combat immunity“, wonach Handlungen der Streitkräfte während eines bewaffneten Konflikts von einer gerichtlichen Nachprüfung ausgenommen sind, um sich die

38 Gesetz über die parlamentarische Beteiligung bei der Entscheidung über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland v. 18. 3. 2005 (BGBl. I S. 775). 39 A. Dutta, (o. Fußn. 11), S. 191/214. 40 Vgl. die Nachweise hierzu bei A. Dutta, (o. Fußn. 11), S. 191/214. 41 A. Dutta, (o. Fußn. 11), S. 191/216, unter Bezugnahme auf BVerfGE 55, 349/368.

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Freiheit zum militärischen Agieren zu erhalten,42 jedenfalls in Deutschland keine Anwendung finden. Das Grundgesetz lässt auch im Zusammenhang mit militärischen Aktionen keine rechtsfreien, der gerichtlichen Überprüfung entzogene Handlungsspielräume zu. 4. Die grundgesetzlich verfasste Wertordnung Demgegenüber kommt dem Argument der Verfassungs- und insbesondere Grundrechtsbindung staatlichen Handelns – und zwar sämtlichen staatlichen Handelns, auch des Handelns der Bundeswehr, selbst wenn diese im Ausland aktiv wird – besondere Bedeutung zu. Die Tatsache, dass das Grundgesetz die Ausübung sämtlicher staatlichen Gewalt rechtsstaatlich einzäunt und insbesondere aufgrund von Art. 1 Abs. 3 GG alle staatliche Gewalt ohne Ausnahme den Grundrechten unterworfen ist – wobei der Schutz der Würde des Menschen an die oberste Stelle des grundgesetzlichen Wertekanons gestellt ist –, macht deutlich, dass es geradezu eine Negierung dieses grundrechtlich statuierten Achtungsanspruchs des Individuums – auch eines ausländischen Individuums – darstellen würde, wenn dieser Achtungsanspruch nicht auch mittels einer allgemeinen Einstandspflicht des Staates für durch dessen Organe begangene Amtspflichtverletzungen anerkannt werden würde. Diesen Achtungsanspruch und damit die Einstandspflicht der Bundesrepublik Deutschland für „ihre“ Soldaten in den Fällen abzulehnen, in denen diese im Rahmen von Auslandseinsätzen tätig werden, wäre jedenfalls mit dem grundgesetzlich verankerten Achtungsanspruch der Menschenwürde nur schwer in Einklang zu bringen. Zudem kann es aufgrund der Verfassungsgebundenheit sämtlichen deutschen Staatshandeln keine sich den Bindungen des Grundgesetzes entziehende deutsche Staatsgewalt geben. Aus diesem Grund ist auch die Ausübung deutscher Staatsgewalt im Ausland stets und zwingend an den verfassungsrechtlichen Rahmen des Grundgesetzes gebunden; Art. 34 GG i. V. m. § 839 BGB muss daher auch Bindungswirkung bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr entfalten.43 5. Das Auslandsverwendungsgesetz Bedeutsam für die Anwendbarkeit des deutschen Amtshaftungsrechts im Zusammenhang mit Auslandseinsätzen der Bundeswehr ist aber insbesondere die Tatsache, dass der Gesetzgeber im Auslandsverwendungsgesetz Regelungen im Hinblick auf die Beteiligung von Bundeswehrsoldanten an humanitären und unterstützenden Maßnahmen im Ausland getroffen hat. Das Gesetz, das eine Reihe von Einzelbestimmungen zur Änderung verschiedener Gesetze enthält, umfasst die Rechtsverhältnisse 42

N. v. Woedtke, Die Verantwortlichkeit Deutschlands für seine Streitkräfte im Auslandseinsatz und die sich daraus ergebenden Schadensersatzansprüche von Einzelpersonen als Opfer deutscher Militärhandlungen, 2010, S. 311 ff. 43 s. etwa A. Huhn, Amtshaftung im bewaffneten Auslandseinsatz, 2010, S. 29 ff.

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der im Ausland eingesetzten Soldaten und trägt der Tatsache Rechnung, dass sich Deutschland zunehmend an solchen Maßnahmen im Ausland beteiligt.44 Mit Blick auf die Anwendbarkeit des deutschen Amtshaftungsrechts ist dabei von Bedeutung, dass Art. 6 des aus dem Jahr 1993 datierenden Auslandsverwendungsgesetzes § 7 des als Bundesrecht fortgeltenden Gesetzes über die Haftung des Reichs für seine Beamten einer Neufassung unterwarf. Während § 1 dieses in seiner Ursprungsfassung vom 22. 5. 191045 datierenden Gesetzes über die Haftung des Reichs für seine Beamten vorsah, dass dann, wenn ein Reichsbeamter in Ausübung der ihm anvertrauten öffentlichen Gewalt vorsätzlich oder fahrlässig die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht verletzt, die in § 839 BGB bestimmte Verantwortlichkeit an Stelle des Beamten das Reich trifft, enthielt § 7 des Gesetzes die einschränkende Bestimmung, dass den Angehörigen eines ausländischen Staates ein Ersatzanspruch auf Grund dieses Gesetzes nur insoweit zusteht, als nach einer im Bundesgesetzblatt enthaltenen Bekanntmachung des Reichskanzlers durch die Gesetzgebung des ausländischen Staates oder durch Staatsvertrag die Gegenseitigkeit verbürgt ist. Diese letztgenannte Bestimmung unterwarf der Gesetzgeber mit dem Auslandsverwendungsgesetz46 einer Änderung dahingehend, dass die Bundesregierung zur Herstellung der Gegenseitigkeit durch Rechtsverordnung bestimmen kann, dass einem ausländischen Staat und seinen Angehörigen, die im Geltungsbereich dieses Gesetzes keinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt haben, Ansprüche aus diesem Gesetz – d. h. dem Gesetz über die Haftung des Reichs für seine Beamten – nicht zustehen, wenn der Bundesrepublik Deutschland oder Deutschen nach ausländischem Recht bei vergleichbaren Schädigungen kein gleichwertiger Schadensausgleich von dem ausländischen Staat geleistet wird. Diese Verordnungsermächtigung, die freilich weder im Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P.47 noch im Gesetzentwurf der Bundesregierung48 enthalten war, sondern erst in die Beschlussempfehlung und den Bericht des Innenausschusses aufgenommen worden war, wurde damit begründet, dass auf diese Weise eine „notwendige staathaftungsrechtliche Regelung der Gegenseitigkeitsfrage“ getroffen wurde. Und weiter: „Ohne eine ausdrückliche Regelung bliebe eben dieser Amtswalter jedoch zunächst dem Zugriff ausgesetzt.“49 Mit Blick auf die hier interessierende Frage kommt dieser Ausgestaltung Bedeutung insofern zu, dass jedenfalls dann, wenn die Bundesregierung von der im Gesetz enthaltenen Verordnungsermächtigung keinen Gebrauch macht, jeder Soldat der 44

Vgl. die Gesetzesbegründung in BT-Drucks. 12/4749, S. 1. RGBl. S. 798. 46 Vom 28. 7. 1993, BGBl. S. 1394. 47 BT-Drucks. 12/4749. 48 BT-Drucks. 12/4989. 49 BT-Drucks. 12/5142, S. 15.

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Bundeswehr nach Maßgabe des Gesetzes über die Haftung des Reichs für seine Beamten aufgrund der in § 1 Abs. 3 des Gesetzes vorgesehen Gleichstellung von Soldaten mit Beamten persönlich in Anspruch genommen werden kann, selbst wenn die Verantwortlichkeit auf den Bund übergeleitet wird; dies ergibt sich als Konsequenz aus der gesetzlichen Ausgestaltung. Zugleich bedeutet dies aber auch, dass selbst der Gesetzgeber erkennbar davon ausgeht, dass in den Fällen, in denen ein deutscher Soldat im Ausland „in Ausübung der ihm anvertrauten öffentlichen Gewalt vorsätzlich oder fahrlässig die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht“ verletzt (§ 1 des – fortgeltenden – Gesetzes über die Haftung des Reichs für seine Beamten), die innerstaatlichen Amtshaftungsgrundsätze zur Anwendung kommen und nicht durch völkerrechtliche Regelungen, auch nicht durch das Kriegsvölkerrecht, überlagert oder gar verdrängt werden. Aus diesem Grund lässt sich mithin auch das Auslandsverwendungsgesetz als Argument für die Anwendbarkeit des deutschen Amtshaftungsrechts bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr anführen. 6. Die Entscheidung des Grundgesetzes für die internationale Zusammenarbeit Das Grundgesetz ist nach überkommener Auffassung dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit und der internationalen Zusammenarbeit verpflichtet.50 Angesichts der sich hieraus ergebenden Verpflichtung, dem Völkerrecht in der innerstaatlichen Rechtsordnung zur Durchsetzung zu verhelfen,51 erschiene eine kategorische Reduktion des Amtshaftungstatbestandes jedenfalls bei Völkerrechtsverletzungen, die durch deutsche Soldaten im Ausland begangen werden, nicht zuletzt deshalb bedenklich, weil nur mittels ergänzender Sanktionsmöglichkeiten im nationalen Recht dem Völkerrecht im innerstaatlichen Bereich größtmögliche Wirkung verschafft wird.52 Auch das Verfassungsgebot für die internationale Zusammenarbeit lässt sich mithin dahingehend interpretieren, dass es die Anwendbarkeit des deutschen Amtshaftungsrechts bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr fordert. 7. Das Rechtsstaatsprinzip Abschließend ist schließlich von Bedeutung, dass das Amtshaftungsrecht nicht nur die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG flankiert, sondern auch das Rechtsstaatsprinzip konkretisiert, und zwar insofern, als ein rechtswidrig geschädigtes Individuum nicht ohne angemessenen Ausgleich ihm zugefügter Schäden bleiben soll.53 Angeführt wird in diesem Zusammenhang das Diktum des BGH, wonach es „als Postulat rechtsstaatlichen Denkens“ anerkannt werden muss, „dass Pflichtver50 Vgl. etwa BVerfGE 18, 112/121; 31, 58/75 f.; 63, 343/370/377 f.; 109, 12/24; 111, 307/ 318; 112, 1/25; BVerfG, NJW 2007, S. 499/501. 51 BVerfGE 112, 1/25; 111, 307/328. 52 So die Argumentation von A. Dutta (o. Fußn. 11), S. 191. 53 A. Dutta (o. Fußn. 11), S. 191/213.

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letzungen, die von Beamten in Ausübung des ihnen anvertrauten Amtes zum Schaden dritter Personen begangen werden, eine Schadensersatzpflicht begründen“54. Auch dies lässt sich daher als Argument pro Anwendbarkeit des deutschen Amtshaftungsregimes anführen V. Kollisionsrechtliche Aspekte Abschließend ist der Blick auf kollisionsrechtliche Aspekte zu richten. So könnte das deutsche Amtshaftungsrecht wegen Art. 40 Abs. 1 EGBGB möglicherweise deshalb nicht zur Anwendung kommen, weil nach Maßgabe dieser Bestimmung Ansprüche aus unerlaubter Handlung dem Recht des Staates unterliegen, in dem der Ersatzpflichtige gehandelt hat. Die Norm unterstellt mit anderen Worten Ansprüche aus unerlaubter Handlung dem Recht am Handlungs- bzw. Erfolgsort des Delikts – mithin dem Tatortprinzip –, so dass im Hinblick auf Handlungen deutscher Soldaten im Ausland regelmäßig ausländisches Recht zur Anwendung kommen würde, beispielsweise afghanisches Recht. Indes ist davon auszugehen, dass das deutsche Amtshaftungsrecht in Ausnahme zu Art. 40 EGBGB auch bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr grundsätzlich räumlich anwendbar ist und die Anknüpfung an den Tatort verdrängt, da die Amtshaftung gesondert an das Recht des potentiell haftenden Staates angebunden ist.55 Gerechtfertigt ist dies durch die Überlegung, dass zum haftenden Staat unabhängig vom Handlungs- oder Erfolgsort die engste Verbindung des amtshaftungsrechtlichen Sachverhalts besteht und damit bei hoheitlichem Handeln auf das Recht des Amtsstaates abzustellen ist.56 Daher ist es für die Anwendbarkeit des deutschen Amtshaftungsregimes im Zusammenhang mit einer Amtspflichtverletzung eines Bundeswehrsoldaten letztlich unerheblich, dass diese im Ausland stattgefunden hat. Nur am Rande sei angemerkt, dass bei gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichteten Individualklagen wegen einer Verletzung völkerrechtlicher Normen auch die deutsche Gerichtsbarkeit maßgeblich wäre. Dies folgt daraus, dass der völkerrechtliche Grundsatz der beschränkten Staatenimmunität die Gerichtsbarkeit ausländischer Staaten begrenzt, über eine Haftung der Bundesrepublik Deutschland zu befinden, soweit diese Haftung an acta iure imperii anknüpft, für die jeder Staat als Beklagter Immunität in Anspruch nehmen kann.57 Und nach der Distomo-Entscheidung des BGH stellen militärische Handlungen deutscher Streitkräfte im Ausland im Zu54

BGHZ 11, 192/197 f.; 22, 383/388. So A. Heldrich, in: Palandt, Art. 40 EGBGB, Rdnr. 15, m. w. N.; A. Dutta (o. Fußn. 11), S. 191/207 f. 56 A. Dutta (o. Fußn. 11), S. 191/207, unter Bezugnahme auf C. von Bar, Internationales Privatrecht, Bd. II, 1991, S. 497; H. Mueller, Das internationale Amtshaftungsrecht, 1991, S. 155 f.; A. Lüderitz, in: T. Soergel, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. X, 12. Aufl., 1996, Art. 38 EGBGB, Rdnr. 69; J. von Hein, The law applicable to governmental liability for violations of human rights in World War II, Yb. P. int’l L. 3 (2001), S. 185/207 ff. 57 Vgl. BVerfGE 16, 27/61. 55

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sammenhang mit der Staatenimmunität stets acta iure imperii dar,58 staatliche Akte mithin, die unter den völkerrechtlichen Immunitätsschutz fallen. Insbesondere gelten die Grundsätze der beschränkten Staatenimmunität auch für acta iure imperii, die gegen zwingendes Völkerrecht verstoßen.59 VI. Fazit Die Argumente, die für die Anwendbarkeit des deutschen Amtshaftungsrechts bei Auslandseinsätzen streiten, sind beachtlich – auch wenn der BGH die Frage bislang nicht entschieden hat. Dabei ist ungeachtet der schwergewichtigen Argumentation von Hans-Jürgen Papier ein schlagendes Argument für diese Sicht der Dinge die Erkenntnis, dass das Grundgesetz letztlich keine rechtsfreien Räume duldet und die Bundeswehr auch dann, wenn sie im Rahmen von Auslandseinsätzen tätig wird, rechtstaatlich gebunden und eingefangen ist. Jedenfalls ist „bisher nicht überzeugend dargelegt worden, warum das Amtshaftungsrecht in bewaffneten Konflikten nicht zur Anwendung kommen soll“60. Sollte der Gesetzgeber vor diesem Hintergrund zu der Erkenntnis kommen, dass im Hinblick auf die Amtshaftung von Soldaten bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr die allgemeinen Regeln nicht zur Anwendung kommen sollen, so müsste er aktiv werden und für solche Einsätze ggf. eine eigenständige Regelung treffen, die auch auf die Besonderheiten militärischer Einsätze Rücksicht nehmen könnte.

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BGHZ 155, 279/282 f. Ausführlich zu der Frage A. Dutta (o. Fußn. 11), S. 191/194 ff. Ausführlich hierzu A. Dutta (o. Fußn. 11), S. 191/196 ff. 60 So C. Johann, Amtshaftung und humanitäres Völkerrecht, Humanitäres Völkerrecht, 2004, S. 86/92. 59

Überlegungen zum Baurecht auf Zeit Von Rüdiger Breuer I. Problemstellung Die Idee eines Baurechts auf Zeit hat im Vorfeld des EAG Bau 20041 eine lebhafte, aber nur kurzfristig wirkende Diskussion ausgelöst2. Die zugrunde liegende Problematik ist seinerzeit in knappen Worten umrissen worden: Normalerweise besteht die planungsrechtliche Bebauungsmöglichkeit auf Dauer. Grundsätzlich kann sie nach den Regeln des Planungsschadensrechts (§§ 39 - 44 BauGB) nur gegen Entschädigung entzogen werden. Neuere städtebauliche Entwicklungen haben indessen, wie schon vor mehr als zehn Jahren erkannt wurde, die Frage „dringlich“ werden lassen, ob in bestimmten Situationen nach geltendem Recht die Bebauungsmöglichkeit nur auf Zeit eingeräumt werden kann3. Ist ein Baurecht auf Zeit ausgelaufen, so entfällt die Problematik des Planungsschadensrechts. Einer städtebaulichen Neudisposition der Gemeinde sowie einer umsteuernden Bauleitplanung stehen dann keine subjektiven Bebauungsrechte der betroffenen Grundstückseigentümer entgegen. Da der umsteuernde Bebauungsplan das durch Zeitablauf ausgelaufene Baurecht nicht mehr aufzuheben braucht, erfüllen seine Festsetzungen jedenfalls nicht den zentralen Entschädigungstatbestand des § 42 BauGB4. Die Ergebnisse der geführten Diskussion über das Baurecht auf Zeit sind insgesamt von auffälliger Zurückhaltung und prinzipieller Skepsis geprägt. Zum einen hat der Gesetzgeber im positiven Recht nur ein schmales Tor für ein Baurecht auf Zeit geöffnet. So hat § 9 Abs. 2 BauGB durch das EAG Bau 2004 eine Fassung erhalten, die bewusst eng gehalten ist. Hiernach kann im Bebauungsplan

1 Europarechtsanpassungsgesetz Bau (EAG Bau) vom 24. 6. 2004, BGBl. I S. 1359; in Kraft getreten am 20. 7. 2004; vgl. dazu U. Battis/M. Krautzberger/R.-P. Löhr, Die Änderungen des Baugesetzbuchs durch das Europarechtsanpassungsgesetz Bau (EAG Bau 2004), NJW 2004, 2553 ff. 2 Vgl. J. Pietzcker, „Baurecht auf Zeit“, NVwZ 2001, 968 ff. (unter Bezugnahme auf ein unveröffentlichtes Gutachten für das Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen vom Frühjahr 2001); B. Schieferdecker, Baurecht auf Zeit im BauGB 2004, BauR 2005, 320 ff.; J. Lege, Baurecht auf Zeit und Planungsschadensrecht, LKV 2007, 97 ff. 3 Pietzcker (o. Fußn. 2), 968. 4 Schieferdecker (o. Fußn. 2), 332 f.

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„in besonderen Fällen festgesetzt werden, dass bestimmte der in ihm festgesetzten baulichen und sonstigen Nutzungen und Anlagen nur 1. für einen bestimmten Zeitraum zulässig oder 2. bis zum Eintritt bestimmter Umstände zulässig oder unzulässig sind.“

Macht die Gemeinde hiervon Gebrauch, soll auch die Folgenutzung durch Bebauungsplan festgesetzt werden (§ 9 Abs. 2 Satz 2 BauGB). In § 11 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BauGB ist klargestellt, dass eine derartige Befristung oder Bedingung der zugelassenen, sei es baulichen oder sonstigen Nutzung auch in einem städtebaulichen Vertrag vereinbart werden kann. Zum anderen hat die Unabhängige Expertenkommission in ihrem seinerzeitigen Bericht zur Novellierung des BauGB gegen die Einführung eines allgemeinen Baurechts auf Zeit votiert. In dem Kommissionsbericht5 heißt es: „Ein allgemeines städtebauliches Interesse der Gemeinde, nach einer bestimmten Zeit ohne Entschädigungsrisiken planerisch neu disponieren zu können, rechtfertigt nicht derart gravierende Eingriffe in das Bodeneigentum. Bei einer generellen Befristung neuer Baurechte dürften die Institutsgarantie des Art. 14 GG sowie die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit verletzt sein.“ Der Gesetzgeber ist diesem Votum gefolgt. Es wirkt offenbar bis heute nach. Bei den jüngeren Novellierungen des BauGB hat die Idee eines Baurechts auf Zeit keine Rolle mehr gespielt. In der Rechtswissenschaft sind abweichende Äußerungen vereinzelt geblieben6. Die Zurückhaltung des Gesetzgebers gegenüber der Idee eines Baurechts auf Zeit hat die verfassungsrechtliche Frage, ob dessen allgemeine Einführung mit der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG vereinbar wäre, zurücktreten lassen. Auf den ersten Blick scheint es, als hinge die Beantwortung dieser Frage entscheidend davon ab, ob das subjektive Recht zu bauen auf einer verfassungsrechtlich vorgegebenen Baufreiheit7 oder auf staatlicher Verleihung8 beruht. Mit dem Problem der Baufreiheit ist eine eigentumsdogmatische Schlüsselfrage berührt, zu der Hans-Jürgen Papier in grundlegender Weise Stellung genommen hat9. Nähere Betrachtung zeigt indessen, dass die verfassungsrechtliche Problematik eines allgemeinen Baurechts auf Zeit nicht durch einen plakativen Rekurs auf die Alternative zwischen vor5 Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (Hrsg.), Novellierung des Baugesetzbuchs, Bericht der Unabhängigen Expertenkommission, August 2002, Rdnr. 202. 6 So Lege (o. Fußn. 2). 7 So H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Abs. 1 (2010) Rdnrn. 57 ff., Art. 14 Abs. 2 (2010) Rdnrn. 406 f.; W. Leisner, Baufreiheit oder staatliche Baurechtsverleihung?, DVBl. 1992, S. 158 ff. 8 So R. Breuer, Die Bodennutzung im Konflikt zwischen Städtebau und Eigentumsgarantie, 1976, S. 158 ff.; Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Hrsg.), Neue und modifizierte Rechtsformen der Bodennutzung (Münchener Gutachten), 1977, S. 43 ff., 77, 83 ff. 9 Papier (o. Fußn. 7).

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gegebener Baufreiheit und staatlich verliehener Bebauungsbefugnis gelöst werden kann. Einerseits kommen die Befürworter der Baufreiheit nicht umhin, deren verfassungsrechtliche Einschränkbarkeit durch gesetzliche Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Eigentums nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG anzuerkennen und im Wege der Verfassungsinterpretation zu konkretisieren10. Andererseits ist auch auf der Basis der Verleihungsthese zu fordern, dass das subjektive Recht zu bauen unter solchen Voraussetzungen, in solchem Umfang und so beständig eingeräumt werden muss, dass der privatnützigen Disposition des Eigentümers hinreichender Spielraum gegeben ist11. Die gegensätzlichen Ausgangspositionen sind daher „in vielen praktischen Fragen nicht sehr weit voneinander entfernt“12. Vor allem aber verlangt die Beantwortung der Frage, ob die Einführung eines verallgemeinerten Baurechts auf Zeit mit der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG in Einklang stünde, substanziellere Maßstäbe, als sie der rechtsgrundsätzliche Streit um die Baufreiheit vermitteln kann. Im Folgenden sollen zunächst die Anwendungsvoraussetzungen und Wirkungsgrenzen des engen Baurechts auf Zeit nach dem geltenden § 9 Abs. 2 BauGB betrachtet werden. Anschließend soll de lege ferenda dem verfassungsrechtlichen Problem nachgegangen werden, ob und inwieweit die Einführung eines verallgemeinerten Baurechts auf Zeit mit der institutionellen und grundrechtlichen Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG vereinbar ist. II. Anwendungsvoraussetzungen und Wirkungsgrenzen des engen Baurechts auf Zeit nach § 9 Abs. 2 BauGB In der Diskussion vor der Verabschiedung des EAG Bau 2004 wie auch in der literarischen Nachbereitung ist zutreffend darauf hingewiesen worden, dass das Baurecht auf Zeit aus städtebaulicher Sicht für zwei unterschiedliche Problemkonstellationen in Betracht kommt. Ihnen lassen sich die potentiellen Anwendungsfälle des geltenden § 9 Abs. 2 BauGB zuordnen. Die erste der diskutierten Konstellationen betrifft die Ermöglichung sogenannter Zwischennutzungen und anschließender Folgenutzungen13. So hatte das OVG Lüneburg – vor der Verabschiedung des EAG Bau 2004 – in einem Normenkontrollverfahren über die Wirksamkeit eines Bebauungsplans zu entscheiden, der ein „Sondergebiet – Erholungsgebiet, vorläufig Sandgewinnungsgelände“ festsetzte und die erfasste Fläche, wie die Erläuterung der Planzeichnungen angab, als „Platz für Hotel und Café bei Ausbau des Seegebietes zur Erholungsfläche nach Abschluss der Sand10

So Papier (o. Fußn. 7), Art. 14 Rdnr. 58. So R. Breuer, in: H. Schrödter (Begr.), BauGB, 7. Aufl. 2006, § 42 Rdnr. 9. 12 Pietzcker (o. Fußn. 2), 969. 13 Pietzcker (o. Fußn. 2), 968 f.; Lege (o. Fußn. 2), 97.

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gewinnung“ auszuweisen suchte14. Das OVG Lüneburg erachtete diese Festsetzung seinerzeit für unwirksam. Nach seiner Rechtsauffassung erlaubte § 9 BBauG/ BauGB a.F. „weder zeitlich gestaffelte unterschiedliche Festsetzungen noch bedingte Festsetzungen“. Dies galt nach der Erkenntnis des OVG Lüneburg „auch dann, wenn eine Nutzung, wie der Bodenabbau, aus der Natur der Sache zeitlich begrenzt ist und sich daher die Frage nach der Folgenutzung aufdrängt“15. Ähnliche, im Schrifttum diskutierte Fallsituationen liegen vor, wenn ein Gelände zunächst für Sportstätten eines Großereignisses (z. B. einer Weltmeisterschaft) oder für andere Einrichtungen einer Großveranstaltung ausgewiesen und danach als Gebiet für großflächigen Einzelhandel festgesetzt werden soll16. Erörtert worden ist des Weiteren die Fallsituation, dass ein langfristig für den Bodenabbau (z. B. für den Kiesabbau) vorgesehenes Gelände für eine mittelfristige (beispielsweise 20-jährige) Zwischennutzung in Gestalt der Errichtung von Windkraftanlagen ausgewiesen werden soll17. Die zweite der diskutierten Problemkonstellationen betrifft die bauplanungsrechtliche Behandlung von Vorhaben mit verkürzten Nutzungszyklen. Beispiele hierfür bilden große kommerzielle Freizeitanlagen wie Musical-Hallen und MultiplexKinos sowie situations- oder konjunkturabhängige Betriebe des großflächigen Einzelhandels18. Zutreffend ist angemerkt worden, dass das Problem der verkürzten Nutzungszyklen vor allem drängend wird, wenn es nach Ablauf des Nutzungszyklus einer Anlage – in der Regel nach deren Amortisierung – zu Leerständen und städtebaulichen Brachen kommt19. Vor dem Hintergrund der vorausgegangenen und begleitenden Diskussionen über die in Betracht kommenden Konstellationen eines Baurechts auf Zeit treten die restriktiven Anwendungsvoraussetzungen und die eng gezogenen Wirkungsgrenzen des geltenden § 9 Abs. 2 BauGB mit aller Deutlichkeit hervor. Das darin zugelassene, bauplanungsrechtlich ausgerichtete Baurecht auf Zeit bezieht sich auf tatbestandlich eng umschriebene Fallsituationen aus dem Bereich der beiden vorgenannten Problemkonstellationen. Es bedarf der Festsetzung im Bebauungsplan, kommt also ausschließlich in Plangebieten mit entsprechenden Festsetzungen zur Anwendung. In anderen Plangebieten sowie im unbeplanten Innenbereich (§ 34 BauGB) und im Außenbereich (§ 35 BauGB) ist es von vornherein unanwendbar20.

14 OVG Lüneburg, NVwZ-RR 2000, 577; dazu W. Schrödter, in: H. Schrödter (Begr.), BauGB, 7. Aufl. 2006, § 9 Abs. 2 Rdnr. 171. 15 OVG Lüneburg, NVwZ-RR 2000, 577. 16 Pietzcker (o. Fußn. 2), 968; Lege (o. Fußn. 2), 97. 17 Lege (o. Fußn. 2), 97. 18 Pietzcker (o. Fußn. 2), 968; Lege (o. Fußn. 2), 97. 19 Pietzcker (o. Fußn. 2), 968. 20 Lege (o. Fußn. 2), 99.

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Aufgrund des materiellrechtlichen Zusammenhangs können befristete oder bedingte Festsetzungen nach § 9 Abs. 2 BauGB nur aus städtebaulichen Gründen erlassen werden. Wirtschaftliche Gründe vermögen solche Festsetzungen nicht zu rechtfertigen. Rechtswidrig und unwirksam wäre daher die Festsetzung eines Sondergebiets für den großflächigen Einzelhandel gemäß § 11 Abs. 3 BauNVO unter der aufschiebenden Bedingung, dass der Investor einen Zuschuss an eine Stadtmarketinggesellschaft zahlt21. Mit der tatbestandlichen Beschränkung auf „besondere Fälle“ hat der Gesetzgeber klargestellt, dass § 9 Abs. 2 BauGB keine generelle Befristung von Baurechten zulässt. Unter den „besonderen Fällen“ sind atypische städtebauliche Situationen zu verstehen, die einen Ausnahmecharakter aufweisen und eine besondere, in Festsetzungen eines Bebauungsplans gefasste Reaktion verlangen22. Eine solche Situation liegt vor, wenn eine Nutzung oder Anlage von vornherein nur auf Zeit beabsichtigt ist und ein planerisches Bedürfnis dafür besteht, die Zulassung der betreffenden Nutzung oder Anlage entsprechend zu befristen und möglichst auch die Folgenutzung festzusetzen. Diese Voraussetzungen sind regelmäßig erfüllt, wenn ein Gelände für eine bestimmte, zeitlich fixierte Großveranstaltung sportlicher oder sonstiger Art (wie eine Welt- oder Europameisterschaft oder eine Bundesgartenschau) bebaut werden soll. In einem derartigen Fall bietet sich die Festsetzung einer befristeten Nutzung nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BauGB an23. Entsprechendes gilt z. B. in Fällen, in denen zunächst für eine begrenzte Zeit ein Bodenabbau beabsichtigt ist und das betroffene Gelände für die anschließende Zeit als Grünfläche oder als Fläche für Spiel-, Sport- und Erholungszwecke festgesetzt werden soll24. Insoweit handelt es sich um Fälle der früher diskutierten Problemkonstellationen, die durch die Abfolge von Zwischen- und Folgenutzungen gekennzeichnet sind. Zudem ist in der amtlichen Gesetzesbegründung als Legitimationsgrund für Festsetzungen nach § 9 Abs. 2 BauGB angegeben worden, dass in bestimmten städtebaulichen Bereichen zunehmend kürzere Nutzungszyklen zu beobachten seien25. Damit sind die Fälle der Problemkonstellationen angesprochen, die anhand der Beispiele der Musical-Hallen, der Multiplex-Kinos und der situations- oder konjunkturabhängigen Betriebe des großflächigen Einzelhandels diskutiert worden sind. Insoweit geht es dem Gesetzgeber um die Vermeidung von Leerständen, die nach einer Nutzungsaufgabe die weitere städtebauliche Entwicklung hindern oder Fehlentwicklungen auslösen. Zum Zweck der Leerstandsvermeidung kommt ebenfalls eine Befris21 Vgl. zum Ganzen W. Schrödter (o. Fußn. 14), § 9 Abs. 2 Rdnr. 171 c; auch W. Söfker, in: W. Ernst/W. Zinkahn/W. Bielenberg/M. Krautzberger, BauGB, § 9 (2005) Rdnr. 240 l; G. Gaentzsch, in: Berliner Kommentar zum BauGB, § 9 Abs. 2 (2008) Rdnr. 73 b. 22 W. Schrödter (o. Fußn. 14), § 9 Abs. 2 Rdnr. 171 d; auch Söfker (o. Fußn. 21), § 9 Rdnrn. 240 b, 240 c. 23 W. Schrödter (o. Fußn. 14), § 9 Abs. 2 Rdnr. 171 d, 171 f. 24 W. Schrödter (o. Fußn. 14), § 9 Abs. 2 Rdnr. 171 f. 25 BT-Drucks. 15/2250, S. 49; zuvor die Unabhängige Expertenkommission (o. Fußn. 5), Rdnr. 184; vgl. auch Pietzcker (o. Fußn. 2), 968; Schieferdecker (o. Fußn. 2), 322.

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tung der betreffenden Nutzungen nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BauGB, eventuell auch eine auflösende Bedingung nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BauGB in Betracht. Die dabei erforderliche Prognose der verkürzten Nutzungsdauer stellt allerdings eine schwierige Aufgabe dar, die hohe Anforderungen an die Planbegründung wie auch an die gerichtliche Plankontrolle stellt26. Die Festsetzung eines aufschiebend bedingten Baurechts nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BauGB kommt z. B. in Betracht, wenn ein Wohngebiet auf einem Gelände festgesetzt werden soll, das Altlasten aufweist, und die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit der Bebauung von der Bedingung der zuvor durchzuführenden und nachzuweisenden Altlastensanierung abhängen soll27. Ebenso liegt die Festsetzung eines aufschiebend bedingten Baurechts nahe, wenn eine Gemeinde ein ehemaliges Eisenbahngelände, das nicht mehr für Bahnzwecke genutzt wird, aber als solches noch nicht entwidmet ist, überplanen und für eine künftige Wohn- oder Dienstleistungsnutzung ausweisen will. Die aufschiebende Bedingung kann in einem derartigen Fall so gefasst werden, dass sie eintritt, wenn die Entwidmung des ehemaligen Eisenbahngeländes durch das Eisenbahnbundesamt bestandskräftig wird28. Die Festsetzung eines auflösend bedingten Baurechts nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BauGB kommt – abgesehen von den Fällen des endgültigen oder langfristig andauernden Leerstandes – für solche Fälle in Betracht, in denen die zugelassene Nutzung unter einen sachangemessenen, aus städtebaulichen Gründen erforderlichen Mindestumfang sinkt29. Die Erforderlichkeit einer derartigen Festsetzung bedarf, dem allgemeinen Gebot des § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB entsprechend, einer hierauf zugeschnittenen, städtebaulich spezifizierten Begründung30. Schon der flüchtige Überblick über die Festsetzungsmöglichkeiten des geltenden § 9 Abs. 2 BauGB zeigt die engen Anwendungsvoraussetzungen und Wirkungsgrenzen des hiermit eingeführten Baurechts auf Zeit. Dieser Befund entspricht der eingangs dargelegten Absicht des historischen Gesetzgebers.

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Kritisch dazu Schieferdecker (o. Fußn. 2), 322 f. W. Schrödter (o. Fußn. 14), § 9 Abs. 2 Rdnr. 171 j. 28 W. Schrödter (o. Fußn. 14), § 9 Abs. 2 Rdnr. 171 j; a.A. Söfker (o. Fußn. 21), § 9 Rdnr. 240n; vgl. zum Verhältnis zwischen der eisenbahnrechtlichen Planfeststellung und der Bauleitplanung für städtebauliche Folgenutzungen auch BVerwGE 81, 111 (112 ff.); BVerwG, NVwZ-RR 1998, 542; VGH Mannheim, NVwZ-RR 1997, 395 (396); W. Rieger, in: H. Schrödter (Begr.), BauGB, 7. Aufl. 2006, § 38 Rdnrn. 24 ff.; Th. Roeser, in: Berliner Kommentar zum BauGB, § 38 (2003) Rdnr. 18 f. 29 W. Schrödter (o. Fußn. 14), § 9 Abs. 2 Rdnr. 171 l. 30 Allgemein zur Voraussetzung der Erforderlichkeit nach § 1 Abs. 3 BauGB bei der Festsetzung befristeter oder bedingter Nutzungen W. Schrödter (o. Fußn. 14), § 9 Abs. 2 Rdnr. 171 a; Gaentzsch (o. Fußn. 21). 27

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III. Verfassungsrechtliche Möglichkeiten eines verallgemeinerten Baurechts auf Zeit De lege ferenda bleibt die Frage nach den verfassungsrechtlichen Möglichkeiten eines verallgemeinerten Baurechts auf Zeit zu beantworten. Eigentumsdogmatisch wäre eine Verallgemeinerung des Baurechts auf Zeit, d. h. dessen generelle Einführung im Wege des Gesetzes, eine Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums i. S. des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG31. Ob die Aussage, dass bei einer „generellen Befristung neuer Baurechte“ – wie die Unabhängige Expertenkommission in ihrem Bericht vor der parlamentarischen Beratung des EAG Bau 2004 gemeint hat32 – „die Institutsgarantie des Art. 14 GG sowie die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit verletzt sein“ dürften, in dieser Pauschalität zutrifft, erscheint zweifelhaft. Mit der zurückhaltenden Regelung des Baurechts auf Zeit in § 9 Abs. 2 BauGB i. d. F. des EAG Bau 2004 ist der Gesetzgeber auf der sicheren Seite einer verfassungskonformen Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG geblieben. Gleiches gilt für die überkommenen bauordnungsrechtlichen Möglichkeiten, die Rechtswirkung einer Baugenehmigung und somit den Schutz baulicher Anlagen im Wege einer Befristung oder einer Bedingung zeitlich zu beschränken. Diese bauordnungsrechtlichen Instrumente dienen lediglich dazu, die Gesetzmäßigkeit der Genehmigungspraxis sicherzustellen, also zu gewährleisten, dass die rechtlich gebundene Baugenehmigung erteilt wird, wenn und soweit die betreffende bauliche Anlage dem geltenden Recht entspricht und der Antragssteller – auch unter bauplanungsrechtlichen Gesichtspunkten – einen Anspruch auf Erteilung der Genehmigung hat33. Sofern eine bauplanungsrechtliche Bebauungsbefugnis auf unbeschränkte Dauer besteht und der fraglichen Anlage auch keine bauordnungsrechtlichen Hindernisse entgegenstehen, muss auf Antrag eine unbefristete und unbedingte Baugenehmigung erteilt werden. An dieser Rechtslage würde sich nur dann etwas ändern, wenn der Bundesgesetzgeber im Rahmen des Bauplanungsrechts ein weiterreichendes, über den geltenden § 9 Abs. 2 BauGB hinausgehendes Baurecht auf Zeit einführen würde – vorausgesetzt, dass dessen Einführung als verfassungskonforme Inhalts- und Schrankenbestimmung des Grundeigentums i.S. des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG einzustufen wäre. Eben hierauf bezieht sich indessen das wiedergegebene Verdikt der Unabhängigen Expertenkommission, die im Vorfeld des EAG Bau 2004 gemeint hat, bei einer generellen Befristung neuer Baurechte dürften die Institutsgarantie des Art. 14 GG sowie die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit verletzt sein34. Die Kritik an diesem Ver31 Vgl. zur rechtsdogmatischen Neukonzeption des Eigentumsschutzes nach Art. 14 GG im Anschluss an BVerfGE 58, 300 ff. (Nassauskiesung) statt vieler Papier (o. Fußn. 7), Art. 14 Rdnrn. 354 ff.; Breuer (o. Fußn. 11), § 39 Rdnrn. 6 ff., § 42 Rdnrn. 16 ff.; J. Rozek, Die Unterscheidung von Eigentumsbindung und Enteignung, 1998, S. 12 ff., 19 ff. und passim. 32 Vgl. oben in und bei Fußn. 5. 33 Vgl. oben in und bei Fußn. 5. 34 So Lege (o. Fußn. 2), 102.

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dikt läuft auf den Appell hinaus, man „sollte noch einmal darüber nachdenken“35. Verfassungsrechtlich – so lautet die Kritik – stehe dem Baurecht auf Zeit nichts entgegen, insbesondere nicht eine verfassungsrechtliche Garantie des Planungsschadensrechts. Es sei kein Eingriff in das Eigentumsgrundrecht des Art. 14 GG, wenn dem Eigentümer der Wertzuwachs seines Grundstücks nicht garantiert werde36. Diese konträren Äußerungen werfen ein bezeichnendes Schlaglicht auf die verfassungsrechtliche, bisher nicht ausgelotete Problematik eines verallgemeinerten Baurechts auf Zeit. Sie markieren apodiktische Standpunkte, ohne den notwendigen Diskurs zu eröffnen. Klar ist indessen, dass die Einführung eines verallgemeinerten Baurechts auf Zeit einen bauplanungsrechtlichen Systemwechsel von großer städtebaulicher Tragweite darstellen würde. Ob die öffentlich-rechtlichen Befugnisse zur baulichen Bodennutzung – wie bisher – auf Dauer, also zeitlich unbeschränkt, oder nur für eine bestimmte Zeit eingeräumt sind, ist sowohl für das Rechtsinstitut des Eigentums und die subjektiven Eigentümerrechte als auch für die planerischen Dispositionsbefugnisse der Gemeinde eine grundlegende und folgenschwere Strukturfrage. Die zeitliche Beschränkung der öffentlich-rechtlichen Bebauungsbefugnis wirft die Fragen des Vertrauensschutzes sowie der Rechts- und Planungssicherheit auf. Mit diesen Fragen sind wesentliche Postulate der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie berührt, die der Gesetzgeber bei der Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG beachten muss. Hierauf hat die Unabhängige Expertenkommission in ihrem ablehnenden Votum zu Recht hingewiesen37. Aus dieser allgemeinen Erkenntnis lässt sich indessen nicht ableiten, dass ein verallgemeinertes, über den geltenden § 9 Abs. 2 BauGB hinausgehendes Baurecht auf Zeit generell gegen die verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG verstieße. Städtebaurechtliche wie beispielsweise auch umweltrechtliche Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Eigentums greifen häufig in den sachlichen und rechtlichen Eigentumsbestand sowie in das Vertrauen des Eigentümers auf den Fortbestand günstiger Rechtslagen ein38. Ebenso darf das verfassungsrechtliche Postulat der Rechts- und Planungssicherheit nicht als absolute Garantie unbefristeter und unbedingter Eigentümerrechte sowie als korrespondierendes Verbot befristeter oder bedingter Eigentümerrechte missverstanden werden. Die verfassungsrechtlichen Postulate des Vertrauensschutzes sowie der Rechts- und Planungssicherheit unterliegen vielmehr der gesetzgeberischen Abwägung und Gestaltung39. Dabei sind die po-

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Lege (o. Fußn. 2), 102. Lege (o. Fußn. 2), 102. 37 Vgl. oben in und bei Fußn. 5. 38 Vgl. im Einzelnen Papier (o. Fußn. 7), Art. 14 (2010) Rdnrn. 59 ff. (öffentlich-rechtliche Bebauungsbefugnis) und 379 ff. (Dauerbeschränkungen der Bodennutzungen). 39 Vgl. dazu im Einzelnen Papier (o. Fußn. 7), Art. 14 (2010) Rdnrn. 308 ff.; auch Breuer (o. Fußn. 8), S. 19 ff., 102 ff. 36

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litische Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers und das verfassungsrechtliche Regulativ der Verhältnismäßigkeit in Einklang zu bringen. Zu kurz greift auch die gegenteilige Argumentation, ein allgemeines Baurecht auf Zeit sei verfassungsrechtlich zulässig und unbedenklich, weil keine verfassungsrechtliche Garantie des Planungsschadensrechts existiere und kein Eingriff in das Eigentumsgrundrecht des Art. 14 GG vorliege, wenn dem Eigentümer der Wertzuwachs seines Grundstücks nicht garantiert werde. Bei dem Problem des Baurechts auf Zeit geht es nicht erst um die Stufe der Eigentumswertgarantie, also um den Grundstückswert und einen zeitabhängigen Wertzuwachs, sondern um den vorgelagerten Güterschutz, nämlich um den Bestand der öffentlich-rechtlichen Bebauungsbefugnis und das Vertrauen des Eigentümers in den unbefristeten Fortbestand dieses subjektiven Rechts40. Mit der Einführung eines verallgemeinerten Baurechts auf Zeit entstünden von vornherein kupierte Rechtsbestände. Das Auslaufen eines Baurechts auf Zeit hätte zur Folge, dass ein nachfolgender Bebauungsplan dann die betreffende bauliche Nutzung von Rechts wegen nicht mehr ändern oder aufheben kann, weil die zugrunde liegende Bebauungsbefugnis bereits durch Zeitablauf erloschen ist. Folglich kann der nachfolgende Bebauungsplan dann keinen planungsschadensrechtlichen Eingriff und somit auch keinen Entschädigungstatbestand nach § 42 BauGB verwirklichen. Die entscheidende Rechtsfrage bleibt jedoch, ob eine derartige Beschränkung der Bebauungsbefugnis nach Maßgabe eines Baurechts auf Zeit das subjektive Recht zu bauen unter solchen Voraussetzungen, in solchem Umfang und so beständig einräumt, dass der privatnützigen Disposition des Eigentümers hinreichender Spielraum gegeben ist41. Die so gestellte Frage entzieht sich einer pauschalen und apodiktischen Antwort. Sie lässt sich nur differenziert beantworten. Die Extremstandpunkte im Sinne eines vorbehaltlosen Pro oder Contra zu einem verallgemeinerten bauplanungsrechtlichen Baurecht auf Zeit vermögen somit nicht zu überzeugen. Sucht man nach den verfassungsrechtlichen Eckpunkten der gebotenen Differenzierung, so ist in erster Linie das Postulat der Kontinuität im Baurecht42 hervorzuheben. Es umschließt die rechtsstaatlichen und eigentumsspezifischen Gebote des Bestands- und Vertrauensschutzes und bezieht sich vor allem auf die planungsrechtliche Steuerung der städtebaulichen Entwicklung sowie der Bebauungsbefugnisse. Die gegenteilige Vorstellung, derzufolge die städtebauliche Entwicklung generell auf befristete Bebauungsbefugnisse gestützt sein soll, widerspricht im Ansatz den historischen Erfahrungen und dem Erscheinungsbild gewachsener, sich kontinuierlich weiterentwickelnder Städte. Bestands- und Vertrauensschutz gründen sich gerade im Bauplanungsrecht auf diese überkommene Kontinuität der städtebaulichen Entwicklung. Laufende Dispositionen und Investitionen der Eigentümer werden hierdurch angeregt und gefördert. Die Privatnützigkeit des Eigentums und die 40

Breuer (o. Fußn. 8), S. 181 f., 189 ff., 204 ff.; auch ders. (o. Fußn. 11), § 42 Rdnrn. 16 ff. Breuer (o. Fußn. 11); vgl. auch oben bei Fußn. 11. 42 Vgl. A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 303 ff. 41

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Sozialnützigkeit der städtebaulichen Entwicklung werden so im Rahmen der Kontinuität zusammengeführt43. Dagegen würden generell auslaufende Baurechte auf Zeit Zäsuren schaffen, die den kontinuierlichen Dispositionen und Investitionen der Eigentümer im Wege stünden und dadurch oft, wenn nicht regelmäßig, einen städtebaulichen Entwicklungsbruch verursachten, so dass ein radikaler Neuanfang mittels einer umsteuernden Bauleitplanung erzwungen würde. Solche Diskontinuitäten der baulichen und sonstigen Bodennutzung sowie der städtebaulichen Entwicklung widersprechen dem eigentumsrechtlichen Leitbild der Institutsgarantie und des Grundrechts gemäß Art. 14 Abs. 1 GG. In der Realität sind sie geeignet, die überkommene Kontinuität der städtebaulichen Entwicklung auf die Dauer zu zersetzen. Diese Zusammenhänge sprechen gegen die generelle Einführung eines Baurechts auf Zeit. Dies gilt prinzipiell für gewachsene städtische Zentren und für Wohngebiete mit gewachsener Sozialstruktur. Etwas anderes gilt jedoch für die Festsetzung der Nutzungen in Gewerbe- und Industriegebieten, die typischerweise kürzere, ökonomisch kalkulierte Nutzungszyklen aufweisen. Hier sind die Nutzungen nach ihrem typischen Erscheinungsbild „aus sich heraus“ auf eine zeitliche Beschränkung sowie auf die Notwendigkeit radikaler Umbrüche und Neuanfänge angelegt. Die städtebaulichen und industriegeschichtlichen Erfahrungen, die sich in Deutschland mit den Vorgängen einer etwa 150-jährigen Vergangenheit belegen lassen, bestätigen den Befund einer immanenten zeitlichen Beschränkung. Brachen und Altlasten an alten Industriestandorten indizieren, dass hier Baurechte auf Zeit prinzipiell sachangemessen wären44. Dabei wird man das Maß entsprechender Baurechte auf Zeit durch Gesetz und gesetzesvollziehende Bebauungspläne in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise auf 100 Jahre, unter näher zu bezeichnenden Umständen eventuell auch auf einen kürzeren Zeitraum von mehreren Jahrzehnten festlegen können. Bei rechtsgrundsätzlicher Betrachtung erscheint eine dahingehende Inhalts- und Schrankenbestimmung des Grundeigentums vom Gestaltungsspielraum und von der Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG gedeckt. Insoweit lassen sich für ein verallgemeinertes Baurecht auf Zeit mithin durchaus verfassungsrechtliche Möglichkeiten ausmachen. Ob der Gesetzgeber die konzeptionelle Kraft und den politischen Willen zur Konkretisierung und rechtspraktischen Umsetzung dieser Möglichkeiten findet, steht indessen auf einem anderen Blatt.

43 Zur simultanen Privat- und Sozialnützigkeit des Eigentums nach Art. 14 Abs. 1 und 2 GG Breuer (o. Fußn. 8), S. 40 ff. 44 Bisher konzentrieren sich die Bemühungen um Brachen und Altlasten allerdings vorwiegend auf die rechtliche Nachsorge; vgl. BVerfGE 102, 1 ff. zu den aus Art. 14 Abs. 1 GG folgenden Grenzen der Zustandshaftung des Eigentümers für die Grundstückssanierung bei Altlasten; ferner Papier (o. Fußn. 7), Art. 14 (2010) Rdnrn. 516 ff.; zur Haftung für fehlerhafte Bauleitplanung insbes. bei Altlasten W. Schrödter (o. Fußn. 14), § 2 Rdnrn 113 ff. m. w. N.

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IV. Schlussbemerkung Dem Verfasser dieses Beitrags ist bewusst, dass Hans-Jürgen Papier sich zum tradierten Grundsatz der „Baufreiheit“ bekannt und gegenüber neuen öffentlich-rechtlichen Formen der Bodennutzung, wie sie im „Münchener Gutachten“ 1977 vorgelegt worden sind, verfassungsrechtliche Bedenken geäußert hat45. Darin könnte zugleich eine Absage an die Idee eines Baurechts auf Zeit gesehen werden. Gleichwohl erschiene eine dahingehende Deutung vorschnell. Ein verallgemeinertes Baurecht auf Zeit, das über die engen Anwendungsvoraussetzungen und Wirkungsgrenzen des geltenden § 9 Abs. 2 BauGB hinausgeht, jedoch in der hier skizzierten Weise dosiert bleibt, stellt aus städtebaurechtlicher wie aus eigentumsdogmatischer Sicht nach wie vor eine beachtenswerte Option dar.

45 Papier (o. Fußn. 7), Art. 14 (2010) Rdnrn. 57 ff., 406 f.; speziell zum „Münchener Gutachten“ (o. Fußn. 8) Papier (o. Fußn. 7), Art. 14 (2010) Rdnr. 60.

Obiter Dicta Von Brun-Otto Bryde I. Das deutsche Verfassungsrecht als Präjudizienrecht Der Jubilar und der Verfasser haben nicht nur im Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts zusammen gearbeitet, sie sind auch beide aus der Wissenschaft an das Gericht gekommen. Seit Rudolf Smend im Festvortrag zum 10-jährigen Bestehen des Bundesverfassungsgerichts gesagt hat „Das GG gilt heute wie das Verfassungsgericht es auslegt“1, ist das Verhältnis von Staatsrechtslehre und Verfassungsrechtsprechung eng, aber ambivalent, gelegentlich auch gespannt. In der Festschrift zum 25-jährigen Jubiläum des Gerichts schrieb der Herausgeber Christian Starck zwar: „Verfassungsgerichtsbarkeit weist der Staatsrechtslehre einen Weg aus der gefährlichen Alternative, entweder die jeweilige Staatspraxis bloß zu kommentieren oder sich in spekulativen Konstruktionen zu verlieren.“2 Aber damit entstehen für die Wissenschaft neue Probleme, nämlich die Gefahr, dass sie sich darauf beschränkt, Verfassungsjudikatur zu kommentieren3, es wird sogar geschrieben, sie habe vor dem Verfassungsgericht abgedankt.4 Letzteres ist nun sehr übertrieben. Die Staatsrechtslehre hat in der Geschichte dem Verfassungsgericht oft vorgedacht.5 Die heute völlig gängige – und gelegentlich zu schematisch gehandhabte – Systematik der Grundrechtsprüfung (Schutzbereich/ Eingriff/Rechtfertigung) ist zum Beispiel nicht vom Gericht sondern von Pieroth/ Schlink entwickelt worden. Und die Wissenschaft verschont das Gericht auch nicht mit Kritik. Aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für die Staatsrechtslehre eine größere Maßgeblichkeit hat, als die Rechtsprechung anderer Höchstgerichte für andere Fächer. Das deutsche Verfassungsrecht ist im Grunde Präjudizienrecht geworden. Schon wegen der Letztverbindlichkeit der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts für die gesamte Rechts-

1

R. Smend, Festvortrag zur Feier des zehnjährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, in: Das Bundesverfassungsgericht 1951 – 1971, 1971, S. 15. 2 C. Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlaß des 25-jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, 1976, IS. V. 3 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 109. 4 B. Schlink, Die Enttrohnung der Staatsrechtswissenschaft, Der Staat (28) 1989, S. 161 ff. 5 Beispiele bei Bryde (o. Fußn. 3), S. 206 ff.

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ordnung wäre es ein juristischer Kunstfehler, diese Entscheidungen bei der eigenen Auslegungsarbeit zu übergehen. Es ist aber zweifelhaft, ob das deutsche Rechtssystem, das im Prinzip ja gerade kein Präjudizienrecht ist, sondern sich als Teil der kontinentalen Rechtstradition und damit als Alternative zum angelsächsischen common law versteht, sich auf diesen Tatbestand eingestellt hat. Möglicherweise rührt das immer wieder aufkommende Unbehagen der deutschen Staatsrechtslehre gegenüber dem Gericht auch daher, dass es seine – wichtige – Kontrollaufgabe6 gegenüber der Verfassungsjudikatur nicht an diesem grundlegenden Tatbestand ausrichtet. Die Aufgabe der Verfassungsinterpretation stellt sich heute anders als in den Frühzeiten der Bundesrepublik, als in der Tat neben dem Verfassungsgericht auch die Wissenschaft Grundlegendes zur Interpretation der neuen Verfassungsartikel zu sagen hatte. Es geht in der Regel nicht mehr um begriffliche Grundlagenarbeit. Die abstrakte Auslegung der Verfassungssätze ist inzwischen – durchaus in Zusammenarbeit von Judikative und Wissenschaft – in einem solchen Maß geklärt, dass man Verfassungsinterpretation gelegentlich fast langweilig nennen könnte. Das gilt insbesondere für die Grundrechtsdogmatik, die das Gericht zwar nicht allein sondern mit maßgeblicher Hilfe der Staatsrechtlehre entwickelt hat, aber für die es durch seine grundlegenden Entscheidungen – Elfes7, Lüth8 – die Richtung vorgegeben hat. Die gesamte Tendenz der deutschen Grundrechtsentwicklung geht dahin, den Grundrechtsschutz tatbestandlich so weit wie begrifflich möglich auszuweiten (freie Entfaltung der Persönlichkeit als allgemeine Handlungsfreiheit, Eigentum als Summe vermögenswerter Rechte, Beruf als jede wirtschaftliche Tätigkeit, Religionsausübung als das Recht, aus dem Glauben zu leben) – und zwar sowohl die Schutzbereiche wie die Schutzdimensionen. Korrespondierend – und schon deshalb zwingend, weil mit dieser Ausweitung auch Grundrechtskollisionen zunehmen – werden die Schranken ausgebaut, so dass die Lösung des Falles erst bei den Schranken-Schranken in der Abwägung gegenläufiger Belange, meist auf der Stufe der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, gefunden wird. Diese Struktur der Grundrechtsprüfung dürfte auch ein Grund sein, dass wir im ersten Senat in der Zeit unserer gemeinsamen Tätigkeit auch bei den wenigen nicht-einstimmigen Entscheidungen selten Sondervoten, wohl aber eine Bekanntgabe des Stimmergebnisses finden. Wenn der Senat sich in der Dogmatik einig ist und erst bei der Abwägung auf der letzten Stufe auseinanderdividiert, wäre ein Sondervotum nicht besonders interessant. Dass man bei der Frage, ob der Gesetzgeber etwas gerade noch durfte, oder nicht, und welche Belange bei der Abwägung 51 % oder 49 % wiegen, unterschiedlicher Meinung sein kann, ist durch die Bekanntgabe des Stimmergebnisses hinreichend dokumentiert. 6

Bryde (o. Fußn. 3), S. 351 ff. BVerfGE 6, 32. 8 BVerfGE 7, 198. 7

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Dieser Stand der Dogmatik des Verfassungsrechts hat Vorzüge und Nachteile, so dass eine Änderung immer auch Kosten verursachen würde. Das Überwiegen von Entscheidungen auf der Ebene der Abwägung bei der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne gibt dem Gericht einen großen Spielraum für seine Entscheidung im Einzelfall und das bereitet Unbehagen, aber Alternativen sind weder in der Staatsrechtslehre noch beim Bürger populär. Es besteht nämlich ein sehr breiter Konsens über die weiten Grundrechtsschutzbereiche, die in aller Regel keine diffizile Begriffsarbeit am Tatbestand verlangen, wie wir ihn aus anderen Rechtsgebieten kennen. Versuche, auch von Seiten des Gerichts, zu engeren Schutzbereichen zurück zu kehren9, stießen auf entschlossene Kritik.10 Es ist wahrscheinlicher, dass Doktoranden und Habilitanden zur Zeit an weiteren Ausweitungen der Schutzbereiche (Einbeziehung des Vermögens in Art. 14 GG? Aufgabe des Elements der Berufsbezogenheit in Art. 12 GG ?) arbeiten als an einer Reduzierung der Schutzbereiche.11 Genauso groß ist auch der Konsens über das Gewicht gegenläufiger Belange, die der Grundrechtsausübung Schranken setzen können. Abwägungen ließen sich auch von der Seite der Grundrechtsschranken her vermindern. Über der Freude an der Konstruktion von Grundrechtkollisionen wird fast übersehen, dass man nicht unbedingt konkurrierende Grundrechte braucht, um einem Grundrecht Schranken zu ziehen. Die meisten stehen unter Gesetzesvorbehalt, und wenn man diese Vorbehalte, und erst Recht die Regelungs- und Ausgestaltungserlaubnisse in Art. 12 GG und 14 GG einfach wörtlich nehmen, und dem Gesetzgeber jede Einschränkung bis an den Rand der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG erlauben würde, bedürfte es auch keiner Abwägung. Dafür könnte man sich wahrscheinlich sogar auf den Parlamentarischen Rat berufen. Der Preis wäre offensichtlich hoch und unpopulär. Er würde ein Leerlaufen der Grundrechte im Verhältnis zum Gesetzgeber gefährlich nahe legen. Mit der Erfindung des Verhältnismäßigkeitsprinzips hat das Bundesverfassungsgericht ein solches Leerlaufen verhindert – durch Spielräume für den Gesetzgeber bei Eignung und Erforderlichkeit in der Verhältnismäßigkeitsprüfung aber auch dem Gesetzgeber sein Recht zur Politik gelassen – genau damit aber den Weg in die Abwägung im Rahmen des verhältnismäßigen Ausgleichs konkurrierender Belange eröffnet. Und dann führt kein Weg an der Abwägung im Einzelfall vorbei. 9 BVerfGE 105, 252 (Glykol); 279 (Osho); W. Hoffmann-Riem, Enge oder weite Gewährleistungsgehalte der Grundrechte? in: Haben wir wirklich Recht?, 2004, S. 53 ff. 10 W. Kahl, Vom weiten Schutzbereich zum engen Gewährleistungsgehalt, Staat 43 (2004), S. 167 ff. mit Erwiderung von Hoffmann-Riem, ebendort, S. 203 ff. 11 Eine Ausnahme könnte Art. 4 GG sein: mit der religiösen Pluralisierung der Bundesrepublik nimmt die Bereitschaft zu einem weiten Religionsausübungsbegriff, wie ihn die Entscheidung zur Aktion Rumpelkammer (BVerfGE 24,236, 248) eingeführt hat, ab, wie man zuletzt an der unsäglichen Beschneidungsdebatte gesehen hat: dazu auch B.-O. Bryde, Der deutsche Islam wird sichtbar, in: FS Steiner, 2009, S. 111 ff.

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Das bedeutet, dass Entscheidungen des Gerichts häufig weniger in einer neuen Verfassungsauslegung als in der Abwägung im konkreten Fall begründet sind. Der kritische Umgang mit dem Bundesverfassungsgericht sollte sich daher auf die Bedingungen eines Präjudiziensystems einstellen. Entscheidungen gewinnen ihre Rationalität aus der Überzeugungskraft der Abwägungsentscheidung im konkreten Fall. In einem Rechtssystem, das explizit Fallrechtssystem ist, also dem common law, ist es wesentliche Aufgabe der Rechtswissenschaft, aus dem konkreten Fall verbindliche Aussagen zu gewinnen, diese aber auch mit Hilfe des konkreten Falls zu relativieren. Dass das deutsche Verfassungssystem sich auf diese Aufgabe unzureichend eingestellt hat, kann man an seinem Umgang mit obiter dicta sehen. II. Obiter Dicta Man kann sich bei der Bewertung von obiter dicta des Verfassungsgerichts für die Verfassung nicht mit der Feststellung begnügen, dass sie rechtlich unverbindlich sind. Denn das bedeutet nicht, dass sie verfassungsrechtlich unproblematisch wären. Schlüter geht in seiner grundlegenden Schrift zum Thema so weit, sie für eine Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips zu halten.12 Für das Bundesverfassungsgericht stellt sich dieses Problem wegen der faktischen Bedeutung aller seiner Äußerungen im politischen und Rechtssystem besonders eindringlich. Ein besonders gutes Beispiel für den Umgang mit obiter dicta in der Bundesrepublik ist die Diskussion der Entschädigung der Bundestagsabgeordneten seit dem Diätenurteil.13 Es ist nicht zweifelhaft, dass alle Äußerungen dieses Urteils bezogen auf den Bundestag obiter dicta sind. Ausgangspunkt des Diätenurteils war die auf Art. 3 GG gestützte Verfassungsbeschwerde eines ehemaligen (!) saarländischen Landtagsabgeordneten, der sich gegen die Behandlung von Angestellten öffentlicher Unternehmen wendet, nämlich einmal gegen eine Vorschrift, nach der ein Angestellter eines privatrechtlich organisierten öffentlichen Unternehmens seine Tätigkeit ruhen lassen muss. Zum andern gegen eine damit verbundene Entschädigungsregelung, nach der der Verdienstausfall bei der Besoldungsgruppe B 3 gedeckelt wird. Das Gericht wies die Beschwerde gegen die Ruhensvorschrift in einem Teilurteil zurück14 und führt aus, dass es die Entschädigungsfragen nur entscheiden kann, wenn es die gesamte Diätenregelung von Bund und Ländern in den Blick nimmt. Das ist nicht sehr überzeugend, denn die konkrete Frage hätte sich ohne weiteres mit der Hilfe von Art. 3 GG entscheiden lassen, wie Seuffert in seiner dissenting opinion nachweist.15

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W. Schlüter, Obiter Dictum, 1973, S. 9 ff., zusammenfassend S. 57 f. BVerfGE 40, 296. 14 BVerfGE 38, 326. 15 BVerfGE 40, 296, 330. 13

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Das Bundesverfassungsgericht hat dann bekanntlich eine Grundsatzentscheidung vor allem im Hinblick auf den Bundestag gefällt, die weit über den Streitgegenstand hinaus reicht, obwohl Art. 48 GG gar nicht Prüfungsmaßstab für die Verfassungsbeschwerde eines saarländischen Landtagsabgeordneten sein konnte. Genau das war das Ziel des Berichterstatters Geiger, dem insbesondere die Steuerfreiheit der Diäten ein Dorn im Auge war.16 Im Grunde ist das ganze Urteil obiter, das dazu noch im ungeeigneten Fall erging, dem eines ehemaligen Abgeordneten des kleinsten Flächenlandes, in dem das Abgeordnetenmandat kaum zwingend als Hauptberuf ausgestaltet sein muss. Dass, um die durchaus plausiblen Ausführungen zum Beruf des Parlamentariers auf Bundesebene machen zu können, prozesstaktisch der Umweg über die Landesparlamente nötig war, hatte für die Professionalisierung schon der landespolitischen Ebene und damit das politische System der Bundesrepublik durchaus zweifelhafte Folgen. Aber selbst wenn man die grundsätzlichen Ausführungen über die neue Sicht der Diäten als steuerpflichtige Vollalimentation noch für vom Streitgegenstand gedeckt hält, können die Äußerungen zur zukünftigen Ausgestaltung eines neuen Systems, das überhaupt noch nicht existiert, sondern erst geschaffen werden muss, nur obiter dicta sein. Fragen wie die Zulässigkeit von Zulagen für herausgehobene Parlamentspositionen17 oder der automatischen Anbindung der Entschädigung zum Beispiel an die Beamtenbesoldung,18 die dann in der Folgediskussion zentrale Bedeutung erlangten, waren nicht einmal indirekt Gegenstand des damaligen Verfahrens. Zu ihnen ist jedenfalls nach der Darstellung der Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten in den Gründen auch nicht vorgetragen worden, was die weitreichenden, kaum begründeten Aussagen zu diesen Punkten auch unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs problematisch macht. Aber seither werden diese Äußerungen in allen Auseinandersetzungen um die Entschädigung der Abgeordneten als Quasi-Verfassungsgebote behandelt. Jede Diskussion dieser Themen stößt umgehend auf das Verdikt der verfassungsrechtlichen Unzulässigkeit mit Verweis auf die entsprechenden obiter dicta des Diätenurteils. Dabei reicht die schlichte Verfassungswidrigkeit einigen Kommentatoren nicht aus. Da das Bundesverfassungsgericht seine Ausführungen im Fall eines Landtagsabgeordneten macht, konnte es nicht schlicht Art. 48 GG auslegen, sondern musste seine Ausführungen unmittelbar im Demokratieprinzip verankern, was dann in der Diskussion sogar Art. 79 Abs. 3 GG ins Spiel bringt. Auch das Gericht selbst steht wohl gelegentlich im Bann seiner ehemaligen dicta. Das wäre jedenfalls ein gute Erklärung für seine Entscheidung als thüringisches Ver-

16

W. Geiger, Der Abgeordnete und sein Beruf, ZParl 9 (1978), 522. BVerfGE 40, 296, 318. 18 BVerfGE 40, 296, 336.

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fassungsgericht zu den Zulagen für herausgehobene Parlamentspositionen19, da der gesamte Duktus der Entscheidung im Grunde auf ein Ergebnis auf der Grundlage der Parlamentsautonomie hinaus läuft,20 und am Ende dann doch ein Ergebnis steht, das im Wesentlichen der Kontinuität mit dem obiter dictum von 1975 verpflichtet ist. Nun kann man – und das wissen Jubilar wie Autor – davon ausgehen, dass die Senate sich alle ihre veröffentlichten Formulierungen gut überlegen, selbst die im Sachbericht und erst recht obiter dicta, die gelegentlich eine wichtige Funktion in der Kompromissfindung im Senat haben. Daher spricht zunächst einmal nichts dagegen, sie auch ernst zu nehmen. Weniger Bedeutung als zum Beispiel wissenschaftliche Lehrmeinungen oder der rechtsvergleichende Blick auf ausländische Gerichte haben sie nicht. Aber ihre Überzeugungskraft muss richtig eingeordnet werden. Sie haben eine sehr viel geringere Verfahrenslegitimität. Obiter dicta fehlt die wichtigste Richtigkeitsgewähr richterlicher Entscheidungen, die „Erprobung am Einzelfall“.21 Gerade das unterscheidet sie von der wissenschaftlichen Lehrmeinung (die dafür mutiger, konsequenter, innovativer sein kann). Die Entscheidung wird gewonnen in Konfrontation mit einem konkreten Fall, der einer gerechten Entscheidung zu zuführen ist. Dafür sind Kontext und Folgen einer Norm wichtig. Diese werden mit Hilfe der Parteien und der Vorinstanzen bei der Aufbereitung von Sach- und Rechtsmaterial geklärt. Das alles sind Sicherungen für „richtige“ Auslegung und Fortbildung des Rechts, die obiter dicta fehlen. Wegen des beschriebenen Standes der Verfassungsrechtsdogmatik, die dazu führt, dass entscheidend häufig die Abwägung im konkreten Fall ist, gilt das im de-facto Präjudizienrecht des deutschen Verfassungsrechts verstärkt. Es ist schon aus diesem Grunde bedenklich, wenn Politik und Rechtswissenschaft obiter dicta als verbindliche Vorgaben behandeln, obwohl sie keine mit der eigentlichen Entscheidung vergleichbare Richtigkeitsgewähr haben. Daneben ergeben sich auch Probleme des rechtlichen Gehörs, wenn das Gericht durch obiter dicta in die Belange von nicht Verfahrensbeteiligten eingreift, oder Fragen aufgreift, die überhaupt nicht Gegenstand einer intensiven Diskussion waren. Im verfassungsgerichtlichen Prozess ist diese Gefahr in der Praxis vielleicht geringer als in anderen Rechtsgebieten, da die Beteiligten ohnehin weit über den Streitstoff hinaus Stellung nehmen und durchaus auch versuchen, die Begründung zu beeinflussen. Verfassungsprozesse werden gelegentlich sogar eher mit dem Ziel von obiter dicta als einem Erfolg in der Sache geführt. Die Europarechtsprozesse seit Maastricht sind wohl in der Regel weniger in der Hoffnung angestrengt worden, dass das Gericht die angegriffenen Verträge zur Vertiefung der europäischen Integration tatsächlich verwirft, als im Bestreben, Aussagen des Gerichts zu erreichen, die Hürden für zukünftige Integrationsschritte aufbauen, die überhaupt noch nicht Gegenstand der Ver19

BVerfGE 102, 224. Ebenso U. Steiner, Gutachten für die Präsidentin des Bayerischen Landtags, Februar 2012. 21 Schlüter, Obiter Dictum (o. Fußn. 12), S. 29 ff. 20

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fahren waren – nicht ohne Erfolg. Ob das Gericht das ermutigen sollte, ist zweifelhaft. Dieses Beispiel weist zugleich auf das größte Bedenken gegen Verfassungspolitik mit Hilfe von obiter dicta. Obiter dicta werden nämlich nicht nur im Hinblick auf Sachverhalte eingesetzt, die bereits vorliegen, nur streng genommen nicht Gegenstand des konkreten Verfahrens sind.22 Oft treffen sie Aussagen über zukünftige, überhaupt noch nicht abgeschlossene Ereignisse, zum Beispiel zukünftige Gesetze oder Verträge. Damit geraten sie in Konflikt mit der fundamentalen Kompetenzverteilung zwischen Politik und Gericht. Es ist ein regelmäßiges Argument zur Verteidigung von Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, dass das Gericht nur tätig werden kann, wenn es zulässig angerufen worden ist (ne eat judex ex officio). Das Gericht hat zwar das letzte Wort, aber die Politik das erste. Wenn das Gericht obiter dicta zu Fragen macht, die ihm noch gar nicht vorgelegt sind, verlässt es diese reaktive Rolle. Zur Sicherung des gebotenen judicial restraint ist das Gericht nämlich eigentlich dem heilsamen Zwang ausgesetzt, über bereits Entschiedenes zu entscheiden, also zum Beispiel einen von allen europäischen Partnern beschlossenen Vertrag zu verwerfen. Das verlangt mehr verantwortungsvolle Zurückhaltung als Aussagen über Zukünftiges, die ähnlich „verantwortungslos“ ergehen können, wie wissenschaftliche und politische Äußerungen. Dieses Problem besteht allerdings nicht nur bei obiter dicta im technischen Sinne. Das Gericht hat auch unabhängig vom Einsatz von obiter dicta Möglichkeiten, durch den Aufbau der Prüfung mehr oder weniger weitreichende Aussagen über zukünftige Probleme zu machen. III. Folgerungen Die Antwort kann nicht sein, obiter dicta für verfassungswidrig zu erklären.23 Detaillierte Vorgaben für das Verfassen von Urteilen enthält das Grundgesetz nicht. Angesichts der Aufgabenstellung des Bundesverfassungsgerichts wird es häufig legitim sein, dass es über den Gegenstand hinausgreift und ihn in einen größeren Zusammenhang stellt. Die Lösung muss vielmehr in der Logik des Präjudizienrechts gefunden werden. Da die Urteile des Bundesverfassungsgerichts ihre Überzeugungskraft aus der Entscheidung im konkreten Fall gewinnen, die häufig eine Abwägungsentscheidung ist, sollten auch nicht – gelegentlich zu weit gefasste – abstrakte Rechtsaussagen und Leitsätze, sondern die konkrete Entscheidung Ausgangspunkt der Analyse nicht nur ihrer Verbindlichkeit für die Anwendung des § 31 BVerfGG, sondern darüber

22 In der Praxis zum Beispiel, um Parallelfälle, die bereits im Gericht anhängig sind, in der Kammer entscheiden zu können. 23 Wie Schlüter, Obiter Dictum (o. Fußn. 12), S. 51 f.

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hinaus für die Reichweite ihrer Maßgeblichkeit und Überzeugungskraft für die Verfassungsentwicklung sein. Dabei kann das Gericht helfen, indem es den Status von obiter dicta sprachlich klarstellt. Die richterliche Sprache stellt dafür vom ganz unproblematischen, offen-lassenden „kann dahingestellt bleiben“ über „es lässt sich sogar fragen“ bis zum recht deutlichen „erscheint bedenklich“ ein breites Arsenal zur Verfügung. Das geschieht nicht immer. Das absolute Gegenteil war der Anspruch des Gerichts im Grundvertragsurteil, obiter dicta zu tragenden Gründen und nach § 31 BVerfGG für verbindlich zu erklären.24 Und im Diätenurteil wurden Aussagen zu Art. 48 GG, der überhaupt nicht Prüfungsmaßstab war, zu Leitsätzen erhoben.25 Aber die Verantwortung dafür, dass obiter dicta nicht ein Status zugeschrieben wird, der ihnen nicht zukommt, liegt auch bei den Rezipienten, Wissenschaft und Politik. Die deutsche Staatsrechtlehre könnte in der Auseinadersetzung mit dem Fallrecht des Bundesverfassungsgerichts einiges von common law-Ländern lernen. Der common law Jurist übt sich darin, die Reichweite von Präjudizien eng zu halten.26 Es wäre ein erster Schritt, wenn wenigstens in den Fußnoten sorgfältiger gearbeitet würde, also eine Äußerung nicht mit einem schlichten „BVerfGE x,x“ belegt würde, sondern mit „so auch das BVerfG in einem obiter dictum“. Die generelle Tendenz in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Gericht geht aber eher in eine andere Richtung. Das Bundesverfassungsgericht ist keinem besonderen Druck zu judical restraint ausgesetzt, und daher ist es auch regelmäßig nicht das Bestreben der Wissenschaft, Entscheidungen auf ihren Kern zurück zu führen. Kritik am Bundesverfassungsgericht ist vielmehr immer dann besonders stark, wenn es Zurückhaltung gegenüber Politik oder Fachgerichten übt. Das gilt auch für zukünftige Fragen. Es ist wahrscheinlicher, dass die Richter als feige kritisiert werden, weil sie sich über die Zukunft ausschweigen, als wenn sie weitreichende Aussagen zu Fragen machen, die überhaupt noch nicht Verfahrensgegenstand sind. Daher ist es tendenziell auch weniger Ziel der Staatsrechtslehre die Präzedenzwirkung von Urteilen klein und eng am Streitgegenstand zu halten, sondern im Gegenteil ihre Reichweite auszuweiten und immer neue verfassungsrechtliche Restriktionen für die Politik zu behaupten. Auch die Politik könnte mehr Mut beweisen. Allerdings wird ihr das nicht leicht gemacht. Die Angst vor Niederlagen in Karlsruhe, die in der Öffentlichkeit gern als „Ohrfeigen“ charakterisiert werden, gibt interessengeleiteten Behauptungen von verfassungsrechtlichen Risiken ein unangemessenes Gewicht im Gesetzgebungsverfahren. Gerade darin liegt die problematische Wirkung von Äußerungen des Gerichts, die über den Fall hinaus wiesen. Diese wird potenziert, wenn die Mitglieder des Ge24

BVerfGE 36, 1 (36). BVerfGE 40, 296. 26 Weshalb englische Kollegen auch mit Entscheidungen des EGMR, die sie nicht überzeugen, unaufgeregter umgehen, als es das Görgülü-Urteil mit dem schweren Geschütz der staatlichen Souveränität tat. Vgl. dazu auch B.-O Bryde, FS R. Jäger, 2011, S. 65 ff. 25

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richts dann selbst in der Öffentlichkeit ihre Entscheidungen ausdeuten und aus obiter dicta (und weit gefassten Gründen) Aussagen über die Zulässigkeit zukünftiger politischer Schritte machen, und wenn politische Gremien sie förmlich einladen, ihnen gnädigst mitzuteilen, was sie in Zukunft tun und lassen dürfen, wie es in jüngster Zeit insbesondere in der Europapolitik geschehen ist. Damit werden die Verfassungsrichter von Richtern, die der Politik die Vorhand lassen und diese anschließend an der Verfassung messen, zu aktiven Akteuren im politischen Spiel. Ob das dem Gericht bekommt, ist zweifelhaft.

Grenzfälle des Eigentums Von Udo Di Fabio I. Der kritische Blick auf das Eigentum Gutes Recht bewährt sich im Grenzfall. An der Grenze lernt man das eigene Land klarer zu erkennen. Im Zuge der Weltfinanzkrise und der ungelösten europäischen Staatsschuldenkrise, wie auch vor dem Hintergrund einer konzeptionell nicht sauber durchdachten Energiewende, mehrt sich das Anschauungsmaterial. Den Stand der Eigentumsdogmatik kann man bei Hans-Jürgen Papiers Kommentierung im Maunz-Dürig1 nachschlagen und dort die Grundlage für die Beurteilung von Fallgruppen gewinnen, die entweder Grenzfälle darstellen oder als solche deklariert werden. Im Falle des Grundrechts auf Eigentum ist die dogmatische Grundlegung schon deshalb besonders wichtig, weil die Diskussion von Problemfällen nicht selten von tagespolitischen oder moralischen Vorprägungen beherrscht wird. Einen Eingriff in das Fernmeldegeheimnis durch Anzapfen von Telefonen finden nicht nur Mitglieder der organisierten Kriminalität bedenklich, sondern jeder Bürger schreckt auf. Wenn Steuern dagegen die Substanz von Wirtschaftsgütern verkürzen, wenn die Abgeltungssteuer Zinserträge unterhalb der Inflationsrate mit zumindest 25 % besteuert, lässt das die meisten schon wegen ihrer Freibeträge ebenso kalt, wie die Klage von Energieversorgungsunternehmen, die durch die Energiewende ihr Eigentum an Anlagen zur Stromerzeugung entwertet sehen. Zwar sind Deutschland und Europa heute ausgesprochene Wirtschaftsgesellschaften2, die einen überragenden Sinn in der Bewahrung und Mehrung des Wohlstandes sehen, aber im Umgang mit dem Recht auf Privateigentum ist man häufig relativierend und skrupulös, fast so als handele es sich um einen ungelegenen Gast an der Tafel der Grundrechte. Das hat tiefliegende Ursachen. II. Eigentum als Freiheitsrecht Das Eigentum war für die Väter der modernen Verfassungsstaatlichkeit, wie John Locke, Grundlage wie Konsequenz der persönlichen Freiheit, ein angeborenes Recht, kein kontraktuell oder gar staatlich erst verliehenes Recht. Wenn der Mensch als Person sich selbst gehört, so gehören ihm auch die Früchte seiner Arbeit, mit denen er sich die Grundlage eines selbstbestimmten Lebens schafft.3 Das Recht 1

H. Papier, in Maunz-Dürig, GG, Art. 14 (2010). U. Di Fabio, Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, 2001, S. 15 ff. 3 J. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Teil II, 5. Kapitel § 27.

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auf Eigentum ist deshalb – etwa wegen seiner Exklusionswirkung im Ausschluss anderer von der Nutzung einer Sache – kein von vornherein prekäres Grundrecht und auch keine bloße Akzidenz von substantielleren Freiheiten. Aber schon Locke war genötigt, gegen andere Auffassungen zu argumentieren, die Privateigentum als illegitimes, jedenfalls nach besonderen Grenzen rufendes, Herrschaftsmittel betrachteten. Die bei Locke naturrechtlich inspirierte Freiheit des Eigentums war nie unumstritten, weil schon das Christentum ein ambivalentes Verhältnis zum Eigentum hatte und durch die Heilige Schrift Gemeineigentum nahegelegt schien und das Neue Testament dem Reichtum gegenüber kritisch ausgelegt werden konnte: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.“4 Die Reformation schließlich war nicht zuletzt die Rebellion gegen eine Amtskirche, die Religion monetarisierte, die weltlichen Reichtum liebte und lebte.5 Im 19. Jahrhundert hat vor allem der Marxismus mit seiner quasireligiösen Ablehnung des Privateigentums an Produktionsmitteln soziale Kämpfe der industriellen Revolution beeinflusst und sich in den intellektuellen Gedächtnisschichten der Gegenwart abgelagert. Das Grundgesetz musste gegenüber politischen Forderungen nach Gemeineigentum noch Konzessionen machen, nicht nur im Blick auf Art. 15 GG, sondern auch in der (verglichen mit anderen Grundrechten) besonderen Betonung der Sozialbindung des Eigentums.6 Doch diese historischen Zusammenhänge sollte man für die Auslegung und Anwendung des Eigentumsgrundrechts nicht überschätzen. Dass der Gebrauch einer Freiheit auch verpflichtet, gilt für jedes Grundrecht, so dass man keinen minderen Rang der Freiheitsverbürgung des Eigentums aus der Betonung seiner Pflichtbindung lesen kann. Dementsprechend hat auch Art. 17 EU-GrCharta das Eigentum unter Konkretisierung des Schutzbereichs ohne sonderliche Pflichtbetonung geschützt, eben wie andere Grundrechte auch. Wenn der Gesetzgeber eine Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums vornimmt, so ist das nicht ein Mandat, den Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 14 GG nach eigener Maßstäblichkeit festzulegen, sondern ein Eingriff, der sich am verfassungsrechtlich ermittelten Schutzbereich zu rechtfertigen hat und der einer Verhältnismäßigkeitskontrolle unterliegt.7 Bei der Bestimmung des Schutzbereichs und bei der Ermittlung des Eingriffs und seiner Anforderungen ist jedoch einiges schwankend. Die Eigentumsdog-

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Markus 10, 25. Kaufmann weist darauf hin, dass die „dekadenztheoretische“ Behauptung vom Verfall der Kirche durch mordlüsterne, geldgierige und vergnügungssüchtige Kirchenvertreter zwar einen weit verbreiteten Eindruck aufgriff, aber auch apologetische Überzeichnung der Protestierenden war, Thomas Kaufmann, Geschichte der Reformation, 2009, S. 35 f. 6 Den Zusammenhang zwischen Recht und Pflicht, zwischen Freiheit und Verantwortung macht auch Art. 6 Abs. 2 GG für die Pflege und Erziehung der Kinder in der Familie textlich deutlich, übrigens ohne dass dadurch der Gewährleistungsumfang des elterlichen Sorge- und Erziehungsrechts geschmälert würde. 7 Papier (o. Fußn. 1) Rndr. 38. 5

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matik hat vor allem seit der Naßauskiesungsentscheidung8 viel Energie darauf verwendet, die Enteignung präzise zu fassen und dann als klassischen Güterbeschaffungsvorgang zu formalisieren9, nicht ohne gänzlich der Gefahr einer Erstarrung entgangen zu sein. Aber eigentlich hat das nur abgelenkt von den wichtigeren Fragen, wann der Gesetzgeber oder die Verwaltung in das Nutzungsrecht des Eigentümers unverhältnismäßig eingreifen und was Eigentum an Privatnützigkeit eigentlich schützt. III. Geld, Vermögen und Steuern 1. Konfiskation und Substanzbesteuerung Das Steuerrecht galt und gilt auch heute noch als vermintes Gelände im Hinblick auf den Schutzbereichs der Eigentumsgewährleistung. Die Auferlegung einer Geldleistungspflicht – so das bekannte Argument – könne schlecht als Enteignung der betreffenden Summe an Geldvermögen betrachtet werden, weil eine solche Sichtweise eine Entschädigungspflicht im Sinne des Art. 14 Abs. 3 GG auslösen würde10, weswegen das Vermögen gar kein Eigentum sei. Eine solche Sichtweise ist aber schon durch die Restriktion des Enteignungsbegriffs auf förmliche Güterbeschaffungsvorgänge überholt, darauf hat das BVerfG zu Recht hingewiesen11 und jedenfalls den Erwerb vermögenswerter Rechtspositionen dem Eigentumsschutz unterstellt.12 Solange man aber Furcht vor einem Steuerausfall durch Anwendung des Eigentumsgrundrechts hegte, sollte etwas anderes nur für den Grenzfall der „konfiskatorischen Steuer“ gelten.13 Mit seinem Vermögenssteuerbeschluss vom 22. 6. 1995 hatte indes der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts bereits deutlich gemacht, dass im staatlichen Vermögenszugriff nicht nur die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) betroffen ist, sondern ihre Ausprägung im vermögensrechtlichen Bereich 8 BVerfGE 58, 300; dazu Papier, Jus 1985, 184; ders., Entwicklung der Rechtsprechung zur Eigentumsgarantie des Art. 14 GG, NWVBL 1990, 397; siehe auch P. Badura, § 10 Eigentum, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HdbVerfR (Teil 1), 1995; J. Eschenbach, Der verfassungsrechtliche Schutz des Eigentums, 1996; A. Grochtmann, Art. 14 GG. Rechtsfragen der Eigentumsdogmatik, 2000; W. Leisner, § 149 Eigentum, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Band VI, 1989; C. Sellmann, Die eigentumsrechtliche Inhalts- und Schrankenbestimmung – Entwicklungstendenzen, NVwZ 2003, 1417. 9 Papier (o. Fußn. 8), 397 f. 10 E. Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, VVDStRL 12 (1954), S. 8 (32). 11 BVerfGE 115, 97 (111 f.). 12 BVerfGE 115, 97 (113). Ob eine Beschränkung des Eigentumsschutzes auf bestimmte Steuerarten überzeugend ist, darf bezweifelt werden (hier muss die Zuständigkeit der Senate beachtet werden). Siehe dazu Tonio Gas, Keine halben Sachen beim Halbteilungsgrundsatz, LKV 2006, 259, der die Abwendung des BVerfG vom Halbteilungsgrundsatz und insbesondere von der Wortlautargumentation bei Art.14 II 2 GG („zugleich“) begrüßt, jedoch die neu eingeführte Differenzierung nach Steuerarten für verfehlt hält. 13 BVerfGE 14, 221 (241); 63, 312 (327); 63, 343 (368); 67, 70 (88); 68, 287 (310 f.); 95, 267 (300).

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auch unter dem Schutz des Art. 14 GG stehe.14 Es hat nie eingeleuchtet, warum erst ab der Stufe der Konfiskation das Eigentumsgrundrecht betroffen sein soll: Denn Konfiskation ist streng genommen bereits Enteignung. Mit dem Vermögenssteuerbeschluss hat denn auch das Gericht für ein Vermögen einen Bestandsschutz angenommen, das in seinem Bestand sich aus Einkommen und Erträgen speist, also aus Quellen, die bereits der Versteuerung unterlagen. Wer aus seinem versteuerten Arbeitseinkommen ein halbes Leben lang ein Haus abbezahlt, ein Aktiendepot aufgebaut, eine Lebensversicherung angespart, ein Sparbuch gefüllt hat, der hat ein Vermögen, das nur in seinen Erträgen wiederum der Besteuerung unterliegen darf. Greift dagegen der Gesetzgeber in die Substanz des Vermögens (den Vermögensstamm) ein, etwa indem er eine prozentuale Abgabe vom Vermögenswert verlangt, so ist das in der Wirkung konfiskatorisch und grundsätzlich unerlaubt, weil übermäßig. Das angesparte und bereits durch die Teilung mit dem Fiskus in der Sozialbindung konkretisierte Vermögen als Grundlage eigener staatsfreier Existenzsicherung und freier Lebensgestaltung wird in diesen Konstellationen entzogen.15 Ob sich daran etwas ändert, wenn Notlagen und Grenzfälle der staatlichen Existenz eine Aufopferung der Vermögenden verlangen – so wie dies praktisch mit den Kriegsanleihen und der staatlich verursachten Hyperinflation des Mittelstandes von 1914 bis 1923 geschah –, wird heute wieder ansatzweise diskutiert16, sollte aber erst dann gelten, wenn tatsächlich die Grundlagen der sozialen Demokratie akut gefährdet sind. Aber jenseits dieser Endzeit-Rhetorik bleibt es dabei, dass die Besteuerung des privat gebildeten Vermögens immer einen Freiheitseingriff bedeutet, der die Unabhängigkeit des Einzelnen wie auch der Zivilgesellschaft schwächt, und deshalb im Gesamtsystem der Besteuerung besonders kritisch an Art. 14 GG und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gemessen werden muss.17 Geschützt von Art. 14 GG ist jedenfalls auf der Grundlage 14

BVerfGE 93, 121 (137). BVerfGE 93, 121 (137). In dieselbe Richtung kritisch Möstl, der systematisch neben Einkommen- und Umsatzsteuer keinen Platz für die Vermögensteuer sieht. Wenn steuerliche Leistungsfähigkeit bereits nach dem Wirklichkeitsmaßstab erfasst werde, könne die gleiche Leistungsfähigkeit nicht noch einmal nach einem Sollmaßstab besteuert werden. M. Möstl, Verfassungsrechtliche Grenze der Besteuerung. Dargestellt am Beispiel der Vermögensteuer, Veräußerungsgewinnbesteuerung und Abgeltungssteuer, DStR 2003, 720 (722). 16 Zu einer Wiedereinführung der Vermögenssteuer siehe etwa H. Häuselmann, Vermögenssteuer 2014?, DStR 2012, 1677. Allgemein zur Vermögensbesteuerung Möstl (o. Fußn. 15); H. Papier, Die Beeinträchtigungen der Eigentums- und Berufsfreiheit durch Steuern vom Einkommen und Vermögen, Der Staat 11 (1972), 483; P. Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, 1972, insbesondere S. 328 ff.; R. Wendt, Besteuerung und Eigentum, NJW 1980, 2111. 17 Allgemein dazu: Papier (o. Fußn. 16); ders., Besteuerung und Eigentum, DVBl. 1980, 787; P. Kirchhof, Besteuerung und Eigentum, VVDStrl 39 (1981), S. 213; H. v. Arnim, Besteuerung und Eigentum, VVDStrl 39 (1981), S. 286; H. Butzer, Freiheitsrechtliche Grenzen der Steuer- und Sozialabgabenlast, 1999, insb. S. 59 ff.; H.-G. Dederer, Halbteilungsgrundsatz – woher, wohin? StuW 2000, 91; G. Felix, Zur Diskussion um die steuerlich gemäßigte Belastungsobergrenze, NJW 1997, 304; P. Fischer, Der Halbteilungsgrundsatz in der Krise, FR 1999, 1292; K. Friauf, Eigentumsgarantie und Steuerrecht, DÖV 1980, 480; M. Jachmann, Sozialstaatliche Steuergesetzgebung im Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit und Frei15

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der gegenwärtigen Eigentumsdogmatik der Stamm des Vermögens ebenso wie der Bestand des Hinzuerworbenen: Das ist beim gewerblichen Gewinn der Zuwachs an bilanzierungsfähigen Wirtschaftsgütern, bei Arbeitnehmern sind es ihre Lohnoder Vergütungsansprüche, allgemein somit die Zugänge an geldwerten Gegenständen oder Rechten.18 2. Der Grenzfall des Übermaßes Mit Beschluss vom 18. Januar 2006 hat der Zweite Senat des BVerfG zu der Frage Stellung genommen, ob Art. 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 GG eine absolute Obergrenze in der Nähe der hälftigen Teilung für die Belastung mit Einkommen- und Gewerbesteuer bestimmt.19 Der umstrittene Halbteilungsgrundsatz wurde zwar nicht bestätigt, sondern als absolute Grenze aufgegeben20, aber dafür ein eigentumsrechtliches Prüfprogramm anhand des Übermaßverbots vorgezeichnet, das künftig fortentwickelt werden kann. Hier findet das Verbot der konfiskatorischen Steuer wieder Eingang in die Prüfung, weil Konfiskation zugleich die Überschreitung der Zumutbarkeitsgrenze bedeutet. Aber auch jenseits dessen konzediert die neue Rechtsprechung, dass „Obergrenzen“ für eine Steuerbelastung bestehen.21 Wenn mit einem verfassungsrechtlich erlaubten, aber nicht etwa gebotenen progressiven Tarifverlauf hohe Einkommen mit stark nivellierender Umverteilungswirkung besteuert würden, so müsste im Vergleich mit anderen Einkommensgruppen auch bei der am höchsten besteuerten Gruppe so viel vom Erworbenen bleiben, dass der wirtschaftlich größere Erfolg auch angemessen erhalten und ein dem Leistungsabstand angemessenes privatnütziges Einkommen bliebe.22 heit: Belastungsgrenzen im Steuersystem, StuW 1996, 97; F. Kirchhof, Der Weg zur verfassungsgerechten Besteuerung, StuW 2002, 185; W. Rüfner, Die Eigentumsgarantie als Grenze der Besteuerung, DVBl. 1970, 881; Schmidt-Bleibtreu/Schäfer, Besteuerung und Eigentum, DÖV 1980, 489; W.-R. Schenke, Besteuerung und Eigentumsgarantie, in FS Armbruster, 1976, S. 177; R. Seer, Der sog. Halbteilungsgrundsatz als verfassungsrechtliche Belastungsobergrenze, FR 1999, 1280; Selmer (o. Fußn. 16), insbesondere S. 320 ff.; M. Elicker, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Besteuerung, DVBl 2006, 480; W. Leisner, Steuer- und Eigentumswende die Einheitswertbeschlüsse des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1995, 2591; J. Lang, Steuergerechtigkeit durch Steuervereinfachung, in: FS Meyding, 1994, S. 33 (43 f.). 18 BVerfGE 115, 97 (112). 19 BVerfGE 115, 97. 20 BVerfGE 115, 97 (114). Siehe dazu H. Papier, Steuerrecht im Wandel – verfassungsrechtliche Grenzen der Steuerpolitik, DStR 2007, 973 (974); Gas (o. Fußn. 12); W. Frenz, Die Verhältnismäßigkeit von Steuern, GewArch 2006, 282; H.-J. Pezzer, Der Halbteilungsgrundsatz ist tot – na und? Der Betrieb 2006, 912; U. Sacksofsky, Halbteilungsgrundsatz ade – Scheiden tut nicht weh, NVwZ 2006, 661; R. Wernsmann, Die Steuer als Eigentumsbeeinträchtigung? NJW 2006, 1169; J. Wieland, Verfassungsrechtliche Grenzen der Besteuerung, Die Steuerberatung 2006, 573. 21 BVerfGE 115, 97 (115). 22 BVerfGE 115, 97 (117). Kritisch Frenz (o. Fußn. 20), 283, der darauf aufmerksam macht, dass dem Steuerzahler eine Beanstandung der steuerlichen Verwendungszwecke und damit der Einwand mangelnder Erforderlichkeit verwehrt bleibe, so dass die Gefahr bestehe,

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IV. Eigentum und Geldwertstabilität Wenn geldwerte Positionen eigentumsrechtlich geschützt sind, kann sich die Frage stellen, ob die öffentliche Gewalt in das Eigentum der Bürger eingreift, wenn sie die Geldwertstabilität durch Tun oder Unterlassen beeinträchtigt.23 HansJürgen Papier hatte bereits 1973, als Inflationstendenzen sichtbar wurden, den Tauschwert des Geldes für eigentumsrechtlich zentral und somit vom Schutz des Art. 14 GG umfasst betrachtet – worin sonst soll in Ermangelung eines Nutzwertes für Papierwährung der Schutz liegen?24 Diese Frage wird heute durch die Überschuldung vieler europäischer Staaten zu einem großen Thema. Die politische Verlockung ist groß, die EZB in die vertraglich untersagte monetäre Staatsfinanzierung hineinzuziehen und damit über kurz oder lang erhebliche Risiken für die Währungs- und Preisstabilität in Kauf zu nehmen.25 Mit dem Maastricht-Urteil hatte das BVerfG auf entsprechende Bedenken der Beschwerdeführer entgegnet, der Beitritt zur Währungsunion sei demokratisch und (implizit) im Hinblick auf die Eigentumsgewährleistung verantwortbar, weil es Stabilitätssicherungen im Vertrag von Maastricht gebe und die Unabhängigkeit der EZB gewährleistet sei. Angesichts der zwischenzeitlichen Entwicklung lesen sich einige Passagen aus dem Jahr 1993 allerdings beklemmend. „Art. 104 EGV verbietet auch den nationalen Zentralbanken öffentlichen Stellen oder öffentlichen Unternehmen der Mitgliedstaaten Überziehungs- oder andere Kreditfazilitäten einzuräumen oder Schuldtitel unmittelbar von Ihnen zu erwerben (…) Art. 104 b EGV schließt die Übernahme von und den Eintritt für Verbindlichkeiten öffentlicher Stellen oder öffentlicher Unternehmen eines Mitgliedstaates durch die Gemeinschaft oder einen anderen Mitgliedstaat aus, so dass ein Mitgliedstaat die Folgen unseriöser Finanzpolitik nicht einfach abwälzen kann (…) Diese Konzeption der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft ist Grundlage und Gegenstand des deutschen Zustimmungsgesetzes. Sollte die Währungsunion die bei Eintritt in die dritte Stufe vorhandene Stabilität nicht kontinuierlich im Sinne des vereinbarten Stabilisierungsauftrags fortentwickeln können, so würde sie die vertragliche Konzeption verlassen.“26

dass der Staat einfach nur so viele Aufgaben und damit Ausgaben festlegen muss, um auch eine sehr hohe Besteuerung rechtfertigen zu können. Bei einer im internationalen Vergleich bedrohlich starken Belastung der Steuerpflichtigen müsse der Staat dies zwar besonders darlegen, per se ausgeschlossen ist die Angemessenheit der Steuerlast indes nicht; die Grenze der Steuerlast bleibe somit unkonturiert. Siehe dazu auch H. Butzer, Der Halbteilungsgrundsatz und seine Ableitung aus dem Grundgesetz, StuW 1999, 227; Wieland (o. Fußn. 20), 576; Sacksofsky (o. Fußn. 20); J. Lang, Wider Halbteilungsgrundsatz und BVerfG, NJW 2000, 457 – 460. Pezzer hält die Eigentumsgarantie durch die Abschaffung des Halbteilungsgrundsatzes 2006 für gestärkt, da dieser ohnehin nicht justiziabel gewesen sei, Pezzer (o. Fußn. 20). 23 Dazu bereits Papier (o. Fußn. 16). 24 Papier (o. Fußn. 16), 529 ff.; ders. (o. Fußn. 1) Rdnr.183 f. 25 Siehe insoweit H.-W. Sinn, Die Target-Falle, 2012, insbesondere S. 193 ff. 26 BVerfGE 89, 155 (205).

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Paul Kirchhof hat hierzu angemerkt, dass nur dieses Verständnis der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft der Eigentumsgarantie gerecht würde, die bei ausgleichspflichtigen Inhaltsbestimmungen und Enteignungen Entschädigung gewährt und damit selbst bei weichendem Eigentumsbestand ein Verbleiben von dessen Kaufkraft sichert. Denn: Kerninhalt des Geldeigentums sei die Gewährleistung zukünftiger Kaufkraft im Einlösungsvertrauen gegenüber einer diese Kaufkraft abstützenden Rechts- und Wirtschaftsgemeinschaft. „Wird dem Geld die rechtliche Grundlage seiner Stabilität genommen, so wird das Geldeigentum in seiner Substanz ausgehöhlt. Das Geld ist nur noch eine leere Hülse ohne materiellen – existenzsichernden und freiheitstützenden – Gehalt.“27 Heute wird manches diskutiert, was noch vor einigen Jahren empört zurückgewiesen worden wäre. Eine dosierte Geldentwertung beispielsweise und ein Rückgang der Kapitalerträge durch Flutung billigen Zentralbankgeldes könnte helfen die Refinanzierungsprobleme der Staaten zu mildern, beginnt aber bereits gegenwärtig, das angesparte Vermögen des Mittelstandes zu dezimieren. Staatlich gezielt herbeigeführte Inflation wird jedenfalls nicht mehr in die Kategorie „Schauergeschichten“ abgeheftet, sondern auch eigentumsrechtlich diskutiert.28 Das Bundesverfassungsgericht hat bislang die Grundrechtsrüge nach Art. 14 GG bei der Überprüfung der Griechenlandhilfe und der „Rettungsschirme“ auf Grund von Substantiierungsmängeln nicht zugelassen29, aber jedenfalls implizit deutlich gemacht, dass eine (finale oder mit dolus eventualis) herbeigeführte Inflationspolitik jedenfalls bei einem gewissen Ausmaß und bei einiger Evidenz auch im europäischen Kontext gestützt auf Art. 14 GG rügefähig wäre.30 Art. 88 Satz 2 GG31 steht 27

P. Kirchhof, Das Geldeigentum, in: FS Leisner, 1999, S. 635 (655). Elicker/Heintz, Staatsschuldenkrise, Geldentwertung, Grundgesetz: Gibt es einen Grundrechtsschutz gegen staatlich herbeigeführte Inflation? ZRP 2012, 59; H.-W. Forkel, Staatsschuldenkrise, Geldentwertung, Grundgesetz: Gibt es einen Grundrechtsschutz gegen staatlich herbeigeführte Inflation? ZRP 2011, 140. 29 BVerfGE 129, 124 (173 f.). Siehe allgemein zur verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Maßnahmen im Rahmen der Währungsunion: L. Knopp, Griechenland-Nothilfe auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand, NJW 2010, 1777 (1781); ders., Eurozone in der Dauerkrise – Deutschlands Weg in den Staatsbankrott, NJW 2011, 1480 (1484); Kröger/Gas, Das Grundrecht auf Preisstabilität nach Art.14 Abs.1 GG – Unter Berücksichtigung der EuroEntscheidung, VersR 1998, 1338; G. Meier, Die Europäische Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft und das Grundgesetz, NJW 1996, 1027; M. Pagenkopf, Schirmt das BVerfG vor Rettungsschirmen? NVwZ 2011, 1473 (1475); Papier (o. Fußn. 16); M. Ruffert, Verfassungsrechtliche Überlegungen zur Finanzmarktkrise, NJW 2009, 2093 (2093); ders., Die Europäische Schuldenkrise vor dem Bundesverfassungsgericht, EuR 2011, 842 (846); Zuck/ Lenz, Warum die Verfassungsbeschwerde gegen den Euro scheitern wird, NJW 1998, 1119. 30 Siehe dazu Pagenkopf, der dem BVerfG ein Ausblenden des Artikel 14 und damit verbunden eine Verdrängung der Gefahren für den Realwert des Geldes vorwirft, Pagenkopf (o. Fußn. 29), 1476. Er erinnert daran, dass durch den Maastricht-Vertrag die Garantie des Geldwertes, die zuvor die Bundesbank leistete, von Rechts wegen (nicht nur aus politischen Gründen) durch die EZB übernommen wurde. Ob tatsächlich eine Entwicklung der EZB zu diagnostizieren ist, die sich mittlerweile „vom Garant der Preisstabilität zum Agenten der 28

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in einer so dichten Beziehung nicht nur zu Art. 38 GG, sondern auch zu Art. 14 GG, dass die Rüge eigentumsgrundrechtlich zulässig ist, die EZB würde sich bei der monetären Staatsfinanzierung ultra vires verhalten und deshalb wegen Überschreitung der verfassungsrechtlichen Ermächtigung die Fortsetzung der Beteiligung Deutschlands an der Währungsunion in Frage stellen. Ein Grenzfall gewiss – aber einer der deutlich macht, dass die breiten Gräben zwischen Staatsorganisationsrecht und Grundrechten, zwischen Unionsrecht und Verfassungsrecht so nicht mehr bestehen. Die Welten rücken näher aneinander, das große Rad der europäischen Rettungsaktionen bringt das Schicksal des solide und eigenverantwortlich handelnden Bürgers in Bewegung. Die Rechtsschutzgarantie muss deshalb auch das große Räderwerk erreichen können, sonst wird der tragende Gedanke einer freiheitlichen Verfassung Makulatur, wonach bei jedem noch so imposanten politischem Gebäude der Einzelne im Mittelpunkt der Rechtsordnung stehe und für ihn jede öffentliche Gewalt, auch die intergouvernemental oder supranational organisierte, erreichbar bleiben müsse. V. Anlagen zur Elektrizitätserzeugung als Eigentum Verglichen mit der europäischen Staatsschuldenkrise kommt einem die Energiewende schon fast wie eine Quisquilie vor. Aber auch hier regiert der eigentumsrechtliche Grenzfall. Es dürfte unbestritten sein, dass der demokratische Gesetzgeber entscheiden kann, die Versorgung mit Elektrizität durch kerntechnische Anlagen zuzulassen oder zu verbieten. Insofern ist der Atomausstieg auf gesetzlicher Grundlage ebenso legitim wie es der Einstieg in die Kernenergiewirtschaft war.32 Wenn der Finanzpolitik“ entwickelt habe, Pagenkopf (o. Fußn. 29), 1477 f., dürfte einer gründlicheren Analyse vorbehalten sein. Siehe auch Ruffert (o. Fußn. 29), der die bereits prozessual erfolgende Ablehnung der Beschwerdebefugnis durch das BVerfG hinsichtlich einer potentiellen Eigentumsverletzung problematisiert. Die so nur selten durchführbare Kontrolle der Wirkung politischer Maßnahmen auf die Geldwertstabilität sei recht unbefriedigend im Vergleich zu den umfassenden Möglichkeiten der Rechtsmittel, die etwa gegen Verwaltungsakte möglich seien. 31 Zur Auslegung von Art. 88 Satz 2 GG: M. Herdegen, in: Maunz-Dürig, GG, Artikel 88 Rdnr. 40; D. Janzen, Der neue Artikel 88 Satz 2 des Grundgesetzes, 1996; I. Pernice, in: Dreier (Hrsg.), GG, 2008, Artikel 88 Rdnr. 35. Siehe auch J. Endler, Europäische Zentralbank und Preisstabilität, 1998; C. Gaitanides, Das Recht der Europäischen Zentralbank, 2005; U. Häde, Der verfassungsrechtliche Schutz des Geldwertes, WM 2008, 1717; C. Herrmann, Währungshoheit, Währungsverfassung und subjektive Rechte, 2010, insbesondere S. 338 ff.; O. Issing, Unabhängigkeit der Notenbank und Geldwertstabilität, 1993; Kirchhof (o. Fußn. 27); T. Weikert, Geldwert und Eigentumsgarantie, 1993. 32 Allgemein zum (ersten) Atomausstieg: E. Denninger, Verfassungsrechtliche Fragen des Ausstiegs aus der Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung, 2000; U. Di Fabio, Der Ausstieg aus der wirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie, 1999; H.-J. Koch, Der Atomausstieg und der verfassungsrechtliche Schutz des Eigentums, NJW 2000, 1529; Koch/Roßnagel, Neue Energiepolitik und Ausstieg aus der Kernenergie, NVwZ 2000, 1; A. v. Komorowski, Rechtsfragen des Atomausstiegs, Jura 2001, 17; K. Lange, Rechtliche Aspekte eines „Ausstiegs aus der Kernenergie“, NJW 1986, 2459; C. Langenfeld, Die rechtlichen Rahmenbedingungen für einen Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie, DÖV 2000,

Grenzfälle des Eigentums

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Staat aber Anlagen auf ihre Sicherheit überprüft und genehmigt, bedeutet die spätere Vorgabe von fixen Abschaltzeitpunkten oder die Zubilligung von Reststrommengen für (sichere) kerntechnische Anlagen einen Entzug von vermögenswerten Positionen, weil die Nutzung des Eigentums an der Anlage verkürzt wird. Ob das eine Enteignung ist33 oder eine Inhalts- und Schrankenbestimmung, kann diskutiert werden, aber eine Entschädigungspflicht kommt auch bei der Ablehnung des Falles von Art. 14 Abs. 3 GG in Betracht. Hier ist nicht der Ort, das im Näheren zu untersuchen, aber bemerkenswert ist die politische und rechtliche Argumentation, die Anlagen könnten schon deshalb entschädigungslos stillgelegt werden, weil sie sich längst „amortisiert“ hätten und ein angemessener Gewinn erzielt sei. Hier wird vorgeschlagen, zumindest bei der Feststellung der Verhältnismäßigkeit einer Inhalts- und Schrankenbestimmung, eine Ausgleichpflicht abzulehnen, wenn bereits eine „Amortisation der in den Nutzungsgegenstand getätigten Investitionen erfolgt ist“.34 Mit dieser Überlegung wird die Eigentumsgarantie in die Vertrauensdogmatik eingewoben, denn der Betreiber musste damit rechnen, dass die vorbehaltslose Anlagen- und Betriebsgenehmigung unter dem Vorbehalt der Beendigung der Kernenergie stand und im Hinblick auf das betätigte Vertrauen ist es natürlich dann von Bedeutung, ob der Aufwand mit Gewinn bereits wieder erwirtschaftet ist. Politisch leuchtet diese Argumentation vielen ein, die unter hohen Strompreisen leiden und den Inhabern ehemaliger Gebiets- und Versorgungsmonopole ohnehin mit einer gehörigen Portion Misstrauen gegenüberstehen. Solche emotionalen Grundierungen sollten aber nicht die kritische Aufmerksamkeit dafür trüben, dass der Eigentumsgarantie solche Abwägungen einigermaßen fremd sind, denn der Substanzschutz des Eigentums ist etwas ganz anderes als bloßer Vertrauensschutz. Niemand würde bislang auf die Idee kommen, ein Mehrfamilienmietshaus nach vierzig Jahren per Gesetz vom Eigentümer auf die Mieter entschädigungslos zu übertragen, weil sich für den Eigentümer das Haus längst amortisiert habe und er angesichts des sozialen Mietrechts mit einer solchen Entwicklung immer rechnen musste. Im Grunde schlagen im Energiewirtschaftsrecht, veranlasst durch die Energiewende, allen Liberalisierungen und Deregulierungen zum Trotz aus Sicht des Staates längst Bewirtschaftungszwänge durch, die Inpflichtnahmen Privater mehr und mehr in den Vordergrund rücken. Beispielsweise bei der Vorhaltung von konventionellen Kraftwerken, die aufgrund der hohen Einspeisung an erneuerbarer Energie nicht 929; F. Ossenbühl, AöR 124 (1999), 1; M. Schmidt-Preuß, Atomausstieg und Eigentum, NJW 2000, 1524; Stüer/Loges, Ausstieg aus der Atomenergie zum Nulltarif?, NVwZ 2000, 9; H. Wagner, Atomkompromiss und Ausstiegsgesetz, NVwZ 2001, 1089. 33 Dazu F. Ossenbühl, Eigentumsschutz von Reststrommengen beim Atomausstieg, DÖV 2012, 697; ders., Verfassungsrechtliche Fragen eines beschleunigten Ausstiegs aus der Kernenergie, 2012, Bruch/Greve, Atomausstieg 2011 als Verletzung der Grundrechte der Kernkraftwerksbetreiber? DÖV 2011, 794; W. Ewer, Der neuerliche Ausstieg aus der Kernenergie – verfassungskonform und entschädigungsfrei?, NVwZ 2011, 1035 (1037); Sellner/Fellenberg, Atomausstieg und Energiewende 2011 – das Gesetzespaket im Überblick, NVwZ 2011, 1025; S. de Witt, Ist der Atomausstieg 2011 mit Art. 14 GG vereinbar?, UPR 2012, 281. 34 Ewer (o. Fußn. 33), 1037 f.

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mehr rentabel zu betreiben sind, aber für Bedarfslagen in Reserve stehen müssen. Bei solchen mit der Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG) geplanten Abschaltverboten ist ein finanzieller Ausgleich für die Indienstnahme rechtsstaatlich und gemessen an Art. 14 GG unvermeidlich, auch hier kann der Gedanke der Amortisation nichts beitragen. Man darf gespannt sein, welche weiteren Handlungszwänge aus dem ständigen Justieren der Energiewende wachsen. VI. Ausblick Die Eigentumsdogmatik ist durch vorgebliche und echte Grenzfälle gefordert. Sie ist gefordert als eine Grundrechtsinterpretation, die den hohen Rang der Eigentumsgewährleistung nicht allein aus der textlich betonten Sozialbindung schließt, sondern in der Idee der wirtschaftlichen Selbstbestimmung des Einzelnen wie der Gesellschaft findet, sich zuerst jenseits politischer Regelungsmacht zu entfalten. Das Gesetz macht die Sozialbindung sichtbar, muss aber den Freiheitsgehalt und die Privatnützigkeit des Eigentums als Grenze respektieren, auch im Grenzfall. Dies hat HansJürgen Papier unbeirrt seit Jahrzehnten in luzider und ausgewogener Weise wissenschaftlich und als Richter vertreten.

Erbrecht und juristische Person Von Paul Kirchhof I. Erbrechtliche Erneuerung und gesellschaftsrechtliche Verstetigung Hans-Jürgen Papier hat in einer Grundsatzkommentierung1 die verfassungsrechtliche Bedeutung des Erbrechts als Individualgrundrecht und als Rechtsinstitut wissenschaftlich erschlossen. Das Erbrecht verstetige das Eigentum in privater Hand, lasse es mit dem Tode des bisherigen Eigentümers nicht als Grundlage eigenverantwortlicher Lebensgestaltung untergehen. Der Freiheit des Erblassers zu vererben, entspreche das Recht des Erben, die Erbschaft anzutreten. In beiden Freiheitsrechten wirken der freie Wille und dessen gesetzliche Ausgestaltung zusammen. Schon in jungen Jahren, 1976, hat Hans-Jürgen Papier sich in seinem Referat bei der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer2 dem Thema gewidmet „Unternehmen und Unternehmer in der verfassungsrechtlichen Ordnung der Wirtschaft“. Er stellt die Frage, ob die überwiegend als Kapitalgesellschaften organisierten Großunternehmen die Steuerungskraft der verfassungsrechtlichen Garantien des Privateigentums, der Berufsfreiheit und der Vereinigungsfreiheit schwächen, weil die Unternehmerfunktionen sich vom Eigentum gelöst haben, die Unternehmen in einen „quasi-öffentlichen“ Status hineingewachsen sind. Vielleicht könnten die sozialen Personenverbände überhaupt nicht mehr den Objekten einer Eigentumsordnung zugerechnet werden. Papier entwickelt dann ein System der Wirtschaftsfreiheiten, die unter den Bedingungen von Weltmarkt und moderner Technik oft nur zusammen mit anderen Grundrechtsträgern wahrgenommen werden können und für eine „interessenpluralistische“ Unternehmensverfassung zugänglich sind. Mitträgerschaft und Mitbestimmung anderer müssten aber immer in die Unternehmensverantwortlichkeit eingebunden sein. Diese beiden für die Wirtschaftsfreiheiten und die Marktordnung systemprägenden Prinzipien von Erbrecht und Kapitalgesellschaft begegnen sich in gegenläufigen Wirkungen. Das Erbrecht erneuert in jedem Erbfall die Eigentümerfreiheit über die Erbmasse in der Lebenssicht, Lebenserfahrung und Zielsetzung des Erben. Die Wahrnehmung der Eigentümerfreiheit durch den Erblasser wird nunmehr durch die Freiheitsentscheidungen des Erben ersetzt und neu ausgerichtet. Diese stetige Erneuerung der Eigentümerfreiheit in der erbrechtlichen Gesamtrechtsnachfolge ent1 2

H.-J. Papier, in: Maunz-Dürig, GG, Art. 14 (2010) Rdnr. 295 f. VVDStRL 35 (1976), S. 55 f.

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fällt, wenn eine juristische Person die Wahrnehmung der Unternehmerfreiheit in dem entindividualisierten Rechtssubjekt verstetigt und dem Erbfall entzieht. Der Mensch stirbt, die juristische Person stirbt nicht. Zwar werden die Beteiligungsrechte an der juristischen Person, die dort verbrieften Ansprüche auf Wertsteigerung und Ertragsbeteiligung, auch unter natürlichen Personen vererbt. Die Unternehmenssatzung, der Unternehmenszweck und das in der juristischen Person entwickelte Erwerbskonzept prägen aber die Wahrnehmung der unternehmerischen Freiheit, die kontinuierlich denselben Unternehmensprinzipien folgt. Die erbrechtliche Freiheitsnachfolge eines Unternehmers erneuert die Wahrnehmung der Eigentümerfreiheit. Die Stetigkeit eines Unternehmens bewahrt Hergebrachtes. Ein Betrieb dient der Gewinnsteigerung für Vorstand, leitende Angestellte und Kapitalgeber. Der Erbfall stellt das Eigentum natürlicher Personen immer wieder in eine neue Lebenssituation des Erben, ordnet ihn einem anderen Berechtigtenkreis zu, widmet den Betrieb neuen Zielen, wird in der Jugendlichkeit der Erben neu gedacht und neu bewertet. Das Erbrecht unter natürlichen Personen ist auf den Neuanfang angelegt, die konzeptionelle Verstetigung der juristischen Person auf gleichbleibende Handlungsziele und Handlungsmethoden. Der damit aufgeworfenen Frage nach Nachhaltigkeit und Erneuerung, Kollektiv und Individualität, Haftungsbeschränkung und persönlicher Einstandsbereitschaft veranlassen einige Grundsatzüberlegungen, die ich Hans-Jürgen Papier zu seinem Geburtstag widmen möchte. II. Notwendigkeit und Einseitigkeit juristischer Personen Unsere wirtschaftliche Arbeitsteilung braucht Großbetriebe, in denen sich mehrere Personen zusammenschließen, um gemeinsam ihrem Erwerb nachzugehen.3 Die Kapitalgesellschaft bündelt das Kapital einer unbegrenzten, oft wachsenden Anzahl von Menschen, beschäftigt Arbeitnehmer, deren Spezialisierung die Verlässlichkeit und den Erfolg der Arbeit steigert, entwickelt eine Arbeits- und Organisationskraft, die den Anforderungen von Weltmarkt und Technik genügen. Insbesondere Unternehmen des Verkehrs, der Telekommunikation, der Massenproduktion und des Finanzmarktes wären ohne diese Struktur der Großunternehmen nicht möglich. Der Bau einer großen Eisenbahnlinie, die Produktion von Autos, das Fördern von Öl, der Ausbau eines Telefonnetzes, die Begründung von Fluglinien und weltweit tätige Produktions- und Handelsbetriebe brauchen die Kapitalgesellschaft. Der handelnde Mensch erzielt in diesen Organisationen Erfolge, die er allein niemals erreichen würde. Das Unternehmen verselbstständigt eine Erwerbseinheit, macht sie von den Firmengründern unabhängig, verstetigt sie in der Generationenfolge.

3

Vgl. hierzu und zum Folgenden P. Kirchhof, Das Gesetz der Hydra, 2006 S. 244 f.

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Dennoch war die Kapitalgesellschaft in ihrer Existenz und ihrer Ausgestaltung häufig in Frage gestellt.4 Im 18. Jahrhundert waren Kapitalgesellschaften in England verboten.5 Eine Firmenorganisation, die Unternehmenseigentum und Unternehmensleitung voneinander trenne, der Unternehmensleitung die Verwaltung des Geldes anderer Menschen anvertraue, öffne den Weg in die Nachlässigkeit und Verschwendung, in Korruption und Skandal. Die Haftungsbeschränkung auf die juristische Person erschien fragwürdig, weil der Geschäftsführer der juristischen Person unbeschränkte Gewinnchancen gewinne, ohne das Risiko des Verlustes selbst tragen zu müssen. Die Kapitalgesellschaft ohne Fleisch und Blut verlöre an Verständnis und Mitgefühl für Menschen, auch an Begegnungsfähigkeit, je mehr sie allein der Auftrag verpflichte, für ihre Aktionäre Gewinne zu machen. Ein Manager, der soziale Verantwortung für das Wohlergehen seiner Arbeitnehmer zu seinem Hauptziel erklärt, seine Produkte für seine Kunden planmäßig verbilligt, vorrangig für Umweltschutz oder Entwicklungshilfe arbeitet, würde entlassen. In Frankreich stellte Mitte des 18. Jahrhunderts eine Fundamentalkritik am Körperschaftswesen jede Kollektivvereinigung neben dem Staat in Frage, weil sie den allgemeinen Willen verfälsche.6 Walter Eucken sprach sich noch 1950 gegen eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung aus.7 Die Haftungsbeschränkung führe ähnlich wie eine Monopolstellung zu einer mit dem Gemeinwohl im Konflikt stehenden Veränderung der Spielregeln, durch die zum einen der Wirtschaftsprozess der Verkehrswirtschaft nicht mehr voll funktioniere, zugleich aber eine der wesentlichen Voraussetzungen einer auf Freiheit und Selbstverantwortung angelegten Gesellschaftsordnung verlorengehe. Als die Gebrüder Dodge sich mit 10.500 Dollar an der Gründung des Unternehmens des Autokonzerngründers Ford beteiligt hatten und aus den Unternehmenserträgen ein Konkurrenzunternehmen gründen wollten, zahlte Ford seinen Arbeitern einen erheblich höheren Lohn als damals üblich und senkte die Preise für seine Kunden. Die Brüder Dodge wandten ein, Ford dürfe das ihnen als Aktionären zustehende Geld nicht an seine Kunden verschenken. Der Supreme Court of Michigan entschied am 17. Februar 19198, dass eine Kapitalgesellschaft in erster Linie darauf angelegt sei, Gewinne für die Aktionäre und nicht Vorteile für andere zu erzielen. Der Bundesgerichtshof hat im Fall Mannesmann/Vodafone diese ausschließliche Ausrichtung unternehmerischen Handelns auf die Kapitalgeber bestätigt und verstärkt.9 Der dritte Strafsenat sucht ein Maß des Angemessenen, verstärkt damit aber ungewollt eine Entwicklung zur Maßlosigkeit. Die Präsidiumsmitglieder seien Verwalter 4 H. J. Wolff, Organschaft und Juristische Person, Untersuchungen zur Rechtstheorie und zum öffentlichem Recht, Bd. I, 1933, S. 1 – 87. 5 M. Balen, A Very English Deceit. The Secret History of the South Sea Bubble and the First Great Financial Scandal, 2000; H. J. Meyer (Hrsg.), Meyers Konversationslexikon, Bd. I, 4. Aufl., 1885,– Stichwort: „Aktie und Aktiengesellschaft“, S. 266. 6 J.-J. Rousseau, Du Contrat social ou Principe du droit politique, 1762, Liv. II, Chap. III. 7 W. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 1968, S. 284 f. 8 204, Mich. 459, 507. 9 BGH, 3. Strafsenat, NJW 2006, 522.

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fremden Vermögens, deshalb verpflichtet, „ausschließlich und uneingeschränkt im Interesse des Vermögensinhabers“ zu handeln. Das Urteil treibt die Ausschließlichkeit der Gewinnmaximierung für die Aktionäre auf die Spitze. Es sieht die Kapitalgesellschaft nicht als Unternehmen, das allen am Wirtschaftsleben Beteiligten verantwortlich ist10, sondern als Veranstaltung von und für Aktionäre. Das Bundesverfassungsgericht hat im Mitbestimmungsurteil11 festgestellt, dass größere Kapitalgesellschaften „nur bedingt als Träger des Prozesses freier sozialer Gruppenbildung angesehen werden“ könnten. Sie handelten weitgehend unabhängig von der Willensbildung ihrer Mitglieder, so dass fraglich sei, ob sie die verfassungsrechtlich garantierte Vereinigungsfreiheit in Anspruch nehmen könnten. Ein weltweit tätiger Konzern bestimmt mit seinen Allgemeinen Geschäftsbedingungen und Computersystemen weitgehend, welche Menschen und Regionen sich an bestimmten Märkten beteiligen können. Seine Angebote erkunden weniger den Bedarf des Nachfragers, sondern schaffen durch Werbung einen Bedarf. Sie bestimmen, was wir essen, wie wir uns kleiden, welche Fahrzeuge wir fahren, welche Kommunikationsmittel wir nutzen, welche Informationen uns erreichen, welche Freizeitgestaltung wir wählen. Dennoch halten mächtige Konzerne an ihrem Unternehmensziel fest, ausschließlich dem Kapitalgeber und dem Vorstand zu dienen. Die Gesetzgebung eines Staates und der Europäischen Union kann diese Entwicklung kaum lenken, weil die Konzerne und ihre Tochtergesellschaften den räumlichen Anknüpfungspunkt so wählen, dass sie einem weitgreifenden Mitbestimmungsrecht, einem überdurchschnittlich belastenden Steuerrecht, einem anspruchsvollen Verbraucherschutz, einem als zu ehrgeizig empfundenen Umweltschutz ausweichen. III. Der würdebegabte Mensch und das Funktionssubjekt der juristischen Person 1. Die Person als Orientierungsprinzip und Subjekt des Rechts Der Mensch ist das Rechtssubjekt, auf den der Verfassungsstaat ausgerichtet ist, der einer Demokratie im Staatsvolk seinen Legitimationsgrund gibt, der – mit Freiheit und Würde begabt – Träger von Grundrechten und auch von Grundpflichten ist, der dem Gleichheitssatz seinen personalen Bezugspunkt bietet. Die juristische Person hingegen ist eine Zweckorganisation, der die Rechtsordnung Rechtsfähigkeit verleiht, ihr Rechte und Pflichten zuweisen kann. Die Unterscheidung des einzelnen Menschen als Rechtssubjekt und der Personenmehrheit als Träger von Rechten und Pflichten ist schon dem römischen Recht geläufig, ist in der Rechtstradition des europäischen Rechts eine Selbstverständlich10 Vgl. P. Kirchhof, Zeitgerechtes und rechtszeitiges Bilanzieren, Ein Plädoyer für die gegenläufige Gesamtbilanz, in: FS Hommelhoff, 2012, S. 527 f. 11 BVerfGE 50, 290 (355 ff.) – Mitbestimmung.

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keit.12 Während das Wort „persona“ bei Gaius ein Oberbegriff für die unterschiedliche Rechtsstellung freier und unfreier, freigeborener und freigelassener Menschen sowie der gewaltfreien und der gewaltunterworfenen war13, die „persona“ bei Cicero dem Menschen vier Rollen in der res publica zuweist – den Menschen in seiner vernunftbestimmten Natur, in seiner Eigentümlichkeit, in seinem vom Zufall bestimmten Stand und in seinem Lebensplan14 –, kannte das römische Recht auch Verbände mit eigenem Vermögen, die ihre rechtliche Identität bei einem Wechsel der Mitglieder beibehielten und durch Organe handelten. Öffentliche Körperschaften bildeten rechtliche Einheiten mit wechselnden Mitgliedern, beschränkten ihre Haftung auf das Verbandsvermögen15. Vereine beteiligten sich am Privatrechtsverkehr, konnten Träger von Rechten und Pflichten sein, waren vom Bestand ihrer Mitglieder unabhängig, traten im Prozess als Parteien auf, beschränkten die Haftung auf das Vereinsvermögen. Die christliche Theologie entwickelte den Begriff „persona“ zu einem Schlüsselbegriff der Moralphilosophie:16 Die Person bezeichnete den Menschen als vernunftbegabtes Wesen mit Würde, die für sich und um ihrer selbst willen existiere, der die Freiheit zugesprochen wird, aus sich heraus zu handeln. Die Dualität von Körper und Seele richtet den Personenbegriff inhaltlich aus, baut auf den Merkmalen Vernunftbegabung, Individualität, Substanz, Existenz, Freiheit auf, entwickelt Maßstäbe für Verantwortung und Würde, bereitet damit eine Vorstufe für Rechtsverhältnisse vor17. Die theologische Hervorhebung des Menschen gibt ihm eine Eigenständigkeit, die nicht notwendig unter dem Gesetz steht, vielmehr die geistesgeschichtliche Grundlage für unveräußerliche Menschenrechte, später für die Idee eines Staatsgrundvertrages bietet, der von den Rechtsgenossen unter Aufgabe eines Stücks vorrechtlicher Freiheit um des Friedens willen geschlossen wird. Der Staat wird zum Repräsentanten der Frieden suchenden Untertanen und Bürger, anfangs als allmächtiger, später als gebundener Souverän18. Wenn die Person Zweck an sich ist, ausgestattet mit Würde, Individualität und Freiheit, entwickeln sich philosophisch fundierte Gerechtigkeitsvorstellungen, die in kleineren Gemeinschaften in den Idealen von persönlicher Würde und Freiheit verwirklicht werden können, im Anspruch universeller Reichweite aber einen Garanten der Rechtsordnung, eine organisatorische Mitte des Rechtsverständnisses brauchen. 12 Vgl. zum Folgenden U. Palm, Juristische Person und Ertragssteuer, eine rechtswissenschaftliche Untersuchung zur Person im Recht und zur Steuertheorie, Heidelberger Habilitationsschrift, 2011; C. Hattenhauer, „Der Mensch als solcher rechtsfähig“ – von der Person zur Rechtsperson, in: Klein/Menke (Hrsg.), Der Mensch als Person und Rechtsperson. Grundlage der Freiheit, 2011, S. 39 ff. 13 Gaius, Inst. II, 48, 50, 142, 187. 14 Cicero, De officiis, Liber I, 107 f., 115. 15 Palm (o. Fußn. 12). S. 65 f. m .N. 16 Zum Folgenden Palm (o. Fußn. 12), § 2 C. I, II, IV, VII, § 3 D. 17 Palm (o. Fußn. 12), § 2 B. II-IV. 18 Palm (o. Fußn. 12), § 2 C. I, II.

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Dieses ist der souveräne Staat, anfangs als friedensstiftende und friedenswahrende Macht, später rechtlich gebunden, in seiner Legalität auf Legitimität angelegt, in seiner Rechtsordnung auf die Trennung von Sollen und Sein aufbauend19. 2. Entwicklung einer privatrechtlichen juristischen Person Die Jurisprudenz hat erst Ende des 16. Jahrhunderts einen eigenen juristischen – zivilrechtlichen – Personenbegriff auf Grundlage der römisch-rechtlichen StatusLehre entwickelt, der vor allem der Entfaltung und Zuordnung von Individualrechtsgütern diente20. Dieser Begriff ordnete privatrechtliche Güter einer Organisation zu und erlaubte ihr die Teilnahme am Privatrechtsverkehr, kannte kaum den Gedanken von gegen den Staat gerichteten Grundrechten21, bereitete aber als Funktionsbegriff die Entwicklung auch einer allgemeinen juristischen Person vor. Die Person ist vor allem Rechtssubjekt, befähigt, Träger von Rechten und Pflichten zu sein. Die juristische Person ist vor allem die Erwerbsgemeinschaft, das Unternehmen, dem die Rechtsordnung die Rechtsfähigkeit verleiht, die Verträge schließen, Eigentum erwerben, Vermögen binden, haften und Haftung beschränken, Fremdorganschaften und Selbstorganschaften organisieren, Umsätze tätigen und Erträge erzielen, auf dieser Grundlage auch Steuersubjekt sein kann. Wenn die juristische Person dem durch sie geschaffenen Rechtssubjekt Rechtsfähigkeit – das Namensrecht, Berechtigungen und Verpflichtungen im Rechtsverkehr, die Erbfähigkeit, die Mitgliedsfähigkeit, die Deliktsfähigkeit, die Prozessfähigkeit, die Vermögensfähigkeit – vermittelt22, so hat sich diese juristische Personen von ihren Mitgliedern gelöst, unter einem eigenen Namen verselbständigt, verfügt über eigenes Kapital, eigene Erwerbsquellen, eigenes Personal, haftet eigenständig, führt eigene Verfahren und ist in ihrem Bestand von Gründern und gegenwärtigen Mitgliedern unabhängig23. 3. Einebnung der Unterscheidung zwischen Personen- und Kapitalgesellschaft Das Privatrecht unterscheidet diese juristische Person traditionell von den Personengesellschaften, bei der die Gesamthänder und nicht eine von ihnen verschiedene juristische Person Träger von Rechten und Pflichten ist. Das Gesamthandvermögen ist ein den Gesamthändern zustehendes Sondervermögen24, nicht Grundlage einer 19

Palm (o. Fußn. 12), § 2 C. VIII, IX, § 3 B, C, insbesondere II. Hattenhauer (o. Fußn. 12). 21 Hattenhauer (o. Fußn. 12). 22 T. Raiser, Der Begriff der juristischen Person, AcP 199 (1999), 104 (134 f). 23 Raiser (o. Fußn. 22). 24 BGH, NJW 1988, 556; J. Schulze-Osterloh, Das Prinzip der gesamthänderischen Bindung, 1972, S. 173. 20

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neugebildeten Rechtseinheit, der Rechtssubjektivität zukäme25. Doch diese Unterscheidung wird gegenwärtig gelockert und grundlegend in Frage gestellt. Selbst für die (Außen-)Gesellschaft des bürgerlichen Rechts hat der Bundesgerichtshof anerkannt, dass ihr Rechtsfähigkeit zukomme, soweit sie durch die Teilnahme am Rechtsverkehr eigene Rechte und Pflichten begründe26. Sie ist mittlerweile scheckund wechselfähig, im Zivilprozess aktiv und passiv parteifähig, insolvenzfähig, kann Gründerin und Gesellschafterin einer Genossenschaft, Handelsgesellschaft oder GbR sein27. Bei dem Schutz dieser Rechtseinheit nähern sich Personengesellschaften und Kapitalgesellschaften einander an, wenn das Gesetz die Möglichkeit eröffnet, im Gesellschaftsvertrag nach Ausscheiden oder Tod eines Mitglieds die Fortsetzung der Gesellschaft unter den übrigen Gesellschaftern oder Erben zu vereinbaren. Auch die Unterscheidung der handelnden Organe – bei der Kapitalgesellschaft handeln die Organe der Gesellschaft, bei der Personengesellschaft die Gesellschafter – zieht keine konsequente Trennlinie. Während die KGaA von Komplementären geleitet und vertreten wird, umgeht die GmbH & Co. KG – faktisch die Personengesellschaft mit beschränkter Haftung – das Verbot der Fremdgeschäftsführung bei Personengesellschaften durch Aufnahme einer juristischen Person als Komplementär28. Das Umwandlungsgesetz erlaubt einen identitätswahrenden Wechsel zwischen körperschaftlichen und personengesellschaftlichen Rechtsformen unter teilweisem Einschluss der GbR, deutet damit zumindest an, dass Körperschaften und Personengesellschaften eine ähnliche Subjektqualität zukommt29. Das Zivilrecht stellt deshalb die berechtigte Frage, ob „es drei Arten von Rechtsträgern (natürliche Personen, juristische Personen und Gesamthandgesellschaften)“ gibt oder ob „Körperschaften und rechtsfähige Personengesellschaften nur Varianten der Einheitsfigur ,juristische Person‘“ sind30. Das Verfassungsrecht hat diese Frage bereits beantwortet. Wenn Art. 19 Abs. 3 GG die Grundrechte und die daraus folgenden Verfahrensrechte grundsätzlich „auch für inländische juristische Personen“ gelten lässt, die juristische Person im Grundrechtsschutz damit der natürlichen Person annähert, so umfasst dieser Verfassungstatbestand der juristischen Person nach gefestigter Rechtsprechung nicht nur die privat-rechtlich förmlich mit der Rechtsfähigkeit ausgestatteten betrieblichen Organisationen, sondern ebenso Mitunternehmerschaften oder andere weniger forma-

25 Schulze-Osterloh (o. Fußn. 24), S. 14 ff.; D. Hallerbach, Die Personengesellschaft im Einkommensteuerrecht, 1999, S. 17. 26 BGH, NJW 2011, 1056. 27 P. Kirchhof, Maßstäbe für die Ertragsbesteuerung von Unternehmen, DStJG 25 (2002), 1 (4) m.N. 28 T. Raiser, Gesamthand und juristische Person im Licht des neuen Umwandlungsrechts, AcP 194 (1994), 495 (508). 29 K. Schmidt, Die BGB-Außengesellschaft: rechts- und parteifähig, NJW 2011, 993 (996); vgl. auch T. Raiser (o. Fußn. 28), AcP 194 (1994), 495 (504 ff.). 30 K. Schmidt (o. Fußn. 29).

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lisierte Betriebseinheiten31. Das Verfassungsrecht anerkennt seit langem, dass für die Grundrechtsträgerschaft und die Verfassungsbeschwerde die Unterscheidung zwischen zivilrechtlicher juristischer Person und Personengesellschaften unerheblich ist, dass beide Erwerbs- oder Handlungseinheiten möglichst dem Grundrechtsschutz für natürliche Personen angenähert werden sollen. Auch das Europarecht stellt die Gesellschaften, mögen diese nach dem jeweiligen Privatrecht rechtsfähig sein oder nicht, beim Schutz der Grundfreiheiten grundsätzlich der natürlichen Person gleich32. 4. Entwicklung zur rechtsformneutralen Besteuerung Das Steuerrecht scheint in der Unterscheidung zwischen einer Einkommensteuer für natürliche Personen und Personengesellschaften und einer Körperschaftssteuer für Kapitalgesellschaften jedenfalls die Ertragsbesteuerung von der Rechtsform abhängig zu machen. Ist die Rechtsfähigkeit maßgebend, werden die juristische Person und die natürliche Person jeweils Steuersubjekte, so dass eine je eigene Besteuerung – eine Doppelbelastung – gerechtfertigt ist. Doch diese Frage ist seit dem Körperschaftssteuergesetz 1920, das das System der Doppelbelastung einführte,33 streitig. Die Doppelbesteuerung wurde von 1953 bis 1976 durch einen gespaltenen Tarif gemildert und in ein Teilentlastungssystem überführt34. Das Körperschaftsteuergesetz 1977 sieht die Vollanrechnung der Körperschaftssteuer auf den ausgeschütteten Gewinn vor, anerkennt also die gesellschaftsrechtliche Absonderung und Verselbständigung der Körperschaft gegenüber dem Anteilseigner nicht mehr als Rechtfertigungsgrund für eine eigenständige Belastung beider Rechtssubjekte, belastet den ausgeschütteten Gewinn deshalb letztlich nur noch mit der Einkommensteuer35. Die Unternehmenssteuerreform 2001 stellt zwar ebenfalls die rechtfertigende Kraft gesellschaftsrechtlicher Verselbständigung zu einer Körperschaft für eine steuerliche Doppelbelastung in Frage, knüpft aber dennoch unterschiedliche Belastungswirkungen – eine Tarifspreizung und ein Halbeinkünfteverfahren, später ein Teileinkünfteverfahren – an die zivilrechtliche Rechtsform, sucht also partiell wieder Belastungsunterschiede je nach Rechtsformwahl zu rechtfertigen36. Die Gewerbesteuer 31 BVerfGE 4, 7 (12) – Investitionshilfe, OHG; 10, 89 (99) – Erftverband, Handelsgesellschaften; 19, 52 (55) – gesetzlicher Richter, KG; 20, 283 (290) – Arzneimittelgesetz, KG; J. Isensee, Anwendung der Grundrechte auf juristische Personen, in: ders./Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band IX, 3. Aufl. 2011, § 199 Rn. 21 ff. 32 Vgl. Art. 54 Abs. 2 AEUV, auch in Verbindung mit Art. 49 Abs. 2 AEUV, dazu J. Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Kommentar, 4. Aufl., 2011, Art. 54 AEUV Rn. 2, Rn. 9 ff., n. N. der EuGH-Rechtsprechung. 33 Vgl. B. Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, 9. Aufl., 1993, S. 558 f. 34 KStG i. d. F. vom 13. 4. 1954, BStBl. I, 1954, S. 225. 35 J. Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., 2010, § 11 Rdnr. 9 ff. 36 Gesetz zur Senkung der Steuersätze und zur Reform der Unternehmensbesteuerung (Steuersenkungsgesetz) vom 23. 10. 2000, BGBl. I, S. 1433.

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entlastet durch eine einkommensteuerliche Tarifermäßigung (§ 35) Einzelunternehmen und Personengesellschaften und stellt deren gewerbliche Einkünfte im Ergebnis annähernd den Einkünften aus selbständiger Arbeit gleich37. Das Bundesverfassungsgericht hat in der umsatzsteuerrechtlichen Entscheidung zur Schwarzwaldklinik38 hervorgehoben, dass allein die Rechtsform eines Unternehmens grundsätzlich keinen sachlichen Grund für eine steuerliche Ungleichbehandlung biete. Belastungsdifferenzierungen je nach natürlicher und juristischer Person, nach Mitunternehmerschaft oder Körperschaft, sind nur vertretbar, wenn sie in der wirtschaftlichen Wirklichkeit gerechtfertigt werden können und die gewählte Organisationsform diese Realität sachgerecht nachzeichnet. Rechtfertigender Grund für eine Steuerlast ist jeweils die reale finanzielle Belastbarkeit, nicht eine rechtliche Formalie. Zudem verlangt die Garantie der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG), dass steuerliche Belastungen die Wahl einer bestimmten Vereinigungsform nicht erschweren oder lenken dürfen, dem Unternehmer vielmehr die freie Entscheidung bleiben muss, eine Vereinigung zu bilden und deren Form zu bestimmen39. 5. Nichtanwendung des Erbrechts? Die Unterscheidung zwischen natürlicher und juristischer Person, vor allem aber zwischen Personengesellschaften und Kapitalgesellschaften wird somit gegenwärtig je nach betroffener Rechtsfolge grundsätzlich in Frage gestellt. Die statusrechtliche Verselbständigung rechtfertigt nicht mehr jede daran anknüpfende Rechtsfolge, sondern fordert einen sachlichen Grund, weswegen aus der Rechtsform eine bestimmte Rechtsfolge abgeleitet werden darf. In dieser Entwicklung stellt sich die Frage, ob die organisationsrechtliche Verselbständigung einer Vermögensmasse zu einer juristischen Person die Nichtanwendung des Erbrechts rechtfertigt. Dabei geht es nicht um eine Ersatzerbschaftsteuer, die eine juristische Person für Zwecke der Besteuerung nach bestimmten Zeitabständen fiktiv sterben lässt (§ 1 Abs. 1 Nr. 4 Erbschaftsteuergesetz)40. Vielmehr wendet sich diese, dem Verfassungsrechtler Hans-Jürgen Papier gewidmete Studie dem Zusammenwirken von Erbschaftsrecht und juristischer Person zu, das gerade die großen, in die Anonymität drängenden Vermögensmassen und Unternehmenseinheiten dem Erbrecht entzieht.

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Dazu D. Gosch, in: Kirchhof, Einkommensteuergesetz, Kommentar, 11. Aufl., 2012, § 35 Rdnr. 1. 38 BVerfGE 101, 151 (156 f.) – Schwarzwaldklinik; vgl. auch BVerfGE 101, 132 (139) ¢ Heileurythmist. 39 Kirchhof (o. Fußn. 27), S. 7 f. 40 Gesetz zur Reform des Erbschaft- und Schenkungssteuerrechts vom 17. 4. 1974, BGBl. I 1974, S. 933; dazu kritisch mit einem rechtspolitischen Vorschlag zum Wegfall dieses Erwerbstatbestandes P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, Ein Reformentwurf zur Erneuerung des Steuerrechts, 2011, § 73 Rdnr. 12 ff.

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IV. Funktionen des Erbrechts 1. Verstetigung des Privateigentums „Freiheit und Eigentum“41 bestimmen als ein Leitgedanke die Entwicklung des Grundrechtsschutzes. Eigentum sichert persönliche Freiheit42, stärkt die Selbstverantwortung in der persönlichen Lebensführung43, wird verfassungsrechtlich als Grundlage persönlicher Entfaltung besonders geschützt44. Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG garantiert Eigentum und Erbrecht in einem Atemzug. Die Garantie des privatnützigen Eigentums belässt die Wirtschaftsgüter strukturell in privater Hand, beschränkt den Staat im Prinzip auf das Eigentum an Verwaltungsvermögen45, lässt den Staat auf Finanzvermögen und insbesondere auf Staatsunternehmen strukturell verzichten, finanziert ihn durch Teilhabe am Erfolg privaten Wirtschaftens, durch Steuern46. Diese Strukturentscheidung prägt die Eigentums- und Wirtschaftsordnung nur nachhaltig, solange das Erbrecht die Weitergabe des Privatvermögens von privater Hand an private Hand sichert47. Der Mensch stirbt. Der Staat stirbt nicht. Würde bei jedem Todesfall das Vermögen des Verstorbenen dem Staat zufallen, so würde der Staat nach und nach Privateigentümer. Die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG begründet somit ein staatsgerichtetes Abwehrrecht48, das die Erbfolge dem bürgerlichen Recht zuweist49, damit den Staat grundsätzlich nicht als Erben sieht. Das Privateigentum dient der individuellen Freiheit des Menschen, versagt in dieser Funktion, wenn es Gegenstand kollektiver Bewirtschaftung und Nutzung ist. 41 Die Formel „Freiheit und Eigentum“ geht ideengeschichtlich auf John Locke zurück (umfassend: D. Jesch, Gesetz und Verwaltung, 2. Aufl., 1960, S. 117 f. m.w.N.). Der Mensch ist im Besitz von „liberty and property“. Schließt er den Gesellschaftsvertrag, will er diese Rechte schützen, nicht auf sie verzichten. Daraus erwachsen Zügelung und Schutzverantwortung des Staates (heute: „Vorbehalt des Gesetzes“, Gewährleistung des „Polizeirechts“). Der Staat hat vorrangig Gefahren für die Rechtsgüter der Bürger abzuwehren und, wenn er Rechte des Nichtstörers in Anspruch nimmt, Ersatz zu leisten (§ 1 Abs. 1 PolG BaWü, § 55 PolG BaWü); vgl. auch O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 1924, Bd. I, S. 316; BVerfGE 115,97 (111) - Obergrenze für Einkommen- und Gewerbesteuer. 42 BVerfGE 84, 382 (384) - § 564b Abs. 2 Nr. 3 Satz 1 BGB; 100, 226 (241) - Denkmalschutz; 101, 54 (75 f.) – Schuldrechtsanpassungsgesetz. 43 BVerfGE 93, 121 (140 f.) – Vermögensteuer. 44 BVerfGE 70, 191 (201) - Fischereirecht; 95, 64 (84) – Mietpreisbindung; zur Schwächung des kollektiven Eigentums BVerfGE 50, 290 (340, 357) – Mitbestimmung. 45 Zur Unterscheidung zwischen Verwaltungs- und Finanzvermögen des Staates vgl. J. Isensee, Staatsvermögen, in: HStR, Bd. V, 3. Aufl., 2007, § 122, Rdnr. 20 ff. 46 P. Kirchhof, Deutschland im Schuldensog, Der Weg vom Bürgen zurück zum Bürger, 2012, S. 20 f. 47 H.-J. Papier, in: Maunz-Dürig, GG, Art. 14 (2010) Rdnr. 295. 48 BVerfGE 67, 329 (340) – Weichende Miterben nach der Höfeordnung. 49 BVerfG, a.a.O.

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Die Grundsatzentscheidung für das private Individualeigentum ist gefährdet, je mehr die juristische Person als Eigentümer den Menschen als Eigentümer verdrängt. Wenn die im Eigentum angelegten Freiheitsrechte nicht mehr vom einzelnen Menschen wahrgenommen werden, vielmehr in die Struktur einer ähnlich dem Staat „unsterblichen“ juristischen Person eingebettet sind, so unterliegt dieses Eigentum zwar weiterhin dem Regime des Privatrechts, wird aber nicht von der individuellen Freiheit eines Einzelnen geprägt. Weltweit tätige Konzerne verfügen gegenwärtig über eine Wirtschaftsmacht, die teilweise staatsähnliche Bestimmungsbefugnisse begründet, deshalb durch die Freiheitsrechte eher verpflichtet als berechtigt werden müsste50. 2. Individualisierung Die Testierfreiheit berechtigt den Erblasser, den Übergang seines Vermögens nach seinem Tode an die von ihm gewünschten Rechtsnachfolger anzuordnen. Dabei darf er auch juristische Personen bedenken, wird im Regelfall aber andere Menschen zu Erben bestimmen. Das gesetzliche Erbrecht zielt auf den Menschen als Erben. Das Verfassungsrecht qualifiziert das Pflichtteilsrecht von Ehegatten und Kindern als ein tragendes Strukturprinzip des verfassungsrechtlich geschützten Erbrechts, als Bestandteil des institutionell verbürgten Gehalts der Erbrechtsgarantie des Art. 14 GG51. Das Familiengut ist im Erbfall in besonderer Weise gegenüber der Erbschaftbesteuerung geschützt52. Bei einer juristischen Person werden nur die Beteiligungsrechte vererbt, die bei Streubesitz eher eine Finanzanlage sind und kaum zur Wahrnehmung der im Unternehmenseigentum angelegten Freiheiten berechtigen. Der Ankeraktionär, der sein Unternehmen selbst führt und mitgestaltet, ist heute selten geworden. Im Regelfall hält ein flüchtiger Kapitalgeber nach der rentabelsten Beteiligung Ausschau, wechselt durch Computerdruck das Unternehmen, nutzt sein Eigentum kaum als Grundlage persönlicher Lebensführungsfreiheit, sondern als abstrakte Erwerbs- und Machtgrundlage. Die Zuordnung des Privateigentums zur Großorganisation einer Kapitalgesellschaft verändert die Freiheitsdienlichkeit des Eigentums grundlegend. Die Erbrechtsfolge unterwirft das vererbte Eigentum jeweils den Freiheitsvorstellungen des Erben als neuem Eigentümer. Der Erbe richtet das Eigentum nach seinen Bedürfnissen ein, setzt sich in der Wahrnehmung der Eigentümerfreiheit neue Ziele, verändert und erweitert die im Ererbten angelegten Freiheitsmöglichkeiten. Bei der Unternehmensnachfolge bezieht er seine persönlichen Anliegen und die seiner Familie in die Unternehmensentscheidungen ein. Die Kapitalgesellschaft hingegen ist auf Meh50

Vgl. die Ansätze in BVerfGE 50, 290 (355 ff.) – Mitbestimmung; sowie oben zu II. BVerfGE 112, 332 (349) – Pflichtteil. 52 BVerfGE 93, 165 (175) – Erbschaftsteuer; dort auch zu dem Nachlasswert, der dem Erben als „persönliches Gebrauchsvermögen“ ungeschmälert verbleiben muss, unter Verweis auf BVerfGE 93, 121 (140 f.) - Vermögensteuer. 51

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rung des Gewinns angelegt53. Sie handelt weitgehend unabhängig von ihren Mitgliedern, ist als freie Vereinigung ihrer Mitglieder bei Großorganisationen kaum noch erkennbar54. „Das personale Element“ tritt „bis zur Bedeutungslosigkeit zurück.“55 Eigentümerentscheidung und Eigentümerverantwortung wurzeln nicht mehr in individueller Freiheit, sondern werden im Gesellschaftsrecht, im Mitbestimmungsrecht, im Verbraucherschutzrecht, im Umweltschutzrecht, im Technikrecht, im Steuerrecht zugewiesen. Das gesamte Großunternehmen gerät in den Sog der Gewinnmehrungsund Gewinnverteilungsprinzipien, stellt die Kapitalkraft und Macht des Unternehmens gänzlich in den Dienst der Erwerbsinteressen von Kapitalgebern und leitenden Angestellten. Die Kapitalgesellschaften lösen sich noch mehr von der vererbbaren individuellen Freiheit, wenn sie am Finanzmarkt nicht konkrete Güter tauschen, dabei durch die Knappheit dieser Güter gemäßigt werden, sondern Geld gegen Geld oder Geld gegen Hoffnungen tauschen. Dieser Markt, der mit Einschätzungen, Hoffnungen, Wahrsagungen handelt, neigt zur Maßstablosigkeit, damit zur Maßlosigkeit56. Grenzüberschreitend tätige Unternehmen57, deren Umsatz über dem Bruttoinlandsprodukt mancher Staaten liegt, deren Finanzmacht die mancher Staaten übersteigt, gewinnen wesentlichen Einfluss auf die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebensbedingungen des Menschen, beeinflussen mit der Wahl ihres Sitzes und Gründungsstatuts die von ihnen bevorzugte Rechtsordnung58, vereinbaren durch Gerichtsstands- und Schiedsklauseln die Anwendung einer bestimmten Rechtsordnung59, beanspruchen sogar in „systemischer“ Vernetzung bei großen Fehlleistungen einen Fehlerausgleich durch die Staatskasse. Diese Unternehmen drängen immer mehr in staatsähnliche Mächtigkeiten, müssten deshalb eher grundrechtsverpflichtet als grundrechtsberechtigt sein. Das Erbrecht soll Eigentumsherrschaft und Eigentümerverantwortlichkeit immer wieder reindividualisieren, das vererbte Eigentum dem Erben als einen neuen Freiheitszuwachs zuweisen, ihn damit veranlassen, sich diese neue Freiheit bewusst zu machen und nach seinen Vorstellungen wahrzunehmen. Je mehr Privateigentum in 53

Vgl. oben zu II. BVerfGE 50, 290 (357 ff.) – Mitbestimmung. 55 BVerfGE 50, 290 (355 f., 357) – Mitbestimmung. 56 P. Kirchhof, Erwerbsstreben und Maß des Rechts, in: HStR, Bd. VIII, 3. Aufl., 2010, § 169, Rdnr. 15 f. 57 K. Weilert, Transnationale Unternehmen im rechtsfreien Raum? Geltung und Reichweite völkerrechtlicher Standards, in: ZaöRV 69 (2009), S. 883 (887). 58 W. F. Ebke, Vorwort, in: ZVglRWiss 108 (2009), S. 195 (196 f.); K.-E. Schenk, in: Schmidtchen/Streit/Vanberg (Hrsg.), Globalisierung und Weltwirtschaft, Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, Bd. XIX, 2000; B. Großfeld, Internationales und Europäisches Unternehmensrecht, 2. Aufl., 1995. 59 Vgl. im einzelnen A. Peters, Wettbewerb von Rechtsordnungen, in: VVDStRL 69 (2010), S. 7 ff.; T. Giegerich, Wettbewerb von Rechtsordnungen, ebd., S. 57 ff.; Ebke (o. Fußn. 58)., S. 198 ff. 54

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Großorganisationen gebunden wird, desto weniger kann das Erbrecht diese Aufgabe erfüllen. 3. Verteilungswirkung Das gesetzliche Erbrecht begründet die Regel, dass der Nachlass auf mehrere Rechtsnachfolger aufgeteilt wird. Das Pflichtteilsrecht schafft eine unausweichliche rechtliche Teilungspflicht. Allerdings bemüht sich der Erblasser oft, mit dem Instrument des Erbrechts über seinen Tod hinaus diese Teilung zu vermeiden60, insbesondere sein Vermögen als Einheit zu erhalten oder durch Dauertestamentsvollstreckung und mehrfache Nacherbfolge langfristig in einer Hand zu konzentrieren. Vielfach dient die juristische Person, insbesondere die Rechtsform der Stiftung, dazu, ein Unternehmen oder andere Vermögenseinheiten gegen die Aufteilung und Reindividualisierung abzuschirmen. Das Privatrecht aber regelt das ererbte Eigentum grundsätzlich als Freiheit von jeder Herrschaft61, meint mit der Erbfolge eine selbstbestimmte und selbstverantwortete Weitergabe des Vermögens62, die nicht Herrschaft über andere begründet. Das Grundgesetz garantiert eine grundsätzlich unentziehbare und bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung der Kinder des Erblassers an dessen Nachlass63, die nur aus besonderen Gründen – insbesondere bei schweren Verfehlungen gegenüber dem Erblasser – entzogen werden kann64. Bei der Familienerbrechtsnachfolge gilt das Prinzip vom weichenden Eltern- und wachsenden Kinderrecht. Die juristische Person hingegen ist auf ständigen Vermögenserhalt und weitere Vermögensmehrung angelegt. So entsteht strukturell eine Entwicklung, in der sich immer mehr Privateigentum in der Hand juristischer Personen sammelt, das Privateigentum in der Hand von Menschen anteilig immer weniger wird. Diese Konzentrationstendenz schwächt das Privateigentum und das Privaterbrecht. 4. Unentgeltlichkeit Das Erbrecht gibt die Erbmasse in der Regel von der Elterngeneration an die Kindergeneration unentgeltlich weiter. Die Eltern haben das Familiengut von den Großeltern empfangen, suchen es zu erhalten, zu vermehren und zu verbessern, überlassen es dann unentgeltlich der Kindergeneration. Jede Generation bemüht sich, ihre Lebensverhältnisse zu verbessern und die Ergebnisse dieses Fortschritts – ihre politische Kultur, Erkenntnisse der Wissenschaft, Entwicklungen der Technik, Werke 60 Vgl. dazu H. Coing, Empfiehlt es sich, das gesetzliche Erbrecht und Pflichtteilsrecht neu zu regeln?, Gutachten A zum 49. Deutschen Juristentag, 1972, A17 f.; A. Röthel, 68. DJT, 2010, A26 f.; D. Leipold, Wandlungen in den Grundlagen des Erbrechts, in: AcP 180 (1980), S. 160 (163 f., 204 f.). 61 Röthel (o. Fußn. 60), A23. 62 Vgl. BVerfGE 99, 341 (351) – Testierfreiheit schreib- und sprechunfähiger Personen. 63 BVerfGE 112, 332 (349) – Pflichtteil. 64 BVerfGE 112, 332 (350 f.) – Pflichtteil.

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der Kunst, Privateigentum, vor allem familiäre Zuwendung und Soziales – ihren Kindern zu widmen. Die Kindergeneration baut auf das Fundament, das die Elterngeneration um ihrer selbst willen geschaffen hat. Generationengerechtigkeit meint die Kontinuität des Familiengutes über drei Generationen. Die Frage einer Tauschgerechtigkeit65, der entgeltlichen Weitergabe von Geerbten, stellt sich nicht, würde von den Familien als ungehörig empfunden. Diese Regel gilt nicht für das Eigentum von Großorganisationen, das nicht vererbt, allenfalls gegen Entgelt veräußert wird. Die juristische Person gibt Eigentum nur weiter, wenn sie dafür einen wirtschaftlichen Vorteil eintauscht. Der Mensch vererbt Eigentum, um der nächsten Generation vorbehaltlos eine Freiheitsgrundlage zu vermitteln. Privateigentum in der Hand von juristischen Personen ist insofern ein Verlust an Eigentümerfreiheit. 5. Recht zur Verschiedenheit Eigentümerfreiheit ist das Recht, sich unterscheiden zu dürfen. Der Eigentümer nimmt seine Eigentümerfreiheit durch Besitz, Verwaltung, Nutzung, Umschichtung des Eigentums wahr66. Dieses Recht, sich vom anderen zu unterscheiden, vorhandene Unterschiede zu mehren, wird im Erbrecht durch die gesetzliche oder testamentarische Erbfolge67 an den Erben weitergegeben. Eine familiäre Erziehungs- und Lebensgemeinschaft68 prägt Charakter und Persönlichkeit von Kindern und Eltern. Das Familiengut ist eine Erfahrungs- und Erlebensgrundlage, die eine Bereitschaft und Fähigkeit zur Eigentümerverantwortung begründet und entfaltet. Die Kinder sind dadurch besser auf die Übernahme des ererbten Eigentums vorbereitet. Das gesetzliche Erbrecht gestaltet diesen Gedanken eines in der Familie weitergegebenen, durch familiäre Erfahrungen vorbereiteten Eigentumsrechts inhaltlich aus. Die Vertrautheit der Familie mit dem jeweiligen – unternehmerischen, landwirtschaftlichen, künstlerischen oder geistigen – Familiengut belässt die Güter im Erbfall in der Hand von Personen, die nach ihrer Erziehung, ihrer Lebenssicht, oft auch ihrer familiären Erfahrung das Familiengut nutzen, erhalten, mehren werden. Der Erblasser gibt das Familiengut in die Hand von ihm nahestehenden Personen, stärkt die wirtschaftliche Nachhaltigkeit der Familie und ihren Zusammenhalt in der Generationenfolge, gibt die elterliche Lebenssicht, ihr Freiheitsethos mit dem Familiengut an die Kinder weiter. So entstehen freiheitlich gewollte Unterschiede, die im Wirtschaftsgut vererbt, in der Familientradition ideell weitergegeben werden. 65 B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie mit juristischer Methodenlehre, 6. Aufl., 2011, Rdnr. 361 f. 66 Zu diesen Eigentümerfunktionen vgl. BVerfGE 70, 191 (192) - Fischereirechte, 97,350 (370) - Euro. 67 BVerfGE 26, 215 (222) – Veräußerung land- und forstwirtschaftlicher Grundstücke; H. Brox, Die Einschränkung der Testierfreiheit durch § 14 des Heimgesetzes und das Verfassungsrecht, in: FS Benda, 1995, S. 17 (27). 68 BVerfGE 80, 81 (90) – Erwachsenenadoption; vgl. BVerfGE 112, 332 (352) – Pflichtteil.

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Die juristische Person wahrt Kontinuität. Diese Verstetigung schirmt das Betriebsvermögen gegen Privateigentümer ab, bewirkt das Gegenteil einer Eigentumsstruktur, die durch Rechtsnachfolge neue Qualifikations- und Erwerbschancen im Eigenen eröffnet. Eigentum in der Hand juristischer Personen hält die Rechtsnachfolge vom Privateigentum fern, öffnet sich allerdings einem beruflichen Erwerbswillen, der dem Unternehmen und deren Anteilseignern dient. Auch insoweit ist das wachsende Privateigentum in der Hand größer werdender Konzerne eine Gefahr für die private Eigentümerfreiheit und deren Verteilungswirkung. 6. Freiheitsnachfolge Die verfassungsrechtliche Garantie des Erbrechts umfasst die Testierfreiheit des Erblassers, aber auch das Recht des Erben, die Rechtsnachfolge in die Eigentümerfreiheit des Erblassers anzutreten. Erbrechtsnachfolge ist Freiheitsnachfolge. Der Erbe gewinnt Eigentümerfreiheit über das erbrechtlich weitergegebene Eigentum. Er gewinnt grundsätzlich69 das Recht, unabhängig vom Erblasser und selbstbestimmt sich das Eigentum zu eigen zu machen. Der Erblasser darf keinen unzumutbaren Druck auf den Erben ausüben, seine Freiheitsrechte vor dem Erbfall im Sinne des Erblassers wahrzunehmen,70 ebenso wenig die Wahrnehmung über das ererbte Eigentum wesentlich beschränken.71 Insbesondere wäre eine testamentarische Einwirkung auf den Erben in seiner Freiheit zur Eheschließung, seiner Glaubensfreiheit, seiner Berufswahl oder Parteizugehörigkeit unwirksam. Bei der Nutzung des Eigentums einer juristischen Person ist dieses strukturell anders. Zwar wirkt das objektive Verfassungsrecht insbesondere über die Generalklausel des § 138 BGB als wertentscheidende Grundsatznorm in das Privatrecht ein,72 so dass der Vorstand und die leitenden Angestellten als berufliche Nutzer dieses Eigentums weder durch Gesellschafts- noch durch Arbeitsvertrag auf ihre Grundrechte verzichten oder die Wahrnehmung ihrer Freiheiten substantiell einschränken können. Doch ihre Berufstätigkeit, damit ihre Erwerbsmöglichkeit, steht im Dienst des Gesellschaftsauftrags, der Ausrichtung auf Mehrung des Gewinns, der dann Kapitaleignern und Führungspersonal zugutekommt. Die Tätigkeit in einer Kapitalge69 BVerfGE 58, 377 (398) – Vorzeitiger Erbausgleich; BVerfGE 67, 329 (349) – Weichende Miterben nach der Höfeordnung, dort auch zum mittelbaren Schutz des Familiengutes durch einen Pflichtteilsergänzungsanspruch, der zeitlich auf Schenkungen innerhalb der letzten zehn Jahre vor dem Erbfall beschränkt ist; OLG München, in: ZEV 2007, 582 – Auflösende Potestativbedingung, mit kritischer, zivilrechtlicher Anmerkung von I. Kroppenberg, das., S. 583 f. 70 BVerfG, NJW 2004, 2008 (2010) – Hohenzollern-Beschluss, Ebenbürtigkeitsklausel; weniger klar BVerfG, NJW 2000, 2495 (Nichtannahme einer Verfassungsbeschwerde gegen eine erbvertragliche Heiratsklausel, die das Erbrecht männlichen Abkömmlingen vorbehielt, deren Ehe von der Einwilligung des jeweiligen Fürsten, die Erbenstellung nach einer ohne diese Einwilligung eingegangenen Ehe von Bedingungen des Fürsten abhängig machte). 71 G. Otte, in: Staudinger, BGB, Einleitung, § 1922 f. Rdnr. 77. 72 BVerfGE 18, 85 (89 f.) – Spezifisches Verfassungsrecht (Patentanmeldung), stRspr.

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sellschaft ist gemeinsame Erwerbstätigkeit. Der Gewinn wird unter den Anteilseignern und – in der Praxis zunehmend – den leitenden Angestellten verteilt.73 Dieses Erwerbskonzept wird niemals durch einen Erbfall unterbrochen, durch die erbrechtliche Freiheitskontrolle nicht neu ausgerichtet. V. Die freiheitliche Erneuerung juristischer Personen Wenn damit die juristische Person in ihrer Stetigkeit den Erbfall vermeidet, die freiheitliche Erneuerung der Eigentümerherrschaft mit dem Tod des Eigentümers verhindert, geht der verfassungsrechtlichen Idee von Eigentum und Erbrecht strukturell ein wesentlicher Anwendungsbereich verloren. Diese Freiheitseinbuße kann kaum durch eine rechtliche Verminderung von Zahl und Umfang der juristischen Personen aufgefangen werden. Keinen Freiheitsgewinn böte auch die Fiktion eines Erbfalls, wonach das gesamte Personal einer juristischen Person, das die Nutzungs-, Verwaltungs- und Verfügungsrechte an deren Eigentum wahrnehmen, im Rhythmus von 30 oder 40 Jahren ausgetauscht werden müsste. Der Freiheitsverlust ist vielmehr durch eine neu konzipierte Freiheitsoffenheit der juristischen Person auszugleichen. 1. Staatsähnliche Mächtigkeit Gelegentlich wird ein Großkonzern mit dem Staat verglichen, weil diese Großorganisation des Kapitals, des Leistungsangebots, der Werbung und der Finanzkraft staatsähnliche Mächtigkeiten begründe. Gegenüber dem Staat fordert Art. 14 Abs. 1 GG eine Ausgestaltung des Erbrechts, die das Eigentum prinzipiell in privater Hand hält, den Staat in Distanz weist. Ein staatliches Erbrecht ist nur bei Fehlen privater Erben erforderlich.74 Das BGB75 beteiligt den Staat durch ein eigenes gesetzliches Erbrecht nur als Noterbe. Ist zur Zeit des Erbfalls kein Verwandter, Ehegatte oder Lebenspartner des Erblassers vorhanden, erbt das Land (Satz 1), im Übrigen der Bund (Satz 2). Dieses gesetzliche Erbrecht des Staates soll weniger den Fiskus an den Nachlässen teilhaben lassen, sondern herrenlose Nachlässe vermeiden.76 Verstirbt ein Erbe, ohne einen gesetzlichen oder testamentarischen Erben zu hinterlassen, wird der Staat von Verfassungs wegen nicht unmittelbar Erbe. Der Gesetzgeber darf aber im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG den Staat durch ein Erbrecht oder

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Vgl. oben zu II. Zu diesem Teilkriterium grundrechtlicher Verhältnismäßigkeit vgl. H. Lange/K. Kuchinke, Erbrecht, 5. Aufl., 2001, S. 281; BVerfGE 80, 137 (160 f.) – Reiten im Wald; 90, 145 (172 f.) – Cannabis; 104, 337 (347 f.) – Schächtverbot. 75 § 1936. 76 D. Leipold, Münchner Kommentar zum BGB, 5. Aufl., 2010. § 1936, Rdnr. 2; Erbeinsetzungen des Staates oder sonstige Zuwendungen an den Staat folgen den allgemeinen Regeln des BGB. 74

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ähnliche Rechtsinstitute als Noterbe am Erbgut teilhaben lassen.77 Der Staat gewinnt nur bei einem Erbfall ohne Erben ein eigenes gesetzliches Erbrecht. Der Staat hat jedoch regelmäßig durch die Erbschaftsteuer Anteil an der Erbmasse. Art und Intensität ist seit Beginn der Erbschaftsteuer umstritten.78 Grundsätzlich ist die Testierfreiheit des Erblassers Ausdruck seiner Eigentümerfreiheit, die alle durch das Testament begründeten Unterschiede freiheitlich rechtfertigen. Das gesetzliche Erbrecht schützt insbesondere die Familie, legitimiert damit ebenfalls die in der Familie und der Zuordnung des Familiengutes in die Familie begründeten Eigentumsunterschiede in der Generationenfolge. Die Erbschaftsteuer rechtfertigt sich auf dieser Grundlage gerade dadurch, dass die Rechtsgemeinschaft das Erbrecht in Art. 14 Abs. 1 GG garantiert, das staatliche Recht der Testierfreiheit, dem gesetzlichen Erbrecht und dem Pflichtteilsrecht seine gesetzliche Grundlage gibt, die staatliche Garantie des inneren und äußeren Friedens die unbekümmerte Annahme der Erbschaft und deren freiheitliche Nutzung gewährleistet. Wenn der Staat dieses Erb- und Friedensrecht sichert, hat der dadurch Begünstigte einen maßvollen Teil seiner erbrechtlichen Bereicherung zur Finanzierung dieses Systems als Steuer beizutragen. Die Steuer auf den Erbanteil wirkt freiheitsschonend, weil sie einen Zuwachs an Leistungsfähigkeit zugunsten der Rechtsgemeinschaft maßvoll mindert.79 Die Steuer schont zudem die Freiheit des Schuldners, weil sie nicht gegenständlich auf Eigentum zugreift, sondern einen nach dem Geldwert des Ererbten bemessenen Geldanspruch begründet, damit dem Steuerschuldner die Freiheit belässt, die Forderung aus den ihm zugänglichen Geldquellen zu befriedigen. Die Erbschaftsteuer verdrängt den Eigentümer nicht aus dem ihm auf Dauer zugeordneten Eigentum, sondern nimmt am Wertzuwachs teil. Sie stört nicht einen Bestand, sondern mindert einen Zuwachs, wahrt in diesem realitätsgerechten80 Anteil an der Erbmasse auch

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Vgl. BVerfGE 97, 1 (6 f.) – Erbschaftsteuer (fehlgeschlagene vorweggenommen Erbfolge); H. J.Papier, in Maunz-Dürig, GG, Art. 14 (2010) Rdnr. 296. 78 Vgl. G. Boehmer, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, S. 401 (402 f.).; R. Büchner, Erbschafts- und Schenkungssteuern, in: Gerloff/ Meisel (Hrsg.), Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd. II, 1927, S. 310 f. 79 Vgl. im einzelnen P. Kirchhof, Die Steuern, HStR, Bd. V, 3. Aufl., 2007, § 118 Rdnr. 1 f.; Für eine Übersicht über die Rechtfertigungsgründe bei der Erbschaftsteuer: K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. II, 2. Aufl., 2003, S. 842; J. P. Meincke, Rechtfertigung der Erbschaft- und Schenkungsteuer, in: DStJG 22 (1999), 39 (40); R. Mellinghoff, Das Verhältnis der Erbschaftsteuer zur Einkommen- und Körperschaftsteuer – Zur Vermeidung steuerlicher Mehrbelastungen, in: DStJG 22 (1999), 127 (135). Zum grundlegenden Infragestellen der Erbschaftsteuer H. W. Kruse, Abschied von den Einheitswerten, in: BB 1996, 717 (719); B. Fischer, Erbschaft- und Vermögensteuer. Ein Beitrag zu den. Steuerrechtfertigungslehren, in: StuW 1978, 345; für eine Integration der Erbschaftsteuer in die Einkommensteuer: J. Lang, Das verfassungsrechtliche Scheitern der Erbschaft- und Schenkungsteuer, in: StuW 2008, 189; T. Siegel, Die Integration der Erbschaftsteuer in die Einkommensteuer auf der Grundlage des Realisationsprinzips, in: FS Siegloch, 2009, S. 445. 80 Vgl. BVerfGE 93, 121 (143) – Vermögensteuer; 117, 1 (33) – Erbschaftsteuer (Bewertung).

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die Besteuerungsgleichheit. Insoweit wirkt die Erbschaftsteuer freiheitsschonender und ist gleichheitsrechtlich anpassungsfähiger als eine Erbenstellung des Staates. Die verfassungsrechtliche Beschränkung des Staates auf ein Noterbrecht und eine Erbschaftsteuer bietet jedoch keine Parallelen, um den Freiheitsverlust durch die Stetigkeit der juristischen Person auszugleichen. Die juristische Person will nicht an fremdem Erbe teilhaben, sondern den Erbfall für ihr Eigentum vermeiden. Die juristische Person muss nicht eigene Freiheitseingriffe zu Lasten anderer unterlassen oder mäßigen, sondern ihre eigene Rechtsstruktur freiheitsgerecht gestalten. 2. Gemeinsam genutztes Privateigentum Das Eigentum der juristischen Person scheint zunächst einsichtiger als das ererbte Eigentum, weil die juristische Person Eigentum durch Leistung erwirbt, der Erbe hingegen die Erbmasse ohne eigenes Zutun empfängt. Deswegen hat der Gesetzgeber bei der Regelung des Vermögensübergangs von Todes wegen einen weiteren Gestaltungsraum als bei der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums in der Hand des Eigentümers. Doch die Ansammlung von Eigentum und Eigentümermacht bedarf bei der juristischen Person wie bei dem Erben einer besonderen Rechtfertigung. In beiden Fällen gilt die Regel der Unsichtbaren Hand.81 Wenn der Landwirt sich an der reichen Ernte in seiner Scheune freut, er sich ausmalt, er werde alle diese Früchte verzehren, stößt er auf die begrenzte Aufnahmefähigkeit seines Magens. Deshalb sagt ihm die Unsichtbare Hand, er werde seinen Reichtum nur nutzen und Freude an ihm gewinnen, wenn er seinen Reichtum mit anderen teilt. Je weniger ein Eigentümer persönliches Nutzungseigentum bewirtschaftet, je mehr er Unternehmenseigentum in Anspruch nimmt, desto mehr sind andere Personen an der Bewirtschaftung und Nutzung des Eigenen beteiligt. Erreicht das Eigentum eine Größe und Anonymität, die nicht mehr individualdienlich nutzbar ist, die von einer einzelnen Person nicht beherrscht werden kann, so wird die Eigentümerfreiheit nicht mehr von einem einzelnen Menschen wahrgenommen, sondern im Zusammenwirken von Kapitalgebern, Vorstand, Arbeitnehmern, Zulieferern, Kunden beeinflusst. Dieses Eigentum ist in einem Geflecht von privatrechtlichen Wirtschaftsbeziehungen, öffentlich-rechtlichen Vorgaben, Sozialpflichtigkeit und Steuerpflichten gebunden. Das Wettbewerbs- und Kartellrecht sucht ein Übermaß an geballter Finanz- und Marktmacht zu verhindern. Die Regeln über Allgemeine Geschäftsbedingungen, Verbraucherschutz und die Computermächtigkeit des Anbieters sollen die Ungleichgewichte zwischen Kollektivanbieter und individuellem Nachfrager verringern. Mitbestimmungsrecht, Arbeitsschutzvorschriften, Wettbewerbs- und Kartellrecht, Umweltschutzrecht bemühen sich um eine Balance zwischen Unternehmerinteresse und sonstigen Gruppen- oder Allgemeinwohlinteressen. 81 A. Smith, Theorie der ethischen Gefühle, 1759, übersetzt von W. Eckstein, 2. Aufl., 1977, S. 316 (317).

Erbrecht und juristische Person

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Doch Privateigentum wird nur immer wieder erneut gebildet, wenn der Unternehmensgewinn im Dienst privater Eigentumsbildung neu verteilt wird. Privateigentum würde in individueller Hand breiter zugewiesen, wenn die Arbeitnehmer am Gewinn beteiligt werden und dadurch individuelles Vermögen bilden können, die Zulieferer bei entsprechenden Unternehmenserfolgen über ihr Leistungsentgelt hinaus gewinnbeteiligt werden, Entgelte an leitende Angestellten nach dem für die Besteuerung ausgewiesenen Gewinn und nach persönlicher Haftung bemessen, eventuell auch nur bei prozentual ähnlichen Lohnzuwächsen aller Arbeitnehmer zulässig sind. Dabei ist die Entscheidungslast und individuelle Entscheidungsverantwortung in ihrer Realität zu berücksichtigen. Auch die Dauer der Unternehmenszugehörigkeit (Ankeraktionär, langjähriger Vorstand, Arbeitnehmerbiographie) könnte als Ausdruck nachhaltiger Beteiligung an der Eigentumsgestaltung gewürdigt werden. 3. Verlust von Eigentümerfreiheit im Finanzmarkt Der strukturelle Verlust von Eigentümerfreiheit in Großorganisationen wird besonders bewusst, wenn die Unternehmen wesentlich mit Hilfe von Computern und Robotern produzieren, der Gewinn aus dieser maschinellen Produktion dann den Financiers und den leitenden Angestellten des Unternehmens zugewiesen wird, die Ertragsquelle der Arbeitskraft der Arbeitnehmer dadurch immer schwächer wird. Werden immer mehr Produkte im Eigentum der Financiers gefertigt, fehlt aber die Nachfrage nach diesen Produkten, bricht die auf Privateigentum und Berufsfreiheit gestützte Wirtschaftsordnung zusammen. Moderne Erscheinungsformen des Finanzmarktes, seiner anonymen Mächtigkeit und seiner Bestimmungsmacht über einzelne Menschen, Unternehmen und selbst über Staaten bieten hinreichend Warnsignale. Wenn das Spareigentum als Ertragsquelle faktisch ausfällt, das Anlegereigentum aber beachtliche Erträge verheißt, geht ein Stück Eigentumskultur verloren. Wenn Ratingagenturen, Sprecher des Finanzmarktes, Staaten in ihrer Bonität, damit in ihrer zukünftigen Zinslast einschätzen, entstehen für den staatlichen Freiheitsgaranten unvertretbare Abhängigkeiten. Wenn große Finanzinstitute sich „systemisch“ vernetzen, deshalb beanspruchen, auch bei groben Fehlern nicht scheitern zu dürfen, vielmehr von den Staaten aufgefangen zu werden, so verkümmert die Idee des privat verantworteten Eigentums gänzlich. Wenn die Fondswirtschaft dem Anleger Ertragschancen bietet, ohne dass der Anleger wüsste, ob er seine Erträge durch Produktion von Weizen oder Waffen verdient, so zerstört diese organisierte Nichtverantwortlichkeit das Privateigentum, damit die privatnützige Eigentumsordnung. 4. Der steuerliche Ausgleich der Freiheitsunterschiede Ein wichtiges Ausgleichsinstrument zugunsten der Allgemeinheit ist die Steuer. Wenn jedermann verlässlich erwarten kann, dass ein größeres Einkommen maßvoll

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– zu 25 % –82 belastet wird, der Bürger also die Sicherheit hat, dass der Einkommensmillionär 250.000 Euro in die Gemeinschaftskasse zahlt, werden die Eigentumsunterschiede für ihn sachlich und im subjektiven Empfinden erträglicher. Er wird nicht mehr scheel, in der von fehlendem Selbstbewusstsein begleiteten Form der Bewunderung, die wir Neid nennen, auf den anderen schauen, sondern hoffen, dass er im nächsten Jahr 2 Millionen Einkommen beziehen möge, damit er 500.000 Euro in die Gemeinschaftskasse zahle. Die Steuer mäßigt die durch Eigentümer- und Berufsfreiheit gerechtfertigten Einkommens- und Vermögensunterschiede, trägt idealtypisch dazu bei, dass der eine Freude am Erfolg des anderen habe, damit freiheitsfähig werden wird. Und wenn dann noch einmal in der Woche ein Steuer-DAX durch das Fernsehen läuft, der die Öffentlichkeit davon unterrichtet, was die Unternehmen steuerlich für die Gemeinschaft geleistet haben, entsteht ein Rechtsbewusstsein, das auf individuellen wirtschaftlichen Erfolg, auf Verschiedenheit in Erwerb und Erworbenem setzt und die Gemeinschaft des Erwerbs und der Freiheitsrechte an diesen Erfolgen beteiligt. Eine stärkere Gemeinwohlbindung und eine breitere Gewinnverteilung kann das Prinzip der erbrechtlich erneuerten Eigentümerfreiheit mit der juristischen Person versöhnen.

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P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, Ein Reformentwurf, 2011, S. 374.

Besteuerung und Eigentum im Kontext des innerstaatlichen und des Internationalen Steuerrechts Von Moris Lehner I. Einleitung Das Thema Eigentum und Besteuerung beschäftigt den Jubilar seit langer Zeit. Hans-Jürgen Papier1 hat die Dogmatik der Eigentumsgarantie als freiheitsrechtliche Schranke der Besteuerung im Spektrum der Privatnützigkeitsgarantie und der Sozialbindung grundlegend geprägt. Seine Lehre stand von Anfang an im Gegensatz zu einer seit Mitte der fünfziger Jahre herrschenden Auffassung, wonach die Finanzhoheit des Staates im Sinne eines Fiskalvorbehalts weitgehend unbegrenzt sei.2 Papier3 warnt jedoch davor, den „freiheitsrechtlichen Ertrag“ oder den „rechtsstaatlichen Mehrwert“ der Einbeziehung von Steuer- und Abgabenlasten in das grundrechtliche Gewährleistungssystem zu überschätzen. Er spricht insoweit von einer „Relativität des Eigentumsschutzes“, weil die wichtigste grundrechtliche Eingriffsschranke, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, gegenüber Steuereingriffen „relativ indolent und ineffizient“ sei.4 Mit diesem Vorbehalt ist das zentrale Problem der Entfaltung des Eigentumsgrundrechts als freiheitsrechtliche Schranke der Steuerbelastung angesprochen.5

1 H.-J. Papier, Die Beeinträchtigungen der Eigentums- und Berufsfreiheit durch Steuern vom Eigentum und Vermögen, Der Staat 1972, 483; ders., Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1973, S. 53 ff.; ders., Besteuerung und Eigentum, DVBl. 1980, 787; ders., Eigentumsgarantie und Geldentwertung, AöR 98 (1983), 528 (556 ff.); ders., Eigentumsgarantie des Grundgesetzes im Wandel, 1984; ders., Steuerrecht im Wandel – verfassungsrechtliche Grenzen der Steuerpolitik, DStR 2007, 973; ders., in: Maunz-Dürig, GG, Art. 14 (2010), Rdnr. 165 ff. 2 Vgl. u. a. E. Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats, VVDStRL 12 (1954), 8 (32 ff.); K. M. Hettlage, Die Finanzverfassung im Rahmen der Staatsverfassung, VVDStRL 14 (1956), 2 (4 f.); w. N. bei M. Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, 1993, S. 365 ff. 3 Papier (o. Fußn. 1), Art. 14 GG, Rdnr. 176. 4 Papier (o. Fußn. 1), Art. 14 GG, Rdnr. 177 m. w. N. 5 Dazu u. II. 1.

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II. Die Notwendigkeit eines freiheitsrechtlichen Belastungsmaßstabs für den steuerlichen Zugriff Die Frage nach den freiheitsrechtlichen Vorgaben des Art. 14 GG für die Ausgestaltung der steuerlichen Belastungsentscheidung resultiert daraus, dass sich allein aus dem primär gleichheitsrechtlich geprägten Leistungsfähigkeitsprinzip6 keine besonderen Vorgaben für die vom Bundesverfassungsgericht7 erstmals im Jahre 1984 geforderte realitätsgerechte steuerlichen Verschonung des existenzsichernden Bedarfs ableiten lassen.8 1. Freiheitsrechtliche Vorgaben des Eigentümergrundrechts für den steuerlichen Belastungsmaßstab Ausgangspunkt für die Entfaltung eines freiheitsrechtlichen Belastungsmaßstabs ist ein zunächst nicht speziell im Zusammenhang mit der Besteuerung beschriebener Funktionswandel der Eigentumsgarantie, der darauf beruht, dass weithin nicht mehr das Sacheigentum, sondern das Einkommen aus Arbeitsleistung Grundlage individueller Daseinsgestaltung und Daseinsbehauptung ist.9 Badura10 spricht insoweit von sozialer Sicherheit kraft „,Eigentums‘ im Sinne von Einkommen“. a) Die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird diese Funktion der Eigentumsgarantie durch die individualrechtliche Konkretisierung der Institutsgarantie in Gestalt der Privatnützigkeitsgarantie deutlich. Nach der weithin bekannten Formulierung des Gerichts kommt der Eigentumsgarantie „im Gesamtgefüge der Grundrechte die Aufgabe zu, dem Träger des Grundrechts einen Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich sicherzustellen und ihm damit eine eigenverantwortliche Gestaltung seines Lebens zu ermöglichen“.11 In den Entscheidungen zum eigentumsrechtlichen Schutz sozialversicherungsrechtlicher Anwartschaften wird der Gegenstands- bzw. Sachbezug der Eigentümerfreiheit auf den Arbeitsertrag ausgedehnt, weil der Großteil der Bevölkerung in der modernen Gesellschaft seine 6

Grundlegend dazu: D. Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1983, dort zur ideengeschichtlichen Entwicklung S. 6 ff.; J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981, S. 97 ff.; Lehner, (o. Fußn. 2), S. 19 ff.; K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, 2. Aufl. 2000, S. 479 ff. 7 BVerfGE 66, 214 (223); vgl. auch BVerfGE 87, 153 (172); 99, 246 (260); 105, 73 (126 f.). 8 Dazu noch u. 2. 9 P. Badura, BayVBl 1979, 1 (3); ders., Eigentum, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 1995, § 10 S. 327 (346). 10 Badura, BayVBl (o. Fußn. 9). 11 BVerfGE 24, 367 (389); 31, 229 (239); 50, 290 (339); 115, 97 (110) (st. Rspr.).

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„wirtschaftliche Existenzsicherung weniger durch privates Sachvermögen als durch den Arbeitsertrag und die daran anknüpfende, solidarisch getragene Altersversorgung“ erlange.12 In diesen Entscheidungen kommt bereits die grundlegende existenzsichernde Funktion der Eigentümerfreiheit zum Ausdruck.13 Für das Steuerrecht gewinnt die Eigentümerfreiheit zunächst nur als Grenze der erdrosselnden Wirkung steuerlicher Belastung Bedeutung.14 Erst in der Grundfreibetragsentscheidung vom 25. 9. 199215 stellt das Bundesverfassungsgericht nach erneutem Hinweis auf die Grenze der „erdrosselnden Wirkung“ zu Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG fest, dass das geschützte Freiheitsrecht nur so weit beschränkt werden darf, „daß dem Grundrechtsträger (Steuerpflichtigen) ein Kernbestand des Erfolges eigener Betätigung im wirtschaftlichen Bereich in Gestalt der grundsätzlichen Privatnützlichkeit des Erworbenen und der grundsätzlichen Verfügungsbefugnis über die geschaffenen Vermögenswerten Rechtspositionen erhalten bleibt“.16 „Hieraus folgt, daß dem der Einkommensteuer unterworfenen Steuerpflichtigen nach Erfüllung seiner Einkommensteuerschuld von seinem Erworbenen so viel verbleiben muß, als er zur Bestreitung seines notwendigen Lebensunterhalts und – unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 GG – desjenigen seiner Familie bedarf (,Existenzminimum‘)“.17 Diese Grenzziehung ist allerdings trotz der von Papier konstatierten Schwierigkeiten, den steuerlichen Zugriff am Maßstab der Verhältnismäßigkeit zu prüfen,18 unproblematisch, weil ein Eingriff, der den Schutz des durch Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten Existenzminimums19 durchbricht, in jedem Fall unverhältnismäßig ist.20 Weitere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 14 GG sind um die Bestimmung von Belastungsobergrenzen im Spektrum zwischen der Privatnützigkeitsgarantie und der Sozialbindung bemüht.21 Während die Entscheidung über die Gesamtsteuerbelastung aus der Vermögensteuer und den übrigen Steuern auf den Ertrag22 aus dem „Zugleich“ des Eigentumsgebrauchs zum pri12 BVerfGE 40, 65 (84); 53, 257 (290); 72, 9 (21); 100, 1 (32); dazu H. J. Papier, SRH 1988, 114 (139 ff.). 13 Sehr deutlich in BVerfGE 72 (o. Fußn. 12): dass der Wegfall dieser Leistung existentielle Bedeutung für den Berechtigten hätte und die freiheitssichernde Funktion der Eigentumsgarantie wesentlich berühren würde. 14 Vgl. BVerfGE 36, 321 (333); 47, 1 (37 f.); 89, 48 (61); 105, 17 (32). 15 BVerfGE 87, 153 (169). 16 BVerfGE (o. Fußn. 15); vgl. auch BVerfGE 93, 121 (137). 17 BVerfGE (o. Fußn. 15); aus Sicht des SGB 2: BVerfGE 125, 175 (213 ff.) mit Anm. Ch. Seiler, JZ 2010, 500. 18 Vgl. die Nachw. in Fußn. 4. 19 BVerfGE (o. Fußn. 15); 82, 60 (85); dazu umfassend: Lehner (o. Fußn. 2), S. 327 ff.; zustimmend: Papier (o. Fußn. 1), Art. 14 GG, Rdnr. 181. 20 Dazu noch u. 2. a). 21 BVerfGE 93, 121; 115, 97; dazu P. Kirchhof, Die Steuern, in: HStR V, 3. Aufl. 2007, § 118 Rdnr. 129 ff. 22 BVerfGE 93, (o. Fußn. 21), 138; dazu H. J. Papier, Steuerrecht im Wandel – verfassungsrechtliche Grenzen der Steuerpolitik, DStR 2007, 973 (974 f.).

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vaten Nutzen und zum Wohl der Allgemeinheit eine steuerliche Gesamtbelastung „in der Nähe einer hälftigen Teilung zwischen privater und öffentlicher Hand“ ableitet, nimmt das Gericht diese konkrete Vorgabe in seiner Entscheidung über die Gesamtbelastung durch Einkommen- und Gewerbesteuer wieder zurück und verweist den Gesetzgeber statt dessen wiederum auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dem über die Grenze „,erdrosselnder‘, die Steuerquelle selbst vernichtender Belastung“ hinaus aber „kaum greifbare Anhaltspunkte für eine Begrenzung“ der Steuerbelastung entnommen werden können.23 b) In der Literatur vertretene Auffassungen Die neuere eigentumsrechtliche Dogmatik24 versucht, den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erreichten Stand, durch das Bemühen um zusätzliche Vorgaben für die Belastungsentscheidung im Spannungsfeld zwischen der Privatnützigkeitsgarantie und der Gemeinwohlbindung zu entfalten. Wie bereits in der Einleitung zu diesem Beitrag erwähnt und durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt,25 beruht die von Hans-Jürgen Papier zum Ausdruck gebrachte Relativierung des freiheitsrechtlichen Ertrags der Eigentumsdogmatik im Bereich der Besteuerung auf der Schwierigkeit, das Spektrum zwischen der Privatnützigkeitsgarantie und der Sozialbindung durch Kriterien der Verhältnismäßigkeit zu konkretisieren. Hinzu komme, so Papier,26 dass die staatliche Besteuerungsgewalt unverzichtbare Voraussetzung für die Erfüllung des staatlichen Verfassungsauftrags zur Sozialstaatlichkeit sei. Der Rechts- und Sozialstaat des Grundgesetzes sei notwendigerweise zugleich Steuerstaat.27 Vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen einer Bestands- und einer Nutzungsgarantie des Einkommensgrundrechts stellen sich Beschränkungen der Nutzbarkeit des Eigentums durch ertragsabhängige Steuern nach Auffassung von Papier28 als Geltendmachung der Sozialbindung dar. Aber auch ertragsunabhängige Steuern, die an den Eigentumsbestand anknüpfen, verletzen die Eigentumsgarantie nicht, wenn sie unter normalen Umständen aus dem Vermögensertrag erbracht werden können.29 Die Grenze der Sozialpflichtigkeit sei jedoch überschritten und privatnützige Eigentumsverwendung nicht mehr möglich, wenn die (gewinnbringende) Nutzbarkeit für den Eigentümer gänzlich ausgeschlossen sei, das Eigentum also zu einem „nudum ius“ werde.30 Eine unüberwindbare Schranke setzt er dem Gesetzgeber jedenfalls für die Besteuerung von indisponiblem, d. h. für existenznotwendigen Bedarf gebundenem Erwerbseinkommen; dieses 23

BVerfGE 115 (o. Fußn. 21), 114 f. Vgl. zur Entwicklung: Lehner (o. Fußn. 2), S. 364 ff. 25 Dazu o. a). 26 Papier (o. Fußn. 1), Rdnr. 167. 27 Papier (o. Fußn. 1), Rdnr. 167. 28 Papier (o. Fußn. 1), Rdnr. 172. 29 Papier (o. Fußn. 1), Rdnr. 173. 30 Papier (o. Fußn. 1), Rdnr. 173. 24

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könne in keinem Fall einer Abgabenpflicht zum Wohl der Allgemeinheit unterliegen. Existenznotwendiges Einkommen sei ausschließlich privatnützig und liege unterhalb der Schwelle des „zugleich“ sozial gebundenen Ergebnisses eigener Leistung.31 Paul Kirchhof32 entfaltet die Eigentümerfreiheit als „steuerrechtsleitendes Prinzip“,33 in dem er das Verhältnismäßigkeitsproblem zunächst gesondert nach dem jeweiligen Steuergegenstand, d. h. nach Maßgabe der individuellen Vermögenswertdispositionen in den Handlungsbereichen des Einkommenserwerbs, der im Umsatz eingesetzten Kaufkraft, der angefallenen Erbmassen und der besonderen Konsumkraft unterscheidet und differenziert abstuft.34 Darüber hinaus fordert er im Einklang mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Halbteilungsgrundsatz,35 eine Überprüfung der Gesamtsteuerbelastung.36 Eigentumsrechtliche Mindestgarantien sieht er, übereinstimmend mit Papier, insbesondere im Schutz vor dem steuerlichen Zugriff auf das Existenzminimum37 und darüber hinaus auch im Schutz der ökonomischen Grundlagen der weiteren Lebensgestaltung und der persönlichen Entfaltung des Steuerpflichtigen. 2. Folgerungen für die freiheitsrechtliche Ausgestaltung des Leistungsfähigkeitsprinzips Die Inhaltsarmut des allgemeinen Gleichheitssatzes prägt trotz der Entwicklung vom Willkürverbot zur Gruppenvergleichsformel38 auch die Ausgestaltung der steuerlichen Belastungsentscheidungen durch das Leistungsfähigkeitsprinzip. Wenngleich das Bundesverfassungsgericht39 neben dem Leistungsfähigkeitsprinzip auch die Bindung des Gesetzgebers an das Gebot der Folgerichtigkeit fordert, so ist doch auch dieses Gebot neben seiner rechtsstaatlichen Verankerung ebenfalls primär gleichheitsrechtlich determiniert.40 Das Gericht weist zwar darauf hin, dass es für die 31 Papier (o. Fußn. 1), Rdnr. 181 mit Bezug auf Lehner (o. Fußn. 2), S. 406 und BVerfGE 87, 153 (169) mit Anm. M. Lehner, Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit des Grundfreibetrages in den Jahren 1978 bis 1984, 1986, 1988 und 1991, DStR 1992, 1641. 32 Grundlegend: P. Kirchhof, u. a. VVDStRL 39 (1981), 213 (227); ders., Besteuerungsgewalt und Grundgesetz 1973; ders., Die Steuern, in: HStR V, 3. Aufl. 2007, § 118 Rdnr. 117 ff. 33 P. Kirchhof, VVDStRL (o. Fußn. 32), 269. 34 P. Kirchhof (o. Fußn. 32), Rdnr. 131 f. 35 BVerfGE (o. Fußn. 22). 36 P. Kirchhof (o. Fußn. 32), Rdnr. 132. 37 P. Kirchhof (o. Fußn. 32), Rdnr. 135 f. mit Bezug auf BVerfGE 87, 153 (169 f.); 112, 268 (280); und Lehner (o. Fußn. 2), S. 299 ff. 38 Zu dieser Entwicklung: Lehner (o. Fußn. 2), S. 322 ff. 39 Vgl. BVerfGE 122, 210 (230 f.) m. w. N. der eigenen Rspr. 40 BVerfGE (o. Fußn. 39); grundlegend zum Gebot der Folgerichtigkeit: R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, in: FS Vogel, 2000, S. 293

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Anforderungen an die Rechtfertigung gesetzlicher Differenzierungen wesentlich darauf ankomme, „in welchem Maß sich die Ungleichbehandlung von Personen oder Sachverhalten auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten41 auswirken kann“.42 Dieser wichtige freiheitsrechtliche Ansatz43 wird jedoch nicht weiter entfaltet. Bemerkenswert ist auch, dass das Bundesverfassungsgericht in seinen steuerrechtlichen Entscheidungen zu Art. 14 GG44 keinen Bezug zur Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit herstellt. Dieser Befund erfordert weitere Konkretisierungen des Leistungsfähigkeitsprinzips. Die hier auf Vorgaben des Art. 14 GG konzentrierte Betrachtung45 unterscheidet, der Grundkonzeption des Leistungsfähigkeitsprinzips entsprechend, zwischen der Verschonung existenzsichernder Aufwendungen nach Maßgabe des subjektiven Nettoprinzips und der Verschonung erwerbssichernder Aufwendungen nach Maßgabe des objektiven Nettoprinzips.46 Die für diese Zwecke gebundenen Teile des Erwerbseinkommens bilden das indisponible, weil nicht zugleich für Zwecke der Steuerzahlung verfügbare Einkommen.47 a) Die Verschonung existenzsichernder Aufwendungen nach dem subjektiven Nettoprinzip – Vorwirkungen der Sozialbindung Die Verpflichtung des Gesetzgebers zur steuerlichen Verschonung der existenzsichernden Aufwendungen des Steuerpflichtigen ist nach herrschender Lehre und nach gefestigter Rechtsprechung verfassungsrechtlich verankert: Der Staat muss dem Steuerpflichtigen sein Einkommen insoweit steuerfrei belassen, als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein benötigt wird.48 Dies folgt als verfassungsrechtliches Gebot aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsgrundsatz des Art. 20 Abs. 1 GG. Aus den genannten Verfassungsnormen und aus Art. 6 Abs. 1 GG folgt ferner, dass das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleiben muss.49 Dieses Gebot steht in engem Zusammenhang mit dem ebenfalls auf diese Verfassungsbestimmungen gestützten Gebot, dem mittellosen Bürger die Mindestvoraussetzungen für ein men(305 ff.); für den vorliegenden Kontext: Lehner, Die verfassungsrechtliche Verankerung des objektiven Nettoprinzips, DStR 2009, 185 (186). 41 Hervorhebung nur hier. 42 BVerfGE (o. Fußn. 39), 230. 43 Dazu o. 1. a). 44 Dazu o. 1. a) u. b). 45 Zu den weiteren verfassungsrechtlichen Vorgaben: P. Kirchhof (o. Fußn. 32), Rdnr. 140 ff. 46 Vgl. dazu die Nachw. in Fußn. 6 sowie BVerfGE 107, 27 (47) m. w. N. der eigenen Rspr. 47 Vgl. die Nachw. in Fußn. 6. 48 BVerfGE 82, 60 (85); vgl. auch BVerfGE 87, 153 (169 f).; P. Kirchhof (o. Fußn. 32), Rdnr. 134 f.; Lehner (o. Fußn. 2), S. 393 ff., 400; Papier (o. Fußn. 1), Rdnr. 181. 49 BVerfGE (o. Fußn. 48).

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schenwürdiges ökonomisches Existenzminimum erforderlichenfalls durch Sozialleistungen zu sichern.50 Die Vorgaben der Privatnützigkeitsgarantie und der Sozialbindung des Art. 14 GG51 ergänzen diese Vorgaben, wenngleich nur der Anspruch auf steuerliche Verschonung des existenznotwendigen Erwerbseinkommens, nicht aber auch der Anspruch auf beitragsunabhängig gewährte Existenzsicherung auf die Privatnützigkeitsgarantie des Freiheitsgrundrechts gestützt werden kann. Die in erster grober Unterscheidung gebotene Zuordnung des erwerbs- und existenzsichernden indisponiblen Einkommens zur Privatnützigkeitsgarantie und die Zuordnung des der Abgabe zum Wohl der Allgemeinheit unterliegenden disponiblen Einkommens zur Sozialbindung bedarf jedoch bereits im Hinblick auf die Privatnützigkeitsgarantie einer wichtigen, sozial determinierten Abstufung.52 Sie ergibt sich daraus, dass auch die Privatnützigkeitsgarantie den Grundrechtsträger nicht in eine beliebige Freiheit entlässt. Die Garantie soll dem Träger des Grundrechts (zwar) einen Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich sicherstellen, sie soll ihm damit aber „eine eigenverantwortliche Gestaltung seines Lebens … ermöglichen“.53 Vor dem „Zugleich“ der Abgabe zum Wohl der Allgemeinheit steht deshalb nicht nur ein in der Privatnützigkeitsgarantie verbürgtes Recht des Steuerpflichtigen, sondern auch eine Verpflichtung, sein Erwerbseinkommen im wohl verstandenen eigenen (eigenverantwortlichen) Interesse primär für seinen eigenen existenznotwendigen Bedarf und nicht für anderweitige Zwecke zu verwenden. Besonders deutlich wird die Bedeutung dieser Verpflichtung im Hinblick auf das als Existenzminimum der Familie ebenfalls der Privatnützigkeitsgarantie unterfallende und für diesen Zweck nach Maßgabe unterhaltsrechtlicher Normen auch zu verwendende Erwerbseinkommen.54 Es entsteht somit bereits im Kernbereich der Privatnützigkeit eine Vorwirkung der Sozialbindung. Im Vorfeld der Abgabe zum Wohl der Allgemeinheit kann diese Vorwirkung allerdings nur zum Wohl der unterhaltsberechtigten Familienangehörigen, nicht aber zum Wohl des Grundrechtsberechtigten selber durchgesetzt werden. Insoweit ist es trotz der Verwechslungsgefahr mit der erst jenseits dieser Vorstufe einsetzenden Abgabepflicht sinnvoll, von einer Vorwirkung der Sozialbindung innerhalb der Privatnützigkeitsgarantie zu sprechen. Aus dieser Vorwirkung folgt zumindest mit Bezug auf das eigene Existenzminimum des Steuerpflichtigen, dass Art. 14 GG der privatnützigen Befriedigung des existenznotwendigen Bedarfs aus selber verdientem Erwerbseinkommen nicht nur Vorrang vor der Abgabe zum „Wohle der Allgemeinheit“ gibt, vielmehr gibt er der Bedarfsbefriedigung aus eigenem Erwerbseinkommen auch Vorrang vor dem Anspruch des Einzelnen an die Allgemeinheit.

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Sehr deutlich zu dieser unmittelbaren Verbindung: BVerfGE 82 (o. Fußn. 48). Dazu bereits o. 1. 52 Dazu bereits M. Lehner, Freiheitsrechtliche Vorgaben für die Sicherung des familiären Existenzminimums durch Erwerbs- und Sozialeinkommen, in: FS Badura, 2004, S. 331 ff. 53 BVerfGE 50 (o. Fußn. 11), Hervorhebung nur hier; dazu Lehner (o. Fußn. 52), S. 342 f. 54 Vgl. den Nachw. in Fußn. 48. 51

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b) Die Verschonung erwerbssichernder Aufwendungen nach dem objektiven Nettoprinzip – Direktivkraft der Privatnützigkeitsgarantie In seiner Konkretisierung durch das objektive Nettoprinzip gebietet das Leistungsfähigkeitsprinzip die Steuerfreiheit derjenigen Aufwendungen, die in Gestalt von Werbungskosten und Betriebsausgaben zum Erwerb und zur Sicherung der Einkommensquelle erforderlich sind.55 Auch die Berücksichtigung von Verlusten wird von den Vorgaben des objektiven Nettoprinzips umfasst.56 Anders als für das existenzsichernde subjektive Nettoprinzip lässt das Bundesverfassungsgericht die Frage nach einer verfassungsrechtlichen Verankerung des erwerbssichernden objektiven Nettoprinzips zugunsten einer im Wesentlichen nur auf das Folgerichtigkeitsgebot gestützten Begründung allerdings nach wie vor ausdrücklich offen.57 Entgegen dieser Auffassung ist eine verfassungsrechtliche Verankerung des objektiven Nettoprinzips nicht nur möglich, sondern auch geboten. Privatnützigkeit und Sozialbindung stehen in allen Bereichen der Einkommenserzielung in einer intensiven funktionalen Wechselbeziehung zueinander. Einkommenserzielung dient der Befriedigung privater Bedarfe, sie schafft und erhält aber auch eine Steuerquelle und sie steht damit auch im Dienst des Gemeinwohls. Speziell die unternehmerische Betätigung ist mit der Übernahme sozialer Verantwortung in einem weiteren Sinne verbunden, weil sie im Erfolgsfall nicht nur Ertrag als Grundlage für die Abgabe zum Wohl der Allgemeinheit schafft, sondern weil sie, auch wenn der angestrebte Erfolg in Gestalt unternehmerischen Gewinns ausbleibt, gemeinwohlbezogen bleibt, solange der erwirtschaftete Ertrag ausreicht, um das Unternehmen zu erhalten: Unternehmerische Betätigung schafft Arbeitsplätze und sie steht im Dienst volkswirtschaftlich erwünschter Produktivität. Das Bundesverfassungsgericht58 hat diesen Sozialbezug in seinem Erbschaftsteuerbeschluss aus dem Jahre 1995 sehr deutlich zur Begründung einer verminderten Leistungsfähigkeit derjenigen Erben angeführt, die einen Betrieb in seiner Sozialgebundenheit erhalten. Die Erbschaftsteuerlast, so das Gericht, „muss hier so bemessen werden, dass die Fortführung des Betriebs steuerlich nicht gefährdet wird“.59 Diese Zusammenhänge zwischen privatnütziger und zugleich gemeinwohlbezogener und gemeinwohlgebundener unternehmerischer Tätigkeit werden im steuerstaatlichen Prinzip besonders deutlich. Kennzeichen des Steuerstaates60 ist, dass er seinen Finanzbedarf nicht durch eigenwirtschaftliche Betätigung, sondern durch Besteuerung deckt. Als freiheitsverpflichteter Staat kann der 55

Vgl. die Nachw. in Fußn. 6. Vgl. die Beiträge in DStJG 28 (2005); M. Lehner, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Verlustberücksichtigung, in: Lehner (Hrsg.), Verluste im nationalen und internationalen Steuerrecht, 2004, S. 1. 57 So ausdrücklich BVerfGE 122, 210 (234) mit Anm. Lehner (o. Fußn. 40), 185 (186). 58 BVerfGE 93, 165 (175). 59 BVerfGE (o. Fußn. 58), 176; dazu M. Jachmann, Steuergesetzgebung zwischen Gleichheit und wirtschaftlicher Freiheit, 2000, S. 60 f. 60 Grundlegend: K. Vogel, Der Finanz- und Steuerstaat, in: HStR V, 3. Aufl. 2007, § 30. 56

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Steuerstaat aber nur am Ertrag freiwillig betätigter Erwerbsbereitschaft seiner Bürger partizipieren.61 Gerät diese sensible Wechselbeziehung aus dem Gleichgewicht, so droht dem Staat Schaden. Die auf wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zielende unternehmerische Betätigung und die davon abhängige Leistungsfähigkeit des Steuerstaats verbieten einen Steuerzugriff auf Erwerbseinkommen, das der Schaffung einer Erwerbs- und Steuerquelle dient und das in der Verlustsituation gar nicht vorhanden ist. Schützt die Privatnützigkeitsgarantie einen Kernbestand des Erfolges eigener Betätigung im wirtschaftlichen Bereich,62 so muss ihr über ihre Vorgaben für das subjektive Nettoprinzip63 hinaus, auch eine Direktivkraft für die steuerliche Verschonung der erwerbssichernden Aufwendungen64 entnommen werden. Diese Direktivkraft ist darauf gerichtet, den Teil des Erwerbseinkommens vor steuerlichem Zugriff zu schützen, der unverzichtbar ist, um die Einkommensquelle zu sichern und zu erhalten. Im unternehmerischen Bereich folgt aus der Privatnützigkeitsgarantie das Gebot, Verluste zu berücksichtigen, die das Ergebnis eigenverantwortlicher65 Betätigung der Investitionsfreiheit sind.66 Die Direktivkraft der Privatnützigkeitsgarantie kommt hier besonders deutlich als steuerliche Grenze der Sozialbindung des Einkommens zum Ausdruck. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die steuerliche Nichtberücksichtigung negativer Einkünfte im Rahmen des objektiven Nettoprinzips auch den Teil des Erwerbseinkommens mindert, der für die Befriedigung existenznotwendigen Aufwendungen im Rahmen des subjektiven Nettoprinzips zwangsläufig gebunden67 und durch die Privatnützigkeitsgarantie des Art. 14 GG auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor steuerlicher Belastung geschützt ist.68 III. Internationales Steuerrecht Soweit ersichtlich, wurde die Frage nach der Bedeutung des Art. 14 GG als Vorgabe für die steuerliche Belastungsentscheidung bislang noch nicht im Kontext des Internationalen Steuerrechts erörtert. Sie stellt sich jedoch einerseits im Hinblick auf die Rechtfertigung der Besteuerung grenzüberschreitender Sachverhalte, andererseits aber auch im Hinblick auf die dabei zu beachtenden Zugriffsgrenzen.

61

P. Kirchhof (o. Fußn. 32), Rdnr. 86, 122; Papier (o. Fußn. 1), Rdnr. 167. Vgl. die Nachw. in Fußn. 15 f. 63 Dazu o. 1. a). 64 Lehner (o. Fußn. 56), S. 6. 65 Siehe dazu bereits o. II. 1. a) bei Fußn. 11. 66 Zu dieser Voraussetzung und zur Abgrenzung echter von unechten Verlusten s. Lehner (o. Fußn. 56), S. 8 f. 67 Vgl. zu diesem, in der Entscheidung des BVerfG zur Entfernungspauschale allerdings nicht entscheidungserheblichem Zusammenhang: BVerfGE 122 (o. Fußn. 39), 233 f.; sehr deutlich insoweit: BFH v. 10. 1. 2008, VI R 17/07, BFH/NV 2008, 469 unter VI. 3. 68 BVerfGE 87 (o. Fußn. 15); dazu o. I. 1. 62

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1. Die Besteuerung grenzüberschreitender Sachverhalte als Rechtfertigungsproblem im Kontext der Sozialbindung Internationaler Übung entsprechend, knüpft das deutsche Steuerrecht an den Wohnsitz oder an den gewöhnlichen Aufenthalt der natürlichen Person eine unbeschränkte Einkommensteuerpflicht mit dem Welteinkommen, d. h. eine Steuerpflicht mit allen im Inland und im Ausland erzielten Einkünften.69 Personen, die im Inland weder einen Wohnsitz noch einen gewöhnlichen Aufenthalt haben, unterliegen einer beschränkten Einkommensteuerpflicht mit Einkünften, die sie aus inländischen Quellen erzielen.70 a) Grundlagen der äquivalenztheoretischen Steuerrechtfertigung Die mit diesen Zugriffsregeln verbundenen Rechtfertigungsprobleme71 können hier nur punktuell beleuchtet werden. Grundlegend ist die bereits in der Finanzwissenschaft des 19. Jahrhunderts begründete äquivalenztheoretische Steuerrechtfertigungslehre.72 Sie spiegelt sich heute in der Markteinkommenstheorie,73 die dem im steuerstaatlichen Prinzip74 verankerten Gedanken folgt, dass der Staat durch die Steuer an einem Ertrag beteiligt sein soll, den Erwerbstätige aus ihrer Marktbeteiligung unter Inanspruchnahme der staatlich bereitgestellten Infrastruktur erzielen.75 Während diese makrostrukturellen Zusammenhänge in den eigentumsrechtlichen Bedingungszusammenhängen von Privatnützigkeit und Sozialbindung innerstaatlich seit langem fruchtbar gemacht wurden,76 bleibt die verfassungsrechtliche „Rechtfertigung“ der Besteuerung grenzüberschreitender Sachverhalte den finanzwissenschaftlichen Begründungen der Äquivalenztheorie verhaftet. Dies mag 69 § 1 Abs. 1 EStG i. V. m. §§ 8 und 9 AO für natürliche Personen; § 1 KStG i. V. m. §§ 10, 11 AO für juristische Personen; dazu: M. Lehner/Ch. Waldhoff, in: Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, EStG, § 1 EStG, Rdnr. B 1 ff. 70 § 1 Abs. 4 EStG i. V. m. § 49 EStG; § 2 i. V. m. §§ 8 KStG, 49 EStG; dazu: Lehner/ Waldhoff (o. Fußn. 69), Rdnr. E 1 ff. 71 Grundlegend: K. Vogel, Rechtfertigung der Steuern: eine vergessene Vorfrage, in: Der Staat 1986, 481; für einen Überblick: Lehner/Waldhoff (o. Fußn. 69), Rdnr. A 163 ff. 72 Dazu umfassend: Lehner/Waldhoff (o. Fußn. 69), Rdnr. A 164 ff. 73 Vgl. H. G. Ruppe, Möglichkeiten und Grenzen der Übertragung von Einkunftsquellen als Rechtsproblem, DStJG 6 (1979), S. 7 (16) mit Bezug auf F. Neumark, Theorie und Praxis der modernen Einkommensbesteuerung, 1947, S. 41; P. Kirchhof, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 2 EStG, Rdnr. A 364 f.; H. Söhn, Erwerbsbezüge, Markteinkommenstheorie und Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, in: FS Tipke, 1995, S. 343; A. Steichen, Die Markteinkommenstheorie. Ei des Kolumbus oder rechtswissenschaftlicher Rückschritt?, in: FS Tipke, 1995, S. 365 (370 ff.). 74 Vgl. Steichen (o. Fußn. 73), S. 372 ff. 75 Grundlegend: Kirchhof (o. Fußn. 32), Rdnr. 2 ff., 87 ff.; ders. (o. Fußn. 73), § 2 EStG, Rdnr. B 181 ff. 76 Dazu o. II. 1. b).

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daran liegen, dass die äquivalenztheoretisch begründete Steuerrechtfertigungslehre für die Besteuerung grenzüberschreitender Sachverhalte einen Differenziertheitsgrad erreicht hat,77 der die Frage nach der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung in den Hintergrund treten lässt. Ein weiterer Grund mag darin bestehen, dass das Leistungsfähigkeitsprinzip nach wie vor allzu großzügig als Gebot gesehen wird, bei Steuerinländern keinen Unterschied zwischen dem Bezug von Einkünften aus dem Inland und dem Bezug von Einkünften aus dem Ausland zu machen, obwohl die ausländischen Einkünfte des Steuerinländers auch im Ausland, dort nach den Regeln der beschränkten Steuerpflicht, besteuert werden. Nachhaltige Kritik an diesem globalen Verständnis von Leistungsfähigkeit78 konnte sich bislang nicht durchsetzen. Die äquivalenztheoretische Rechtfertigung des Steuerzugriffs auf der Grundlage eines weit gefassten Verständnisses der Abgabe als „Gegenleistung“ für die Nutzung eines Marktes impliziert angesichts der Gebietsbezogenheit des Staates neben der territorialen Begründung auch eine territoriale Abgrenzung der staatlichen Besteuerungszuständigkeit. b) Der äquivalenztheoretisch-territoriale Rechtfertigungsgrund Vor diesem Hintergrund findet die unbeschränkte Steuerpflicht des Inländers ihre äquivalenztheoretische Rechtfertigung in der durch seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt begründeten und im erzielten Ertrag verwirklichten Möglichkeit, die Rechts- und Wirtschaftsordnung des besteuernden Staates für die Erzielung seiner Einkünfte in Anspruch zu nehmen. Im Rahmen der beschränkten Steuerpflicht bildet die inländische Einkommensquelle den territorial-äquivalenztheoretisch fundierten Bezug des steuerlichen Zugriffs und damit auch den Rechtfertigungsgrund für die Besteuerung des nicht ansässigen Steuerausländers. Die im Rahmen der unbeschränkten Steuerpflicht vorgesehene Besteuerung sowohl der inländischen als auch der ausländischen Einkünfte ist allerdings in Bezug auf die äquivalenztheoretische Rechtfertigung der Steuerpflicht von Auslandseinkünften problematisch, weil die ausländischen Einkünfte primär durch Nutzung der ausländischen Rechts- und Wirtschaftsstruktur erzielt werden. Bedeutsam ist jedoch, dass der Steuerinländer, falls er ausnahmsweise ausschließlich ausländische Einkünfte erzielt, inländische Infrastruktur zumindest auf der Ausgabenseite zum Zwecke der Bedarfsbefriedigung in Anspruch nimmt.79 Solange der Inlandsbezug in Gestalt des Wohnsitzes und des gewöhnlichen Aufenthalts jedoch gegeben und die persönlich-territoriale Verbindung von einer gewissen Dauer ist, kann dieser Sonderfall allerdings unberücksichtigt bleiben.

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Vgl. Lehner/Waldhoff (o. Fußn. 69), Rdnr. A 173 ff. Vgl. K. Vogel, Über „Besteuerungsrechte“ und über das Leistungsfähigkeitsprinzip im Internationalen Steuerrecht, in: FS Franz Klein, 1994, S. 361 (371 ff.), der sich nachhaltig für ein territorial begrenztes Verständnis von steuerlicher Leistungsfähigkeit ausspricht. 79 Dazu und zu weiteren Differenzierungen: Lehner/Waldhoff (o. Fußn. 69), Rdnr. A 177 ff. 78

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c) Die Sozialbindung als Rechtfertigungsgrund für die Besteuerung grenzüberschreitender Sachverhalte Unabhängig von der im grenzüberschreitenden Zusammenhang notwendigen territorial-äquivalenztheoretischen Rechtfertigung der inländischen Steuerpflicht ist anerkannt, dass die Sozialbindung im Sinne des Art. 14 Abs. 2 GG als Konkretisierung des steuerstaatlichen Prinzips und damit auch als Bestätigung der Markteinkommenstheorie zu verstehen ist.80 Es liegt deshalb nahe, die Sozialbindung im Sinne der territorial-äquivalenztheoretischen Rechtfertigung des Steuerzugriffs auch auf die Erzielung ausländischer Einkünfte durch Steuerinländer und auf die Erzielung inländischer Einkünfte durch Steuerausländer zu erstrecken, wenn die inländische Rechts- und Wirtschaftsordnung für die Erzielung derartiger Einkünfte oder für die Bedarfsbefriedigung in Anspruch genommen wird.81 Sozialbindung im Sinne einer Abgabe zum Wohl der Allgemeinheit darf freilich nicht strikt nationalstaatlich verstanden werden, sie muss vielmehr im Sinne der Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit und nach den Vorgaben des europäischen Integrationsziels ausgestaltet werden.82 Das bedeutet, dass Sozialbindung im Zusammenhang mit der Besteuerung von grenzüberschreitenden Sachverhalten unter Berücksichtigung des Steuerzugriffs durch den anderen Staat konkretisiert werden muss. Daraus folgt die Verpflichtung des Staates, Maßnahmen zur Vermeidung und Beseitigung der Doppelbesteuerung zu ergreifen83 und die Vorgaben der unionsrechtlichen Grundfreiheiten bei der Besteuerung grenzüberschreitender Sachverhalte84 zu beachten. 2. Die Privatnützigkeitsgarantie als Zugriffsgrenze bei der Besteuerung von grenzüberschreitenden Sachverhalten Auch im Fall der Besteuerung grenzüberschreitender Sachverhalte ist die Bindung des deutschen Fiskus an die steuerlichen Zugriffsgrenzen des subjektiven und des objektiven Nettoprinzips nach Maßgabe der Privatnützigkeitsgarantie zu gewährleisten.85 Im Fall der unbeschränkten Steuerpflicht ist die Erfüllung dieser Vorgabe möglich, solange der Steuerpflichtige Einkünfte erzielt, die im Inland steuerpflichtig sind. Aber auch wenn der im Inland Ansässige nur Einkünfte aus dem Ausland erzielt, bleibt die Berücksichtigung der steuerlichen Zugriffsgrenzen im Wohn80

Dazu o. III. 1.; II. 1. b). Dazu o. a). 82 Vgl. H.-J. Papier, Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, in: Handbuch des Verfassungsrechts, Band 1 (o. Fußn. 9), § 18 Rdnr. 30 ff. 83 Vgl. Lehner/Waldhoff (o. Fußn. 69), Rdnr. A 496, dort allerdings nur nach Maßgabe der Vorgaben des Leistungsfähigkeitsprinzips. 84 Grundlegend: A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002. 85 Dazu o. II. 1. 81

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sitzstaat möglich und deshalb auch geboten, solange der Wohnsitzstaat nicht durch ein Doppelbesteuerungsabkommen daran gehindert ist, die Auslandseinkünfte der in seinem Gebiet ansässigen Person zu besteuern. Andernfalls stellt sich die Frage, ob der Quellenstaat die steuerlichen Zugriffsgrenzen beachten muss. Für die Bundesrepublik Deutschland als Quellenstaat wird die Beachtung dieser Zugriffsgrenzen durch § 1 Abs. 3 EStG gewährleistet, der aber nur unter der Voraussetzung wirkt, dass der beschränkt steuerpflichtige Steuerausländer den Großteil seiner Einkünfte im Inland erzielt.86 Die insbesondere im Lichte der unionsrechtlichen Grundfreiheiten erhobene Forderung nach einer den Einkünften im jeweiligen Quellenstaat entsprechenden quotalen Berücksichtigung von existenzsichernden87 Aufwendungen, muss für das Recht der Bundesrepublik Deutschland auch in Drittstaatskonstellationen unter Berücksichtigung der Privatnützigkeitsgarantie des Art. 14 GG positiv entschieden werden. IV. Zusammenfassung Das in seiner überkommenen Struktur und Wirkung gleichheitsrechtlich geprägte und somit inhaltsarme Leistungsfähigkeitsprinzip bedarf der Ergänzung durch freiheitsrechtliche Vorgaben. Beruhend auf einem Funktionswandel von Eigentum im Sinne von Einkommen strukturiert Art. 14 GG den steuerlichen Belastungsmaßstab im Spektrum zwischen der Privatnützigkeitsgarantie, die das indisponible existenzund erwerbssichernde Einkommen vor steuerlichem Zugriff schützt und der Sozialbindung, die den steuerlichen Zugriff auf das disponible Einkommen als Abgabe zum Wohl der Allgemeinheit rechtfertigt. Dies gilt im Rahmen der Unterscheidung zwischen der unbeschränkten und der beschränkten Steuerpflicht auch für die Besteuerung grenzüberschreitender Sachverhalte. Während für die Zugriffsgrenzen der Privatnützigkeitsgarantie insoweit grundsätzlich keine Unterschiede zur Besteuerung rein innerstaatlicher Einkünfte bestehen, erfordert die Sozialbindung bei der Besteuerung grenzüberschreitender Sachverhalte Bemühungen um Vermeidung von Doppelbesteuerung und Beachtung der unionsrechtlichen Grundfreiheiten.

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Vgl. dazu: Lehner/Waldhoff (o. Fußn. 69), Rdnr. D 1 ff. Grundlegend zu dieser Diskussion: P. J. Wattel, Progressive Taxation of Non-Residents, in: European Taxation 2000, 210; erwerbssichernde Aufwendungen können bereits de lege lata im Rahmen der beschränkten Steuerpflicht geltend gemacht werden, soweit diese Aufwendungen im wirtschaftlichen Zusammenhang mit den inländischen Einkünften stehen (§ 50 Abs. 1 Satz 1 EStG); M. Lehner, in: FS P. Kirchhof, 2013, S. 1635 (1641 f.). 87

Der enteignende Eingriff – ein Relikt auf vorverfassungsrechtlicher Grundlage Von Lerke Osterloh Lange Zeit, unter der Ägide des III. Senats des Bundesgerichtshofs, bewegte sich das Recht der Enteignung und der Enteignungsentschädigung im Sinne des Art. 14 Abs. 3 GG außerhalb der grundrechtlichen Normalität.1 Art. 14 Abs. 3 GG war danach nicht (nur) als eine verfassungsrechtliche Ermächtigung an den Gesetzgeber zu lesen, sondern primär als Anspruchsgrundlage für Entschädigung „nach enteignungsrechtlichen Grundsätzen“, der im praktischen Ergebnis jede Eigentumsbeeinträchtigung jenseits der Grenzen entschädigungslos zulässiger Sozialbindung des Eigentums gemäß Art. 14 Abs. 1 u. 2 GG zuzuordnen war. Erst die vom Bundesverfassungsgericht2 mit Beschlüssen vom 14. und 15. Juli 19813 eingeläutete Wende der herrschenden Eigentumsdogmatik führte zur Rückbesinnung auf Wortlaut, Systematik und Sinn auch des Art. 14 Abs. 3 GG: Danach scheidet die Enteignungsermächtigung des Satz 1 einschließlich des Entschädigungsjunktims des Satz 2 als Rechtsgrundlage für richterrechtliche Entschädigungsansprüche aus und bleibt ausschließlich Regelungsaufgabe des Gesetzgebers. Entsprechendes gilt für die Ausgestaltungsermächtigung des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG. Auch die Wahrnehmung dieser Ausgestaltungsermächtigung durch den Gesetzgeber bleibt (verfassungsmäßige oder verfassungswidrige) Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums und schlägt nicht in eine entschädigungspflichtige Enteignung um, wenn die verfassungsrechtlichen Grenzen der Ausgestaltungsermächtigung überschritten werden. Der Tatbestand der Enteignung wird nicht mehr nach Maßgabe der Entschädigungsbedürftigkeit einer Beeinträchtigung weit ausgelegt, sondern stark eingeschränkt, orientiert am historischen Typus der technischen Grundstücksenteignung nach preußischem Recht (sog. klassische Enteignung). Korrespondierend ist der Geltungsbereich der Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums geöffnet für Aus-

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F. Schoch, Die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG, Jura 1989, S. 113. Nach Vorarbeiten in der Literatur, u. a. H. Rittstieg, Eigentum als Verfassungsproblem, 1975; H. Schulte, Eigentum und öffentliches Interesse, 1970; ders., Zur Dogmatik des Art. 14 GG, 1979; L. Schulze-Osterloh, Das Prinzip der Eigentumsopferentschädigung im Zivilrecht und im öffentlichen Recht, 1980, S. 232 ff., insb. S. 266 ff. 3 BVerfGE 58, 137 – Pflichtexemplar; BVerfGE 58, 300 – Nassauskiesung; aktueller Überblick zum Ganzen m. zahlr. Nachw. z. B. bei B.-O. Bryde, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2012, Art. 14 Rdnrn. 5, 49 ff. 2

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gleichsregelungen nach Maßgabe der Anforderungen eines gleichheitsgerechten und verhältnismäßigen Eigentumsschutzes.4 Damit war die Mobilisierung des Art. 14 GG als eine unmittelbar anwendbare und einklagbare Anspruchsgrundlage des Staatshaftungsrechts zwar ausgeschlossen. Nur auf den ersten Blick war aber zugleich der Rechtsschutz gegen rechtswidrige Eigentumsbeeinträchtigungen – wie grundrechtlicher Rechtsschutz im übrigen – beschränkt primär auf Ansprüche auf Unterlassung, Abwehr und Folgenbeseitigung sowie sekundär auf die Staatshaftung gem. Art. 34 GG, § 839 BGB. Vielmehr hielt der Bundesgerichtshof bekanntlich an den Instituten des enteignungsgleichen und des enteignenden Eingriffs fest und berief sich insoweit auf eine gewohnheitsrechtliche Geltung der allgemeinen Aufopferungsgrundsätze der §§ 74, 75 Einl. ALR in ihrer richterrechtlichen Ausprägung.5 Für den Bundesgerichtshof bedeutete diese Fundierung seiner Rechtsprechung gleichsam eine Rückkehr zu den Wurzeln, nämlich zu der Leitentscheidung des Großen Zivilsenats aus dem Jahr 1952.6 Dort hatte das Gericht in ungebrochener Fortführung der Rechtsprechung des Reichsgerichts Enteignung und enteignungsgleichen Eingriff in einen unmittelbaren Ableitungszusammenhang zwischen den §§ 74, 75 Einl. ALR, Art. 153 WRV und Art. 14 GG eingefügt und die Grundsätze der Aufopferungsentschädigung als den allgemeinen zugrundeliegenden Rechtsgedanken hervorgehoben, der auch unter dem Grundgesetz gewohnheitsrechtlich fortgelte. Wenn dem Rückgriff des Bundesgerichtshofs auf diese Grundgedanken gleichwohl die Berufung auf „Gewohnheitsunrecht“7 vorgeworfen wird, so müsste der Vorwurf eigentlich auch bereits diese Grundentscheidung einbeziehen, denn danach wurde der Grundsatz des „Dulde und liquidiere“ ohne Blick auf die Möglichkeiten negatorischen verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes gegen rechtswidrige Eingriffe8 auf die §§ 74, 75 Einl. ALR gestützt, obwohl jene Normen erkennbar die Entschädigung mit einer Duldungspflicht, nicht mit einer Duldung nach Wahl verkoppeln. Soweit es aber um nicht wirksam abwehrbare rechtswidrige Eingriffe geht, wie etwa Verzögerungsschäden oder Realakte, trifft ebenfalls der weitere Vorwurf zu, dass die wesentliche Funktion der richterrechtlich begründeten Entschädigung „weder mit Enteignung noch mit Aufopferung etwas zu tun hat“,9 denn es geht

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Dazu, jetzt ohne Fragezeichen, lediglich einschränkend, m. umf. Nachw. H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 (2010) Rdnrn. 378a ff. 5 BGHZ 90, 17 (31) zum enteignungsgleichen Eingriff; BGHZ 91, 20 (28) zum enteignenden Eingriff. 6 BGHZ 6, 270, insb. 276 ff.; vgl. auch wenig später BGHZ 8, 273 zum „Aufopferungsanspruch des Straßenanliegers“. 7 A. Schmitt-Kammler, Enteignungsentschädigung und staatliche Unrechtshaftung, in: FS Ernst Wolf, 1985, S. 595 (608). 8 Zum raschen Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit nach 1945 m. w. N. E. SchmidtAßmann, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Einleitung Rdnrn. 89 ff. 9 Bryde (o. Fußn. 3), Art. 14 Rdnr. 99.

Der enteignende Eingriff

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um die richterrechtliche Ergänzung des seit langem ergänzungsbedürftigen Staatshaftungsrechts. Auch der enteignende Eingriff wird als Haftung für „Erfolgsunrecht“ vielfach dem Staatshaftungsrecht zugerechnet und gleichsam als Anhängsel des enteignungsgleichen Eingriffs betrachtet.10 Ihm fehlt jedoch eine dem enteignungsgleichen Eingriff vergleichbare klare und konstante staatshaftungsrechtliche Funktion, die zugleich den Ausgangspunkt für dessen mögliche Legitimation bilden könnte. Der enteignende Eingriff als Institution richterrechtlicher Entschädigung ist vielmehr mehrschichtig und spiegelt mit wechselnden Inhalten und Funktionen auch im Zeitablauf die Brechungen der Entwicklung eigentumsrechtlichen Entschädigungsschutzes im Zusammenspiel und im Disput zwischen Zivil-, Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit sowie Gesetzgebung wider. Zunächst als wohl konsequente „Abrundung“ eines weit gefassten richterrechtlichen Tatbestands der Entschädigung nach „enteignungsrechtlichen Grundsätzen“ eingeführt, sodann – letztlich weitgehend erfolglos – im „Kampf um Art. 14 GG“11 eingesetzt als Instrument zur Sicherung und Abgrenzung zivilgerichtlicher Zuständigkeit für Entschädigung nach aufopferungsrechtlichen Grundsätzen,12 lebt der enteignende Eingriff bis heute in der vielfach kritisierten,13 von maßgeblichen Stimmen14 aber auch verteidigten Rechtsprechung als angeblich geltendes (Gewohnheits-) Recht fort15 und fungiert als ein Reserveblankett

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D. Ehlers, Eigentumsschutz, Sozialbindung und Enteignung bei der Nutzung von Boden und Umwelt, VVDStRL 51 (1992), S. 211 (246, Fußn. 186: Modalität des enteignungsgleichen Eingriffs); M. Albrod, Entschädigungsbedürftige Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums nach Art. 14 I 2 GG, 1995, S. 214 ff.; J. Rozek, Die Unterscheidung von Eigentumsbindung und Enteignung, 1998, S. 239 f.; C. Külpmann, Enteignende Eingriffe?, 2000, S. 243 ff., zusammenfassend S. 259 ff.; W. Kluth, in: Wolff/Bachof/Stober (Hrsg.), VerwR II, 7. Aufl. 2010, § 72 Rdnr. 25; vgl. auch, mit begrifflichen Differenzierungen, B. Grzeszick, Rechte und Ansprüche, 2002, S. 456. 11 F. Schoch, Der Rechtsweg bei ausgleichspflichtigen Eigentumsinhaltsbestimmungen, JZ 1995, S. 768. 12 Dazu auch L. Osterloh, Retrospektive und prospektive Kompensation der Folgen rechtmäßigen Hoheitshandelns, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR III2 (2012), § 55 Rdnrn. 23 ff. 13 Eingehend M. Jaschinski, Der Fortbestand des Anspruchs aus enteignendem Eingriff, 1997, zusammenfassend S. 246 ff.; vgl. auch bei den in Fußn. 10 zitierten Fundstellen. 14 Insb. Papier (o. Fußn. 4), Rdnrn. 716 ff. m. w. N.; F. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl. 1998, S. 270 ff. 15 Vgl. nur BGHZ 102, 350 (361 f.) – Waldschaden; BGHZ 158, 263 (268 f.) – Überschwemmungsschaden; BGHZ 166, 37 (39 ff.) – Überschwemmung nach „Katastrophenregen“; BGH, NJW 2011, 3157 ff. – Polizeieinsatz; aus der Instanzenrechtsprechung der letzten Jahre etwa OLG Hamm, Beschl. v. 31. 03. 2010, 11 U 338/09, I-11 U 338/09, betr. PkWSchaden durch Abgasuntersuchung; OLG Karlsruhe, Urt. v. 06. 04. 2010, 12 U 11/10, MDR 2010, 1117 f., betr. Ernteschaden durch Rabenvögel; LG Düsseldorf, Urt. v. 29. 09. 2010, 2b 0 34/10, betr. Verbringungsverbot für Schweine wegen Schweinepest; Saarländisches OLG Saarbrücken, Urt. v. 19. 04. 2011, 4 U 314/10 – 93, 4 U 314/10, betr. PkW-Schaden nach Beschlagnahme; LG Magdeburg, Urteil v. 14. 07. 2011, 10 0 787/11, betr. Polizeieinsatz; Säch-

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für die mögliche Ausfüllung vermeintlicher haftungsrechtlicher „Lücken“ vor allem auf dem Gebiet öffentlich-rechtlicher Gefährdungshaftung. Dies ist nachfolgend kritisch zu erläutern. Hierfür sind zunächst die wechselnden Formeln zur Kennzeichnung des enteignenden Eingriffs zu betrachten, um anschließend die Frage nach den gegenwärtigen Legitimationsgrundlagen zu beantworten. I. Der mehrschichtige „Tatbestand“ des enteignenden Eingriffs und seine wechselnden Funktionen Auf der Suche nach den bestimmenden Merkmalen des enteignenden Eingriffs sind die Phasen jeweils vor und nach der dogmatischen Wende in der Folge der verfassungsgerichtlichen Intervention mit den Entscheidungen im Jahr 1981 getrennt zu betrachten, denn die formelhaften Kennzeichnungen und deren tragender Sinn „davor“ und „danach“ unterscheiden sich in markanter Weise. 1. Die erste Phase: Von der Enteignung zur enteignenden Wirkung Als Kennzeichen der früheren entschädigungsrechtlichen Rechtsprechung des BGH kann wohl die mangelnde Eigenständigkeit und Abgrenzbarkeit des sog. enteignenden Eingriffs gegenüber der Enteignung bezeichnet werden.16 Nachdem zunächst die Finalität, also Zielgerichtetheit eines „Eingriffs“ als gleichsam selbstverständliches Merkmal sowohl der (rechtmäßigen) Enteignung, als auch des (rechtswidrigen) enteignungsgleichen Eingriffs gegolten hatte, veränderte sich die Perspektive der Rechtsprechung vor allem im Zusammenhang mit den tatsächlichen „Nebenwirkungen“ des Ausbaus von Verkehrswegen. Repräsentativ für diese bereits kurz nach der Grundsatzentscheidung des Großen Zivilsenats einsetzende Entwicklung17 sind die bekannten Entscheidungen „Bärenbaude“,18 „Buschkrugbrücke“19 und „Frankfurter U-Bahn“20 ; sie markieren den Ausbau entschädigungsrechtlichen Schutzes von Gewerbebetrieben gegenüber umsatzschädigenden Beeinträchtigungen durch Straßen- und U-Bahnbau, wie etwa Zugangs- und Sichtbehinderungen oder Lärm- und Schmutzentwicklung, die häufig zwar nicht als zielgerichtete Eingriffe im engeren Sinne hoheitlicher Gebote oder Verbote zu qualifizieren waren, deren „unmittelbare“ wirtschaftliche Auswirkungen jedoch als entschädigungsbedürftig gewertet wurden. sisches OVG, Beschl. v. 10. 07. 2012, 1 B 158/12, betr. Nachbarrecht, Unterscheidung von Zumutbarkeitsschwellen. 16 Näher dazu etwa Jaschinski (o. Fußn. 13), S. 37 ff. 17 Vgl. Fußn. 6. 18 BGH MDR 1964, 656. 19 BGH NJW 1965, 1907. 20 BGHZ 57, 359, mit zusammenfassendem Überblick und zahlr. Nachw.

Der enteignende Eingriff

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Was im Zusammenhang mit Straßen- und U-Bahn-Bau als leitender Gedanke auffällt, wird praktisch zeitgleich in anderen Entscheidungen zu militärischen Manöverschäden ausdrücklich bekräftigt: Für die Qualifikation eines Eingriffs im enteignungsrechtlichen Sinn genüge es, „dass eine hoheitliche Maßnahme ,unmittelbar‘ [….] Auswirkungen auf das Eigentum im Sinne des Enteignungsrechts“ habe,21 bzw., dass solche unmittelbaren Auswirkungen „von der Eigenart einer hoheitlichen Maßnahme“ ausgingen.22 Weder die „Zufälligkeit“ des Schadens, noch sonst der Mangel an einem Willen zur Schadenszufügung gelten danach als Hindernis für enteignungsrechtliche Entschädigungsansprüche. In all diesen Entscheidungen werden „Enteignung“ und „enteignender Eingriff“ oder „enteignende Wirkung“ praktisch ganz ohne gegenseitige Abgrenzung gleichsam in einem Atemzug genannt. Der enteignende Eingriff war danach Bestandteil des auf unmittelbare Auswirkungen erstreckten Tatbestands der Enteignung. Allerdings fand die Ablösung des „finalen“ Eingriffs durch die „unmittelbare“ Auswirkung im Ausgangspunkt mit Blick auf den – rechtswidrigen – enteignungsgleichen Eingriff statt.23 Der – rechtmäßige – enteignende Eingriff trat insoweit ergänzend hinzu, und zwar, abgesehen von der Rechtswidrigkeit, als eine mit dem enteignungsgleichen Eingriff tatbestandsidentische Ergänzung: hoheitliche Maßnahme, unmittelbare Auswirkung auf das Eigentum, Sonderopfer. Diese tatbestandliche Übereinstimmung war jedoch stets nur äußerst vordergründiger terminologischer Art. Während nämlich das entschädigungsbedürftige „Sonderopfer“ beim enteignungsgleichen Eingriff eine Rechtsfolge der Rechtswidrigkeit der Beeinträchtigung sein sollte,24 bedurfte es beim enteignenden Eingriff zu den Voraussetzungen eines Sonderopfers einer zusätzlichen Begründung,25 da ja die Grenze „zumutbarer“ „Sozialbindung“ nicht schon durch die Rechtswidrigkeit der Maßnahme überschritten war. Trotz identischer Terminologie ging es deshalb stets um unterschiedliche Entschädigungs- bzw. Haftungsgründe. Die eigenständige Begründungsbedürftigkeit des Sonderopfers entfernte so den enteignenden Eingriff wieder deutlich vom enteignungsgleichen Eingriff und führte ihn dem Anwendungsbereich des weiten Begriffs der rechtmäßigen Enteignung zu. Im Zusammenhang mit den zahlreichen Fällen des Anliegerschutzes gegenüber dem Ausbau und der Nutzung von Verkehrswegen (nachfolgend ungenau aber kurz: in den Immissionsfällen) pflegte der BGH im Übrigen auf die Parallelen zwi21 BGHZ 37, 44 (47) – Entschädigung wegen Vernichtung gelagerten Holzes durch Waldbrand infolge von Artillerieschießübungen auf einem Truppenübungsplatz. 22 BGH NJW 1964, 104 – Zerstörungen an einem Gasthaus durch einen ausbrechenden Schützenpanzer (Entscheidung zum enteignungsgleichen Eingriff, Begründung allgemein zum Eingriff „im enteignungsrechtlichen Sinn“). 23 Vgl. bei den vorangehend zitierten Leitentscheidungen. 24 Seit BGHZ 32, 208 (211 f.). 25 Deren (mögliche) Schwierigkeiten veranschaulicht die Entscheidung zur Frankfurter UBahn (Fußn. 20).

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schen dem Entschädigungsanspruch wegen enteignenden Eingriffs und den Ansprüchen nach § 906 Abs. 2 BGB und nach § 42 Abs. 2 BImSchG zu verweisen mit Formulierungen, die auch hier keinerlei Unterschied zwischen Enteignung und enteignendem Eingriff erkennen lassen. So heißt es etwa zu einer Entschädigung wegen des von einem Militärflughafen verursachten Lärms,26 es gehe um einen „Anspruch auf Entschädigung wegen Enteignung nach Maßgabe eines Ausgleichsanspruchs im Sinn des § 906 Abs. 2 S. 2 BGB“, oder auch, in der Entscheidung zur „Vorberücksichtigung“27 des BImSchG beim Schutz vor Straßenverkehrslärm:28 „Bei der in § 42 BImSchG gewährten Entschädigung handelt es sich um eine Enteignungsentschädigung.“ 2. Die zweite Phase: Neue Formel zur Rechtfertigung richterrechtlicher Entschädigung wegen enteignender Wirkung Die Leitentscheidung aus dem Jahr 198429 zur Fortführung der Rechtsprechung zum enteignenden Eingriff auch nach dem verfassungsgerichtlichen Beschluss zur Nassauskiesung im Jahr 1981 präsentiert eine „neue Formel“ zur Kennzeichnung dieses Haftungsinstituts, die bis heute in Literatur30 und Rechtsprechung31 lebendig geblieben ist, was angesichts ihrer eigentlich offenkundigen Mängel erstaunen muss; sie stellt einen misslungenen Versuch der Begründung dafür dar, dass der Vorbehalt des Gesetzes für dieses Haftungsinstitut nicht gelten soll: Nachdem das Gericht zunächst auf seine bisherige Rechtsprechung zu dem konkreten nachbarrechtlichen Entscheidungsgegenstand verweist32 (von einer Kläranlage ausgehende Geruchsimmissionen), heißt es dann, um eine Enteignung im Sinne der neueren verfassungsgerichtlichen Judikatur handele es sich dabei nicht, „vielmehr darum, dass eine an sich rechtmäßige hoheitliche Maßnahme bei einzelnen Betroffenen zu – meist atypischen und unvorhergesehenen – Nachteilen führt, die die Schwelle des enteignungsrecht26

BGHZ 59, 378 (386). M. Kloepfer, Entschädigung für Straßenverkehrslärm, JuS 1976, S. 436. 28 BGHZ 64, 220 (225). 29 BGHZ 91, 20. 30 Vgl. nur m. w. N. Ossenbühl (o. Fußn. 14), S. 273 mit ausdrücklichem Hinweis auf die mangelnde Übereinstimmung dieser Formel (zur Voraussehbarkeit) mit den Anspruchsvoraussetzungen; H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2011, § 27 Rdnr. 112; Sproll, in: Detterbeck/Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht, 2000, § 17 Rdnr. 53; Kluth (o. Fußn. 10), § 72 Rdnrn. 3 ff.; F.-J. Peine, Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Aufl. 2011, § 17 Rdnr. 1219; S. Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Aufl. 2012, § 22 Rdnrn. 1161 f. 31 Vgl. die oben (Fußn. 15) angeführten Entscheidungen. 32 Mit den Formulierungen zu den Voraussetzungen eines Entschädigungsanspruchs wegen eines enteignenden Eingriffs: „… wenn die Zuführung der Immissionen nicht untersagt werden kann, die Einwirkungen sich als ein unmittelbarer Eingriff in nachbarliches Eigentum darstellen und die Grenze dessen überschreiten, was unter privaten Nachbarn ohne Ausgleich nach § 906 BGB hingenommen werden muss …“. 27

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lich Zumutbaren überschreiten … Für den Ausgleich solcher Folgewirkungen gilt nicht der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Entschädigung.“ Der BGH stützt sich hierbei auf Formulierungen, die ähnlich schon früh von Hartmut Maurer33 und von Fritz Ossenbühl34 verwendet wurden, dort jedoch wohl eher nur als phänotypische Umschreibung wesentlicher Anwendungsfelder.35 Jedenfalls aber sind solche Formeln zur präzisen Kennzeichnung eines „Tatbestands“ des entschädigungspflichtigen enteignenden Eingriffs ganz ungeeignet und können schon deshalb eine korrespondierende Geltungsbeschränkung des Vorbehalts des Gesetzes nicht begründen. Das zeigt sich auch am konkret betroffenen Entscheidungsfall der zitierten Leitentscheidung: Dass von einer Kläranlage Gestank auf Nachbargrundstücke ausgeht (soweit keine hinreichenden Gegenmaßnahmen ergriffen worden sind), ist weder atypisch noch unvorhersehbar, und das gilt auch für ein mögliches unerträgliches Übermaß an Gestank. Was der Ausgangsfall illustriert, gilt für den enteignenden Eingriff allgemein. Anders als die Formel des BGH trotz des eingeschobenen Adverbs „meist“ wohl suggerieren sollte, fungieren weder mangelnde Vorhersehbarkeit noch der Charakter als faktische Nebenfolge hoheitlichen Handelns als konstitutive Tatbestandselemente des enteignenden Eingriffs, wobei die mangelnde Vorhersehbarkeit in den nachbarrechtlichen Konstellationen nicht einmal typisch ist. Im Hinblick auf die Vorhersehbarkeit hat der BGH dies im Zusammenhang mit Lärmbelästigungen durch einen Militärflugplatz auch ausdrücklich klargestellt.36 Aber auch eine Beschränkung auf faktische Einwirkungen gibt es nach der Rechtsprechung nicht. Wie ebenfalls der BGH37 selbst in seinem Waldschadenurteil zutreffend angeführt hat, kommen „hoheitliche Realakte, straßenrechtliche Planfeststellungsbeschlüsse (im Zusammenhang mit Verkehrsimmissionen) oder Verwaltungsakte (z. B. straßenrechtliche Widmung)“ als enteignende Eingriffe in Betracht, und das Gericht ließ sogar ausdrücklich offen, ob dies auch für eine unmittelbare gesetzliche Einwirkung dann gelten könne, wenn diese „im Einzelfall zu Einbußen führt, die Ausnahmecharakter tragen und nur unter besonderen Umständen entstehen“. Die Formel von der „an sich rechtmäßigen hoheitlichen Maßnahme“, die „bei einzelnen Betroffenen zu – meist atypischen und unvorhergesehenen – Nachteilen führt, die die Schwelle des enteignungsrechtlich Zumutbaren überschreiten“, ist nach allem nicht nur sehr ungenau, sondern in dem vom BGH hergestellten Verwendungszusammenhang unbrauchbar: Als Begründung für die evident zutreffende Aussage, dass es in den Anwendungsfällen des enteignenden Eingriffs nicht um eine Enteignung im engen Sinn der verfassungsgerichtlichen Interpretation des Art. 14 Abs. 3 GG geht, ist die Formel überflüssig. Als Begründung für eine Auslagerung der richterrechtli33

H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1. Aufl. 1980, § 26 Rdnr. 56. F. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 3. Aufl. 1983, S. 149. 35 Vgl. insb. Ossenbühl, ebd. 36 BGH, NJW 1986, 220 (220); vgl. auch BGHZ 122, 76; 129, 124. 37 BGHZ 102, 350 (361 f.). 34

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chen Entschädigungsgewähr aus dem Geltungsbereich des Vorbehalts des Gesetzes verfehlt sie ihr Ziel, denn der „Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Entschädigung“ gilt nicht nur für die Enteignungsentschädigung, sondern auch für Ausgleichsansprüche im Geltungsbereich des Art. 14 Abs. 1 GG.38 3. Fazit und Konsequenzen Die Mängel im Kern der Rechtsprechung zur Fortführung des enteignenden Eingriffs wirkten sich zwangsläufig auch in der weiteren Entwicklung der Rechtsprechung des BGH aus. Insoweit lassen sich zwei wesentliche Anwendungsbereiche unterscheiden, nämlich zum einen der Bereich der hier (vereinfachend) so bezeichneten Immissionsfälle und zum anderen der Bereich (ebenfalls vereinfachend) der Unglücksfälle. Im ersten Bereich, den Immissions- oder auch Nachbarrechtsfällen, führte die Rechtsprechung des BGH lange Zeit angesichts unklarer Konkurrenzverhältnisse zwischen gesetzlichen Anspruchstatbeständen und den früher als enteignungsrechtlich, dann als aufopferungsrechtlich etikettierten Grundsätzen einer Entschädigung wegen enteignenden Eingriffs zu erheblicher Konfusion und Unsicherheit39 vor allem auch in der Rechtswegfrage.40 Indes sind dort inzwischen die wesentlichen Schlachten geschlagen: Die Einbeziehung von Ausgleichsansprüchen nicht nur unterhalb, sondern auch oberhalb der „enteignungsrechtlichen“ Zumutbarkeitsschwelle in den Anwendungsbereich des § 74 Abs. 2 Satz 3 VwVfG und die damit korrespondierende Präklusionswirkung des Planfeststellungsbeschlusses auch gegenüber ehedem „enteignungsrechtlichen“ Entschädigungsansprüchen akzeptierte schließlich auch der BGH.41 Ebenso ist die verfassungsrechtliche Zuordnung der einfachgesetzlichen Ausgleichsansprüche (insb. gem. § 74 Abs. 2 Satz. 3 VwVfG, § 42 Abs. 2 BImSchG oder auch gem. § 8a Abs. 5 FStrG) zum Geltungsbereich des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG als notwendige Konsequenz der verfassungsgerichtlichen Einschränkung des Enteignungstatbestands des Art. 14 Abs. 3 GG praktisch nicht mehr umstritten.42 Schließlich aber sorgte seit dem Jahr 2001 auch der Gesetzgeber für eine weitgehende Bereinigung der prozessualen Rechtslage mit der ausdrücklichen Bestimmung des § 40 Abs. 2 Satz 1 HS. 2 VwGO, wonach Ausgleichsansprüche im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG auf den Verwaltungsrechtsweg (zurück-)verwiesen werden. 38 BVerfGE 100, 226 (245); zur übereinstimmenden h. M. m. w. N. nur Bryde (o. Fußn. 3), Rdnr. 97. 39 Osterloh (o. Fußn. 12), Rdnrn. 25, 38 ff. 40 Dazu etwa Schoch (o. Fußn. 11); im Überblick m. w. N. 41 Ohne Vorbehalte allerdings bislang nur der V. Senat, BGHZ 161, 323; der III. Senat, BGHZ 140, 285 (298 ff.) beschränkte seine Akzeptanz der Rspr. des BVerwG dagegen ausdrücklich auf Entschädigung für passive Lärmschutzmaßnahmen. 42 BVerfGE 79, 174 (191 ff.); BVerfG(K), NVwZ 2010, 512 (514).

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Danach ist eine ergänzende Heranziehung des enteignenden Eingriffs als richterrechtliche Anspruchsgrundlage in Immissionsfällen durch nichts mehr gerechtfertigt. Bereits der V. Senat des BGH hat der Rechtsprechung des III. Senats, der § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB für die Zumutbarkeitsgrenze beim enteignenden Eingriff heranzog,43 attestiert, es handele sich „schlicht“ um die analoge Anwendung dieser zivilrechtlichen Norm im öffentlichen Recht.44 Genau diesen Anwendungsraum füllt jedoch ein allgemeiner nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch des öffentlichen Rechts aus, den das Bundesverwaltungsgericht45 lege artis im Wege der Gesamtanalogie (und auf dem richtigen Rechtsweg) als allgemeinen Rechtsgrundsatz insbesondere mit Blick auf den Lärmschutz an Verkehrswegen entwickelt hat, denen keine Planfeststellung, sondern Bebauungspläne zugrunde liegen. Während nach allem die Rechtslage in den Immissionsfällen im Wesentlichen zu Lasten legitimer Fortexistenz des enteignenden Eingriffs als geklärt angesehen werden sollte, gilt anderes auf dem Feld der hier sog. Unglücksfälle, obwohl gerade diese Fälle auch von Kritikern der Rechtsprechung als legitimes Reservat angesehen worden sind.46 In diesem Bereich geht es jedoch in der Sache um eine allgemeine öffentlich-rechtliche Gefährdungshaftung, deren Legitimationsgrundlagen äußerst zweifelhaft sind und deshalb näherer Betrachtung bedürfen. II. Der enteignende Eingriff als Grundlage richterrechtlicher Gefährdungshaftung im Öffentlichen Recht 1. Fallgruppen Als paradigmatisch für den Einsatz des enteignenden Eingriffs als Grundlage für eine allgemeine öffentlich-rechtliche Gefährdungshaftung können zwei verschiedene Fallgruppen gelten: Einerseits Überschwemmungsschäden, andererseits die Beeinträchtigung des unbeteiligten Dritten durch Maßnahmen der Gefahrenabwehr. a) Zu den Überschwemmungsschäden ist eine Entscheidung des BGH47 besonders interessant, in der es – vor dem Hintergrund einer Reihe früherer Entscheidungen zu Schäden aufgrund von Hochwasserschutzmaßnahmen – um Überschwemmungen von Hanggrundstücken infolge des Überlaufens offener Regenrückhaltebecken der Gemeinde ging. Interessant ist diese Entscheidung wegen eines Konkurrenzverhältnisses zwischen enteignendem Eingriff und § 2 Abs. 1 Satz 1 HPflG. Diese Norm 43

BGHZ 91, 20 (21 f.), 122, 76; s. a. oben mit Fußn. 26 ff. BGHZ 161, 323 (329). 45 BVerwGE 79, 254 (262 f.); 80, 184 (192 f.). 46 Maurer (o. Fußn. 30), § 27 Rdnrn. 110, 111; Bryde (o. Fußn. 3) Rdnr. 98; eingeschränkt auch L. Osterloh, Eigentumsschutz, Sozialbindung und Enteignung bei der Nutzung von Boden und Umwelt, DVBl 1991, S. 906 (913). 47 BGHZ 158, 263 (hier zitiert nach juris-Ausdruck). 44

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begründet eine Gefährdungshaftung in Form einer Wirkungshaftung der Betreiber von Rohrleitungsanlagen, die auch im Hinblick auf kommunale Anlagen gilt. Da diese Norm jedoch nach Ansicht des Gerichts auf das „relativ große“ offene, also nicht verrohrte Regenrückhaltebecken im Streitfall nicht anwendbar war, hielt der Senat den Anspruch aus enteignendem Eingriff für einschlägig. An einer entsprechenden erweiternden Anwendung des § 2 Abs. 1 Satz 1 HPflG sah er sich offenbar durch die Äußerungen im Gesetzgebungsverfahren gehindert, wonach sich die gesetzliche Gefährdungshaftung ausdrücklich auf verrohrte Anlagen beschränken sollte. Dass nicht auch eine abschließende Bestimmung im Verhältnis zum enteignenden Eingriff beabsichtigt war, scheint dem Senat aus dem gleichen Grund belegt zu sein, denn er führt aus,48 dass es nach der Gesetzesbegründung „hinsichtlich nicht eingefasster offener Gräben und Kanäle bei den allgemeinen Risiken und Haftungsnormen verbleiben sollte“. Liest man die zitierte Gesetzesbegründung49 in ihrem Zusammenhang nach, muss man sich die Augen reiben: Dort wird zur Begründung dafür, dass eine „Haftungsverschärfung“ „im Bereich der Wasserrohrleitungen“ notwendig geworden sei, ausdrücklich auf BGHZ 55, 229 verwiesen, wonach auf die (zuvor von § 1a RHG nicht erfassten) Wasserrohrleitungen ausschließlich § 836 BGB anwendbar sei, während eine gesetzlich nicht begründete Gefährdungshaftung angesichts des insoweit zu beachtenden Enumerationsprinzips ausscheide. Vor diesem Hintergrund heißt es dann weiter, dass nur verrohrte Anlagen erfasst werden sollten, nicht auch offene Gräben und Kanäle, und dann wörtlich: „insoweit bestehen natürlich Risiken – etwa das der Überschwemmung –, in die durch die Vorschrift nicht eingegriffen werden soll“. Hiernach kann keine Rede davon sein, dass der Gesetzgeber für Entschädigungsansprüche außerhalb der tatbestandlichen Grenzen des § 2 HPflG von der Möglichkeit einer Haftung nach enteignungsrechtlichen Grundsätzen ausgegangen wäre. Im Gegenteil war die vorausgegangene Ablehnung einer richterrechtlichen Gefährdungshaftung Grund für die – begrenzte – Haftungserweiterung der Neuregelung, da offenbar nur in diesen Grenzen eine ausfüllungsbedürftige Haftungslücke gesehen wurde. Obgleich auch die ergänzende richterrechtliche Entschädigungsnorm, deren Anwendungsbereich sich nahtlos an den der gesetzlichen Haftungsregelung anschließt, ohne Zweifel als ein Fall der Gefährdungshaftung zu qualifizieren ist, fehlt es bisher an einer ausdrücklichen Abkehr des BGH von seiner wiederholt betonten50 Ablehnung einer allgemeinen öffentlich-rechtlichen Gefährdungshaftung. b) Zu problematischen Normenkonkurrenzen kommt es auch in der zweiten Fallgruppe, der Beeinträchtigung des unbeteiligten Dritten durch Maßnahmen der Gefahrenabwehr. Über den Fall der rechtmäßigen „Inanspruchnahme“ des Nichtstörers im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht hinaus gelten im Bund und in einigen Ländern Ausgleichsnormen auch für den Fall der Beeinträchtigung unbeteiligter 48

Ebd., Rdnr. 8. BTDrucks 7/4825, S. 12 f. 50 BGHZ 100, 335 (338) m. w. N.

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Dritter nur bei Gelegenheit derartiger Maßnahmen, also für „Zufallsschäden“.51 Auch ohne die Geltung ausdrücklicher Anspruchstatbestände herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass über die gezielte Inanspruchnahme hinaus für Schäden ein angemessener Ausgleich zu gewähren ist.52 Lediglich methodisch ist zweifelhaft, ob solche Ansprüche im Wege der Analogie zu den gesetzlichen Ansprüchen zu begründen sind, oder nach den allgemeinen aufopferungsrechtlichen Grundsätzen. Der BGH53 hat sich, nicht überraschend, für die zweite Alternative entschieden, und in einem Fall, in dem ein gestohlener PKW nach einem Einbruch als Fluchtauto benutzt und von den verfolgenden Polizeikräften durch gezieltes Rammen beschädigt wurde, die Grundsätze des enteignenden Eingriffs für einschlägig erklärt. Hierbei handelt es sich zwar mangels „Zufälligkeit“ um einen äußerst atypischen Fall der Schädigung eines unbeteiligten Dritten. Das in den typischen Fällen der polizei- und ordnungsrechtlichen Gefährdungshaftung auftauchende Problem der Normenkollision ist jedoch auch hier dasselbe. Selbst dann nämlich, wenn man mit dem BGH davon ausgeht, dass keine „Inanspruchnahme“ des (nicht verantwortlichen) Eigentümers des beschädigten PKW anzunehmen war, bleibt die Konstruktion einer Überlagerung des landesrechtlichen Polizeigesetzes durch bundesrechtliches Gewohnheitsrecht ein kompetenzrechtlich befremdliches Ergebnis.54 Ausgleichsansprüche wegen schädigender Folgen von Maßnahmen der Gefahrenabwehr sind in Bund und Ländern unterschiedlich ausgestaltet und unterliegen unterschiedlichen, im Einzelnen umstrittenen Anwendungsbeschränkungen, die auch im Rahmen erweiternder oder analoger Anwendung des Landesrechts zu beachten sind. Das wird bei der Ausfüllung vermeintlicher landesrechtlicher Haftungslücken durch bundesrechtliches Gewohnheitsrecht zu Unrecht ignoriert. 2. Legitimationsgrundlagen a) Gewohnheitsrechtlich fortgeltendes Aufopferungsrecht führt der BGH zwar unterschiedslos für den gesamten Anwendungsbereich des enteignungsgleichen wie des enteignenden Eingriffs an. Diese Fundierung scheidet jedoch – abgesehen von allen sonstigen allgemeineren Einwänden gegen eine gewohnheitsrechtliche Fortgeltung – jedenfalls für die richterrechtliche Ausformung eines allgemeinen Tatbestands der Gefährdungshaftung offenkundig aus. Wie die im Zusammenhang der Entstehungsgeschichte des erweiterten Haftungstatbestands zitierte Entscheidung55 belegt, hatte der BGH die Anerkennung einer öffentlichrechtlichen Gefährdungshaftung ohne gesetzliche Grundlage im Jahr 1971 noch ausdrücklich abgelehnt und dies 51

So gewährt z. B. § 51 Abs. 2 Nr. 2 BPolG ganz allgemein einen Anspruch auf angemessenen Ausgleich, wenn jemand „als unbeteiligter Dritter bei der Erfüllung von Aufgaben der Bundespolizei einen Schaden erleidet“. 52 BGH, NJW 2011, 3157 ff. mit Überblick über den Meinungsstand. 53 Ebd. S. 3158. 54 Vgl. nur BVerfGE 61, 149 (203). 55 BGHZ 55, 229.

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auch später wiederholt.56 Dem waren in den 60er Jahren intensive wissenschaftliche Diskussionen vorausgegangen,57 die gerade nicht zu einer herrschenden Anerkennung einer allgemeinen Gefährdungshaftung im öffentlichen Recht geführt hatten und erst recht nicht zur Anerkennung einer noch weitergehenden allgemeinen Haftung für Verwaltungsrisiken nach französischem Vorbild.58 Auch in der Entscheidung zur Haftung für Unfallschäden infolge widersprüchlicher Signale von Verkehrsampeln,59 die häufig als Fall einer Gefährdungshaftung gedeutet wird,60 hat der BGH seine Begründung ausdrücklich nicht auf eine Realisierung einer spezifischen Gefahr von Ampelanlagen gestützt, sondern auf die objektive Rechtswidrigkeit61 der Verkehrsregelung. Nach allem kommt Gewohnheitsrecht als Begründung einer allgemeinen richterrechtlichen Gefährdungshaftung von vornherein nicht in Betracht. b) Auch eine im Ansatz grundrechtliche Begründung als Haftung für „Eigentumsunrecht“62 ist abzulehnen. Wenn Fälle der Gefährdungshaftung verbreitet als Haftung für reines „Erfolgsunrecht“ qualifiziert und dem enteignungsgleichen Eingriff zugeordnet werden,63 so trifft sich dies allerdings mit den Entwicklungen vom finalen zum unmittelbaren Eingriff, wo der enteignende Eingriff in den Begründungen gleichsam als Anhängsel des enteignungsgleichen Eingriffs auftaucht. Verstärkt wurde dieser Zusammenhang aber auch wiederholt durch Entscheidungen, die zur Begründetheit von Klagen auf Entschädigung eine Wahlfeststellung zur Rechtswidrigkeit oder Rechtmäßigkeit ausreichen ließen.64 Der enteignende Eingriff fungiert in solchen Entscheidungen objektiv als eine Verstärkung des staatshaftungsrechtlichen Rechtsschutzes, da er über Beweisschwierigkeiten des Geschädigten hinweghilft. Derartige Zusammenhänge dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit dem Abstellen auf sog. Erfolgsunrecht mit einem Rechtswidrigkeitsbegriff operiert wird, der sich von dem Begriff der Rechtswidrigkeit einer öffentlich-rechtlichen Maßnahme fun56

Oben, Fußn. 50. Vgl. nur die Referate auf der Staatsrechtslehrertagung im Jahr 1961 von G. Jaenicke und W. Leisner, Gefährdungshaftung im öffentlichen Recht?, VVDStRL, Bd. 20 (1963), S. 135 ff. und S. 183 ff.; zur Diskussion in den 1950er und 1960er Jahren auch San-Chin Lin, Die Institute zur Begründung einer Gefährdungshaftung im Öffentlichen Recht, 1996, S. 41 f. 58 Dazu das Plädoyer von W. Henke, Die Rechtsformen der sozialen Sicherung und das Allgemeine Verwaltungsrecht, VVDStRL, Bd. 28 (1970), S. 149 (172 ff.). 59 BGHZ 99, 249. 60 Etwa Maurer (o. Fußn. 30), § 29 Rdnrn. 18 f. 61 Auch wenn dies plastisch als eine Garantiehaftung des Staates für die Rechtmäßigkeit seiner Maßnahmen bezeichnet wird (C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 222), bleibt es doch im Rahmen einer Haftung für objektiv rechtswidrige Maßnahmen und wird noch nicht zu einer allgemeinen Gefährdungshaftung im Sinne einer Haftung für „erlaubtes Risiko“. 62 Ehlers (o. Fußn. 10), S. 246. 63 Nachweis o. Fußn. 10. 64 Insb. BGHZ 117, 240 (253). 57

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damental unterscheidet:65 Auch eine verobjektivierte Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit liefert den Maßstab von Handlungs- und Unterlassungspflichten sowie korrespondierenden Abwehr- und Leistungsrechten. Ein solcher Maßstab entfaltet seine ordnungsstiftende und steuernde Funktion ausschließlich in der zeitlichen Perspektive ex ante. Dagegen ist die Feststellung reinen „Erfolgsunrechts“ zwangsläufig erst ex post möglich, nämlich durch Feststellung eines Schadens an einem rechtlich geschützten Gut. Während die Rechtswidrigkeit einer schadensverursachenden Maßnahme stets einen spezifischen Grund für eine Haftung dessen liefert, der für diese Maßnahme verantwortlich war, fehlt dem bloßen Schaden eine solche Begründungskraft. Der Schaden eines Hausbrandes infolge Blitzschlags kann dem Staat haftungsrechtlich nur zugerechnet werden, soweit er zur Schadensvermeidung oder Schadensminderung verpflichtet war. Kommt der Staat als Verursacher des Schadens in Betracht, so mag man im Interesse eines umfassenden, insb. auch sozialstaatlich begründeten Rechtsgüterschutzes für eine staatliche Verursacherhaftung plädieren. Man sollte aber für die Begründung nicht den Unrechtsbegriff bemühen, denn dieser Begriff suggeriert zwar, stiftet aber keinen Zurechnungszusammenhang, der über die Verursachung hinausgeht. c) Der BGH selbst hat allerdings die Entschädigungspflicht wegen enteignenden Eingriffs nicht auf sogenanntes Erfolgsunrecht und dessen bloße Verursachung gestützt, sondern sich mit dem Erfordernis der Unmittelbarkeit um eine wertende Zurechnung von Schadensfolgen nach Verantwortungsbereichen und Risikosphären bemüht und gefordert, bei dem Schaden müsse es sich um die Realisierung einer Gefahr handeln, die bereits in der hoheitlichen Maßnahme bzw. Anlage selbst angelegt ist.66 Gerade derartige Formulierungen offenbaren jedoch die Konturenlosigkeit des richterlichen Haftungsinstituts: Obgleich es bei diesen Formeln gerade darum gehen soll, die aufopferungsrechtliche Anspruchsqualifikation von einer – als unzulässig bewerteten – allgemeinen öffentlich-rechtlichen Gefährdungshaftung abzugrenzen, handelt es sich umgekehrt um nichts anderes als um eine vage Umschreibung des Grundgedankens typischer Tatbestände der Gefährdungshaftung, der sich gerade nicht auf den Gedanken einer Aufopferungshaftung zurückführen lässt. Gefährdungshaftung67 wird typischerweise charakterisiert als Haftung für „erlaubtes Risiko“, womit signalisiert wird, dass zwar kein Pflichtverstoß, wohl aber die Verantwortung für eine erfahrungsgemäß nicht vollständig beherrschbare Gefahrenquelle eine Schadensverantwortung begründet. Betrachtet man die zahlreichen und sehr unterschiedlich ausgeformten gesetzlichen, überwiegend gleichermaßen 65

Dazu und zum folgenden näher Osterloh (o. Fußn. 12) Rdnrn. 74 f. StRspr, BGHZ 100, 335 ff. m.w.N.; 125, 19 (21) zum enteignungsgleichen Eingriff; darauf für den enteignenden Eingriff bezugnehmend BGHZ 158, 263 (269); vgl. auch BGHZ 166, 37 ff. 67 Dieser Begriff wird hier vereinfachend in einem umfassenden Sinn verwendet, obgleich inzwischen auch die Begriffe Risikorecht und -haftung Hochkonjunktur entwickelt haben, vgl. nur L. Jaeckel, Gefahrenabwehrrecht und Risikodogmatik, 2010, S. 59 ff.; dies., Risikosignaturen im Recht, JZ 2011, S. 116 ff.; S. Mielke, Risiken der Vorsorge, 2011, S. 54 ff. 66

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oder leicht modifiziert für Private wie für den Staat geltenden Tatbestände und Rechtsfolgen der Gefährdungshaftung,68 so mutet im Kontrast dazu die Formel von der Verwirklichung einer Gefahr, „die bereits in der hoheitlichen Maßnahme selbst angelegt ist,“ geradezu atavistisch an. Damit bleibt als Ergebnis: Staatliche Gefährdungshaftung ist kein legitimer Gegenstand richterrechtlicher, vorverfassungsrechtlich oder auch verfassungsrechtlich geprägter Generalklauseln. Über mögliche Ergänzungsbedürftigkeit des geltenden Rechts ist vielmehr mit Blick auf die hochgradig differenzierten Normen des einfachen Rechts mit ebenfalls differenzierender Verfassungsorientierung zu diskutieren und zu entscheiden.

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Dazu im Überblick Osterloh (o. Fußn. 12), Rdnrn. 62 ff.

Die Immaterialgüterrechte im Zeitalter der Neuen Medien Von Andreas Paulus* I. Einleitung Der Jubilar hat im eigentums-, erb- und urheberrechtlichen Dezernat des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts die Rechtsprechung zum Urheberrecht maßgeblich geprägt und wird sie auch weiter als Verfasser einer, wenn nicht sogar der maßgeblichen Kommentierung des Art. 14 Grundgesetz begleiten.1 Für den Nachfolger im Richteramt geht es im Wesentlichen um die Anpassung der vorhandenen Grundlagen an neue Entwicklungen einer sich immer schneller verändernden Medienwelt. Insbesondere das Internet stellt fortwährend neue Anforderungen an den Ausgleich von Grundrechten der Urheber, Vermittler und Nutzer. Die Konvergenz der Medien2 lässt alte dogmatische Unterscheidungen wie die zwischen Presserecht und Rundfunkrecht in neuem Licht erscheinen. Dabei handelt es sich zum Teil um bereits bekannte Problembereiche. So sind für den Verbreitungsweg Internet im Bereich der Nachrichtenmedien nicht selten dieselben Fragen zu beantworten wie bisher für die Printmedien. Neue Probleme ergeben sich allerdings aus dem durch das Internet eröffneten Zugang zu älteren Informationen, etwa in Online-Archiven von Zeitungsverlagen. Die Ubiquität kostenloser Information im Internet stellt zudem die Printmedien unter Existenzdruck. Aus ihr hat sich eine „Gratiskultur“ entwickelt: Gerade die jüngere Generation ist immer we* Der Verfasser dankt Herrn RiLG Dr. Kai Haberzettl, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in seinem Dezernat beim Bundesverfassungsgericht, für seine Unterstützung bei der Recherche. Der auf einen Vortrag vor den Jungen Juristen Karlsruhe zurückgehende Beitrag gibt allein die persönliche Auffassung der Verfasser wieder. Die Vortragsform wurde im Wesentlichen beibehalten. 1 s. H.J. Papier, in: Maunz-Dürig, GG, Art. 14 (2010) Rdnr. 197 – 200. 2 Dazu s. allgemein J. Plog, in: Adolf-Arndt-Kreis (Hrsg.), Schein als Sein – Medien, Kommerz und Öffentlichkeit, 2007, S. 41 ff. Aus juristischer Sicht aktuell C. Degenhart, Medienkonvergenz zwischen Rundfunk- und Pressefreiheit, in: FS Stern, 2012, S. 1299 ff. Vgl. auch Europäische Kommission, Grünbuch zur Konvergenz der Branchen Telekommunikation, Medien und Informationstechnologie und ihren ordnungspolitischen Auswirkungen – Ein Schritt in Richtung Informationsgesellschaft, KOM-(97) 623 endg., abrufbar unter: http:// ec.europa.eu/avpolicy/docs/library/legal/com/greenp_97_623_de.pdf (zuletzt besucht am 31. Oktober 2012). Die Konvergenz der Medien war 2002 auch Thema der Abteilung Medienrecht auf dem 64. Deutschen Juristentag, vgl. hier bloß die Kurzfassung des Gutachtens von G. Gounalakis, NJW-Beilage 23/2002, 20 ff.

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niger dazu bereit, für Gedrucktes Geld zu bezahlen, vom Filesharing im Internet für Musik und Videos einmal ganz zu schweigen. Aber Qualitätsmedien und Hochkultur sind auf diese Weise nicht mehr so einfach finanzierbar – zwar nehmen die Informationsquellen zu, die Tiefe der Recherche – so nicht nur der subjektive Eindruck des Verfassers – nimmt dagegen ab. Mit der fortschreitenden Digitalisierung von Informationen, der einfachen Möglichkeit zum Kopieren von Medieninhalten in hoher Qualität und aufgrund der durch das Internet ermöglichten kostengünstigen und massenweisen Verbreitung digitalisierter Informationen ergeben sich neue Herausforderungen für das Urheberrecht. Zudem stellen sich – für den Völkerrechtler nicht ganz neue – Fragen hinsichtlich der Steuerungsfähigkeit des nationalen Rechts und seiner Einbindung in völkerund vor allem europarechtliche Zusammenhänge.3 Schließlich drängen auch Privatleute immer mehr ins Internet. Einerseits eröffnen sich neue direkte Kommunikationswege über Facebook, Youtube & Co. für jedermann, andererseits hinterlassen die Nutzer dabei eine Datenspur, die ihre Privatsphäre und diejenige anderer bedroht. Die mit dem Internet verbundene Datenerhebung, -speicherung und -weitergabe stellt neue Anforderungen an den Datenschutz, wobei auch hier die Grundrechte verschiedener Personen miteinander in Einklang zu bringen sind. Die mögliche Beeinträchtigung geht dabei nicht nur oder zuvörderst vom Staat aus – die Problematik der Vorratsdatenspeicherung, mit der sich das letzte von Präsident Papier verkündete Urteil befasste,4 ist hier die Ausnahme, nicht die Regel –, sondern von Privaten, meist internationalen Konzernen wie Facebook oder Google. Erst kürzlich hat der Blogger Sascha Lobo in Spiegel Online darauf aufmerksam gemacht, dass Facebook offenbar die „Chats“ seiner Nutzer – wenn auch mit dem nachvollziehbaren Motiv der Bekämpfung von Sexualdelikten – überwacht.5 Schließlich gelangen auch unwahre und/oder persönlichkeitsverletzende Inhalte ins Netz und erzielen eine Breitenwirkung, die freiheitsbedrohend wirken kann. Illegale Inhalte im Netz – von Kinderpornographie bis Terroranleitungen – sind von Nationalstaaten kaum zu bekämpfen und erfordern ebenso internationale Zusammenarbeit wie der Urheberrechtsschutz oder der Datenschutz gegenüber privaten, aber auch anderen staatlichen Akteuren. Die genannten Bereiche weisen jeweils sehr unterschiedliche juristische Probleme, aber auch einige Gemeinsamkeiten auf. Insbesondere sprengen sie – vielleicht typisch für das Recht im Zeitalter der Globalisierung – die klassischen Grenzen zwi3 s. dazu A. Paulus/S. Wesche, Rechtsetzung durch Rechtsprechung fachfremder Gerichte, GRUR 2012, 112; A. Metzger, Der Einfluss des EuGH auf die gegenwärtige Entwicklung des Urheberrechts, GRUR 2012, 118. 4 BVerfGE 125, 260. Zum Doppeltürprinzip, also dem Erfordernis gesetzlicher Eingriffsbefugnisse sowohl für die Speicherung als auch die Nutzung (den Abruf) der Daten, s. jetzt BVerfGE 130, 151 (184). 5 S. Lobo, Facebook kollidiert mit dem Grundgesetz, Spiegel Online vom 17. 7. 2012, http://www.spiegel.de/netzwelt/web/die-mensch-maschine-sascha-lobo-ueber-das-telemedienge heimnis-a-844782.html (zuletzt besucht 31. 10. 2012).

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schen öffentlichem Recht und Privatrecht, Direktwirkung und Drittwirkung von Grundrechten, zwischen nationalem, europäischem und internationalem Recht. Die folgenden Anmerkungen greifen mit dem verfassungsrechtlichen Schutz des Urheberrechts einen wichtigen Teilbereich heraus. Zunächst werde ich auf die Kollisionen des Urheberrechts mit den Kommunikationsfreiheiten eingehen, die für heutige Urheberrechtsprobleme kennzeichnend sind. Gleichzeitig wird dabei der Einfluss des europäischen Rechts deutlich, der die Überprüfbarkeit des nationalen Rechts anhand der nationalen Grundrechte und damit auch die Prüfungsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts einschränkt. Anschließend geht es um das größte Problem des Urheberrechts in unserer Zeit, nämlich seine Durchsetzung im Internet, das zahlreiche Ausweichmöglichkeiten bietet. Hier steht auch das Urheberrecht als Eigentumsrecht vor einer großen Bewährungsprobe. „Geistiges Eigentum“,6 das nicht geschützt wird, ist kein Eigentum im Sinne des Grundgesetzes mehr. Gleichzeitig ist das Bedürfnis nach freier Kommunikation und Auseinandersetzung mit den Schöpfungen anderer von großer Bedeutung für die Innovationsfähigkeit einer freien Gesellschaft. Der Ausgleich zwischen diesen beiden Notwendigkeiten gehört zu den grundlegenden Aufgaben der heutigen Grundrechtsprechung – in Deutschland, Europa und darüber hinaus.

II. Der Ausgleich zwischen Grundrechtspositionen durch das Urheberrecht Bei der Regelung des Urheberrechts sind Rechte und Pflichten verschiedener Rechtsträger zum schonenden Ausgleich zu bringen. Diese Aufgabe obliegt, wie so oft, im Grundsatz zwar dem Gesetzgeber, dieser delegiert sie aber nur allzu oft an die Gerichte weiter. Die Regelungstechnik des deutschen Urheberrechts über spezifische Tatbestände gelangt zudem aufgrund der rasanten technologischen und gesellschaftlichen Entwicklung an ihre Grenzen. Andererseits bringt sie erhebliche demokratische Vorteile mit sich, da das Parlament, nicht die Gerichte im Einzelfall über die Fortentwicklung des Urheberrechts entscheidet, die verschiedenen privaten und 6 Der Begriff des „intellectual property“, oder „geistigen Eigentums“, steht im angelsächsischen Raum für alle Urheberrechte, Patente etc., ist aber auch in Deutschland gebräuchlich, z. B. im früheren Namen der Zeitschrift für geistiges Eigentum (Mohr Siebeck) oder des Max Planck Instituts für geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht (2002 – 2011) in München. Das 2011 daraus hervorgegangene Max-Planck-Institut heißt seitdem aber MPI für Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht. Der Begriff ist in die Kritik geraten (s. dazu nur M. Rehbinder, Urheberrecht, 16. Aufl. 2010, Rdnr. 97, s. aber zum Schutz durch Art. 14 Abs. 1 GG ebd., Rdnr. 139; T. Hoeren, Vorratsdaten und Urheberrecht – Keine Nutzung gespeicherter Daten, NJW 2008, 3099 [3101]), hat aber insofern verfassungsrechtlichen Gehalt, als das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung das Urheberrecht in vermögensrechtlicher Hinsicht im Eigentumsrecht verankert sieht, s. zuletzt BVerfGE 129, 78 (101 f.); 49, 382 (392); 31, 229 (238 ff.); dazu S. Wesche, Das geistige Eigentum, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2011, S. 375 (384 ff.) m.w.N.

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öffentlichen Interessen gegeneinander abwägt und idealiter für jedermann transparent und bestimmt regelt. Zunächst werden wir auf die Verankerung des Urheberrechts in Verfassung, Europa- und Völkerrecht eingehen. Anschließend werden wir uns mit den verschiedenen involvierten Interessen auseinandersetzen. Im Folgenden wird anhand zweier kleinerer Fälle, welche die 2. Kammer des Ersten Senats jüngst zu entscheiden hatte, auf die Grundrechtskollisionen zwischen dem Urheberrecht einerseits und der Pressefreiheit andererseits hingewiesen. Dabei zeigt sich, dass Interessenausgleich und Abwägung auch im Urheberrecht des Informationszeitalters zu tragbaren Ergebnissen kommen können. 1. Grundgesetzliche, europarechtliche und völkerrechtliche Verankerung des Urheberrechts Zunächst stellt das Urheberrecht als Privatrecht keine grundrechtsfreie Zone dar, das frei reguliert, abgeschafft oder missachtet werden könnte. Nach langjähriger gefestigter Rechtsprechung fällt das Urheberrecht vielmehr unter das Recht auf Eigentum aus Art. 14 Abs. 1 GG, in seinen persönlichkeitsrechtlichen Aspekten auch unter das vom Bundesverfassungsgericht aus der allgemeinen Handlungsfreiheit entwickelte Allgemeine Persönlichkeitsrecht, das Gesetzgeber und Rechtsprechung nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 GG zu schützen haben. Nach Art. 14 Abs. 1 GG werden Inhalt und Schranken des Eigentums – auch des geistigen Eigentums – allerdings durch den Gesetzgeber bestimmt. Dabei ist die Trennung zwischen Inhaltsbestimmung und Schranken an sich eine zentrale Grundrechtsfrage, aber speziell beim Eigentumsrecht kaum durchführbar.7 Der Gesetzgeber hat dabei einen breiten Spielraum, er kann neue Rechte des sog. geistigen Eigentums schaffen und alte – jedenfalls für die Zukunft – modifizieren. Das spielt gerade beim geistigen Eigentum eine besondere Rolle, weil sein Gegenstand selbst durch das Recht definiert – und begrenzt – wird. So wird das Urheberrecht für Werke der Literatur, Wissenschaft und Kunst z. B. auf in der Regel 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers (§ 64 UrhG) erstreckt,8 das Patentrecht nur auf 20 Jahre ab dem Tag der Anmeldung (§ 16 Abs. 1 PatG). Von Art. 14 GG ist nicht nur die Verbrei7 Zur Inhaltsbestimmung des Urheberrechts durch den Gesetzgeber s. H.J. Papier, in: Maunz-Dürig, GG, Art. 14 (2010) Rdnr. 197 sowie eine der letzten Kammerentscheidungen zum Urheberrecht unter seiner Ägide, BVerfG, Beschl. v. 24. 11. 2009, GRUR 2010, 332 (334 f.), Rdnr. 59; zur Unbestimmbarkeit des Verhältnisses zwischen Inhalt und Schranke (bzw. damit auch Ausgestaltung und Eingriff) bei Art. 14 s. Papier, a.a.O., Rdnr. 27 ff., 307 (zur Kritik an einem bloßen „Begriff nach Maßgabe des Gesetzgebers“ ebd. Rdnr. 38); B. O. Bryde, in: v. Münch/Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 14 Rdnr. 48 f.; vgl. BVerfGE 58, 300 (338 f.) (Nassauskiesung); a. A. W. Leisner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VIII, 3. Aufl. 2010, § 173 Rdnr. 11 ff., 127 ff. m.w.N. 8 s. auch Richtlinie 2006/116/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Schutzdauer des Urheberrechts und bestimmter verwandter Schutzrechte vom 12.12. 2006, ABl. Nr. L 372/12.

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tung, sondern insbesondere die wirtschaftliche und finanzielle Verwertung der Eigentumsrechte erfasst. Dazu kommen dann noch – in der Regel nicht durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte – sog. Leistungsschutzrechte von Werkmittlern, wie sie die Bundesregierung für Presseverleger gerade schaffen will.9 Schon lange wird das geistige Eigentum auch durch internationale Vereinbarungen geschützt, so das Pariser Verbandsübereinkommen und das Berner Übereinkommen aus dem 19. Jahrhundert,10 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 194811 und – anders als das Eigentumsrecht – durch den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. 12. 196612 oder die sog. „TRIPS“ („Trade Related Aspects of Intellectual Property“) im Rahmen der Welthandelsorganisation;13 besonders jetzt aber durch das europäische Recht, die Charta der Grundrechte der Europäischen Union,14 aber vor allem auch das europäische Sekundärrecht.15 Auf den Streit über das – mittlerweilen wohl gescheiterte – Urheberrechtsabkommen ACTA16 werde ich ebenfalls kurz eingehen, ist es doch ein gutes Beispiel dafür, wie mangelnde Transparenz und Offenheit im Ergebnis allen Beteiligten schaden können. Eins wird durch die vielfältige Verankerung des Urheberrechts in Verfassungswie Völkerrecht überdeutlich: Eine „Abschaffung“ des Urheberrechts steht nicht zur Debatte, sie ist unter dem Grundgesetz und dem Völkerrecht schlichtweg ausge9

Vgl. die Schutzrechte in §§ 70 ff. UrhG; zum Leistungsschutzrecht für Presseverleger s. Siebentes Gesetz zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes, BT-Drs. 17/11470 i. d. F. BTDrs. 17/12534, vom Bundestag beschlossen am 1. März 2013, Sten.Ber. 17/226, S. 28240 D. Vgl. zum Urheberrechtsschutz im Internet BGH, NJW 2010, 2731 sowie BGH, NJW 2012, 1886. 10 Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums (PVÜ) v. 20. 3. 1883, RGBl 1903, 147, BGBl 1970 II 391, zuletzt geändert 2. 10. 1979, BGBl 1984 II 799; Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst v. 9. 9. 1886 (Pariser Fassung) zuerst RGBl 1897, 759, zuletzt geändert 2. 10. 1979, BGBl 1985 II 81; s. auch den WIPO-Urheberrechtsvertrag (WCT) vom 20. 12. 1996, BGBl 2003 II 755. 11 Art. 27 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte v. 10. 12. 1948, Res. 217 A (III) der VN Generalversammlung, dort separat vom Eigentumsrecht in Art. 17 als Teil von Kunst- und Wissenschaftsfreiheit. 12 UNTS 993, S. 3, Art. 15 Abs. 1 lit. c, ebenfalls als Teil der Kultur- und Wissenschaftsfreiheit. 13 Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums v. 15. 4. 1994, BGBl 1994 II 1730. 14 Charta der Grundrechte der Europäischen Union v. 12. 12. 2007, ABl. Nr. C 303 S. 1, Art. 17 Abs. 2. 15 s. insbesondere die Richtlinie 2001/29/EG des Europäische Parlaments und des Rates v. 22. 05. 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft, ABl EG Nr L 167/10 v. 22. 6. 2001 („Urheberrechts-“ oder – genauer – Informationsgesellschafts-RL) und die Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums (Durchsetzungs-RL), ABl EG Nr L 195/16 v. 29. 04. 2004. 16 s. unten Fußn. 82 und begleitender Text.

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schlossen. Selbst die urheberechtsskeptische Piratenpartei fordert das ja soweit ersichtlich nicht.17 Es kann daher nur um Abwägungen zwischen verschiedenen Grundrechtspositionen gehen, nicht aber um die völlige Aufgabe des Rechts des Urhebers, über die Verbreitung und vor allem die wirtschaftliche Verwertung seines Werks selbst zu bestimmen. Die betroffenen Grundrechte sind von der Rechtsprechung bei der Auslegung und Anwendung der zivilrechtlichen Tatbestandsmerkmale zu berücksichtigen;18 zuvor sind die gegenläufigen Grundrechtspositionen bereits vom Gesetzgeber zu berücksichtigen und abzuwägen.19 Der nationale Gesetzgeber ist allerdings weitgehend an Vorgaben des EU-Rechts gebunden und muss zudem ein dicht gewebtes Netz völkerrechtlicher Abkommen beachten. Die derzeit vehement geführte Kontroverse über das Urheberrecht zwischen Künstlern und Nutzern lässt allerdings weitere Beteiligte aus dem Blickfeld geraten, deren Grundrechtspositionen ebenfalls in die Abwägung einzustellen sind. Im Folgenden sollen daher für das Urheberrecht zunächst der Kreis der Beteiligten und der grundrechtliche Rahmen abgesteckt werden, bevor anhand von Beispielen beleuchtet wird, wie sich Gesetzgebung und Rechtsprechung im Spannungsfeld der verschiedenen Grundrechtspositionen bewegen. 2. Die betroffenen Interessen und (Grund-)Rechtspositionen Im Bereich des Urheberrechts und dessen Durchsetzung sind die Interessen und Grundrechtspositionen von vier Gruppen miteinander in Einklang zu bringen: Die Urheber bilden eine erste Gruppe. Die von ihnen geschaffenen Werke und die darin verkörperte geistige Leistung sind in vermögensrechtlicher Hinsicht Eigentum im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG. Aus seiner verfassungsrechtlichen Gewährleistung erwächst dem Urheber die Befugnis, dieses „geistige Eigentum“ wirtschaftlich zu nutzen.20 Ebenso wie beim Eigentum an körperlichen Sachen ist es gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG allerdings Aufgabe des Gesetzgebers, Inhalt und Schranken des „geistigen Eigentums“ auszugestalten. Dabei ist er grundsätzlich verpflichtet, das vermögenswerte Ergebnis der schöpferischen Leistung dem Urheber zuzuordnen und ihm die Freiheit einzuräumen, in eigener Verantwortung darüber verfü17 Aus der Piratenpartei gibt es divergierende Vorschläge zur Reform des Urheberrechts, vgl. Piratenpartei NRW (D. Neumann), Urheberrechtsgesetz, Änderungen und Begründungen v. 14. 9. 2012, erhältlich unter http://www.piratenpartei-nrw.de/wp-content/uploads/2012/10/ Urheberrechtsgesetz-Release-013-Final-Logo-sw.pdf (zuletzt besucht 31. 10. 2012) mit Christoph Lauer, MdA (Berlin), Urheberrechtsgesetz, Entwurf der Piratenfraktion Berlin v. 4. 9. 2012, erhältlich unter https://www.piratenfraktion-berlin.de/wp-content/uploads/2012/09/ 120904_UrhG-Entwurf.pdf (zuletzt besucht 31. 10. 2012). 18 BVerfGE 7, 198 (Lüth). 19 Vgl. dazu Paulus/Wesche (o. Fußn. 3), 116. 20 Vgl. BVerfGE 31, 229 (238 f.); 49, 382 (392).

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gen zu können.21 Allerdings ist nicht jede nur denkbare Verwertungsmöglichkeit garantiert,22 vielmehr obliegt es dem Gesetzgeber im Rahmen der inhaltlichen Ausprägung des Urheberrechts nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG, sachgerechte Maßstäbe festzulegen, die eine der Natur und der sozialen Bedeutung des Rechts entsprechende Nutzung und angemessene Verwertung sicherstellen.23 Dabei können Eingriffe in das Verfügungsrecht eher mit Gründen des Gemeinwohls gerechtfertigt werden als eine Beschränkung des Verwertungsrechts, die wegen der Intensität des Eingriffs nur durch ein gesteigertes öffentliches Interesse gerechtfertigt werden kann.24 Von Art. 14 Abs. 1 GG sind allerdings nur die vermögenswerten Elemente des Urheberrechts geschützt, soweit es um ideelle Positionen geht, unterfällt es dem Persönlichkeitsrecht des Schöpfers.25 Auf der Ebene der EU ist das geistige Eigentum durch Art. 17 Abs. 2 GR-Charta geschützt. Die in dieser Weise grundrechtlich geschützten Rechte der Urheber werden zum Teil von Verwertungsgesellschaften wahrgenommen, die grundsätzlich keine eigenen (wirtschaftlichen) Interessen vertreten, sondern Interessenvertreter der Urheber sind. Einer zweiten Gruppe lassen sich die Rechteverwerter (Verlage, Musiklabels etc.) zuordnen. Diese sind einerseits Vertragspartner der Urheber, erwerben von diesem entgeltlich das Recht zur Verwertung der Rechte und unterstützen die Urheber zum Teil bei der Produktion und Vermarktung, aber auch bei der Durchsetzung ihrer Rechte, indem sie etwa Studios und Musiker zur Verfügung stellen. Sie stehen im Vergleich zu den folgenden Gruppen auf der Seite der Urheber,26 verfolgen aber eigene wirtschaftliche Interessen, die potentiell in Konflikt mit den Urhebern treten. Nicht zuletzt stehen sie in der Kritik, die Urheber nicht ausreichend zu entgelten und ihre Stärke zu Lasten der Urheber auszuüben.27 Ihre Rechtspositionen sind zunächst durch die Berufsfreiheit des Art. 12 GG, jedenfalls aber durch die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG28 geschützt. Diese Grundrechtspositionen sind für den vorliegenden Bereich verhältnismäßig schwach. Art. 12 Abs. 1 GG entfaltet seine Schutzwirkung nur gegenüber solchen Normen oder Handlungen, die sich entweder unmittelbar auf die Berufstätigkeit beziehen oder die zumindest eine objektiv berufsregelnde Tendenz aufweisen.29 Die Rechte des Art. 2 Abs. 1 GG reichen nur soweit, wie ihre Nutzung nicht gegen die sonstige Rechtsordnung 21

Vgl. BVerfGE 31, 229 (240 f.); 49, 382 (392); 79, 1 (25). Vgl. BVerfGE 79, 1 (25). 23 Vgl. BVerfGE 49, 382 (392); 79, 1 (25); 129, 78 (101) – (Le Corbusier-Möbel); BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, GRUR 2010, 332 (334). 24 BVerfG 79, 29 (41). 25 H.J Papier, in: Maunz-Dürig, GG, Art. 14 (2010) Rdnr. 197 f. 26 Vgl. dazu etwa den Aufruf „Wir sind die Urheber“, veröffentlicht in Die Zeit v. 10. Mai 2012, S. 45 oder unter http://www.wir-sind-die-urheber.de/ (zuletzt besucht 31. 10.2012). 27 Vgl. dazu etwa R. Hilty, im Interview der F.A.Z. v. 9. Juni 2012, S. 15. 28 Vgl. dazu BVerfGE 91, 207 (221); 95, 267 (303). 29 Vgl. BVerfGE 95, 267 (302); 97, 228 (253 f.); 113, 29 (48). 22

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verstößt. Meist treten die Verwerter aber gegenüber den nächsten beiden Gruppen als Inhaber der von den Urhebern eingeräumten Nutzungsrechte auf. Eine dritte Gruppe sind die Nutzer. Während ihre Interessen an der Nutzung der Werke verhältnismäßig schwach durch die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG geschützt sind, genießt ihre Teilnahme im Internet außerdem den Schutz personenbezogener Daten (Recht auf informationelle Selbstbestimmung und Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, jeweils aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG,30 Art. 8 Abs. 1 GR-Charta), der Informationsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, Art. 11 Abs. 1 Satz 2 GRCharta) und des Fernmeldegeheimnisses (Art. 10 Abs. 1 GG). Zu einer vierten Gruppe gehören die Diensteanbieter des Internets, seien es Provider, Tauschbörsen oder Handelsplattformen. Sie stehen zum Teil in vertraglichen Beziehungen zu den Nutzern, nehmen aber ausschließlich eigene wirtschaftliche Interessen wahr, die durch die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 16 GR-Charta) geschützt sind.31 Sie sind daran interessiert, möglichst viele Inhalte zum häufig für den Nutzer kostenfreien Abruf bereitzustellen und sich mit Werbung und der Vermarktung von Nutzerdaten zum Zwecke der Werbung zu finanzieren.32 Bei einer Abwägung der Rechte des Urhebers an seinem geistigen Eigentum auf der einen Seite und dem von der allgemeinen Handlungsfreiheit geschützten Interesse an der Nutzung der Werke auf der anderen Seite wären gesetzliche Regelungen problematisch, die den Nutzern weitreichende Nutzungsrechte ohne Vergütung des Urhebers einräumen würden. Umgekehrt ist ein Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit zugunsten des geistigen Eigentums zunächst einmal unproblematisch. Komplizierter wird die Situation indes, wenn man die Durchsetzung der Rechte einblendet. Gerade die Anpassung der Durchsetzungsmechanismen an die Möglichkeiten der Vervielfältigung und Verbreitung urheberrechtlich geschützter Inhalte in den Neuen Medien gerät in Konflikt zu weiteren, gewichtigeren Grundrechtspositionen der Nutzer und Diensteanbieter, was den Ausgleich der betroffenen Rechtspositionen schwieriger gestaltet. Die hierzu erforderliche Inanspruchnahme der Provider auf Ermittlung der Nutzerdaten und der übermittelten Inhalte kollidiert mit den oben genannten Rechten der Diensteanbieter sowie mit den Kommunikationsgrundrechten und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Nutzer.

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BVerfGE 120, 274 (Online-Durchsuchung). H. Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2010, Art. 16 Rdnr. 18. 32 Vgl. zur nur vermeintlichen Kostenfreiheit etwa R. Müller, Verschwimmende Grenzen, F.A.Z. vom 11. Juni 2012, S. 10. 31

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3. Grundrechtskollisionen zwischen Urheberrecht und Kommunikationsfreiheit Zwei neuere Entscheidungen – eine über die Zulässigkeit von Abbildungen in Online-Archiven, eine über die Setzung von Hyperlinks zu einem rechtsverletzenden Angebot im Netz – machen deutlich, wie sehr die Einzelregelungen des Urheberrechts dem verfassungsrechtlichen Abwägungsgebot zwischen den beteiligten Interessen und deren Grundrechten gerecht werden müssen: einerseits der Presse- und Informationsfreiheit, welche die Freiheit von Berichterstattung und Informationsempfang gewährleistet, andererseits dem Urheberrecht, das die privatnützige Verbreitung und Verwertung der Rechte der Urheber sichert. Allerdings handelt es sich hier nicht nur um eine Konfrontation zwischen dem individuellen Recht an der Privatnützigkeit von Verbreitung und Verwertung und dem öffentlichen Interesse an einer freien Diskussion und Weiterentwicklung der Werke der Urheber. Letztere ist auch im Interesse des Urhebers, wie das Urheberrecht als wichtiger Anreiz und Finanzierungsmittel für geistige Schöpfungen auch im Interesse der Allgemeinheit liegt. Ein Ausgleich muss also gefunden werden. Wie sich zeigt, führt dies mal zum Überwiegen der einen, mal der anderen Seite. a) Ausgleich zwischen Urheberrecht und Pressefreiheit I: Online-Archiv Nicht alle Probleme des Internets sind neu, aber viele Sachverhalte erscheinen durch das Internet in einem neuen Licht. So stellte früher wohl kaum jemand in Frage, dass Zeitungen, die von dem Privileg der Berichterstattung über Tagesereignisse (s. § 50 UrhG) Gebrauch machen, archiviert werden können, ohne dass dies urheberrechtlich problematisch gewesen wäre. Die Berichterstattung diente ja dem Bekanntwerden des Werkes, und die Zeitungsbilder in Schwarz-Weiß stellten selten die weitere Verwertung des Werkes durch den Urheber selbst in Frage. Im Internet stellt sich das unter Umständen anders dar: Online-Archive sind überall auf der Welt unmittelbar einsehbar; und wer sich eine Abbildung von einer früheren Ausstellung in Frankfurt am Main in hoher Qualität aus dem Netz laden kann, zahlt für die Verwertung des Bildes nicht noch einmal, wenn die Ausstellung später in New York gezeigt wird. Während die Pressefreiheit auch online dafür streitet, urheberrechtlich geschütztes Material im Archiv zu belassen, neigt das Urheberrecht dazu, Veröffentlichungen zu untersagen oder einzuschränken, soweit damit die Rechte der Urheber eingeschränkt werden, über Verbreitung und Verwertung ihrer Werke selbst zu bestimmen bzw. für deren Verwendung Geld zu verlangen (vgl. §§ 17, 96, 97 UrhG etc.). Dies gilt auch in Archiven, in denen die Resultate der Ausübung der Pressefreiheit „verewigt“ werden und die im Online-Zeitalter jederzeit überall abrufbar sind. Werden in einem Online-Archiv urheberrechtlich geschützte Werke verfügbar gemacht, eröff-

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net sich damit ein Spannungsfeld zwischen dem Urheberrecht auf der einen Seite und der Pressefreiheit auf der anderen Seite. Dieser Fall lag der 2. Kammer des Ersten Senats aufgrund einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs vor.33 Ein Zeitungsverlag hatte die zuvor in seinen Tageszeitungen veröffentlichten und mit Abbildungen ausgestellter Kunstwerke illustrierten Berichte über anstehende Ausstellungen in sein Online-Archiv eingestellt. Die Verwertungsgesellschaft Bild-Kunst nahm den Verlag auf der Grundlage von § 97 Abs. 1 Satz 1 UrhG a.F.34 auf Schadensersatz in Anspruch. Nach unterschiedlichen Entscheidungen der Instanzgerichte urteilte der Bundesgerichtshof zugunsten der VG Bild-Kunst.35 Der Verlag habe in das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung aus § 19a UrhG eingegriffen. Die Beschwerdeführerin könne sich nicht mit Erfolg auf die Zulässigkeit der Berichterstattung über Tagesereignisse berufen. Bei der Dauerhandlung des Einstellens von Abbildungen der Kunstwerke in ein Online-Archiv im Internet müsse die Aktualität der Kunstausstellung nicht nur zum Zeitpunkt des Einstellens gegeben sein, sondern während der gesamten Dauer des Bereithaltens im Internet fortbestehen. Auch die Neufassung von § 50 UrhG nach dem Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft36 habe nichts daran geändert, dass eine Berichterstattung nur zulässig sei, soweit und solange sie ein Tagesereignis betreffe. Die Zulässigkeit ergebe sich auch nicht daraus, dass eine laufende Überprüfung der in ein Online-Archiv eingestellten Berichte auf ihre Aktualität und gegebenenfalls ihre Löschung nicht mit vertretbarem Aufwand bewältigt werden könne. Die auf Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG gestützte Verfassungsbeschwerde wurde vom Bundesverfassungsgericht mangels Erfolgsaussicht in der Sache nicht zur Entscheidung angenommen. Dabei hatte das Gericht zunächst die Frage zu beantworten, ob die Sache überhaupt in die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts fiel, weil das Urhebergesetz EU-Richtlinienrecht umsetzte. Die 2. Kammer ging davon aus, dass die Vereinbarkeit der Anwendung der einschlägigen Vorschrift des nationalen Rechts (hier also des § 50 UrhG) auf den jeweils vorliegenden Sachverhalt und

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BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, GRUR 2012, 389 f. § 97 Abs. 1 UrhG a.F. lautete: „Wer das Urheberrecht … widerrechtlich verletzt, kann vom Verletzten auf Beseitigung der Beeinträchtigung, bei Wiederholungsgefahr auf Unterlassung und, wenn dem Verletzter Vorsatz oder Fahrlässigkeit zur Last fällt, auch auf Schadensersatz in Anspruch genommen werden. An Stelle des Schadensersatzes kann der Verletzte die Herausgabe des Gewinns, den der Verletze durch die Verletzung des Rechts erzielt hat, … verlangen.“ Die heutige, leicht abweichende Formulierung entstammt dem Gesetz zur Verbesserung der Durchsetzung von Rechten des geistigen Eigentums vom 7. 7. 2008, BGBl I 1191, und sollte vor allem die Übersichtlichkeit erhöhen (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs.16/5048, S. 48). 35 BGH, GRUR 2011, 415 ff. 36 Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft v. 10. 9. 2003 (BGBl. I 1774). 34

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die dabei erforderliche Grundrechtsabwägung mit dem deutschen Grundgesetz vom Bundesverfassungsgericht zu überprüfen sei. Das Urteil des Bundesgerichtshofes stieß bei der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts auf keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Neben der Auslegung und Anwendung des § 50 UrhG habe es keiner gesonderten Grundrechtsabwägung bedurft, vielmehr habe die Abwägung und angemessene Verarbeitung der in Frage stehenden Grundrechtspositionen im Rahmen der Auslegung und Anwendung von § 50 UrhG zu erfolgen gehabt, weil dieser bereits dazu diene, die Grundrechtspositionen von Urhebern (Art. 14 Abs. 1 GG) und Presseunternehmen (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG) in Ausgleich zu bringen. Die Auslegung und Anwendung des § 50 UrhG im angegriffenen Urteil orientierte sich an Wortlaut, gesetzgeberischen Motiven sowie Sinn und Zweck der Regelung. Der Bundesgerichtshof habe keine abwägungsrelevanten Umstände übersehen. Der Fall zeigt, dass es zunächst die Aufgabe des nationalen Gesetzgebers ist, die Rechte der betroffenen Personen zu definieren und umzusetzen. Nur wenn dabei ein Abwägungsdefizit zutage tritt, wird dies zur Aufgabe zunächst der nationalen, dann der europäischen Justiz. b) Hyperlinks Gänzlich neue Probleme ergeben sich aus der Möglichkeit des Setzens von Verweisen auf fremde Angebote durch Hyperlinks, die auf verschiedene Weise mit dem Urheberrecht in Konflikt geraten können. Ein Beispiel für die Abwägung zwischen Presse- und Meinungsfreiheit auf der einen Seite und dem Schutz geistigen Eigentums auf der anderen Seite bei der Geltendmachung von Unterlassungsansprüchen ist die Berichterstattung über Kopierschutzsoftware („AnyDVD“), nach dem Namen der ursprünglichen Klagegegnerin auch Heise-Fall genannt. Die Beschwerdeführerinnen sind Inhaberinnen von Bild- und Tonträgerrechten an Musik-CDs und -DVDs. Der im Ausgangsverfahren beklagte Heise-Verlag betreibt einen Nachrichtendienst im Internet. Dort veröffentlichte er im Jahr 2005 einen Artikel über die Software „AnyDVD“, einen Treiber, der im Hintergrund automatisch und unbemerkt eingelegte DVD-Filme entschlüsselt. In dem Artikel wurde erwähnt, dass die Umgehung von Kopierschutzsoftware in Deutschland und Österreich verboten ist (§ 108b Abs. 1 Nr. 1 UrhG). Mehrere Wörter des Artikels waren als (Hyper-) Link ausgestaltet; ein Link führte zum Internetauftritt des Unternehmens, das „AnyDVD“ anbot und zum Herunterladen bereitstellte. Die Beschwerdeführerinnen wandten sich an den Beklagten und forderten ihn zur Unterlassung dieses Links auf. In weiteren Internet-Artikeln berichtete der Beklagte daraufhin über dieses Abmahnverfahren und verlinkte darin seinen ursprünglichen Artikel.37 37 Vgl. Sachverhalt und rechtliche Ausführungen in BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, GRUR 2012, 390. Zur Meinungsfreiheit im Rahmen der EMRK im Zusammenhang mit Hyperlinks s. auch EGMR (Große Kammer), 13.7.2012 – 16354/06 – Mouvement Raël Suisse

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Der Bundesgerichtshof verneinte einen Unterlassungsanspruch der Beschwerdeführerinnen sowohl unter dem Gesichtspunkt der Teilnehmerhaftung als auch der Störerhaftung. Dabei nahm er eine Abwägung widerstreitender Grundrechte vor.38 Weil es sich bei § 95a UrhG um Umsetzungsrecht handelt, erfolgte diese Abwägung (zumindest auch) anhand der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Die beanstandeten Handlungen des Beklagten seien vom Recht auf freie Meinungsäußerung und vom Recht auf freie Berichterstattung aus Grundrechte-Charta, Europäischer Menschenrechtskonvention und Grundgesetz umfasst. Eine strenge Unterscheidung zwischen der sich von „AnyDVD“ distanzierenden redaktionellen Berichterstattung als solcher und der Linksetzung werde dem Gewährleistungsgehalt dieser Grundrechte nicht gerecht. Der Grundrechtsschutz der Meinungs- und Pressefreiheit erstrecke sich nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf die Form der Meinungsäußerung oder Berichterstattung. Der beanstandete Link erschließe vergleichbar einer Fußnote zusätzliche Informationsquellen und sei in den Beitrag und die in ihm enthaltenen Stellungnahmen als Beleg mit ergänzenden Angaben eingebettet. Über Persönlichkeitsrechtsverletzungen dürfe trotz deren Perpetuierung oder Vertiefung berichtet werden, wenn ein überwiegendes Informationsinteresse bestehe und der Verbreiter sich die berichtete Äußerung nicht zu eigen mache. Demgegenüber sei nicht ersichtlich, dass der Eingriff in die urheberrechtlichen Befugnisse der Beschwerdeführerinnen durch die Setzung des Links erheblich vertieft worden sei. Die auf Art. 14 Abs. 1 GG gestützte Verfassungsbeschwerde hatte keinen Erfolg.39 Zunächst stellte sich die Frage, ob die Prüfung der Abwägung durch den Bundesgerichtshof anhand deutscher Grundrechte vorzunehmen war und damit in die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts fiel. Diese Frage wurde vom Bundesverfassungsgericht bejaht. Zwar sei die Regelung des § 95a UrhG selbst an den EUGrundrechten zu messen, weil ein Umsetzungsspielraum der Mitgliedstaaten insofern nicht ersichtlich sei. Die Abwägung der konkurrierenden Grundrechtspositionen der Beteiligten sei vom Bundesverfassungsgericht aber am Maßstab des Grundgesetzes zu messen. Die einschlägige Richtlinie enthalte keine vollharmonisierende Regelung für die notwendige Abwägung zwischen dem Schutz vor Umgehung wirksamer technischer Maßnahmen gegen Urheberrechtsverletzungen nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie einerseits und der Meinungs- und Pressefreiheit gem. Art. 5 Abs. 1 GG, Art. 11 Charta der Grundrechte, Art. 10 EMRK andererseits. Bei Zugrundelegung anerkannter presserechtlicher und urheberrechtlicher Maßstäbe des Verfassungsrechts sei gegen die Abwägung des Bundesgerichtshofs nichts zu erinnern, auch wenn ein anderes Ergebnis ebenfalls verfassungsrechtlich vertretbar gewesen wäre. Die Pressefreiheit schütze auch die bloß technische Verbreitung von Äußerungen Dritter, selbst soweit damit keine eigene Meinungsäußerung des sowie M. Lippold/A. Milstein, Der eingeschränkte Schutz von Hyperlinks durch den EGMR, K&R 2013, 84. 38 Vgl. aber BGH, GRUR 2011, 56 (Session-ID). 39 BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, GRUR 2012, 390 ff.

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Verbreiters verbunden sei. Zutreffend nehme der Bundesgerichtshof in seiner Abwägung in den Blick, dass die Linksetzung als solche den Eingriff in Urheberrechte nicht erheblich vertiefe, weil die Seite des Softwareherstellers auch über eine Suchmaschine gefunden werden könne. Die Entscheidung ist aus mehrerlei Gründen von Interesse: Zunächst hat hier – anders als bei den Online-Archiven – der Bundesgerichtshof selbst die gesetzliche Vorschrift durch eine Grundrechtsabwägung ergänzt. Die Vornahme einer solchen Abwägung in nachvollziehbarer Weise durch die Fachgerichte schützt weitestgehend vor einer verfassungsgerichtlichen Korrektur, gleichgültig vom konkreten Abwägungsergebnis. Zudem zeigt sich, dass es die Fachgerichtsbarkeit häufig einfacher bei der Frage hat, welche Grundrechte zur Anwendung kommen, als das Bundesverfassungsgericht. Während letzteres sich vergewissern muss, dass deutsche Grundrechte anzuwenden sind – sonst fehlt ihm die Zuständigkeit40 –, können die Fachgerichte die inhaltsähnlichen Gewährleistungen aus Grundgesetz, Europarecht und Menschenrechten hintereinander zitieren, ohne in der Sache dabei etwas zu verlieren. Schließlich wird hier der Vorteil der Regulierung des europäischen Urheberrechts per Richtlinie und nicht per Verordnung deutlich:41 Hinsichtlich der Umsetzung in nationales Recht finden auf diese Weise nationale Grundrechte neben den europäischen Anwendung. Damit ist den europäischen Grundrechten Genüge getan, ohne das nationale Recht und die nationalen Gerichte, auch Verfassungsgerichte, auszuhebeln. Nur wo der nationale Grundrechtsschutz den europäischen Erfordernissen nicht entspricht, greift demnach europäisches Recht unmittelbar ein. Bei der Regelung durch Verordnung wäre der nationale Grundrechtsschutz hingegen durch das Bundesverfassungsgericht in erheblichem Maße beschränkt.42 III. Die Durchsetzung des Urheberrechts im Spiegel der Rechtsprechung europäischer und nationaler Gerichte Die Durchsetzung des Urheberrechts steht nicht nur dank ACTA43 und Piratenpartei derzeit im Blickpunkt allgemeiner Aufmerksamkeit. Hier entscheidet sich nicht nur die Durchsetzung geistigen Eigentums im postmodernen Medienzeitalter, son40

Zur anderen Rechtslage in Österreich s. neuerdings Verfassungsgerichtshof Wien, Erkenntnis v. 14. 3. 2012, U 466/11, U 1836/11, EuGRZ 2012, S. 331 ff. 41 s. nur Art. 288 Abs. 2 und 3 AEUV. Allgemein zu Richtlinie und Verordnung; s. M. Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 288 AEUV Rdnr. 16 ff.; zum nationalen Umsetzungsspielraum mit Blick auf die Anwendbarkeit europäischer Grundrechte, H. D. Jarass, Charta EU-Grundrechte, Art. 51 Rdnr. 21 f.; C. Nowak, in: Terhechte (Hrsg.), Verwaltungsrecht der EU, 2011, § 14 Rdnr. 91 ff.; aus der neueren Rechtsprechung des BVerfG s. BVerfGE 129, 78 (102 – 104) (Le Corbusier-Möbel); BVerfGE 129, 186 (200 – 02); grundlegend BVerfGE 118, 79 (95 ff.) (Emissionshandel). 42 Vgl. J. Masing, Herausforderungen des Datenschutzes, NJW 2012, 2305 (2310 f.). 43 s. unten Fußn. 82.

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dern auch die Innovationsfähigkeit unserer posttechnologischen Gesellschaft. Der Schutz der geistigen Schöpfung scheint häufig gegen das Interesse der Öffentlichkeit an ihrer größtmöglichen Verbreitung zu stehen. Die Möglichkeiten der Vervielfältigung und Verbreitung urheberrechtlich geschützter Werke werfen die Frage nach der Durchsetzung der Urheberrechte im Bereich der Neuen Medien, insbesondere des Internets auf. Diese Frage hat mittelbar auch Auswirkungen auf den (materiellen) Inhalt der Urheberrechte, da etwa eine zu schwache Durchsetzung der Urheberrechte die Gefahr ihrer inhaltlichen Erosion birgt, und eine zu strenge, Nutzerrechte nicht beachtende Handhabung die Legitimität des Urheberrechts unterminieren und damit seine Durchsetzung weiter schwächen würde. Mit anderen Worten: eine Rechtsdurchsetzung allein durch Zwang erscheint zum Scheitern verurteilt. Trotz aller Kampagnen zum sog. „Raubkopieren“ hat die „Internet“- und „Facebook“-Generation häufig wenig Skrupel, sich Kopien fremder geistiger Schöpfungen anzueignen, ohne dafür zu bezahlen, während sich viele Urheber der klassischen Medien fragen, wovon sie künftig leben sollen. Das gilt auch für die Unternehmer, welche die Plattformen für geistige Schöpfungen zur Verfügung stellen und die sich um die technische Seite kümmern, insbesondere die Verleger, aber auch die Online Dienste, von Facebook bis Youtube. Ob kollektive Lösungen wie eine „Kulturflatrate“ mehr Probleme lösen als aufwerfen, ist eine vieldiskutierte Frage44 – wobei nicht in Vergessenheit geraten sollte, dass wir mit den Rundfunkabgaben im wichtigen Teilbereich von Funk und Fernsehen bereits eine Art Flatrate haben, mit der auch die rechtmäßige Verbreitung urheberrechtlich geschützter Inhalte finanziert wird. Der bisherige Ansatz der Durchsetzung von Urheberrechten ist bei (vermuteten) Verletzungen in Neuen Medien geprägt durch die gerichtliche Geltendmachung eines Unterlassungsanspruches (§ 97 Abs. 1 Satz 1 UrhG) oder durch Inanspruchnahme des Instituts der Abmahnung (§ 97a Abs. 1 UrhG) und das Fordern von Schadensersatz (§ 97 Abs. 2 UrhG). Flankiert und erst ermöglicht werden diese Instrumente durch Auskunftsansprüche. Diese bestehen zunächst gegen den Verletzer selbst (§ 101 Abs. 1 UrhG). Der Rechteinhaber weiß allerdings im Falle einer Rechtsverletzung im Internet zunächst nicht, wer verdächtig ist, weil sich der Nutzer im Internet nicht mit seinem Namen, sondern unter einer IP-Adresse bewegt, die ihm von seinem Provider zugewiesen wurde. Zusätzliche Auskünfte werden erforderlich, wenn die übermittelten Daten nicht bekannt sind und nur der Verdacht besteht, dass es sich um rechtlich geschützte Inhalte handelt. Der Auskunftsanspruch wird in § 101 Abs. 2 UrhG in Umsetzung von Art. 8 Abs. 1a) - d) der sog. Enforcement-Richtli44

Befürwortend: D. Leisegang, Kulturflatrate: Der neue Sozialvertrag, Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2011, 106 ff.; aus verfassungsrechtlicher Sicht A. Roßnagel/ S. Jandt/C. Schnabel, Kulturflatrate – Ein verfassungsrechtlich zulässiges alternatives Modell zur Künstlervergütung, MMR 1/2010, 8 ff. Dagegen S. Leutheusser-Schnarrenberger, Kein Grund zum Kulturpessimismus, F.A.Z. v. 31. 5. 2012, S. 8.

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nie45 daher außerdem auf Personen erstreckt, die nicht selbst Rechte verletzt haben, insbesondere auf Internet-Provider (Access-Provider).46 Aufgrund der Vielzahl und der (vorläufigen) Anonymität der Nutzer wird auf diese Weise zunächst der Anbieter von Internetdiensten, sei es der Hostprovider (Scarlet), das soziale Netzwerk (Netlog) oder eine Versteigerungsplattform, Adressat der Maßnahmen und zur entsprechenden Auskunft verpflichtet. Jedenfalls technisch ist dabei eine umfassende Überwachung der übermittelten Inhalte ohne weiteres möglich; ob eine derartige DeepPacket-Inspection rechtspolitisch sinnvoll wäre, steht auf einem anderen Blatt, sie wird indes etwa von der Bundesjustizministerin als einer freien Gesellschaft widersprechend abgelehnt.47 Sämtliche Maßnahmen setzen voraus, dass der Diensteanbieter die Daten, die Urheberrechte verletzen könnten, und deren Nutzer ermittelt. Das Instrument der Abmahnung steht dabei in der Kritik, weil es zum Teil unseriöse Abmahnpraktiken gibt, aber auch weil die Zuordnung von IP-Adressen und Namen durch die Provider und damit auch deren Auskünfte offenbar häufig mit Fehlern behaftet sind.48 1. Gerichtshof der Europäischen Union Die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) betont das Erfordernis eines Ausgleichs der Grundrechte der Betroffenen. Dabei lässt die neuere Rechtsprechung eine letztlich erfreuliche grundrechtliche Begrenzung der Auskunftsansprüche erkennen. a) Promusicae Die grundlegende Promusicae-Entscheidung49 betrifft das Verhältnis des Datenschutzrechts zum (urheberrechtlich begründeten) Auskunftsanspruch. Die Vereinigung Promusicae als Vertreterin von Rechteinhabern begehrte von Telefónica España die Herausgabe von personenbezogenen Verkehrsdaten ihrer Nutzer, um so ihre Ansprüche gegen potentielle Rechtsverletzer durchsetzen zu können. Das spanische Recht sieht keine entsprechenden Auskunftsansprüche oder Durchbrechungen des Datenschutzes zu Gunsten von Privaten vor, so dass sich die Frage stellte, ob das spanische Recht europarechtlich dahingehend auszulegen oder zu korrigieren war, dass es zum Schutz der Rechtsinhaber entsprechende Durchbrechungen erlauben muss. Dabei stützten sich die Rechteinhaber vor allem auf das in verschiedenen urheberrechtlichen Richtlinien, insbesondere in Art. 8 Abs. 1 und 2 der InfoSoc45

Richtlinie 2004/48/EG (o. Fußn. 15). Vgl. G. Spindler/F. Schuster, Recht der elektronischen Medien, 2. Aufl. 2011, § 101 Rdnr. 7. 47 Vgl. Leutheusser-Schnarrenberger (o. Fußn. 44), S. 8. 48 Vgl. dazu etwa T. Darnstädt, Wem gehören die Gedanken?, Der Spiegel v. 21. 05. 2012, S. 124. 49 EuGH, Rs. C-275/06 (Promusicae v. Telefónica España), Slg. 2008, I-00271. 46

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Richtlinie,50 aber auch Art. 8 Abs. 1 der Enforcement-Richtlinie51 niedergelegte Prinzip, dass den Rechteinhabern ein effektiver Rechtsschutz gewährt werden müsse. Unstreitig sind die begehrten Daten als personenbezogene Daten im Sinne der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation52 zu qualifizieren; auch stand nicht zur Diskussion, dass Telefónica diese Daten erhob und verarbeitete, da sie hierzu nach spanischem Recht verpflichtet war.53 Der Gerichtshof entschied, dass die einschlägigen europäischen Richtlinien54 von den Mitgliedstaaten nicht verlangten, zum effektiven Schutz des Urheberrechts eine Pflicht zur Mitteilung personenbezogener Daten im Rahmen eines zivilrechtlichen Verfahrens vorzusehen. Der Gerichtshof betont dabei das Erfordernis des Ausgleichs von Grundrechten, hier des Eigentumsrechts (insbesondere des geistigen Eigentums) und des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf (Art. 17 und Art. 47 der GR-Charta) auf der einen Seite und des Schutzes personenbezogener Daten (Art. 8 GR-Charta) auf der anderen Seite. Die Mitgliedstaaten seien nach Gemeinschafts- (heute Unions-)recht dazu verpflichtet, sich bei der Umsetzung dieser Richtlinien auf eine Auslegung zu stützen, die es ihnen erlaube, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den verschiedenen durch die Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechten sicherzustellen. Bei der Durchführung der Maßnahmen zur Umsetzung dieser Richtlinien hätten die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten nicht nur ihr nationales Recht im Einklang mit diesen Richtlinien auszulegen, sondern auch darauf zu achten, dass sie sich nicht auf eine Auslegung dieser Richtlinien stützten, die mit diesen Grundrechten oder den anderen allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, wie etwa dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, kollidiere. b) Scarlet v. SABAM55 In der Scarlet-Entscheidung hat der Gerichtshof der Europäischen Union nunmehr die grundrechtlichen Grenzen der Pflichten der Provider zur Überwachung ihrer Nutzer hervorgehoben. Eine belgische Verwertungsgesellschaft für Musikwerke hatte zum Schutz des Urheberrechts an den zu ihrem Repertoire gehörenden Werken klageweise von einem Accessprovider die Verhinderung einer Vervielfältigung und öffentlichen Wiedergabe geschützter Werke im Wege der Nutzung von P2P-File50

s. oben Fußn. 15. Ebd. 52 Richtlinie 2002/58/EG, Abl L 201/37 v. 31. 7. 2002. 53 Art. 12 des Ley de Servicios de la Sociedad de la Información y de Comercio Electrónico (LSSICE) v. 11. 7. 2002, Boletín Oficial del Estado (BOE) 166 v. 12. 07. 2002, s. G. Spindler, „Die Tür ist auf“ – Europarechtliche Zulässigkeit von Auskunftsansprüchen gegenüber Providern – Urteilsanmerkung zu EuGH „Promusicae/Telefónica“, GRUR 2008, 574. 54 Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr (2000/31/EG), Abl. L 178/1 v. 17. 7. 2000, die InfoSoc-Richtlinie (o. Fußn. 15), die Enforcement-Richtlinie (ebd.) und die Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation (2002/58/EG) (Fn. 52). 55 EuGH, Rs. C-70/10 (Scarlet v. SABAM), JZ 2012, 308, GRUR 2012, 265. 51

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sharing durch Dritte mittels Inanspruchnahme der Dienste des Accessproviders gefordert. Sie begehrte außerdem die Mitteilung der in Betracht kommenden Schutzmaßnahmen. Nach einer Beweisaufnahme, derzufolge die Filterung technisch nicht ausgeschlossen sei, wurde der Klage erstinstanzlich stattgegeben, die Rechtsmittelinstanz legte die Sache dem EuGH zur Vorabentscheidung vor. Die Rechtsprechung aus dem L’Oréal-Fall zu Markenrechtsverletzungen auf Online-Handelsplattformen56 übertrug der EuGH in Scarlet./.SABAM nunmehr auf Accessprovider. Damit stellt er nicht die Frage, ob, sondern nur in welchen Grenzen der Accessprovider zu vorbeugenden Filtermaßnahmen verpflichtet sein kann.57 Einzelstaatliche Regelungen und deren Anwendung durch die nationalen Gerichte müssen entsprechend dieser Entscheidung die Beschränkungen beachten, die sich aus den anwendbaren Richtlinien ergeben,58 insbesondere: – das Verbot allgemeiner Überwachungspflichten nach Art. 15 Abs. 1 RL 2000/31/ EG,59 das nach Auffassung des EuGH einer Anordnung gegen einen Provider entgegensteht, „sämtliche Daten jedes Einzelnen seiner Kunden aktiv zu überwachen, um jeder künftigen Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums vorzubeugen“; sowie – Art. 3 RL 2004/48/EG,60 wonach anzuordnende Maßnahmen gerecht und verhältnismäßig sein müssen und nicht übermäßig kostspielig sein dürfen.61 In unserem Kontext von besonderer Bedeutung sind die Ausführungen zu den widerstreitenden Grundrechtspositionen. Der Schutz des Rechts am geistigen Eigentum nach Art. 17 Abs. 2 GR-Charta sei nicht schrankenlos und damit bedingungslos zu gewährleisten, sondern in ein Gleichgewicht mit anderen Grundrechten von Personen zu bringen, die von Schutzmaßnahmen berührt würden.62 Die nationalen Behörden und Gerichte hätten daher ein angemessenes Gleichgewicht herzustellen zwischen dem Schutz 56

EuGH, Rs. C.324/09 (L’Oréal v. Ebay), EWS 2011, 287, CR 2011, 597. Vgl. M. Rössel, Europarechtliche Grenzen der Filterpflichten eines Accessproviders, jurisPR-ITR 25/2011 Anm. 2. 58 s. RL 2001/29/EG (o. Fußn. 15) und 2004/48/EG (o. Fußn. 15) sowie die durch den 16. Erwägungsgrund der RL 2001/29/EG und Art. 2 Abs. 3 lit. a RL 2004/48/EG in Bezug genommenen Art. 12 bis 15 der RL 2000/31/EG (o. Fußn. 54), EuGH, Scarlet v. SABAM (o. Fußn. 55), Rdnr. 30 ff.; vgl. auch EuGH, L’Oréal v. Ebay (o. Fußn. 56), Rdnr. 131 ff. 59 Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 8.062000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“) (o. Fußn. 54). 60 O. Fußn. 15. 61 EuGH, Scarlet v. SABAM (o. Fußn. 55), Rdnr. 35 ff.; vgl. EuGH, L’Oréal v. Ebay (o. Fußn. 56), Rdnr. 139. 62 EuGH, Scarlet v. SABAM (o. Fußn. 55), Rdnr. 43 ff.; vgl. EuGH, Promusicae v. Telefónica España (o. Fußn. 49), Rdnr. 62 ff. 57

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– des Rechts am geistigen Eigentum der Inhaber von Urheberrechten (Art. 17 Abs. 2 GR-Charta), – der unternehmerischen Freiheit der Accessprovider nach Art. 16 GR-Charta, die verletzt wäre, wenn sämtliche Kommunikation zeitlich unbegrenzt im Hinblick auf jede, auch künftige Beeinträchtigung von Urheberrechten der Verwertungsgesellschaft zu überwachen wäre, weil dies auf ein kompliziertes, kostspieliges, auf eigene Kosten zu tragendes, unbefristetes Filtersystem hinausliefe, was außerdem nicht mit Art. 3 Abs. 1 RL 2004/48/EG zu vereinbaren sei,63 sowie – dem Grundrecht auf Schutz personenbezogener Daten aus Art. 8 GR-Charta der Kunden des Providers, da es sich bei IP-Adressen um personenbezogene Daten handele und mit dem Filtersystem „eine systematische Prüfung aller Inhalte sowie die Sammlung und Identifizierung der IP-Adressen der Nutzer“ verbunden sei,64 und schließlich – dem Recht der Kunden auf Schutz der Informationsfreiheit aus Art. 11 GR-Charta, das beeinträchtigt sein könne, wenn das Filtersystem „nicht hinreichend zwischen einem unzulässigen Inhalt und einem zulässigen Inhalt unterscheiden kann, sodass sein Einsatz zur Sperrung von Kommunikationen mit zulässigem Inhalt führen könnte“. Denn in den Mitgliedsstaaten variiere einerseits aufgrund unterschiedlicher urheberrechtlicher Schutz- oder Ausnahmevorschriften die Zulässigkeit eines Austauschs urheberrechtlich geschützter Werke im Rahmen von P2P-Systemen, und andererseits sei eine kostenlose Lizenzierung durch den Urheber denkbar.65 In Beantwortung der Vorlagefragen sei daher die Anordnung eines Filtersystems das – alle durchlaufenden Kommunikationsdienste umfasst, – alle Kunden betrifft, – präventiv wirkt, – mit der alleinigen Kostentragung des Accessproviders verbunden, – zeitlich unbegrenzt ist und schließlich zugunsten aller Urheberrechte des Anspruchstellers wirken soll, nicht mit Unionsrecht vereinbar. Dies hat der EuGH in der Entscheidung SABAM v. Netlog erneut bekräftigt.66 63

EuGH, Scarlet v. SABAM (o. Fußn. 55), Rdnr. 46 ff. EuGH, Scarlet v. SABAM (o. Fußn. 55), Rdnr. 51. 65 EuGH, Scarlet v. SABAM (o. Fußn. 55), Rdnr. 52. 66 EuGH, Rs. C-360/10, GRUR 2012, 382 m. Anm. A. Metzger.

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c) Bewertung Bedeutung hat die Rechtsprechung des EuGH insbesondere im Hinblick auf die Aussage, dass zwischen einzelnen grundrechtlich geschützten Positionen ein angemessener Ausgleich hergestellt werden muss, und zwar über den konkreten Fall hinaus. Die Grenze zwischen zulässiger spezieller Überwachung im Hinblick auf weitere Verletzungen einzelner Schutzrechte (L’Oréal v. Ebay) und unzulässiger, genereller Überwachungspflicht (Scarlet v. SABAM, SABAM v. Netlog) wird künftig noch auszudifferenzieren sein. Denn die letztgenannten vom EuGH zu entscheidenden Fälle betrafen entsprechend der an ihn gestellten Vorlagefragen eher Extrembeispiele einer unzulässigen Überwachungspflicht. 2. Bundesgerichtshof Dieser Rechtsprechung des EuGH entspricht die neue Tendenz des Bundesgerichtshofes, von einer Filterpflicht abzurücken und den Providern auch andere Möglichkeiten einzuräumen, Rechtsverletzungen in Zukunft zu vermeiden.67 Erst kürzlich entschied der BGH im Fall „Alone in the Dark“ über den File-Hosting-Dienst rapidshare.com, dass der File-Hosting-Dienst sehr wohl als Störer haften müsse, wenn er Prüfpflichten verletze.68 Eine solche Prüfungspflicht entstehe aber erst, wenn der Provider auf eine klare Rechtsverletzung hingewiesen worden sei. Dann müsse er verhindern, dass die konkrete Verletzung – im betroffenen Fall ein Computerspiel – nicht von anderen Nutzern gespeichert und abgerufen werden könne. Dem Diensteanbieter sei „grundsätzlich zuzumuten, eine überschaubare Anzahl einschlägiger Link-Sammlungen auf bestimmt bezeichnete Inhalte zu überprüfen“.69 Ganz ähnlich hat das LG Hamburg im Fall GEMA v. Youtube über auf Youtube eingestellte Musikvideos entschieden70 – allerdings ist die Entscheidung noch nicht rechtskräftig, weil beide Parteien Berufung eingelegt haben. Insbesondere ist der Umfang der Prüfpflichten des Diensteanbieters weiter umstritten. Diese Rechtsprechung stellt ebenfalls einen Ausgleich der unterschiedlichen Grundrechtspositionen im Grenzbereich zwischen zulässiger spezieller Überwachung im Hinblick auf weitere Verletzungen einzelner Schutzrechte und unzulässiger genereller Überwachungspflicht her. Kritiker befürchten allerdings, dass die Summe zahlreicher spezieller Überwachungspflichten – im Sinne einer „Politik der Nadelstiche“ – am Ende doch zu einer weitgehenden Pflicht zur Überwachung des Nutzerverhaltens führen könnte.71

67

BGH, CR 2011, 259 ff. (Kinderhochstühle im Internet). BGH, Urteil vom 12. Juli 2012, I ZR 18/11 (Alone in the Dark), WM 2013, 388, Rn. 31 f. 69 Ebd. 70 LG Hamburg, CR 2012, 391 ff. (mit Anm. Schulz, 395 ff.). 71 Metzger (o. Fn. 66), 385.

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3. Reformmodelle und Alternativen Die Herausforderung des Schutzes von Urheberrechten in Neuen Medien hat einige Reformmodelle hervorgebracht. Diese müssen sich in den vom Gerichtshof der Europäischen Union gesteckten Grenzen halten und stehen vor dem Problem, dass der Gerichtshof eine Abwägung widerstreitender Grundrechtspositionen nur in einer Extremsituation vorgenommen hat, was wenig Rückschlüsse auf andere, weniger eindeutige Fälle zulässt. Immerhin dürften hiernach differenzierende Modelle nicht per se unzulässig sein. Diskutiert werden partielle Überwachungspflichten hinsichtlich von mehrfach mit Rechtsverletzungen in Erscheinung getretenen Nutzern, der zeitlich begrenzte Einsatz von Sperren oder eine finanzielle Beteiligung der Rechteinhaber an den Maßnahmen.72 a) Internetsperre Jedenfalls technisch möglich ist zunächst die Sperrung von Internetseiten mit urheberrechtsverletzenden Inhalten oder der Internetzugänge von Nutzern, die in großem Umfang urheberrechtswidrig Material öffentlich machen. Anknüpfungspunkt ist auch hier wieder der jeweilige Internetprovider. Internetsperren begegnen verschiedenen Bedenken. Die Sperrung sämtlicher Inhalte einer Seite wäre im Hinblick auf die Berufsfreiheit der Diensteanbieter und der Informationsfreiheit der Nutzer problematisch, weil regelmäßig nicht ausschließlich urheberrechtsverletzendes Material getauscht wird. Eine Beschränkung auf Onlinekommunikation, deren Inhalt das Urheberrecht verletzt, könnte ein Eingriff in das Fernmeldegeheimnis darstellen.73 Entsprechende Regelungen wären außerdem im Hinblick auf die vom EuGH in Scarlet formulierten Grundsätze und die dort genannten Rechte der Diensteanbieter und der Nutzer problematisch. b) Warnhinweismodell In einer vom Bundeswirtschaftsministerium in Auftrag gegebenen Studie schlägt Schwartmann ein vorgerichtliches Mitwirkungsmodell als innerstaatlichen Ansatz vor.74

72 Vgl. B. P. Paal/M. Hennemann, Schutz von Urheberrechten im Internet – ACTA, Warnhinweismodell und Europarecht, MMR 2012, 288 (291). 73 Vgl. hierzu D. Gesmann-Nuissl/K. Wünsche, Neue Ansätze zur Bekämpfung der Internetpiraterie – ein Blick über die Grenzen, GRURInt 2012, 225 (228 f.). 74 R. Schwartmann, Vergleichende Studie über Modelle zur Versendung von Warnhinweisen durch Internet-Zugangsanbieter an Nutzer bei Urheberrechtsverletzungen, abrufbar unter: http://www.bmwi.de/BMWi/Redaktion/PDF/Publikationen/Technologie-und-Innovation/ warnhinweise-lang,property=pdf,bereich=bmwi,sprache=de,rwb=true.pdf (zuletzt besucht 31. 10. 2012), S. 76 ff.

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Nach diesem Modell übermittelt der Rechteinhaber nach der Feststellung eines Rechtsverstoßes die von ihm ermittelte IP-Adresse des Anschlussinhabers an den betreffenden Zugangsanbieter. Dieser versendet eine aufklärende Warnung an den Anschlussinhaber, legt den Namen und den Verstoßvorwurf in einer intern geführten Liste ab und informiert den Anschlussinhaber darüber. Ab einer bestimmten Zahl von festgehaltenen Verstößen soll dem Rechteinhaber die um den Klarnamen des Anschlussinhabers bereinigte Verstoßliste bekannt gegeben werden. Der Anschlussinhaber soll hierüber informiert werden. Der Rechteinhaber soll dann, wie nach derzeit geltendem Recht, im Wege eines gerichtlichen Auskunftsverlangens (§ 101 Abs. 9 UrhG) Namen und Anschrift des Rechteinhabers verlangen und anhand der Verstoßliste gezielt gegen gewerbsmäßige Urheberrechtsverletzung vorgehen können. Der Vorschlag stellt damit eine Ergänzung der bisherigen Schutzmechanismen dar. Das Mitwirkungsmodell führt zu einer Verdeutlichung der Rechtslage gegenüber den betroffenen Internetnutzern, ohne sich einseitig an den Interessen der Rechteinhaber zu orientieren.75 Allerdings könnte dem Nutzer der ggf. unzutreffende Eindruck vermittelt werden, ein Rechteverstoß sei eindeutig festgestellt worden, zumal der Nutzer nicht mit dem Anschlussinhaber identisch sein muss. Umgekehrt ist Rechteinhabern insoweit nicht geholfen, als nur Wiederholungstäter erfasst werden und das Problem der Identifizierbarkeit bei einer Verschleierung der IP-Adresse nicht gelöst ist.76 Warnhinweise stehen im Spannungsverhältnis der bereits genannten Grundrechte, nämlich dem durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Urheberrecht auf der einen Seite und den Rechten des Diensteanbieters aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG sowie jenen der Nutzer aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 und Art. 10 Abs. 1 GG auf der anderen Seite. Sie kollidieren als differenzierendes Modell nicht von vornherein mit den Vorgaben des EuGH in der Scarlet- und der PromusicaeEntscheidung.77 Auch im Hinblick auf die neueren Entscheidungen des BGH erscheint jedoch ein bloßer Verdacht auf Urheberrechtsverletzungen nicht ausreichend. Problematisch könnte – insofern parallel zum aufgegebenen Modell von Warnhinweisen bei noch schwerer wiegender Kinderpornographie – auch der Aufbau einer „Warnhinweis“-Infrastruktur sein, die zu anderen Zwecken – durch Private oder staatliche Akteure – missbraucht werden könnte. c) Kulturflatrate Ein offenbar an der Rundfunkgebühr orientiertes Modell schlägt hingegen eine legale Möglichkeit vor, wie Urheber durch Zahlungen der Allgemeinheit ihre Werke dem Gemeingebrauch überantworten könnten: die Kulturflatrate. 75

233. 76 77

Paal/Hennemann (o. Fußn. 72), 290; s. auch Gesmann-Nuissl/Wünsche (o. Fußn. 73), Paal/Hennemann (o. Fußn. 72), 290. Vgl. Schwartmann (o. Fußn. 74), S. 279 f. und 286 f.

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Eine Kulturflatrate setzt zunächst voraus, dass die zu privaten Zwecken begangenen Urheberrechtsverletzungen im digitalen Raum grundsätzlich legalisiert werden. Als Kompensation für die Rechteinhaber dient bei der Kulturflatrate eine pauschalierte Zahlung der Nutzer, wobei die Einnahmen nach einem näher zu bestimmenden Verteilungsschlüssel an die Urheber ausgekehrt werden sollen.78 Je nach Anknüpfungsmerkmal für die Zahlungspflicht der Nutzer (Internetanschluss oder Gerät) und aufgrund von Schwierigkeiten bei der Verteilung der erzielten Zwangsabgaben erscheinen die Erfolgsaussichten für das Modell derzeit wenig günstig. Zudem werden wegen der mit der Kulturflatrate verbundenen Verkürzung des Urheberrechts auf einen Vergütungsanspruch im Hinblick auf Art. 14 Abs. 1 GG verfassungsrechtliche Bedenken geäußert79 – wobei allerdings anzumerken ist, dass die Verbreitung nicht den gleichen Bedenken ausgesetzt ist wie die kostenfreie Verwertung.80 Dennoch würden größere Anbieter urheberrechtlich geschützter Leistungen zugunsten anderer benachteiligt. Schließlich sei darauf hingewiesen, dass schon jetzt die Rundfunkabgaben ähnliche Funktionen übernehmen. Eine Belastung von Nichtnutzern – viele Internetnutzer laden kaum Musik oder Spiele herunter – mit einer Abgabe zugunsten Privater erscheint ebenfalls nicht unproblematisch. d) Remotezugriff auf Datenträger Nicht als Reformprojekt, sondern nur zur Ergänzung der technischen Möglichkeiten soll die Möglichkeit eines Remotezugriffs auf Datenträger angeführt werden. Unternehmen wie Amazon, Apple, Google oder Microsoft verfügen über eine gewisse Kontrolle über die Inhalte, die auf den von ihnen vertriebenen und/oder mit ihren Betriebssystemen ausgestatteten Geräten gespeichert werden. Sie haben die Möglichkeit, Inhalte, die (Urheber-) Rechte verletzen und die über ihre Internetplattformen angeboten wurden, über einen Remotezugriff von den Endgeräten zu löschen. Hiervon haben in der Vergangenheit zumindest Amazon (ausgerechnet) bezüglich der Orwell-Werke „1984“ und „Animal Farm“ für den Kindle als auch Google bezüglich einer mit einem Trojaner verseuchten Android-App Gebrauch gemacht.81 Dass die Anbieter de lege lata hierzu gezwungen werden könnten oder dass die Einführung einer Pflicht de lege ferenda erwogen würde, ist nicht ersichtlich, zumal datenschutzrechtliche und verbraucherschutzrechtliche Bedenken naheliegen.

78

Vgl. dazu Paal/Hennemann (o. Fußn. 72), 289 m. w. N. zu den Vorschlägen. Paal/Hennemann (o. Fußn. 72), 289. 80 Vgl. BVerfGE 79, 29 (41), o. Fußn. 24 u. begl. Text. 81 Vgl. hierzu Gesmann-Nuissl/Wünsche (o. Fußn. 73), 227 f. 79

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e) ACTA (Anti-Counterfeiting Trade Agreement) Ein Projekt hat durch einen Sturm der Ablehnung hohen Bekanntheitsgrad erlangt, das Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA). Ziel des ACTA, eines zwischen den USA, Japan, der EU und acht weiteren Staaten verhandelten Handelsabkommens, ist es, harmonisierte Standards für die Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums zu etablieren. Das Abkommen enthält neben Regelungen über die internationale Kooperation der Vertragsstaaten und die Abstimmung des Gesetzesvollzugs vor allem Vorgaben für die zivil- und strafrechtliche Sanktionierung von Immaterialgüterrechtsverletzungen.82 Bereits bisher gibt es ein dicht gewebtes Netz völkerrechtlicher Abkommen zum Schutze des Urheberrechts, wie etwa das Abkommen über Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights (TRIPS),83 das unter anderem materielle Mindestrechte für insgesamt sieben Immaterialgüterrechte und detaillierte Vorgaben für die zivilund strafprozessuale Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums enthält sowie den Schutzstandard der Revidierten Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst (RBÜ)84 inkorporiert. Diese Regelungen sind Teil des Europäischen Unionsrechts geworden85 und unterliegen damit der Auslegungskompetenz des EuGH. Daneben gibt es mit dem WIPO Copyright Treaty (WCT)86 und dem WIPO Performances and Phonograms Treaty (WPPT)87 vom 22. Dezember 1996 Sonderabkommen, welche die RBÜ an die neuen Techniken der Digitalisierung und des Internets anpassen sollen, indem sie den Kreis der in der RBÜ vorgesehenen 82 Der Entwurf eines Anti-Counterfeiting Trade Agreement, Dokumentennr. 12196/11 im Register des Rates (abrufbar unter:http://register.consilium.europa.eu/pdf/de/11/st12/ st12196.de11.pdf [zuletzt besucht 31. 10. 2012]) richtete sich überwiegend gegen Produktpiraterie, aber enthält auch einige sehr allgemeine Verpflichtungen zur Durchsetzung urheberrechtlicher Ansprüche; s. dazu nur M. Stieper, Das Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA) – wo bleibt der Interessensausgleich im Urheberrecht, GRUR Int 2011, 124 (125 ff.). In Deutschland wurde die Vorbereitung zur Unterzeichnung nach Protesten aus der Öffentlichkeit im Februar 2012 gestoppt; das Europäische Parlament sprach sich am 4. Juli 2012 mit überwältigender Mehrheit (478 – 39 – 165) gegen das Abkommen aus (s. Europäisches Parlament lehnt ACTA ab, 4. 7. 2012, http://www.europarl.europa.eu/news/de/pressroom/content/ 20120703IPR48247/html/Europäisches-Parlament-lehnt-ACTA-ab [zuletzt besucht 31. 10. 2012]), was dessen Schicksal besiegeln dürfte, weil gem. Art. 207 Abs. 2, 3 S. 1, 218 Abs. 6 UAbs. 2 lit. a) v) AEUV die Zustimmung des Parlaments zur Ratifizierung durch die EU erforderlich ist, dazu M. Hahn, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 207 Rdnr. 105. Das avisierte Gutachten des Gerichtshofs der Europäischen Union über seine Vereinbarkeit mit Unionsrecht dürfte damit wirkungslos sein. 83 O. Fußn. 13. 84 O. Fußn. 10. 85 Billigung durch Beschluss des Rates vom 22. Dezember 1994 über den Abschluss der Übereinkünfte im Rahmen der multilateralen Verhandlungen der Uruguay-Runde (1986 – 1994) im Namen der Europäischen Gemeinschaft in Bezug auf die in ihre Zuständigkeiten fallenden Bereiche, 94/800/EG, ABl. L 336/1 vom 23. 12. 1994. 86 UNTS 2186, 121, BGBl 2003 II 754. 87 UNTS 2186, 203, BGBl. 2003 II 770.

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Mindestrechte um das Verbreitungsrecht, das Vermietrecht und das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung erweitern und um einen Rechtsschutz für technische Schutzmaßnahmen ergänzen. Diesen Übereinkommen gehört die EU ebenfalls als Vertragspartner an und hat sie mit der Richtlinie 2001/29/EG zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (InfoSoc-RL) umgesetzt.88 Das ACTA enthält nur die sehr allgemeine Pflicht der Mitgliedstaaten, Kooperation zwischen Rechtsinhabern und Providern zu fördern.89 Die meisten Regelungen sind in ähnlicher Form bereits bekannt.90 Weitergehender dürfte indes der Arbeitsplan der Kommission für die Überarbeitung der Durchsetzungsrichtlinie sein, der vorsieht, die Provider bei der Verfolgung von Rechtsverletzungen stärker in die Pflicht zu nehmen.91 Ein erstes Problem des ACTA ist die fehlende Transparenz bei den Verhandlungen. Seit dem Jahre 2008 verhandelten die EU und die beteiligten OECD-Länder vertraulich. Dies hat heftige Kritik von Datenschützern und Bürgerrechtsorganisationen hervorgerufen.92 Aber auch das Europäische Parlament, das an sich nach Art. 218 Abs. 10 AEUV „in allen Phasen des Verfahrens unverzüglich und umfassend zu unterrichten“ ist, sah sich offenbar nicht ausreichend informiert und forderte die Kommission wiederholt auf, alle Unterlagen im Zusammenhang mit den laufenden Verhandlungen öffentlich zugänglich zu machen.93 Ein zweites Problem des ACTA ist inhaltlicher Art. Es richtet sich (wie die bisherigen multilateralen Abkommen auch) einseitig auf die Verschärfung des Rechtsschutzes gegen Verletzungen der Immaterialgüterrechte, ohne auf der anderen Seite verbindliche Vorgaben für den Schutz der Nutzerrechte zu machen. Zwar verpflichtet das ACTA die Vertragsparteien, bei der Umsetzung der Verpflichtungen aus dem Abkommen das Gebot der Verhältnismäßigkeit zwischen der Schwere der Verletzung, den Interessen Dritter und den anzuwendenden Maßnahmen, Rechtsbehelfen und Strafen zu „berücksichtigen“ (Art. 6 Abs. 3). Dies allerdings dürfte nicht ausreichen, wenn man bedenkt, dass die einzelnen Vorschriften des Abkommens detailliert vorsehen, welche Rechte die Rechtsinhaber geltend machen können, ohne aber zugleich die Grenzen der Rechte ausdrücklich zu regeln.94 Ein weiteres inhaltliches Problem wird darin gesehen, dass der Vertragstext „schwammig“ formuliert ist. Durch die vielfache Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe kann die Auslegung in den Vertragsstaaten unterschiedlich ausfallen. Unsi88

Stieper (o. Fußn. 82), 124 f. Metzger (o. Fußn. 71), 385. 90 Vgl. Stieper (o. Fußn. 82), 125. 91 Metzger (o. Fußn. 71), 385. 92 Vgl. dazu die Hinweise bei Stieper (o. Fußn. 82), 124. 93 Vgl. dazu O. Philipp, Transparenz beim ACTA-Abkommen herstellen, EuZW 2010, 283. 94 Stieper (o. Fußn. 82), 126. 89

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cherheiten entstehen außerdem dadurch, dass das ACTA zahlreiche „Kann-Vorschriften“ enthält, deren Handhabung durch die Vertragsstaaten ungewiss ist.95 Nach heftiger Kritik hat die Kommission nunmehr nach Art. 218 Abs. 11 AEUV ein Gutachten des Gerichtshofs eingeholt. Nach der Ablehnung des Abkommens durch das Europäische Parlament96 sieht es aber nicht danach aus, dass ACTA in welcher Form auch immer in absehbarer Zeit in Kraft treten könnte. IV. Schluss Die Episode mit ACTA zeigt, wie wichtig heute das Urheberrecht in Gesellschaft und Politik genommen wird. Dabei muss ein Ausgleich zwischen verschiedenen Rechtspositionen angestrebt werden. Wer eine der genannten Gruppen ohne Rücksicht auf die Rechte der anderen schützen will, verfehlt die Aufgabe des schonenden Ausgleichs. Generalklauseln für Schranken und Schranken-Schranken des Urheberrechts wie die ökonomisch orientierte angelsächsische Doktrin des „fair use“97 oder der völker- und europarechtlich verankerte Dreistufentest98 erscheinen häufig zu unspezifisch, um die sehr konkreten Probleme in den Griff zu bekommen, und verschieben die Aufgaben von der Gesetzgebung auf die Gerichte. Auf der anderen Seite nimmt die Komplexität der Probleme und der angebotenen Lösungen immer weiter zu. Der Gesetzgeber erscheint oft überfordert, was nicht zuletzt die Länge der Diskussion um die sog. „Körbe“ der deutschen Urheberrechtsreform zeigt.99 Schon durch die europäische Rechtsprechung wird eine Vereinheitlichung in Europa erzwungen, was meist mit allgemeinen Tests wie dem Dreistufentest für Urheberrechtsschranken einhergeht.100 Demnach sollen Urheberrechte nur in Sonderfällen einzuschränken sein, die eine kommerzielle Verwertung nicht beeinträchtigen und die Interessen des Rechteinhabers wahren. Bei der Anwendung dieses Tests – wie

95

Vgl. dazu G. Gounalakis/R. Helwig, ACTA und die Meinungsfreiheit, K&R 2012, 233. Entschließung des Europäischen Parlaments vom 4. Juli 2012, abrufbar unter: http:// www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?type=TA&reference=P7-TA-2012-0287&langu age=DE&ring=A7-2012-0204 (zuletzt besucht 31. 10. 2012). 97 Im U.S.-amerikanischen Recht s. den 1976 Copyright Act, 17 U.S.C. § 107; dazu G. Spindler, Das neue amerikanische Urheberrechtsgesetz, GRURInt 1977, 421. Für einen umfassenden Rechtsvergleich s. neuerdings A. Förster, Fair Use, 2008, S. 9 ff. 98 s. Art. 9 Abs. 2 RBÜ, aufgenommen in Art. 13 TRIPS, Art. 10 Abs. 1 WCT, Art. 16 Abs. 2 WPPT, Art. 5 Abs. 5 Urheberrechtsrichtlinie, oben (o. Fußn. 13); zum Verhältnis beider s. Förster (o. Fußn. 97), S. 193 ff. 99 O. Jani, Urheberrechtspolitik in der 14. und 15. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages, UFITA 2006 II, S. 511 ff.; H. Langhoff/P. Oberndörfer/O. Jani, Der „Zweite Korb“ der Urheberrechtsreform – Ein Überblick über die Änderungen des Urheberrechts nach der zweiten und dritten Lesung im Bundestag, ZUM 2007, 593 ff. 100 J. Bornkamm, Der Dreistufentest als urheberrechtliche Schrankenbestimmung – Karriere eines Begriffs, in: FS Erdmann, 2002, S. 29 ff. 96

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auch sonst – ist das Interesse der Allgemeinheit an der Kreation und Weiterverbreitung von Werken der Kunst und Wissenschaft zu beachten.101 Die verschiedenen Grundrechtspositionen der Betroffenen und das Erfordernis einer Abwägung dieser Positionen lassen keine einfachen Lösungen erkennen. Im Urheberrecht wird es dem Gesetzgeber und der Rechtsprechung obliegen, den rechtlichen Rahmen an die neuen Entwicklungen schonend anzupassen, indem die Grundrechtspositionen der verschiedenen Beteiligten berücksichtigt und miteinander in Einklang gebracht werden. Die Entfaltung der Kreativität der Urheber erfordert dabei einen ausreichenden Schutz, aber auch die wirtschaftliche Verwertbarkeit der Früchte dieser Kreativität. Umgekehrt ist eine Akzeptanz des Urheberrechts durch die Nutzer als Konsumenten der Inhalte erforderlich. Für die Vermarktung ihrer Werke tragen aber vor allen Dingen die Urheber selbst beziehungsweise die Rechteverwerter Verantwortung. Ihnen obliegt es, Ideen zu entwickeln, wie innerhalb des rechtlichen Rahmens die Verwertung und ihre Vergütung an die Realität der Neuen Medien angepasst werden kann. Neue Bezahlmodelle, wie sie im Musik- und jetzt auch im Verlagsbereich geschaffen wurden, können einen Beitrag dazu leisten, dass die Urheber auch in der neuen Medienwelt nicht ausgebeutet werden, sondern von ihren Werken leben können. Nur so wird auch die Qualität redaktioneller Inhalte in der Online-Welt erhalten bleiben. Dazu ist aber gesellschaftliche Akzeptanz erforderlich. In einem Land, das von der Kreativität seiner Dichter und Denker, besonders aber seiner Tüftler und Bastler lebt, sollte diese Aufgabe nicht unüberwindbar sein.

101

Vgl. die vom Münchner Max-Planck-Institut für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht initiierte Erklärung der Münchner Konferenz der International Association for the Advancement of Teaching and Research in Intellectual Property (ATRIP) „A Balanced Interpretation of the ,Three-Step Test‘ in Copyright Law“ von 2008, http://www.ip.mpg.de/ shared/data/pdf/declaration_three_steps.pdf (zuletzt besucht 31. 10. 2012).

Inhalt und Schranken des Eigentums Die Ausgestaltungsgarantie und die Beschränkung der Bodennutzung Von Franz-Joseph Peine I. Die Beschränkung der Bodennutzung in der Diskussion – das Beispiel „Jagdausübungsrecht“ Einen Schwerpunkt der wissenschaftlichen Arbeit des Jubilars bildet das Staatshaftungsrecht im weiteren Sinne.1 Die Dissertation über die Forderungsverletzung im öffentlichen Recht2 bildete den Auftakt in der Befassung mit dieser Materie; ein Höhepunkt ist seine Kommentierung des Art. 14 GG im Maunz/Dürig.3 An diese Werke anknüpfend befasst sich dieser Aufsatz mit einem der wesentlichen Probleme des Art. 14 GG: der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums. Die (immer noch und wohl auch immer wieder) praktische Relevanz der Fragestellung zeigt eine jüngst ergangene Entscheidung der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.4 Das Gericht sieht in der zwangsweisen Übertragung des Jagdausübungsrechts in bestimmten Fällen (Größe des Grundstücks) sowie der Verpflichtung, die Jagd auf dem Grundstück durch beliebige Dritte zu dulden, einen Verstoß gegen das Eigentumsrecht, das § 1 des Ersten Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention garantiert.5 Das Bundesverfassungsgericht hielt in einer Kammerentscheidung6 diese Verpflichtung für mit Art. 14 GG vereinbar, weil das Grundgesetz nicht zwingend fordere, dass der Gesetzgeber immer das Jagdausübungsrecht bei dem Grundeigentum belasse. Die Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums sei rechtmäßig erfolgt, weil der Ge-

1

Überblick bei F.-J. Peine, Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Aufl., 2011, Rdnr. 1079. Die Forderungsverletzung im öffentlichen Recht, 1971. 3 T. Maunz/G. Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Stand 7/2010. 4 EGMR, 9300/07 (Herrmann v. Germany), Pressemitteilung v. 26. 6. 2012, NuR 2012, 698. 5 Eine Kammer des EGMR hatte durch Urteil v. 20. 1. 2011 entschieden, dass eine Verletzung der Konvention nicht vorlege. Zur Problematik s. R. Alleweldt, Eigentum, Jagdrecht, Gewissen – Zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs in Sachen Herrmann gegen Deutschland, in: Peine/H.-A. Wolff (Hrsg.), Nachdenken über Eigentum, FS Alexander v. Brünneck, 2011, S. 107 ff. 6 BVerfG, Beschl. v. 13. 12. 2006, NuR 2007, 199 ff.; dazu C. Sailer, Blattschuss aus Karlsruhe, NuR 2007, 186 ff. 2

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setzgeber des Jagdrechts das schutzwürdige Interesse des Eigentümers und die Belange des Allgemeinwohls in einen gerechten Ausgleich gebracht habe.7 Die beiden Gerichte bestimmen Inhalt und Schranken des Grundeigentums für den Bereich „Jagdausübung“ – diese ist Teil der Bodennutzung – unterschiedlich. Diese Feststellung gibt Anlass, den Stand der Erkenntnis zu Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG zusammenzutragen und kritisch zu befragen. Zur Zukunft des Jagdrechts wird abschließend kurz Stellung genommen. II. Die Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums 1. Zur Dogmatik nach dem Nassauskiesungsbeschluss Nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG bestimmt der Gesetzgeber „Inhalt und Schranken“ des Eigentums i. S. v. Art. 14 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 GG. Der Begriff „Eigentum“ erfasst ein subjektives Recht an einem Gegenstand.8 Ein subjektives Recht begründet ein Rechtsverhältnis zwischen wenigstens zwei Personen. Eigentum ist deshalb das Recht einer Person gegenüber einer anderen Person einen bestimmten Gegenstand betreffend. Die Begriffe „Inhalt und Schranken“ beziehen sich gemeinsam auf das Eigentum.9 Der Inhalt des Eigentums endet an dessen Schranken;10 Inhalts- und Schrankenbestimmung sind nicht zwei differente inhaltliche Zugriffe auf das Eigentum, sondern zwei unterschiedliche Definitionstechniken.11 Die „richtige“ Festsetzung des Inhalts und der Schranken muss der Gesetzgeber unter Beachtung der Sozialbindung des Eigentums (die ausschließlich den Gesetzgeber bindet12) durch Normen des privaten und des öffentlichen Rechts leisten. Die Antwort auf die Frage nach dem rechtmäßigen Gelingen der Festsetzung ist Teil der Dogmatik der grundgesetzlichen Eigentumsgarantie. Die lange Zeit streitbefangene Frage nach der Abgren-

7 Zur Problematik der Zwangsmitgliedschaft in Jagdgenossenschaften s. E. Ditscherlein, NuR 2005, 305 ff.; R. Müller-Schallenberger/P. H. Förster, ZRP 2005, 230 ff.; dies., NuR 2007, 161 ff.; B. Munte, Die Pflicht des Grundeigentümers zur Duldung der Jagdausübung auf seinem Grundstück, 2008; C. Sailer, ZRP 2005, 88 ff. 8 G. Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte. Struktur und Reichweite der Eingriffsdogmatik im Bereich staatlicher Leistungen, 1988, S. 62; U. Ramsauer, Die faktischen Beeinträchtigungen des Eigentum, 1980, S. 25; G. Schwerdtfeger, Die dogmatische Struktur der Eigentumsgarantie, 1983, S. 13. 9 Statt vieler: H.-J. Papier (o. Fußn. 3), Rdnr. 307. – Vom herrschenden Verständnis des Art. 14 GG durchgehend abweichend W. Leisner, Eigentum, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VIII, 3. Aufl. 2010, S. 301 ff.; zur Problematik s. Rdnr. 127 ff.; D. Riedel, Eigentum, Enteignung und das Wohl der Allgemeinheit, 2012. 10 P. Häberle, Der Wesensgehalt des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 179 f. 11 BVerfGE 58, 300 (336). 12 BVerfGE 89, 1 (5); Papier (o. Fußn. 3), Rdnr. 305; a. A. H.-P. Schneider, in: Peine/Wolff (o. Fußn. 5), S. 70 ff., nach ihm begründet Art. 14 Abs. 2 GG unmittelbare Grundpflichten des Eigentümers.

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zung der Sozialbindung des Eigentums von der Enteignung13 hat das Bundesverfassungsgericht im sogenannten Nassauskiesungsbeschluss14 in einer Weise entschieden, die eine vollständige Abkehr von früheren Ansichten bedeutete.15 Das höchste deutsche Gericht geht davon aus, dass die Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG auf der einen Seite und die Enteignung nach Art. 14 Abs. 3 GG auf der anderen Seite vollkommen gesonderte Rechtsinstitute seien; sie seien strikt zu trennen. Dieser Ansatz hat mehrere Konsequenzen: – Ein Umschlagen der Sozialbindung, also z. B. der Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums unter dem Aspekt der Umweltverträglichkeit der Bodennutzung, in die Enteignung gibt es nicht (mehr). Wenn eine gesetzliche Inhalts- und Schrankenbestimmung den verfassungsrechtlich vorhandenen Gestaltungsspielraum überschreitet, ist das Gesetz nichtig. Der nichtige Gestaltungsakt führt nicht zu einer Enteignung. Er ist mit den Mitteln des Primärrechtsschutzes zu bekämpfen; die Zahlung einer Entschädigung ist ausgeschlossen. – Es kann im Einzelfall sein, dass eine Nutzungsbeschränkung des Eigentums unverhältnismäßig oder gleichheitswidrig ist. In diesem Fall kann das Urteil „Unverhältnismäßigkeit“ oder „Gleichheitsverstoß“ durch die Zahlung eines angemessenen Ausgleichs für die mit der Nutzungsbeschränkung verbundenen Folgen abgewendet werden. Gemeint ist die sogenannte „ausgleichspflichtigen Inhaltsbestimmung“.16 Wann ein solcher Fall vorliegt, ist problematisch. 2. Das Recht auf Erlass einer Eigentumsordnung Im Folgenden soll allein der Antwort auf die Frage nach der Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums durch das Gesetz nachgegangen werden – für die Behandlung der Inhalts- und Schrankenbestimmung durch eine Einzelfallregelung (also durch Verwaltungsakt) oder durch einen Realakt ist hier kein Raum.17 Die diesem Vorhaben zuvor liegende Frage nach dem Inhalt der Gewährleistung des Eigentums i. S. v. Art. 14 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 GG ist dahingehend zu beantworten, dass der Grundrechtsberechtigte gegen den Gesetzgeber ein „Recht auf Gesetzgebung“18 hat, dieser also eine objektive, dauerhaft geltende Eigentumsordnung schuldet:19

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Nachweis der entwickelten Theorien bei Peine (o. Fußn. 1), Rdnr. 1196 ff.; ders., LKV 2002, 441 ff., hier auch eine nähere Auseinandersetzung mit den Theorien. 14 BVerfGE 58, 300 ff. 15 Darstellung bei Peine (o. Fußn. 1), Rdnr. 1196 ff. 16 BVerfGE 58, 137 (149 ff.); 83, 201 (213); Peine (o. Fußn. 1), Rdnr. 1200; H. Maurer, DVBl. 1991, 781, R. Wahl, NVwZ, 1990, 426 (440). 17 s. dazu z. B. Riedel (o. Fußn. 9), S. 74 ff. 18 D. Ehlers, VVDStRL 51 (1992), S. 214, Fußn. 9. 19 J. Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV: Die einzelnen Grundrechte/Hbd. 1: Der Schutz und die freiheitliche Entfaltung des Individuums,

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durch Bewahrung des überkommenen Eigentumsrechts und seine Ergänzung durch neues Recht soweit notwendig; der Grundrechtsberechtigte besitzt deshalb ein dahingehendes subjektives Recht. Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG bildet den Maßstab, an dem die einfachgesetzliche Eigentumsordnung auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu kontrollieren ist. In der Folge muss dieser Maßstab unabhängig sein von dem, was die Gesetze als Eigentum bezeichnen.20 In Erfüllung dieser Bedingung müssen sich dem Grundgesetz Aussagen über die gewährleistete Eigentumsordnung entnehmen lassen. III. Die Gewährleistung der Eigentumsordnung durch die Ausgestaltungsgarantie Als Aussagen betreffend die gewährleistete Eigentumsordnung finden sich in Rechtsprechung und Literatur die Einrichtungsgarantie,21 die Ausgestaltungsgarantie22 und die Rechtsstellungsgarantie.23 1. Die Ersetzung der Einrichtungsgarantie durch Art. 19 Abs. 2 GG Art. 19 Abs. 2 GG schützt den Wesensgehalt jeden Grundrechts. Wesensgehalt ist das absolute Grundrechtsminimum.24 Die Abwägung spielt hier keine Rolle.25 Der Wesensgehalt von Eigentum i.S.v. Art. 14 GG entspricht dem Schutzumfang der Einrichtungsgarantie. Im Bereich des Eigentums hat Art. 19 Abs. 2 GG dessen Funktion übernommen.26 Art. 19 Abs. 2 GG schützt einen Bestand an absoluten Mindesteigenschaften, den der Gesetzgeber für das Eigentum zwingend schaffen muss.

2006, S. 2170; A. Peter, Grundeigentum und Naturschutz, 1993, S. 77; R. Wendt, Eigentum und Gesetzgebung, 1985, S. 191. 20 BVerfGE 58, 300 (335). Grundsätzlich anders M. Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande. Untersuchung zur normativen Ausgestaltung der Grundrechte, 2000, S. 104 f. 21 U. Mager, Einrichtungsgarantien. Entstehung, Wurzeln, Wandlungen und grundgesetzliche Neubestimmung einer dogmatischen Figur des Verfassungsrechts, 2003. 22 M. Appel, Entstehungsschwäche und Bestandsstärke des verfassungsrechtlichen Eigentums. Eine Untersuchung des Spannungsverhältnisses zwischen Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG auf der Basis der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2004. 23 Riedel (o Fußn. 9). 24 L. Schneider, Der Schutz des Wesensgehalts von Grundrechten nach Art. 19 Abs. 2 GG, 1983, S. 66 f. 25 Häberle (o. Fußn. 10), S. 51 ff. 26 Stern (o. Fußn. 19), Bd. III Allgemeine Lehren der Grundrechte/Hbb. 1: Grundlagen und Geschichte, nationaler und internationaler Grundrechtskonstitutionalismus, juristische Bedeutung der Grundrechte, Grundrechtsberechtigte, Grundrechtsverpflichtete, 1988, S. 868 ff.

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2. Die Rechtsstellungsgarantie als Fall der Ausgestaltungsgarantie Die Rechtsstellungsgarantie soll solche Gesetze betreffen, die bestehendes Eigentum nachteilig bis hin zu dessen Vernichtung umgestalten.27 Es ist fraglich, ob das Bundesverfassungsgericht eine Differenzierung zwischen der Einrichtungsgarantie und der Ausgestaltungsgarantie vornimmt28 oder ob es im Gegenteil von einem einheitlichen Recht des Gesetzgebers zur Ausgestaltung ausgeht. Ferner ist unabhängig davon fraglich, ob diese Differenzierung mit Ertrag verbunden sein kann. Hier soll ihr nicht gefolgt werden.29 Die Umgestaltung des Eigentums wird als Fall der Ausgestaltung betrachtet. Die Sozialbindung des Eigentums erfasst im äußersten Fall seine Vernichtung in Form eines „nudum ius“. 3. Die Ausgestaltungsgarantie – Einzelheiten a) Funktion der Ausgestaltung Für die gesetzliche Fixierung von „Inhalt und Schranken“ ist deshalb nur noch die Ausgestaltungsgarantie relevant. Sie ist bedeutsam, weil das während der Weimarer Zeit entwickelte Modell „Einrichtungsgarantie“ keine Antwort auf die Frage liefert, ob gesetzliche Inhalts- und Schrankenbestimmungen am Maßstab des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu messen sind. Dieses Vorgehen praktiziert das Bundesverfassungsgericht30 mit Recht (die Literatur ist geteilter Auffassung31). Die Einrichtungsgarantie mit ihrem Schutz eines unantastbaren Kernbereichs (= absolute Mindesteigenschaften) ist in der Folge zu überwinden, weil sie, abgesehen vom Kernbereich, Kriterien für die Ausgestaltung des Eigentums nicht liefert.32 Jenseits des von Art. 19 Abs. 2 GG erfassten unantastbaren Bereichs bleibt ein Bereich, der der Abwägung zugänglich ist. Seinen Umfang zu bestimmen ist Aufgabe der Ausgestaltungsgarantie. Sie liefert das zur Abwägung stehende Material.33 Insoweit ist diese Frage bedeutsam: Wie müssen die die Inhalts- und Schrankenbestimmung ermöglichenden subjektiven Rechte ausgestaltet sein?

27

Riedel (o. Fußn. 9), S. 68 f. Jedenfalls nicht in BVerfGE 83, 201 (212). 29 Wie hier wohl Appel (o. Fußn. 22), S. 176 ff. 30 BVerfGE 8, 71 (80); 18, 121 (132); 50,290 (341); 58, 137 (148); 70, 191 (200); 79, 174 (198); 87, 114 (138); 100, 226 (240 f.). 31 Überblick bei M. Albrod, Entschädigungsbedürftige Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums nach Art. 14 I 1, 2 GG, 1995, S. 84 ff. 32 Ehlers, VVDStRL 51 (1992), 211 (227 mit Fußn. 87). 33 M. Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte. Untersuchungen zur Grundrechtsbindung des Ausgestaltungsgesetzgebers, 2005, S. 336 f. 28

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Die Antwort bildet das Maximum des Eigentums.34 Dieses Maximum abzüglich des bereits feststehenden Wesensgehalts ist unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips durch den Gesetzgeber auszugestalten – vorbehaltlich der sofort folgenden Einschränkung. Die Ausgestaltungsgarantie steht unter dem einheitlichen Gesetzesvorbehalt zugunsten des Gemeinwohls.35 Dieses bildet den tragenden Grund für jede Entscheidung des Gesetzgebers, die hinter dem Maximum an Ausgestaltung zurückbleibt. Der Gesetzgeber hat insoweit einen weit reichenden Gestaltungsfreiraum.36 Die gewählte Ausgestaltung darf aber nicht außer Verhältnis zum verfolgten Gemeinwohlzweck stehen. b) Formelle Gesichtspunkte der Ausgestaltung Die Ausgestaltung des Eigentums bedarf eines formellen und materiellen Gesetzes. Der Gesetzgeber des formellen Gesetzes ist indes nicht verpflichtet, die Inhaltsbestimmung bis in das letzte Detail selbst vorzunehmen. Er muss aber die wesentlichen Grundzüge und Leitlinien bestimmen. Ein Zurückbleiben hinter dem Maximum ist möglich, muss aber verhältnismäßig sein. Der Anwendungsbereich des Gesetzesvorbehalts wird dadurch nicht ausgelöst. Dieses ist auch Folge des Umstands, dass es dem Gesetzgeber praktisch unmöglich ist, eine lückenlose Eigentumsordnung zu schaffen.37 Weil der formelle Gesetzgeber die wesentlichen Grundzüge und Leitlinien bestimmen muss, scheiden „nur materielle“ Rechtsquellen in diesem Bereich aus. In dem so beschriebenen Bereich entfallen Rechtsverordnungen, Satzungen und ungeschriebene Rechtssätze als Rechtsquellen. Dieses gilt nicht für den unwesentlichen Bereich. In ihm sind die Gerichte verpflichtet, die erforderlichen ungeschriebenen Rechtssätze betreffend die Festsetzung der Eigentumsordnung zu ermitteln und anzuwenden. Ein Zurückbleiben hinter dem Maximum ist kein Grundrechtseingriff. Die Lehre vom Eingriff38 in den Schutzbereich eines Grundrechts und seine Rechtfertigung ist auf den hier behandelten Fall nicht übertragbar. Hier geht es um die Konstituierung des Schutzbereichs, nicht um seine Beschränkung.

34

M. Jaschinski, Der Fortbestand des Anspruchs aus enteignendem Eingriff, 1997, S. 145. Papier (o. Fußn. 3), Rdnr. 306. 36 s. BVerfGE 8, 71 (80); 21, 73 (83); 42, 263 (294); 50, 290 (341). 37 s. BVerfGE 34, 269 (287). 38 s. F.-J. Peine, Der Grundrechtseingriff, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. III, Grundrechte in Deutschland: Allgemeine Lehren II, 2009, § 57, S. 87 – 112, 405 – 438. 35

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c) Materielle Gesichtspunkte der Ausgestaltung Die sogenannten Ausgestaltungsprinzipien müssen im Wege der Interpretation dem Grundgesetz selbst entnommen werden. Sie verkörpern primär das Individualinteresse des Grundrechtsberechtigten. aa) Erwerb, Verlust, Vererbung Entgegen einer häufig vertretenen Ansicht39 tendiert der Jubilar dahin, die Freiheit des Eigentumserwerbs nicht als Ausgestaltungsprinzip anzuerkennen, sondern dieses Recht als Bestandteil der allgemeinen Handlungsfreiheit zu betrachten.40 Ausgangspunkt für eine Lösung der Kontroverse muss sein, dass die Verfügungsfreiheit als Ausgestaltungsprinzip anerkannt ist. Der Gesetzgeber verwirklicht dieses Prinzip, indem er gestattet, uneingeschränkt über das Eigentum zu verfügen. Eine Verfügung liegt im einfachsten Fall vor, wenn eine Person ein subjektives Recht veräußert und eine andere Person dieses Recht erwirbt.41 Im Begriff „Verfügung“ sind Erwerb und Veräußerung untrennbar verbunden. Das Ausgestaltungsprinzip „Verfügungsfreiheit“ ist gewährleistet auch im Interesse des Erwerbers, des Nicht-Eigentümers (bzw. des Noch-Nicht-Eigentümers). Wenn nur die Verfassung, also (noch) keine einfachgesetzliche Eigentumsordnung existiert, sind alle Grundrechtsberechtigten Nicht-Eigentümer und können nach dem Dargelegten42 vom Gesetzgeber erfolgreich fordern, eine optimale Eigentumsordnung zu schaffen. Die Pflichterfüllung ändert die Grundrechtsberechtigung der Nicht-Eigentümer nicht. Die Freiheit des Eigentumserwerbs ist ein Ausgestaltungsprinzip. Die Freiheit des Eigentumserwerbs bedeutet zwingend auch die Freiheit der Eigentumsaufgabe – in welcher Form auch immer sie geschieht. Die Freiheit der Eigentumsaufgabe ist ein Ausgestaltungsprinzip. Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG läuft leer, wenn das Eigentum mit dem Tod/der Beendigung seines natürlichen/juristischen Rechtsträgers untergeht; denn dann gibt es irgendwann kein Eigentum mehr. Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG setzt also die Nachfolgefähigkeit des Eigentums voraus. Die Nachfolgefähigkeit gilt für alle Typen von Eigentum im verfassungsrechtlichen Sinn. Indes bestimmt Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG die Nachfolgefähigkeit nicht unmittelbar, sondern die Bestimmung nimmt der Gesetzgeber vor. Er muss nicht jede vermögensrechtliche Position mit Nachfolgefähigkeit ausstatten, muss aber jede Verneinung der Nachfolgefähigkeit verfassungsrechtlich rechtfertigen. Zu den Ausgestaltungsprinzipien gehört die Nachfolgefähigkeit vermögensrechtlicher Positionen unabhängig von ihrer Rechtsnatur. 39

Statt vieler M. Kloepfer, Grundrechte als Entstehenssicherung und Bestandsschutz, 1970, S. 35 ff. 40 s. Fußn. 3, Rdnr. 223 – 225. 41 Ausnahmen: die Dereliktion, die aber polizeirechtlich bedeutungslos ist, Verträge mit mehr als zwei Parteien. 42 s. oben bei II. 2.

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bb) Vom Verfassunggeber vorgefundene Eigentumsrechte Der Verfassunggeber fand bei der Schaffung des Grundgesetzes eine einfachgesetzliche Eigentumsordnung vor. Die Interpretation des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs muss deshalb das Eigentumsverständnis der „einfachen Gesetze“ berücksichtigen. Das Sacheigentum i. S. v. § 903 BGB besitzt die Funktion eines Leitbilds für den verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff.43 Ferner bezieht sich Art. 14 GG auf Art. 153 WRV. Diese Norm erfasste das Sacheigentum und die beschränkten dinglichen Rechte sowie alle privaten Vermögensrechte, auch Forderungen.44 Diesem Verständnis ist das Bundesverfassungsgericht45 mit Recht gefolgt. Daraus folgt: Das Sacheigentum i. S. v. § 903 BGB ist ein Typ verfassungsrechtlichen Eigentums unter den genannten vielen Eigentumstypen. Aus dem Leitbild „Sacheigentum“ folgen als Ausgestaltungsprinzipien die Privatnützigkeit, die schon erwähnte Verfügungsfreiheit, das Prinzip der Fruchtziehungs- (mit Blick auf den Boden: die Bodennutzung) und das der Vindikationsbefugnis. Das Jagdrecht ist Teil des Rechts der Bodennutzung. Zu den Ausgestaltungsprinzipien gehören die Herrschafts-46 und als ihre Kehrseite die Ausschließungsbefugnis.47 Sie sind notwendig, damit der Eigentümer die Befugnisse, die mit dem Sacheigentum verbunden sind, eigenverantwortlich ausüben kann: mit egoistischem oder altruistischem Nutzen. cc) Erweiterung: Vermögenswertes Recht Das Sacheigentum ist ein Ausgestaltungsprinzip. Wenn sich ein Eigentumstyp vom Sacheigentum i. S. v. § 903 BGB „entfernt“, können in Abhängigkeit vom Maß der Entfernung die Ausgestaltungsprinzipien „Privatnützigkeit“ und „Verfügungsfreiheit“ nicht mehr passen. Andere Ausgestaltungsprinzipien müssten Bedeutung erlangen. Das Bundesverfassungsgericht entfernt den verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff vom Leitbild „Sacheigentum“.48 Es wählt als Ansatz für die Bestimmung eines Ausgestaltungsprinzips die Funktion des Eigentums im Gesamtgefüge der Grundrechte: Dem Eigentum „kommt im Gesamtgefüge der Grundrechte die Aufgabe zu, dem Träger des Grundrechts einen Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich sicherzustellen und ihm damit eine eigenverantwortliche Gestal43 O. Depenheuer, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2010, Art. 14, Rdnr. 31 ff., 112. 44 M. Wolff, Reichsverfassung und Eigentum, in: FG der Berliner Juristenfakultät für Wilhelm Kahl zum Doktorjubiläum am 19. April 1923, 1923, Teil IV, S. 3; G. Anschütz, Die Verfassung des deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14. Aufl. 1933, Art. 153, S. 704. 45 BVerfGE 42, 263 (294); 45, 142 (179); 51, 193 (216 – 218) 68, 193 (222); 70, 278 (285); 89, 1 (5 – 8). 46 BVerfGE 89, 1 (6). 47 BVerfGE 31, 229 (239). 48 BVerfGE 53, 257 (290); 83, 201 (208 f.).

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tung des Lebens zu ermöglichen“.49 In der Folge ist die Eigentumsgewährleistung ein Wirtschaftsgrundrecht50 und der Gesetzgeber muss dieses in einer Weise ausgestalten, dass die Grundrechtsberechtigten optimale wirtschaftliche Freiheit erhalten.51 Alle vermögenswerten Rechte sind dafür geeignete Mittel. (1) Privatrechtlich ausgestaltete Position Für die privatrechtlich ausgestalteten Positionen ist die Aussage selbstverständlich, dass sie im Prinzip ein geeignetes Mittel für die Schaffung optimaler wirtschaftlicher Freiheit sind. Diese Aussage bedarf keiner näheren Erläuterung. Das Bundesverfassungsgericht hebt schon immer hervor, dass subjektive, durch eigene Leistung erworbene Vermögensrechte Eigentum im verfassungsrechtlichen Sinn sind.52 Bestimmte Vorstellungen einer seit jüngerer Zeit erfolgreichen Partei erfordern in diesem Zusammenhang diesen Hinweis: Das (privatrechtliche) Urheberrecht als Eigentum im verfassungsrechtlichen Sinn erkennt das Gericht an; entscheidend ist die „Zuordnung des vermögenswerten Ergebnisses der schöpferischen Leistung an den Urheber“.53 Diese Aussage führt zu folgendem Ausgestaltungsprinzip: Bestandteil der Eigentumsordnung müssen subjektive Rechte als Äquivalent für vermögenswerte Leistungen des Grundrechtsberechtigten sein.54 Unter dieser Prämisse erscheint die (gelegentlich) geforderte, vom Gesetzgeber zu erbringende vollkommene oder weitgehende Aufhebung des Urheberrechts als verfassungswidrig. (2) Öffentlich-rechtlich ausgestaltete Position Das Bundesverfassungsgericht hat in den verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff vermögenswerte subjektive öffentliche Rechte einbezogen.55 Für die öffentlich-rechtlich ausgestalteten Vermögensrechte ist festzuhalten, dass in der heutigen Gesellschaft jedenfalls die durch Entrichtung der Sozialversicherungsabgaben erworbenen Ansprüche eine erhebliche Bedeutung für die wirtschaftliche Existenzsicherung der meisten Menschen besitzen.56 Nicht alle öffentlichrechtlichen Vermögensrechte können indes als Ausformungen des Eigentums angesehen werden.

49

BVerfGE 24, 367 (389). s. Wendt (o. Fußn. 19), S. 261 ff. 51 Riedel (o. Fußn. 9), S. 45. 52 BVerfGE 1, 264 (278); 4, 219 (242); 14, 288 (293 f.); 45, 142 (170); 53, 257 (291 f.); 69, 272 (300 – 303); 72, 175 (193); 92, 365 (405); 97, 271 (283 f.). 53 BVerfGE 31, 229 (240 f.). 54 Wendt (o. Fußn. 19), S. 258 ff. 55 BVerfGE 4, 219 (239 – 243); 14, 288 (293 f.); 16, 94 (111 – 116); 40,65 (82 – 84); 45, 142 (170); 53, 257 (289); 72, 175 (193). 56 BVerfGE 53, 257 (290). 50

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Für die vermögenswerten subjektiv-öffentlichen Rechte gehen das Bundesverfassungsgericht57 und die Literatur58 weitgehend übereinstimmend davon aus, dass sie in den Eigentumsbegriff einzubeziehen sind, „wenn es sich um vermögenswerte Rechtspositionen handelt, die nach Art eines Ausschließlichkeitsrechts dem Rechtsträger als privatnützig zugeordnet sind, auf nicht unerheblichen Eigenleistungen des Versicherten beruhen und seiner Existenzsicherung dienen […]“. Eigentumsschutz entfällt vor allem für die Ansprüche, die der Staat ausschließlich „in Erfüllung seiner Fürsorgepflicht durch Gesetz einräumt“.59 Gelegentlich nennt die Literatur als weiteres Kriterium das Erbringen eines eigenen Opfers, damit der Schutz des Art. 14 GG Platz greift.60 In der Literatur finden sich Stimmen,61 die der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts entgegentreten, es könnten nur die sozialrechtlichen Vermögensrechte als Eigentum im verfassungsrechtlichen Sinn anerkannt werden, die Äquivalent vermögenswerter Leistung seien, welches der Existenzsicherung des Berechtigten zu dienen bestimmt sei.62 Vorgetragen wird, es überzeuge nicht, öffentlich-rechtliche Ansprüche insoweit anders zu behandeln als privatrechtliche, für die der Zweck „Existenzsicherung“ als konstitutives Merkmal des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs nicht gefordert werde. Vielmehr sei die Unterscheidung und Ungleichbehandlung von Vermögensrechten des öffentlichen und des privaten Rechts insoweit überholt. Diese Auffassung überzeugt. Warum die Rechtsnatur des durch eigene Leistung erworbenen Vermögensrechts relevant für seinen Schutz sein soll, erschließt sich nicht. Zu den Ausgestaltungsprinzipien gehört die Gewährleistung des Äquivalents vermögenswerter Leistung unabhängig von dessen Rechtsnatur. dd) Erweiterung: Sonderopferausgleich (1) Anerkennung als Ausgestaltungsprinzip Wie bereits63 erwähnt, kann eine Inhalts- und Schrankenbestimmung in unverhältnismäßiger oder gleichheitswidriger Weise hinter dem Maximum an Ausgestaltung zurückbleiben. Das Gesetz ist dann verfassungswidrig. Dieser Verfassungsverstoß kann nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch die Einräumung eines finanziellen Ausgleichs abgewendet werden. 57

BVerfGE 97, 271 (284); hier auch das folgende Zitat. s. B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, 28 Aufl. 2012, Rdnr. 986 mit weiteren Nachweisen. 59 BVerfGE 53, 257 (291); 69, 272 (301). 60 Nachweise bei R. Schmidt-De Caluwe, JA 1992, 129. 61 Appel (o. Fußn. 22), S. 60 ff.; J. Eschenbach, Der verfassungsrechtliche Schutz des Eigentums, 1996, S. 293 ff. 62 BVerfGE 69, 272 (300, 303 f.); 92, 365 (405); 97, 271 (283 f.). 63 s. bei Fn. 16. 58

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Zu den Ausgestaltungsprinzipien gehört die Regelung von Ausgleichsansprüchen bei unverhältnismäßiger oder gleichheitswidriger Inhalts- und Schrankenbestimmung. (2) Ausgleich durch Gesetz Der Ausgleichsanspruch existiert nur dann, wenn ein formelles Gesetz ihn einräumt. Dieses folgt aus dem Budgetrecht des Parlaments. Das Bundesverfassungsgericht64 hat im Nassauskiesungsbeschluss auf die Budgethoheit des formellen Gesetzgebers hingewiesen und für die Enteignungen ausgesprochen, dass die Gerichte eine Entschädigung nur zusprechen dürfen, wenn dafür eine formellgesetzliche Anspruchsgrundlage vorhanden ist. Diesen Grundsatz hat das Bundesverfassungsgericht später auch für die Ausgleichsdogmatik bekräftigt und dafür ausdrücklich auf das Budgetrecht des Parlaments verwiesen.65 Hat der Gesetzgeber eine Inhalts- und Schrankenbestimmung ohne Ausgleichsregelung zur Abwendung ihrer Verfassungswidrigkeit erlassen, so ist die Bestimmung verfassungswidrig. Er ist nicht verpflichtet, die Bestimmung mit Ausgleichsregelung neu zu erlassen. Vielmehr belässt die Ausgleichsdogmatik dem Gesetzgeber die freie Wahl, ob er auf die Inhalts- und Schrankenbestimmung insgesamt verzichten oder zur Abwendung des Verfassungsverstoßes von seiner Ausgleichsbefugnis Gebrauch machen will. Die Ausgleichsdogmatik erweitert die Befugnisse des Gesetzgebers: Sie ist die Befugnis zur Normierung des Sonderopfers. Die Anerkennung der ausgleichspflichtigen Inhaltsbestimmung wirft mit Blick auf das „Ausgleichsgesetz“ diese Fragen auf: – Muss die den Ausgleichsanspruch gewährende Norm Voraussetzungen und Umfang des Anspruchs im Einzelnen regeln, oder – genügen salvatorische Klauseln entsprechend denen, die in der Vergangenheit im Bereich der Enteignung anzutreffen waren? Die Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums unter Berücksichtung seiner Sozialbindung liefe leer, wenn der Gesetzgeber jede Inhalts- und Schrankenbestimmung als Sonderopfer deklarieren könnte. Andererseits muss der Ausgleich in einem Rechtsakt mit der Inhalts- und Schrankenbestimmung geregelt werden. Das ist nur möglich für abstrakt vorhersehbare Sonderopfer. Von der Regelungsfähigkeit ist die Regelungsbedürftigkeit zu trennen. Regelungsbedürftig sind die Folgen einer Rechtsnorm, die mit einer gewissen Häufigkeit eintreten, also nicht äußerst selten sind.66 Den äußerst seltenen Fall muss der Gesetzgeber nicht vorhersehen und nor-

64

BVerfGE 58, 300 ff.; J. Rozek, Die Unterscheidung von Eigentumsbindung und Enteignung. Eine Bestandsaufnahme zur dogmatischen Struktur des Art. 14 GG nach 15 Jahren „Naßauskiesung“, 1998, S. 130. 65 BVerfGE 100, 226 (245). 66 BGHZ 102, 350 (361 f.).

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mativ einfangen.67 Untypische Sonderopfer erfordern nicht die Ausgleichsregelung für die Verfassungsmäßigkeit der Inhalts- und Schrankenbestimmung. Für das Problem „salvatorische Klauseln“ stellt der Bundesgerichtshof als Lösung heraus, dass sie im Bereich der ausgleichspflichtigen Inhaltsbestimmung ohne Einschränkung zulässig sind.68 Deshalb kann der Gesetzgeber in diesem Bereich auf jegliche materielle Fixierung des Ausgleichsanspruchs verzichten; er hat lediglich zu regeln, dass ein angemessener Ausgleich gewährt werden kann, nicht aber dessen Voraussetzung und Umfang. Dem Bundesgerichtshof folgend verfährt der Gesetzgeber, indem er weiterhin (eingeschränkte, weil die Tatbestandsvoraussetzung situativ normierende) salvatorische Klauseln verabschiedet, also insbesondere zum Inhalt des Ausgleichsanspruchs sich nicht festlegende Normen erlässt. Hingewiesen sei auf § 52 Abs. 5 WHG; die Vorschrift betrifft Nutzungsbeschränkungen im Wasserschutzgebiet: „Setzt eine Anordnung nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 oder Nummer 2, auch in Verbindung mit Absatz 2 oder Absatz 3, erhöhte Anforderungen fest, die die ordnungsgemäße land- oder forstwirtschaftliche Nutzung eines Grundstücks einschränken, so ist für die dadurch verursachten wirtschaftlichen Nachteile ein angemessener Ausgleich zu leisten, soweit nicht eine Entschädigungspflicht nach Absatz 4 besteht.“ Unabhängig von der Richtigkeit der dargelegten Auffassung sollte die gesetzliche Ausgestaltung des Ausgleichsanspruchs deshalb erfolgen, damit der Gesetzgeber Einfluss auf die Judikatur und auch auf den praktischen Vollzug hat. Ferner lassen sich auf dieser Basis mit der Verfassung behauptete, von ihr aber nicht gewährte Ansprüche einfacher abwehren. Eine Nichtregelung dieses Anspruchs oder eine nur „schwache“ Regelung, weil sie nicht spezifizierend erfolgt ist, könnte dazu missbraucht werden, zu Lasten der Staatskasse ungerechtfertigte Ansprüche zu erfüllen. Wegen dieser Bedenken – im Ergebnis gibt der Gesetzgeber die Lösung des Problems aus der Hand – ist festzustellen: In der Literatur haben sich sehr viele Stimmen gegen salvatorische Klauseln im Bereich der Inhaltsbestimmung ausgesprochen.69 Sie haben ferner Beispiele dafür gebracht, wie die salvatorische Klausel überwunden werden kann. Auch konkrete Gesetzesvorschläge mit diesem Ziel lassen sich anführen: Für die Beschränkung oder Aufhebung der landwirtschaftlichen Bodennutzung stellt der Entwurf eines Umweltgesetzbuchs, den die sog. Sendler-Kommission70 vorgelegt hat, in § 346 Abs. 5 fest:

67

W. Leisner, DVBl. 1981, 76 (81). BGHZ 126, 379. 69 J. Burmeister/K. Röger, JuS 1994, 845; S. Detterbeck, DÖV 1994, 277; L. Osterloh, DVBl. 1991, 914; J. Pietzcker, JuS 1991, 372 f.; ders., NVwZ 1991, 427; A. Schink, DVBl. 1990, 1383 f.; J. Schwabe, DVBl. 1993, 842. – Ähnlich wie der Bundesgerichtshof H. Maurer, DVBl. 1991, 783; F. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 4. Aufl. 1991. 70 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Hrsg.) Umweltgesetzbuch (UGB-KomE), 1998, S. 243. 68

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„Wird durch Festsetzungen oder sonstige Regelungen … die zulässige Nutzung eines Grundstücks unzumutbar beschränkt oder aufgehoben, so ist dafür nach Maßgabe des Landesrechts ein angemessener Ausgleich zu gewähren. Bei der Bestimmung der Zumutbarkeit sowie der Art und des Umfangs des Ausgleiches ist die Umweltpflichtigkeit des Eigentums zu berücksichtigen. Eine Beschränkung oder Aufhebung der zulässigen Nutzung ist insbesondere zumutbar, soweit der Betroffene durch Verletzung der ihm nach… obliegenden Pflichten Anlaß dazu gegeben hat, oder soweit er bei bestehender Bodenbelastung nach … als Verantwortlicher in Anspruch genommen werden kann.“ Absatz 6 lautet: ,,Wird durch Festsetzungen oder sonstige Regelungen… die im Sinne des … umweltschonende Land- oder forstwirtschaftliche Nutzung eines Grundstücks aufgehoben oder beschränkt, so kann, soweit der Betroffene dazu nicht durch die Verletzung der ihm nach den §§ … obliegenden Pflichten Anlaß gegeben hat, für die dadurch verursachten besonderen wirtschaftlichen Nachteile, für die ein Ausgleich nach Abs. 5 nicht zu leisten ist, ein Härteausgleich nach Maßgabe des Landesrechts gewährt werden.“

Die Anerkennung des hier relevanten Ausgestaltungsprinzips bedeutet zweierlei nicht: – eine Anspruchsgrundlage dafür, dass die Gerichte Ausgleichsleistungen ohne formellgesetzliche Ausgleichsregelung zusprechen, vom „untypischen Sonderopfer“ abgesehen, – einen Anspruch gegen den Gesetzgeber auf Regelung von Ausgleichsansprüchen. (3) Sonderopfer Die nach alldem in Grenzen zulässige Ausgleichsbefugnis ist, wie schon festgestellt, die Befugnis zur Normierung einer Ausnahme: des Sonderopfers. Der Bundesgerichtshof71 nimmt für sich in Anspruch, die Bestimmung des Bereichs, dessen „Betreten“ das Sonderopfer auslöst, problemlos liefern zu dürfen. Materiell geht er in der Weise vor, dass er die unter der Geltung des weiten Enteignungsbegriffs richterrechtlich entwickelten Grundsätze zur Abgrenzung der entschädigungslosen Sozialbindung des Eigentums von den entschädigungspflichtigen Eingriffen mit enteignender Wirkung, insbesondere den Aspekt der Situationsgebundenheit des Eigentums, heranzieht. Diese Auffassung findet auch heute noch Zustimmung: In der Literatur findet sich die Aussage, für die Beurteilung einer Belastung als unverhältnismäßiges oder gleichheitswidriges Sonderopfer ließen sich die „enteignungsrechtlichen Schwellentheorien“ heranziehen.72 Die Problemlösung des Bundesgerichtshofs ist zu kritisieren: Für die Antwort auf die Frage, wie intensiv die Nutzungsbeschränkung des Eigentums sein müsse, damit eine Ausgleichspflicht entstehe, ist auf die Untauglichkeit der Verwendung des Kriteriums ,,Situationsgebundenheit“ zu verweisen. Dieses Kriterium war schon un-

71 72

BGHZ 126, 379. Riedel (o. Fußn. 9), S. 49.

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tauglich, die Abgrenzung zwischen Enteignung und Inhaltsbestimmung zu leisten73 – warum sich daran heute etwas geändert haben sollte, ist nicht ersichtlich. Ferner ist fraglich, ob sich die unter der Geltung des weiten Eigentumsbegriffs ergangene Rechtsprechung ohne weiteres auf die neue Dogmatik übertragen lässt – die Übertragungsmöglichkeit müsste begründet werden; daran fehlt es. Da es nach der Rechtsprechung rechtmäßig ist, wenn die Zahlung eines Ausgleichs salvatorisch vorgesehen wird, müssen die Gerichte im Einzelfall die Voraussetzungen (soweit noch überkommene Klauseln vorhanden sind) und die Rechtsfolgen des Ausgleichsanspruchs bestimmen. Mit Blick auf den Inhalt des Ausgleichs lässt sich als einziges festhalten, dass sich dieser nach ,,Enteignungsgrundsätzen“ richtet. Diese Judikatur des Bundesgerichtshofs folgt der des Bundesverwaltungsge-

73 Der Bundesgerichtshof (BGHZ 23, 30) praktizierte die sog. Sonderopfertheorie; auf ihrer Grundlage musste er die Frage beantworten, ob eine Eigentumsbelastung eine gleiche oder ungleiche Belastung gegenüber anderen Eigentümern darstellt. Kennzeichnend für das Vorliegen einer Enteignung war das Sonderopfer. Im Zusammenhang mit einem Bauverbot entwickelte der Bundesgerichtshof zur Beantwortung der Gleichheitsfrage bzw. zur Bejahung des Sonderopfers die ,,Figur“ „Situationsgebundenheit“ (BGHZ 23, 33). Infolge des Einsatzes dieser ,,Figur“ sah das Gericht das Grundeigentum in einer besonderen Situation. War ein Grundstück etwa Teil einer größeren landwirtschaftlich genutzten Fläche und lag es stadtnah innerhalb eines dichtbesiedelten und hoch industrialisierten Gebietes, dann betrachtete das Gericht es bereits ,,seiner Natur nach“, nicht erst kraft einer positiv-rechtlichen Regelung, mit einer begrenzten Pflichtigkeit belastet. Nach Maßgabe des Gesetzes, so der Bundesgerichtshof, könne sich die Pflichtigkeit zu einer Pflicht verdichteten. Die Pflichtigkeit bestehe darin, unter Umständen eine real mögliche Nutzung des Eigentums zu unterlassen. Das Eigentum an einem solchen Grundstück werde nicht verkürzt, wenn dem Eigentümer für die Zukunft eine bisher noch nicht verwirklichte, mit jener Situationsgebundenheit unvereinbare Verwendungsart untersagt werde, während alle anderen Eigentumsfunktionen erhalten blieben. In einer solchen Situation liege eine bloße Eigentumsbeschränkung und nicht eine Enteignung vor. – Die Bemühungen des Bundesgerichtshofs um die Abgrenzungsfrage orientierten sich in der Zukunft an den einmal gewählten Kriterien (BGHZ 30, 338 [341], 60, 145 [147]) (manchmal griff der Bundesgerichtshof auch auf die Theorie des Bundesverwaltungsgerichts, die Schweretheorie, zurück. [BGHZ 57, 359, 365; 60, 126, 132]); das Gericht wandte sie auch auf weitere anders geartete Fälle an (BGHZ 40, 360). Dieses war möglich, weil der Begriff ,,Situationsgebundenheit“ die Vorstellung umschreibt, dass das Grundeigentum bzw. die sonstige Eigentumsposition in eine bestimmte Umgebung (Situation) eingebettet ist und sich aus dieser Umgebung bestimmte natürliche Eigentumsbeschränkungen ergeben können. Wurden diese latenten Beschränkungen durch den Staat im Einzelfall durch ein entsprechendes Verbot konkretisiert, war dieses Verbot lediglich Ausdruck der Sozialbindung des Eigentums. Problematisch war die Ermittlung der Pflichten, die sich aus einer bestimmten Situation ergeben. Letztlich nahm der Bundesgerichtshof eine Abwägung zwischen Einzelinteresse und Allgemeininteresse vor. Zu beachten ist mit Blick auf die gefundenen Ergebnisse, dass der Gedanke der Situationsgebundenheit zur Qualifizierung von Einschränkungen der zukünftigen Eigentumsnutzung als entschädigungslose Inhalts- und Schrankenbestimmung herangezogen wurde – die staatliche Unterbindung konkret ausgeübter Nutzungen wurde dagegen regelmäßig als entschädigungspflichtig beurteilt. – Die Begründung des Bundesgerichtshofs sah und sieht sich in der Literatur dem Einwand ausgesetzt, formaljuristisch und konstruiert zu sein (R. Breuer, NuR 1996, 538); sie war in der Tat zwiespältig. Sie war angreifbar und konnte den Streit über den Konflikt zwischen Naturschutz und Eigentum nicht erledigen.

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richts,74 welches bereits 1993 zu Art. 36 BayNatSchG mit diesem Inhalt judiziert hatte. (Zu bemerken ist, dass sich diese Rechtslage deutlich von der im Bereich der Enteignung unterscheidet; nach neuerer Rechtsprechung sind in diesem Bereich salvatorische Ausgleichsregeln nicht mehr zulässig.75) Dieser Ansatz passt bereits dem Grunde nach nicht: Bei einer Enteignung müsste zwar nicht (s. den Wortlaut des Art. 14 Abs. 3 Satz 3 GG), wird aber infolge der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Verkehrswertentschädigung) ein Ausgleich für den gesamten Rechtsverlust geleistet; bei Ausgleichsansprüchen im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG muss lediglich die Nutzungsbeschränkung ausgeglichen werden, die unzumutbar ist und die deshalb die Sozialbindung des Eigentums übersteigt. Mit anderen Worten: ,,Finanzieller Ausgleich kann […] erst für die jenseits der Unzumutbarkeitsschwelle liegenden Vermögenswerte gewährt werden, die darunter76 angesiedelten Einbußen bleiben entschädigungslos.“77 Deshalb findet in Ansehung der Bestimmung der Höhe des Ausgleichsanspruchs immer ein „Sozialbindungsabzug“ statt. Dieses Faktum übersieht der Bundesgerichtshof vollständig. Seinem Ansatz ist deshalb nicht zu folgen. Die Kritik an der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs lässt sich wie folgt zusammenfassen: Für die Antwort auf die Frage nach den Voraussetzungen und dem Umfang des Ausgleichsanspruchs nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG gilt, dass trotz der dogmatischen Umgestaltung des Art. 14 GG alles beim alten bleibt; der Bundesgerichtshof füllt alten Wein in neue Schläuche. Nicht juristisch-dogmatisch, aber im Ergebnis entspricht diese Rechtsprechung derjenigen, die das Gericht vor der Zäsur „Nassauskiesungsbeschluss“ praktizierte. Die analysierte Rechtsprechung ist nicht ohne grundlegende Kritik in der Literatur geblieben. Ihr geht darum, die Judikatur des Bundesgerichtshofs zu „überwinden“. Ansatzpunkt dieses Überwindungsversuchs muss die Einhaltung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sein. Hingewiesen sei auf zwei Entscheidungen, die die Abgrenzungsfrage behandeln: den Pflichtexemplarbeschluss78 und den Bergrechtsbeschluss.79 Aus dieser Judikatur ergibt sich, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, bei einer unzumutbaren Inhaltsbestimmung Vorkehrungen vorzunehmen. Eine Vorkehrung kann die Zahlung eines Ausgleichs sein; ferner ist es möglich, die Reaktionsvarianten des Gesetzgebers bei einer Umgestaltung oder Beseitigung eines Rechts darzulegen. Mit Blick auf die Frage, wann denn ein Ausgleich zu leisten sei, sind wir aber auf das Kriterium der „Unzumutbarkeit“ allein angewiesen.

74

BVerwG, NJW 1993, 2951. BGHZ 121, 85. 76 Gemeint ist: „zuvor“. 77 H. Melchinger, NJW 1991, 2528. 78 BVerfGE 58, 150. 79 BVerfGE 83, 201, 213. 75

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Vertreter der „Überwindungslehre“ ist Breuer.80 Er plädiert für einen prinzipiellen Abschied von der Rechtsfigur der ausgleichspflichtigen Inhaltsbestimmung des Eigentums und verurteilt die landesgesetzlichen Regelungen in den Naturschutzgesetzen, die als Reaktion auf die Rechtsprechung ergangen sind. Er argumentiert wie folgt: Eine gesetzliche Inhaltsbestimmung, die die Sozialpflichtigkeit des Eigentums in eine vollziehbare Rechtsgestalt gießt und dadurch aktualisiert, brauche dem Eigentümer nicht ,,abgekauft“ zu werden, sie könne ihm unentgeltlich auferlegt werden; hiermit werde nur die verfassungsrechtlich vorgezeichnete Mäßigung der individuellen Nutzung, nämlich deren Sozial- und Umweltverträglichkeit, sichergestellt. Die Figur der ausgleichspflichtigen Inhaltsbestimmung erwecke die Fehlvorstellung, dass die gesetzliche Inhaltsbestimmung des Eigentums jenseits einer gewissen Opferschwelle im Ergebnis ebenso oder ähnlich wie eine Enteignung entschädigungspflichtig sei; das aber treffe verfassungsrechtlich nicht zu. Die Verfassung differenziere zwischen der eigentumsgestaltenden und entschädigungsfreien Sozialbindung und der eigentumsvernichtenden entschädigungspflichtigen Enteignung. Es bestehe kein Anlass, diesen Gegensatz einzuebnen. Ferner sei darauf hinzuweisen, dass die gesetzliche Inhaltsbestimmung aufgrund des verfassungsrechtlichen Vorbehalts in Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG eine permanente gesetzgeberische Aufgabe sei. Deshalb habe kein Eigentümer ein Recht auf den Bestand einer gesetzlichen Inhaltsbestimmung. Jeder Wandel des Eigentumsinhalts sei verfassungsrechtlich zulässig, soweit die Umgestaltung sich in dem weiten Spielraum der Privat- und Sozialnützigkeit des Eigentums halte. Für das Naturschutz- und Landschaftspflegerecht stellt Breuer heraus, dass durch Gesetz und aufgrund Gesetzes, etwa durch eine Rechtsverordnung, die zulässige Bodennutzung auf eine umweltverträgliche Wirtschaftsweise zurückgeführt werden könne, ohne dass mit dieser Rückführung eine Entschädigungs- oder Ausgleichspflicht verbunden sei. In der Tat besitzt der Gesetzgeber das Recht und die Pflicht zur inhaltlichen Ausgestaltung des Eigentums; in der Tat ist der Inhalt des Eigentums wandelbar. Es besteht aber – und darauf hinzuweisen besteht wegen der Ausführungen Breuers Anlass – nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in einigen Fällen die Pflicht zur Ausgleichszahlung im Bereich des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG, wenn der Gesetzgeber eine verfassungsmäßige Inhalts- und Schrankenbestimmung vornehmen will. Es handelt sich um ein Ausgestaltungsprinzip. An dieser Feststellung des Bundesverfassungsgerichts kommt niemand vorbei – und zum Bundesverfassungsgericht kommt man nur sehr schwer, weshalb nur wenige Chancen bestehen, dass das Bundesverfassungsgericht in die Lage versetzt wird, seine Judikatur zu ändern. Deshalb stellt sich nicht nur die Frage, ob der Gesetzgeber den Ausgleichsanspruch normiert oder nicht; unterlässt er die Normierung, muss er auch damit rechnen, dass die Zivilgerichtsbarkeit ihre eingenommene Haltung nicht ändert und die zuständigen Stellen zu Ausgleichszahlungen verurteilt, obwohl, wie dargelegt, ein

80

NuR 1996, 545 f.

Inhalt und Schranken des Eigentums

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Anspruch nicht existiert und ohne dass die Möglichkeit der Steuerung dieser Rechtsprechung besteht. Die Ausgleichspflicht ist sehr häufig ein Problem bei der Beschränkung der landund forstwirtschaftlichen Bodennutzung.81 Mit Blick auf sie lässt sich feststellen, dass der betroffene Eigentümer einen Ausgleich nur dann fordern kann, wenn die Eigentumsbeschränkung dazu führt, dass von der Privatnützigkeit seines Eigentums nichts mehr übrig bleibt – das Eigentum auf ein ,,nacktes Recht“ reduziert wird.82 Ferner darf der Gesetzgeber ebenso wie der Verordnung- und Satzunggeber nur dann eine rechtlich zulässige Bodennutzung reduzieren, wenn der Rückführung ein ausgewogenes Konzept in ökologischer und ökonomischer Hinsicht zugrunde liegt; im Einzelfall können Anpassungsfristen und Überleitungsregeln notwendig sein, um den Ruin eines Betriebs oder einer sonstigen wirtschaftlichen Einheit zu verhindern. Schließlich muss sich ein Grundstück durch umweltrelevante Besonderheit auszeichnen, wenn es in ein Schutzgebiet einbezogen werden soll; das gleiche gilt, wenn ein Grundstück in einen Biotopverbund eingegliedert werden soll. IV. Schlussbetrachtung Der Gesetzgeber hat nach alldem das Grundrecht auf Eigentum durch materielle Normen derart auszugestalten, dass jede Vermögensposition, sei sie privatrechtlicher oder öffentlich-rechtlicher Natur, als Eigentum geschützt ist. Erfasst ist das Erworbene.83 Der Gesetzgeber muss den Eigentumsschutz nicht absolut gewähren, sondern die Ausgestaltungsgarantie steht unter dem einheitlichen Gesetzesvorbehalt zugunsten des Gemeinwohls. Dieses bildet den tragenden Grund für jede Entscheidung des Gesetzgebers, die hinter dem Maximum an Ausgestaltung zurückbleibt. Der Gesetzgeber hat einen weit reichenden Gestaltungsfreiraum. Die gewählte Ausgestaltung darf aber nicht außer Verhältnis zum verfolgten Gemeinwohlzweck stehen. Der Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit oder gegen den Gleichheitssatz wird durch einen Ausgleich, dessen Voraussetzungen und Inhalt durch ein formelles Gesetz zu regeln ist, abgewendet. Sowohl nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts steht die Ausgestaltung des mit dem Grundeigentum verbundenen Jagdausübungsrechts unter dem Vorbehalt des Gemeinwohls. Diesbezügliche Erwägungen haben das Bundesverfassungsgericht bewogen, die Beschränkung des Grundeigentums für verfas81 Zur Relation „Eigentum und Umweltschutz“ s. L. Knopp, in: Peine/Wolff (o. Fußn. 5), S. 166 ff. 82 Breuer, NuR 1996, 546; hier auch zum Folgenden. 83 Hiervon ausgehend berührt beispielsweise der Widerruf der Börsenzulassung für den regulierten Markt nicht den Schutzbereich des Art. 14 GG. Die Substanz des Aktieneigentums wird durch den Widerruf weder in seinem mitgliedschaftsrechtlichen noch in seinem vermögensrechtlichen Element berührt, Urteil des BVerfG v. 11. 7. 2012, 1 BvR 3142/07, 1 BvR 1569/08, Rdnr. 54.

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Franz-Joseph Peine

sungsmäßig zu erachten, weil der Gesetzgeber einen gerechten Ausgleich zwischen Eigentum und Allgemeininteresse gefunden habe.84 Der Ausgleich führe nicht zu einem Sonderopfer. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte85 teilt das Ergebnis des Bundesverfassungsgerichts nicht, sondern geht in den Fällen der Zwangsmitgliedschaft in einer Jagdgenossenschaft davon aus, dass es für die Eigentümer betroffener Grundstücke eine unverhältnismäßige Last bedeute, zur Übertragung ihres Jagdrechts verpflichtet zu sein, damit andere davon Gebrauch machen können, obwohl das ihren Überzeugungen völlig widerspreche. Der erforderliche gerechte Ausgleich zwischen Eigentum und Allgemeininteresse werde verfehlt. Die deutsche Rechtsauffassung hat in Straßburg keine Anerkennung gefunden. Die deutschen Gerichte sind an diese Rechtsprechung „gebunden“.86 Die kleinen Grundeigentümer können jetzt unter Berufung auf diese Rechtsprechung die Jagdgenossenschaft, deren Zwangsmitglied sie sind, „verlassen“, wenn sich ein „Austrittsrecht“ aus der Jagdgenossenschaft methodisch mit den Normen des BJagdG vereinbaren lässt. Falls diese Interpretation nicht zulässig sein sollte, muss ein anderer Weg gefunden werden, der Rechtsauffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Geltung zu verschaffen. Wie sich das Schicksal (des Rechts) der Jagdgenossenschaften gestaltet, ist offen. Es stellt sich die Frage nach der Neuordnung des deutschen Jagdrechts.

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s. Fußn. 6. s. Fußn. 4. 86 BVerfGE 111, 307.

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Verfassungsrechtlicher Eigentumsschutz von Genehmigungen Von Meinhard Schröder Das Eigentumsgrundrecht des Art. 14 GG gehört zweifellos zu den bedeutendsten Betätigungsfeldern des Jubilars. Dafür sprechen in der Breite zahlreiche Veröffentlichungen und in der Tiefe die maßstabsetzende Kommentierung zu Art. 14 GG im „Maunz-Dürig“.1 Auch mit der Bedeutung von Genehmigungen hat sich der Jubilar vielfach befasst, so etwa im Hinblick auf die Strafbarkeit genehmigten Verhaltens im Bereich des Umweltstrafrechts.2 Der folgende Beitrag untersucht in einer Synthese beider Betätigungsfelder die Frage, ob und inwieweit Genehmigungen dem Eigentumsschutz des Art. 14 GG unterfallen. I. Bestandsaufnahme der vertretenen Auffassungen 1. Rechtsprechung Das Bundesverfassungsgericht hat sich mehrfach damit befasst, ob eine Genehmigung Eigentumsschutz genießt, und die Frage im Ergebnis bei tendenzieller Ablehnung3 offen gelassen. Die soweit ersichtlich erste Entscheidung betraf die zumindest genehmigungsähnliche unbefristete Verleihung eines Kehrbezirks an einen Schornsteinfeger durch Verwaltungsakt.4 Das Bundesverfassungsgericht lehnte es 1

Siehe zuletzt die 59. EL vom Juli 2010. H.-J. Papier, Zur Disharmonie zwischen verwaltungs- und strafrechtlichen Bewertungsmaßstäben im Gewässerstrafrecht, NuR 1986, 1 (3 ff.); ders., Die Verantwortlichkeit für Altlasten im öffentlichen Recht, UTR Bd. 1 (1986), S. 59 (65 ff.); ders., Die Verantwortlichkeit für Altlasten im öffentlichen Recht, NVwZ 1986, 256 (257); ders., Untersuchungen im Bereich Genehmigung, Aufsicht, Nachrüstung, in: Lukes (Hrsg.), Reformüberlegungen zum Atomrecht, Recht-Technik-Wirtschaft Bd. 61 (1991), S. 111 ff.; ders., Genehmigung von Tierversuchen, NuR 1991, 162 ff.; ders., Staatshaftung bei rechtswidriger Genehmigungserteilung, DZWiR 1997, 221 ff. 3 Eine dezidierte Ablehnung betraf die Befugnis von Kirchenbehörden zur Beurkundung von Grundstücksgeschäften durch eigene Beamte. Hier wurde allerdings schon die Qualität als subjektives Recht verneint und nur hilfsweise auf die fehlende Eigenleistung eingegangen, vgl. BVerfGE 18, 392 (396). Ähnlich zu behandeln sein dürften andere Fälle der Entziehung einer zuvor übertragenen staatlichen Aufgabe, vgl. etwa BGHZ 25, 266; siehe hierzu F. Ossenbühl, Die Erfüllung von Verwaltungsaufgaben durch Private, VVDStRL 29 (1971), 137 (189 f.). 4 BVerfGE 1, 264 (276 ff.). 2

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hier ab, den „gesicherte[n] Bestand eines Gewerbeausübungsrechts“ als Eigentum im Sinne von Art. 14 Abs. 1 GG zu betrachten. Eine zweite Entscheidung betraf eine Erlaubnis zum Betrieb einer Apotheke. Das Bundesverfassungsgericht urteilte, der Verlust der Erlaubnis stelle im konkreten Fall jedenfalls keinen „Entzug von Eigentum gegen den Willen des Erlaubnisinhabers“ dar. Daher könne die Frage, ob „die Betriebserlaubnis als solche Gegenstand des Eigentumsschutzes sein kann oder ob vielleicht der werbende Betrieb, also die Verbindung der Betriebserlaubnis mit den Gegenständen, die zur Führung des Betriebes notwendig sind …, Eigentumsschutz genießt“, offen bleiben.5 Auch in einer dritten Entscheidung, die eine arzneimittelrechtliche Zulassung betraf, die dem Arzneimittelhersteller ein Recht auf Zugang zum Arzneimittelmarkt gibt, ließ das Bundesverfassungsgericht die Frage des Eigentumsschutzes offen.6 Die inhaltlich ergiebigste Entscheidung betraf eine Linienverkehrsgenehmigung nach § 9 Abs. 1 Nr. 3 PBefG, aus deren Charakter als Eigentum im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG der Beschwerdeführer einen Schutz gegen die Teileinziehung einer Straße ableiten wollte. Da die Linienverkehrsgenehmigung diesen Inhalt ohnehin nicht hat, konnte die Frage, ob sie Eigentum im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG darstellt, offen bleiben. Das Bundesverfassungsgericht stellte dennoch in einem obiter dictum fest, dass sowohl die fehlende freie Verfügungsmöglichkeit über die Genehmigung als auch ihre Gewährung und Bestimmung durch öffentliches Recht gegen einen Eigentumsschutz sprächen. Es fehle „an der für die Anerkennung öffentlich-rechtlicher Positionen als Eigentum notwendigen Voraussetzung des Beruhens auf nicht unerheblicher eigener Leistung“.7 In seiner Entscheidung zur Legehennenhaltung ging das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass „der verfassungsrechtliche Eigentumsschutz grundsätzlich auch die durch die immissionsschutzrechtliche Genehmigung vermittelte Rechtsposition“ (d. h. die Anlage zur Legehennenhaltung) erfasse, die Frage nach dem Eigentumsschutz der Genehmigung könne daher offen bleiben.8 Ebenso offen ist die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, das in einer Entscheidung betreffend die Nutzungserlaubnis von Sondergrabstätten auf Friedhöfen das Nutzungsrecht als eher nicht von der Eigentumsgarantie erfasst, jedenfalls aber nicht durch eine Beschränkung der Nutzungsdauer verletzt ansah.9 Die Auffassung des Bundesgerichtshofs zur Frage des Eigentumsschutzes von Genehmigungen ist mittlerweile dezidiert ablehnend. Er entschied beispielsweise für eine Taxikonzession, dass sie „als eine durch das öffentliche Recht gewährte und bestimmte Rechtsposition kein vermögenswertes Recht“ darstelle und damit nicht den Schutz

5 BVerfGE 17, 232 (247 f.). Kritisch zur Vermischung von Gewerbebetrieb und Betriebserlaubnis C. Engel, Eigentumsschutz für Unternehmen, AöR 118 (1993), 169 (188). 6 BVerfG, NJW 1992, 735 (736). 7 BVerfG, NVwZ 2009, 1426 (1428). 8 BVerfG, NVwZ 2010, 771 (772). 9 BVerwGE 11, 68 (74 f.).

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des Art. 14 Abs. 1 GG genieße.10 Dies war indessen nicht immer so: Bis in die 1980er Jahren führte der BGH noch aus, die Eigentumsgarantie „müsse auf jedes vermögenswerte Recht bezogen werden, gleichgültig, ob es dem bürgerlichen oder dem öffentlichen Recht angehört“;11 entsprechend sah er eine Apothekenpersonalkonzession12 und eine Kassenarztzulassung13 als Eigentum im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG an. Dieser Auffassung ist auch (und wohl immer noch) das Bundessozialgericht: Es geht davon aus, dass „das durch Zulassung begründete Recht auf Ausübung der Kassenpraxis Eigentumsschutz nach Art. 14 GG“ genieße.14 Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in einem Fall aus den Niederlanden im Hinblick auf eine Genehmigung zum Betrieb einer Anlage zum Verkauf von Flüssiggas für Kraftfahrzeuge ausgeführt, sie sei „eng verbunden mit dem Recht, sein Eigentum in Übereinstimmung mit den Bestimmungen des Gesetzes zu nutzen“.15 Außerdem sei eine derartige Genehmigung „vermögensrechtlicher Natur, was sich insbesondere aus der Übertragbarkeit auf Dritte“ ergebe.16 2. Schrifttum Im Schrifttum ist die Eigentumsfähigkeit von Genehmigungen umstritten. Die weit überwiegende Auffassung lehnt sie ab,17 häufig unter Berufung auf fehlende Eigenleistung.18 Gelegentlich findet sich aber auch die Gegenauffassung,19 zum Teil 10 BGHZ 108, 364 (371) = NJW 1990, 1354 (1355). Ebenso zum fehlenden Eigentumsschutz von Taxikonzessionen OLG Düsseldorf, VRS 64 (1983), 81 (84 f.). 11 BGHZ 6, 270 (278). Darin lag eine klare Abkehr von der Rechtsprechung des PrOVG und des RG, die subjektive öffentliche Rechte als nicht von der Eigentumsgarantie des Art. 153 WRV erfasst ansahen, vgl. PrOVGE 81, 181 (201 f.) sowie RGZ 129, 246 (250 f.). 12 BGHZ 15, 17 (20). 13 BGHZ 81, 21 (33 f.), wo von der „Rechtsposition, die der Kläger durch die Zulassung als Kassenarzt erworben hatte“, gesprochen wird. Dass diese Zulassung (nur) ein subjektives öffentliches Recht gewähre, schließe hier den Eigentumsschutz nicht aus. In BGHZ 97, 204 (209 f.) wird die Frage für eine Anwaltszulassung dann schon explizit offen gelassen. 14 BSGE 58, 18 (26); siehe auch bereits BSGE 5, 40 (45) und BSGE 23, 97 (103 f.). 15 Zu beachten ist hierbei zwar, dass die EMRK keine der Berufsfreiheit vergleichbare Gewährleistung enthält und der EGMR dies mitunter durch eine weite Auslegung der Eigentumsgarantie der Konvention kompensiert. Im konkreten Fall ging es allerdings um die Nutzung eines konkreten Grundstücks, so dass dieser Einwand nicht unbedingt trägt. 16 EGMR, NJW 1987, 2141 (2142). 17 So etwa H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 (2010) Rdnr. 97; H. D. Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 11. Aufl. 2011, Art. 14 Rdnr. 13; O. Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 14 Rdnr. 134; P. Badura, Der Eigentumsschutz des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebes, AöR 98 (1973), 153 (167); G. Nicolaysen, Eigentumsgarantie und vermögenswerte subjektive öffentliche Rechte, in: FS Schack, 1966, S. 107 (117). 18 So etwa F. Ossenbühl, Verfassungsrechtliche Fragen eines Ausstiegs aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie, AöR 124 (1999), 1 (8); Engel (o. Fußn. 5), 188, mit der konsequenten Einschränkung, dass Genehmigungen dann Eigentumsschutz genießen, wenn sie

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auch differenzierend zwischen sachbezogenen und personenbezogenen Erlaubnissen.20 Teilweise wird die Frage aber auch als wenig bedeutsam angesehen, weil jedenfalls (oder nur) die in Folge einer Genehmigung geschaffenen privatrechtlichen Positionen Eigentumsschutz genössen und dies ausreichend sei.21 Bestätigt wird diese Unentschiedenheit durch einen Blick in das besondere Verwaltungsrecht. Im Außenwirtschaftsrecht wird beispielsweise vertreten, die Genehmigung bilde, da sie nicht auf einer Eigenleistung beruhe, keinen Eigentumsgegenstand im Sinne von Art. 14 Abs. 1 GG und genieße daher keinen grundrechtlichen Eigentumsschutz.22 Ein solcher könne lediglich Vermögenspositionen zukommen, die in Folge der Genehmigung durch Eigenleistung des Genehmigungsempfängers entstanden sind,23 also etwa dem abgeschlossenen und genehmigten Geschäft.24 Emissionshandelszertifikate, die eine Genehmigung zur Emission von Treibhausgasen erteilen, sollen hingegen genauso Gegenstand des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes sein25 wie die den Betreibern von Atomkraftwerken im Jahr 2010 gesetzlich zugewiesenen Reststrommengen.26 durch eine Leistung, beispielsweise eine Konzessionsabgabe, erlangt wurden. Zum Leistungskriterium auch W. Leisner, in: Isensee/Kirchhof, HbStR VIII, 3. Aufl. 2010, § 173 Rdnr. 115 ff. 19 Sehr dezidiert etwa K.-P. Dolde, Bestandsschutz von Altanlagen im Immissionsschutzrecht, NVwZ 1986, 873 (874 mit Fußn. 15) unter Berufung auf die Verwurzelung der Genehmigung im Grundeigentum; vgl. auch R. Schneider, Rechtsnorm und Individualakt im Bereiche des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes, VerwArch 58 (1967), 197 (204); tendenziell auch für einen Eigentumsschutz, wenn auch „nur“ als Teil des „eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs“, O. Kimminich, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 14 (1992) Rdnr. 87. 20 So etwa H. Rittstieg, in: AK-GG, Art. 14 (2001) Rdnr. 125; noch weiter differenzierend J. Wieland, in: Dreier, GG, 2. Aufl. 2004, Art. 14 Rdnr. 64. 21 R. Wendt, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 14 Rdnr. 36; B.-O. Bryde, in: v. Münch/ Kunig, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 14 Rdnr. 28. In diese Richtung wohl auch bereits W. Weber, Öffentlich-rechtliche Rechtsstellungen als Gegenstand der Eigentumsgarantie in der Rechtsprechung, AöR 91 (1966), 382 (400); J. Salzwedel, Verfassungsrechtlich geschützte Besitzstände und ihre „Überleitung“ in neues Recht, Verw 5 (1972), 11 (25). Dagegen etwa J. Meyer-Abich, Der Schutzzweck der Eigentumsgarantie, 1980, S. 53 („sinnvolle Frage“). 22 Vgl. A. v. Bogdandy, Die außenwirtschaftsrechtliche Genehmigung: Rechtsnatur und Rechtsfolgen, VerwArch 37 (1992), 53 (88); V. Epping, Die Außenwirtschaftsfreiheit, 1998, S. 99; S. Zinkeisen, Das Fehlen einer Entschädigungsregelung im Außenwirtschaftsrecht,1968, S. 38 f.; E.-J. Mestmäcker/C. Engel, Das Embargo gegen Irak und Kuwait, 1991, S. 79. 23 Vgl. Epping (o. Fußn. 22), S. 100 f. 24 So v. Bogdandy (o. Fußn. 22), 88; unklar Zinkeisen (o. Fußn. 22), S. 39 („in Verbindung mit“). 25 Vgl. H.P. Vierhaus, in: Körner/Vierhaus, TEHG/ZutG 2007, 2005, § 3 TEHG Rdnr. 11 (allerdings mit der Beschränkung auf entgeltlich erworbene Zertifikate); J. Strube, Das deutsche Emissionshandelsrecht auf dem Prüfstand, 2006, S. 206; M. Burgi, Emissionszertifikate als Eigentum im Sinne von Art. 14 GG, RdE 2004, 29 (33 f. mit einer Einordnung als privatrechtliche Eigentumsgegenstände).

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3. Zur Bedeutung der Frage Die divergierenden Auffassungen in Rechtsprechung wie Literatur zeigen, dass die Frage des Eigentumsschutzes von Genehmigungen weiterhin einer Klärung harrt.27 Die Annahme einiger Stimmen im Schrifttum, sie sei weitgehend bedeutungslos, erscheint dabei aus zwei Gründen nicht überzeugend. Zum einen gibt es Fälle, in denen die Genehmigung nicht wie häufig vorgebracht in einem „privatrechtlichen Substrat“28 verkörpert wird, sondern einen Eigenwert hat. Dies ist vor allem der Fall, wenn sie handelbar ist, etwa bei den bereits genannten Emissionszertifikaten nach § 7 Abs. 3 TEHG. Zum anderen basiert die Annahme der Bedeutungslosigkeit des Streits um die Einbeziehung der Genehmigung in den Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG jedenfalls im Bereich zahlreicher berufs- und gewerberechtlicher Erlaubnisse auf der Prämisse, dass das „privatrechtliche Substrat“ der „eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb“ und dieser von Art. 14 Abs. 1 GG geschützt sei.29 Diese Prämisse wird vom Bundesverfassungsgericht allerdings nicht anerkannt: Es sieht den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb lediglich als Summe seiner einzelnen Vermögensgegenstände an,30 was zurück zu der Frage führt, ob die Genehmigung denn einen solchen Vermögensgegenstand darstellt. II. Genehmigungen als Eigentum? Eine befriedigende Lösung der Frage des Eigentumsschutzes von Genehmigungen lässt sich nur finden, indem man den Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG nach den allgemeinen juristischen Auslegungsmethoden und ohne dogmatische Voreingenommenheit durch vermeintlich einschlägige Kategorien wie etwa die der Eigenleistung ermittelt. Dabei ist auch das (potentielle) Eigentumsobjekt, das dem Schutzbereich unterfallen soll, genau zu definieren.

26 J. Kersten/A. Ingold, Die Beschleunigung des Atomausstiegs – Verfassungsrechtliche Anforderungen, ZG 26 (2011), 350 (371). Siehe zur Qualifikation von Reststrommengen als Eigentumsgegenstände auch schon P. M. Huber, Restlaufzeiten und Strommengenregelungen, DVBl. 2003, 157 (159 f.); ders., Rechtssicherheit und neues Atomrecht, RdE 2003, 230 (232 f.); a.A. nun F. Ossenbühl, Eigentumsschutz von Reststrommengen beim Atomausstieg, DÖV 2012, 697 (700). 27 So auch B. Brenndörfer, Reichweite und Grenzen des baurechtlichen Bestandsschutzes, 2008, S. 71; J. Wieland, in: Dreier, GG, 2. Aufl. 2004, Art. 14 Rdnr. 64. 28 R. Wendt, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 14 Rdnr. 36; B.-O. Bryde, in: v. Münch/ Kunig, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 14 Rdnr. 28; Nicolaysen (o. Fußn. 17), 117. 29 R. Wendt, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 14 Rdnr. 36; B.-O. Bryde, in: v. Münch/ Kunig, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 14 Rdnr. 28; O. Kimminich, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 14 (1992) Rdnr. 87. Siehe zum Eigentumsschutz des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs auch eingehend Badura (o. Fußn. 17), 164 ff. 30 Offen gelassen beispielsweise in BVerfGE 105, 252 (278); BVerfG, NVwZ 2009, 1426 (1428); BVerfG, NJW 2010, 3501 (3502). Eher zweifelnd BVerfGE 74, 129 (148).

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1. Vermögenswerte Rechte als Eigentum Die kurze, aber treffende Definition von Eigentum im verfassungsrechtlichen Sinne lautet, dass darunter jedes vermögenswerte Recht des Einzelnen zu verstehen ist. Geschützt wird die rechtliche Zuordnung zu einem Rechtsträger.31 Kennzeichnend für das verfassungsrechtlich gewährleistete Eigentum soll nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Kombination aus Privatnützigkeit und grundsätzlicher Verfügungsbefugnis sein;32 diese Begriffe beschreiben letztlich aber vor allem die Zuordnung des Eigentums zu seinem Träger, ohne dass ihnen ein darüber hinausgehender, die Definition einschränkender Gehalt zukäme.33 Im Folgenden soll ermittelt werden, ob Genehmigungen als Eigentum in diesem Sinne zu qualifizieren sind. a) Rechtscharakter Zunächst stellt sich die Frage, ob im Zusammenhang mit der Genehmigung von einem „Recht des Einzelnen“ gesprochen werden kann. Unter einem solchen Recht ist, um die Zuordnungsfunktion zu erfüllen, ein subjektives Recht zu verstehen, im Unterschied zum objektiven Recht als Summe der geltenden Rechtsnormen.34 Das „subjektive Recht“ ist einer der schillerndsten Begriffe des deutschen Rechts.35 Als Mimimalkonsens kann heute festgestellt werden, dass das subjektive Recht eine einklagbare Rechtsposition, eine Rechtsmacht darstellt,36 die im objektiven Recht wurzelt.37 Subjektive öffentliche Rechte sollen dementsprechend nach allgemeiner Auffassung dann vorliegen, wenn die entsprechende Rechtsposition bzw. Willensmacht durch Normen des öffentlichen Rechts verliehen wird.38 Diese spezifisch normbezogene Sichtweise, die auf die vor allem für die Klagebefugnis in Verwaltungsprozessen relevante Frage zurückgeht, ob ein subjektives Recht auf Einhal-

31

Vgl. etwa P. Axer, in: Epping/Hillgruber, GG, 2009, Art. 14 Rdnr. 42. BVerfGE 104, 1 (8); 102, 1 (15). 33 So Leisner (o. Fußn. 18), Rdnr. 44. 34 Vgl. zur Definition objektiven Rechts etwa B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie, 6. Aufl. 2011, § 2 Rdnr. 61; A. Scherzberg, in: Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2010, § 12 Rdnr. 1. Siehe zur Definition des Rechtsbegriffs auch D. Ehlers, in: Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2010, § 2 Rdnr. 2 ff. 35 Vgl. etwa Rüthers/Fischer/Birk (o. Fußn. 34), § 2 Rdnr. 63; K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, §§ 42 ff.; Scherzberg (o. Fußn. 34), § 12 Rdnr. 1. 36 Vgl. etwa Rüthers/Fischer/Birk (o. Fußn. 34), § 2 Rdnr. 63; Röhl/Röhl (o. Fußn. 35), § 42. Dem korrespondiert auch die Legaldefinition des „Anspruchs“ in § 194 Abs. 1 BGB. Siehe zum Anspruchsbegriff auch M. Okuda, Über den Anspruchsbegriff im deutschen BGB, AcP 64 (1964), 536 ff. 37 Vgl. etwa Rüthers/Fischer/Birk (o. Fußn. 34), § 2 Rdnr. 63; Scherzberg (o. Fußn. 34), § 12 Rdnr. 1. 38 Vgl. nur H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2011, § 8 Rdnr. 2; siehe auch bereits O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, I. Band, 3. Aufl. 1924, § 10 (S. 103 f.). 32

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tung einer bestimmten Norm besteht,39 erscheint jedoch zu eng, weil sie nicht berücksichtigt, dass auch Verwaltungsakte subjektive Rechte begründen können – man denke nur an Statusrechte des Beamten oder Subventionsgewährungen.40 Man muss nicht Anhänger der Rechtserzeugungslehre von Hans Kelsen41 sein und Einzelakte letztlich auch als „Normen“ qualifizieren, um anzuerkennen, dass Verwaltungsakte das Gesetzesrecht für Einzelfälle konkretisieren und damit diese regelnd gegen die allgemeine Rechtsordnung abschirmen.42 So ist es auch bei Genehmigungen: Sie erlauben ein bestimmtes Handeln des Bürgers und verwandeln damit die abstrakte gesetzliche Anspruchslage in ein Rechtsverhältnis, das durch Rechte und Pflichten, also Ansprüche geprägt ist. Diese beinhalten einerseits das Recht, die genehmigte Handlung vorzunehmen, andererseits aber auch Unterlassungsansprüche gegen den Staat für den Fall, dass er das Tun ohne Weiteres unterbinden will. Genehmigungen begründen daher subjektive öffentliche Rechte. aa) Das Kriterium der Eigenleistung bei subjektiven öffentlichen Rechten Im Hinblick auf das Eigentum an subjektiven öffentlichen Rechten ist von der Rechtsprechung allerdings das einschränkende Kriterium der „Eigenleistung“ eingeführt worden. Danach sollen nur solche subjektiven öffentlichen Rechte Gegenstand der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie sein können, denen eine nicht unerhebliche Eigenleistung gegenüber steht.43 Das Bundesverfassungsgericht begründet dies teleologisch mit Zweck und Funktion der Eigentumsgarantie sowie ihrer Bedeutung im Gesamtgefüge der Verfassung.44 Sie soll dem Grundrechtsträger einen „Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich“ sichern und ihm dadurch „eine eigenverantwortliche Gestaltung seines Lebens ermöglichen“.45 Berücksichtigt man, dass das Eigenleistungskriterium im Kontext mit Zahlungsansprüchen gegen den Staat entwickelt wurde und sich vor allem auf den Eigentumsschutz von sozialrechtlichen Positionen wie Rentenanwartschaften bezieht, erscheint allerdings eine andere Begründung naheliegender. Es geht um die Abgrenzung der Grundrechtsfunktionen voneinander: Grundrechte sind nämlich nur ausnahmsweise Teilhabe- oder gar Leis39

Siehe zu dieser Zielrichtung des subjektiven öffentlichen Rechts Scherzberg (o. Fußn. 34), § 12 Rdnr. 3 ff. 40 Gleiches ist für die Zusicherung nach § 38 VwVfG anzunehmen. 41 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, Studienausgabe der 1. Aufl.1934, 2008, S. 84 ff. (Stufenbau der Rechtsordnung). 42 Vgl. schon Mayer (o. Fußn. 38), § 10 (S. 93): „im Einzelfall bestimmt, was … Rechtens sein soll“; zur Abschirmung aufgrund der Legalisierungswirkung siehe etwa M. Ruffert, in: Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2010, § 22 Rdnr. 20. 43 Siehe BVerfGE 53, 257 (289 f.); 100, 1 (32); BVerfG (Kammer), NZS 2009, 621. Kritisch zu dieser Beschränkung etwa BVerfGE 32, 111 (141) – Sondervotum Rupp-v. Brüneck/ Wieland, in: Dreier, GG, 2. Aufl. 2004, Art. 14 Rdnr. 63. Siehe auch ausführlich H. Rittstieg, in: AK-GG, Art. 14 (2001) Rdnr. 121. 44 BVerfGE 36, 281 (290); BVerfG, NJW 1976, 1783 (1786). 45 Vgl. etwa BVerfGE 24, 367 (389); 78, 58 (73); 79, 292 (303 f.); 83, 201 (208); 102, 1 (17 f.); 104, 1 (11); 115, 97 (114).

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tungsrechte, regelmäßig dagegen Abwehrrechte. Diese defensive Dimension steht auch bei der Eigentumsgarantie aus Art. 14 GG im Vordergrund, wie sich vor allem an den beiden Einschränkungsmöglichkeiten „Enteignung“ und „Inhaltsund Schrankenbestimmung“ zeigt, die beide auf einen Substanzschutz gerichtet sind.46 Das Kriterium der Eigenleistung verhindert auch tatsächlich, dass Art. 14 GG in ein Leistungs- oder Teilhaberecht umgewandelt wird:47 Wenn der Grundrechtsträger selbst etwas leistet, erscheint die Behauptung, das im Gegenzug Gewährte werde nicht von der grundrechtlichen Abwehrdimension erfasst, zunächst schwerer begründbar, ist doch diese staatliche Leistung selbst „erworben“. Akzeptiert man das Kriterium der Eigenleistung als notwendige Voraussetzung für das Eigentum an subjektiven öffentlichen Rechten, sind Genehmigungen nicht geschützt, weil sie nicht auf einer Eigenleistung basieren.48 Eine genauere Betrachtung lässt allerdings Zweifel an der Geeignetheit des Abgrenzungskriteriums der „Eigenleistung“ aufkommen. Diese beginnen damit, dass die Eigenleistung nicht identisch mit dem später Empfangenen ist, wie sich beispielsweise an der umlagefinanzierten Rentenversicherung zeigt. Der Eigentumsgegenstand, der geschützt werden soll, ist mithin allenfalls mittelbar das durch die Eigenleistung Geschaffene, unmittelbar jedoch eine staatliche Leistung. Des Weiteren ist umstritten, wie hoch der „Eigenleistungsanteil“ sein muss, um den grundrechtlichen Schutz auszulösen. Das Bundesverfassungsgericht spricht in diesem Zusammenhang von „nicht unerheblich“ bzw. davon, dass die staatliche Gewährung „nicht überwiegend“ sein darf.49 Schließlich mag das Kriterium der Eigenleistung zwar für die Ansprüche aus der Sozialversicherung sowie die Fälle der Besoldungs- und Versorgungsansprüche (hier in Form der Eigenleistung durch Arbeit) adäquat sein, für andere subjektive öffentliche Rechte erscheint es dagegen unpassend.50

46 Bei der Enteignung, die ultima ratio ist, erscheint dies ohnehin klar, bei der Inhalts- und Schrankenbestimmung hat das Bundesverfassungsgericht dies vor allem in seiner Entscheidung zu den ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmungen zum Ausdruck gebracht, vgl. BVerfGE 100, 226 (244). 47 Zu dieser Gefahr H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 (2010) Rdnr. 41; vgl. auch P. Badura, Eigentumsordnung, in: FS 25 Jahre Bundessozialgericht, Bd. 2, 1979, S. 673 (683 ff.). 48 Etwas anderes lässt sich allenfalls im Zusammenhang unter Berufung auf die Gebühren für die Genehmigung oder auf eine „Kompensation“ für die Freiheitsbeeinträchtigung vertreten, erscheint aber wenig überzeugend, vgl. für die Baugenehmigung Brenndörfer (o. Fußn. 27), S. 75 ff. 49 Vgl. etwa BVerfGE 69, 272 (300); 72, 9 (18 f.). 50 Vgl. Meyer-Abich (o. Fußn. 21), S. 53. Zur Notwendigkeit einer unterschiedlichen Handhabung der verschiedenen Komplexe siehe bereits Weber (o. Fußn. 21), 398. Zur Untauglichkeit des Kriteriums bei Genehmigungen vgl. etwa H. Rittstieg, AK-GG, Art. 14 (2001) Rdnr. 126.

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bb) Alternative: Individueller Rechtserwerb als Kriterium Als nicht auf Geldleistungsansprüche beschränktes und daher dem Begriff der Eigenleistung überlegenes Kriterium bietet es sich an, auf den individuellen Rechtserwerb abzustellen. Subjektive öffentliche Rechte können danach Eigentumsschutz ab dem Zeitpunkt gewinnen, in dem sie dem Eigentümer zugewiesen sind.51 Diese Sichtweise entspricht auch der Ausgestaltungsbedürftigkeit der Eigentumsgarantie durch den Gesetzgeber. Bei Art. 14 GG kann nämlich nicht wie bei anderen Grundrechten einfach von „natürlicher Freiheit“ gesprochen werden,52 sondern der Gesetzgeber muss über die „Inhaltsbestimmung“ selbst entscheiden, was das Grundrecht schützen soll. Hieran ändern auch alle Beteuerungen des Bundesverfassungsgerichts, den Eigentumsbegriff unmittelbar aus der Verfassung gewinnen zu wollen,53 nichts.54 Also basiert jedes vermögenswerte Recht zumindest insoweit auf staatlicher „Leistung“, als der Gesetzgeber es in einer Art und Weise ausgestaltet hat, die dem Einzelnen absolute oder relative Rechte, also Ansprüche, zuweist. Dies macht das Eigentumsrecht aber nicht zum Leistungsrecht; und für das abwehrrechtliche Schutzbedürfnis ist nicht die Frage relevant, ob eine Eigenleistung erbracht wurde (die bei privatrechtlichen Eigentumspositionen auch nicht gestellt wird55), sondern ob eine Zuweisung der Position an das Individuum bereits stattgefunden hat. Besonders einsichtig ist dies bei schlichten Zahlungsansprüchen: So unterfällt richtigerweise auch ein gesetzlicher Anspruch auf Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe, dem keinerlei Eigenleistung gegenüber steht, der Eigentumsgarantie, wenn er bereits fällig geworden ist. Er ist insoweit nicht anders zu behandeln, als bereits ausgezahltes (Bar-) Geld, das ebenfalls ohne Weiteres der Eigentumsgarantie unterfällt.56 Nicht geschützt ist hingegen ein möglicher künftiger Anspruch auf solche Leistungen, denn es ist unklar, ob und unter welchen Voraussetzungen der Gesetzgeber diesen weiterhin aufrechterhält und ob derjenige, der den Grundrechtsschutz fordert, zukünftig diese Voraussetzungen erfüllen wird. Auch im Hinblick auf Rentenanwartschaften und Rentenansprüche ist diese Betrachtungsweise zielführend: 51

So auch BVerfGE 20, 31 (34); 78, 205 (211): „nur Rechtspositionen, die einem Rechtssubjekt bereits zustehen“. 52 Siehe zu dieser Konzeption der Grundrechte schon G. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 2 (1958) Rdnr. 73; J. Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts IX, 3. Aufl. 2011, § 190 Rdnr. 2 und 13. Zur grundsätzlichen Freiheitsvermutung für alle Tätigkeiten etwa BVerfGE 6, 32 (42). 53 Siehe vor allem BVerfGE 58, 300 (335): „Der Begriff des von der Verfassung gewährleisteten Eigentums muss aus der Verfassung selbst gewonnen werden.“ 54 Begrenzt wird der Gesetzgeber insoweit vor allem durch das Gebot der Wahrung der Institutsgarantie des Art. 14 GG; vgl. hierzu für das Baurecht bei erstmaliger Ausgestaltung von Eigentumspositionen etwa Brenndörfer (o. Fußn. 27), S. 46. 55 So zu Recht H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 (2010) Rdnr. 131; J. Wieland, in: Dreier, GG, 2. Aufl. 2004, Art. 14 Rdnr. 63. 56 Auch das Bundesverfassungsgericht hat nicht ausgeschlossen, dass bereits entstandene Forderungen etwa auf Versorgungsbezüge als Eigentum im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG anzusehen sind, siehe BVerfGE 3, 58 (154).

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Mit der Verwirklichung bestimmter gesetzlich festgelegter Voraussetzungen (etwa Beitragszahlung, Wartezeit) entsteht eine Rentenanwartschaft; zuvor bestand trotz Eigenleistung nur eine nicht eigentumsrechtlich geschützte „Erwerbsberechtigung“. Der Auszahlungsanspruch entsteht sogar erst mit dem Eintritt des Rentenfalls, zumeist also mit Erreichen des Rentenalters. Diese Beispiele zeigen, dass die Eigenleistung letztlich nur einen Unterfall der Verwirklichung der Anspruchsvoraussetzungen darstellt, die zu einem Rechtserwerb führt. Keinen Eigentumsschutz kann nach dieser Auffassung dagegen die bloß abstrakte gesetzliche Anspruchslage ungeachtet ihrer Verwirklichung besitzen – es gibt nur Recht am Eigentum, kein Recht auf Eigentum.57 Die Anspruchslage kann dementsprechend vom Gesetzgeber verändert werden, mag er dabei auch aufgrund anderweitiger verfassungsrechtlicher Vorgaben eingeschränkt sein. Damit ergibt sich eine Kongruenz nicht nur mit der Auffassung, die durch Verwaltungsakt begründete Rechte mit durch Verwaltungsvertrag begründeten Rechten vergleicht,58 sondern auch mit einer frühen, inzwischen wohl zumindest nicht mehr explizit verfolgten Rechtsprechungslinie des Bundesverfassungsgerichts, die auf die Vergleichbarkeit des subjektiven öffentlichen Rechts mit einer zivilrechtlichen Anspruchsposition abstellte. Maßgeblich sollte danach sein, ob „der ein subjektiv-öffentliches Recht begründende Sachverhalt dem einzelnen eine Rechtsposition verschafft, die derjenigen eines Eigentümers entspricht und die so stark ist, daß ihre ersatzlose Entziehung dem rechtsstaatlichen Gehalt des Grundgesetzes widersprechen würde“.59 Auch wenn das Kriterium der mit dem privatrechtlichen Eigentum vergleichbaren Stärke im Schrifttum auf Kritik gestoßen ist60 und gar als untauglich bezeichnet wird,61 erscheint es für den Bereich der subjektiven öffentlichen Rechte durchaus sinnvoll. Die dem privatrechtlichen Eigentum vergleichbare Stärke zeigt sich dabei nicht nur in der Pflicht zur Entschädigung beim Entzug der Rechtsposition, mag dieser Aspekt auch früher im Vordergrund gestanden haben.62 Sie resultiert vielmehr daraus, dass sie – mit oder ohne Entschädigung – nicht ohne weiteres beseitigt werden kön57

So zu Recht Leisner (o. Fußn. 18), Rdnr. 61. So etwa H. Rittstieg, in: AK-GG, Art. 14 (2001) Rdnr. 125. 59 BVerfGE 40, 65 (83). Kritisch gegenüber dieser einengenden Sicht BVerfGE 32, 111 (142) – Sondervotum Rupp-v. Brüneck. 60 H.-J. Papier, Verfassungsschutz sozialrechtlicher Rentenansprüche, -anwartschaften und „-erwerbsberechtigungen“, VSSR 1973, 33 (43 f.); P. Kutschera, Bestandsschutz im öffentlichen Recht, 1990, S. 60. 61 H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 (2010) Rdnr. 132. 62 So noch etwa BVerfGE 16, 94 (112); 40, 65 (83). Der frühere, weite Enteignungsbegriff mag in manchen Grenzfällen den Ausschlag gegen eine Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 14 Abs. 1 GG gegeben haben – hätte doch nach damaliger Auffassung die Entziehung einer geschützten Rechtsposition eine Entschädigungspflicht ausgelöst. Inhalts- und Schrankenbestimmungen, die bei Eingriffen in subjektive öffentliche Rechte nach heutiger Dogmatik zumeist vorliegen, werden hingegen grundsätzlich als Ausdruck der entschädigungslos hinzunehmenden Sozialpflichtigkeit des Eigentums angesehen – oder sind verfassungswidrig. 58

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nen, wie dies auch Charakteristikum privater Rechte ist, die, sobald sie einmal entstanden sind, grundsätzlich nicht durch den Anspruchsgegner wieder beseitigt werden können. Eine solche Situation besteht zwar nicht bei jedem subjektiven öffentlichen Recht: Wird es durch Gesetz gewährt, kann diese Anspruchslage zumindest formal durch eine einfache Gesetzesänderung wieder beseitigt werden. Ist im Einzelfall dagegen eine Beseitigung nicht mehr ohne weiteres möglich, erscheint es adäquat, für eine solche Rechtsposition auch verfassungsrechtlich Eigentumsschutz zu gewähren, ohne dass damit Art. 14 GG in ein Teilhaberecht verwandelt würde. Genau diese Situation findet sich bei Genehmigungen und überhaupt bei allen durch Verwaltungsakt festgestellten Rechtspositionen aufgrund des Instituts der Bestandskraft. Dieses bewirkt grundsätzlich, dass Änderungen der Rechtslage durch den Gesetzgeber für den Inhaber des Verwaltungsakts irrelevant sind und seine Rechtsposition grundsätzlich ausschließlich durch den Verwaltungsakt bestimmt wird.63 Sie erlaubt erst ein bestimmtes Handeln des Bürgers und verwandelt die abstrakte gesetzliche Anspruchslage in einen konkreten, dem Einzelnen zuzuordnenden Anspruch. Damit verleiht die Genehmigung ihrem Empfänger eine bestimmte Rechtsmacht – ein subjektives Recht, und deshalb muss sie auch grundsätzlich dem Eigentumsgrundrecht unterfallen. cc) Untersuchung potentieller Eigentumsobjekte In der Diskussion um die Eigentumsfähigkeit von Genehmigungen wird mitunter nicht hinreichend zwischen verschiedenen möglichen Eigentumsobjekten differenziert. Teilweise geht es um den Eigentumsschutz von Genehmigungen selbst,64 teilweise aber auch um den Schutz des aufgrund der Genehmigung Geschaffenen oder von bereits vor Erteilung der Genehmigung Bestehendem.65 Mitunter werden die Aspekte auch miteinander vermischt,66 gerne auch mit der Begründung, es geht insgesamt um „subjektive öffentliche Rechte“ oder „öffentlich-rechtliche Leistungen“. Erforderlich ist dagegen eine Ermittlung des konkret in Rede stehenden subjektiven Rechts, denn dieses ist Gegenstand des Eigentumsschutzes.

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Vgl. Ruffert (o. Fußn. 41), § 22 Rdnr. 24. Je nach Ausgestaltung der Normen kommt allerdings eine unmittelbar die Genehmigung modifizierende Wirkung in Betracht, vgl. etwa BVerwGE 132, 224 zur Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung, wo das Bundesverwaltungsgericht konsequenterweise eine Verletzung der Eigentumsgarantie geprüft hat. 64 Vgl. differenzierend für die Import- oder Exportgenehmigung Epping (o. Fußn. 22), S. 99. 65 So etwa Weber (o. Fußn. 21), 400 f.; Salzwedel (o. Fußn. 21), 26; R. Stober, Grundrechtsschutz der Wirtschaftstätigkeit, 1989, S. 113. 66 Siehe beispielsweise Zinkeisen (o. Fußn. 22), S. 39: „Auszugehen ist somit davon, dass die Genehmigung erst in Verbindung mit privaten Vermögensrechten Eigentumsschutz genießt.“

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(1) Aufgrund der Genehmigung geschaffene oder ihr vorausliegende Gegenstände Am unproblematischsten stellt sich die Lage bei aufgrund einer Genehmigung geschaffenen oder ihr vorausliegenden, ohnehin bestehenden Eigentumsgegenständen dar. Zu nennen sind beispielsweise das Grundstück, das bebaut werden soll, oder die erst infolge einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung errichtete Anlage. Solche Eigentumsgegenstände genießen nach der allgemeinen Definition als vermögenswerte Rechtspositionen verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz, und zwar je nach ihrer Eigenart selbständig oder im Zusammenhang mit einem bestehenden Gegenstand, dessen Nutzungsmöglichkeiten erweitert werden. Das Bundesverfassungsgericht hat dies mitunter als durch die Genehmigung „vermittelte“ Rechtsposition bezeichnet;67 im Schrifttum ist von „ins Werk gesetzten“ Genehmigungen die Rede.68 Richtigerweise sind dies aber keine „verfestigten“ subjektiven öffentlichen Rechte,69 sondern eigenständige Eigentumspositionen. Nachträgliche Beeinträchtigungen solcher Gegenstände, beispielsweise durch Verpflichtungen zur Nachrüstung bestehender baulicher oder technischer Anlagen, müssen sich daher als Inhalts- und Schrankenbestimmungen bestehenden Eigentums vor allem am Maßstab der Verhältnismäßigkeit messen lassen. Dies gilt auch dann, wenn sie über das Vehikel der Aufhebung oder Änderung der Genehmigung erfolgen.70 (2) „Genehmigungslage“ Da die Schaffung gesetzlicher Ansprüche grundsätzlich zur Disposition des Gesetzgebers steht, mag er hierbei auch bestimmten verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen unterliegen, kann eine bloße „Genehmigungslage“ grundsätzlich nicht den Eigentumsschutz des Art. 14 GG genießen.71 Der Grundrechtsträger lebt in einer bestimmten Zeit und mit der dann geltenden Gesetzeslage, die Ansprüche auf Genehmigung beinhaltet oder eben nicht beinhaltet. Ihre Veränderung durch den Gesetzgeber, etwa durch eine Modifikation der Anspruchsvoraussetzungen, ist daher in aller Regel keine rechtfertigungsbedürftige Inhalts- und Schrankenbestimmung. Etwas anderes muss allerdings dann gelten, wenn sich eine Gesetzesänderung auf eine bereits bestehende Eigentumsposition auswirkt, wie es insbesondere 67

BVerfG, NVwZ 2010, 771 (772). G. Dürig, Der Staat und die vermögenswerten öffentlich-rechtlichen Berechtigungen seiner Bürger, in: FS Apelt, S. 13 (46); Stober (o. Fußn. 65), S. 113; R. Breuer, Die Bodennutzung im Konflikt zwischen Städtebau und Eigentumsgarantie, 1976, S. 184. 69 So aber wohl Breuer (o. Fußn. 68), S. 184; dagegen Badura (o. Fußn. 17), 165; W. Reiland, Eigentumsschutz und Störerhaftung, VerwArch 66 (1975), 255 (271). 70 Siehe hierzu schon Nicolaysen (o. Fußn. 17), 117; Ossenbühl (o. Fußn. 18), 8. 71 Vgl. O. Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 14 Rdnr. 134. Siehe auch bereits BVerfGE 2, 401: Der Staat „nimmt von jeher für sich in Anspruch, solche Rechte, die er selbst erst geschaffen hat, im Rahmen der Gesetze oder durch Gesetz wieder zu entziehen, sei es, daß es sich um Befugnisse oder Rechtspositionen handelt …, sei es, daß subjektive Forderungsrechte in Rede stehen“. 68

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bei einer Änderung der Bebaubarkeit von Grundstücken der Fall ist. Dies liegt allerdings nicht daran, dass die Eigentumsqualität der „Genehmigungslage“ in solchen Fällen anders zu beurteilen wäre, sondern daran, dass ein anderer, der Genehmigungslage vorausliegender Eigentumsgegenstand, nämlich das ohne weiteres einen vermögenswerten Gegenstand darstellende Grundstück, betroffen ist. Einfachrechtlich tragen diesen Anforderungen beispielsweise die Vorschriften des Planungsschadensrechts (§§ 42 ff. BauGB) Rechnung. Maßgeblich für die Differenzierung ist also auch hier, ob eine konkrete Eigentumsposition bereits besteht oder nicht.72 Die Genehmigungslage ist keine solche – sie ist lediglich vergleichbar mit einer bloßen Chance, die sich aus dem Fortbestand einer günstigen Rechtslage ergibt,73 und unterfällt daher nicht dem Schutz des Art. 14 GG. Dies gilt selbst für die bereits individuell verwirklichte Genehmigungslage, ja sogar in dem Fall, dass eine Genehmigung bereits beantragt ist: Selbst die rechtswidrige Versagung einer Genehmigung trotz Vorliegens der Genehmigungsvoraussetzungen ist kein Eigentumseingriff, wenn sie nicht den Bestand beeinträchtigt.74 Zutreffend erscheint daher auch die Rechtsprechung, die eine Haftung wegen enteignungsgleichen Eingriffs nur ausnahmsweise bei einem „qualifizierten Unterlassen“ einer Baugenehmigung75 annimmt – hier besteht nämlich in Form des Grundstücks bereits Eigentum. (3) Genehmigung Anders als bei der bloßen Genehmigungslage lässt sich das Bestehen einer individuellen subjektiven Rechtsposition dagegen dann nicht verneinen, wenn jemand nicht nur individuell die Voraussetzungen für eine Genehmigung erfüllt hat, sondern diese erteilt wurde. Die Genehmigung verbrieft hier gewissermaßen die abstrakte gesetzliche Anspruchslage für den konkreten Fall. Sie stellt insofern die Erfüllung des Anspruchs auf Genehmigung dar (der nicht selbst Eigentum im verfassungsrechtlichen Sinne ist) und begründet zugleich konstitutiv eine eigentumsfähige Rechtsposition. Das „Recht“ liegt in diesem Zusammenhang vor allem in der Freigabe des zuvor verbotenen Vorhabens, beispielsweise der Eigentumsnutzung, und in seiner Legalisierung. b) Vermögenswert Neben der Bestimmung der konkreten Rechtsposition, die der Eigentumsgarantie unterfallen soll, ist es im Einklang mit der allgemeinen Definition des Eigentumsbe72

BVerfGE 20, 31 (34); 78, 205 (211). BVerfGE 78, 205 (211 f.). Siehe auch O. Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 14 Rdnr. 134; O. Kimminich, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 14 (1992) Rdnr. 84 ff. 74 Badura (o. Fußn. 17), 167. 75 Vgl. etwa BGHZ 56, 40 (42); BGHZ 102, 350 (364); 120, 124 (132); siehe auch H.-J. Papier, in: Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2009, § 839 Rdnr. 45. 73

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griffs erforderlich, dass das in Rede stehende „Recht“ Vermögenswert besitzt. Dies spiegelt sich auch in den Begriffen der Privatnützigkeit und grundsätzlichen Verfügungsbefugnis wider, die das Bundesverfassungsgericht regelmäßig im Zusammenhang mit der Eigentumsdefinition verwendet.76 Im Hinblick auf den Vermögenswert einer Genehmigung ist vor allem von Bedeutung, ob sie als Recht überhaupt einer isolierten Bewertung zugänglich ist, also einen „Eigenwert“ hat; sodann stellt sich die Frage, wie die Bewertung erfolgen kann. Die Frage des Eigenwertes ist insbesondere in Abgrenzung zu den unter (1) untersuchten Eigentumsgegenständen, die im Zusammenhang mit Genehmigungen stehen, von Bedeutung, denn eine Genehmigung, die nur werterhöhend auf einen anderen Eigentumsgegenstand wirkt oder dessen Entstehung erst ermöglicht, hat allein deshalb noch keinen Eigenwert. Voraussetzung für einen Eigenwert ist also zunächst, dass die Genehmigung sich nicht nur auf einen anderen Eigentumsgegenstand bezieht und dessen Nutzung regelt. Es erscheint nämlich nicht sinnvoll, Nutzungen eines Eigentumsgegenstands als separaten, anderen Eigentumsgegenstand (oder sonstige Freiheitsbetätigung) abzuspalten, denn „welche Befugnisse einem Eigentümer in einem bestimmten Zeitpunkt konkret zustehen, ergibt sich aus der Zusammenschau aller in diesem Zeitpunkt geltenden, die Eigentümerstellung regelnden gesetzlichen Vorschriften. Ergibt sich hierbei, dass der Eigentümer eine bestimmte Befugnis nicht hat, so gehört diese nicht zu seinem Eigentumsrecht.“77 Nutzungen müssen im Anschluss an ihre Genehmigung daher dem genutzten Gegenstand zugeordnet werden. Dementsprechend ist im Schrifttum etwa von „Amalgamierung“ und „Synergismus“ aus Eigentumsgegenstand und Erweiterung der Nutzungsbefugnisse durch die öffentlich-rechtliche Genehmigung die Rede.78 Am augenfälligsten ist dies bei der Baugenehmigung, die eine neue Nutzungsmöglichkeit für das Grundeigentum eröffnet.79 Die durch eine Genehmigung hinzutretende Nutzungsmöglichkeit für einen bestehenden Eigentumsgegenstand ist also kein neuer Eigentumsgegenstand, sondern eine Inhaltsbestimmung des vorhandenen Eigentumsgegenstands – sie hat dementsprechend auch keinen Eigenwert, sondern wirkt nur werterhöhend. Im Schrifttum wird allerdings teilweise vertreten, die Nutzung des Eigentums sei überhaupt nicht durch Art. 14 GG, sondern durch andere Freiheitsrechte, insbeson76

BVerfGE 104, 1 (8); 102, 1 (15). BVerfGE 2010, 771 (772). 78 Kersten/Ingold (o. Fußn. 26), 355. Gegen eine solche Verknüpfung H. Rittstieg, AK-GG, Art. 14 (2001) Rdnr. 127, der den Eigentumsschutz nur auf die Erlaubnis bezieht. 79 Das Recht zur Bebauung eines Grundstücks wird von der wohl herrschenden Auffassung als Ausfluss des Grundeigentums gesehen, vgl. etwa W. Leisner, Baufreiheit oder staatliche Baurechtsverleihung?, DVBl. 1992, 1065 (1068 f.); H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 GG (2010) Rdnr. 47; O. Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 14 Rdnr. 117; P. Axer, in: Epping/Hillgruber, GG, 2009, Art. 14 Rdnr. 45. Die Gegenauffassung geht von einer durch Verwaltungsakt verliehenen Bebauungsbefugnis aus, vgl. etwa J. Wieland, in: Dreier, GG, 2. Aufl. 2004, Art. 14 Rdnr. 40; E. Schmidt-Aßmann, Grundfragen des Städtebaurechts, 1972, S. 89 ff.; P. Badura, in: Benda/Maihofer/Vogel, HbVerfR, 1994, § 10 Rdnr. 80. 77

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dere Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG geschützt.80 Selbst wenn man dem mit der ganz herrschenden Meinung in Rechtsprechung81 und Literatur82 nicht folgt, wird man zugeben müssen, dass nicht jede Nutzung eines Eigentumsgegenstands Ausfluss der Eigentumsgarantie ist.83 Die Grenze zwischen „eigentumsgegenstandsimmanenter“ Nutzung und allgemeiner Freiheitsbetätigung, für die (auch) der Eigentumsgegenstand verwendet wird, kann dabei im Einzelfall schwer zu ziehen sein. Je mehr man Nutzungen vom Grundrechtsschutz des genutzten Eigentumsgegenstands „abspaltet“, desto mehr wird die Frage nach ihrer (separaten) verfassungsrechtlichen Behandlung gerade auch im Hinblick auf den Eigenwert dieser Nutzung virulent. Die Verknüpfung der Genehmigung mit einem anderen Eigentumsgegenstand begründet allerdings nur eine Vermutung gegen einen Eigenwert; weder kann ein solcher allein aufgrund dieser Verknüpfung ausgeschlossen werden, noch spricht ihr Fehlen zwingend für einen solchen: Einerseits kann der Gesetzgeber im Zuge der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums einzelne Nutzungen abtrennen und genehmigungsbedürftig, aber zugleich übertragbar machen. In solchen Fällen erscheint ein Eigenwert der Genehmigung in Form des Handelswertes kaum bestreitbar. Er wird richtigerweise etwa für die zusätzlichen Reststrommengen, die den Betreibern von Atomkraftwerken im Jahr 2010 gesetzlich zugewiesen wurden,84 angenommen,85 sowie für Emissionszertifikate (§ 7 TEHG).86 Umgekehrt kann nicht allein aus dem Umstand, dass eine Genehmigung nicht im Zusammenhang mit einem anderen Eigentumsgegenstand steht, zwingend geschlossen werden, dass sie Eigenwert habe: Vor allem Erlaubnisse zu bestimmten Betätigungen ähneln strukturell denjenigen Genehmigungen, die erst die Schaffung eines Eigentumsgegenstands ermöglichen. Auch in ihrem Fall resultiert der Wert regelmäßig nicht aus der Erlaubnis, sondern aus der Tätigkeit selbst. Nach verbreiteter Auffassung unterfallen solche Erlaubnisse daher nicht der Eigentumsgarantie, sondern der Berufsfreiheit87 oder – bei nichtwirtschaftlicher Betätigung – der allgemeinen Handlungs80 U. Hösch, Eigentum und Freiheit, 2000, S. 268 ff.; ders., Der Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie – eine Eigentumsfrage?, ThürVBl. 2000, 217 (220). 81 Siehe etwa BVerfG, NVwZ 2010, 771 (776). 82 Vgl. H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 GG (2010) Rdnr. 234 m. w. N.; O. Kimminich, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 14 (1992) Rdnr. 40. 83 Das Reiten im Walde beispielsweise wird auch dann „nur“ von der allgemeinen Handlungsfreiheit geschützt, wenn es auf dem eigenen Pferd erfolgt, vgl. BVerfGE 80, 137 (150 f.). Siehe zu weiteren Beispielen Kersten/Ingold (o. Fußn. 26), 353. 84 Vgl. § 7 Abs. 1a AtomG und die dazugehörige Anlage 3, Spalte 2. 85 So zu Recht Kersten/Ingold (o. Fußn. 26), 370 ff.; a.A. nunmehr Ossenbühl (o. Fußn. 26), 700, der auch diese zusätzliche Stromerzeugungsbefugnis noch als Ausfluss des Anlageneigentums ansieht. 86 Vgl. etwa Burgi (o. Fußn. 25), 29 ff.; zust. O. Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 14 Rdnr. 134. 87 So etwa J. Wieland, in: Dreier, GG, 2. Aufl. 2004, Art. 14 Rdnr. 64, der die Eigentumsfähigkeit auf übertragbare anlagenbezogene Erlaubnisse beschränkt. Vgl. auch B.-O. Bryde, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 14 Rdnr. 28.

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freiheit. Auch diese Sichtweise erscheint allerdings nur dann zutreffend, wenn die Erlaubnis mengenmäßig frei verfügbar ist. Wird sie dagegen nur in bestimmten Kontingenten erteilt und ist zugleich übertragbar, bildet sie letztlich wieder einen Handelsgegenstand, so dass es nicht angebracht erscheint, ihren Eigenwert zu verneinen. Letztlich erscheint die Handelbarkeit, also der Tauschwert gegen Geld, als das maßgebliche Kriterium für den Eigenwert einer Genehmigung. Dies entspricht auch der Konzeption des Art. 14 GG als einem Wirtschaftsgrundrecht, das zwar nur in zweiter Linie,88 praktisch aber nicht minder wichtig, auf Werterhaltung gerichteten Schutz gewährt. III. Schlussfolgerungen 1. Eigentumsfähigkeit von Genehmigungen nach Maßgabe der Rechtsordnung Die im Einzelfall für die Eigentumsfähigkeit von Genehmigungen maßgeblichen Kriterien des Rechtscharakters und des Vermögenswerts stehen weitgehend zur Disposition des Gesetzgebers. Dies gilt sowohl im Hinblick darauf, ob und wann eine Genehmigung erteilt wird, also dem Grundrechtsträger eine Rechtsposition zugewiesen wird, als auch für die Frage, ob eine Genehmigung separat handelbar ist und daher einen Vermögenswert besitzt. Die Gesetzeslage zeitigt nicht nur Auswirkungen auf die Begründung des Eigentumsschutzes, sondern auch auf seine Intensität. Ist etwa eine Genehmigung wie die (allerdings mangels Handelswert keinen Eigentumsgegenstand bildende) wasserrechtliche Erlaubnis nach § 18 Abs. 1 WHG jederzeit widerruflich, so ist das Eigentum an ihr von vornherein mit dieser Einschränkung belastet; insofern besteht eine Parallele zu den dynamischen Pflichten des Betreibers einer nach Immissionsschutzrecht genehmigten Anlage (§§ 5, 17 BImSchG), die ebenfalls eine von Anfang an bestehende Eigentumsbelastung (der Anlage) darstellen. Die starke Gesetzesabhängigkeit ist allerdings weder eine Besonderheit des Eigentumsschutzes von Genehmigungen noch überraschend. Sie ist vielmehr generelles Charakteristikum der Eigentumsgarantie, die auf die Ausgestaltung durch den Gesetzgeber angewiesen ist.89 2. Konsequenzen des Eigentumsschutzes Neben einer möglichen Entschädigungspflicht bei Beeinträchtigungen oder Entziehungen ist die wesentliche Konsequenz der Einbeziehung von Genehmigungen mit Vermögenswert in den Schutzbereich des Art. 14 GG die Gewährung von Vertrauensschutz. Die Eigentumsgarantie bezweckt primär die Substanzerhaltung und 88

Zum Vorrang der Bestandsgarantie siehe etwa H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 GG (2010) Rdnr. 332 und 378a ff. Siehe auch dens., Veranlassung und Verantwortung aus verfassungsrechtlicher Sicht, DVBl. 2011, 189 (191). 89 Vgl. BVerfGE 58, 300 (336).

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wandelt sich nur subsidiär in eine Wertbestandsgarantie um.90 Art. 14 GG bildet damit den „verfassungsrechtlichen Anker des Vertrauensschutzes“91, der im Übrigen im Rechtsstaatsprinzip in der Ausprägung der Rechtssicherheit, also in Art. 20 Abs. 3 GG zu sehen ist.92 Das Bundesverfassungsgericht betont daher in ständiger Rechtsprechung, dass „der rechtsstaatliche Grundsatz des Vertrauensschutzes für die vermögenswerten Güter im Eigentumsrecht eine eigene Ausprägung und verfassungsrechtliche Ordnung erfahren hat“93 und prüft seine Einhaltung ohne gesonderte Berufung auf Art. 20 Abs. 3 GG als Unterpunkt der Verfassungskonformität einer Inhalts- und Schrankenbestimmung.94 Freilich scheint die „eigene Ausprägung“ mit dieser besonderen Prüfung ihr Bewenden zu haben. Dass der besondere Vertrauensschutz wirklich schärfer konturiert ist als die „relativ vagen Kategorien des Rückwirkungsverbots“95, lässt sich jedenfalls heutzutage bezweifeln.96 So zeichnet sich das allgemeine Rückwirkungsverbot mittlerweile durch eine richterrechtliche Konkretisierung aus, die der des eigentumsrechtlichen Rückwirkungsverbots in nichts nachsteht. Es wird in beiden Fällen differenziert zwischen echter und unechter Rückwirkung bzw. (lediglich terminologisch unterschiedlich) Rückbewirkung von Rechtsfolgen und tatbestandlicher Rückanknüpfung.97 Vertrauensschutz ist nach dem Gesagten in jedem Fall zu gewähren: Für bereits erteilte Genehmigungen mit Vermögenswert ergibt sich das aus Art. 14 GG, für andere Eigentumsobjekte, deren Nutzung durch Genehmigungen bestimmt wird, ebenfalls, und in anderen Fällen aus dem Rechtsstaatsprinzip. Selbst im Bereich bloßer Genehmigungsansprüche wird das allgemein rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot relevant: Hat der Gesetzgeber auch grundsätzlich das Recht, die Rechtslage zu modifizieren und dabei Genehmigungsansprüche zu beseitigen, so darf er dabei nicht schützenswertes, durch Dispositionen des Bürgers betätigtes Vertrauen beeinträchtigten. Dies kann vor allem dann gelten, wenn eine Genehmigung bereits beantragt, jedoch noch nicht erteilt ist. Vergleicht man die Anforderungen im Hinblick auf Genehmigungsansprüche, Genehmigungen mit Eigenwert und Genehmigungen ohne Eigenwert, so liegt der Unterschied im Wesentlichen in der unter90 Vgl. dazu etwa H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 GG (2010) Rdnr. 332 und 378a ff. Siehe auch dens. (o. Fußn. 88), DVBl. 2011, 189 (191). 91 H.-J. Blanke, Vertrauensschutz im deutschen und europäischen Verwaltungsrecht, 2000, S. 110. 92 BVerfGE 45, 142 (168). Zu Art. 20 Abs. 3 GG als Maßstab siehe etwa BVerfG, NJW 2010, 3629; NJW 2010, 3634; NJW 2010, 3638 (alle vom 7. 7. 2010). 93 BVerfGE 45, 142 (168); 53, 257 (309); 64, 87 (104). 94 Vgl. etwa BVerfG, NVwZ 2010, 771 (775 f.). 95 BVerfGE 32, 111 (141) – Sondervotum Rupp-v. Brüneck. 96 H. Rittstieg, in: AK-GG, Art. 14 (2001) Rdnr. 121; BVerfGE 32, 111 (141) – Sondervotum Rupp-v. Brüneck. 97 Vgl. zum allgemeinen Rückwirkungsverbot etwa BVerfG, NJW 2010, 3629; NJW 2010, 3634; NJW 2010, 3638; zum eigentumsrechtlichen Rückwirkungsverbot BVerfG, NVwZ 2010, 771 (776).

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schiedlichen Quelle des Vertrauensschutzes.98 Da sich die Maßstäbe mittlerweile weitgehend angenähert haben, ergeben sich dabei für die Praxis der Gesetzgebung, an die die Verfassungsgebote primär adressiert sind, kaum Unterschiede. Diesen parallelen Maßstäben entsprechend differenziert der Gesetzgeber nicht zwischen dem Vertrauensschutz von Genehmigungen, die der Eigentumsgarantie unterfallen, und anderen Genehmigungen.99 Er gewährt in beiden Fällen das Institut der Bestandskraft von Verwaltungsakten, das vertrauensschützend wirkt, indem es grundsätzlich nicht nur gegenläufiges Verwaltungshandeln, sondern auch eine Modifikation des Genehmigungsverhältnisses durch nachträgliche Gesetzesänderungen verhindert. Eine Genehmigung perpetuiert somit grundsätzlich die Rechtslage zum Zeitpunkt ihrer Erteilung.100 Ebenfalls unterschiedslos gelten die allgemeinen Regelungen über die Aufhebung oder Modifikation von Verwaltungsakten,101 die insofern abstrakte Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Eigentums darstellen. Zu nennen sind insbesondere die §§ 48, 49 VwVfG sowie die Spezialregelungen des Fachrechts zur Aufhebung und ggf. Modifikation von Genehmigungen, etwa die §§ 5, 17 BImSchG.102 Der „Mehrwert“ der spezifisch eigentumsrechtlichen Vertrauensschutzgarantie, der in der Formel vom Vorrang des Bestandsschutzes vor dem bloßen Wertschutz liegt,103 besteht vor allem in der Beeinflussung juristischer Argumentation. Auch wenn eine Anwendung des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsprinzips wohl regelmäßig zu gleichen Ergebnissen führen würde wie die Formel „Bestandsgarantie vor Wertgarantie“, die letztlich auch nur eine pauschalisierte Verhältnismäßigkeitserwägung darstellt, können Formeln und Topoi bestimmte Leitlinien vorgeben und in der Argumentation zu besonderer Begründung von Abweichungen zwingen. Dies gilt bezogen auf den Grundsatz des vorrangigen Bestandsschutzes im Anwendungsbereich von Art. 14 GG sowohl für den Gesetzgeber, wenn er die Schranken des Eigentums (neu) bestimmen und dabei bestehendes Eigentum beeinträchtigen möchte, als auch bei der Rechtsanwendung, insbesondere im Rahmen von Ermessensentscheidungen. Vor allem letzteres ist im Hinblick auf eigentumsrechtlich geschützte Genehmigungen von Bedeutung: Wird nämlich ein Verwaltungsakt, der selbst vermögenswerte Rechte vermittelt, geändert oder aufgehoben, so kann dies schwerer zu gewichten sein, als wenn mit der Genehmigung lediglich einem anderen Eigentums98

Vgl. schon B.-O. Bryde, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 14 Rdnr. 28. Vgl. B.-O. Bryde, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 14 Rdnr. 28. 100 Vgl. Ruffert (o. Fußn. 41), § 22 Rdnr. 24. Dies gilt selbst dann, wenn dynamische Pflichten bestehen, denn auch diese waren zum Zeitpunkt der Genehmigungserteilung schon vorgesehen und nur in ihrer konkreten Ausprägung nicht absehbar. 101 Siehe zu diesem Zusammenhang bereits Ossenbühl (o. Fußn. 18), 8. 102 Die Auffassung, diese Vorschriften seien gegenüber den verfassungsrechtlichen Schutzinstrumenten nachrangig, so etwa Schneider (o. Fußn. 19), 345, ist dagegen abzulehnen; das einfache Recht setzt vielmehr die verfassungsrechtlichen Vorgaben um. 103 Vgl. dazu etwa H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 GG (2011) Rdnr. 332 und 378a ff. Siehe auch dens. (o. Fußn. 88), DVBl. 2011, 189 (191). 99

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gegenstand eine von mehreren Nutzungsmöglichkeiten entzogen wird. Umgekehrt kann allerdings gerade auch der Entzug der Genehmigung für eine ins Werk gesetzte Nutzungsmöglichkeit eine schwerwiegende Eigentumsbeeinträchtigung (nicht der Genehmigung, sondern des anderen Eigentumsobjekts) darstellen. Letztlich entscheidendes Kriterium im Rahmen des auch auf der Ebene der Rechtsanwendung zu gewährenden Vertrauensschutzes ist immer die Zumutbarkeit der Maßnahme.104 Dieses Ergebnis mag ernüchtern, betrachtet man die zuvor aufgewendete Mühe, die Zuordnung bestimmter Genehmigungen zum Schutzbereich des Art. 14 GG zu begründen. Mehr als eine „Akzentuierung bestimmter freiheitlicher oder wirtschaftlicher Elemente“ kann man allerdings von keinem Grundrecht erwarten.105 Es ist gerade Zeichen einer ausdifferenzierten und ausbalancierten Grundrechtsdogmatik, trotz mancher Verästelungen im Detail letztlich auf gemeinsame Grundstrukturen zurückführbar zu sein. Der Jubilar hat zur Entwicklung dieser Dogmatik sowohl als Wissenschaftler, nicht zuletzt als Mitherausgeber des Handbuchs der Grundrechte in Deutschland und Europa, als auch in seiner Eigenschaft als Präsident und Richter im „Grundrechtesenat“ des Bundesverfassungsgerichts maßgeblich beigetragen.

104 St. Rspr., vgl. BVerfGE 127, 61 (76 f.); siehe auch bereits BVerfGE 30, 392 (404); 50, 386 (395); 67, 1 (15); 75, 246 (280); 105, 17 (37); 114, 258 sowie speziell zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes BVerfGE 72, 200 (242 f.); 95, 64 (86); 101, 239 (263); 116, 96 (132); 122, 374 (394); 123, 186 (257). Aus dem Schrifttum siehe etwa H. Maurer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 79; Salzwedel (o. Fußn. 21), 28, 33 f. 105 So zu Recht schon Salzwedel (o. Fußn. 21), 31.

Abbau von Umweltsubventionen und Grundrechte Verfassungsrechtliche Überlegungen unter besonderer Berücksichtigung des Eigentumsund Vertrauensschutzes Von Foroud Shirvani I. Umweltsubventionen und staatliche Umweltpolitik Die Subvention als staatliches Steuerungsmittel zur Verwirklichung im öffentlichen Interesse liegender Zwecke ist nicht nur auf dem Gebiet der Wirtschafts-, Forschungs- und Kulturpolitik, sondern auch auf dem Gebiet der Umweltpolitik eine bekannte Erscheinungsform.1 Als vermögenswerte Zuwendungen des Staates an Private zur Förderung ökologischer Ziele sind Umweltsubventionen genauso wie Umweltabgaben den ökonomischen Instrumenten der Umweltpolitik zuzuordnen.2 Diese Instrumente aktivieren den Eigennutz bzw. das Gewinninteresse des Steuerungsadressaten, indem sie ihm einen geldwerten Vorteil in Aussicht stellen, wenn er sich umweltfreundlich verhält.3 Sieht der Adressat davon ab, sich so zu verhalten, wie es umweltpolitisch gewünscht ist, handelt er nicht illegal, sondern allenfalls, wenn auch nicht notwendig, ökonomisch unvernünftig.4 So können mit Hilfe von Umweltsubventionen z. B. Investitionen in neue umweltfreundliche Technologien gefördert, produktionsbezogene Umweltschutzmaßnahmen bezuschusst oder der Verzicht auf Umweltbeeinträchtigungen belohnt werden, ohne dass die Inanspruchnahme der Förderung verpflichtend wäre.5 Beispiele sind die sog. Umweltprämie aus 1 Vgl. J. Kämmerer, Subventionen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbStR V, 3. Aufl. 2007, § 124 Rdnr. 1; M. Rodi, Die Subventionsrechtsordnung, 2000, S. 51; M. Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 5 Rdnr. 193 ff.; J. Ziekow, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 2010, § 6 Rdnr. 1 ff., 5. 2 Kloepfer (o. Fußn. 1), § 5 Rdnr. 178 ff., 193 ff.; R. Hendler, Ökonomische Instrumente, in: Dolde (Hrsg.), Umweltrecht im Wandel, 2001, S. 285 (289 f.); G. Lübbe-Wolff, Instrumente des Umweltrechts – Leistungsfähigkeit und Leistungsgrenzen, NVwZ 2001, 481 (485 ff., 489); S. Magiera, Subventionen der EG und der Mitgliedstaaten, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht, Bd. I, 2. Aufl. 2003, § 37 Rn. 5 f. 3 L. Wicke, Umweltökonomie, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht, Bd. I, 2. Aufl. 2003, § 5 Rdnr. 13; Hendler (o. Fußn. 2), S. 287. 4 Hendler (o. Fußn. 2), S. 287. 5 W. Erbguth/S. Schlacke, Umweltrecht, 4. Aufl. 2012, § 5 Rdnr. 85; W. Benkert, Staatliche Finanzhilfen zur Förderung des Umweltschutzes, NuR 1984, 132 (133).

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dem Jahr 2009, die den Zweck hatte, die „Verschrottung alter und den Absatz neuer Personenkraftwagen zu fördern“,6 oder die Befreiung besonders schadstoffreduzierter Pkw mit Selbstzündungsmotor von der Kraftfahrzeugsteuer.7 Diese und andere Subventionsformen stoßen bei den Begünstigten häufig auf eine hohe Akzeptanz und haben aufgrund ihrer monetären Vorteile Lenkungswirkung.8 Sie sind allerdings kostenträchtig, müssen wegen der Gefahr des Subventionsbetrugs überwacht werden und beinhalten mitunter keinen Anreiz, „Potenziale zur Steigerung der Wirtschaftlichkeit des subventionierten Verhaltens auszuschöpfen“.9 Nicht zuletzt deshalb werden Umweltsubventionen – genauso wie andere Subventionen – stetig überprüft, gegebenenfalls angepasst oder abgebaut.10 Entschließt sich der Staat zum Abbau von Umweltsubventionen, haben seine Maßnahmen nicht lediglich eine ordnungs- und finanzpolitische Dimension. Aus der Sicht der bislang Begünstigten geht es auch um klassische grundrechtliche Probleme. Insbesondere erhebt sich die Frage, ob und inwieweit der Staat beim Abbau von Subventionen in verfassungsrechtliche Rechtspositionen der Begünstigten, namentlich in ihr Eigentumsund Berufsgrundrecht, eingreift und inwieweit die Begünstigten Vertrauensschutz genießen.11 Vor allem der Aspekt des Vertrauensschutzes war in den vergangenen Jahren Gegenstand juristischer Diskussionen, und zwar nicht nur bei den im vorliegenden Beitrag zu behandelnden staatlichen Umweltsubventionen, sondern auch bei den staatlich angeordneten subventionsähnlichen Mitteltransfers zwischen Privaten.12 Aktuelles Beispiel hierfür ist die – auch vom Jubilar vor kurzem thematisierte – Reduktion der Förderung der Solarindustrie.13 Um die aufgezeigten Themen zu erörtern, werden unter II. zunächst die unterschiedlichen Arten der Umweltsubventionen dargestellt. Den Schwerpunkt des Beitrags bilden unter III. freiheitsrechtliche Aspekte des Subventionsabbaus, insbeson6 Ziff. 1.1. der Richtlinie zur Förderung des Absatzes von Personenkraftwagen vom 20. 2. 2009, http://www.bafa.de/bafa/de/wirtschaftsfoerderung/umweltpraemie/dokumente/foederrichtlinie_umweltpraemie.pdf (Okt. 2011). 7 § 3b KraftStG. 8 M. Rodi, Steuervergünstigungen als Instrument der Umweltpolitik, StuW 1994, 204 (212); Lübbe-Wolff (o. Fußn. 2), 489. 9 Lübbe-Wolff (o. Fußn. 2), 489 (Zitat); Rodi (o. Fußn. 8), 212. 10 Vgl. Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Finanzhilfen des Bundes und der Steuervergünstigungen für die Jahre 2009 – 2012 (23. Subventionsbericht), BTDrs. 17/6795, Rdnr. 3. 11 s. hierzu auch J. Hey, Abbau von Direktsubventionen und Steuervergünstigungen – verfassungsrechtliche terra incognita, StuW 1998, 298 ff.; B. Spilker, Verfassungsrechtliche Überlegungen zum Thema Subventionsvergabe und Subventionsabbau, DVBl 2011, 458 ff.; G. Jochum, Die Steuervergünstigung, 2006, S. 329 ff. 12 s. zu dieser Unterscheidung Lübbe-Wolff (o. Fußn. 2), 489 f. 13 H.-J. Papier/C. Krönke, Investitionen in Erneuerbare Energien und Vertrauensschutz, REE 2012, 1 (9 f.); s. ferner M. Kment, Das Ende der sonnigen Zeiten für die Solarindustrie nach der Kürzung der Vergütungsansprüche, NVwZ 2012, 397 ff.; W. Frenz, Reduzierte Solarförderung – keine Abkehr von der Energiewende, IR 2012, 76 f.

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dere Fragen des Eigentums- und des Vertrauensschutzes. Gleichheitsrechtliche Aspekte werden nicht ausführlich diskutiert, sondern im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung kurz angesprochen.14 II. Kategorien von Umweltsubventionen Umweltsubventionen lassen sich, wie andere Subventionen auch, in Leistungsund Verschonungssubventionen unterteilen.15 Während bei Leistungssubventionen der Empfänger aus staatlichen Mitteln Zuwendungen erhält, wird er bei Verschonungssubventionen von einer Abgabenlast, insbesondere durch Steuervergünstigungen, befreit.16 Beide Subventionsformen weisen die Gemeinsamkeit auf, dass der Staatshaushalt belastet wird, und zwar durch Mehrausgaben oder Mindereinnahmen.17 Zudem bezweckt der Staat in beiden Fällen, ein bestimmtes Verhalten der Subventionsempfänger anzuregen, diese also durch die Subventionsgewährung zu lenken.18 Die umweltbezogenen Leistungssubventionen des Bundes19 beruhen selten auf einer fachgesetzlichen Grundlage. Beispiele sind § 41 BWaldG20 oder §§ 13 ff. EEWärmeG. Häufiger werden Leistungssubventionen durch Zuschüsse, Zuwendungen oder zinsgünstige Darlehen auf der Basis von Förderrichtlinien gewährt.21 Die Verwaltungspraxis stützt sich dabei auf die herrschende Rechtsauffassung, wonach den Empfänger begünstigende Subventionen prinzipiell keiner gesetzlichen Grundlage bedürften, die Bereitstellung der Mittel im Haushaltsplan in Verbindung mit konkretisierenden Förderrichtlinien vielmehr ausreichend seien.22 Aktuelle Beispiele sind etwa die Richtlinien des Bundesumweltministeriums zur Förderung von Investitio14

Vgl. zu gleichheitsrechtlichen Problemen auch Spilker (o. Fußn. 11), 465 f. Gebräuchlich ist auch die terminologische Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Umweltsubventionen, s. etwa Kloepfer (o. Fußn. 1), § 5 Rdnr. 193 ff.; Erbguth/Schlacke (o. Fußn. 5), § 5 Rdnr. 86. Enger z. T. Ansichten, die den verwaltungsrechtlichen Subventionsbegriff auf Leistungssubventionen beschränken, vgl. etwa H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2011, § 17 Rdnr. 4. 16 Kämmerer (o. Fußn. 1), § 124 Rdnr. 12; Maurer (o. Fußn. 15), § 17 Rdnr. 4; Ziekow (o. Fußn. 1), § 6 Rdnr. 9. 17 Hey (o. Fußn. 11), 301; Kämmerer (o. Fußn. 1), § 124 Rdnr. 12. 18 Rodi (o. Fußn. 1), S. 62; Ziekow (o. Fußn. 1), § 6 Rdnr. 12; aus steuerrechtlicher Sicht: J. Lang, Rechtsstaatliche Ordnung des Steuerrechts, in: Tipke/Lang (Hrsg.), Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rdnr. 21; Jochum (o. Fußn. 11), S. 49. 19 Außen vor bleiben im Folgenden Umweltschutzsubventionen der Bundesländer und der EU; vgl. zu Letzteren K. Meßerschmidt, Europäisches Umweltrecht, 2011, § 5 Rdnr. 138 ff. 20 Rodi (o. Fußn. 1), S. 50. 21 Erbguth/Schlacke (o. Fußn. 5), § 5 Rdnr. 86. 22 Vgl. BVerwGE 6, 282 (287 f.); E 104, 220 (222); Kämmerer (o. Fußn. 1), § 124 Rdnr. 31; U. Ramsauer, Allgemeines Umweltverwaltungsrecht, in: Koch (Hrsg.), Umweltrecht, 3. Aufl. 2010, § 3 Rdnr. 95; Ziekow (o. Fußn. 1), § 6 Rdnr. 14 f. 15

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nen mit Demonstrationscharakter zur Vermeidung von Umweltbelastungen23 oder die Richtlinien zur Förderung von Maßnahmen an gewerblichen Kälteanlagen24. Beide Richtlinien schließen – insoweit typisch für Förderrichtlinien – unmittelbare rechtliche Ansprüche auf Förderung aus und stellen die Förderung unter den Vorbehalt der verfügbaren Haushaltsmittel.25 Die Bewilligung der Förderung steht nach den Richtlinien im pflichtgemäßen Ermessen der zuständigen Behörde.26 Im Unterschied zu Leistungssubventionen bedürfen Verschonungssubventionen, die den Steuerpflichtigen von der Regelbesteuerung entlasten, einer gesetzlichen Grundlage.27 Sie erscheinen im Unterschied zu Leistungssubventionen nicht ausdrücklich im Haushaltsplan.28 Aktuelle umweltbezogene Verschonungssubventionen finden sich im Energiesteuergesetz, z. B. die Steuerbefreiung für gasförmige Energieerzeugnisse (§ 28 EnergieStG) oder die Steuerentlastung für Biokraftstoffe (§ 50 EnergieStG), und im Kraftfahrzeugsteuergesetz,29 z. B. die Steuerbefreiung für besonders schadstoffreduzierte Pkw mit Selbstzündungsmotor (§ 3b KraftStG) und für Elektrofahrzeuge (§ 3d KraftStG).30 III. Freiheitsrechtliche Aspekte des Abbaus von Umweltsubventionen Werden Leistungs- oder Verschonungssubventionen abgebaut, indem etwa die einschlägige steuergesetzliche Grundlage zu Lasten der bisher Begünstigten geändert wird oder eine Förderrichtlinie aufgehoben wird und keine Zuschüsse mehr geleistet werden, richtet sich der Blick des Verfassungsrechts auf die grundrechtliche Relevanz derartiger Maßnahmen. Erörterungsbedürftig ist, welche Grenzen Freiheitsrechte, namentlich das Eigentumsgrundrecht, subventionsabbauenden Maßnahmen des Staates setzen und ob Begünstigte einen Anspruch auf Beibehaltung der Subventionen haben. Außen vor bleiben in diesem Zusammenhang Aspekte der 23

http://www.bmu.de/files/pdfs/allgemein/application/pdf/pilotprojekte_richtlinie_bf. pdf (Okt. 2011). 24 http://www.bmu.de/files/pdfs/allgemein/application/pdf/foerderrichtlinie_kaelte.pdf (Okt. 2011). 25 Vgl. Ziff. 1.2. der Richtlinie zur Förderung von Investitionen mit Demonstrationscharakter zur Verminderung von Umweltbelastungen (o. Fußn. 23); Ziff. 1.3. der Richtlinien zur Förderung von Maßnahmen an gewerblichen Kälteanlagen (o. Fußn. 24). 26 Vgl. o. Fußn. 25. 27 P. Kirchhof, Steuersubventionen, in: FS Selmer, 2004, S. 745 (750); J. Hey, Wirtschaftslenkende Steuervergünstigungen, in: Tipke/Lang (Hrsg.), Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 19 Rdnr. 5. 28 Hey (o. Fußn. 27), § 19 Rdnr. 6; Kirchhof (o. Fußn. 27), S. 751; Maurer (o. Fußn. 15), § 17 Rdnr. 4. 29 s. zur Bemessungsgrundlage für die Kraftfahrzeugsteuer § 8 KraftStG. 30 s. hierzu und zu weiteren Beispielen M. Kloepfer, Umweltschutzrecht, 2. Aufl. 2011, § 4 Rdnr. 100; Erbguth/Schlacke (o. Fußn. 5), § 5 Rdnr. 86.

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Rücknahme oder des Widerrufs bereits bewilligter Subventionen nach Maßgabe der §§ 48, 49 VwVfG, auch soweit die Rückforderung durch das EU-Beihilferecht determiniert ist.31 1. Eigentumsgarantie Will der Staat eine umweltbezogene Verschonungssubvention reduzieren oder die Bezuschussung umweltbezogener Projekte, wie der Errichtung von Anlagen zur Nutzung von Biomasse,32 beenden, könnten sich die Begünstigten auf eine Verletzung des Eigentumsgrundrechts berufen. Vom Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG werden vermögenswerte private Rechte und unter bestimmten Voraussetzungen auch subjektive öffentliche Rechte erfasst.33 Da Umweltsubventionen auf der Grundlage öffentlich-rechtlicher Regelwerke bewilligt werden, ist der Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts eröffnet, wenn den Begünstigten ein subjektiv öffentliches Recht auf Beibehaltung der Subvention zusteht.34 Eine öffentlich-rechtliche Rechtsposition fällt nach der Rechtsprechung des BVerfG nur dann unter den Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG, wenn sie Äquivalent eigener Leistungen ist.35 Beruht die Rechtsposition auf einseitiger staatlicher Gewährung, wird Eigentumsschutz versagt,36 da Art. 14 GG „kein Gewährungs- oder Bereicherungsgebot zu Lasten des Staates beinhaltet“.37 Nach diesen Maßstäben besteht kein aus Art. 14 Abs. 1 GG resultierendes Recht auf Beibehaltung einer Umweltsubvention. Leistungssubventionen beruhen auf einseitigen staatlichen Zuwendungen.38 Die Antragsteller müssen zwar bestimmte Voraussetzungen erfüllen, damit sie in den Genuss der Subvention kommen.39 Die zu erfüllenden Anforderungen sind aber mit einer „durch Einsatz von Arbeit oder Kapital erworbene(n) Rechtsposition“ nicht gleichzusetzen.40 Zudem haben die Antragsteller, soweit sie sich auf die Förderrichtlinien des Bundesumweltministeriums berufen, keinen originären Anspruch auf Subventionsgewährung, sondern nur einen 31

Vgl. dazu etwa Ziekow (o. Fußn. 1), § 6 Rdnr. 7 ff. Vgl. § 14 Abs. 1 Nr. 2 EEWärmeG. 33 Vgl. etwa BVerfGE 58, 300 (335 f.); E 69, 272 (299 f.); E 95, 84 (82); H.-J. Papier, in: Maunz-Dürig, GG, Art. 14 (2010) Rdnr. 55; J. Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 14 Rdnr. 39. 34 s. zu den eigentumsrechtlichen Problemen auch V. Götz, Recht der Wirtschaftssubventionen, 1966, S. 279 f.; K. H. Friauf, Ordnungsrahmen für das Recht der Subventionen, 55. DJT, 1984, M 21 f.; Hey (o. Fußn. 11), 308 ff.; Spilker (o. Fußn. 11), 462 ff.; K.-A. Schwarz, Subventionsabbau im Spannungsfeld von politischer Gestaltungsfreiheit und grundrechtlicher Bindung, JZ 2004, 79 (81 f.); M. Wild, Grundrechtseingriff durch Unterlassen staatlicher Leistungen?, DÖV 2004, 366 (370 f., 372 f.). 35 BVerfGE 18, 392 (397); E 48, 403 (413); E 72, 175 (193); E 97, 271 (284). 36 BVerfGE 48, 403 (413); E 72, 175 (193). 37 Papier (o. Fußn. 33), Art. 14 Rdnr. 132. 38 Vgl. BVerfGE 48, 403 (412 f.); E 72, 175 (193 ff.); E 78, 249 (277); H. D. Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 12. Aufl. 2012, Art. 14 Rdnr. 13. 39 Vgl. BVerfGE 72, 175 (195). 40 Vgl. BVerfGE 97, 67 (83). 32

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Anspruch auf pflichtgemäße Ermessensausübung.41 Auch bei Verschonungssubventionen vermittelt Art. 14 GG prinzipiell kein Recht auf Beibehaltung. Denn das gesetzliche Angebot einer Steuervergünstigung, z. B. der Steuerbefreiung für besonders schadstoffreduzierte Pkw, ist mangels Eigenleistung kein Eigentum im Sinne von Art. 14 Abs. 1 GG.42 Auch wenn Art. 14 Abs. 1 GG insoweit kein Recht auf Beibehaltung der Subvention gewährt, könnte der Subventionsabbau in „subventionsfreie Eigentumspositionen“ eines bislang Begünstigten eingreifen.43 Zu denken ist an die Konstellation, in der ein Unternehmen – veranlasst durch den öffentlichen Subventionsgeber – erhebliche umweltfreundliche Investitionen tätigt und dabei Produktionsmittel und Anlagen anschafft. Gerät das Unternehmen infolge eines Subventionsentzugs in wirtschaftliche Schwierigkeiten, kann sich die Frage des grundrechtlichen Eigentumsschutzes stellen.44 In einer derartigen Konstellation fallen zumindest die bereits erworbenen Anlagen und sonstigen Wirtschaftsgüter des Unternehmens in den Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG. Zweifelhaft ist aber, ob der Entzug der Subvention einen Grundrechtseingriff darstellt.45 Art. 14 Abs. 1 GG schützt im Sinne einer Bestands- und Nutzungsgarantie das „Haben“ sowie die freie Nutzung einer Eigentumsposition.46 Ein eigentumsrelevanter Eingriff liegt nicht vor, da das Nutzungsrecht des Unternehmenseigentümers an den erworbenen Anlagen weiter besteht, auch wenn das Unternehmen in eine ökonomische Schieflage gerät. Selbst wenn man auf das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb abstellt,47 wird man keinen eigentumskräftigen Schutz bejahen können. Art. 14 GG schützt nicht eine etwaige subventionsbedingte günstige Marktstellung eines Betriebs und auch nicht dessen Erwerbs- und Gewinnchancen.48 Eigentumsschutz könnte allerdings in Betracht kommen, wenn das Unternehmen nach einem Subventionsentzug gezwungen ist, Wirtschaftsgüter zu veräußern oder den Betrieb aufzugeben. In einem solchen Fall wird die individuelle Zuordnung einzelner vermögenswerter Rechtspositionen zum Eigentümer aufgehoben.49 Doch auch hier ist zu prüfen, ob der Subventionsentzug als ein – mittelbarer – Grundrechts41 Hiervon zu unterscheiden und vorliegend nicht zu diskutieren sind durch Subventionsbescheid bereits bewilligte Förderungen. Der Subventionsbescheid begründet einen Rechtsanspruch. 42 Vgl. BVerfGE 97, 67 (83); E 105, 17 (32). s. zum Ganzen auch Jochum (o. Fußn. 11), S. 329 ff. 43 Vgl. dazu Hey (o. Fußn. 11), 311 ff.; s. ferner BVerwGE 126, 33 (57 f.). 44 Hey (o. Fußn. 11), 311. 45 Dagegen BVerwG, in: E 126, 33 (57 f.). 46 BVerfGE 88, 366 (377); E 101, 54 (74 f.); Papier (o. Fußn. 33), Art. 14 Rdnr. 8; R. Wendt, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 14 Rdnr. 41. 47 Vgl. dazu Papier (o. Fußn. 33), Art. 14 Rdnr. 95 ff. m. w. N. 48 BVerfGE 77, 84 (118); Wieland (o. Fußn. 33), Art. 14 Rdnr. 50. 49 BVerfGE 105, 17 (31).

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eingriff zu qualifizieren ist.50 Mit dem Subventionsentzug greift der Staat nicht zielgerichtet in die Rechtspositionen des Eigentümers ein. Daher fehlt es an der Finalität einer eingreifenden Maßnahme. Zudem kommt es darauf an, ob primär der Subventionsentzug oder die unzulängliche Wettbewerbsposition des Unternehmens auf dem Markt zum Verlust der eigentumsrechtlichen Rechtspositionen geführt hat. Angesprochen ist die Frage, ob die staatliche Maßnahme für den Grundrechtseingriff kausal war. Häufig wird das nicht der Fall sein, so dass ein Eigentumsschutz nicht besteht. Bejaht man gleichwohl die Kausalität und damit einen Eingriff, ist der Subventionsentzug eine Inhalts- und Schrankenbestimmung, die den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit zu genügen hat.51 2. Berufsfreiheit Durch den Abbau von Umweltsubventionen könnten die bislang Begünstigten zudem auch in ihrem Grundrecht auf Berufsfreiheit tangiert sein. Soweit der Staat punktuell Leistungssubventionen gewährt, z. B. einmalige Zuschüsse oder Darlehen zur Errichtung emissionsarmer Anlagen, und nach Ausschöpfung der vorgesehenen Finanzmittel die Zahlungen einstellt, ist dies aus der Perspektive des Art. 12 Abs. 1 GG unproblematisch. Denn die Begünstigten haben keinen auf Art. 12 Abs. 1 GG gestützten Anspruch auf Fortsetzung der staatlichen Subvention.52 Das Gleiche gilt, wenn der Staat fortlaufend gewisse umweltfreundliche Projekte, z. B. umweltfreundliche Produktionsverfahren, mit einem bestimmten Fördergesamtbetrag subventioniert. Werden die Zahlungen eingestellt, nachdem die Finanzmittel verbraucht sind, entfällt zwar eine günstige Rahmenbedingung für die wirtschaftliche Betätigung der Subventionierten. Ein Eingriff in die Berufsfreiheit ist aber damit nicht verbunden. Insbesondere führt die Einstellung der Subventionierung nicht zu Wettbewerbsnachteilen einzelner Akteure, wenn sie alle auf dem Markt agierenden Wettbewerber in gleicher Weise trifft.53 Kürzt oder beseitigt der Gesetzgeber eine Verschonungssubvention (Steuervergünstigung), können seine Maßnahmen mittelbare Auswirkungen auf die berufliche Tätigkeit der bislang Begünstigten haben. Das BVerfG vertritt bei Regelungen, die mittelbare Auswirkungen auf die Berufsfreiheit haben, eine tendenziell restriktive, wenn auch nicht unumstrittene Linie.54 Damit soll verhindert werden, dass Art. 12 50

Vgl. dazu allgemein Jarass (o. Fußn. 38), Art. 14 Rdnr. 30 ff.; Wendt (o. Fußn. 46), Art. 14 Rdnr. 52 f. 51 Vgl. dazu auch Spilker (o. Fußn. 11), 464. 52 BVerfGE 82, 209 (223); BVerfG, NVwZ 2002, 197 (198); BVerwGE 35, 268 (275); s. auch H. D. Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 12. Aufl. 2012, Art. 12 Rdnr. 25. 53 Anders die Konstellation der Vorenthaltung staatlicher Leistungen gegenüber einzelnen Konkurrenten, vgl. dazu G. Manssen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 12 Rdnr. 90 f. 54 Vgl. dazu und zur Kritik z. B. Manssen (o. Fußn. 53), Art. 12 Rdnr. 74 ff.; J. Dietlein, in: Stern, StR IV/1, 2006, S. 1842 ff.

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GG „konturlos“ wird, da viele Vorschriften „unter bestimmten Voraussetzungen Rückwirkungen auf die Berufstätigkeit haben“ können.55 Nach der Rechtsprechung des Gerichts greift eine steuerrechtliche Regelung nur dann in den Schutzbereich des Art. 12 GG ein, wenn die einschlägige Norm „infolge ihrer Gestaltung in einem engen Zusammenhang mit der Ausübung eines Berufs“ steht und „objektiv eine berufsregelnde Tendenz“ hat.56 Es muss also feststellbar sein, welcher konkrete Personenkreis in seiner Berufsfreiheit betroffen wird.57 Knüpft eine steuerrechtliche Norm ohne unmittelbaren Bezug zu einem Beruf „an generelle Merkmale wie Gewinn, Ertrag oder Vermögen“ an, fehlt die berufsregelende Tendenz.58 Daher würde die Reduktion der Steuerbefreiung für besonders schadstoffreduzierte Pkw mit Selbstzündungsmotor nach § 3b KraftStG nicht die Berufsfreiheit der Fahrzeughersteller beeinträchtigen, da die Steuerpflicht grundsätzlich diejenigen trifft, für die das Fahrzeug zugelassen ist,59 und in keinem engen Zusammenhang mit einem bestimmten Beruf steht. 3. Allgemeine Handlungsfreiheit a) Schutzbereich und Eingriff Soweit sich bislang Begünstigte beim Abbau einer Subvention weder auf die Eigentums- noch auf die Berufsfreiheit berufen können, könnten sie jedenfalls in ihrem Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) beeinträchtigt sein. Art. 2 Abs. 1 GG verbürgt die Handlungsfreiheit im wirtschaftlichen und vermögensrechtlichen Bereich.60 Gewährt der Staat eine umweltbezogene Leistungssubvention nicht weiter, weil etwa die Mittel ausgeschöpft sind, liegt darin kein Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit vor. Zwar treffen subventionierte Unternehmen häufig Investitionsentscheidungen, für die die Existenz oder der Fortbestand von Subventionen bedeutsam sind.61 Aus Art. 2 Abs. 1 GG kann aber kein Leistungsanspruch im Sinne eines Anspruchs auf staatliche Förderung hergeleitet werden.62 Demgegenüber wird durch den Abbau einer Verschonungssubvention in die allgemeine Handlungsfreiheit der bislang Subventionierten eingegriffen, da die Beseitigung der steuerlichen Vergünstigung für den Gesetzesadressaten eine belastende 55

BVerfGE 97, 228 (253 f.); Jarass (o. Fußn. 52), Art. 12 Rdnr. 15. BVerfGE 13, 181 (186); E 47, 1 (21); E 110, 274 (288); E 123, 132 (139). s. ferner R. Scholz, in: Maunz-Dürig, GG, Art. 12 (2006) Rdnr. 426 ff.; J. Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 12 Rdnr. 85. 57 BVerfGE 47, 1 (21). 58 BVerfGE 47, 1 (21). 59 Vgl. § 7 Nr. 1 KraftStG. 60 Vgl. dazu etwa U. Di Fabio, in: Maunz-Dürig, GG, Art. 2 (2001) Rdnr. 77 ff.; K. Stern, in: ders., StR IV/1, 2006, S. 898 ff. 61 Spilker (o. Fußn. 11), 465. 62 Vgl. auch H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Vorb. Rdnr. 90. A. A. Spilker (o. Fußn. 11), 465. 56

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Wirkung hat.63 Soweit der Gesetzgeber durch den Abbau einer Verschonungssubvention die allgemeine Handlungsfreiheit der bislang Subventionierten beeinträchtigt, muss die gesetzliche Maßnahme gerechtfertigt sein, um der verfassungsrechtlichen Prüfung Stand halten zu können. Relevant sind die Aspekte der Verhältnismäßigkeit und der Rückwirkung, die im Folgenden näher beleuchtet werden. b) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Abbaus von Verschonungssubventionen aa) Verhältnismäßigkeit Hebt der Gesetzgeber eine Verschonungssubvention auf, stellt er die steuerliche Regelbelastung für den betroffenen Adressatenkreis wieder her.64 Die Wiederherstellung der Regelbelastung ist nach der Rechtsprechung des BVerfG für sich genommen mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar.65 Da der „Abbau einer nicht mehr gerechtfertigten Steuersubvention … die folgerichtige Ausgestaltung der steuergesetzlichen Belastungsgründe“ bezwecke, so das BVerfG, werde der Abbau „auch im Hinblick auf die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit grundsätzlich durch einen hinreichenden Legitimationsgrund getragen“.66 Genüge die Belastungsgrundentscheidung den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit, müsse dies auch für die Aufhebungsentscheidung gelten.67 Das BVerfG sieht also die Verhältnismäßigkeit der subventionsabbauenden Maßnahme durch die verhältnismäßige Belastungsgrundentscheidung als „indiziert“ an, weil der Subventionsabbau dazu dient, steuerliche Vorteile für einzelne Steuerpflichtige zu beseitigen und das Prinzip der steuerlichen Lastengleichheit, das im allgemeinen Gleichheitssatz wurzelt, wiederherzustellen.68 Folgt man dieser Auffassung, ist gleichwohl zu prüfen, ob die Verschonungssubvention tatsächlich nicht mehr gerechtfertigt ist. Dies ist jedenfalls in den Fällen zu bejahen, in denen die Subvention ihren Zweck erreicht oder verfehlt hat. Ist etwa eine umweltfreundliche Technologie auch ohne eine Steuersubvention rentabel, kann der Staat die Subvention reduzieren oder aufheben.69 Der Staat muss aber auch dann gegensteuern können, wenn die Subvention ihren Zweck, eine umweltfreundliche Technologie zu fördern, verfehlt. Er hat in dieser Konstellation aber gegebenenfalls für einen schonenden Übergang zu sorgen, um unzumutbare Nachteile für diejenigen zu verhindern, die im Hinblick auf eine Subvention Investitionen

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Vgl. BVerfGE 105, 17 (32 f.). BVerfGE 105, 17 (34). 65 BVerfGE 105, 17 (34). 66 BVerfGE 105, 17 (34). 67 BVerfGE 105, 17 (34). 68 Vgl. BVerfGE 105, 17 (34). 69 Hey (o. Fußn. 11), 315.

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vorgenommen haben. Letztlich geht es hier um den später zu erörternden Aspekt schonender Übergangsnormen.70 bb) Rückwirkung (1) Echte und unechte Rückwirkung Baut der Staat eine umweltbezogene Steuersubvention ab, greift er mitunter auch in noch nicht abgeschlossene Sachverhalte oder Rechtsbeziehungen ein und entwertet die Rechtspositionen des Bürgers nachträglich, indem er z. B. steuerrechtliche Vergünstigungen kürzt und Steuerpflichtige, die im Vertrauen auf die Vergünstigung investiert haben, belastet.71 Nimmt er durch rückwirkende Gesetze auf Sachverhalte aus der Vergangenheit Bezug und ordnet er hierfür Rechtsfolgen an, verdient der Bürger Vertrauensschutz, weil er sein Verhalten nur mit Wirkung für die Zukunft, nicht aber für die Vergangenheit ändern kann.72 Daher ist der Bürger auf „rechtsstaatliche (n) Kontinuitätsgewähr“ angewiesen.73 Das BVerfG unterscheidet bei rückwirkenden Gesetzen zwischen den Kategorien der echten und unechten Rückwirkung. Während im Falle der echten Rückwirkung das Gesetz „nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift“, wirkt das Gesetz im Falle der unechten Rückwirkung „auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft“ ein und entwertet „die betroffene Rechtsposition nachträglich“.74 Die beiden Rückwirkungskategorien unterscheiden sich darin, dass die echte Rückwirkung grundsätzlich für unzulässig, die unechte Rückwirkung hingegen für grundsätzlich zulässig erachtet wird.75 Von diesen Grundsätzen gibt es Ausnahmen. So ist die in der Praxis häufig anzutreffende unechte Rückwirkung unzulässig, wenn sie „zur Erreichung des Gesetzeszwecks nicht geeignet oder erforderlich ist oder wenn die Bestandsinteressen der Betroffenen die Veränderungsgründe des Gesetzgebers überwiegen“.76 Maßgeblich sind hierbei die Art der betroffenen Rechtsgüter, die Intensität der Nachteile und das Ausmaß der Vertrauensbetätigung des Normadressaten.77 Liegt schutzwürdiges Vertrauen vor, muss die gesetzlich angeordnete unechte Rückwirkung nach der neueren Rechtsprechung des BVerfG zum Einkommensteuerrecht strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen

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s. Abschn. III. 3. b) bb). Vgl. BVerfG, NVwZ 2007, 1168 ff.; NVwZ-RR 2011, 378 ff. 72 P. Kirchhof, Rückwirkung von Steuergesetzen, StuW 2000, 221 (224); H. Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Rechtsstaat) Rdnr. 152. 73 Kirchhof (o. Fußn. 72), 224. 74 BVerfGE 11, 139 (145 f.); E 95, 64 (86); E 101, 239 (263); E 122, 374 (394). 75 BVerfGE 95, 64 (86); E 101, 239 (263); E 109, 96 (122); E 127, 1 (16 f.). 76 BVerfGE 95, 64 (86); E 101, 239 (263). 77 M. Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 20 Rdnr. 137; Schulze-Fielitz (o. Fußn. 72), Art. 20 (Rechtsstaat) Rdnr. 168. 71

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genügen.78 Ist dies nicht der Fall und überwiegen die Veränderungsgründe des Gesetzgebers die Bestandsinteressen der Betroffenen, kann es geboten sein, angemessene Übergangsregelungen vorzusehen.79 (2) Verschonungssubventionen und Dispositionsschutz Auch im Bereich der umweltbezogenen Verschonungssubventionen stellt sich die Frage, ob und in welchem Umfang der Gesetzesadressat Vertrauensschutz genießt, wenn er eine staatliche Subvention in Anspruch nimmt und vermögensrelevante Dispositionen trifft, die der Staat durch rückwirkende Gesetzgebung beeinträchtigt. Verschonungssubventionen sind, wie erwähnt, Steuervergünstigungen, die einen Lenkungszweck aufweisen.80 Bei diesen und anderen Lenkungsnormen wird vor allem im steuerrechtlichen Schrifttum ein erhöhter Vertrauens- und Dispositionsschutz gefordert.81 Sei der Bürger durch eine verhaltenslenkende Steuervergünstigung zu einer bestimmten Disposition veranlasst worden und habe er im Vertrauen auf die angebotene Verschonungssubvention eine Investition getätigt, sei dadurch eine qualifizierte Vertrauensgrundlage geschaffen worden.82 Durch die Inanspruchnahme des Vergünstigungstatbestandes sei zwischen Staat und Bürger ein besonderes Näheverhältnis in Gestalt eines Subventionsrechtsverhältnisses entstanden, durch das der Bürger vor einem „venire contra factum proprium“ des Staates geschützt sei.83 Der Bürger, der auf der Basis einer Lenkungsnorm plane, sei in einer für den Gesetzgeber erkennbaren Weise schutzbedürftig.84 Daher seien „an die rückwirkende Änderung von Lenkungsnormen besonders hohe Anforderungen zu stellen“.85 Vergleicht man die soeben referierte Ansicht mit der Rechtsprechung des BVerfG,86 erkennt man, dass auch das BVerfG die Dispositionsinteressen des Gesetzesadressaten bei der Kürzung von Verschonungssubventionen berücksichtigt. So er78 BVerfGE 127, 1 ff.; E 127, 31 ff.; E 127, 61 ff. s. dazu etwa M. Desens, Die neue Vertrauensschutzdogmatik des Bundesverfassungsgerichts für das Steuerrecht, StuW 2011, 113 (117 ff., 124 ff.); D. Birk, Der Schutz vermögenswerter Positionen bei der Änderung von Steuergesetzen, FR 2011, 1 ff. 79 Vgl. etwa BVerfGE 43, 242 (288); E 67, 1 (15); H. Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbStR IV, 3. Aufl. 2006, § 79 Rdnr. 74. 80 s. Abschn. II. 81 Vgl. etwa M. Jachmann, Wenn die Rückwirkung zur gesetzgeberischen Routine wird, …, in: FS Raupach, 2006, S. 27 (32 ff.); Lang (o. Fußn. 18), § 4 Rdnr. 179 ff.; K. Vogel, Rechtssicherheit und Rückwirkung zwischen Vernunftrecht und Verfassungsrecht, JZ 1988, 833 (838); J. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 313 ff.; Jochum (o. Fußn. 11), S. 345 ff. 82 Kirchhof (o. Fußn. 72), 227; Jochum (o. Fußn. 11), S. 346. 83 Hey (o. Fußn. 81), S. 313 f.; Jachmann (o. Fußn. 81), S. 35. 84 Hey (o. Fußn. 81), S. 314. 85 Jachmann (o. Fußn. 81), S. 37. 86 Die neuere Rechtsprechung des BVerfG zur unechten Rückwirkung (o. Fußn. 78) stärkt zwar die Position des Bürgers in bestimmten Konstellationen schutzwürdigen Vertrauens, befasst sich aber nicht mit der Thematik der Verschonungssubventionen.

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kennt das BVerfG an, dass bestimmte Steuervergünstigungen, z. B. Steuerbefreiungen für Wertpapiere, die maßgebliche Kalkulationsgrundlage für die Investitionsentscheidung des Gesetzesadressaten darstellten und dieser ohne die Vergünstigung die Investition nicht vorgenommen hätte.87 Allerdings könnten Steuerpflichtige, so das Gericht, „grundsätzlich nicht darauf vertrauen, dass der Gesetzgeber steuerliche Vergünstigungen, die er zu sozial- oder wirtschaftpolitischen Zwecken“ gewähre, „uneingeschränkt auch für die Zukunft aufrecht“ erhalte.88 „Insbesondere dann, wenn die beeinträchtigte Rechtsposition auf staatlicher Gewährung“ beruhe, gehe „der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz nicht so weit, den Steuerpflichtigen vor jeder Enttäuschung zu bewahren“.89 Selbst wenn umfangreiche Dispositionen „in Millionenhöhe“ vorgenommen würden, begründe dies „grundsätzlich noch keinen abwägungsresistenten Vertrauensschutz“.90 Versucht man die unterschiedliche Schwerpunktsetzung der beiden skizzierten Ansichten zu bewerten, wird man zunächst konstatieren, dass Private meist vermögensrelevante Entscheidungen oder Investitionen im Vertrauen auf steuerrechtliche Vergünstigungstatbestände treffen und insoweit Dispositionsschutz verdienen. Sie müssen sich aber im Klaren sein, dass sie durch die freiwillige Inanspruchnahme91 einer Verschonungssubvention ein monetäres oder unternehmerisches Risiko eingehen und hierfür letztlich die Verantwortung tragen.92 Bevor sie vermögensrelevante Dispositionen treffen und ihr Verhalten den Voraussetzungen der Vergünstigung anpassen,93 haben sie zu vergegenwärtigen, dass eine etwaige Hoffnung oder Erwartung, die geltende günstige Rechtslage werde unverändert fortbestehen, nicht schutzwürdig ist.94 In die private oder unternehmerische Kalkulation müssen also auch die Risiken der staatlichen Rahmenbedingungen einfließen, zu denen die spätere Rücknahme bzw. Beseitigung der Subventionen gehören.95 Zudem unterscheidet sich die Rolle des Gesetzgebers von derjenigen eines Vertragspartners in einem öffentlichoder privatrechtlichen Vertrag. Der Gesetzgeber muss sich an rechtsstaatliche und grundrechtliche Standards halten, weniger an den Grundsatz des „venire contra factum proprium“.

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BVerfGE 105, 17 (38 f.); s. auch BVerfGE 97, 67 (80). BVerfGE 105, 17 (40). 89 BVerfGE 105, 17 (40); E 48, 403 (416). 90 BVerfGE 105, 17 (44). 91 Nicht fernliegend ist allerdings die „Gefahr der Freiheitsverkürzung durch faktisch unverzichtbare Subventionen“, wenn Private in einer Konkurrenzsituation sind und sich einen Subventionsverzicht nicht leisten können; vgl. dazu Kloepfer (o. Fußn. 1), § 5 Rdnr. 199; Hey (o. Fußn. 11), 309. 92 Vgl. R. Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 420. A. A. Hey (o. Fußn. 81), S. 314. 93 Vgl. Hey (o. Fußn. 81), S. 314. 94 BVerfGE 38, 61 (83); E 105, 17 (40). 95 Vgl. Wernsmann (o. Fußn. 92), S. 420. 88

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Abgesehen von diesem Aspekt wird das Vertrauen des Gesetzesadressaten in Rückwirkungskonstellationen mitunter auch durch gesetzgeberische Maßnahmen eingeschränkt, die ihrerseits verfassungsrechtlich nicht unzulässig sind. Dies illustriert ein Fall, mit dem sich auch das BVerfG beschäftigte: Der Gesetzgeber hatte mit Wirkung zum 1. 1. 2004 eine bis Ende 2009 befristete Steuerbefreiung für Biokraftstoffe in das Mineralölsteuergesetz eingefügt.96 Damit verfolgte er das Ziel, den Kostennachteil bei der Herstellung von Biokraftstoffen im Vergleich zur Produktion fossiler Kraftstoffe auszugleichen und die Herstellung von Biokraftstoffen zu fördern.97 Die Steuervergünstigung wurde aber bereits 2006 modifiziert98 und schrittweise reduziert (vgl. § 50 Abs. 3 EnergieStG).99 Zudem wurde für Otto- oder Dieselkraftstoffe ein obligatorischer Mindestanteil an Biokraftstoff eingeführt, der von der Steuerentlastung ausgenommen wurde.100 Die gegen die gesetzliche Kürzung der Verschonungssubvention erhobene Verfassungsbeschwerde der Unternehmen, die Biokraftstoffe produzierten und vertrieben, wies das BVerfG ab.101 Das BVerfG ließ zwar offen, ob § 50 EnergieStG – aufgrund der vorzeitigen Reduktion der Steuervergünstigung – ein Gesetz mit unechter Rückwirkung sei.102 Jedenfalls war der Vertrauensschutz nach Ansicht des Gerichts von Anfang an eingeschränkt, weil die Steuerbefreiung im Mineralölsteuergesetz einen Prüfvorbehalt im Hinblick auf eine Überkompensation der bei der Produktion anfallenden Mehrkosten beinhaltete103 und daher von Anfang an normativ vorbelastet war.104 Zudem sollte durch die Einführung des obligatorischen Mindestanteils an Biokraftstoff den Biokraftstoffherstellern und -vertreibern weiterhin ein ertragreicher Absatzmarkt gesichert werden.105 Damit sollten Nachteile bei der Reduktion der Steuerentlastung jedenfalls teilweise ausgeglichen werden.106 Die Entscheidung zeigt, dass der Gesetzgeber über unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten verfügt, um das Vertrauen der Gesetzesadressaten in Verschonungssubventionen von vornherein einzuschränken oder mögliche durch die Rückführung der Steuerentlastung entstehende finanzielle Nachteile zu kompensieren. Der Vertrauens- und Dispositionsschutz wird dabei nicht aufgehoben, sondern nivelliert. Die allgemeinen Anforderungen an gesetzliche Maß96

Vgl. Art. 17 Nr. 2 Steueränderungsgesetz 2003 v. 15. 12. 2003, BGBl. I S. 2645. Bericht zur Steuerbegünstigung für Biokraft- und Bioheizstoffe, BT-Drucks. 15/5816, S. 2, 4. 98 Gesetz zur Neuregelung der Besteuerung von Energieerzeugnissen und zur Änderung des Stromsteuergesetzes v. 15. 7. 2006, BGBl. I S. 1534. 99 Vgl. BVerfG, NVwZ 2007, 1168. 100 Vgl. §§ 50 Abs. 1 S. 4 EnergieStG; 37a BImSchG; BVerfG, NVwZ 2007, 1168. 101 BVerfG, NVwZ 2007, 1168 ff.; s. ferner BVerfG, NVwZ-RR 2011, 378 ff.: Rückführung der Steuerentlastung für Pflanzenölkraftstoffe. 102 BVerfG, NVwZ 2007, 1168 (1169). 103 Vgl. § 2a Abs. 3 MinöStG i. d. F. des Steueränderungsgesetzes 2003 (o. Fußn. 96). 104 BVerfG, NVwZ 2007, 1168 (1170). 105 BVerfG, NVwZ 2007, 1168 (1171). 106 BVerfG, NVwZ 2007, 1168 (1171). 97

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nahmen mit unechter Rückwirkung bleiben bestehen. Der Gesetzgeber kann also verpflichtet sein, abrupte Kursänderungen zu unterlassen und einen stufenweisen Abbau der Vergünstigung bzw. angemessene Übergangsregelungen vorzusehen.107 Ein erhöhter Vertrauensschutz kann allerdings in den Fällen bestehen, in denen ein Gesetz quasi eine „Bestandgarantie“ enthält, der Gesetzgeber also zum Ausdruck bringt, dass ein Gesetz jedenfalls bis zu einem angegebenen Zeitpunkt in Kraft bleiben werde.108 IV. Schluss Obschon Umweltsubventionen geeignet sind, Innovationen und Investitionen zugunsten ökologischer Ziele zu fördern,109 bergen sie auch Nachteile in sich, die den Staat veranlassen, Subventionen kontinuierlich zu überprüfen, ihre Effizienz zu analysieren und Fördertatbestände abzubauen. So bergen Umweltsubventionen – wie auch andere Subventionen – mitunter die Gefahr, dass sich unter den Begünstigten eine „Subventionsmentalität“ verfestigt und strukturell notwendige Anpassungen unterbleiben.110 Baut der Staat aus diesen oder anderen Gründen Umweltsubventionen ab, müssen die grundrechtlichen Direktiven eingehalten werden. Dabei ist zunächst zu beachten, dass die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes im Regelfall kein Recht auf Beibehaltung von Umweltsubventionen gewährt. Der Staat greift allerdings in die allgemeine Handlungsfreiheit der bislang Begünstigten ein, wenn er umweltbezogene Verschonungssubventionen kürzt. Beeinträchtigt er durch rückwirkende Gesetze die Rechtsposition der Subventionierten, genießen diese Dispositions- und Vertrauensschutz. Indes kann der Gesetzgeber den Vertrauensschutz unterminieren, indem er etwa Überprüfungsvorbehalte normiert, in kürzeren zeitlichen Abständen Korrekturen vornimmt, Konzeptwechsel statuiert und dabei für eine unsichere Rechtsgrundlage sorgt. Diese Aktivitäten des „hastig und unstetig hin- und herwandelnden … Gesetzgeber(s)“111 sind per se nicht verfassungswidrig, aber rechtspolitisch kritisch zu bewerten. Denn auf Dauer minimieren sie die Durchschlagskraft staatlicher Lenkungsnormen,112 was sich letztlich zum Nachteil der Umweltpolitik auswirkt.

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Vgl. Jachmann (o. Fußn. 81), S. 37; Maurer (o. Fußn. 79), § 79 Rdnr. 74. Maurer (o. Fußn. 79), § 79 Rdnr. 78; s. auch BVerfGE 30, 392 (404). 109 Vgl. Benkert (o. Fußn. 5), 135. 110 Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Finanzhilfen des Bundes und der Steuervergünstigungen für die Jahre 2009 – 2012 (23. Subventionsbericht), BT-Drs. 17/6795, Rdnr. 5. 111 Papier/Krönke (o. Fußn. 13), 10. 112 Vgl. Papier/Krönke (o. Fußn. 13), 10. 108

Anhang

Anhang 1: Publikationen von Hans-Jürgen Papier I. Monographien, Lehrbücher, Kommentierungen 1.

Die Forderungsverletzung im öffentlichen Recht, Schriften zum öffentlichen Recht, Bd. 136, Berlin 1970.

2.

Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, Berlin 1973.

3.

Der verfahrensfehlerhafte Staatsakt, Tübingen 1973.

4.

Die Stellung der Verwaltungsgerichtsbarkeit im demokratischen Rechtsstaat, Berlin 1979.

5.

Der bestimmungsgemäße Gebrauch der Arzneimittel – Die Verantwortung des pharmazeutischen Unternehmers, 1980.

6.

Einführung in das neue StHG, Münchener Kommentar, Bürgerliches Gesetzbuch, Ergänzungsband, 3. Lieferung, 1982.

7.

Möglichkeiten und Grenzen der rechtsverbindlichen Festlegung und Freihaltung von Leitungstrassen durch die Regionalplanung, Münster 1983.

8.

Fälle zum Wahlfach Wirtschaftsverwaltungsrecht, 1. Aufl. 1976, 2. Aufl. 1984.

9.

Gewässerverunreinigung, Grenzwertfestsetzung und Strafbarkeit, Recht-Technik-Wirtschaft, Bd. 34, 1984.

10. Eigentumsgarantie des Grundgesetzes im Wandel, Schriftenreihe der Juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe, Bd. 161, 1984. 11. Altlasten und polizeirechtliche Störerhaftung, Recht-Technik-Wirtschaft, Bd. 39, 1985. 12. Zulassungsbeschränkungen für Ärzte aus verfassungsrechtlicher Sicht, PKV-Dokumentation, Heft 11/1985. 13. Aktuelle Fragen der Staatshaftung und der öffentlich-rechtlichen Entschädigung, zusammen mit Günter Krohn, Köln 1986, RWS-Skript 158. 14. Nordrhein-westfälisches Staats- und Verwaltungsrecht, Metzner-Verlag 1987, Herausgeber zusammen mit D. Grimm. 15. Aufgaben der Deutschen Bundespost bei der terrestrischen Rundfunkversorgung, Band 3 der Schriftenreihe LfK-Dialog, Landesanstalt für Kommunikation Baden-Württemberg, Stuttgart 1989. 16. Maunz-Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Kommentierung zu Art. 14 GG, Lieferung 31, Stand: Mai 1994 (1. Bearbeitung 1983), Lieferung 40, Stand: Juni 2002, Lieferung 58, Stand: Juli 2010. 17. Umweltgesetzbuch – Besonderer Teil, 1994, zusammen mit Jarass, Kloepfer, Kunig, Peine, Rehbinder, Salzwedel und Schmidt-Aßmann.

642

Publikationen von Hans-Jürgen Papier

18. Staats- und Verwaltungsrecht in Bayern, 1996, Herausgeber zusammen mit Berg/Knemeyer/Steiner. 19. Die Regelung von Durchleitungsrechten, Verfassungsrechtliche und energiekartellrechtliche Würdigung, Recht-Technik-Wirtschaft, Bd. 77/1997. 20. Staatshaftungsrecht, Kommentierung zu § 839 BGB im Münchener Kommentar, Bd. 5: Schuldrecht, Besonderer Teil III, 3. Aufl. 1997, S. 1851 – 1994, 4. Aufl. 2004, S. 2086 – 2234, 5. Aufl. 2009, S. 2380 – 2535. 21. Recht der öffentlichen Sachen, 3. Aufl. 1998, 1. Aufl. 1977, 2. Aufl. 1984. 22. Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Kommentierung zu Art. 34 GG, Lieferung 34, Stand: Juni 1998, 1. Bearbeitung 1987, Lieferung 54, Stand: Januar 2009. 23. Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Kommentierung zu Art. 13 GG, Lieferung 36, Stand: Oktober 1999. 24. Lexikon Soziale Marktwirtschaft, herausgegeben von Hasse/Schneider/Weigelt, Kommentierung zu Hans Carl Nipperdey, 2002, S. 55 – 57. 25. Kommentierung zu §§ 53/54, 77 – 81, 90, 91, 104, 106, 109, 113, 132, 133 im Münchener Kommentar, Bd. 11, EGBGB, 4. Auflage 2006. 26. Verfassungsfragen des Dreistufentests. Inhaltliche und verfahrensrechtliche Herausforderungen (zusammen mit M. Schöder), Baden-Baden 2011, S. 5 – 99. 27. Grundkurs Öffentliches Recht 2, Grundrechte (zusammen mit C. Krönke), Heidelberg (u. a.) 2012. 28. Sportwetten und Verfassungsrecht (zusammen mit C. Krönke), Baden-Baden 2012. 29. Wirtschaftlich angemessene Vergütung für Netzanlagen – Zur verfassungskonformen Auslegung des § 46 Abs. 2 Satz 2 EnWG (zusammen mit M. Schröder), Baden-Baden 2012.

II. Aufsätze, Abhandlungen in Sammelwerken und Festschriften 1.

Abschied vom enteignungsgleichen Eingriff?, NJW 1971, S. 2157 f.

2.

Staatshaftung im Bereich der Leistungsverwaltung, DVBl. 1972, S. 601 ff.

3.

Öffentlich-rechtlicher Folgenbeseitigungsanspruch bei Nichterfüllung?, DÖV 1972, S. 845 ff.

4.

Die Beeinträchtigung der Eigentums- und Berufsfreiheit durch Steuern vom Einkommen und Vermögen, in: Der Staat 1972, S. 483 ff.

5.

Verfassungsschutz sozialrechtlicher Rentenansprüche, -anwartschaften und „-erwerbsberechtigungen“, in: Vierteljahresschrift für Sozialrecht, 1973, S. 33 ff.

6.

Ungelöste Fragen beim Vorläufigen Rechtsschutz im öffentlich-rechtlichen Nachbarrecht, Verwaltungsarchiv 1973, S. 283 ff., 399 ff.

7.

Eigentumsgarantie und Geldentwertung, Archiv des öffentlichen Rechts, 1973, S. 528 ff.

8.

Immissionen durch Betriebe der öffentlichen Hand, NJW 1974, S. 1797 ff.

9.

Über Pressefreiheit. Ein Literaturbericht, in: Der Staat 1974, S. 399 ff.

Publikationen von Hans-Jürgen Papier 10.

643

Vertrauensschutz im Verwaltungsrecht, Bericht von der Staatsrechtslehrertagung 1973, DVBl. 1974, S. 77 ff.

11.

Rechtsprobleme der Inflation, Juristische Schulung 1974, S. 477 ff.

12.

Zur Reform des Staatshaftungsrechts, in: Deutsches Verwaltungsblatt 1974, S. 573 ff.

13.

Art. „Folgenbeseitigungsanspruch“, Evangelisches Staatslexikon, 2. Aufl. 1975.

14.

Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, Besprechung der gleichlautenden Schrift Isensees, AöR 1975, S. 640 ff.

15.

Die staatshaftungsrechtlichen Folgen des Fluglotsenstreiks (zusammen mit K. A. Bettermann), in: „Die Verwaltung“ 1975, S. 23 ff., S. 47 ff.

16.

Die rechtlichen Grenzen der Bauleitplanung, DVBl. 1975, S. 461 ff.

17.

Staatshaftung kraft „Überlieferung“?, JZ 1975, S. 585 ff.

18.

Die Entschädigung für Amtshandlungen der Polizei, DVBl. 1975, S. 567 ff.

19.

Aktuelle Probleme des Planungsschadensrechts nach § 44 BBauG, BauR 1976, S. 297 ff.

20.

Vollziehung ausländischer Verwaltungsakte – Unter besonderer Berücksichtigung der Abgabenbescheide (zusammen mit B. D. Olschewski), DVBl. 1976, S. 475 ff.

21.

„Spezifisches Verfassungsrecht“ und „einfaches Recht“ als Argumentationsformel des Bundesverfassungsgerichts, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, 1976, S. 432 ff.

22.

Unternehmen und Unternehmer in der verfassungsrechtlichen Ordnung der Wirtschaft, Veröffentlichung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Bd. 35, 1977, S. 55 ff.

23.

Rechtliche Bindung und gerichtliche Kontrolle planender Verwaltung im Bereich des Bodenrechts, NJW 1977, S. 1714 ff.

24.

Rechtsfragen des Sofortvollzuges, in: Rechtsfragen des Genehmigungsverfahrens von Kraftwerken; Veröffentlichungen des Instituts für Energierecht an der Universität zu Köln, Heft 41/42, 1978, S. 86 ff.

25.

Mitbestimmungsgesetz und Verfassungsrecht, ZHR 1978, S. 71 ff.

26.

Die Vereinheitlichung der Verwaltungsprozeßgesetze zu einer Verwaltungsprozeßordnung, DÖV 1978, S. 322 ff.

27.

Einstweiliger Rechtsschutz bei Abgaben, Steuer und Wirtschaft, Heft 4/1978.

28.

Zur Verfassungsmäßigkeit der paritätischen Mitbestimmung unter historischen und entstehungszeitlichen Aspekten, in: Die Aktiengesellschaft, Heft 9 und 10/1978.

29.

Der Regierungsentwurf eines Staatshaftungsgesetzes, in: ZRP 3/1979.

30.

Öffentliche Sachen, Jura 1979, Heft 2, S. 93 ff.

31.

Zum Vorsorgegrundsatz im Immissionsschutzrecht, Anm. zum Urteil des OVG Berlin vom 17. 7. 1978, DVBl. 1979, S. 162 ff.

32.

Rückwirkungen der Nichtigerklärung notarieller Gebührenermäßigungspflichten, NJW 1979, S. 522 ff.

33.

Pressefreiheit zwischen Konzentration und technischer Entwicklung, Der Staat 19 (1979), S. 422 ff.

34.

Das Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts – Eine kritische Würdigung aus verfassungsrechtlicher Sicht, ZGR 1979, S. 444 ff.

644 35.

Publikationen von Hans-Jürgen Papier Einstweiliger Rechtsschutz im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, Jur. Arbeitsblätter, Heft 11 und 12/1979.

36.

Einwendungen Dritter im Verwaltungsverfahren, NJW 1980, S. 313 ff.

37.

Wirtschaftsaufsicht und Staatshaftung, JuS 1980, S. 265 ff.

38.

Die verwaltungsgerichtliche Organklage, DÖV 1980, S. 292 ff.

39.

Besteuerung und Eigentum, DVBl. 1980, S. 787 ff.

40.

Besprechung der Urteile des BVerfG vom 29. April 1980 1 BvR 23/75 und 1 BvR 247/75, in: JZ 1980, S. 605 ff.

41.

Die gerichtliche Durchsetzung der aufschiebenden Wirkung von Nachbarrechtsbehelfen, BauR 1981, S. 151 ff.

42.

Enteignungsgleicher und enteignender Eingriff, Jura 1981, S. 65 ff.

43.

Rechtskontrolle technischer Großprojekte, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1981, S. 81 ff.

44.

Pressefreiheit und gewerberechtlicher Erlaubnisvorbehalt nach § 55 Abs. 1 GewO für den ambulanten Zeitungshandel, Archiv für Presserecht, 1981, S. 249 ff.

45.

Grunderwerbsverträge mit Bauplanungsabreden, JuS 1981, S. 498 ff.

46.

Die Zentralbank im Verfassungsgefüge, in: Instrumente der sozialen Sicherung und der Währungssicherung in der Bundesrepublik Deutschland und in Italien, Der Staat, Beiheft 5/1981, S. 109 – 121.

47.

Das neue Staatshaftungsrecht, NJW 1981, S. 2321 ff.

48.

Steuerrecht und Grundgesetz, in: 50 Jahre Wirtschaftsprüferberuf, 1981, S. 303 ff.

49.

Schwerpunkte der Staatshaftungsreform in kritischer Analyse, VersR 1982, S. 505 ff.

50.

Einführung eines Prämienzuschlags für ausländische Versicherungsnehmer in der KH Versicherung, Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft, Heft 4/1982.

51.

Die Differenziertheit sozialrechtlicher Positionen und der Anspruch der Eigentumsgarantie, in: Verfassungsrechtlicher Eigentumsschutz sozialer Rechtspositionen, 2. Sozialrechtslehrertagung, 1982, S. 193 ff.

52.

Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, in: Handbuch des Verfassungsrechts, 1983, S. 609 ff.

53.

Rechtsfragen der (staatlichen) Leitung der Volkswirtschaft einschließlich des Brennstoffund Energiebereichs, in: Deutsches und sowjetisches Wirtschaftsrecht II, Tübingen 1983, S. 3 – 34.

54.

Zum Schicksal des enteignungsgleichen Eingriffs, NVwZ 1983, S. 258 ff.

55.

Karl August Bettermann zum 70. Geburtstag, AöR 108 (1983), S. 298 ff.

56.

Anm. zum Urteil des BGH vom 16. Mai 1983 – III ZR 78/82, in: JZ 1983, S. 764 ff.

57.

Die wirtschaftlichen Freiheitsrechte der Landesverfassungen in der Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte, in: Starck/Stern (Hrsg.), Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Teilband III, Verfassungsauslegung, 1983, S. 319 – 359.

58.

Die staatliche Einwirkung auf die Energiewirtschaft, in: Festschrift zum 125 jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft Berlin, 1984, S. 529 – 547.

59.

Parlamentarische Demokratie und die innere Souveränität des Staates, in: Das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland auf dem Prüfstand; Seminar

Publikationen von Hans-Jürgen Papier

645

zum 70. Geburtstag von K. A. Bettermann, 1984, Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 474, S. 33 – 52. 60.

Straßenrecht und Straßenverkehrsrecht, in: Handbuch der öffentlichen Verwaltung Band 2; zusammen mit F.-J. Peine, 1984, S. 391 ff.

61.

Die Verlängerung der kassenärztlichen Vorbereitungszeit in verfassungsrechtlicher Würdigung, Die Sozialgerichtsbarkeit, Heft 6/1984, S. 221 – 228.

62.

Anmerkung zum Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Mai 1983, – 1 BvR 820/79, Die Sozialgerichtsbarkeit Heft 10/1984, S. 411 ff.

63.

Die Verlängerung der kassenärztlichen Vorbereitungszeit in verfassungsrechtlicher Würdigung (Kurzfassung), Zahnärzteblatt Westfalen-Lippe, Nr. 3/1984, S. 9 – 10.

64.

Interkommunaler Kompetenzkonflikt, DVBl. 1984, S. 453 – 457.

65.

Versagung der Nebentätigkeitsgenehmigung aus arbeitsmarktpolitischen Gründen, DÖV 1984, S. 536 – 541.

66.

Anmerkung zum Urteil des BGH vom 28. 6. 1984 – III ZR 35/83, JZ 1984, S. 987 – 994.

67.

Wirkungen des öffentlichen Planungsrechts auf das private Immissionsschutzrecht, in: Pikart/Gelzer/Papier, Umwelteinwirkungen durch Sportanlagen, 1984, S. 97 – 124.

68.

Ertragsteuerrechtliche Erfassung der „windfall-profits“, Steuer und Wirtschaft, Heft 4/ 1984, S. 315 – 325.

69.

Art. 12 GG – Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, DVBl. 1984, S. 801 – 814.

70.

Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Probleme der Zweitanmeldung, Pharma-Recht, Heft 2/1985.

71.

Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Probleme der Zweitanmeldung, NJW 1985, S. 12 ff.

72.

Staatliche Förderung kirchlicher Einrichtungen, Zur Problematik der „Arme-TrägerKlausel“, in: Die Verwaltung, Zeitschrift für Verwaltungswissenschaft, 18. Bd., Heft 1/1985, S. 29 – 49.

73.

Das Anrechnungsmodell aus verfassungsrechtlicher Sicht, Deutsche Rentenversicherung, Heft 5/1985, S. 272 – 277.

74.

Enteignunggleiche und enteignende Eingriffe nach der Naßauskiesungs-Entscheidung BGHZ 90, 17 und BGH, NJW 1984, 1876, JuS 1985, S. 184 – 188.

75.

Das Anerkennungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer – altes Recht trotz neuen Gesetzes? zusammen mit F.-J. Peine, NVwZ 1985, S. 164 – 167.

76.

Sportstätten und Umwelt, UPR 3/1985, S. 73 – 82.

77.

Zulassungsbeschränkungen für Ärzte aus verfassungsrechtlicher Sicht, Versicherungswirtschaft, Heft 15/1985, S. 952 – 958.

78.

Altlasten und polizeirechtliche Störerhaftung, DVBl. 1985, S. 873 – 879.

79.

Der Vorbehalt des Gesetzes und seine Grenzen, in: Götz/Klein/Starck, Die öffentliche Verwaltung zwischen Gesetzgebung und richterlicher Kontrolle, 1985, S. 36 – 67.

80.

Normenkontrolle (§ 47 VwGO) in: System des verwaltungsrechtlichen Rechtsschutzes, Festschrift für Christan-Friedrich Menger, hrsg. von Erichsen/Hoppe/v. Mutius, 1985, S. 517 – 534.

81.

Zur Disharmonie zwischen verwaltungs- und strafrechtlichen Bewertungsmaßstäben im Gewässerstrafrecht, Natur und Recht, Heft 1/1986, S. 1 – 8.

646 82.

Publikationen von Hans-Jürgen Papier Die Verantwortlichkeit für Altlasten im öffentlichen Recht, NVwZ 1986, Heft 4, S. 256 – 263.

83.

Anmerkung zum BGH-Urteil vom 10. 6. 1985 – III ZR 3/1985 -, JZ 1986, S. 180 – 184.

84.

Die Verantwortlichkeit für Altlasten im öffentlichen Recht, Vortrag auf dem Kolloquium „Altlasten und Umweltrecht“, 20. – 22. 11. 1985 in Trier, in: Altlasten und Umweltrecht, UTR Bd. 1, 1986.

85.

Die verfassungsrechtliche Diskussion um den „Streikparagraphen“, ZRP 1986, S. 72 – 77.

86.

Besprechung des BGH-Urteils vom 6. 2. 1986 – III ZR 96/84, JZ 1986, S. 544 – 549.

87.

Besprechung des Beschlusses des BVerfG v. 12.2.1986 – 1 BvL 39/83, Die Sozialgerichtsbarkeit, Heft 6/1986, S. 237 – 242.

88.

Zur verwaltungsgerichtlichen Kontrolldichte, DÖV 1986, S. 621 – 628.

89.

Zum Vorschlag der EG Kommission für eine Richtlinie des Rates zur Regelung der Zweitanmelderproblematik, in: Deutsch/Kraft/Kleinsorge (Hrsg.) , Arzneimittel u. gewerblicher Rechtsschutz, Symposium der Medizinisch Pharmazeutischen Studiengesellschaft e.V., Mainz, 18./19. April 1985 in Frankfurt/Neu Isenburg, Editio Cantor Aulendorf, 1986.

90.

Schutz des sozialen Eigentums und Neutralität im Arbeitskampf, DVBl. 1986, S. 577 – 585.

91.

Rechtsvorschriften für Anlagen, Geräte und Stoffe – Bestandsaufnahme und kritische Würdigung, in: Sicherheitstechnische Rechtsvorschriften im deutschen und europäischen Recht, Studienreihe 53 des Bundesministers für Wirtschaft, 1986, S. 45 – 59.

92.

Sport und Umwelt, NVwZ 1986, S. 624 – 627.

93.

Verwaltungs- und Verwaltungsverfahrensrecht in Nordrhein-Westfalen – Wichtige Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, in: Deutsche Verwaltungspraxis, Heft 9/1986, S. 263 – 268.

94.

Raumordnerischer Handlungsspielraum für die Planung des Stromleitungsbaus, Recht der Elektrizitätswirtschaft, Heft 10/1986, S. 194 – 196.

95.

Raumordnerischer Handlungsspielraum für die Planung des Stromleitungsbaus, Informationen zur Raumentwicklung, Heft 6/1986, S. 493 – 498.

96.

Straßen- und Wegerecht, in: Grimm/Papier (Hrsg.), Nordrhein-westfälisches Staats- und Verwaltungsrecht, 1986, S. 425 – 477.

97.

Ärzteschwemme und Berufsfreiheit, in: Strukturreform des Gesundheitswesens – Strategien zur Begrenzung der Sozialkostenlawine, MIT-Jahrbuch 1987, Mittelstands-Verlagsgesellschaft mbH, Bonn 1987, S. 306 – 312.

98.

Verwaltungsverantwortung und gerichtliche Kontrolle, Referat auf dem 8. Dt. Verwaltungsrichtertag, 23.–26. 4. 1986 in Saarbrücken, in: Verwaltung im Rechtsstaat, Festschrift für Carl Hermann Ule zum 80. Geburtstag, 1987, S. 235 – 255.

99.

Verwaltungsrechtliche Anforderungen und Beschränkungen des Vertriebs von Fertigbrillen, Gewerbearchiv, Heft 2/1987, S. 41 – 49.

100. Umweltschutz durch Strafrecht?, Vortrag im Rahmen des Städteforums Lüneburg am 4. Dezember 1986, in: Schriftenreihe des Niedersächsischen Städtetages, Heft 16, S. 5 – 15, Göttingen, 1987. 101. Einführung neuer Techniken, NJW 1987, S. 988 – 994.

Publikationen von Hans-Jürgen Papier

647

102. Altlastenbeseitigung. Öffentlich-rechtliche Probleme, Energiewirtschaftliche Tagesfragen, Heft 5/1987, S. 437 – 441. 103. Stimmrechtsverteilung in der Bundesrechtsanwaltskammer, NJW 1987, S. 1308 – 1313. 104. Rechtliche und finanzielle Aspekte der Altlastensanierung, in: Reintegration belasteter Flächen – Wohnungswirtschaftliche und städtebauliche Probleme und Perspektiven der Altlastenbewältigung, Materialien zum Siedlungs- und Wohnungswesen und zur Raumplanung (Schriftenreihe des Instituts für Siedlungs- und Wohnungswesen der Universität Münster) Heft 30, 1987, S. 27 – 34. 105. Anmerkung zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24.3.1987 – 1 BvL 1046/ 85 –, JZ 1987, S. 614 – 621. 106. Steuern und Abgaben – die offene Flanke des Rechtsstaats, KritV 1987, Heft 2, S. 140 – 156. 107. Die allgemeinen Emissionsgrenzwerte der TA-Luft und ihre Bedeutung für den Betrieb von Feuerungsanlagen, UPR 1987, S. 292 – 296. 108. Wahl der Personalratsvorsitzenden nach dem Landespersonalvertretungsgesetz von Nordrhein-Westfalen, Zeitschrift für Beamtenrecht, Heft 7/1987, S. 202 – 208. 109. Umweltschutz durch Strafrecht, Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts 1987, UTR Bd. 3, S. 65 – 81. 110. Besprechung des Beschlusses des BVerfG vom 8.4.1987 – 1 BvR 564/84 –, Die Sozialgerichtsbarkeit, Heft 11/1987, S. 464 – 470. 111. Krankenversicherung der DO-Angestellten bei der AOK, Die Sozialgerichtsbarkeit, Heft 12/1987, S. 490 – 495. 112. Verfassungsfragen des kommunalen Ausländerwahlrechts, KritV Heft 4/1987, S. 309 – 314. 113. Rechtliche Möglichkeiten und Grenzen einer Änderung des Asylgrundrechts (Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG), Der Staat, Heft 1/1988, S. 33 – 55. 114. Schuldnerverzeichnisse und Datenschutz, Blick in die Wirtschaft, Nr. 67 v. 7. 4. 1988, S. 7. 115. Planungsrecht für Sportanlagen, Bd. 9 der Schriftenreihe Sport und Recht, 1988, S. 21 – 35. 116. Strafbarkeit von Amtsträgern im Umweltrecht, NJW 1988, S. 1113 – 1116. 117. Strafbarkeit von Amtsträgern im Umweltschutz, in: Denzer (Hrsg.), Strafverfolgung und Umweltschutz – Dokumentation der 6. Rechtspolitischen Akademietagung in Haus Neuland, Haus Nauland – Werkstattbericht 8, 1988, S. 35 – 41. 118. Der Einfluß des Verfassungsrechts auf das Sozialrecht (§ 3), in: v. Maydell/Ruland (Hrsg.), Handbuch des Sozialrechts (SRH), 1. Auflage 1988, S. 114 – 150, 2. Auflage 1996, S. 73 – 124, 3. Auflage 2003, S. 81 – 139, 4. Auflage 2008, S. 100 – 147. 119. Verfassungsrechtliche Probleme des Ausländerwahlrechts, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, B 24/88, v. 10. 6. 1988, S. 37 – 40. 120. Rechtsfragen der Subventionierung und deren Bedeutung für die Rückabwicklung, ZHR 1988, Heft 152, S. 493 – 508. 121. Biotechnologien und Verfassungsrecht, Beitrag Funkuniversität des RIAS Berlin, 1988.

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Publikationen von Hans-Jürgen Papier

122. § 153 Justizgewähranspruch, in: Kirchhof/Isensee (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VI (Freiheitsrechte), 1989, S. 1221 – 1232. 123. § 154 Rechtsschutzgarantie gegen die öffentliche Gewalt, in: Kirchhof/Isensee (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VI (Freiheitsrechte), 1989, S. 1233 – 1270. 124. § 157 Die Staatshaftung, in: Kirchhof/Isensee (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VI (Freiheitsrechte), 1989, S. 1353 – 1391. 125. Anmerkung zum BSG-Urteil v. 27. 10. 1987, Die Sozialgerichtsbarkeit, Heft 3/1989, S. 120 – 124. 126. Der verfassungsrechtliche Rahmen für Privatautonomie im Arbeitsrecht, Recht der Arbeit, Heft 3/1989, S. 137 – 144. 127. Der Bestimmtheitsgrundsatz, in: Steuerrecht und Verfassungsrecht, Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, Band 12, 1989, S. 61 – 78. 128. Anmerkung zum BGH-Urteil vom 26. 1. 1989 – III ZR 194/87, DVBl. 1989, S. 504 – 509. 129. Die Einwirkungen des europäischen Gemeinschaftsrechts auf das nationale Verwaltungsund Verfahrensrecht, in: Die Bedeutung der Europäischen Gemeinschaften für das deutsche Recht und die deutsche Gerichtsbarkeit, Seminar zum 75. Geburtstag von K.A. Bettermann, Schriftenreihe zum Öffentlichen Recht Bd. 569, 1989, S. 51 – 65. 130. Eigentum – Enteignung – enteignender Eingriff, JuS-Schwerpunktheft Bielefeld, 1989, S. 630 – 636. 131. Gewaltentrennung im Rechtsstaat, Schriftenreihe der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Bd. 106 (1989), S. 95 – 114. 132. Rechtsfragen der Rundfunkübertragung öffentlicher Veranstaltungen, AfP Heft 2/1989, S. 510 – 515. 133. Rechtsgrundlagen der Altlastensanierung, Sonderheft NWVBl. zum 40jährigen Bestehen der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Heft 9/1989, S. 322 – 329. 134. Altlasten – Rechtsprobleme und politische Lösungsmodelle, Jura Heft 10/1989, S. 505 – 513. 135. Gewaltenteilung im Rechtsstaat, Vortrag Niedersächsisches Studieninstitut für kommunale Verwaltung Oldenburg e.V., 1989, Deutsche Verwaltungspraxis, Heft 9/1989, S. 279 – 284. 136. Abfallgesetz ‘86 nach Einführung des Binnenmarktes 1993; Entsorga Schriften, Heft 5/ 1989, S. 43 – 49. 137. Bedeutung der Verwaltungsvorschriften im Recht der Technik, Beitrag in der Festschrift für Lukes, 1990, S. 159 – 168. 138. Sozialversicherung und Privatversicherung – verfassungsrechtliche Vorgaben, ZSR 1990, S. 344 – 354. 139. Strafrechtliche Probleme des Gewässerschutzes, Vortrag auf der 1. Arbeitstagung des Instituts für Umweltrecht der Universität Bielefeld am 13. Dezember 1988, in: Aktuelle Probleme des strafrechtlichen Gewässerschutzes, 1990, S. 61 – 82. 140. Die überörtliche Anwaltssozietät aus der Sicht des Verfassungs- und Gemeinschaftsrechts, JZ 1990, S. 253 – 261. 141. Fernmeldemonopol der Post und Privatrundfunk, DÖV 1990, S. 217 – 223. 142. Gentechnik – juristisch zu fassen?, VDI-Nachrichten, Magazin Heft 4/1990, S. 6.

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143. Straßenrecht, in: Achterberg/Püttner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. I, 1990, S. 519 ff. 144. Richterliche Unabhängigkeit und Dienstaufsicht, NJW Heft 1/1990, S. 8 – 14. 145. Kommunalwahlrecht für Angehörige anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft: Probleme des Kommissionsvorschlages aus der Sicht des deutschen Rechts, in: Magiera (Hrsg.), Das Europa der Bürger in einer Gemeinschaft ohne Binnengrenzen, 1990, S. 27 ff. 146. Kommunalwahlrecht für Ausländer unter dem Grundgesetz, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis, 1990, S. 202 ff. 147. Besondere Aspekte des Freizeitlärms, in: Koch (Hrsg.), Schutz vor Lärm, 1990, S. 129 ff. 148. Verfassungsrechtliche Probleme beim Umgang mit Plutonium, Vortrag auf dem 8. Deutschen Atomrechtssymposium in München (1.–3. März 1989), Referate und Diskussionsberichte, 1990, S. 173 – 184. 149. Der Wesentlichkeitsgrundsatz – am Beispiel des Gesundheitsreformgesetzes, in: VSSR 1990, S. 123 ff. 150. Entwicklungen der Rechtsprechung zur Eigentumsgarantie des Art. 14 GG, NWVBl. 1990, Heft 12, S. 397 – 403. 151. Untersuchungen im Bereich Genehmigung, Aufsicht, Nachrüstung, in: Lukes (Hrsg.), Reformüberlegungen zum Atomrecht, 1991, Recht–Technik–Wirtschaft Bd. 61, S. 111 – 214. 152. Der verfassungsrechtliche Rahmen der friedlichen Kernenergienutzung, in: Pelzer (Hrsg.), Kernenergierecht zwischen Ausstiegsforderung und europäischem Binnenmarkt, 1991, S. 37 – 52. 153. Genehmigung von Tierversuchen, „Natur und Recht“, Heft 4/1991, S. 162 ff. 154. Verfassungsrechtliche Probleme der Eigentumsregelung im Einigungsvertrag, NJW 1991, S. 193 – 256. 155. Umweltschutz durch Strafrecht?, Jubiläumsband der Juristischen Gesellschaft Osnabrück, 1991, S. 383 – 395. 156. Aktuelle Rechtsfragen der überörtlichen Anwaltssozietät, BRAK-Mitteilungen, Heft 1/ 1991, S. 2 – 7. 157. Die planungsrechtliche Zulässigkeit von Tennisanlagen in Baugebieten, in: Festschrift für Konrad Gelzer, 1991, S. 93 – 104. 158. Die Rückübertragung enteigneter Warenzeichen nach dem Vermögensgesetz, GRUR Heft 9/1991, S. 639 – 645. 159. Neuntes Deutsches Atomrechtssymposium: Genehmigung, Aufsicht, Nachrüstung, Recht-Technik-Wirtschaft Bd. 64, 1991, S. 209 – 227. 160. Wirtschaftsreformen in Mittel- und Osteuropa – Verfassungsprobleme und Eigentumsordnung, Vortrag auf dem XXIV. FIW-Symposion am 15. Februar 1991 in Innsbruck, FIW-Schriftenreihe, Heft 142, 1991, S. 23 – 32. 161. Einführung in die Rechtsfragen der Sonderabfallentsorgung, in: Handbuch „Abfallwirtschaft und Recycling“, 1992. 162. Polizeiliche Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern unter besonderer Berücksichtigung der Aufgaben des Bundesgrenzschutzes, DVBl. 1/1992, S. 1 – 10.

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163. Rechtliche Behandlung des Parteivermögens in der ehemaligen DDR, VerwArch Heft 2/ 1992, S. 299 – 313. 164. Die geschichtliche Dimension des Art. 16 des GG, Zeitschrift zur politischen Bildung, Vierteljahresschrift, Heft 1/1992, S. 4 – 11. 165. Das Parteivermögen in der ehemaligen DDR, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, Heft 126, 1992. 166. Entwurf eines Umweltgesetzbuches, Vom Allgemeinen zum Besonderen Teil, DVBl. 1992, S. 1133 – 1139. 167. Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen der PKV, Verband der privaten Krankenversicherung e.V., PKV-Dokumentation 16, 1992. 168. Rücknahmepflichten nach einer Elektronik-Schrott-Verordnung, IUWA-Institut für Umweltwirtschaftsanalysen, Heft UWF 1, 1992, S. 30 – 32. 169. Asyl – Rechtsfragen im Spannungsfeld von Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht und Politik, Schriftenreihe der Kölner Juristischen Gesellschaft, Bd. 16, 1992, S. 5 – 24. 170. Umwelthaftung, in: Koch (Hrsg.), Auf dem Weg zum Umweltgesetzbuch, 1992, S. 148 – 156. 171. Verfassungsrechtliche Fragen des Rechts der Kurzberichterstattung, Beitrag in der Festschrift für Lerche zum 65. Geburtstag, 1993, S. 675 – 692. 172. Rechtsfragen zum Erstreckungsgesetz, Markenartikel, Heft 3/1993, S. 134 – 140. 173. Der Bebauungsplan und die Baugenehmigung in ihrer Bedeutung für den zivilrechtlichen Nachbarschutz, Festschrift für Weyreuther, „Baurecht – aktuell“, 1993, S. 356 – 372. 174. Staatliche Eigentumsgarantie und die Sozialbindung des Eigentums, in: Dichmann/Fels (Hrsg.), Gesellschaft und ökonomische Funktionen des Privateigentums, div-Sachbuch 56/1993, S. 92 – 113. 175. Direkte Wirkung von Richtlinien der EG im Umwelt- und Technikrecht – Verwaltungsverfahrensrechtliche Probleme des nationalen Vollzuges, DVBl. Heft 15/1993, S. 809 – 814; Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 114/1994, S. 263 – 276. 176. Rechtsfragen des Restitutionsausschlusses bei besatzungshoheitlichen Enteignungen, ZIP 11/1993, S. 806 – 812. 177. Mehrwegkampagnen der Kommunen in öffentlich-rechtlicher Beurteilung, VerwaltungsArchiv, Heft 4/1993, S. 417 – 440. 178. Glückwünsche – Hans F. Zacher zum 65. Geburtstag, AöR 1993, S. 321 – 324. 179. Rechtnachfolge der staatlichen Forstwirtschaftsbetriebe der DDR, DtZ 10/1993, S. 290 – 296. 180. Für einen freiheitlichen Staat – Handlungsfähigkeit und Sicherheit, in: Göhner (Hrsg.), Freiheit und Verantwortung, 1993, S. 175 – 185. 181. § 18 Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Auflage 1994, S. 799 – 850 (Übersetzung in das Spanische unter dem Titel „Manual de Derecho Constitucional, Capitulo XI Ley Fundamental y orden economico“). 182. Umweltschutz und technische Sicherheit im Unternehmen als Aufgabe des Staates, in: Umweltschutz und technische Sicherheit im Unternehmen, Umwelt- und Technikrecht, Bd. 26, 1994, S. 105 – 135.

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183. Anm. zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Juni 1993 Az.: 7 C 14.92, Unlautere Machenschaften im Sinne des Restitutionstatbestandes des § 1 Abs. 3 VermG, Deutsche Zeitschrift für Wirtschaftsrecht, 4/1994, S. 153 – 156. 184. Verfassungskontinuität und Verfassungsreform im Zuge der Wiedervereinigung, in: Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Verfassungsgeschichte – Von der Reichsgründung zur Wiedervereinigung, Seminar zum 80. Geburtstag von K.A. Bettermann, Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 664, 1994, S. 85 – 100. 185. Verfassungsrechtliche Probleme von Übergangsrecht, SGb Heft 3/1994, S. 105 – 111. 186. Rechtliche Grenzen des ärztlichen Werbeverbots, zusammen mit Helmut Petz, NJW 1994, S. 1553 – 1562. 187. Rechtsfragen zur Finanzausstattung der Bezirke, Bay.VBl., Heft 24/1994, S. 737 – 747. 188. Die Verfassungsmäßigkeit der Regelungen des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes (AAÜG), Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.), Sozialforschung, Heft 238, 1994, sowie in: Deutsche Rentenversicherung (DRV), Heft 12/ 1994, S. 840 – 871. 189. Empfehlen sich ergänzende gesetzliche oder untergesetzliche Regelungen der Altlasten, und welchen Inhalt sollten sie haben?, JZ, Heft 17/1994, S. 810 – 822. 190. Rechtsfragen des Zusammenschlusses von Allgemeinen Ortskrankenkassen, zusammen mit Johannes Möller, Die Sozialgerichtsbarkeit, Heft 13/1994, S. 601 – 609. 191. Rechtsgutachten zum Entwurf eines Gesetzes über die Auflösung der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, in: Wissenschaftsrecht, Beiheft 12, 1994, S. 56 – 115. 192. Die mißlungene Fahrzeugbergung, zusammen mit Andreas Dengler, Fallbearbeitung, Jura, Heft 1/1995, S. 38 – 46. 193. Zur Verfassungsmäßigkeit des „Landwirteprivilegs“ im Sortenschutzrecht, GRUR, 1995, S. 241 – 250. 194. Eigentumsrechtliche Probleme in den neuen Bundesländern, in: Verfassungsrecht im Wandel, Festschrift zum 180jährigen Bestehen des Carl Heymanns Verlages, 1995, S. 147 – 166. 195. Anm. zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. März 1994, Az.: 7 C 11.93 und 7 C 16.93, Offene Vermögensfragen, Deutsche Zeitschrift für Wirtschaftsrecht, Heft 4/ 1995, S. 160 – 161. 196. Rezension: Dietlein, Johannes, Die Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, 1993, DtZ 1995, S. 86 – 87. 197. Die Regionalisierung der gesetzlichen Rentenversicherung aus verfassungsrechtlicher Sicht, Neue Zeitschrift für Sozialrecht, Heft 6/1995, S. 241 – 244; Veranstaltung der Arbeitsgemeinschaft der bayerischen Landesversicherungsanstalten (ARGE) am 3. 2. 1995, Materialien 1994. 198. Medien und Persönlichkeitsrechte – wer schützt den Bürger vor Vermarktung?, Bitburger Gespräche – Jahrbuch 1995/II, S. 25 – 43. 199. Anmerkung zu BGH, Urteil vom 16. 2. 1995 – III ZR 106/93 und 135/93, LM H. 9/1995, § 839 [Cb] BGB Nr. 94 (Bl. 1655 – 1657) – Amtspflichten des Deutschen Wetterdienstes. 200. Umweltverträglichkeitsprüfung, Landwirtschaft und Umweltschutz, Czechowski/Hendler (Hrsg.), Referate der zweiten „Warschauer Gespräche zum Umweltrecht“ vom 26.–30. 9. 1994, 1996, S. 148 – 151.

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201. Zur rückwirkenden Haftung des Rechtsnachfolgers für Altlasten, DVBl. Heft 3/1996, S. 125 – 134. 202. Eigentumsgarantie bei DDR-Renten, Deutsch-Deutsche Rechts-Zeitschrift, Heft 2/1996, S. 43 – 44. 203. Überhangmandate und Verfassungsrecht, JZ, Heft 6, 1996, S. 265 – 274. 204. Die Restitution konfiszierten Eigentums in der Bundesrepublik Deutschland, in: Christian Tomuschat (Hrsg.), Eigentum im Umbruch – Restitution, Privatisierung und Nutzungskonflikte im Europa der Gegenwart, 1996, S. 45 – 67. 205. Rentenrecht oder Rentenunrecht?, in: Deutsche Richterzeitung 1996, S. 402 – 411. 206. § 7 SGB IV in der Anwendung durch die Rechtsprechung und das grundgesetzliche Bestimmtheitsgebot, zusammen mit Johannes Möller, VSSR, Heft 4/96, S. 243 – 269. 207. Umweltverträglichkeitsprüfung und Gemeinschaftsrecht, in: Staat Wirtschaft Steuern, Festschrift für Karl Heinrich Friauf zum 65. Geburtstag, 1996, S. 105 – 133. 208. Verfassungsrechtliche Fragen im Zusammenhang mit Steuerfahndungsmaßnahmen bei Banken (zusammen mit Andreas Dengler), in: Betriebs-Berater (BB), Heft 49/1996, S. 2541 – 2548 (Teil I), und Heft 50/1996, S. 2593 – 2601 (Teil II). 209. Verfassungsrechtliche Probleme bei der Organisation der Sozialversicherungsträger, in: Der Verwaltungsstaat im Wandel, Festschrift für Franz Knöpfle, 1996, S. 273 – 289. 210. Anmerkung zu EuGH, Urteil vom 8. 10. 1996, Rs C-178, 179, 188, 190/97 – Dillenkofer, EWiR Art. 189 EGV 1/96, 1027, zusammen mit Andreas Dengler. 211. Verfassungs- und Verfassungsprozeßrecht, in: Berg/Knemeyer/Papier/Steiner (Hrsg.), Staats- und Verwaltungsrecht in Bayern, 1996, S. 1 – 96. 212. Straßen- und Wegerecht, in: Berg//Knemeyer/Papier/Steiner (Hrsg.), Staats- und Verwaltungsrecht in Bayern, 1996, S. 407 – 466. 213. Staatliche Monopole und Berufsfreiheit – dargestellt am Beispiel der Spielbanken, in: Verfassungsstaatlichkeit, Festschrift für Klaus Stern, 1997, S. 543 – 565. 214. Das Bestimmtheitsgebot und seine Durchsetzung, zusammen mit Johannes Möller, AöR, 1997/2, S. 177 – 211. 215. Anmerkung zu BGH Urteil vom 23. 01. 1997 – III ZR 234/95, EWiR 9/1997, S. 411 – 412 (zusammen mit Andreas Dengler). 216. Staatshaftung bei rechtswidriger Genehmigungserteilung, Deutsche Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (zugleich eine Besprechung des BGH-Urteils vom 16. 1. 1997 – III ZR 117/ 95), DZWiR 6/1997, S. 221 ff. 217. Durchleitungen und Eigentum, in: Betriebsberater, Heft 24/1997, S. 1213 – 1220. 218. Haftung des Staates, in: Klett/Schmitt Glaeser (Hrsg.), 5. Kölner Abfalltage, Abfall und Haftung, 1997, S. 357 – 369. 219. Steht der Generationenvertrag vor der Kündigung?, in: Politik als Risiko für die Renten – Nicht die Globalisierung der Wirtschaft, sondern die Haushaltsdefizite stellen den Sozialstaat in Frage, VdK-Forum, 1997, S. 18 – 24. 220. Die Entwicklung des Verfassungsrechts seit der Einigung und seit Maastricht, NJW 43/ 1997, S. 2841 – 2848. 221. Anmerkung zu BGH, Urteil vom 24. 10. 1996 – Az.: III ZR 127/91 – Brasserie du Pêcheur, LM 2/97, zusammen mit Andreas Dengler.

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222. Vergangenheitsbewältigung: Abwicklung, Ahndung, Entschädigung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX/1997, S. 587 – 627. 223. Berufsständische Altersversorgung und gesetzliche Rentenversicherung, Verfassungsrechtliche Prüfung des § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI n.F., in: Verfassung, Theorie und Praxis des Sozialstaats, Festschrift für Hans F. Zacher, 1998, S. 689 – 713. 224. Zur Verfassungsmäßigkeit der Fraktionsfinanzierung nach dem Bayerischen Fraktionsgesetz, in: Bayerische Verwaltungsblätter, Heft 17/1998, S. 513 – 523. 225. Die Regelung von „Kernenergie und Strahlenschutz“ im Umweltgesetzbuch-Entwurf der Sachverständigenkommission (UGB-KomE), zusammen mit Johannes Möller, in: Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts 1998, Bd. 45/1998, S. 309 – 329. 226. Die Rolle des Solidarausgleichs in der gesetzlichen Unfallversicherung, zusammen mit Johannes Möller, in: Neue Zeitschrift für Sozialrecht (NZS) 8/1998, S. 353 – 359. 227. Verfassungsrechtliche Fragen der Festsetzung der Beiträge in der Unfallversicherung, zusammen mit Johannes Möller, in: Die Sozialgerichtsbarkeit, Heft 8/1998, S. 337 – 349. 228. § 43 Staatshaftung bei der Verletzung von Gemeinschaftsrecht, in: H.-W. Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht, Bd. 1, 1. Aufl. 1998, S.1450 – 1475, 2. Aufl. 2003, S. 1577 – 1603. 229. Rechtsschutz gegen Normen im Sozialrecht, in: Bochumer Schriften zum Sozialrecht, Probleme der Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, Teil 1/1998, S. 85 – 97. 230. Der Wandel der Lehre von Ermessens- und Beurteilungsspielräumen als Reaktion auf die staatliche Finanzkrise, in: Schriften zur Reform des Verwaltungsrechts, „Effizienz als Herausforderung an das Verwaltungsrecht“, Bd. 5/1998, S. 231 – 243. 231. Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Alterssicherung, in: von Cramer/Förster/Ruland (Hrsg.), Handbuch Altersversorgung. Gesetzliche, betriebliche und private Vorsorge in Deutschland, 1998, S. 855 – 890. 232. Anmerkung zu BGH, Urteil vom 18. 12. 1997 (III ZR 241/96 (NJ820190), zusammen mit Andreas Dengler, in: LM § 839 (Fe) BGB Nr. 144, H. 8/1998. 233. Der Umgang mit dem Vermögen der DDR-Parteien, in: Brandenburger Juristische Gesellschaft, 1998, S. 83 – 113. 234. Recht der öffentlichen Sachen, in: Hans-Uwe Erichsen u. Dirk Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Aufl. 1998, S. 571 – 665, 12. Aufl. 2002, S. 589 – 685, 13. Aufl. 2006, S. 781 – 855, 14. Aufl. 2010, S. 855 – 930. 235. Steuerreform als Verfassungsproblem, in: Die Steuerberatung (Stbg), Heft 2/1999, S. 49 – 59. 236. Finanzierungsverantwortung bei der atomrechtlichen Zwischenlagerung, in: „Planung – Recht – Rechtsschutz“, Festschrift für Willi Blümel, Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 772/1999, S. 421 – 441. 237. Presse- und Rundfunkrecht, zusammen mit Johannes Möller, in: Jürgen Wilke (Hrsg.), Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 361/1999, S. 449 – 468. 238. Alterssicherung und Eigentumsschutz, in: Freiheit und Eigentum, Festschrift für Walter Leisner, Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 800, 1999, S. 721 – 742.

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239. Die rechtsstaatliche Bewältigung von Regime-Unrecht nach 1945 und nach 1989, zusammen mit Johannes Möller, in: NJW Heft 45/1999, S. 3289 – 3297. 240. Soziale Marktwirtschaft – ein Begriff ohne verfassungsrechtliche Relevanz?, in: Knut Wolfgang Nörr/Joachim Starbatty (Hrsg.), Soll und Haben – 50 Jahre soziale Marktwirtschaft, Bd. 3 der Schriftenreihe der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft, Stuttgart 1999, S. 95 ff. 241. Das Grundgesetz: Bewahrung, Bewährung, Wandel, in: Die Gemeinde. Organ des Gemeindetags Baden-Württemberg, 9/1999, S. 333 – 338. 242. 50 Jahre Bundesstaatlichkeit nach dem Grundgesetz – Entwicklungslinien und Zukunftsperspektiven, in: Bundesrat (Hrsg.), 50 Jahre Herrenchiemseer Verfassungskonvent – zur Struktur des deutschen Föderalismus, 1999, S. 341 – 353. 243. Verwaltung und Verfassungsrecht, in: Deutsche Verwaltungspraxis (DVP), 1999, S. 360 – 364 sowie Akademie, Heft 3/2000. 244. Straßenrecht, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2000 (Band I Wirtschafts-, Umwelt-, Bau-, Kultusrecht), S. 840 – 913. 245. Arbeitsmarkt und Verfassung, in: Recht der Arbeit, Heft 1/2000, S. 1 – 7. 246. Steuerreform und Verfassungsrecht, in: Kirchhof/Lehner/Raupach/Rodi, Staaten und Steuern, Festschrift für Klaus Vogel, 2000, S. 117 – 137. 247. Eigentum in der Planung, in: Planung, Festschrift für Werner Hoppe zum 70. Geburtstag, 2000, S. 213 – 227. 248. Die Weiterentwicklung der Rechtsprechung zur Eigentumsgarantie des Art. 14 GG, in: DVBl. 19/2000, S. 1398 – 1407. 249. Gericht und Verfassungsorgan. Der Status des Bundesverfassungsgerichts, in: Das Bundesverfassungsgericht. Geschichte, Aufgabe, Rechtsprechung. Hrsg. von Jutta Limbach, 2000, S. 26 – 29. 250. Eigentum und Entschädigung, 50 Jahre BGH – Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. III, hrsg. v. Canaris/Heldrich/Hopt/Roxin/Schmidt/Widmaier, 2000, S. 863 – 886. 251. Die richterliche Unabhängigkeit und ihre Schranken, NJW 15/2001, S. 1089 – 1094. 252. Umweltschutz als Bestandteil kommunaler Verwaltungstätigkeit, in: Umwelt- und Technikrecht/Umweltschutz, Wirtschaft und kommunale Selbstverwaltung, Bd. 55/2001, S. 11 – 34. 253. Rechtspolitische und verfassungsrechtliche Entwicklungen des notariellen Berufsrechts, in: Festschrift für Werner Lorenz, 2001, S. 35 – 50; Deutscher Notarverein, 1/2002, S. 7 – 15. 254. Die Zustandshaftung und die grundgesetzliche Eigentumsgarantie, in: Festschrift für Hartmut Maurer. Staat, Kirche, Verwaltung, 2001, 255 – 267. 255. Verfassungsrecht und Rentenversicherungsrecht, in: Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, 2001, S. 23 – 30, Deutsche Rentenversicherung, 2001, 6/7, S. 350 – 358. 256. Grundrechtsschutz für Verkehrsteilnehmer, Allgemeiner Deutscher Automobil-Club, Juristen-Congress (31) DAR 2002, 532 – 539. 257. ZRP-Rechtsgespräch, Das Bundesverfassungsgericht als Mediator?, ZRP 2002, S. 134 – 136. 258. Zur Selbstverwaltung der Dritten Gewalt, in: NJW, 36/2002, S. 2585 – 2593, BDVRRundschreiben 2002, 134 – 142.

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259. Die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen der Pflegeversicherung, in: Festschrift für Bernd Baron v. Maydell, Sozialrecht und Sozialpolitik in Deutschland und Europa, 2002, S. 507 – 514. 260. Verfassungsfragen der Durchleitung, Festschrift für Jürgen F. Baur, in: Ulrich Büdenbender/Gunther Kühne (Hrsg.), Das neue Energierecht in der Bewährung – Bestandsaufnahme und Perspektiven, 2002, S. 209 – 223. 261. 50 Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland, DVP 2002, 91 – 94. 262. Rechtspolitische und verfassungsrechtliche Entwicklungen des notariellen Berufsrechts, notar, 2002, 7 – 15. 263. Die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Dienste der kommunalen Daseinsvorsorge aus nationalstaatlicher und europäischer Sicht, BWGZ 2002, 862 – 871. 264. Die Bedeutung der Landesverfassungsgerichtsbarkeit im Verhältnis zur Bundesverfassungsgerichtsbarkeit, in: Sodan (Hrsg.), Zehn Jahre Berliner Verfassungsgerichtsbarkeit, 2002, S. 19 – 33. 265. Ehe und Familie in der neueren Rechtsprechung des BVerfG, in: NJW 30/2002, S. 2129 – 2133; in: ZdK (Hrsg.) Berichte und Dokumente, 2002, S. 13 – 23; in: Forum Familienund Erbrecht (FF) 2003, Heft 1, S. 4 – 8 266. Reform an Haupt und Gliedern. Eine Rede gegen die Selbstentmachtung des Parlaments, in: ZFSH/SGB 2003, Heft 2, S. 67 – 72; in: Deutscher Hochschulverband (Hrsg.), Glanzlichter der Wissenschaft. Ein Almanach, Stuttgart 2003, S. 117 – 125; in: Tutzinger Blätter 2003/2, S. 13 – 15; FAZ vom 31. 01. 2003. 267. Abschluß völkerrechtlicher Verträge und Föderalismus. Lindauer Abkommen, DÖV 2003, S. 265 – 270. 268. Kommunale Daseinsvorsorge im Spannungsfeld zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht, DVBl. 2003, S. 686 – 697. 269. Streitbare Demokratie, zusammen mit Wolfgang Durner, in: AöR (128) 2003, S. 340 – 371. 270. Steuerungs- und Reformfähigkeit des Staates, in: Mellinghoff/Morgenthaler/Puhl (Hrsg.), Die Erneuerung des Verfassungsstaates, 2003, S. 103 – 121; in: FU Berlin (Hrsg.) Fachbereichstag 2003, Berlin 2004, S. 14 – 31. 271. Föderalismus auf dem Prüfstand, in: Hrbek/Eppler (Hrsg.), Deutschland vor der Föderalismus-Reform. Ein Dokumentation, Tübingen 2003, S. 123 – 131. 272. Zukunftsfähigkeit des Föderalismus, in: Steuerberaterkammer Nordbaden (Hrsg.), 23. Forum Finanzpolitik und Steuerrecht (Dokumentation), Heidelberg 2003, S. 25 – 30. 273. Das anwaltliche Berufsrecht in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Bundesrechtsanwaltskammer/Bundesnotarkammer (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Deutsches Anwaltsinstitut e.V., 2003, S. 111 – 129. 274. Der Stand des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes, in: Eigentum – Ordnungsidee, Zustand und Entwicklungen, Bitburger Gespräche, Jahrbuch 2004/I, S. 97 – 110; Depenheuer (Hrsg.), Eigentum – Ordnungsidee, Zustand und Entwicklungen, Berlin / Heidelberg 2005, S. 93 – 104. 275. Die Parlamente – Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit, in: Tutzinger Blätter, 2004, Heft 1, S. 4 – 8. 276. Das Bundesverfassungsgericht als „Hüter der Grundrechte“, in: Brenner et al. (Hrsg), Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel, Festschrift für Peter Badura zum 70. Geburtstag, 2004, S. 411 – 429.

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277. Mehr Stiftungen, weniger Staat. Chancen und Aufgaben einer Zivilgesellschaft, in: Wirtschaft & Wissenschaft (Stifterverband) 1/2004, S. 44 – 51; in: Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft (Hrsg.), Stifter und Staat, 2006, S. 130 – 140 278. Staatsrechtliche Vorgaben für das Sozialrecht, in: v. Wulffen/Krasney (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 23 – 42. 279. Überholte Verfassung?, in: ZFSH/SGB 2004, S. 67 – 74 und FAZ vom 27. 11. 2003, S. 8. 280. Wirtschaftsverfassung in der Wirtschaftsordnung der Gegenwart, in: Osterloh et al. (Hrsg.), Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung. Festschrift für Peter Selmer zum 70. Geburtstag, Berlin 2004, S. 459 – 477. 281. Die Europäische Union – eine Chance für Deutschland?, in: Politische Studien, Heft 394, März/April 2004, S. 44 – 56. 282. Selbstverwaltung der Justiz, Mitteilungen des Hamburgischen Richtervereins (MHR), 2004, Heft 1, S. 4 – 11. 283. Verfassungsrechtliche Grundlagen der Besteuerung, in: Brandt (Hrsg.), Für eine bessere Steuerrechtskultur, Erster Deutscher Finanzgerichtstag 2004, Stuttgart u. a. 2004, S. 25 – 38. 284. Hat der Föderalismus eine Zukunft? in: Academia, 2004, Heft 6, S. 400 – 402. 285. Die Neuordnung der Europäischen Union, in: EuGRZ 2004, Heft 23, S. 753 – 758. 286. Die bundesstaatliche Ordnung in Deutschland seit der Wiedervereinigung, in: Wiener Blätter zur Friedensforschung, Nr. 121, Heft Dez./4/2004, S. 1 – 19; in: Festschrift für Heinz Schäfer, 2006, S. 595 ff. 287. Aktuelle Fragen zur Verfassung Deutschlands, in: Dörner (Hrsg.), Schwäbische Gesellschaft, Schriftenreihe 48 – 51, Stuttgart 2004, S. 67 – 93. 288. Problems of enforcing Constitutional Court decisions, in: Constitutional justice and the rule of law, Vilnius, Constitutional Court 2004, S. 81 – 91; in litauischer Sprache unter dem Titel: Konstitucinio Teismo sprendimu˛ vykdymo problemos. 289. Aktuelle grundrechtsdogmatische Entwicklungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Grupp/Hufeld (Hrsg.), Recht – Kultur – Finanzen, Festschrift für Reinhard Mußgnug zum 70. Geburtstag, Heidelberg 2005, S. 45 – 58. 290. Auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung – Grundgesetz und europäische Integration, in: Bröhmer/Bieber/u. a. (Hrsg.), Internationale Gemeinschaft und Menschenrechte, Festschrift für Georg Ress zum 70. Geburtstag, 2005, S. 699 – 712. 291. Das anwaltliche Berufsrecht im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: BRAK-Mitteilungen 2005, Heft 2, S. 50 – 55. 292. Föderalismus auf dem Prüfstand, auszugsweise in: Wirtschaftskompass (Wirtschaftsmagazin der IHK, Schwerin) 2005, Heft 12, S. 10 – 12; in: DVP 2005, Heft 1, S. 1 – 5. 293. Kommunale Aufgabenerfüllung im Lichte der europäischen Integration, in: Die Gemeinde (BWGZ) 2005, Heft 9, S. 293 – 299. 294. Reichweite und Grenzen der Tarifautonomie, in: Deutsches Anwaltsinstitut (Hrsg.), Brennpunkte des Arbeitsrechts 2005, Recklinghausen 2005, S. 5 – 21. 295. Recht im heutigen Staat, in: NVwZ-Sonderheft zum 70. Geburtstag von Klaus Finkelnburg, 2005, S. 3 – 7. 296. Das Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zu Politik und Öffentlichkeit, in: Stuttgarter Zeitung Nr. 76, 2005, S. 11.

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297. Zum Vertrag über eine Verfassung für Europa, in: ThürVBl. 2005, Heft 9, S. 193 – 199. 298. Bürgerengagement und Staatsverantwortung, in: Rotary Magazin 2005, Heft 8 (Heft 655 der Gesamtserie), S. 39 – 43. 299. Mehr Recht – weniger Gesetze, in: IHK Karlsruhe (Hrsg.), Mehr Recht – weniger Gesetze, DIHK-Jahresthema 2005, Standortvorteil Recht, 2005, S. 7 – 20; außerdem veröffentlicht als Sonderdruck (Presseinformation) der Industrie- und Handelskammer Karlsruhe und in: DIHK (Hrsg.), IHK-Jahresthema 2005: Standortvorteil Recht, 2006, S. 97 – 103. 300. Niedersächsischer Staatsgerichtshof, in: NdsVBl, Sonderheft zum 50-jährigen Bestehen des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs, 2005, S. 4. 301. Geltung der Menschenwürde als oberstes Verfassungsprinzip, in: Die Mahnung, Bund der Verfolgten des Naziregimes (Hrsg.), 2005, Heft 8/9, S. 1 – 3. 302. Koordination des Grundrechtsschutzes in Europa, in: ZSR, Band 124 (2005) II, S. 113 – 127. 303. Relative Offenheit, Zur Zukunft des Sozialstaats, in: ZFSH/SGB 2006, Heft 1, S. 3 – 7; in: FAZ Nr. 274, 2005, S. 8. 304. Verfassung ohne endgültiges Ziel, in: Rotary Magazin 2006, Heft 1 (Heft 660 der Gesamtserie), S. 40 – 43. 305. Umsetzung und Wirkung der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte aus der Perspektive der nationalen deutschen Gerichte, in: EuGRZ 2006, Heft 1 – 4, S. 1 ff.; englische Übersetzung in: HRLJ 2006, No. 1 – 4, p. 1 – 4. 306. Toleranz als Rechtsprinzip, in: Festschrift für Peter Raue zum 65. Geburtstag, 2006, S. 255 ff. 307. Die Verantwortung des Bürgers in der Gesellschaft, in: Bundesverband deutscher Banken, Die Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft – Politik, Wirtschaft und Bürger in der Verantwortung, Berlin 2006, S. 51 – 55. 308. Rechtsfolgen von Normenkontrollen, Karlsruher Gerichtstreffen, in: EuGRZ 2006, Heft 17 – 18, S. 482 und 530 – 532. 309. Mehr Gesetze, weniger Recht?, in: Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde e. V. (Hrsg.), Verbraucherpolitik heute, 2006, S. 33 – 41; in: Zeitschrift für das gesamte Lebensmittelrecht (ZLR) 2006, Heft 3, S. 235 – 243. 310. Eigentum, Wettbewerb, Sozialstaat, in: Forum (Hrsg.: Institut der deutschen Wirtschaft), Nr. 13, Juni 2006. 311. Die aktuellen Herausforderungen im Verhältnis zwischen Staat und Kirche, in: Zeitschrift „zur sache.bw.“, Heft 10/2006, S. 4 – 11. 312. Gestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers im Bereich der sozialen Sicherung, auszugsweise in: PKV Publik 2006, Heft 5, S. 53 – 54. 313. Der Sozialstaat aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: BzG (Beiträge zur Gesellschaftspolitik), Ausgabe 8 – 06, 6. Juli 2006. 314. Das Rechtsprechungsdreieck Karlsruhe – Luxemburg – Straßburg, in: Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften (Hrsg.), Speyerer Vorträge, Heft 89/2006. 315. Staatliche Rechtsgewährung, in: DRiZ 2006, Heft 9, S. 261 – 266. 316. § 30 Grundrechte und Sozialordnung; in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Band II 2006; S. 253 – 290.

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317. § 55 Drittwirkung der Grundrechte; in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Band II 2006, S. 1331 – 1361. 318. Lobbyismus und parlamentarische Demokratie, in: magazin, Friedrich Naumann Stiftung, Heft 1/2007, S. 12; in: liberal, Heft 1/2007, S. 16 – 21. 319. Sozialstaat und berufsständische Versorgung, in: ABV-report Nr. 2/2006; in: Anwaltsblatt, Heft 2/2007, S. 97 – 102; in: Arzt und Krankenhaus, Heft 7/2007, S. 215 – 220. 320. Die Würde des Menschen ist unantastbar, in: Die Ordnung der Freiheit, Festschrift zum siebzigsten Geburtstag von Christian Starck, 2007, S. 371 – 382. 321. Aktuelle Herausforderungen im Verhältnis zwischen Staat und Kirche unter besonderer Berücksichtigung der staatlichen Neutralitätspflicht, in: Pitschas/Uhle (Hrsg.), Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik, Festschrift für Rupert Scholz zum 70. Geburtstag, 2007, S. 1123 – 1139. 322. Das Subsidiaritätsprinzip – Bremse des europäischen Zentralismus?, in: Depenheuer/ Heintzen/Jestaedt/Axer (Hrsg.), Staat im Wort, Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 691 – 705. 323. Aktuelle grundrechtsdogmatische Entwicklungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Schutzbereich – Eingriff – Gesetzesvorbehalt, in: Merten/Papier (Hrsg.), Grundsatzfragen der Grundrechtsdogmatik, 2007, S. 81 – 99. 324. Die Mühsal der Ebene, Zur Beschränkbarkeit von Grund- und Menschenrechten, in: Breitenmoser et al. (Hrsg.), Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat, Liber amicorum Luzius Wildhaber, 2007, S. 523 – 535. 325. Zur Frage der Selbstverwaltung der Dritten Gewalt, in: BDVR Rundschreiben, 2007, S. 6 – 11. 326. Aktuelle Fragen der bundesstaatlichen Ordnung, in: NJW 2007, S. 2145 – 2148. 327. Die Rezeption allgemeiner Rechtsgrundsätze aus den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten durch den Europäischen Gerichtshof, in: EuGRZ 2007, S. 133 – 134. 328. Wirtschaftsordnung und Grundgesetz, in: APuZ, Heft 13/2007, S. 3 – 9. 329. Steuerrecht im Wandel – verfassungsrechtliche Grenzen der Steuerpolitik, in: DStR 2007, S. 973 – 978. 330. Zasada pomocniczo’sci czy europejski centralizm? (Subsidiaritätsprinzip versus Zentralismus in Europa?), in: Przeglad Legislacyjny, Nr 1 (59)/2007, S. 13 – 23 (in polnischer Sprache). 331. Zur Frage der Selbstverwaltung der Dritten Gewalt, in: Kirchhof/Papier/Schäffer (Hrsg.), Rechtsstaat und Grundrechte, Festschrift für Detlef Merten, 2007, S. 185 – 198. 332. Leistungsgrenzen und Finanzierung des Sozialstaats, in: Magiera/Sommermann (Hrsg.), Freiheit, Rechtsstaat und Sozialstaat in Europa; Forschungssymposium anlässlich der Emeritierung von Universitätsprofessor Dr. jur. Dr. rer.pol. Detlef Merten (Schriften zum europäischen Recht, Nr. 131), 2007, S. 93 – 99. 333. Alterssicherung durch berufsständische Versorgungswerke, in: Becker/Kaufmann/von Maydell/Schmäh/Zacher (Hrsg.), Alterssicherung in Deutschland; Festschrift für Franz Ruland zum 65. Geburtstag, 2007, S. 455 – 476. 334. Gerichte an ihren Grenzen: Das Bundesverfassungsgericht, in: Hilf/Kämmerer/König (Hrsg.), Höchste Gerichte an ihren Grenzen, 2007, S. 135 – 157. 335. Reformstau durch Föderalismus?, in: Merten (Hrsg.), Die Zukunft des Föderalismus in Deutschland und Europa, 2007, S. 123 – 136.

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336. Erbrecht und Verfassung; in: Zeitschrift für die gesamte erbrechtliche Praxis (ErbR), Heft 5/2007, S. 134 – 143. 337. Staatliche Justizgewähr, in: BDVR-Rundschreiben 01/2008, S. 11 – 16. 338. Bedürfen Staat und Gesellschaft der Kirche?, in: Keck (Hrsg.), Glauben gestalten – Glaubensgestalten: Mit Robert Zollitsch auf dem Weg. Zum 70. Geburtstag des Erzbischofs von Freiburg, 2008, S. 244 – 251. 339. Freiheit als Sinn des Staates, in: Rede zur Freiheit in Nürnberg, 2008, S. 13 – 31. 340. Europe’s New Realism: The Treaty of Lisbon, in: European Constitutional Law Review 2008, Volume 4, Issue 3, S. 421 – 428. 341. Freiheit und Verantwortung des Unternehmers, in: Herdegen/Klein/Papier/Scholz (Hrsg.), Staatsrecht und Politik; Festschrift für Roman Herzog zum 75. Geburtstag, 2009, S. 339 – 353. 342. Aktuelle Grundfragen des Verfassungsrechtsschutzes zum Recht auf effektiven Rechtschutz, in: Magiera/Sommermann (Hrsg.), Daseinsvorsorge und Infrastrukturgewährleistung, 2009, S. 93 – 97. 343. Berlin, Brüssel, Straßburg, Luxemburg oder Karlsruhe – wer gibt uns Recht?, in: Veröffentlichung der auf dem 47. Deutschen Verkehrsgerichtstag am 29. und 30. Januar 2009 in Goslar gehaltenen Referate und erarbeiteten Empfehlungen, 2009, S. 29 – 50. 344. Das Bundesverfassungsgericht als Hüter der Grundrechte, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band 3, 2009, S. 1007 – 1029. 345. Le Conseil constitutionnel et les jurisdictions européennes, in: Cinquantenaire du Conseil constitutionnel, 2009, S. 61 – 62. 346. Der gesellschaftliche Diskurs – Grundlage für Politik und Rechtsprechung in einer freiheitlichen Gesellschaft, in: Solide Staatsfinanzen – die Finanzmarktkrise, ihre Folgen und ihre Lehren, 2009, S. 37 – 46. 347. Kodifikation – ein Mittel zur guten Gesetzgebung?, in: Bohne/Kloepfer (Hrsg.), Das Projekt eines Umweltgesetzbuchs 2009, 2009, S. 17 – 29. 348. Politisches Handeln im Spannungsfeld von Freiheit, Verantwortung und Gleichheit, in: Papier/Homann (Hrsg.), Freiheit und Moral, 2009, S. 7 – 19. 349. Grundgesetz und Soziale Marktwirtschaft, in: Grundgesetz und Soziale Marktwirtschaft – Ordnung der Freiheit, der sozialen Gerechtigkeit und der Zukunft, Symposium am 28. Juli 2009, 2009, S. 15 – 22. 350. Grundrechtsschutz durch die Fachgerichtsbarkeit, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band 3, 2009, S. 977 – 1005. 351. Die Rundfunkordnung des BVerfG, in: Festheft zum 65. Geburtstag von Bernhard Töpper, 2009, S. 5 – 7. 352. 60 Jahre Grundgesetz – Kontinuität und Wandel der Verfassung, in: Fenrich/Papier (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz, 2009. 353. Soziale Nachhaltigkeit nach dem Grundgesetz, in: Manssen/Jachmann/Gröpl (Hrsg.), Nach geltendem Verfassungsrecht; Festschrift für Udo Steiner zum 70. Geburtstag, 2009, S. 564 – 579. 354. Verfassung und Verfassungswandel, in: Robertson-von Trotha (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz – Interdisziplinäre Perspektiven, 2009, S. 13 – 25. 355. Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zu den Fachgerichtsbarkeiten, in: Brennpunkt des Verwaltungsrechts, 2009, S. 23 – 44.

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356. Vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band 3, 2009, S. 365 – 404. 357. Zukunftsfragen des Parlamentarismus im Lichte der Föderalismusreform in Deutschland, in: Gröhe/Krings/Borchard/Baus (Hrsg.), Föderalismusreform in Deutschland, 2009, S. 15 – 25. 358. „Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit“ – Das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: Glanzlichter der Wissenschaft – ein Almanach, 2009, S. 107 – 116. 359. Aktiv teilhaben – Wahlrecht: Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts kann sich ein Gesetzesinitiativrecht für Bürger vorstellen, in: Das Parlament, 59. Jahrgang, Nr. 15/16, 2009, S. 9. 360. Grundgesetz und Wirtschaftsverfassung, in: WM 2009, S. 1869 – 1873. 361. Recht und Freiheit, 60 Jahre Grundgesetz – 20 Jahre friedliche Revolution, in: ThürVBl 9/2009, S. 193 – 197; in: Deutschland Archiv 4/2009, S. 653 – 659. 362. Die starke rechtspolitische Stimme des djb, in: djbZ 4/2009, S. 169 – 171. 363. „Ich schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen“, in: Marine Forum 10/2009, S. 32 – 33. 364. Ein Stück deutsche Rechtsgeschichte, in: Rotary Magazin April 2009, S. 56 – 57. 365. Verfassung und Verfassungswandel, in: Law Zone 1/2009, S. 6 – 12. 366. Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zu den Fachgerichtsbarkeiten, in: DVBl 8/ 2009, S. 473 – 481. 367. Die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit, in: Deutsche Richter Zeitung 5/2009, S. 130 – 132. 368. „Kein radikaler Systemwechsel in der Justiz“, in: ZRP 4/2009, S. 125 – 126. 369. Das Versammlungsrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: BayVBl 2010, 225 – 234. 370. Das Bundesverfassungsgericht als Anreger und Hüter der Verfassungsentwicklung, in: Herzog/Neumann (Hrsg.), Festschrift für Winfried Hassemer, 2010, S. 185 – 198. 371. Die Bedeutung des Grundgesetzes im Europäischen Staatenverbund, in: Stern (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz, 2010, S. 107 – 119. 372. Die Zukunft des Sozialstaates in Deutschland und Europa, in: DVP 2/10, S. 46 – 52; in: NDV Januar 2010, S. 10 – 17. 373. Online-Angebote und Rundfunk (zusammen mit Meinhard Schröder), in: FUNK Korrespondenz 32/2010, S. 3 – 20; auch veröffentlicht unter dem Titel „Gebiet des Rundfunks“, in: epd medien Heft 60/2010, S. 16 – 34. 374. Europas neue Nüchternheit: Der Vertrag von Lissabon, in: Pernice/Otto (Hrsg.), Europa neu verfasst ohne Verfassung, 2010, S. 25 – 36. 375. Rechtsstaat im Risiko, in: DVBl 13/2010, S. 801 – 807. 376. Der Stellenwert der Arbeit des Deutschen Juristentages für die Rechtsprechung, in: Busse (Hrsg.), 150 Jahre deutscher Juristentag, 2010, S. 605 – 621. 377. § 176 Justizgewähranspruch, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band VIII: Grundrechte: Wirtschaft, Verfahren, Gleichheit, 3. Auflage, 2010, S. 492 – 505.

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378. § 177 Rechtsschutzgarantie, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band VIII: Grundrechte: Wirtschaft, Verfahren, Gleichheit, 3. Auflage, 2010, S. 508 – 553. 379. § 180 Staatshaftung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band VIII: Grundrechte: Wirtschaft, Verfahren, Gleichheit, 3. Auflage, 2010, S. 649 – 693. 380. Zustimmungsbedürftigkeit eines Gesetzes zur Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken, in: NVwZ 2010, S. 1113 – 1117. 381. BDA und DGB in einem Boot – Der Ruf nach dem Gesetzgeber, in: DER BETRIEB (DB) 2010 Beilage Standpunkt zu Heft 44, S. 75 – 76. 382. Zur Verantwortung der Landtage für die europäische Integration, in: ZParl 2010, S. 903 – 908. 383. Von der Volkszählung zur Speicherung von Verbindungsdaten – 25 Jahre informationelle Selbstbestimmung, in: Der Hessische Datenschutzbeauftragte (Hrsg.), 17. Wiesbadener Forum Datenschutz, 2010, S. 13 – 25. 384. Rechtsprechung zwischen Subsumtion und Gesetzessurrogation, in: Mass (Hrsg.), Montesquieu zwischen den Disziplinen, 2010, S. 15 – 26. 385. Der Sozialstaat aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: BG ETEM (Hrsg.), 125 Jahre Veränderung, Beitrag zum 125-jährigen Bestehen der gesetzlichen Unfallversicherung, 2010, S. 47 – 57. 386. Das Umweltrecht vor dem Hintergrund von Bundesstaatlichkeit und Europäisierung, in: Hecker/Hendler/Proelß/Reiff (Hrsg.), Aktuelle Rechtsfragen und Probleme des freien Informationszugangs, insbesondere im Umweltschutz, 2011, S. 11 – 25. 387. Sozialstaatlichkeit unter dem Grundgesetz, in: Hohmann-Dennhardt/Masuch/Villiger (Hrsg.), Grundrechte und Solidarität, Festschrift für Renate Jaeger, 2011, S. 285 – 296. 388. Bewährung und Reform der bundesstaatlichen Ordnung, in: Uhle (Hrsg.), Dresdner Vorträge zum Staatsrecht, Band 2, 2011, S. 5 – 33. 389. Die Sicherung des Rechtsstaates durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Scholler (Hrsg.), Die Sicherung des Rechtsstaatsgebotes im modernen europäischen Recht – anhand von Garantien im Recht der Europäischen Union sowie in Russland und Deutschland, Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 1188, 2011, S. 11 – 26. 390. Veranlassung und Verantwortung aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: DVBl 4/2011, S. 189 – 252. 391. Die verfassungsrechtliche Situation der PKV in der Bundesrepublik Deutschland, in: Festschrift zum 75-jährigen Bestehen der Hallesche Krankenversicherung auf Gegenseitigkeit, 2011, S. 11 – 21. 392. Bundesstaatlichkeit und Europäische Integration – Die Rolle der Deutschen Bundesländer, in: ThürVBl. 3/2011, S. 49 – 52. 393. Die Einführung einer gesetzlichen Frauenquote für die Aufsichtsräte deutscher Unternehmen unter verfassungsrechtlichen Aspekten (zusammen mit M. Heidebach), ZGR 2011, S. 305 – 333. 394. Das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes – der rechtliche Rahmen der sozialen Sicherung, in: Pöttering (Hrsg.), Die Zukunft des Sozialstaates, 2011, S. 47 – 72. 395. Freiheit und Verantwortung des Unternehmers, in: Ordnungspolitik in Deutschland – Quo Vadis? (CDU/CSU Mittelstandsveröffentlichung), 2011, S. 164 – 176.

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396. Das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit, in: Baumeister/Roth/Ruthig (Hrsg.), Staat, Verwaltung und Rechtsschutz, Festschrift für Wolf-Rüdiger Schenke, 2011, S. 263 – 276. 397. Verfassungsrechtlicher und unionsrechtlicher Rahmen des Wirtschaftsrechts, in: Joost/ Oetker/Paschke (Hrsg.), Festschrift für Franz Jürgen Säcker, 2011, S. 1093 – 1102. 398. Verfassungsrechtliche Schranken einer „Verhandlungsdemokratie“, in: Dankt der Staat ab? – Wo bleibt das Primat der Politik? Unabhängigkeit und demokratische Legitimität im 21. Jahrhundert (Transparency International Deutschland e.V.), 2011, S. 35 – 45. 399. In Vielfalt geeint, in: Müller (Hrsg.), Staat und Recht, 2011, S. 6 – 9. 400. Das Bundesverfassungsgericht im Kräftefeld zwischen Karlsruhe, Luxemburg und Straßburg, in: Hestermeyer u. a. (Hrsg.), Coexistence, Cooperation and Solidarity, Festschrift für Rüdiger Wolfrum, 2011, Band 2, S. 2041 – 2056. 401. Aufsicht im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, in: Becker/Weber (Hrsg.), Funktionsauftrag, Finanzierung, Strukturen – Zur Situation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland (Schriftenreihe des Archivs für Urheber- und Medienrecht, Band 265), Festschrift für Carl-Eugen Eberle, 2011, S. 109 – 120. 402. § 91 Schutz der Wohnung, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band 4, 2011, S. 291 – 334. 403. Gesetzliche Regelung der Tarifeinheit aus verfassungsrechtlicher Sicht (zusammen mit C. Krönke), ZfA 2011, S. 807 – 866. 404. Entwicklungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung seit dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Bitburger Gespräche in München 2012, S. 17 – 31. 405. Grundgesetz und Werteordnung, in: Sachs/Siekmann (Hrsg.), Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat, Festschrift für Klaus Stern, 2012, S. 551 – 561. 406. Das Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zu Politik und Öffentlichkeit, in: Melville/ Rehberg (Hrsg.), Dimensionen institutioneller Macht, 2012, S. 253 – 266. 407. Steuerungsprobleme und die Modernisierung bundesstaatlicher Ordnung, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus Band 4, 2012, S. 361 – 386. 408. Die gesetzliche Rentenversicherung in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Eichenhofer/Rische/Schmähl (Hrsg.), Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung – SGB VI, 2. Aufl. 2012, S. 739 – 765. 409. Der Einfluss des Verfassungsrechts auf das Sozialrecht, in: Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch Band 4, 5. Auflage, 2012, S. 112 – 162. 410. Investitionen in Erneuerbare Energien und Vertrauensschutz (zusammen mit C. Krönke), REE 2012, S. 1 – 10.

III. Sonstiges 1.

„Der neue Paragraph 116 ist nicht verfassungswidrig“, Artikel in der FAZ vom 7. 2. 1986, S. 8 – 9.

2.

„Der unitarische Bundesstaat – Einer Reföderalisierung der Bundesrepublik sind Grenzen gesetzt“, in: FAZ, Die Gegenwart, Nr. 257/1998.

3.

„Das Rentenversicherungsrecht vor dem Grundgesetz: Eigentum, Gleichheit und Schutz der Familie“, in: FAZ Nr. 133 v. 11. 6. 2001, S. 12.

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4.

„Macht und Ohnmacht der Parlamente. Entparlamentisierung der Politik?“, in: Interparlamentarische Arbeitsgemeinschaft (Hrsg.), Protokoll Nr. 76 (lfd.Nr. 5427), Bonn 2003, S. 4 – 10 (Vortrag) und S. 23 – 25 (Diskussionsbeitrag).

5.

Festvortrag 50 Jahre Verfassung des Landes Baden-Württemberg unter dem Titel: „Es lohnt sich, das Senatsmodell zu diskutieren“; große Teile des Vortrags in: Staatsanzeiger für Baden-Württemberg, Nr. 45 vom 17. 11. 2003, S. 3.

6.

„Parlamentarismus in der Krise?“, in: EUROjournal pro management, 2005, Heft 1, S. 38 – 39.

7.

Bürgervertrauen, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Angst ist der Feind der Freiheit, Nr. 43, 2005, S. 15.

8.

„Zum Spannungsverhältnis von Lobbyismus und parlamentarischer Demokratie“, in: Frankfurter Rundschau v. 27. 02. 2006, S. 9; außerdem unter www.bpb.de/files/LD34GU. pdf.

9.

„Menschenwürde, Untermensch“, in: PONS – Prominente Wörter, 2008, S. 46 – 47.

10. Festvortrag zur Veranstaltung aus Anlass des 25. Jahrestages der Verkündung des Volkszählungsurteils unter dem Titel: „Das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts“, in: 25 Jahre Volkszählungsurteil, Datenschutz – Durchstarten in die Zukunft, 2009, S. 13 – 25. 11. „Deutschland kann stolz sein“, Statement anlässlich 60 Jahre Grundgesetz, in: Tutzinger Nachrichten, 27. Jahrgang, Heft 05, Mai 2009, S. 7. 12. „Großbaustelle Bundesstaat“, in: FAZ, Nr. 117 vom 22. 05. 2009, S. B1-B2. 13. „Habe die Uni stets innovativ erlebt“ – Ein sehr persönlicher Beitrag des früheren Bielefelder Jura-Professors und heutigen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier, in: Neue Westfälische, Bielefelder Tagesblatt, Nr. 266/2009 Beilage vom 14./ 15.11., S. 7. 14. „Haben Sie schon den Kerscher-Artikel gelesen?“ – Was das Bundesverfassungsgericht von Helmut hält: Präsidenten und Richter schreiben über den Korrespondenten, in: SZ, Spezialausgabe für Helmut Kerscher vom 10. 12. 2009, S. 1. 15. „Persönliche Bilanz anlässlich 20 Jahre Mauerfall“, in: FOCUS vom 02. 11. 2009. 16. „Das Grundgesetz ist ein Segen“, in: Die Welt vom 18. 02. 2009, S. 3 – 6. 17. „Die beste Verfassung, die Deutschland je hatte“, in: Südwestpresse Nr. 117 vom 23. 05. 2009, Beilage S. 2 – 3. 18. „Wir feiern die beste Verfassung, die Deutschland je hatte“, in: Bildzeitung vom 22. 05. 2009, S. 2. 19. „Darauf kann Deutschland stolz sein.“, in: Neue Westfälische Zeitung Nr. 116 vom 20. 05. 2009, S. 10. 20. „So gültig wie eh und je“, in: Blickpunkt Bundestag, Spezial, Juni 2009, S. 4 – 5. 21. „Dissens in Grundsatzfrage“, in: FOCUS 2009, 15, S. 22 – 23. 22. „Freiheit und Würde für alle“, in: Diakonie magazin 1/2009, S. 17. 23. „Glücksfall für Deutschland“, in: Mittelbayerische Zeitung, Nr. 111 vom 15. 05. 2009, S. 3. 24. „Kein Auftrag zu neuer Verfassung“, in: Thüringer Allgemeine, Nr. 96 vom 25. 04. 2009, S. 2.

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Publikationen von Hans-Jürgen Papier

25. „Herr Papier, braucht Deutschland eine neue Verfassung?“, in: Berliner Zeitung, Nr. 118 vom 23./24. 05. 2009, S. 6 – 7. 26. „Der Richter vor dem unsere Regierung zittert“, in: Bild am Sonntag, Nr. 18 vom 03. 05. 2009, S. 4 – 5. 27. „Eine Zuschauer-Demokratie wäre eine ernste Gefahr“, in: Westdeutsche Zeitung, Nr. 107 vom 09. 05. 2009, S. 4. 28. „Staatliche Aufgaben begrenzen“, in: Badische Zeitung vom 26. 09. 2009. 29. „Wir beanstanden nicht die Eingriffe, sondern ihre Ausgestaltung“, in: Darmstädter Echo vom 02. 10. 2009. 30. „Wir erwarten Respekt“, in: Spiegel vom 21. 12. 2009. 31. „Wir sollten mehr Föderalismus wagen“, in: Hamburger Abendblatt vom 31. 12. 2009. 32. Die Juristische Schulung im 50. Jahr ihres Bestehens, in: JuS 1/2010, Editorial S. III. 33. „Papier spricht sich für Volksinitiative aus“, in: Badische Neuste Nachrichten vom 08. 01. 2010. 34. „Der Zweck des Staates ist die Gewährleistung der Freiheit“, in: FAZ vom 19. 01. 2010. 35. „Leistungssätze müssen nachvollziehbar sein“, in: Südwestpresse vom 15. 02. 2010. 36. „Mal sind wir zu strikt, mal sind wir zu offen“, in: Westfalen Blatt vom 15. 02. 2010. 37. „Neue Maßstäbe für Verhältnis von Freiheit und Sicherheit gesetzt“, in: Badisches Tagblatt vom 27. 02. 2010. 38. „Der Sinn des Staates ist der Schutz der Freiheit“, in: Welt am Sonntag vom 28. 02. 2010. 39. „Lobbyismus ist eine latente Gefahr für den Rechtsstaat“, in: Börsen-Zeitung vom 02. 03. 2010. 40. „Das Grundgesetz verbietet die Totalüberwachung der Bürger“, in: SZ vom 06. 03. 2010. 41. „Der Gesetzgeber hat auch eine Schutzpflicht zugunsten der Presse“, in: pro media, Heft 9/ 2010. 42. „Real existierender Lobbyismus“; in: Politik & Kommunikation 4/2010, S. 20 – 22. 43. „Europa muss bescheidener werden“; in: Bildzeitung vom 01. 03. 2012, S. 2.

Anhang 2: Zentrale Entscheidungen des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts unter dem Vorsitz von Hans-Jürgen Papier Urteil zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Bayerischen Schwangerenhilfeergänzungsgesetzes vom 27. Oktober 1998, Az. 1 BvR 2306, 2314/96 u. a., BVerfGE 98, 265 Urteil betreffend die Veröffentlichung von Fotografien aus dem Alltags- und Privatleben Prominenter – Prinzessin Caroline von Monaco – vom 15. Dezember 1999, Az. 1 BvR 653/ 96, BVerfGE 101, 361 Urteil betreffend das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz (EALG) über die Wiedergutmachung von Enteignungsunrecht vom 22. November 2000, Az. 1 BvR 2307/94 u. a., BVerfGE 102, 254 Urteil zur Verfassungsmäßigkeit des Ausschlusses von Familiendoppelnamen vom 30. Januar 2002, Az. 1 BvL 23/96, BVerfGE 104, 373 Beschluss zur Rechtsstellung des (mutmaßlichen) leiblichen, aber nicht rechtlichen Vaters (so genannter biologischer Vater) vom 9. April 2003, Az. 1 BvR 1493/96, 1724/01, BVerfGE 108, 82 Urteil zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der akustischen Wohnraumüberwachung zu Strafverfolgungszwecken („Großer Lauschangriff“) vom 3. März 2004, Az. 1 BvR 2378/98, 1084/99, BVerfGE 109, 279 Urteil zur Nichtigkeit der Abschussermächtigung im Luftsicherheitsgesetz vom 15. Februar 2006, Az. 1 BvR 357/05, BVerfGE 115, 118 Beschluss zur teilweisen Unvereinbarkeit des § 19 Abs. 1 Erbschaftsteuergesetz mit Art. 3 Abs. 1 GG vom 7. November 2006, Az. 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 Beschluss zu den Grenzen der Kunstfreiheit – Roman Esra – vom 13. Juni 2007, Az. 1 BvR 1783/05, BVerfGE 119, 1 Beschluss zur Reichweite des Grundrechts auf Schutz der Persönlichkeit bei der Bildberichterstattung über das Privatleben Prominenter – Caroline von Hannover – vom 26. Februar 2008, Az. 1 BvR 1602, 1606, 1626/07, BVerfGE 120, 180 Urteil zu verfassungsrechtlichen Voraussetzungen der Zulässigkeit des staatlichen Zugriffs auf informationstechnische Systeme („Online-Durchsuchungen“) vom 27. Februar 2008, Az. 1 BvR 370, 595/07, BVerfGE 120, 274 Urteil zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der Gesundheitsreform 2007 vom 10. Juni 2009, Az. 1 BvR 706/08 u. a., BVerfGE 123, 186 Urteil zu den Ladenöffnungszeiten in Berlin vom 1. Dezember 2009, Az. 1 BvR 2857/07 u. a., BVerfGE 125, 39 Urteil zur Verfassungswidrigkeit der Regelleistungen nach SGB II („Hartz IV-Gesetz“) vom 9. Februar 2010, Az. 1 BvL 1/09 u. a., BVerfGE 125, 175

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Zentrale Entscheidungen

Urteil zur Verfassungswidrigkeit der konkreten Ausgestaltung der Vorratsdatenspeicherung vom 2. März 2010, Az. 1 BvR 256/08 u. a., BVerfGE 125, 260

Autorenverzeichnis Prof. Dr. Peter Badura em. Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. Dr. Ulrich Becker, LL.M. Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. Dr. Michael Brenner Professor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Prof. Dr. Rüdiger Breuer em. Professor an der Universität Bonn Prof. Dr. Brun-Otto Bryde em. Professor an der Justus-Liebig-Universität Gießen, Richter des Bundesverfassungsgerichts a.D. Prof. Dr. Martin Burgi Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio Professor an der Universität Bonn, Richter des Bundesverfassungsgerichts a.D. Prof. Dr. Dr. Wolfgang Durner, LL.M. Professor an der Universität Bonn Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Grimm em. Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin, Richter des Bundesverfassungsgerichts a.D. Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Hassemer em. Professor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. Main, Richter des Bundesverfassungsgerichts a.D. Prof. Dr. Matthias Herdegen Professor an der Universität Bonn

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Autorenverzeichnis

Prof. Dr. Roman Herzog Bundespräsident a.D., Präsident des Bundesverfassungsgerichts a.D. Dr. Andreas Heusch Präsident des Verwaltungsgerichts Düsseldorf Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann-Riem em. Professor an der Universität Hamburg, Richter des Bundesverfassungsgerichts a.D. Dr. Jens Hofmann Richter am Verwaltungsgericht Karlsruhe Prof. Dr. Dieter Hömig Richter des Bundesverfassungsgerichts a.D. Prof. Dr. Peter M. Huber Minister a.D., Richter des Bundesverfassungsgerichts, Karlsruhe / München Prof. Dr. Hans D. Jarass, LL.M. Professor an der Universität Münster Prof. Dr. Jens Kersten Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof Professor an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Paul Kirchhof Professor an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Richter des Bundesverfassungsgerichts a.D. Prof. Dr. Hans Hugo Klein em. Professor an der Georg-August-Universität Göttingen, Richter des Bundesverfassungsgerichts a.D. Prof. Dr. Michael Kloepfer em. Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Stefan Korioth Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München

Autorenverzeichnis 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44

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Dr. Norbert Lammert Präsident des deutschen Bundestages, Berlin Prof. Dr. Moris Lehner Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. Dr. Johannes Masing Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Richter des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Dr. Detlef Merten em. Professor an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften, Speyer Prof. Dr. Lerke Osterloh Professorin an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. Main, Richterin des Bundesverfassungsgerichts a.D. Prof. Dr. Andreas Paulus Professor an der Georg-August-Universität Göttingen, Richter des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Dr. h.c. Franz-Joseph Peine em. Professor an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) Prof. Dr. Rupert Scholz em. Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Minister a.D. Dr. Meinhard Schröder Akademischer Rat an der Ludwig-Maximilians-Universität München PD Dr. Foroud Shirvani Privatdozent an der Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Vassilios Skouris Präsident des Europäischen Gerichtshofs, Thessaloniki / Luxemburg Prof. Dr. Udo Steiner em. Professor an der Universität Regensburg, Richter des Bundesverfassungsgerichts a.D. Prof. Dr. Rudolf Streinz Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München

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Autorenverzeichnis

Prof. Dr. Andreas Voßkuhle Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Karlsruhe Prof. Dr. Christian Waldhoff Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Christian Walter Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. Dr. Hans F. Zacher em. Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München