Europa - Ziel und Aufgabe: Festschrift für Arno Krause zum 70. Geburtstag [1 ed.] 9783428501748, 9783428101740

Jede Festschrift hat einen einmaligen Charakter, weil die damit zu ehrende Persönlichkeit einmalig ist. Dr. h. c. Arno K

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German Pages 365 Year 2000

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Europa - Ziel und Aufgabe: Festschrift für Arno Krause zum 70. Geburtstag [1 ed.]
 9783428501748, 9783428101740

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HEINER TIMMERMANN I HANS DIETER METZ (Hrsg.)

Europa - Ziel und Aufgabe Festschrift für Arno Krause zum 70. Geburtstag

Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen Herausgegeben von Heiner Timmermann

Band 90

~1

I

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Buropa - Ziel und Aufgabe Festschrift für Amo Krause zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von

Reiner Timmermann Hans Dieter Metz

Duncker & Humblot · Berlin

Dieses Projekt wurde mit Hilfe der ASKO Europa-Stiftung unterstützt.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Europa- Ziel und Aufgabe : Festschrift für Arno Krause

zum 70. Geburtstag I Hrsg.: Heiner Timmermann; Hans Dieter Metz. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen e. V.; Bd. 90) ISBN 3-428-10174-X

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0944-7431 ISBN 3-428-10174-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 8

Vorwort Jede Festschrift hat einen einmaligen Charakter, weil die damit zu ehrende Persönlichkeit einmalig ist. 25 Freunde und Wegbegleiter von Herrn Dr. h. c. Amo Krause fanden sich, um für den Jubilar zu seinem 70. Geburtstag einen Versuch zu wagen, in Schriftform sein berufliches und persönliches Lebenswerk zusammenzufassen. Die Herausgeber haben die Beiträge in ftinf Kapiteln angeordnet: - Grundfragen der nationalen und internationalen politischen Bildung - Demokratie und Föderalismus - Europa als Friedens- und Wertegemeinschaft - Europa und die Europäische Integration in Geschichte und Gegenwart - Internationale Beziehungen Den Titel hat Amo Krause selbst gewählt. Er gibt Zeugnis von seinem europäischen Engagement, seinem rastlosen Eintreten für den europäischen Einigungsprozeß auf freiheitlicher und föderaler Grundlage, für die europaorientierte politische Bildung und politische Wissenschaft. Gleichermaßen impliziert er das Prozeßhafte des europäischen Einigungswerkes und der Dynamik der mit ihm verbundenen Politikfelder.

Heiner 1immennann und Hans Dieter Metz

Inhaltsverzeichnis Hans Dieter Metz

Laudatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

I. Grundfragen der nationalen und internationalen politischen Bildung Hellmut K. Geissner

Wie öffentlich ist das Private? Aus dem Hinterland politischer Bildung . . . . . . . . . . . . . .

17

Otto Schmuck

Von der Wirtschaftsgemeinschaft zum ,,Europa" der Bürger. Politische Mitwirkung in der EU und der Beitrag der politischen Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

Dieter 1iemann

Möglichkeiten und Grenzen internationaler Kooperation in der Geschichtsdidaktik. Erfahrungen als Mitautor des Europäischen Geschichtsbuches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

Thorwald Schleesselmann

Ein Unternehmen schickt seine Jugend nach Europa. Die Harnburgischen Electricitäts-Werke und die Europäische Akademie Otzenhausen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

Christophe Langenbrink

FIME: Leitbild Europa. Politischer Bildungsauftrag als fortwährender Bestandteil europäischer Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

ll. Demokratie und Föderalismus Helmut Reinalter

Der schwierige Weg zur Demokratie

79

Peter Steinbach

,,Ein Volk, das die Gefahr nicht scheut ..."- Anmerkungen zur Revolution von 1848

87

8

Inhaltsverzeichnis

Claus Schöndube

Föderalismus als politisches Bauprinzip für Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

m. Europa als Friedens- und Wertegemeinschaft Claus Schöndube

,,Meine Rache heißt Verbrüderung". Die fixe Idee des Victor Hugo . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

Marian Zgomiak

Der Entwurf der Bildung einer mitteleuropäischen Föderation während des Zweiten Weltkrieges und die Rolle von J6zef Hieronim Retinger beim Aufbau der europäischen Institutionen in den Nachkriegsjahren. Ein Beitrag zur Geschichte der Anfange der Europäischen Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

Jörg K. Hoensch

,,Rückkehr nach Europa"- Ostmitteleuropa an der Schwelle zum 21. Jahrhundert . . . 135

Heinrich Schneider

Sicherheitspolitik im gemeinsamen Europa - Inmitten einer neuen Wende. Von der Friedenseuphorie (1989/90) zur Wiederkehr kriegerischer Politik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

IV. Europa und die Europäische Integration in Geschichte und Gegenwart Gerhard Eickhom

Grenzen verbinden: Die Arbeitsgemeinschaft Europäischer Grenzregionen - eine Bocholter Initiative .. ........... . ...... . . .... .............. . ....... ... ...... .... . .. .. 181

Barthold C. Witte

Einheit in der Vielfalt stärken. Europäische Kulturpolitik vor großen Aufgaben . . . . . . 191

Wemer Weidenfeld

Europa 2000- die Union vor der Herausforderung ihrer Vollendung . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

Inhaltsverzeichnis

9

Helmut Wagner

Nationen als ,.Konstituanten" der Verfassung. Eine Einführung in die beginnende europäische Verfassungsdebatte....... . ......... . ....... .. .. . .......... . ........ . .. . ... 213 Torsten Stein

Europas Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 JoLeinen

Europäische Verfassung -Grundlage einer föderalen und demokratischen Union . . . . 249 Doris Pack

Das Europäische Parlament als Volksvertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

V. Internationale Beziehungen

Francoise Manfrass-Sirjacques

Die Einkehr der ,,Normalität" in die deutsch-französischen Beziehungen: Gefahr oder Chance? ................... . .................... . .... . ...................... . .. 269 Hans Jürgen Koch

,,Alle deutschen tragen Lederhosen." Anmerkungen über Sinn und Widersinn von Vorurteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Heiner 1immermann

Deutschlands Zukunft- Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 LdszloKiss

Ungarn: Nation, Minderheiten und Integration. Spannungsverhältnis und Wechselwirkung von Nation und Außenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Barbara Rowe

Großbritannien - nach Europa auf Umwegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Curriculum Vitae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Ehrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

"Wie lächerlich und weltfremd ist der, der sich über irgend etwas wundert, was im Leben vorkommt!" (Mare Aurel, Selbstbetrachtungen, 12, 13)

Laudatio Von Hans Dieter Metz Dr. h.c. Amo Krause, dem diese Festschrift gewidmet ist, hat aus der europäischen Einigungspolitik eine Lebensaufgabe gemacht. Wie wenige andere hat er dabei seine berufliche Karriere mit dem Erfolg dieser Einigungspolitik verbunden. Dies gilt auch für die Zeiten, in denen das Ziel nicht unbedingt aussichtsreich schien. Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit, die man in anderen Zusammenhängen als Grundtugenden eines Unternehmers ansehen würde, haben den heute Siebzigjährigen von Anfang an ausgezeichnet. Die erste Phase seiner europapolitischen Erfahrungen endete mit dem Referendum über das Europäische Saarstatut 1955. Schon mit 19 Jahren hatte Arno Krause das Amt eines Generalsekretärs der Europa-Union Saar übernommen. Nun stellte er sich eine neue Aufgabe als Bildung~referent bei der Europa-Union in Bonn. Diese Entscheidung war wohl vor allem durch die Erkenntnis motiviert, daß der Erfolg des zukünftigen Einigungsprozesses von Information und Bildung abhängen würde. In dichter Folge sind seinerzeit Monographien über wichtige Grund- und aktuelle Fragen der Integration erschienen, die teilweise von Amo Krause mit angestoßen worden waren. Eine Fülle von Kontakten wurde damals angebahnt, die in politische und menschliche Freundschaften mündeten; sie dauern teilweise noch heute an. Eine weitere Eigenschaft hat sich zum Wohl der von ihm initiierten Projekte ausgewirkt: Die Fähigkeit zur Verknüpfung von verschiedenen Interessen und Zielen. Ein Beispiel dafür ist die Nutzung des damaligen Buropahauses Otzenhausen als Bildungsstätte seit dem Ende der 50er Jahre. Verknüpfung setzt Phantasie und Ausdauer voraus. Der ehemalige Bankkaufmann hat außerdem für die finanzielle und wirtschaftliche Grundlage der politischen Bildungsarbeit gesorgt und damit die Zukunft des dann zur Akademie für politische Bildung gewordenen Hauses gesichert. Mit der Rückkehr ins Saarland folgte eine kontinuierliche Weiterentwicklung, die sich auch in der Schaffung von baulichen Erweiterungen materialisierte - eine Arbeit, die demnächst mit einer vorerst letzten Phase abgeschlossen sein wird. Alle diese Aktivitäten waren und sind für Amo Krause kein Selbstzweck. Man darf sagen, daß sich in ihm die Überzeugung verstärkt hat, daß es zu einem letztlich föderalen Aufbau Europas keine irgendwie überzeugende Alternative gibt.

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Hans Dieter Metz

Nicht viele wissen, daß der Vorstandsvorsitzende der Europäischen Akademie Otzenhausen sich häufig in die "Selbstbetrachtungen" des Mare Aurel vertieft, also in das Werk eines Gestalters des übernationalen römischen Weltreichs, der nur als Repräsentant der stoischen Weltanschauung verstanden werden kann - auf dem Hintergrund des hellenistischen und nachhellenistischen Zeitalters. Die Stoa ist Philosophie und Religion zugleich. Sie ist auch eine Richtschnur für das Verhalten gegenüber den Bittemissen des Lebens, wovon Amo Krause weiß Gott eine Menge zu ertragen hatte. W. Capelle, Herausgeber der "Selbstbetrachtungen", hat darauf hingewiesen, daß die ,,Philanthropie" eine echt stoische Tugend ist. Sie stellt den Menschen in die menschliche Gemeinschaft, als Menschheit verstanden; durch die (göttliche) Gabe der Vernunft sind sie alle miteinander verwandt. Mare Aurel hat zusätzlich die Idee der Humanität verinnerlicht. Und nicht unerwähnt bleibe in diesem Zusammenhang die Auffassung von der "inneren Berechtigung des Römischen Reiches", daß Friede und Ordnung, überhaupt die Herrschaft des Gesetzes, an die Stelle der Anarchie und des Kampfes aller gegen alle gesetzt wird. Natürlich ist der auf der Freiwilligkeit demokratischer Staaten beruhende Aufbau eines europäischen Gemeinwesens damit nicht gleichzusetzen, aber Vergleichspunkte gibt es. Vielleicht sind sie es, die den aus sozialdemokratischem Elternhause kommenden Amo Krause angezogen haben, vielleicht aber auch die Person des Mare Aurel selbst, der zum Beispiel geschrieben hat, man solle sich in der Morgenfrühe vorsprechen, daß man mit pedantischen, undankbaren, übermütigen, neidischen und lieblosen Menschen zusammentreffen werde. Das liege daran, daß sie sich über Gut und Böse im unklaren seien. Aber dennoch seien wir zum Zusammenwirken geschaffen. Amo Krause hat sicher nichts mit der grüblerischen Natur des Mare Aurel gemein, aber einige seiner Maximen scheinen ihn doch zu leiten. "Seine Pflicht tun" ist eine weitere Forderung des Stoikers. In einem wesentlichen Punkt unterscheidet sich ,,Monsieur Europe", wie Amo Krause gelegentlich im Saarland genannt wird, deutlich vom Autor der "Selbstbetrachtungen": Er vollzieht seine pessimistische Grundstimmung nicht nach. Mit Pessimismus kann man nur wenige Ziele erreichen, denn nur mit Optimismus, gepaart mit einem geschärften Sinn für das ,,Machbare", sind Projekte zu realisieren, die dauerhaft wirksam sein sollen. Amo Krause hat eine Vielzahl von Ideen durch harte Arbeit konkretisieren können. Die Federation Internationale des Maisons de I'Europe, die ASKO-Europastiftung, die Stiftung "Europrofession", das Europäische Informationszentrum im Saarbrücker Rathaus und viele andere Initiativen, auch auf Bundesebene, zeugen davon. Es war nahezu selbstverständlich, daß er sich nach dem Systemwechsel in Mittel- und Osteuropa feinfühlig, behutsam und mit Elan für die Gründung und Entwicklung europapolitischer Bildungszentren in diesem Teil Europas einsetzte und das mit großem Erfolg.

Laudatio

13

Daß dies nicht ohne eine Reihe von Mitstreiterinnen und Mitstreitern möglich war, versteht sich. Und daß die Mitgliederorganisation ,,Europa Union" eine bevorzugte Legitimationsbasis für all diese Aktivitäten bildet, dürfte unbestritten sein. Auch die "Saar-Lor-Lux"-Idee ist seinerzeit in der Europäischen Akademie Otzenhausen entstanden. Heute wird sie von vielen Personen und Organisationen getragen. Sie hat starke Wandlungen erfahren, aber die Grundforderung bleibt die gleiche: Die Möglichkeiten, die im Fortschritt der europäischen Integration liegen, für die Bevölkerung dieses Raumes nutzen. ,,Europa" ist auch insofern ein Standortfaktor, den Amo Krause offensiv vertritt. Was die EAO betrifft, so ist im Vergleich zur Gründungszeit ebenfalls ein Wandel eingetreten. Heute steht weniger die allgemeine europapolitische Bildung im Vordergrund als eine zielgenauer auf bestimmte Interessenlagen fokussierte Auseinandersetzung. Die EAO wie auch die anderen von dem nun siebzigjährigen Jubilar geleiteten oder geförderten Organisationen, Institutionen und wissenschaftliche Projekte haben sich den Zeitläufen angepaßt und ihre Wirksamkeit nicht vermindert, sondern erhöht. Die Gesellschaft in Deutschland und Europa hat die Verdienste Amo Krauses um Europa früh erkannt und durch hohe Ehrungen gewürdigt. Lenken wir abschließend den Blick noch auf eine andere, meistens verborgene Seite von Amo Krause. Es wird manchen erstaunen, ihn gelegentlich in Afrika zu treffen. Dort leistet er mit Freunden ganz private Hilfen, zum Beispiel für ein Buschkrankenhaus in einem Dorf in der Nähe der togoisch-beninischen Grenze, oder er spendet schon mal die Stühle und Schulbänke ftir die dortige neue Schule. Humanität kann man eben nicht nur theoretisch erörtern.

I. Grundfragen der nationalen und internationalen politischen Bildung

Wie öffentlich ist das Private? Aus dem Hinterland politischer Bildung Von Hellmut K. Geissner ,.Private", sagte er. Ich war überrascht. Der Mann, der dies sagte, war in Uniform. Ein GI. Es war Krieg. Also ein Mensch in öffentlichem Auftrag?

Ich lernte, ,Private' ist der unterste Dienstrang in der amerikanischen Armee. Genaue Bezeichnung: Pfc "private first class". Was bedeutet ,,Privatheit erster Klasse" für jemanden, der uniformiert mit Waffen öffentlich tätig ist? Genau weiß ich es bis heute nicht. Lediglich die Analogie zum deutschen Militär ließ einen Sinn vermuten. Dort heißt ein Soldat vergleichbaren Rangs "Gefreiter". Ein merkwürdiges Wort. Der so Benannte war einmal "befreit von der Pflicht, Wache zu stehen". Er müsste genau genommen ,,Befreiter'' heißen. Doch das wäre für einen Uniformierten unterster Rangstufe nur zynisch.- In beiden Fällen mag gelten: ,private' und ,Gefreiter' müssen bestimmte Pflichten nicht mehr ausführen. Der Vorgang der Befreiung von allgemeinen Pflichten kann mit dem lateinischen Wort ,privare' bezeichnet werden. Insofern ist zwar auch ein ,Gefreiter' ein ,private', aber nur im Hinblick auf eine Pflicht, in allen übrigen bleibt er öffentlich ,verpflichtet'. Beide, Pfc und Gefreiter, sind folglich "öffentlich privat".

I.

Dieses Paradox war relativ einfach zu erklären verglichen mit dem prinzipiellen Paradox der Privatheit. Auch dabei scheint es hilfreich, sich an die Herkunft des Wortes ,privat' zu erinnern. Es ist abgeleitet von lat. ,privatus'. Dies bedeutete in der römischen Republik: ,abgesondert' vom Staat und stand in unmittelbarem Gegensatz zu ,publicus', zum Volk gehörig, und zu ,communis', gemeinschaftlich, öffentlich. Im Englischen steht es im der Gegensatz zu ,public' und ,common'. Der römische ,privatus' ist also ein Privatmann, ein vom Staat und seinen Aufgaben abgesonderter Privat-Mann (die nichtöffentlichen Haus-Frauen waren per se ,privat'). Er kann sein Privatvermögen nach Belieben ,privatim' für Privatzwecke verwenden. Als ,publicus' handelt er dagegen ,publice', wenn er zum Nutzen oder Schaden aller Bürger auf allgemeine Kosten öffentlich in Rom und vor aller Welt (urbi et orbi) handelt. Dazu ist nur berechtigt, wer zum Volk gehört; der teilhat an 2 FS Krause

18

Hellmut K. Geissner

dem, was dem Volke eigen ist. Ein Öffentlicher handelt nicht im privaten, ein Privater nicht im öffentlichen Interesse. Die Frage ist, wie konnte ein ,publicus' zum ,privatus' werden? Wie konnte er sich seiner Pflichten als Staatsbürger entledigen? Hier kommt nun die merkwürdige Doppelbedeutung von ,privare' zum Vorschein: einerseits heißt es ,befreien', andererseits ,berauben'. Auch diese zweite Bedeutung haben wir noch heute in privativ, Privation bzw. Deprivation 1• Der Private kann sich zwar auf Grund seines Eigentums vom Staat, von seinen Ansprüchen und Dienstpflichten ,befreien', doch wenn er dies tut, ,beraubt' er sich gleichzeitig der Möglichkeit, im Staat öffentlich mitzuwirken. Das spielte vor allem im römischen Heerwesen eine Rolle. Es hing nämlich vom Vermögen ab, in welcher ,Klasse' man als Soldat seinen Dienst abzuleisten hatte. Es hing auch davon ab, mit welchen Beträgen man sich davon freikaufen, also ,privatisieren' konnte. Dies freilich um den Preis, sich der Möglichkeit zu ,berauben', im ,Ehrendienst' für die Gemeinschaft seine Tapferkeit öffentlich zu beweisen und öffentlich geehrt zu werden. Das ist bis heute- auch in ,zivilen' Gesellschaften- ein Kriterium für Reputation und Karriere. Der ,Tod fürs Vaterland' erfährt besondere öffentliche Würdigung, davon zeugen Kriegerdenkmäler noch im kleinsten Dorf. Bei den Römern war ,privatus' so ambivalent wie zuvor in den demokratischen griechischen Stadtstaaten. Auch in der ,polis' gab es ,Klassen', gab es je nach Besitz verschiedene Einstufungen zum Militärdienst (so mußte Sokrates als Infanterist in den Krieg), gab es aber auch die Möglichkeit, sich freizukaufen. Allerdings hieß derjenige, der vor allem sein Eigenes (to idion), sein Eigentum pflegte (idiotropia), dort ,idiotes '. Er war der Einzelne nicht nur im Gegensatz zum Staat, zur ,polis', sondern auch im Gegensatz zum ,politeutes' oder ,polites', der sich öffentlich für die Gemeinschaft der Bürger, also ,politisch' betätigt. 2 Im Denken der Griechen und der Römer war das Öffentliche das Primäre. Nur von ihm her ließ sich der ambivalent gewertete Rückzug aus den gemeinschaftlichen Pflichten erklären. ,Privat' ist ein privativer Begriff Er hat keinen Stand in sich selbst, sondern ist dialektisch vermittelt mit öffentlich und gemeinschaftlich. 3 Diese zunächst an den Wortbedeutungen ansetzende Reflexion lässt sich theoretisch stützen. Bekanntlich konstatierte Aristoteles, der Mensch sei ein ,zoon politikon', ein vergesellschaftetes Wesen (socialized animal), dies jedoch nur als ein ,zoon logon echon', ein sprechendes Wesen (talking animal). An ihrer ,Animalität' kommen die Menschen nicht vorbei; aber sie versuchten und versuchen, wenigsI Grammatisch hat es überlebt als ,a privative prefix or suffix'; z. B. das griechische ,Alpha privativum ', etwa in apathisch, Aphasie, apolitisch. 2 Wörter zusammengesetzt mit dem Morphem ,idio-' haben wir noch heute; z. B. Idiolekt, Idiophon. Idiosynkrasie. Im Englischen zeigen sich noch die verschiedenen Bedeutungsrichtungen: personal, separate, distinct. ,Idiot' hat Bedeutung und Reichweite erheblich verändert, doch in ,idiotisch' kommt manchmal noch ein Rest der alten Bedeutung zum Vorschein. 3 Vgl. Geissner 1993, S. 148 f.

Wie öffentlich ist das Private?

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tens das ,logon echon' zu überhöhen, zu verklären. Entweder sie trennten ,Iogos' von seinem Grundwort ,egein' bzw. ,dialegesthai' (sprechen oder sich unterreden) ab, oder sie amputierten die oratio (Rede) von der ratio. Übrig blieb ein ,animal rationale'. Dieses nur noch ,Verstand'-habende Lebewesen ist genau genommen kein mit anderen zusammenlebendes Wesen, das nur im Miteinandersprechen und Miteinanderhandeln überleben kann. An dieser Stelle kann dahingestellt bleiben, ob es die Polisdemokratie und die ,res publica Romana' je so gegeben hat, wie beide im verklärenden Rückblick beschworen werden. Hier soll auch nicht argumentiert werden, ob ,agora' und ,forum' tatsächlich die Orte ,partizipativer Demokratie' waren, für die sie gelegentlich nicht nur in der Rhetorikgeschichte reklamiert werden. 4 Festzuhalten ist, dass es nicht nur einen "Strukturwandel der Öffentlichkeit" 5 gegeben hat, sondern "a historical split between the public and the private spheres."6 Wenn dies zutrifft, und vieles spricht dafür- dann ist zu untersuchen, ob ,privat' jetzt nicht mehr privativ bestimmt werden kann, bzw. ob es einen eigenen Wert besitzt und woher es seinen Eigenwert erhält. Vor allem bleibt zu fragen, welche Auswirkungen eine eigenwertige Privatheit auf die gemeinsame Öffentlichkeit hat, besonders vor allem dann, wenn die Menschen in einer demokratisch verfassten Ordnung zusammen leben. "For democracy to be viable, the human character and the nature of communication and representation must be rethought."7 Der Rückblick auf die Doppelbedeutung von ,privare' (,befreien' und ,berauben') macht die kritische Auseinandersetzung mit der dialektischen Vermitteltheit von ,privat' ,und ,public I common' unausweichlich. Denn der Rückblick auf den geschichtlichen Ort von Fachwörtern gibt zwar Hinweise auf ihr Verständnis unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen, aber es wäre kurzsichtig zu meinen, auf diese Weise ließe sich die geschichtliche Entwicklung überspringen. Auch ohne sich darum zu kümmern, was Begriffe einmal in Athen oder Rom bedeutet haben mögen, was in den Jahrhunderten seither aus ihnen geworden ist, ob und wie sie sich verändert haben, werden sie benutzt als ob sie allgemein verständlich wären. Die Begriffe ,öffentlich' und ,privat' sind auf dem "Gemeinplatz" angekommen. "Wenn Sie einen ,Gemeinplatz' von sich geben, ist das Problem von vomherein gelöst. Die Kommunikation gelingt augenblicklich, weil sie in gewisser Weise gar nicht stattfindet. Oder nur zum Schein. Der Austausch von Gemeinplätzen ist eine Kommunikation ohne anderen Inhalte als eben der der Kommunikation." Pierre Bourdieu meint, Gemeinplätze spielten im politischen und alltäglichen Gespräch eine so große Rolle, weil jedermann sie "aufgrund ihrer Banalität" ausspricht und -ohne sich etwas dabei zu denken- ,versteht' . "Im Gegensatz dazu ist Denken 4

Vgl. Jones 1986, Kinz11995.

s Habennas 1971. t> 7

2•

Deetz 1992; 49. Deetz 1992; 145 f.

20

Hellmut K. Geissner

von vomherein subversiv: Es muß damit beginnen, die ,Gemeinplätze' zu demontieren und damit fortfahren, dass es demonstriert, Beweise führt ..." 8 Wer in diesem Verständnis subversiv denken und nicht der ,,Rhetorik der Reaktion"9 sich überlassen möchte, wird versuchen, über ,öffentlich' und ,privat' mit anderen Gründen zu argumentieren. Politische Bildung kümmert sich nie um ,private' Einzelne, sie ist nur möglich in ,öffentlicher' Sprache. Folglich können menschliche "Pluralität" und "Sprache" einen Ansatzpunkt zum Weiterdenken liefern. II.

In einem Brief an Karl Jaspers bemerkt Hannah Arendt, dass die "abendländische Philosophie nie einen reinen Begriff des Politischen gehabt hat und auch nicht haben konnte, weil sie notgedrungen von dem Menschen sprach und die Tatsache der Pluralität nebenbei behandelte.'' 10 Die Erkenntnis der Pluralität ist grundlegend für Hannah Arendt's Theorie: ,,Nämlich die Tatsache, dass nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf Erden leben und die Welt bevölkem." 11 Diese Pluralität ist prinzipiell unaufhebbar. Das ,Wesen des Menschen' ist unter keinen Umständen an einem Einzelexemplar zu demonstrieren, weil es den Menschen nicht gibt, weder als Prototyp noch als Einzelfall. Es gibt immer nur Menschen, paradox formuliert: Mensch im Plural. Für die Ordnung und Gestaltung des Zusammenlebens folgert Arendt: "Politik beruht auf der Tatsache der Pluralität." 12 Politisch sein bedeutet in ihrer Auffassung, sich nicht vordringlich um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern, die ,idia', sondern um die ,koina', das sind die gemeinschaftlichen Angelegenheiten (die ,politika pragmata'). Der Ausdruck ,gemeinschaftlich' bezeichnet dabei nicht die Notwendigkeiten des biologischen Zusammenlebens, das Menschen mit Tieren und "anderen Formen organischen Lebens" verbindet. 13 ,Gemeinschaftlich' wird gerade das genannt, was die biologischen Notwendigkeiten übersteigt, was außerhalb triebhaften, reflexhaften, konditionierten Verhaltens liegt. Es geht um das, was Menschen jenseits dieser Notwendigkeiten und Verhaltensmuster in Freiheit gemeinsam machen, griechisch: ,koinonein'. 14 ,,Etwas zur gemeinsamen Sache machen" oder "etwas gemeinsam zur Sache machen" ist eine angemessene Übersetzung des lateinischen Begriffs ,communicari', s Bourdieu 1998a; 39 f. Bourdieu 1998a; 39 f. to Arendt/ Jaspers 1985, S. 203. 11 Arendt 1960, S. 14. 12 Arendt 1994, S. 9. 13 Arendt 1960, S. 28. 14 Zu Arendt vgl. Geissner 1995b.

9

Wie öffentlich ist das Private?

21

ist die Ursprungsbedeutung von "Kommunikation". Was immer ,Kommunikation' in biologischen, physikalischen, technischen, besonders nachrichtentechnischen Welten auch bedeutet, für die soziale Welt gilt: "Die ( ... ) zusammen Wohnenden müssen immer wieder miteinander etwas zur gemeinsamen Sache machen; d. h. sie müssen sich darüber verständigen, wie sie in der Stadt miteinander leben wollen, wie sie Zukünftiges planen, wie sie Streit schlichten, wie sie ihre Götter verehren, wie sie vor der Stadt die Felder bestellen. Dazu gilt es miteinander zu verkehren, auch sich mit jemandem gemein zu machen, wenn alle als gleichgestellt betrachtet werden und der sensus communis als sensus omnium grundlegend ist. " 15 Wie nun machen Menschen etwas "gemeinschaftlich" oder "zur gemeinsamen Sache"? Dazu sind Fähigkeiten erforderlich, die ,Mensch im Singular' nicht besitzt, sondern nur Menschen (im Plural). Der Mensch im Singular lernt weder Sprechen und Verstehen noch Handeln. Der Mensch im Singular kann folglich weder handeln noch sprechen und verstehen. Sprechen und Handeln sind gleichursprünglich und aufeinander bezogen. Aristoteles nannte in der Rhetorik in einem Atem: ,die Fähigkeit zum Sprechen und zum Handeln' . 16 Handeln ist eine Pluralitätskategorie, weil es (im Unterschied zum Verhalten) intentional und begründbar ist sowie verantwortet werden kann bzw. muss. Desgleichen ist Sprechen eine Pluralitätskategorie. Allenfalls der physiologische Vorgang des Hervomringens akustisch perzipierbarer Schallzeichen ist ,individuell'; doch so verstanden ist "auch der Gorilla ein Individuum" (Martin Buher). Es gibt kein individuelles Sprechen, nicht nur weil es sich sozial entwickelt, sondern weil es nur dialogisch Sinn bekommt. Im kommunikativen Verständnis verlangt und vollzieht Sprechen als Handlung Pluralität, weil der reziproke Austausch bedeutungstragender Lautsymbole zwischen Hörenden und Sprechenden absichtlich erfolgt, begründbar ist und verantwortet werden kann bzw. auf Nachfrage begründet werden muss. Die angemessenen Bezeichnungen ftir die sozialen Pluralitätskategorien ,Sprechen' und ,Handeln' sind deshalb: Miteinandersprechen und Miteinanerhandeln. 17 Im zielgerichteten gesellschaftlichen Vollzug wechselseitiger Verständigung über Wege und Ziele künftigen Handeins ist ihr Zusammenwirken die Grundlage rhetorischer Kommunikation.

m. Miteinandersprechen und Miteinanderhandeln sind, wie gerade dargestellt, nicht nur vage aufeinander bezogen, sondern durch die "dialogische Kategorie der Verantwortung" an Sprache gebunden. 18 Während die beiden Pluralitätskategorien ~~ 16

11 18

Geissner 1998; ll88. ,Dynamis tou legein, tou prattein'; Rhet. 1362b22). Vgl. Slembek 1986. Vgl. Geissner 1995c, S. 18, auch Sprague 1996.

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Hellmut K. Geissner

kein Schlupfloch ins Private öffneten, bleibt zu fragen, ob "Sprache" einen Ausweg bietet. Sprache ist - bei aller Kontingenz in Einzelheiten - ein System historisch entstandener Bedeutungen und Regeln. Vollzug von Sprache in verschiedenen Lebenssituationen ist folglich immer ,regelgeleitet'. "Es kann aber" - sagt Wittgenstein in den ,Philosophischen Untersuchungen' - "nicht ein einziges Mal nur ein Mensch einer Regel gefolgt sein." 19 ,,Es kann nicht ein einziges Mal nur eine Mitteilung gemacht, ein Befehl gegeben oder verstanden worden sein, etc. Einer Regel folgen, eine Mitteilung machen, einen Befehl geben, ... sind Gepflogenheiten. ( ... )Einen Satz verstehen, heißt eine Sprache verstehen.... Darum ist »der Regel folgen« eine Praxis.... Und darum kann man nicht der Regel »privatim« folgen." 20 Allerdings bleiben die Regeln beim ,regelgeleiteten' Aktualisieren von Sprache im situierten Sprechen und Verstehen im allgemeinen unbewusst. ,,Ich folge der Regel blind.'m Es gibt also genau verstanden keine Privatsprache. Sprache ist immer "öffentlich"; denn "das Sprechen einer Sprache·(ist) Teil einer Tatigkeit oder einer Lebensform. " 22 Selbst, wenn sich jemand von allen Mitlebenden isolierte und lernte, die ,privaten Empfindungen' für sich zu benennen, sie wären nicht mitteilbar. ,,Ein anderer kann diese Sprache nicht verstehen.'m Allenfalls könnte man "eine »private Sprache« . . . Laute nennen, die kein anderer versteht, aber ich »zu verstehen scheine«"24• Wittgensteins subtile Dekonstruktion dieser Annahme am Beispiel der Schmerzempfindung macht nicht einmal an der mimischen "Schmerzäußerung" (vor dem Spiegel) halt. "Weißt du, dass das, was du dir so vorführst, Schmerzen sind und nicht z. B. ein Gesichtsausdruck? Wie weißt du, was du dir vorführen sollst, ehe du dir's vorfuhrst? Diese private Vorführung ist eine Illusion."25 Dass selbst das Denken öffentlichen Gebrauch nötig hat, also ,entprivatisiert' werden muss, hatte schon Kant festgestellt. Man sagt "die Freiheit zu sprechen oder zu schreiben könne uns zwar durch obere Gewalt, aber die Freiheit zu denken durch sie gar nicht genommen werden. - Allein, wie viel und mit welcher Richtigkeit würden wir wohl denken, wenn wir nicht gleichsam in Gemeinschaft mit anderen, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mitteilen, dächten!- Also kann man wohl sagen, dass diejenige äußere Gewalt, welche die Freiheit seine Gedanken öffentlich mitzuteilen, den Menschen entreißt, ihnen auch die Freiheit zu denken nehme." 26

Wittgenstein 1960, S. 381. Ebd., S. 382. 21 Ebd., S. 386. 22 Ebd., S. 300. 19

20

23 24 2S

26

Ebd., S. 391. Ebd., S. 397. Ebd., S. 407. Kant 1959 III, S. 280.

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Die prinzipielle Unmöglichkeit einer Privatsprache legt es nahe, auch die Möglichkeit einer "Gedankenfreiheit" neu zu überdenken. Edith Slembek berichtet über Erfahrungen in einem Gruppenprozess politischer Bildung. Nach längeren problematisierenden Gesprächen, was denn "Gedankenfreiheit" nun sei, bemerken die Teilnehmenden, dass eine festlegende Definition zu nichts führt. "Auf einmal ist Gedankenfreiheit keine leere Formel mehr, die man einfach akzeptiert, sondern sie bekommt unterschiedliche Facetten. Welche Facetten das sind, lässt sich nicht vorhersagen, das hängt von den Menschen ab, die miteinander im Gespräch sind. Am Beispiel ,Gedankenfreiheit' erfahren sie etwas von ihrer eigenen Gedankenfreiheit oder -Unfreiheit." 27 Wieso wird dann in der Linguistik der Ausdruck ,,Idiolekt" gebraucht? Auch dort bedeutet das nicht ,Privatsprache' überhaupt keine ,Sprache', sondern lediglich einige "pattern of one individual at a particular period of his life" (Webster). Idiolektale Wendungen sind kein Ausdruck ,privatsprachlicher' Intelligenz. Auch die sogenannten ,Idiome' (ldiomatica) einer Sprache sind ,allgemeine Redewendungen' und keine ,Pri vatismen'. ,,Die Vorstellung, Intelligenz sei eine persönliche Begabung oder eine persönliche Errungenschaft, ist der große Dünkel der intellektuellen Klasse. " 28 Bourdieu spricht in ähnlicher Deutlichkeit vom "Klassenethnozentrismus der Gebildeten". 29

IV. Halten wir fest: So wenig es den Menschen gibt, so wenig gibt es die Privatsprache. Weil es nur Pluralität gibt, müssen Menschen als Sprechende wie als hörend Verstehende an einer gemeinsamen Sprache partizipieren. Menschen sprechen in einer Sprache, was andere Menschen verstehen können, wenn sie in der gleichen Sprache leben. Das heißt jedoch nicht, daß sie nur in einer Sprache sprechen und verstehen müßten. Selbst die ,idioms ', von denen gerade die Rede war, gehören nicht notwendig zu einer ,Sprache', z. B. der englischen, sondern sie gehören zur "language peculiar to a people or to a district, community, class" (Webster). Die Reihe könnte ,beliebig' fortgesetzt werden: Geschlecht, Sportart, Kirche, Beruf, Truppengattung, Senioren, Jugendliche, sämtlich in sich differenziert nach Situationen und Emotionen. Wir alle sind folglich mehrsprachig seit unseren Kindertagen, und zwar innerhalb der Konstrukte sog. Nationalsprachen, die allenfalls durch elementare Syntax und elementare Semantik zusammengehalten werden. ,,Eine menschliche Sprache ist kein in sich geschlossenes und schlüssiges homogenes Monosystem. Sie ist ein einzigartiges komplexes, flexibles, dynamisches Polysystem, ein Konglomerat von Sprachen, die nach innen in unablässiger Bewegung in21

2s 29

Slembek 1996 S. 141. Dewey 1994, S. 175. Bourdieu 1976, S. 163.

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einandergreifen und nach außen auf andere Sprachen übergreifen". 30 Mehrsprachig sind wir nicht nur in den Lautsprachen, sondern auch in den para- und extraverbalen ,Sprachen', bis hin zu den ,Allelosprachen'. ,,Die Einschränkung auf das ,Verbale' in der sichtbaren Schriftlichkeit, - auf ,das, was geschrieben', folglich gelesen werden kann, - amputiert die Humankommunikation um die sinnkonstitutiven Bereiche der hörbaren Mündlichkeit, kürzt das Sprecherische (das Paraverbale) heraus, aber auch das ,demonstrativ' Raumgliedemde (das Extraverbale)". 31 Eine ,Privatsprache' wäre der unverstehbare, letztlich ,idiotische' (pathologische, unverständliche) Eckpunkt auf einer vielfaltig unterteilten Skala sprachlicher Möglichkeiten. Die räumliche Ausdehnung der einzelnen ,Sprachen in der Sprache' ist nur ein Aspekt der Gliederung. Die Größe der ,speech community', d. h. die Anzahl der Teilnehmenden ist ein anderer Aspekt, der bei ,lokalisierten' Gruppen freilich abhängig ist vom Geltungsradius des Subsystems. Beide Aspekte sagen jedoch nichts aus über die Tiefe der Gedanken, über die Intensität der Kommunikation, die Stabilität der Beziehungen. Klein sind beispielsweise die Gruppen der ,,Eingeweihten", sei es die Arkansprache der Priester, die Geheimsprache der Gauner und Verschwörer, die ,Palastsprache' der ,inner circle', Parteiführungen und Chefetagen, selbst ,Familiensprachen". Mit diesen Überlegungen soll nicht noch einmal darauf hingewiesen werden, dass die Gesamtheit der Regio-, Dia- und Soziolekte das Konstrukt einer Nationalsprache bilden, sondern daß es jenseits der unmöglichen sprachlichen Privatheit eine schier unübersehbare Vielfalt unterschiedlich öffentlicher Sprachen gibt. Die Illusion einer Privatsprache kann nur ,privativ' entstehen, indem geglaubt wird, die öffentliche Sprache könne ,depriviert', d. h. der kommunikativen Öffentlichkeit ,beraubt' werden. Aber auf dem Wege der Deprivation der Öffentlichkeit kann allenfalls die Illusion einer relativen Privatheit entstehen, insofern es unmöglich ist, an sämtlichen ,speech communities' (Regio-, Dia-, Soziolekten) sprechend und verstehend teilzunehmen. In der sprachlichen Fragmentation spiegelt sich die Fragmentation der Gesellschaft und der Öffentlichkeit. Allerdings ist zu fragen, ob Fragmentation ,split' bedeutet, also absolute Trennung zwischen ,privat' und ,öffentlich'. Ich teile zwar die Meinung derer, die davon ausgehen, daß Öffentlichkeit und Gemeinschaftlichkeit weniger öffentlich und gemeinschaftlich sind als es den Idealvorstellungen entspricht (falls die historisch je realistisch waren). Aber die offensichtliche Schwäche der ,public opinion',die kaum mehr ist als die ,published opinion' führt nicht und schon gar nicht zwangsläufig zur Stärke einer ,private opinion'. Die ,agenda setting function' vor allem des Fernsehens verhindert geradezu ,privates' Denken, ermöglicht allerdings den ,Kollektivmonolog' halbinformierten Schwätzens. Das Fernsehen spült heute diese morgen jene Bilder in die ,privaten', eher ,deprivierten' Gehirne, ohne dass aus diesem amorphen Bildteppich ein ,denkbarer' Kontext gewoben werden kann. 32 Letztlich führt "diese enthistorisierte und enthistorisie30

31

Wandruszka 1981, S. 39. Geissner 1999; 44.

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rende, atomisierte und atomisierende Sichtweise" zu einer "strukturalen Amnesie",33 die den letzten Unterschied zwischen ,öffentlich' und ,privat' unkenntlich macht. Aber ist nicht wenigstens das Zimmer, in dem die ,Privatperson' fernsieht, ,privat'? Zunächst ist festzuhalten, dass es auch in den freien und den umbauten Räumen Abstufungen der Öffentlichkeit gibt. 34 Straßen und Plätze sind - bis auf Ausnahmen - allgemein öffentlich, ein Flugplatz halböffentlich, ein Schulhof (während der Schulzeit) gruppenöffentlich, Hausvorplätze familienöffentlich. Bei den Gebäuden sind z. B. Bahnhöfe öffentlich, Schulen (auch die sog. ,Privatschulen') halböffentlich, Klassen- oder Lehrerzimmer gruppenöffentlich. Wenn das Klassenzimmer offen ist für (zu bestimmten Zeiten bestimmte) Lehrpersonen, so ist das ,Konferenzzimmer der Lehrenden' im allgemeinen tabu für Schülerinnen und Schüler. Gehen nach Schulschluss Lehrende und Lernende nach Hause - ob sie zu Fuß über die öffentliche Straße gehen, ein öffentliches Verkehrsmittel benutzen oder mit dem ,Privat'wagen im öffentlichen Verkehr fahren-, so nimmt zwar die Öffentlichkeit ab, aber nimmt deshalb auch ihre Privatheil zu? Wie bewegen sie sich, wie verhalten sie sich dabei ?35 Das Auto kann übrigens auch nur kontrastiv ,privat' genannt werden; hinsichtlich der monetären Bedingungen bei Erwerb, Unterhalt und Betrieb des Fahrzeuges, bei denen allerdings wiederum die keineswegs privaten Finanzierungsregeln gelten, die allgemeinen fiskalischen Vorschriften, die allgemeine Straßenverkehrsordnung. Ohne die Teilhabe an all diesen Formen der Öffentlichkeit stünde der ,Privat'-Wagen immer in der Garage! Doch zurück zu der Frage: Nimmt ,Privatheit' zu? Wenn ja, welche und in welchem Maß? Verfolgen wir unsere Heimkehrer aus der Schule noch ein wenig. Ist das Haus, in das sie zurückkehren, eine Wohnmaschine, dann sind Garten, Treppe, Keller, Lift halböffentlich, wenn nicht sogar öffentlich; ist es ein Familienhaus, dann sind Garten, Treppe, Keller gruppenöffentlich, wenn nicht halböffentlich. Es gibt im Haus Räume, die der Postbote, die Handwerker betreten dürfen, andere die auch Gästen, wenn auch längst nicht allen, zugänglich sind. Als privates Refugium bleiben - in bestimmten Soziokulturen - Schlafzimmer und Toilette. Die ,my home is my castle'-Ideologie entstandim-zumeist öffentlich finanzierten und öffentlich bewachten - Feudalismus. Heutzutage reduziert sich häusliche Privatheit auf Intimität. Doch selbst diese häusliche Privatheil hängt an öffentlichen Netzen: Straße, Wasser, Elektrizität, an Telefon und Fax, ISDN und Internet, Radio und Fernsehen. Die ,Privatheit' der persönlichen Lebensumstände, "such as the family . . .is neither private or public, but visibly negotiated and invisibly regulated". 36

32 33

34 3S 36

Vgl. Geissner: ,Zur Rhetorizität des Fernsehens' 198711991; 119-142. Bourdieu 1998/b; 83. Vgl. Muck 1995. Vgl. Goffman 1974. Deetz 1992; 156.

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Und wie weit ist selbst die Intimität geprägt von öffentlich vermittelten Vorstellungen: Sitten und Gebräuchen, Gepflogenheiten und Anstandsregeln, von Erzähltem und Gelesenem, von Bildern und Filmen? Wer zieht die Grenze zwischen Gefühl und Scheingefühl, zwischen ,authentischem Erleben' und ,geliehener' Reproduktion? Schon innerhalb einer, erst recht zwischen verschiedenen Kulturen gelten ganz verschiedene Werte und Normen für z. B. Reinlichkeit, Schicklichkeit, Kleidung, Nacktheit, Geschmack, Sexualität. Die intra- und interkulturelle Hermeneutik kann sicher nicht nur eine des Sprechens (und Schweigens) sein, sondern auch eine der ,Lebensformen' der Sprechenden. 37 V. Ware es möglich und sinnvoll, den umgekehrten Weg zu versuchen und Gesellschaft vom privaten Individuum aus zu konstruieren? Bedeutete das nicht zunehmende Vergesellschaftung, zunehmende Öffentlichkeit und diese zunehmende Öffentlichkeit abnehmende Privatheit? Diese Idee wurde und wird als individualistisches Theorem vertreten. Seine Anhänger und Anhängerinnen sahen und sehen in intimer Privatheit - mit Menschen oder Gott - das LebenszieL Geschichtlich wurde diese Haltung zunächst durch den christlichen Glauben an eine individuelle Erlösung gegründet. Diese Grundidee wurde mit dem Aufkommen der Maschinenproduktion säkularisiert und im kapitalistischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts weiterentwickelt. Allerdings nur für die Besitzenden, nicht für die ,deprivierten' Massen. Vollends paradox ist die Situation für mehr als die ,Hälfte' der Bevölkerung, denn im allgemeinen blieben die Frauen weiterhin ,depriviert' (Bildung, Öffentlichkeit, Politik, Kirche, Beruf), aber zugleich kompensatorisch zuständig für die Pflege des ,Privaten'; ihre ,Privatheit' ist folglich eine privative. Nachdem die Trennung von Kirche und Staat die Religion zur ,Privatsache' gemacht hatte, war der Weg endgültig frei, sich auch, so weit es ging, von staatlichen Forderungen zu ,befreien', sich - ironisch gesagt - des öffentlichen Geltungsanspruchs zu ,berauben' und guten Gewissens zu ,privatisieren'. Wird dieses Ideologem dekonstruiert, dann ist von der Pluralität auszugehen; d. h. von vergesellschafteten Subjekten, die in öffentlicher Sprache öffentlich miteinander sprechen und handeln. Zunehmende Privatheit- die sich zynischerweise nur wenige leisten können - bedeutet abnehmende Öffentlichkeit. Selbst das ,individuelle Subjekt' ist dialogisch konstituiert. Was es ,an und für sich' ist, ob es etwas ,an und für sich' ist, entzieht sich der Mitteilbarkeit ,individuum est ineffabile'. Sofern miteinander Sprechen und Handeln ihre Selbstlegitimation in Verantwortung finden, bedeutet jedoch zunehmende Privatheit notwendigerweise abnehmende öffentliche Verantwortung, abnehmende Verantwortung für Öffentliches. Wie eingangs vermutet, erweist sich ,privat' als ein ,privativer' Begriff. Es gibt 37

Vgl. Geissner 1999.

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keine private Privatheit, sondern immer nur eine dem Öffentlichen - wenn auch in verschiedenen Graden - entlaufene. Angenommen, es wäre gelungen, die Priorität des Öffentlichen in Pluralität und Sprache freizulegen, von der her der privative Charakter des Privaten sich bestimmt, es wäre dennoch nicht nur weltfremd, das Private zu denunzieren, es wäre unsinnig. Vielmehr gilt es, die dialektische Spannung zwischen den Graden einer relativen Öffentlichkeit und einer relativen Privatheil in den ,gesplitteten' Erscheinungsformen einer fragmentierten Gesellschaft zu erkennen und lebbar zu machen. Konkret heißt das: Die unaufhebbare Pluralität führt zu einer Pluralität der Meinungen, auf der Basis einer Pluralität der Bedeutungen der Wörter, der Lebenserfahrungen und Handlungsziele. Deshalb ist es in vielen Situationen realistischer von einem (blinden) Dissens und den Schwierigkeiten des ,Verstehens' auszugehen und einen begründeten Dissens als Zielpunkt zu wählen. Dies scheint realistischer, als von Formen des Konsens auszugehen und einen allgemeinen Konsens als Zielpunkt für erreichbar zu halten. Nicht selten entpuppt sich ein ,Konsens' als Scheinkonsens, weil die ,Konsentierenden' sich nicht klar waren über die verschiedenartigen Bedeutungen der zugrundgelegten Begriffe. Oder er entpuppt sich als Scheinkonsens, weil er aufgrund einer vorhergehenden unaufgedeckten ,privaten' Absprache der Agierenden eine Tauschung der Öffentlichkeit ist. Es entsteht der Eindruck "einer durch privaten Konsens korrumpierten öffentlichen Kommunikation".38 Allerdings gilt das nicht nur, was nahe liegt, für Politikerpolitik, sondern für alle Gremien und Gruppen, in denen und zwischen denen konkurrierende Interessen vertreten werden, auf welcher Ebene und mit welchem Durchsetzungsanspruch und welcher Durchsetzungsmacht auch immer. Das "Konsensparadox der Moderne" 39 ist nicht aufzuheben, aber es ist zu untersuchen, wo Dissens als unwiderruflich hinzunehmen ist und wo - ohne Blauäugigkeil - nach Konsens zu suchen ist. Die ,postmoderne' Schwierigkeit ist dadurch gesteigert, dass es keine allgemeingültigen Grundlagen mehr gibt, auf die sich auch die kritische Untersuchung stützen könnte. Allerdings kann "the loss of foundation and underlying consensus ... be seen as a beginning to rethinking our relations rather than as a new justification for moves of power and strategy and an end of possible discussion. Both teaching and research must be rethought, refelt".40 Das erfordert zu denken und zu lehren ohne den Anspruch, einvernehmliche und klare Lösungen finden zu können; heißt letztlich Abschied nehmen von einer "deadening certainty" und Kommunikation zu erforschen und zu lehren "under conditions of indeterminacy".41 Die Flucht in die Privatheit ist nichts anderes als der Versuch, eine Scheinsicherheil wiederzugewinnen. Wer versucht, sich dem Zynismus der Privatisierung zu 38 39 40

41

Ungeheuer 1987, S. II. Giegell992, S. 8. Deetz 1995a, S. 52. Ebd., S. 55.

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entziehen oder zu widersetzen, bleibt in der öffentlichen Pluralität verwiesen auf das Miteinandersprechen der Handlungswilligen. Diese Ansicht setzt weder auf einen ,festen Punkt' außerhalb der öffentlichen Kommunikation, noch auf Kommunizierende, die sich in ihrem Handeln und Sprechen jederzeit selbst durchschauten. Die Fragmentalion ist ,sprachlich' nicht aufzuheben. Auch eine dialogische Ethik hat kein anderes Fundament anzubieten als den dialogischen Prozeß selbst.42 Gerold Ungeheuer ging seinerzeit nicht davon aus, "dass eine Verbesserung menschlicher Kommunikationshandlungen erreichbar ist, ohne Änderungen anderer Lebensbedingungen". Er schrieb: ,Jch kann aber ebensowenig annehmen, dass ,Kommunikationskultur' ... sich automatisch im Gefolge anderer Reformen oder Revolutionen einstellt. An ihr muss positiv gearbeitet werden; sie muss Realität sein, nicht Utopie".43 Sein - noch immer Utopie gebliebenes - Postulat einer ,Kommunikationskultur' ist aufrechtzuerhalten. Konkret aber wäre eine "Gesprächskultur als Streitkultur" zu entwickeln. Wie aber soll eine Streitkultur entstehen ohne gemeinsame Werte? Woher sollen gemeinsame Werte kommen im allgemein konstatierten und beklagten Werteverfall? Die Frage ist jedoch, ob ein allgemeiner Konsens über die grundlegenden Werte allgemein nötig ist, besonders nötig für eine demokratische Gesellschaft. Carl J. Friedeich meinte dazu schon mitten im letzten Krieg ". . . we cannot have a democracy unless people ,agree to disagree"'.44 Heute scheint allenfalls jener Konsens möglich, der die Gefahr in sich birgt, "massive areas of suppressed conflicts" unter den Teppich zu kehren, "conflicts that must kept open for continual redecision".45 "The problern is not so much domination as suppression of conflict. ... In domination the oppressor is clear, but conflicts suppressed in daily practices and routines requiring no special oppressor "46

So verstanden sind die "geheimen Verführer" weniger gefährlich als die öffentlichen ,Konsentierer'. Demokratie ist angewiesen auf öffentliches Agreement und öffentliches Disagreement; d. h. auf einen öffentlichen Dialog, der keinen dogmatischen Grund kennt und keine utopische Glaubensgewißheit Dewey konnte 1927 noch meinen, "das wesentliche Erfordernis besteht . .. in der Verbesserung der Methoden und Bedingungen des Debattierens, Diskutierens und Überzeugens".47 Auch Benjamin Barbers ,Strong Democracy' könnte so verstanden werden, wenn er sagt: ,,Eine Politik der Bürgerbeteiligung handhabt öffentliche Streitfragen und Interessenkonflikte so, dass sie einem endlosen Prozess der Beratung, Entscheidung und des Handeins unterworfen werden", wenn das Wörtchen "endlos" überlesen wird. Gäbe es einen festen Grund, dann wäre der Prozess nicht endlos. Bar42 43 44 4S

46 47

Vgl. Geissner 1995d. Ungeheuer 1974/1987, S. 125. Friedeich 1942, S. 77. Deetz 1995b, S. 162. Deetz 1995a, S. 55. Dewey 1994, S. 193.

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ber beschreibt den Rahmen seines Entwurfs präzis: "Starke Demokratie als Bürgerbeteiligung löst Uneinigkeit bei Fehlen eines unabhängigen Grundei 8 auf durch den partizipatorischen Prozess fortwährender, direkter Selbstgesetzgebung sowie die Schaffung einer politischen Gemeinschaft, die abhängige, private Individuen in freie Bürger und pratikularistische wie private Interessen in öffentliche Güter zu transformieren vermag".49 Doch die Präzision dieser Beschreibung garantiert keineswegs die Möglichkeit der Umsetzung dieses Ansatzes. Er verhindert nicht den "Verzicht auf Bügerbeteiligung", verhindert nicht den Rückzug aus der Öffentlichkeit in das vermeintlich ,Private', verhindert nicht die schleichende Entdemokratisierung. Wer oder was diese Haltung begünstigt, ist schwer zu entscheiden: Politikerverdrossenheit, Vernebelung der Konflikte oder die Medien, denen oft die Hauptschuld in die Schuhe geschoben wird. Die Rechtsform der Sendeanstalten ist dabei unerheblich. Die "ÖffentlichRechtlichen" unterscheiden sich von den "Privaten" allenfalls unmerklich. Beide bieten ihren ,Konsumenten' kaum eine Möglichkeit, durch Mitwirkung am Programm politische Prozesse zu beeinflussen. In dieser Hinsicht haben es die privaten ,user' im - dem Prinzip nach - öffentlich zugänglichen Internet besser. Es ist "the first medium in history to accomodate direct voter feedback". 50 The audience can send information back to the source, which had never before been possible on a large scale". 51 Die ,websites' eröffnen eine völlig neue Chance politischer Partizipation. Während des letzten Wahlkampfs in den USA gab es bereits mehr als 1000 politische ,sites'. Im Web gibt es "virtual town meetings, press conferences, and other public forums." Einige Spezialisten meinen, das Web könne zur großen "cyberspace meeting hall" werden, mit einer "electronic discussion about designated topics". 52 Andere beurteilen die Möglichkeiten vorsichtiger. Die ,,Diskussionsräume im Internet", die chatrooms, sind offen flir jeden Sinn und Blödsinn. Deshalb müssten sie "von stets präsenten Betreuern" moderiert werden. "Jeder demokratische Diskurs braucht Mediation. Sonst verkommt er zum Gequatsche. Das Internet erlaubt die unmittelbare Kommunikation, aber Demokratie braucht die vermittelte Kommunikation".53 Die Moderation von Diskussionsräumen im Internet stellt eine neue Aufgabe für Lehrende der rhetorischen Kommunikation dar. Das gilt besonders für diejenigen unter ihnen, die politische Bildung betrachten als die Möglichkeit, unter den gegebenen Machtverhältnissen partizipative Demokratie eher zu entwickeln als eine entwickelte zu festigen. Wie die unmittelbare und die medienvermittelte Lage auch eingeschätzt werden mag, wer Dogmatismus welcher Art auch immer für schädlich 48 49

50 51 52

53

Hervorhebung vom Verfasser. Dewey 1994, S. 147. Se1now 1998, S. XIV. Ebd., S. 22. Ebd., S. 165. Barher 1998, S. 58.

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hält, wird sich entscheiden müssen für den streitbaren, aber hinfalligen öffentlichen Dialog.

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Von der Wirtschaftsgemeinschaft zum "Europa" der Bürger Politische Mitwirkung in der EU und der Beitrag der politischen Bildung Von Otto Schmuck

I. Die Kritik an der einseitigen wirtschaftlichen Orientierung der europäischen Einigung

Von Politikern, Journalisten und auch von politischen Bildnern ist unter dem Schlagwort ,,Europa der Bürger" eine veränderte Ausrichtung der Buropapolitik gefordert worden. Diskutiert wurde und wird in diesem Zusammenhang auch immer wieder der mögliche Beitrag der schulischen und außerschulischen politischen Bildung. Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als sei die europäische Einigung eine Erfolgsgeschichte ohne Beispiel, bei der sich die Mitgliedstaaten zielgerlebt auf den im EG-Vertrag als Ziel bezeichneten "immer engeren Zusammenschluss" zu bewegten. Aber dieser Anschein trügt. Die nähere Analyse zeigt, dass es in der Geschichte der Einigung neben den Fortschritten auch immer wieder Rückschläge und Fehlentwicklungen gab, die nur mühsam korrigiert werden konnten. Vor allem wird bei näherem Hinsehen erkennbar, dass in Europa ein überzeugender und allgemein akzeptierter Bauplan als Leitbild und Zielperspektive der europäischen Integration fehlte und noch immer fehlt. Vor allem der im Februar 1992 unterzeichnete Maastrichter Vertrag rief in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine intensive Diskussion über die Zukunft Europas hervor. 1 Hingewiesen wurde dabei auf die Gefahr einer unkontrollierbaren Machtausübung durch die europäischen Institutionen. Die Entscheidungsverfahren der Europäischen Union wurden als zu kompliziert und für die Bürgerinnen und Bürger als kaum durchschaubar kritisiert. Notwendig seien deshalb Reformen, die Europa den Menschen näher bringen. ' Siehe hierzu ausführlicher: Rudolf Hrbek (Hrsg.), Der Vertrag von Maastricht in der wissenschaftlichen Kontroverse, Baden-Baden 1993; Otto Schmuck, DerMaastrichter Vertrag zur Europäischen Union. Fortschritt und Ausdifferenzierung der europäischen Einigung, in: Europa-Archiv, Folge 4/1992, S. 97- 106; Otto Schmuck/ Maximilian Schroder, Auf dem Weg zur Europäischen Union, Reihe "Kontrovers" der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 3 1995. 3 FS Krause

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Otto Schmuck

Bei der Bewertung dieser Kritik ist auf die Geschichte der europäischen Einigung zu verweisen, die sich in einer Vielzahl von Etappen vollzogen hat. 2 Von der Gründung der ersten Teilgemeinschaft für Kohle und Stahl, 1952, und der Wirtschaftsgemeinschaft, 1958, über den Maastrichter Vertrag vom Februar 1992, durch den der Name der EG in "Europäische Union" geändert wurde, bis hin zur Einführung des Euro, 1999, war es ein weiter Weg. Heute liegen der Gemeinschaft zehn Beitrittsanträge von mittel- und osteuropäischen Staaten sowie von Zypern, Malta und auch der Türkei vor. Die Anfang 1998 aufgenommenen Verhandlungen über den Beitritt von Ungarn, Polen, der Tschechischen Republik, Slowenien Estland und Zypern und auch die Entscheidung des Europäischen Rats von Helsinki im Dezember 1999 zum Beginn von Beitrittsverhandlungen mit weiteren mittelund osteuropäischen Ländern, Malta und der Türkei zeigen, dass eine Gemeinschaft von 20 und mehr Mitgliedstaaten aus ganz Europa durchaus in Reichweite ist. Die Unterstützung der Bürger für den Integrationsprozess war in den zurückliegenden Jahrzehnten keineswegs konstant. Dies hat seine Ursache auch darin, dass die europäische Einigung nach weitverbreiteter Auffassung allzusehr wirtschaftlichen Zielen diente und auch heute noch dient. Kohle und Stahl sollten unter möglichst guten Bedingungen unter gemeinsamer Kontrolle der beteiligten Staaten produziert werden. Im gemeinsamen Binnenmarkt sollten Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital frei zirkulieren können. Auch die friedliche Nutzung der Kernenergie sollte gemeinsam voran getrieben werden. Andere Aspekte, etwa soziale Anliegen, der Umweltschutz oder die Kulturpolitik, wurden lange Zeit entweder gar nicht beachtet oder - schlimmer noch - als störende Hemmnisse für die Verwirklichung des großen Binnenmarktes gesehen. Der EWG-Vertrag von 1957 hatte lediglich in seiner Präambel vorgesehen, dass durch gemeinsames Handeln der Mitgliedstaaten der wirtschaftliche und soziale Fortschritt gesichert werden sollte und dass die "stetige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen ihrer Volker als wesentliches Ziel" anzustreben sei. Erst sehr spät erkannten einige der führenden Protagonisten, welche negativen Auswirkungen diese einseitige wirtschaftliche Ausrichtung der Einigung bei den betroffenen Menschen hat. Einem der Gründerväter der EU, Jean Monnet, wird der Satz zugeschrieben, er würde mit der Kultur beginnen, wenn er das europäische Einigungswerk noch einmal wiederholen müsste. Monnet sagte auch "Wir einigen keine Staaten, wir bringen Menschen zusammen." Der frühere Kommissionspräsident Jacques Delors äußerte sich angesichts der nachlassenden Unterstützung der Bürger für die Einigungsidee, es falle den Men2 Zur Geschichte der europäischen Einigung siehe u. a.: Klaus Dieter Borchardt, Die europäische Einigung. Die Entstehung und Entwicklung der Europäischen Union, Brüssel 1996; Wilfried Loth, Der Weg nach Europa, Geschichte der europäischen Integration 1939- 1957, Göttingen, 3. Aufl. 1996; Roy Pryce (Hrsg.), The Dynamics ofEuropean Union, London u. a. 1987.

Von der Wirtschaftsgemeinschaft zum ,,Europa" der Bürger

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sehen verständlicherweise schwer, "sich in einen Binnenmarkt zu verlieben". Die europäische Einigung schreite fort, und die Regierungen müssten daran denken, auch ein Europa der Bürger zu bauen. In dieser Situation sei es ein legitimer Wunsch, dass sich jeder Europäer als Teil seiner Gemeinschaft fühlt, die ihm so etwas wie eine zweite Heimat bietet. Wenn man diese Gefühle zurückweise, werde das europäische Aufbauwerk nicht gelingen. 3 Von der europäischen Bewegung wird seit langem die Verabschiedung einer europäischen Verfassung angemahnt, die den Menschen Orientierung geben könnte und die gemeinsamen Grundwerte auch nach außen verdeutlichen würde. Die EUStaats- und Regierungschefs haben einen ersten Schritt in diese Richtung getan, indem sie bei ihrem Treffen im Europäischen Rat von Köln im Juni 1999 die Einsetzung eines Gremiums beschlossen, das bis Ende 2000 eine Charta der europäischen Grundrechte erarbeiten soll. Dieser Beschluss könnte sich im Rückblick als der Startschuss zur Ausarbeitung der europäischen Verfassung herausstellen.

li. Von der Einigungseuphorie zur Europaskepsis: Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger zur Europäischen Union Im Auftrag der Europäischen Kommission werden seit Beginn der siebziger Jahre regelmäßig Umfragen zur Buropastimmung in den EU-Staaten durchgeführt. Den Politikern in Brüssel, Straßburg und Luxemburg kommt es dabei darauf an, verlässliche Daten über die europapolitischen Befindlichkeiten der Bürgerinnen und Bürger zu erhalten und zudem das Potential für europapolitische Veränderungen auszuloten. Die Ergebnisse dieser Euro-Barometer-Umfragen zeigen im langfristigen Trend, dass sich Phasen einer stabilen Zustimmung zur europäischen Einigung mit Perioden erkennbarer Buropaskepsis ablösen. Beispielsweise zeigten die Werte in der ersten Hälfte der achtziger Jahre deutlich nach unten, während nach 1985 eine Phase der regelrechten Europa-Euphorie begann. Anlass hierzu war das von der Kommission lancierte Programm ,,Europa '92" zur Verwirklichung des EU-Binnenmarktes, das in den Mitgliedstaaten überwiegend als eine Modemisierungschance verstanden wurde. Demgegenüber ist seit Anfang der neunziger Jahre in nahezu EU-Staaten eine deutlich zurückgehende Buropabegeisterung zu beobachten. Vielen EU-Bürgern gehen die 1992 in Maastricht vereinbarten europapolitischen Veränderungen zu weit. Sie fühlen sich bereits durch die weitreichenden Veränderungen im Rahmen der Verwirklichung des EG-Binnenmarktes verunsichert.4 Diskutiert wurde und 3

Jacques Delors, Das neue Europa, München und Wien 1993, S. 322.

Zu den Zielen und Problemen des EG-Binnenmarktes vgl.: Deutscher Industrie- und Handelstag (Hrsg.), Wegweiser zum EG-Binnenmarkt, 3. Aufl., Bonn 1989; Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Das Europa-Lesebuch: Binnenmarkt '92, Bonn 1989; Günrer 4

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wird vor allem über die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung, aber auch die im Rahmen der EU zu erbringenden weiterreichenden Solidaritätsopfer ("Kohäsionsfonds") für die strukturschwachen Regionen vornehmlich in den Randlagen der Gemeinschaft- künftig auch in den neuen Mitgliedstaaten in Mittel- und Osteuropa- sind Gegenstand kontroverser Auseinandersetzungen. Die im Auftrag der Europäischen Kommission regelmäßig durchgeführten Euro-Barometer Umfragen belegen, dass seit der Unterzeichnung des Maastrichter Vertrages eine deutliche Verschlechterung des europäischen Meinungsklimas feststellbar ist5 (siehe hierzu die nachfolgende Tabelle). Während im Herbst 1991 noch 69 Prozent der Bürgerinnen und Bürger die Mitgliedschaft ihres Landes in der Europäischen Gemeinschaft für eine gute Sache hielten, waren es fünf Jahre später nur noch 48%, im Herbst 1998 war erneut ein leichter Anstieg auf 49 Prozent zu verzeichnen. Allerdings hielten im Herbst 1998 lediglich 12 Prozent der Befragten die EU-Mitgliedschaft ihres Landes für eine schlechte Sache, 39 Prozent der Befragten antworteten mit "weder gut, noch schlecht" oder "weiß nicht".6 Einschätzung der EG-Mitgliedschaft als eine "gute Sache" (Frage "Halten Sie die Mitgliedschaft Ihres Landes in der EU f"lir eine gute Sache?") Belgien Dänemark Deutschland Alte Länder Neue Länder Griechenland Frankreich Irland Italien Luxemburg Niederlande Österreich Portugal Finnland Schweden Spanien Vereinigtes Königreich EU gesamt

Herbst 1991 71 61 69 66 79 73 63 76 78 79 88 77

73 57 69

Herbst 1996 45 44 39 40 35 57 46 76 68 73 74 31 54 39 31 51 36 48

Herbst 1998 47 51 44 46 38 54 47 78 62 77 73 36 59 45 34

55

31 49

Quelle: Kornmission der EG (Hrsg.), Euro-Barometer 37, 46, 51, Brüssel 1991, 1996, 1999.

Renner/Peter CzatkJ, Vom Binnenmarkt zur Europäischen Union, Arbeitsbuch für Schule und Erwachsenenbildung, Bühl/Baden 1995. ~ Siehe hierzu: Kommission der EG, Euro-Barometer, Nr. 36 und 37, Early Release, Brüssel Dezember 1991 und Mai 1992. 6 Europäische Kommission (Hrsg.), Euro-Barometer Nr. 51. Brüssell999; Tabelle 3.la.

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Besonders deutlich waren die Veränderungen in Deutschland. Bei der Frage nach der Einschätzung der EU-Mitgliedschaft des eigenen Landes, verringerte sich die Zahl derjenigen, die hier eine gute Sache sahen, von 69 Prozent im Jahr 1991 auf 1996 zunächst 39 Prozent. Im Herbst 1998 wurde immerhin wieder ein Wert von 44 Prozent erreicht. Dabei zeigten die Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer zunächst eine etwas positivere Haltung als die Westdeutschen; dies kehrte sich fünf Jahre später um. Zu einer differenzierten Gesamtschau gehört es auch, die Werte für die verschiedenen EU-Staaten miteinander zu vergleichen. Vor allem in Großbritannien aber auch in Schweden und Österreich ist eine deutliche Europa-Skepsis zu verspüren, während Italien, Irland und die Benelux-Staaten traditionell europafreundlich eingestellt sind. In Deutschland hat die eher kritische Einstellung deutlich zugenommen. In diesem Zusammenhang sind die Bürger in Deutschland zweifellos in einer besonderen Situation, da sie durch die deutsche Einheit bereits zusätzlich erhebliche Belastungen tragen müssen. Den Bewohnern der alten Bundesländer werden für den ,,Aufschwung Ost" erhebliche Transferleistungen abverlangt, die Ostdeutschen sehen sich in einer wirtschaftlich und sozial besonders schwierigen Lage mit Betriebsschließungen, erheblichen Preissteigerungen und hoher Arbeitslosigkeit. Die Menschen aus der früheren DDR haben sich gerade an die D-Mark gewöhnt. Sie können sich kaum vorstellen, diese neue Errungenschaft für eine europäische Gemeinschaftswährung so schnell wieder aufzugeben. Dies alles kann den gerade in Deutschland zu beobachtenden starken Rückgang der Europabegeisterung zumindest teilweise erklären. Vor allem im Hinblick auf die Einführung der einheitlichen europäischen Wahrung sind bei den Deutschen erhebliche Ängste vorhanden. Bei einer im Auftrag des STERN durchgeführten Umfrage sprachen sich im Juni 1992lediglich 22 Prozent der Deutschen für die Euro-Wahrung aus, während 72 Prozent lieber die deutsche Mark als Wahrung behalten wollten. 7 Vier Jahre später zeigten Umfragen im Auftrag der Kommission ein positiveres Bild. Im Herbst 1996 sprach sich aber auch hier noch immer eine knappe Mehrheit von 42 zu 39 Prozent gegen die Einführung des Euro aus (EU gesamt: 51 Prozent dafür, 33 Prozent dagegen). 8 Diese Werte zeigen, dass Deutschland gerade in der Wahrungsfrage keineswegs der europäische ,,Musterknabe" ist, als der dieses Land lange Zeit galt und sich wohl auch selbst verstand. Die vorliegenden Umfrageergebnisse machen aber auch deutlich, dass sich die EU-Bürgerinnen und Bürger- vor allem auch die jüngeren- positive Auswirkungen für das Alltagsleben durch die EU erhofften. Beispielsweise wünschten sich im Herbst 1998 79 Prozent der Befragten von der EU einen konsequenteren Ver,,Stern" vom 11. Juni 1992. s Europäische Kommission (Hrsg.), Euro-Barometer Nr. 46, Herbst 1996, S. 33.

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braucherschutz. 90 Prozent forderten verstärkte europäische Anstrengungen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und 72 Prozent forderten, mehr Bürgemähe, etwa durch verstärkte Informationsanstrengungen der EU über ihre Institutionen und Politiken.9 Zur Steigerung der Akzeptanz der EU erscheint es deshalb besonders wichtig, dass sich die EU in Richtung auf ein ,,Europa der Bürger" weiterentwickelt.

m. Konturen des Konzepts "Europa der Bürger" Das Schlagwort "Europa der Bürger" war zunächst ein nur wenig ausdifferenziertes politisches Konzept, das ein bestimmtes Buropabild in die Öffentlichkeit transportieren und damit zugleich zu einer Zielperspektive und zu einem Leitbild für die handelnden Politiker werden sollte. 10 ,,Europa der Bürger" in diesem Sinne wurde als Gegenbild für die EU als einer einseitig ausgerichteten Wirtschaftsgemeinschaft verstanden. Das Konzept wurde in zwei Dokumenten eingehend entwickelt: dem Tindemans-Bericht vom Dezember 1975 und in einem Bericht des Adhoc-Ausschusses ,,Europa der Bürger" vom Juni 1985, der unter Leitung des Italieners Pietro Adonnino erarbeitet wurde. Seither sind zahlreiche der hier entwickelten Forderungen realisiert worden. Der ,,Bericht über die Europäische Union" war im Dezember 1975 vom damaligen niederländischen Regierungschef Leo Tindemans an seine Kollegen im Europäischen Rat übergeben worden. Ziel war es damals, den häufig als Leitbild und Zielperspektive des Einigungsprozesses gebrauchten Begriff ,,Europäische Union" zu konkretisieren. Das IV. Kapitel dieses Berichtes ist ,,Das Europa der Bürger'' überschrieben. Dort heißt es: ,,Der Aufbau Europas ist etwas anderes als eine Art zwischenstaatliche Zusammenarbeit. Er ist eine Annäherung von Volkem, die gemeinsam ihre Gesellschaft den sich wandelnden Bedingungen in dieser Welt anpassen wollen und hierbei die Werte achten, die ihr gemeinsames Erbe bilden. In demokratischen Staaten reicht der Wille der Regierungen für ein derartiges Unterfangen allein nicht aus. Die Notwendigkeit, die Vorteile und die schrittweise Verwirklichung eines solchen Vorhabens müssen von allen erkannt und empfunden werden, damit die Anstrengungen und notwendigen Opfer auf freiwilliger Basis erfolgen. Europa muss bürgernah sein." 11 Europäische Kommission (Hrsg.), Euro-Barometer Nr. 51, Brüssel 1999; Tabelle 4.2. Vgl. Bernd Janssen, Europa der Bürger, in: Werner Weidenfeld/Wolfgang Wessels, Europa von A-Z. 3. Aufl., Bonn 1994, S. 137. n Tindemans-Bericht über die Europäische Union vom 19. Dezember 1995, in: Jürgen Schwarz (Hrsg.), Der Aufbau Europas, Pläne und Dokumente 1945-1980, Bonn 1980, s. 543. 9

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Vor allem sei es notwendig, den Schutz der Rechte der Europäer überall dort zu garantieren, wo er nicht mehr ausschließlich von den Mitgliedstaaten gewährleistet werden kann. Zusätzlich sei es erforderlich, die europäische Solidarität durch äußere Zeichen zu konkretisieren, die im täglichen Leben greifbare Wirklichkeit sind. Tindemans forderte, dass im Rahmen der schrittweisen Ausweitung der Zuständigkeitsbereiche der europäischen Organe, die Anerkennung und der Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der wirtschaftlichen und sozialen Rechte, gewährleistet werden müssten. Weitere wesentliche Anliegen in diesem Zusammenhang seien der Verbraucherschutz und der Umweltschutz. Als äußere Zeichen der Solidarität der Europäischen Union werden ein gemeinsamer europäischer Pass sowie die Abschaffung der Grenzkontrollen zwischen den Mitgliedstaaten erwähnt. Die Bildungssysteme müssten durch einen verstärkten Austausch von Schülern und Studenten und die Anerkennung von Diplomen stärker verflochten werden. Hörfunk- und Fernseh-Anstalten müssten besser zusammenarbeiten, um das gegenseitige Verständnis zu fördern. Schließlich wird eine europäische Stiftung vorgeschlagen, deren vorrangiges Ziel die Förderung kultureller Ereignisse zum besseren gegenseitigen Verständnis sein müsste. Mit dem Tindemans-Bericht war bereits ein ausformuliertes Konzept zum "Europa der Bürger" vorgelegt worden. Doch wurden die hier enthaltenen Vorschläge nur sehr zögerlich realisiert. Beispielsweise geht die Errichtung des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz auf diesen Vorstoss zurück. Viele andere Vorschläge wurden aber nicht aufgegriffen. Erst die Einführung von Direktwahlen zum Europäischen Parlament und die Aktivitäten der im Juni 1979 erstmals direkt legitimierten Europa-Abgeordneten brachten einen neuen Schub. Das Europäische Parlament verabschiedete im Februar 1984 einen Vertragsentwurf zur Gründung der Europäischen Union, der von der Form her ein internationaler Vertrag, vom Inhalt her jedoch eine ausformulierte europäische Verfassung war. Wesentliche Elemente eines ,,Europa der Bürger" waren hierin enthalten, doch hatte sich das Europäische Parlament noch nicht auf einen klar definierten Katalog von europäischen Grundrechten einigen können. Diese sollten aber innerhalb einer festgelegten Frist erarbeitet werden. Der Vertragsentwurf des Europäischen Parlaments von 1984 veranlasste die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten zwei Arbeitsgruppen einzusetzen, die sich mit der künftigen Entwicklung der Gemeinschaft befassen sollten: Das "Dooge-Komitee" arbeitete zu den notwendigen institutionellen Reformen, eine Gruppe unter Leitung von Pietro Adonnino, dem Vertreter des italienischen Ministerpräsidenten, befasste sich mit Vorschlägen zum ,,Europa der Bürger". Der sehr ausführliche Bericht der Adonnino-Gruppe wurde dem Europäischen Rat von Mailand im Juni 1985 vorgelegt. Er enthält Vorschläge zu folgenden Aspekten: Europäische Bürgerrechte, Kultur und Kommunikation, Information, Jugend, Bildung, Austausch und Sport, Freiwilliger Entwicklungsdienst in der Drit-

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ten Welt, Gesundheit, soziale Sicherheit und Drogen, Städtepartnerschaften sowie Stärkung des Bildes und der Identität der Gemeinschaft. Die zahlreichen hier entwickelten Vorschläge sind sehr unterschiedlich in ihrer Art. Sie reichen von eher traditionellen Vorschlägen, wie der Einführung eines einheitlichen europäischen Wahlsystems über eine größere Transparenz der Verwaltung der Gemeinschaft, die Einführung eines europäischen Ombudsmannes, kommunales Wahlrecht für EU-Bürger und deren konsularische Vertretung in Drittstaaten, bis hin zu durchaus originellen Ideen, wie der Einführung eines ,,Eurolotto" mit Preisen in der europäischen Währung, die damals noch ECU hiess. Breiter Raum wird auch den Jugendlichen gewidmet: Hier reicht die Palette der Themen von Schüleraustausch, Förderung des Fremdsprachenunterrichts und freiwilligen Jugend-Workcamps bis hin zu Anregungen zur Verbesserung der schulischen und universitären Ausbildung. Gefordert wird auch eine europäische Flagge, die Einführung einer europäischen Hymne, die Herausgabe gemeinsamer Briefmarken und die Anbringung gemeinsamer Buropaschilder am Grenzübergang von einem zu einem anderen Mitgliedstaat. Bei all diesen Maßnahmen gehe es darum, das Bild und die Identität der Gemeinschaft zu stärken.

IV. Die Realisierung des Konzepts "Europa der Bürger" in der Praxis Die Europäische Union hat sich seit der im Dezember 1975 erfolgten Vorlage des Tindemans-Berichts, in dem das Konzept "Europa der Bürger" erstmals entwickelt worden ist, erheblich verändert. Die Zahl der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft hat sich von damals neun auf heute 15 erhöht, das Europäische Parlament wird seit 1979 direkt gewählt, die europäischen Kompetenzen wurden erheblich erweitert. Auch im Hinblick auf das ,,Europa der Bürger" hat es deutliche Fortschritte gegeben. Das seit Juni 1979 direkt gewählte Europäische Parlament wirkt als Vertretung der europäischen Bürgerinnen und Bürger am Entscheidungsprozess mit. Die EU-Bürger verfügen seit Ende der achtziger Jahre über einen gemeinsamen europäischen Pass, in vielen Mitgliedstaaten wird die Buropafahne bei offiziellen Anlässen neben der nationalen aufgezogen, die Einführung der gemeinsamen europäischen Währung erfolgte für den bargeldlosen Zahlungsverkehr am 1. Januar 1999, Münzen und Scheine werden im ersten Halbjahr 2002 ausgegeben. Neben diesen herausragenden Veränderungen hat es eine Vielzahl weiterer Neuerungen gegeben, die - vielfach von den Medien kaum zur Kenntnis genommen ebenfalls dazu geeignet sind, die Europäische Union ihren Bürgern näher zu bringen. Hierzu gehören vor allem die vielfaltigen Unterstützungen der Gemeinschaft bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und beim Austausch von Schülern, Studenten, jungen Arbeitnehmenr und Lehrkräften, vor allem im Sprachenbereich.12 Über das INTERREG-Programm zur Förderung der grenzüberschreitenden

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Zusammenarbeit beispielsweise wurden für den Förderzeitraum 1994- 1999 insgesamt 2,9 Mrd. ECU bereitgestellt, Deutschland profitierte mit 402 Mio. ECU (ein ECU entsprach etwa 1,95 DM). Im Bildungsbereich sind die drei Programme SOKRATES, LEONARDO und JUGEND FÜR EUROPA von besonderer Bedeutung. Sie dienen in erster Linie zur Unterstützung von Austauschmaßnahmen für jüngere Menschen. SOKRATESMittel sind für Maßnahmen der schulischen und universitären Ausbildung vorgesehen, über LEONARDO wird die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der beruflichen Aus- und Weiterbildung und die Verbesserung der Qualität der Berufsbildung gefordert. JUGEND FÜR EUROPA unterstützt den internationalen Jugendaustausch in ganz Europa. Begegnungen von jungen Leuten zwischen 15 und 26 Jahren aus den unterschiedlichsten Lebens- und Kulturbereichen werden so ermöglicht.13 Auch der so häufig kritisierte Maastrichter Vertrag von 1992 enthält neben anderem eine Reihe von Regelungen, die zur Verwirklichung eines Konzeptes ,,Europa der Bürger" beitragen können: - Seit lokrafttreten dieses Vertrages verfügen die EU-Bürger über gemeinsame Rechte, u. a. bei der Ausübung des Wahlrechtes zum Europäischen Parlament oder bei Kommunalwahlen sowie beim konsularischen Schutz in Drittstaaten. - Heute ist bei einem Tätigwerden der Gemeinschaft immer entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip zu fragen, ob die Gemeinschaft wirklich zum Handeln berechtigt ist oder ob eine Aufgabe nicht besser auf Ebene der Mitgliedstaaten oder ihrer Regionen bewältigt werden kann. Entscheidungen sollen möglichst bürgernah getroffen werden. - Vom Europäischen Parlament wird seit 1995 ein europäischer Bürgerbeauftragter ("Ombudsmann") gewählt, an den sich die EU-Bürgerinnen und Bürger bei Verstößen gegen das EU-Recht wenden können. Bereits seit Ende der sechziger Jahre können zudem Petitionen an das Europäische Parlament gerichtet werden. - Ein wesentlicher Beitrag zur Bürgemähe ist auch die verstärkte Mitwirkung der Regionen in der EU. Seit Anfang 1994 wirkt der Ausschuss der Regionen beratend am Entscheidungsprozess mit. Auch der im Mai 1999 in Kraft getretene Vertrag von Amsterdam enthält eine Reihe von Regelungen, die die Europäische Union den Bürgerinnen und Bürgern näher bringen sollen. Die Kompetenzen der EU in der Sozialpolitik, beim Umweltund Verbraucherschutz sowie bei der Gleichstellung von Mann und Frau wurden gestärkt. Ein Artikel regelt Beschlussfassungsmöglichkeiten des Rates zur Nichtdiskriminierung bei der Anwendung von EU-Recht. Ein auf Drängen der deut12 Siehe hierzu: Gerhard Sabathil/Monika Hörstmann-Jungemann, Förderprogramme der EU, Ausgabe 1997,6. Aufl., Bonn 1997. 13 Siehe hierzu Sabathil/Hörstmann-Jungemann a. a. 0 .

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sehen Länder aufgenommenes Protokoll konkretisiert die Anwendung des Subsidiaritätasprotokolls. Zudem wurde ein neues Kapitel zur Beschäftigungspolitik aufgenommen, das eine verbesserte Koordinierung der Anstrengungen der Mitgliedstaaten in diesem Bereich vorsieht. All diese Veränderungen belegen, dass zumindest wesentliche Teilelemente der mit dem Konzept "Europa der Bürger" verbundenen Vorschläge heute verwirklicht werden konnten. Von besonderer Bedeutung für ein bürgernahes Europa ist dabei die Arbeit des Europäischen Parlaments. V. Das Europäische Parlament als Anwalt der Bürger In den zurückliegenden Jahren hat sich das Europäische Parlament als Interessenvertreter der Bürgerinnen und Bürger im EU-Entscheidungsprozess bewährt. Es sorgte dafür, dass soziale und ökologische Aspekte bei der Beschlussfassung über primär wirtschaftliche Angelegenheiten nicht zu kurz kommen. Im Haushaltsverfahren setzt es sich regelmäßig für soziale Anliegen sowie für eine Steigerung der Mittel für Bildung und Kultur ein. 14 Besonderes Engagement zeigte das Europäische Parlament auch im Bereich der Haushaltsüberwachung. Auf das beharrliche Drängen der Europa-Abgeordneten ist es auch mit zurückzuführen, dass die Europäische Kommission im März 1999 wegen schwerwiegender Verwaltungsmängel geschlossen zurücktreten musste. Aufgrund der besonderen Gegebenheiten des EU-Systems haben die Europa-Abgeordneten objektive Schwierigkeiten, mit den Bürgerinnen und Bürgern eine enge Beziehung herzustellen. Ein EP-Mitglied vertritt im Durchschnitt rund 580.000, im Falle Deutschlands sogar mehr als 800.000 Bürgerinnen und Bürger. Umfragen des Euro-Barometer verdeutlichen, dass der Bekanntheitsgrad der Institution seit Einführung von Buropawahlen auf einen Wert zwischen 80 und 90 Prozent angestiegen ist und heute nicht mehr den früheren starken Schwankungen zwischen den Zeiten unmittelbar von und nach den Europawahlen und den wahlfreien Zeiten unterliegt. 15 Mit diesen Werten ist das Europäische Parlament die Institution, die in der von Euro-Barometer erhobenen Frage nach dem durch die Medien vermittelten Bekanntheitsgrad von den fünf vorgelegten Institutionen - Parlament, Kommission, Ministerrat, EuGH und Auschuss der Regionen - am häufigsten genannt wird. 16 Hohe Aufmerksamkeit erzielt das Parlament vor allem bei Männern, in der Altersgruppe über 25, bei Bürgern mit höherem Ausbildungsniveau und bei höheren Einkommensgruppen. 14 Siehe hierzu ausführlicher: Otto Schmuck, Das Europäische Parlament, in: Werner Weidenfeld/Wolfgang Wessels (Hrsg.), Jahrbuch der Europäischen Integration, Bonn seit 1980 fortlaufend. 1s Euro-Barometer Nr. 51, Frühjahr 1999, Tabelle 2.2. 16 Euro-Barometer Nr. 51, Frühjahr 1999, Tab. 2.2.

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Besonders bedeutsam für ein "Europa der Bürger" ist die Frage, welchen Einfluss das direkt gewählte Europäische Parlament im Entscheidungsprozess hat, besonders ob es an der Einsetzung der politisch Verantwortlichen in der EU, auf längere Sicht einer europäischen Regierung, beteiligt ist. 54 Prozent der Befragten sprachen sich bei einer Umfrage von Ende 1996 für, 24 Prozent gegen eine europäische Regierung aus, die dem Europäischen Parlament gegenüber verantwortlich ist. 17 48 Prozent der Befragten wünschten bei einer varausgegangenen Befragung vom Dezember 1995 eine stärkere Rolle für das Parlament. 18 Aufschlussreich ist auch die Beantwortung der Frage, bei welchen Institutionen sich die Bürger darauf verlassen könnten, dass wichtige Entscheidungen in ihrem Interesse getroffen werden. Hier landete das Europäische Parlament mit 45 Prozent ranggleich mit den nationalen Regierungen auf Platz zwei. Den ersten Rang nehmen hier die nationalen Parlamente mit dem nur unwesentlich höheren Prozentsatz von 48 ein. 19 Damit wird deutlich, dass die Bürgerinnen und Bürger durchaus von den Aktivitäten des Europäischen Parlaments Kenntnis nehmen und Vertrauen zu dieser vergleichsweise neuen Institution entwickeln. Als Gradmesser für die Beziehung zwischen Europäischem Parlament und seinen Wählern wird auch immer wieder auf die Beteiligung an Buropawahlen hingewiesen. Eine derartige Annahme ist jedoch nur bedingt richtig. Zunächst ist feststellbar, dass im Juni 1999 EU-weit lediglich 49,2% der Wahlberechtigten gegenüber 56,8% im Jahr 1994 ihre Stimme abgegeben haben. Für Deutschland lauten die entsprechenden Zahlen 45,2 Proentgegenüber 60,0 Prozent fünf Jahre zuvor. Eine im Mai 1999 im Auftrag der ,,zeit" in acht EU-Staaten durchgeführte Umfrage machte deutlich, dass insgesamt 44% der Befragten bei der Stimmabgabe zur Buropawahl in erster Linie eine Gelegenheit sahen, ihre Meinung zu den Problemen im eigenen Land zu äußern, lediglich 34% gaben ihre Stimme vorrangig aus europäischen Erwägungen ab.20 Im Vorfeld der Buropawahl waren in der Presse zwar zahlreiche wohlwollende Bilanzartikel erschienen, in denen dem EP eine gute Arbeit ("Der lange Marsch aus dem Schatten der Macht"21 ) und eine beachtliche Kompetenzausstattung ("Das EU-Parlament ist kein zahnloser Tiger mehr''22) bescheinigt worden war. Doch spielte diese positive Arbeitsbilanz bei der Stimmabgabe offensichtlich kaum eine Rolle. In der Kommentierung der Wahlergebnisse durch die Medien wurde bei der Analyse der Gründe für die niedrige Wahlbeteiligung vor allem auf die geringe Personalisierung der Buropawahl hingewiesen: ,,Europa hat für die Wähler kein

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18

19 2o 21 22

Euro-Barometer Nr. 46 von Mai 1997,29. Euro-Barometer Nr. 44, Frühjahr 1996, S. 82. Ebd., S. 82. Die Zeit Nr. 23 vom 2. 6. 1999. Süddeutsche Zeitung vom 27. 5. 1999. Allgemeine Zeitung Mainz vom 27. 5. 1999.

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Gesicht". 23 In der Tat hatten sich die europäischen Parteien im Vorfeld der Wahlen nicht - wie dies u. a. von Jacques Delors vorgeschlagen worden war - darauf verständigen können, gemeinsame europäische Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten im Wahlkampf zu präsentieren. In einer Leserbriefaktion der Frankfurter Rundschau zur geringen Wahlbeteiligung bei der Europawahl bekannten zahlreiche Leserbriefschreiber freimütig, dass sie, z.T. trotz langjähriger Parteimitgliedschaft, der Wahl aus Protest bewusst ferngeblieben seien, wobei die genannten Gründe vielfaltig waren. Sie reichten von der Kritik am innenpolitischen Erscheinungspolitik der Parteien - wobei auch die jeweilige Haltung zum Kosovo-Krieg häufiger genannt wurde- über vorhandene Informationsdefizite zu europäischen Themen bis hin zum Missfallen daran, " ... dass alle Parteien im Wahlkampf nur inhaltsleere platte Versprechungen machten (,Wir machen es besser ... '), anstatt klar ihre europapolitischen Positionen aufzuzeigen."24

Die jahrelangen Bemühungen des EP zur Aufarbeitung vorrangiger Bürgeranliegen waren somit von der breiten Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen worden. Seit der Einführung von Europawahlen im Jahr 1979 sind in den Entschließungen und Anfragen des Parlaments "bürgernahe Themen" regelmäßig in ausführlicher Weise aufgegriffen worden. Die Palette der Themen reichte dabei von umwelt- und sozialpolitischen Fragen über Verbraucherschutzanliegen und der Gleichberechtigung von Mann und Frau bis hin zu zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und von Menschenrechtsverletzungen innerhalb und außerhalb der Union. Das Europäische Parlament hat sich nach und nach auch zu einer akzeptierten Anlaufstelle für Bürgerbeschwerden entwickelt. Jährlich gehen rund 1.200 Petitionen ein. 25 Vor allem wenn um die Gleichberechtigung von Mann und Frau oder um die Diskriminierung von EU-Bürgerinnen und-Bürgern-etwa bei der Anerkennung von Bildungsabschlüssen, bei der Zulassung zum Studium oder bei Auswahlverfahren zur Besetzung von beruflichen Positionen - geht, haben Petitionen an das EP gute Aussichten auf Erfolg. VI. Einflussmöglichkeiten der Bürger in der Praxis: Der Bürgerbeauftragte Neben der Teilnahme an Europawahlen ergeben sich für die Bürgerinnen und Bürger direkte Einwirkungsmöglichkeiten auch durch die Arbeit des mit dem Maastrichter Vertrag eingesetzten europäischen Bürgerbeauftragten.

23 24

25

So die Überschrift eines Artikels der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15. 6. 1999. Frankfurter Rundschau vom 3. 7. 1999. Für die Sitzungsperiode 1998/99 siehe das EP-Dok A4-0ll7 /99 vom 18. 3. 1999.

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Der am 12. Juli 1995 zum ersten Bürgerbeauftragten der Europäischen Union gewählte Finne Jacob M. Södermann berichtet dem Europäischen Parlament jährlich über seine Arbeit. Wie der Jahresbericht für 1998 belegt, war er in diesem Jahr mit insgesamt mit 1617 Fällen befasst. 26 Den europäischen Ombudsman erreichen jedoch mit rund 70% aller Fälle allzu viele Eingaben, für die er nach der Rechtslage nicht zuständig ist. Immerhin konnte er im Jahr 1998 185 Fälle endgültig mit einer begründeten Stellungnahme abschließen. Besonders hingewiesen wurde auf eine Initiativuntersuchung des Bürgerbeauftragten zu den Zugangsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger zu den EU-Institutionen. Als Ergebnis dieser Untersuchung wurde ein "Verhaltenskodex der guten Verwaltungspraxis" gefordert. Dieser Vorschlag wurde vom EP in einer Entschließung vom 29. April 1999 übernommen. 27 Offensichtlich existiert noch ein erheblicher Auklärungsbedarf über die Handlungsmöglichkeiten des Bürgerbeauftragten und vor allem über die Abgrenzung der verschiedenen Instrumente von Bürgerinnen und Bürger, auf bestimmte Anliegen hinzuweisen. Diese reichen von Anfragen an den lokalen Europa-Abgeordneten, über Petitionen an das Parlament und an Hinweise an die Kommission, z. B. wegen Verstößen gegen Umweltvorschriften der EU, bis hin zur Beschwerde beim europäischen Bürgerbauftragten. Der Bürgerbeauftragte kann nur Beschwerden über Tätigkeiten der Organe und Institutionen der EG, nicht aber Beschwerden über andere (z. B. nationale oder regionale) Behörden prüfen. Er darf nicht in schwebende Gerichtsverfahren - einschließlich von Verfahren vor dem EuGH und dem Gericht erster Instanz - eingreifen oder die Rechtmäßigkeit einer gerichtlichen Entscheidung in Frage stellen. Geeignete administrative Möglichkeiten einer internen Abhilfe müssen der Beschwerde vorausgegangen sein. Der Beschwerdeführer sollte sein Anliegen zudem spätestens zwei Jahre nach Kenntnis über den zugrundeliegenden Sachverhalt vortragen. Aussicht auf Erfolg haben Eingaben an den Bürgerbeauftragten u. a. bei offensichtlichen Verstößen gegen die Gleichbehandlung von Firmen bei EU-Ausschreibungen durch die Kommission, bei unzureichender Kooperation von EU-Behörden bei lnformationsbegehren, z. B. von Journalisten, sowie bei Einstellungs- und sonstigen Personalangelegenheiten.

VII. Welchen Beitrag kann die politische Bildung für ein "Europa der Bürger'' leisten? Politische Bildung soll vorbereiten auf das Leben in der demokratischen Gesellschaft.28 Ausgangspunkt dabei ist, dass eine offene und demokratische GesellThe European Ornbudsrnan, Annual Report for 1998, Strasbourg 1999, S. 10. Ziffer 7 der Entschließung vorn 15. 4. 1999 zum jährlichen Tatigkeitsbericht des Europäischen Bürgerbeauftragten, siehe Bundesrat-Drucksache 289/99 vorn 29. 4. 1999. 26 27

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schaft nur dann überleben und sich weiterentwickeln kann, wenn sie von den Bürgern getragen wird, die zumindest ein Grundwissen über politische Entscheidungsabläufe haben und ein bestimmtes Maß an Urteilsfähigkeit besitzen müssen. Die politische Bildung muss heute vermehrt auch europäische Sachverhalte in ihr Angebot aufnehmen, weil wesentliche Gegenwarts- und Zukunftsfragen von den Nationalstaaten nicht mehr in hinreichendem Maße beantwortet werden können. Die EU bietet zur Lösung vieler dieser Probleme einen geeigneten Handlungsrahmen an_29 Diesem Sachverhalt haben die Kultusminister der Länder und auch die für Bildungsfragen zuständigen Minister der EU-Staaten durch den Erlass entsprechender Beschlüsse zur europäischen Dimension im Bildungswesen Rechnung getragen.3° Auch in der Erwachsenenbildung besteht hinsichtlich der europäischen Dimension von politischem Handeln ein erheblicher Wissensbedarf. Vor allem die Diskussion über den Maastrichter Vertrag über die Europäische Union hat deutlich gemacht, wie schlecht die Bevölkerung auch in der Bundesrepublik über Buropafragen informiert ist. 31 Seither hat sich hieran nur wenig geändert. 32 Diese Defizite lassen sich sicherlich nicht über eilig von nationalen und europäischen Dienststellen in Auftrag gegebene Informationsprogramme ausgleichen. Zu fordern ist vielmehr eine kontinuierliche Befassung der politischen Bildung mit europäischen Fragestellungen. Dabei geht es zunächst darum, die Bedeutung der EU-Entscheidungsebene für viele Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens deutlich zu machen. Ob die EU-Bürger bestrahlte Lebensmittel essen, nach dem deutschen Reinheitsgebot gebrautes Bier trinken oder ein Katalysator-Auto fahren, wird heute nicht mehr nur in Bonn und Berlin, sondern zunehmend auch in Brüssel und Straßburg entschieden.

28 Vgl. hierzu u. a. Manfred Hättich, Anspruch und Wirkung politischer Bildung 19191989, in: Bundesszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Vierzig Jahre politische Bildung in der Demokratie, Bonn 1990, S. 27- 33. 29 Siehe z. B. für die Umweltpolitik: Otto Schmuck, Umweltpolitik: Grenzüberschreitende Probleme - europäische Lösungen. Eine Broschüre für Schule und Erwachsenenbildung, Bonn 1988. 30 Vgl. die Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Minister ftir das Bildungswesen zur europäischen Dimension im Bildungswesen vom 24. 5. 1988 sowie ,,Europa im Unterricht", Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 8. 6. 1978 in der Fassung vom 7. 12. 1990, beide abgedruckt in: Will Cremer/Otto Schmuck, Politische Bildung für Europa. Die europäische Dimension in der politischen Bildung der zwölf EG-Staaten, Bonn 1991, s. 345 ff. 31 Im April 1992 fühlten sich 60% der befragten Deutschen schlecht oder sehr schlecht über die EU informiert, der EG-Durchschnitt lag bei 65%; siehe: Kommission der EG (Hrsg.), Euro-Barometer, Nr. 37, Brüssel Juni 1992, S. A9, Tab. 1.6. 32 Im Herbst 1998 gaben 22% der Befragten an, sie wüssten (fast) nichts über die EU, 52% ein wenig, 22% recht viel und lediglich 2% sehr viel; siehe Euro-Barometer Nr. 51, Tabelle 2.1.

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Durch die im Maastrichter und im nachfolgenden Amsterdamer Vertrag niedergelegten Veränderungen haben sich deutliche Verschiebungen zur europäischen Entscheidungsebene sowie vielfältige institutionelle Neuregelungen ergeben, die in der Bildung aufgearbeitet werden müssen. Dabei geht es nicht um bloße Wissensvermittlung, sondern auch um die Herstellung von Handlungskompetenz und bereitschaft mit dem Ziel, in der EU Einfluss zu nehmen und Kritik zu äußern. Dies erscheint in der EU insofern dringend erforderlich, als die Entscheidungsprozesse nach wie vor in vielerlei Hinsicht nicht den Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger an ein effizientes, transparentes und zugleich demokratisch legitimiertes System entsprechen können. Durch entsprechende Bildungsangebote werden die Leistungen, zugleich aber auch die Defizite der EU deutlich gemacht. Auf der Grundlage der dabei gewonnen Erkenntnisse kann so allmählich auch der notwendige Druck für notwendige Reformen entstehen. Ansatzpunkte für eine institutionalisierte Interessenvertretung in der EU sind zum einen das Europäische Parlament, zugleich aber auch der mit dem Maastrichter Vertrag neu eingerichtete ,,Ausschuss der Regionen und Kommunen", kurz Regionalausschuss genannt. Hier können regionale und bürgernahe Anliegen kanalisiert werden. Auch der europäische Bürgerbeauftrage kann hier einen wesentlichen Beitrag leisten. Die in den Verträgen von Maastricht und in Amsterdam vereinbarten Entscheidungsverfahren der EU müssen in ihren praktischen Auswirkungen in Fallstudien exemplarisch überprüft werden. Zudem müssen die Chancen und Risiken der EUOsterweiterung einer rationalen politischen Bewertung zugänglich gemacht werden, wobei das übergeordnete Ziel einer dauerhaften Friedenssicherung in Europa entsprechend zu verdeutlichen ist. Gleichzeitig muss der Boden für weitere Veränderungen bereitet werden. Eine Rückkehr zu nationalem Lösungen stellt jedenfalls angesichts der zunehmenden regionalen und weltweiten Interdependenz keine Lösung dar. Gegenstand europäisch ausgerichteter politischer Bildung muss immer auch die Frage nach den Leitbildern und der Finalität der europäischen Einigung sein. Weiterreichende Veränderungen in Richtung auf eine europäische Verfassung können sich aus der im Juni 1999 beschlossenen Einsetzung eines europäischen Grundrechtskonvents ergeben, der unter starker Beteiligung der Parlamente bis Ende 2000 einen entsprechenden Entwurf ausarbeiten soll. Bei der Vermittlung dieser europäischen Grundanliegen können die europäisch ausgerichteten Bildungseinrichtungen Aufklärung und Hilfestellung geben. Dabei hat sich vor allem ein projektorientierter, praxisnaher Bildungsansatz bewährt, bei dem konkrete Praxisfälle systematisch aufgearbeitet werden. 33 Besonders feucht33 Materialien für entsprechende Bildungsveranstaltungen sind exemplarisch zusammengestellt in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Europa an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Reform und Zukunft der Europäischen Union. Bonn 1998.

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Otto Schmuck

bar sind derartige Veranstaltungen, wenn Teilnehmer aus verschiedenen europäischen Staaten ihre jeweils unterschiedlichen Sichtweisen in den Bildungsprozess einbringen und sie dabei vorurteilsfrei voneinander lernen.

VIII. Fazit: Zehn Thesen zum europapolitischen Auftrag der politischen Bildung 1. Die europäische Bildung steht vor erheblichen inhaltlichen Problemen. Diese haben mit der Natur des zu vermittelnden Gegenstands zu tun: Die EU-Entscheidungsverfahren sind kompliziert und unterliegen häufigen Veränderungen. Die handelnden Personen sind kaum bekannt. Die Zusammensetzung von Institutionen verändert sich durch den Beitritt neuer Mitgliedstaaten. Die Kompetenzabgrenzung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten einschließlich ihrer Regionen ist in vielen Bereichen unklar. Im Bildungsprozess sollten diese besonderen Probleme verdeutlicht werden, auch um eine fundierte Kritik an vorhandenen Gegebenheiten zu ermöglichen. 2. Angesichts der veränderten Rahmenbedingungen der europäischen Einigung durch des Ende des Ost-West-Konflikt steht die europaorientierte Bildung an der Schwelle zum 21. Jahrhundert vor neuen Begründungszwängen: Eingefahrene Integrationsmuster müssen überdacht und gegebenenfalls korrigiert werden. 3. Die europaorientierte Bildung muss heute davon ausgehen, dass die Zustimmung zur europäischen Einigung seit Beginn der Maastricht-Debatte Anfang der neunziger Jahre deutlich zurückgegangen ist. Die Ursachen hierfür sind vielfältig: Demokratisch kaum legitimierte und für die Bürger nur schwer nachvollziehbare Entscheidungsverfahren der EU, eine auch national bewirkte Regelungswut der EU-Gremien, Verunsicherungen durch das Ende des OstWest-Konflikts verbunden mit der Angst vor einem unkontrollierbaren Einwanderungsstrom aus Mittel- und Osteuropa und immer neuen Finanzforderungen aus Brüssel. 4. Die politische Bildung sollte die Vielfalt der Motive der europäischen Einigung verdeutlichen. Diese reichen von der Friedenssicherung über wirtschaftliche Zielsetzungen im Zusammenhang mit dem großen Binnenmarkt und die Einsicht in die Notwendigkeit eines europäischen Handeins angesichts zunehmender Globalisierungszwänge bis hin zur Völkerfreundschaft und zur Pflege gutnachbarschaftlicher Beziehungen im zusammenwachsenden Europa, etwa durch Partnerschaften von Städten, Schulen und Vereinen. In der Abwägung kommt dabei dem Motiv der Friedenssicherung eine herausgehobene Bedeutung zu. 5. In bildungspolitischen Veranstaltungen mit Buropabezug sind die Vor- und Nachteile eines gemeinsamen Vorgehens der EU-Staaten bei der Aufarbeitung

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wesentlicher Gegenwarts- und Zukunftsfragen mit europäischer Dimension aufzuzeigen. Vor allem bei grenzüberschreitenden Problemen - etwa beim Umweltschutz- werden die Vorteile eines gemeinsamen Vorgehens im Rahmen der EU deutlich erkennbar. Zugleich ist das Subsidiaritätsprinzip und seine praktische Anwendung zu behandeln. 6. Missverständnisse werden immer wieder erkennbar, wenn zur Erklärung der EU auf die unterschiedlichen Merkmale der beiden politischen Gebilde ,,Bundesstaat" und "Staatenbund" verwiesen wird. Vor allem ist auf das Vorurteil einzugehen, die bestehenden Nationalstaaten würden von einem europäischen Bundesstaat völlig aufgesogen. Am sinnvollsten erscheint es, die EU als ein einzigartiges und neuartiges politisches Gebilde eigener Art darzustellen. Die Interpretation des Bundesverfassungsgerichts ist dabei zu berücksichtigen, wonach die Europäische Union einen "Staatenverbund" darstellt. 7. Besondere Bedeutung kommt bei der Vermittlung europäischer Themen der Frage der demokratischen Legitimation von EU-Entscheidungen -und dabei vor allem der Stellung des Europäischen Parlaments - zu. Dessen Rechte und Funktionen sind in ihren Stärken und Schwächen realistisch darzustellen. Hinzuweisen ist auf die "stützende Funktion", die das Bundesverfassungsgericht dem Europäischen Parlament, neben den nationalen Parlamenten im gegenwärtigen Zustand der europäischen Integration zugeschrieben hat. Vor allem kommt es darauf an, das Zusammenleben in der Europäischen Union als gestaltbar und gestaltungsoffen zu vermitteln. 8. Besonderes Augenmerk bei der inhaltlichen Gestaltung europapolitischer Bildungsveranstaltungen kommt auch dem Verhältnis zwischen der Europäischen Union und Mittel-/ Osteuropa zu. Die historische Chance zur Einigung des gesamten Kontinents muss verdeutlicht werden. Gleichzeitig ist auf die Gefahren - sowohl für die EU als auch für die Beitrittskandidaten -einer allzu schnellen EU-Erweiterung nach Mittel- und Osteuropa hinzuweisen. 9. Zu fordern ist insgesamt eine problemorientierte Herangehensweise an europäische Fragestellungen. Kritikpunkte müssen herausgearbeitet, Vorurteile hinterfragt und zugleich Ängste abgebaut werden. 10. Übergeordnetes Ziel der europäisch ausgerichteten politischen Bildung muss es sein, den Bürgern Orientierung zu geben. Ein wichtiger Ansatzpunkt ist die neue Debatte um die Ausarbeitung einer europäischen Grundrechtscharta. Sie kann der Beginn eines Prozesses der europäischen Verfassungsgebung sein.

4 FS Krause

Möglichkeiten und Grenzen internationaler Kooperation in der Geschichtsdidaktik Erfahrungen als Mitautor des Europäischen Geschichtsbuches Von Dieter Tiemann 1997 wurde in Frankreich die überarbeitete und erweiterte Neuauflage der ,.Histoire de l'Europe" ausgeliefert. Klett folgte ein Jahr später mit der Neuauflage der deutschen Version dieser europäischen Geschichte für Schüler. Weitere Ausgaben und Neuauflagen werden folgen. Das inzwischen in 15 Sprachen weltweit verbreitete Buch verkauft si~h unerwartet gut. Bei Erscheinen der ersten Auflage 1992 hatten die Verlagsmanager ihre Profitaussichten eher skeptisch beurteilt. Nun sind hohe Verkaufszahlen gewiß kein Gradmesser für inhaltliche Qualität, aber sie signalisieren immerhin einen vorhandenen Bedarf, und es ist erstaunlich, daß dies bisher nicht zu entsprechenden Konkurrenzangeboten geführt hat, zumal die Aufnahme des Buches insgesamt recht wohlwollend ausfiel, was ich als einer der Autoren natürlich gern zur Kenntnis nehme. Freilich hat es auch an kritischen Stimmen nicht gemangelt. Die Einwände reichen von berechtigten Hinweisen auf sachliche Fehler bis zur Infragestellung des Gesamtkonzepts. Vor dem Hintergrund von Lob und Tadel möchte ich einige Überlegungen vortragen, die den Initiator und uns Autoren bei unserer Arbeit geleitet haben. Zugleich möchte ich einen kurzen Einblick in die Probleme geben, mit denen wir im Zuge unserer Arbeiten konfrontiert waren. Dahinter steht die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen geschichtsdidaktischer Kooperation im heutigen Europa sowie nach den Zielen derartiger Bemühungen. Und nicht zuletzt geht es mir darum, sowohl die konzilianten als auch die kritischen Reaktionen auf unser europäisches Geschichtsbuch zu relativieren.

I.

Sind wir mit unserem Buch in geschichtsdidaktisches Neuland vorgestoßen? Wenn ich an die erste Phase der Entstehungsgeschichte denke, kann ich diese Frage uneingeschränkt bejahen. Als ich im Sommer 1988 gefragt wurde, ob ich an einem Geschichtsbuch für Schüler in ganz Europa mitarbeiten wolle, war ich von dem Vorhaben so fasziniert, daß ich spontan zusagte. Hier bot sich zum ersten Mal die Chance der Verwirklichung einer seit langem geforderten Publikation in einem

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überschaubaren zeitlichen und organisatorischen Rahmen. Die Einladung zur Teilnahme an diesem spannenden Unternehmen, das Fachvertreter aus den damaligen EG-Mitgliedsländern zu einem gemeinsam verfaßten Unterrichtswerk zusammenführen sollte, hatte Frederic Delouche ausgesprochen, ein Geschäftsmann und Europa-Enthusiast französisch-britisch-norwegischer Herkunft. Seiner Initiative waren die ersten Schritte des Pilotprojektes zu verdanken, und Delouche blieb auch im weiteren Verlauf der Arbeiten Koordinator und Motor des Vorhabens, wobei sich seine Aktivitäten jedoch keineswegs auf eine bestimmte inhaltliche Ausrichtung des Buches erstreckten, wie in einer kritischen Stimme suggeriert wird, sondern lediglich die Schaffung möglichst günstiger Voraussetzungen für unsere Arbeit betrafen. Hier stellt sich indes eine andere berechtigte Frage: Hätte eine solche Initiative, insbesondere die Finanzierung, nicht aus dem politischen oder akademischen Raum kommen müssen? Wie auch immer: Eine derartige Konstellation der Startbedingungen, unter denen wir antraten, hatte es bis dahin nie gegeben. Aber selbstverständlich brachten die Autoren gewisse Voraussetzungen in fachlicher und didaktischer Hinsicht mit, die den Einstieg in dieses Abenteuer erleichterten. Was mich betrifft, so arbeitete ich seit geraumer Zeit über internationale Fragen der Geschichtsdidaktik. Mir war klar, daß die Vermittlung und Rezeption von Geschichte in erster Linie national geprägt ist und daß es vermessen wäre, in einer Art Parforceritt zu einer internationalen Geschichtskultur gelangen zu wollen. Demgegenüber erleben wir jedoch einen europäischen Einigungsprozeß, der nicht nur in wirtschaftlichen und politischen, sondern auch in kulturellen Dimensionen stattfinden sollte, und der eines geschichtsdidaktischen Diskurses bedarf, wenn Europa nicht als technokratisches Konstrukt verkommen, sondern auch im Bewußtsein seiner Bewohner verankert werden soll. Diese Auffassung ist keineswegs originell, und gerade auf geschichtsdidaktischem Feld hat es zahlreiche, wenn auch nicht immer gebührend beachtete Impulse in Richtung auf eine transnationale Orientierung gegeben. Ich erwähne hier nur die kontinuierliche Arbeit des Braunschweiger Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung und die verdienstvollen Aktivitäten der Internationalen Gesellschaft ftir Geschichtsdidaktik. Insofern war unser Vorhaben nur der Versuch einer Konkretisierung dessen, was die soziokulturelle Entwicklung der jüngsten Zeit im allgemeinen und die Fachdidaktik im besonderen längst forderten. Zudem war ich mir offener inhaltlicher Fragen durchaus bewußt, als ich meine Mitarbeit an dem Schulbuchvorhaben zusagte. Was Europa ist oder sein sollte, wird nämlich seit Jahrhunderten mit unterschiedlicher Akzentuierung, wenn nicht kontrovers diskutiert. Es gibt in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung allenfalls Ansätze zu einem spezifisch europäischen Zugriff, die neuerdings immerhin zu beachtenswerten Reihen bei Beck und Fischer geführt haben. Auch der vor vier Jahren erschienene voluminöse Quellen- und Materialband ,,Europäische Geschichte" des Bayerischen Schulbuchverlages verdient hier Erwähnung. Inwie-

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weit diese Ansätze geschichtsdidaktisches Engagement anregen, vor allem aber eine grenzüberschreitende, auf Unterrichtspraxis zielende Kooperation beflügeln werden, bleibt abzuwarten. Schon seit längerem existieren jedenfalls Überlegungen in Richtung auf eine - wie Rudolf Vierhaus es einmal formuliert hat - "europäische' Darstellung der europäischen Geschichte", die Europa als etwas geschichtlich Gewordenes zeigen müsse und die die Vergangenheit nicht zur Legitimierung der politischen Einigung Europas benutzen dürfe. Diesbezüglicher Kritik an unserem Buch möchte ich entgegenhalten, daß sich über den Buropabegriff trefflich streiten läßt, daß es aber keinen verbindlichen Maßstab gibt, schon gar nicht einen geographischen Rahmen, mit dem Europa ein für allemal fixiert werden könnte. Dies war also - kurz gesagt - mein Rüstzeug, mit dem ich zu dem ersten einer Reihe von Autorengesprächen fuhr. Bis auf Griechenland und Luxemburg waren alle damaligen EG-Staaten vertreten. Zunächst skizzierte jeder der Teilnehmer Organisation, Ziele und Inhalte des Geschichtsunterrichts in seinem Land. Dabei zeigten sich erhebliche Differenzen bezüglich der wöchentlichen Stundenzahl, der Richtlinien und Lehrpläne, der Prinzipien der Schulbuch-Geschichtsschreibung usw. Wer etwa bedenkt, daß in Italien eine lange Tradition der quasiakademischen Darstellung von Geschichte im Schulbuch vorherrscht, während in den Niederlanden eine eher schülerorientierte Aufbereitung des Stoffes favorisiert wird, kann leicht ermessen, wie ernüchternd dieser Informationsaustausch wirken mußte. Auch die weitgehend noch nationalzentrierte Geschichtssicht in den vorhandenen Schulgeschichtsbüchern machte den Einstieg in die Realisierung des Projektes nicht gerade einfacher, zumal die mehr oder weniger zaghaften Versuche einer diesbezüglichen Sensibilisierung im allgemeinen leider bei wolkigen Empfehlungen stehenbleiben; so spricht der Beschluß der Kultusministerkonferenz aus dem Jahr 1978 über ,,Europa im Unterricht" nur von den "prägenden geschichtlichen Kräfte(n) in Europa", ohne auszuführen, welches diese Kräfte sein sollen und wie sie den Schülern nahegebracht werden können. Diesem Informationsaustausch und eingehenden Diskussionen folgten grundlegende Entscheidungen. Als Adressaten des Buches sollten insbesondere Schüler von 15, 16 bis zu 18 Jahren und darüber hinaus angesprochen werden- eine Zielgruppe, die uns angesichts der desillusionierenden Bestandsaufnahme am ehesten ansprechbar erschien. Der Band sollte ursprünglich aus 10 Kapiteln mit je 32 Seiten bestehen. Jeder Autor sollte ein Kapitel übernehmen und in schülergerechter Sprache die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Aspekte der behandelten Epoche aufbereiten. Die in der jeweiligen Muttersprache abgefaßten Manuskripte sollten ggf. ins Französische und Englische übersetzt und den anderen Kollegen zur Redaktion zugesandt werden. Von vomherein beabsichtigt war ein reich illustriertes Buch, das in einheitlicher Aufmachung Verlagen verschiedener Länder angeboten werden sollte.

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Diese Vorgaben waren recht vage und zumindest für deutsche Schulbuchmacher viel zu wenig theoriegeleitet, d. h. auf ein stringentes Konzept hin detailliert zugeschnitten. Eine solche Feinabstimmung der Voraussetzungen hätte m.E. allerdings zu endlosen Diskussionen geführt, durch die die Autoren mit ihren spezifischen nationalen Erfahrungen und persönlichen Auffassungen eher behindert und gegängelt als orientiert und unterstützt worden wären. Korrektiv der einzelnen Texte war also kein Katalog von Methoden und Inhalten, sondern der kollegiale Diskurs. Inzwischen hatte Hachette, der führende französische Schulbuchverlag, die editorische Betreuung übernommen. Wenn daraus eine frankozentrische Darstellung resultiert, wie es in einzelnen Reaktionen herauszuhören ist, sollte darüber diskutiert werden. Vordergründige Unterstellungen, die Franzosen wollten nun auch noch den Europa-Begriff in der Schulbuch-Geschichtsschreibung besetzen, sind jedenfalls wenig hilfreich und köRnten die Frage provozieren, warum sich eigentlich kein Verlag eines anderen europäischen Landes derart engagiert hat. Im Zuge der mehrjährigen Phase der Texterstellung und -korrektur tauchte dann auch das Bedürfnis nach einer Erweiterung des Themenkreises und der Autorenrunde auf, das zur Aufnahme einer griechischen Kollegin und eines Tschechen in den Verfasserkreis führte. Damit wurden dann elf Kapitel, denen eine Einführung vorangestellt werden sollte, als endgültige Gliederung festgelegt. Der diesjährigen Neuauflage ist noch ein zwölftes Kapitel aus polnischer Feder angefügt. Diese Kapiteleinteilung nach vorhandenen Autoren mag als sachfremd und schematisch kritisiert werden. Sie hatte immerhin den Vorteil, daß relativ klare Aufgabenfelder abgesteckt waren; außerdem kam diese Lösung den Bedürfnissen einer ansprechenden Binnengliederung des einbändigen Werkes entgegen. Mein Kapitel umfaßt den Zeitraum von 1900 bis 1945. Wir gaben im die Überschrift "Auf dem Weg zur Selbstzerstörung". Damit wollten wir signalisieren, daß es selbst im Zeitalter nationalistischer Abgrenzungsmanien, Hegemonialphantasien und Konfrontationsstrategien gesamteuropäische Strukturen, Lebenswelten und Bewußtseinslagen gab, daß diese Gemeinsamkeiten allerdings von gewaltigen destruktiven Energien überlagert wurden, die Europa bis an den Rand des Ruins trieben. In dem knappen Raum, der mir zu Verfügung stand, konnte ich natürlich keine weltstürzende Neuinterpretation der Epoche bieten, wohl aber einige Akzente setzen. Wichtig war mir - um nur ein Beispiel zu nennen - etwa die Behandlung der verschiedenen Europapläne und Buropainitiativen während der Zwischenkriegszeit, die damals zwar alle gescheitert sind, die auf längere Sicht aber eben doch Wrrkung gezeigt haben. Neben inhaltsbezogenen Absprachen mußten natürlich auch andere Fragen geklärt werden. Ein zentrales Problem möchte ich hier kurz erwähnen: Welchen Typ von Schulgeschichtsbuch wollten wir eigentlich verwirklichen? Ursprünglich sollte es eine Kombination von Lese- und Arbeitsbuch werden. Sehr schnell kamen wir aber davon ab und beschränkten uns auf das bescheidenere Ziel eines Lesebu-

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ches. Der nun angestrebte Leitfadencharakter entband uns von dem schier unlösbaren Problem, Aufgaben und Arbeitsvorschläge zu formulieren, die einerseits dem bewußt recht breit gefaßten Adressatenkreis der 15- bis 18jährigen hätten gerecht werden und die andererseits über Grenzen hinweg hätten sinnvoll und verständlich sein müssen. Der Motivation sollten hierzulande seit längerem bekannte Kapitelauftaktseiten dienen sowie bisher m. W. noch nicht angebotene Endseiten mit einer Europakarte unter der Überschrift ,,Einladung zur Reise in die Vergangenheit" mit Hinweisen auf Sehenswürdigkeiten der jeweiligen Epoche. Insgesamt rückte unser Projekt damit deutlich vom Schulbuch im deutschen Sinne ab und hin zu einer Art Schülerhandbuch mit starken visuellen Anreizen. Der Hinweis auf den Umstand, daß das französische Wort "manuel" sowohl Lehr- als auch Handbuch heißen kann, mag verdeutlichen, wie stark wir in unseren nationalen Vorstellungen gefangen sind. Ein kollektives europäisches Vorhaben mußte also vom kleinsten gemeinsamen Nenner ausgehen und versuchen, erste vorsichtige Schritte in Richtung auf einen didaktischen Konsens zu riskieren. So gesehen kann ich den ironischen Vorwurf eines Lehrerkollegen, wir hätten nur ein ,,Bilderbuch" weit hinter dem heutigen Stand der deutschen Geschichtsdidaktik zustandegebracht, durchaus verstehen, aber auch ertragen. Die Basis der weiteren Zusammenarbeit sei kurz zusammengefaßt. Fünf Prinzipien vor allem sind zu nennen: 1. Wissenschaftsorientierung

Wir wollten keiner Europa-Legende Vorschub leisten, etwa in dem Sinne, daß der gegenwärtige Einigungsprozeß in der Geschichte notwendig angelegt sei. Wir wollten vielmehr auf der Basis gesicherter Forschungsergebnisse und bestehender Forschungsdiskussionen einen Überblick dessen bieten, was Europa historisch ausmacht, ohne dieses Europa zu glorifizieren.

2. Schülerorientierung Es sollte ein Buch für Schüler werden, aber kein herkömmliches Unterrichtswerk, für das die Zeit m.E. längst nicht reif ist. Dies sollte freilich keineswegs die Benutzung im Geschichtsunterricht ausschließen, beispielsweise unter Verwendung der reichen illustrativen Ausstattung. 3. Pragmatismus

Wir wollten etwas Konkretes zustande bringen und uns nicht in fachlichen und didaktischen Skrupeln verzetteln. Das schloß auch die Bereitschaft ein, nationale Einstellungen und Urteilsraster in Frage stellen zu lassen.

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4. Pluralismus

Unser Buch sollte keine unumstößlichen Wahrheiten verkünden, sondern die Vielfalt historiographischer Aussagen widerspiegeln und unterschiedliche, wenn nicht gegensätzliche Geschichtsbilder und Geschichtsbewußtseins-Lagen integrieren.

5. Kompromißfähigkeit Das alles konnte natürlich nur gelingen, wenn jeder einzelne zu Zugeständnissen bereit war. Jedes Schulgeschichtsbuch ist ein Kompromiß angesichts divergierender Interessen von Autoren, Verlegern, Kultusministern, Schülern, Eltern usw. Unser Buch erforderte noch eine höhere Qualität von Kompromißfähigkeit, weil die im nationalen Rahmen schon konkurrierenden Vorstellungen hier multipliziert werden mußten. II.

Worum ging es in der weiteren Arbeit am Text? Gestatten Sie mir, daß ich einige Problemfelder zur Sprache bringe: Entgegen manchen Journalisten, die sich für das Projekt interessierten und gern etwas über Kontroversen im Hinblick auf die Darstellung einzelner heikler Themen berichtet hätten, kreisten die Diskussionen vornehmlich um schlichte praktische Fragen. Da wurden etwa Passagen auf ihre sachliche Richtigkeit hin überprüft und gegebenenfalls korrigiert; ich entsinne mich, daß der niederländische Kollege sich beharrlich für eine korrekte Darstellung des politischen Systems der Vereinigten Niederlande im 17. Jahrhundert einsetzte und daß der irische Kollege den kurzen Satz über den Osteraufstand 1916 anders formuliert haben wollte. Ein banales, aber vorrangiges Problem war auch die Notwendigkeit, Autorentext und die zur Verfügung stehenden Seiten, Zeilen und Anschläge in Einklang zu bringen: Wo könnte gekürzt, wo ergänzt werden? Verständlicherweise machte auch die Zuordnung von Text und Illustration bisweilen Schwierigkeiten. Und schließlich galt es, Überschneidungen zu vermeiden und insbesondere für die Kapitelübergänge Verabredungen zu treffen; Themen wie ,,Anfänge der Frauenbewegung" oder ,,Imperialismus" paßten ebensogut in das Kapitel über das 19. Jahrhundert wie in das über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Komplizierter war schon die Einigung auf lnterpretationswege. Ab wann können wir von Frankreich und Deutschland anstelle des West- und Ostfrankenreiches sprechen? Wer trägt die Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges? War die Kriegsbegeisterung im August 1914 wirklich so allgemein, wie es lange behauptet wurde? Mit solchen und ähnlichen Fragen verbunden waren Probleme der Gewichtung: Nimmt etwa die Reformation gegenüber der europäischen Expansion im 16. Jahr-

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hundert einen angemessenen Platz ein? Können Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur des Römischen Reiches in seiner Spätzeit anhand der Verhältnisse im gallorömischen Siedlungsraum dargestellt werden, oder bedarf es einer breiteren geographischen Streuung der Beispiele? Kann Italien im 17. und 18. Jahrhundert außer Acht gelassen oder sollte zwischen Michelangelo und Garibaldi noch etwas eingeschoben werden? Besonders delikat waren natürlich traditionelle nationale Urteile und Wertungen - weniger im Autorenkreis als im Hinblick auf die Leser in den verschiedenen Ländern, die mit bestimmten Einstellungen, mit Vor-Urteilen an die Lektüre gehen: War Francis Drake ein Held oder ein simpler Freibeuter? Gehört Napoleon in die Galerie der großen Männer oder vor das Tribunal der europäischen Geschichte? Hat Bismarck Europa eine lange Friedenszeit beschert oder eine verhängnisvolle Entwicklung eingeleitet? Die Reihe der Beispiele ließe sich fortsetzen, aber hier wird schon deutlich, daß gegenüber den nach wie vor existierenden nationalen Wertungsrastern nur Behandlungsweisen möglich waren, die Verständnis für gegensätzliche Positionen fördern können. Mein Überblick über die Autorendiskussionen wäre unvollständig, und ich würde das Gesamtbild verfälschen, wenn ich verschwiege, daß bisweilen auch nationale Interessen im Spiel waren. Es ging dann darum, möglichst viel des aus der Geschichte geschöpften Nationalbewußtseins in das europäische Geschichtsbuch einfließen zu lassen. Wir müssen uns einfach vor Augen halten, daß die Bilder von der Geschichte nach wie vor entscheidende Kräfte der nationalen Identität sind und daß dem Geschichtsunterricht in den meisten europäischen Ländern immer noch die Aufgabe zukommt, das Nationalgefühl zu stärken. Deshalb ist es schon ein Fortschritt, wenn nationale Helden in Frage gestellt und herausragende Epochen für ein Land in ihrer Bedeutung eingeschränkt werden. Für Portugiesen und Spanier ist nun einmal das Zeitalter Heinrichs des Seefahrers, Vasco da Gamas und Christoph Columbus' eine im großen und ganzen positiv besetzte Epoche und ein zentrales Thema ihres nationalen Selbstverständnisses, ob es uns gefällt oder nicht, und wir müssen von diesem Bewußtseinsstand ausgehen, wenn wir zu einem europäischen Bewußtsein gelangen wollen. Der Beitrag Irlands zur Christianisierung Mitteleuropas im Frühmittelalter, die Kulturblüte Böhmens im Spätmittelalter oder der zeitweilige Erfolg des kleinen Griechenland im Abwehrkampf gegen das faschistische Italien und damit gegen die Achse während des Herbstes 1940 sind weitere Beispiele solcher nationalen Identitätsanker in der Vergangenheit. Mir wurde bei derartigen Diskussionen bewußt, welchen Sonderweg der westdeutsche Geschichtsunterricht nach 1945 eingeschlagen hat, und wie sehr wir bei allem berechtigten Stolz auf unsere geschichtsdidaktischen Standards aufpassen müssen, hier nicht als Lehrmeister auftreten zu wollen. Selbstverständlich sollten diese nationalen Identifikationsmuster nicht überbewertet werden. Sie sind nämlich längst - im einen Land mehr, im anderen weniger - einer Erosion ausgesetzt und werden zunehmend kritisch hinterfragt. Unsere ge-

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meinsame Arbeit am europäischen Geschichtsbuch ist zugleich Symptom und Faktor dieses Prozesses, wenngleich ich ihn nicht für unumkehrbar halte. Hinter allen skizzierten Problemen stand noch ein weiteres: das der Sprache! Sprache dient der Verständigung und der Erkenntnis. Was die Verständigung betrifft, so gab es alles in allem keine gravierenden Schwierigkeiten bei unseren Diskussionen. Problematischer wurde es, wenn es um Sprache als Mittel der Erkenntnis ging. Die Zeit der Völkerwanderung wird französisch mit "invasions barbares" - "barbarische Einfälle" - bezeichnet. Welchen Begriff sollten wir verwenden? Wir haben uns dafür entschieden, mögliche Irritationen zu venneiden und in jedem Land bei den traditionellen Bezeichnungen zu bleiben. Ähnlich problematisch erscheinen mir im französischen Original die Verwendung von ,,Etat" - "Staat" - für mittelalterliche Reiche oder von "industrie" für produzierende Gewerbe lange vor dem Einsatz von dampfgetriebenen Maschinen. Um noch ein weiteres Beispiel aus der Sprachproblematik zu nennen: Wenn ein Franzose von der "Republique" spricht, schwingen leicht positiv besetzte Gefühlsmomente mit, während bei uns damit eher wertfrei ein politisches System neben anderen bezeichnet wird. Überhaupt stellen Übersetzungsfragen wohl die größte Hürde ftir die nichtfranzösischen Versionen dar. Begriffe, Satzmuster, gedankliche Verbindungen lassen sich eben nicht schematisch übertragen, sondern müssen stets in den Zusammenhang der im jeweiligen Land bestehenden Geschichtskultur, also der eingeschliffenen nationalspezifischen Begriffs-, Bewußtseins- und Wertungsraster gebracht werden. Das ist ein langwieriger Eiertanz um die bestmögliche Übersetzung. Wie subtil damit umgegangen werden muß, zeigt auch der Begriff des ,,nationalisme", der einmal im Zusammenhang der deutschen Nationalbewegung Anfang des 19. Jahrhunderts auftauchte; während wir in der deutschen Sprache zumindest zögern, dieser Bewegung den Stempel des Nationalismus aufzudrücken, weil damit negative Assoziationen (Überlegenheitsdünkel, Expansionismus usw.) verbunden sind, wird ,,nationalisme" in Frankreich eher wertneutral als Streben nach nationaler Selbstverwirklichung verstanden.

UI. Diese kurzen Hinweise auf neuralgische Punkte führen nahezu zwangsläufig zur Selbstkritik, die ja bekanntlich ein erster Schritt zum Sessennachen ist. Unser Buch hat zweifellos eine Reihe von Mängeln und sollte allein schon deswegen nicht nur als abgeschlossenes Werk, sondern auch als wirkende Kraft verstanden werden. Insofern kann die Auflistung der Defizite durchaus produktiv sein und in weiteren einschlägigen Unternehmen fruchtbar gemacht werden. Freilich darf diese Kritik nur sehr begrenzt die Standards der deutschen Geschichtsdidaktik zum Maßstab nehmen; sie muß sich vielmehr an dem orientieren, was an internationaler Zusammenarbeit gegenwärtig möglich erscheint, es sei denn, eine solche Gemeinschaftsarbeit wird grundsätzlich abgelehnt.

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Auf die sachlichen Fehler, die uns vorgehalten wurden, möchte ich nicht näher eingehen. Sie sind ärgerlich und hätten nicht passieren dürfen. Eine beträchtliche Anzahl ist in der Neuauflage korrigiert worden, so etwa eine Karte, die die Schweiz 1944 als von Deutschland besetztes Gebiet ausweist. Bei aller Rücksichtnahme für die Besonderheiten unseres Unternehmens halte ich die Masse der angegebenen Daten und Fakten für überzogen. In manchen Passagen liest sich der Band wie eine Dynastiegeschichte oder wie ein Ablauf zeitlich genau fixierter Ereignisketten. Stattdessen hätte das Prozeßhafte der Geschichte stärker betont werden müssen. Die Geburt Frankreichs und Deutschlands läßt sich eben nicht mit Jahreszahlen zeitlich fixieren, wie es mit 962 und 987 suggeriert wird, sondern ist Ergebnis eines verfestigten Kollektivbewußtseins, das in beiden Reichen erst im 11. Jahrhundert festzustellen ist. Zahlreiche Passagen des Textes sind in meiner Sicht eher bei der Fachwissenschaft als beim Schüler angesiedelt. Es sollte überlegt werden, inwieweit die pädagogischdidaktische gegenüber der akademischen Akzentuierung gestärkt werden kann. Ein Folgeunternehmen müßte meines Erachtens stärker die Andersartigkeit der Verhältnisse in früheren Epochen betonen. Ich meine, wir sind noch zu stark von einem Europa der Staaten ausgegangen, wenn auch manche überstaatlichen Phänomene zur Sprache kommen (Hanse, römische Kirche, künstlerische Stilrichtungen usw.). Es müßte wohl noch deutlicher werden, daß moderne Staatlichkeit nur eine Form gesellschaftlicher Organisation darstellt und daß die Geschichte uns andere Modelle vorführt. Die Zuordnung von illustrativen Elementen und Autorentext einerseits sowie von Bildern und Bildlegenden andererseits lassen zu wünschen übrig. Das erste ist eine Frage der besseren Koordination, das zweite ein Problem der Zweckbestimmung. Wenn beispielsweise eine Abbildung der Taufe Chlodwigs 496 nur veranschaulichen soll, genügt der erläuternde Text, der die Taufe als Einlösung eines Versprechens nach dem Sieg erwähnt. Wenn aber die historische Bedeutung dieses Ereignisses gewürdigt werden soll, müssen die Folgen dieser Taufe für das Frankenreich und Europa angesprochen werden. Selbstverständlich schimmert in jedem Kapitel die Handschrift seines jeweiligen Autors durch, auch wenn beträchtliche Veränderungen vorgenommen wurden. Dieses Verfahren der freien Themenbearbeitung und kollektiven Redaktion ist für einen ersten Versuch zweifellos sinnvoll und reizvoll, weil so zunächst einmal eine Bestandsaufnahme erfolgen kann und weil kein Kollege von vornherein verpflichtet wurde, wegen strenger Richtlinien seine persönlichen Sichtweisen und die seines Landes zu verleugnen. In einer nächsten Stufe sollten vorherige Absprachen ein engeres Netz für die Niederschrift spannen. Schließlich sei noch auf einen kritikwürdigen Aspekt hingewiesen, für den ich allerdings keine einfache Alternative anzubieten habe. Ich meine das unterschiedli-

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ehe Vorverständnis, mit dem die Leser verschiedener Länder an die Lektüre gehen. Hier zeigt sich deutlich die französische Federführung. Ein nichtfranzösischer Leser darf sich mit Recht fragen, was er mit der Erklärung eines Gemäldes anfangen soll, das Ludwig XV. zeigt; dort heißt es, der "Vielgeliebte" sei besser als sein Ruf gewesen. Auch die Erläuterung zum Gemälde von Delacroix - "Die Freiheit führt das Volk an" - hätte zumindest aus deutscher Sicht stärker auf die Nationalfigur der Marianne als auf die Motive des Malers abgestellt sein müssen.

IV. Kommen wir am Ende also nochmal zu der Frage nach dem Innovationspotential in unserem Geschichtsbuch und damit nach der Europäisierung des Geschichtsbewußtseins. Daß wir mit unserer Arbeit nicht den Stein der Weisen gefunden zu haben behaupten, habe ich bereits deutlich gemacht. Allerdings wollen wir uns bei aller Bereitschaft zur Selbstkritik auch nicht verstecken, wenn es um die Herausstellung positiver Seiten geht. Allein schon der Umstand, daß eine solche europäische Kooperation möglich war, verdient hervorgehoben zu werden. Das garantiert zwar kein Qualitätserzeugnis, durchbrach aber den Regelkreis nationaler Europabilder. Jedenfalls bestand hier nicht die Gefahr einer einseitigen Interpretation der Geschichte Europas. Die europäische Dimension kommt in unserem Buch vielfältig zum Ausdruck. Wir haben versucht, gesamteuropäische Phänomene und ihre nationalen wie regionalen Varianten darzustellen (Feudalismus, die Stadt im Mittelalter, das Zeitalter der Glaubenskriege, der Imperialismus usw.). Wir haben uns bemüht, europäische Leitmotive in verschiedenen Epochen zu umreißen (Pax Romana, Kreuzzugsgedanke, Nationalbewegung im 19. Jahrhundert usw.). Wir haben Wert darauf gelegt, eine Vergangenheit zu kennzeichnen, in der neben allen Antagonismen immer auch eine europäische Einheit auf intellektueller und künstlerischer Ebene bestand. Dabei ging es uns zugleich darum, europazentrische Geschichtsbilder zu korrigieren. Unser Anliegen war es, Europa auch als Ergebnis eines permanenten Austausches mit außereuropäischen Kulturkreisen zu beschreiben. Neben der allgemeinen Umorientierung mit Blick auf Europa wurden verschiedene Themen völlig neu gewichtet. Das Byzantinische Reich erhielt als Scharnier zwischen Ost und West ein eigenes Kapitel. Der europäische Norden im frühen Mittelalter wurde in die Darstellung einbezogen. Der Beitrag Portugals und Spaniens zur Grundlegung einer sich herausbildenden Weltzivilisation nimmt einen gebührenden Platz ein. Soweit es der begrenzte Raum zuließ, sollten auch die kleineren Nationen sich in allen Epochen wiederfinden. Eine Bilanz unserer Arbeit aus heutiger Sicht muß zweierlei in Rechnung stellen. Einerseits wird unser Buch europaweit und darüber hinaus gekauft und hof-

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fentlich auch kritisch gelesen. Andererseits hat es bisher keinen erkennbaren Impuls zur Fortsetzung dieses Anfangs gegeben. In der Geschichtsdidaktik wird Europa wohl diskutiert, analysiert und problematisiert, aber es wird kaum etwas produziert, das über die jeweiligen nationalen Grenzen hinweg Unterrichtsrelevanz haben könnte. Vorstellbar wäre m.E. beispielsweise ein Handbuch für alle europäischen Schüler, kombiniert mit einem Zusatzband für das jeweilige Land, in dem Materialien, Leitfragen und Arbeitsaufgaben zusammengestellt sind. Ein solches zugegeben sehr ambitiöses - Unternehmen hätte gegenüber unserem Europäischen Geschichtsbuch den großen Vorteil, nicht nur zu präsentieren, sondern auch zu problematisieren und das Thema näher an den konkreten Unterricht heranzuführen. Insgesamt kann ich heute also frei nach Tucholsky feststellen, wir haben mit unserem Buch zwar Erfolg, aber noch nicht die gewünschte Wirkung erzielt. Ob unser Geschichtsbuch zur Europäisierung des Geschichtsbewußtseins beiträgt, bleibt abzuwarten. Ich würde eine solche Entwicklung jedoch mit einer großen Skepsis betrachten, wenn sie auf eine Monopolisierung der Vorstellungen und Deutungen von Vergangenheit durch die europäische Perspektive hinausliefe. Die Einstellungen der Europäer ausschließlich auf Europa ausrichten zu wollen hieße, ihnen wesentliche Bereiche ihrer Identität zu nehmen. Selbstverständlich sollen lokales, regionales, nationales und Weltbürger-Bewußtsein nicht abgewürgt werden. Vorstellungen von Europa bleiben steril und abstrakt, wenn sie nicht in jenen anderen Bezügen verankert werden. Ebensowenig läßt sich eine europäische Geschichte abgehoben von seinen Nationen und Regionen schreiben. Die Europäisierung des Geschichtsbewußtseins ist also keine feste Größe, die nur auf Kosten anderer erreicht werden kann. Entscheidend ist vielmehr die Bewußtmachung der Dialektik verschiedener Ebenen historischen Bewußtseins. Dazu wollten wir einen Beitrag leisten. Unser Abenteuer war also insofern kein unkalkulierbarer Vorstoß zu neuen geschichtsdidaktischen Ufern, sondern der erste Anlauf zu einer längst fälligen Verständigung darüber, was europäische Geschichte im Unterricht ausmachen sollte.

Ein Unternehmen schickt seine Jugend nach Europa Die Harnburgischen Electricitäts-Werke und die Europäische Akademie Otzenhausen Von Thorwald Schleesselmann Seit jetzt mehr als dreißig Jahren gehört ftir die Auszubildenden der Harnburgischen Electricitäts-Werk AG (HEW) ein zehntätiger Aufenthalt an der Europäischen Akademie Otzenhausen zum festen Bestandteil ihrer Berufsausbildung. Im Verlauf dieser drei Jahrzehnte hat das Unternehmen rund 2400 jungen Menschen die Chance gegeben, gemeinsame mit Gleichaltrigen aus Frankreich, Großbritannien, Italien und seit nunmehr zehn Jahren auch aus Rußland das Zusammenwachsen Europas und dessen Notwendigkeit im wahrsten Sinne des Wortes zu erleben. Wenn man zugrunde legt, daß etwa die Hälfte aller HEW-Teilnehmer an diesen Seminaren nach ihrer Berufs- bzw. nach Beendigung ihrer Weiterbildung als Facharbeiter, kaufmännische Angestellte, Meister und Ingenieure ein festes Arbeitsverhältnis bei uns im Unternehmen gefunden hat, so bedeutet dies, daß nahezu jeder vierte der bei uns Beschäftigten durch seine Teilnahme an den Otzenhausen-Seminaren ein ganz persönliches Verhältnis zu unseren europäischen Nachbarn entwikkeln konnte. Und damit einhergehend zugleich auch ein Mehr an Verständnis und Toleranz gegenüber anderen Mentalitäten und anderen Wertvorstellungen. Warum bekennt sich ein Unternehmen, dessen originäre Aufgabe es ist, eine Region mit Strom und Fernwärme zu versorgen, zu so einer kostenträchtigen Maßnahme, zumal es sich schon die Pflicht auferlegt hat, weit über den eigenen Nachwuchsbedarf hinaus auszubilden? Um auf diese Frage eine Antwort zu finden, muß man in der Unternehmenschronik fünf Jahrzehnte zurückblättern: Die damals für die Berufsausbildung Verantwortlichen gehörten zu jener Generation, die durch das Leid und die Entbehrungen des Krieges geprägt war und geleitet wurde von dem Gedanken, den Heranwachsenden das zu bieten, was ihnen in der Not der Nachkriegszeit bislang nicht vergönnt gewesen war. Mit Erlebnis- und Besichtigungsreisen begann es in den frühen fünfziger Jahren. Ein - gemessen an den damaligen Verhältnissen -sowohl für die Jugendlichen als auch deren Eltern nahezu unvorstellbarer Luxus. Ich selbst gehörte zu jenen Glücklichen, die während dieser Reisen bei einem Tagesausflug in die Schweiz zum er-

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sten Mal in ihrem Leben unzerstörte Städte sahen. Eine Erinnerung, die bis heute wach geblieben ist. Bereits zehn Jahre später begann die Erkenntnis zu reifen, daß weder eine gute und fundierte Fachausbildung noch dieser bescheidene Blick über die Grenzen der eigenen Stadt und des eigenen Unternehmens hinaus auf Dauer ausreichen würde, um den Anforderungen der Zukunft gerecht zu werden. Man suchte nach neuen, in die Zukunft gerichteten Wegen und meinte, sie in der Europäischen Akademie Otzenhausen gefunden zu haben. Hier- argumentierte man gegenüber den Skeptikern vor allem auf der von Mißtrauen geleiteten Seite der Arbeitnehmer-Vertreter - könne der heranwachsenden Generation das im Werden begriffene Europa im Zusammenleben mit den Vertretern anderer Nationen am ehesten näher gebracht, sie am besten von dess·en Notwendigkeit und zugleich Chance für seine Menschen überzeugt werden. Denn konnte es einen besseren, mehr Erfolg versprechenden Weg geben, als die Zusammenführung derer, die einst in diesem neu zu schaffenden Haus Europa würden künftig gemeinsam leben müssen? Und das, wie Michail Gorbatschow es viele Jahre später einmal so treffend formulierte, als "gute, friedliebende und hilfsbereite Nachbarn"? Das war der Grundgedanke, zu dessen überzeugtesten Verfechtern heute auch die Arbeitnehmer-Vertretung gehört, mit dem die HEW ihre ersten Lehrlinge (so bezeichnete man jene Spezies damals noch) ins ferne Saarland schickte. Inzwischen sind - wie eingangs bereits erwähnt - rund 2400 daraus geworden. Und wohl keiner unter ihnen, der nicht anders zurück gekommen ist, als er am Tage der Hinfahrt war. Sowohl das Erlebnis, mit Gleichaltrigen aus anderen Ländern gemeinsam zu diskutieren und zu arbeiten als auch die bei den meisten gereifte Erkenntnis, daß es zur Integration dieses Europa keine Alternative geben kann und sie aufgerufen sind, an ihrer eigenen Zukunft mitzuwirken, hat zumindest einen Prozeß des Nachdenkens ausgelöst. Kritiker der Otzenhausen-Seminare - auch im eigenen Unternehmen gab und gibt es sie immer noch - mäkeln, diese seien doch nur ein verkappter, zusätzlicher Urlaub für unsere ohnehin schon über Gebühr verhätschelten Azubis. Und wenn es wirklich einen wie auch immer gearteten Erfolg gäbe, dann sei dieser doch bestenfalls der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein. Um nur auf die letzte der beiden Unterstellungen einzugehen: Sicherlich ist sie vor dem Hintergrund der bedauerlichen Tatsache, daß nur eine Minderheit von Unternehmen und Institutionen bereit ist, den Heranwachsenden eine ihnen gemäße europäische Perspektive aufzuzeigen, nicht ganz von der Hand zu weisen. Diesem sicher beklagenswerten Umstand aber steht ein Wort von Willy Brandt gegenüber, der einmal gesagt hat: "Es ist viel wichtiger, etwas im Kleinen zu tun, als im Großen darüber zu reden". Denn Schwätzer und Ideologen, die in jahrelangen, nutzlosen Diskussionen und utopischen Forderungen vorgeben, die Welt verbessern zu wollen, haben wir wahrlich genug. Weiterbringen aber können uns nur Taten. Auch die scheinbar kleinen!

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Aber bewirken sie auch etwas? Oder sind es doch nur Träume von wirklichkeitsfremden, liebenswerten Spinnern und Visionären? Auch wenn ich den schlüssigen Beweis für den Erfolg unserer Seminare in Otzenhausen letztlich nicht erbringen kann und mir möglicherweise selbst etwas vormache, möchte ich dennoch ein Beispiel bringen, von dem ich meine, daß es sich zumindest lohnt, einmal darüber nachzudenken: Die katastrophale Versorgungslage in der Sowjetunion im Winter 1990/91 beriihrte die Menschen in weiten Teilen Westeuropas, vor allem aber in der Bundesrepublik Deutschland. Die Bereitschaft zu helfen war so groß wie wohl nie zuvor. Auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der HEW. Die Frage, die sich die meisten jedoch stellten, war, wie können wir zum einen am effektivsten helfen, und zum anderen, wie können wir sicherstellen, daß unsere Spenden auch die ,,richtigen" Empfänger erreichen? In einer ,,konzertierten" Aktion nahmen Vorstand und Betriebsrat darum Kontakt zu Hamburgs Partnerstadt Leningrad und dem dortigen Versorgungsunternehmen Lenenergo auf. Die angebotene Hilfe - das Wort Geschenke hörte man damals lieber - wurde, obgleich vom "Klassenfeind" kommend, erwartungsgemäß als hochwillkommen akzeptiert. Daraufhin baten wir unsere Belegschaft einschließlich der Pensionäre um Geld- und Sachspenden. Dies mit der gleichzeitigen Zusage, die vor Ort dringend benötigten Grundnahrungsmittel unter Ausnutzung von Firmenrabatten selbst einzukaufen, von unseren Azubis verpacken zu lassen und mit firmeneigenen Fahrzeugen in die Stadt an der Newa zu bringen. Vier Wochen nach dem Spendenaufruf machte sich ein Konvoi von zehn LKW auf den Weg. Um es vorweg zu nehmen: Die Folgen dieser ersten "humanitären Hilfe", wie die Lenenergo-Mitarbeiter- im Gegensatz zu damals- heute unisono diese Aktion bezeichnen, gingen weit über das erhoffte Maß hinaus. Nicht nur, daß inzwischen eine herzliche Freundschaft zwischen beiden Unternehmen entstanden ist, sondern darüber hinaus war diese erste von insgesamt zehn Aktionen dieser Art der Schlüssel dazu, den Berufsnachwuchs beider Unternehmen im Wechsel in Otzenhausen und St. Petersburg zu gemeinsamen Seminaren zusammenzuführen. Die Höhe des Spendenaufkommens soll hier bewußt nicht genannt, aber dennoch so viel gesagt werden: Es war das höchste, das unseres Wissens von einer Belegschaft in der Bundesrepublik aufgebracht wurde. Die Frage, die sich jetzt stellt: War das wirklich nur Zufall? An den kann ich nicht glauben. Hier müssen andere Grunde, als nur die Tatsache, daß unsere Mitarbeiter für Kollegen eines artverwandten Unternehmens gespendet haben und sicher sein konnten, daß ihre Gaben nicht in irgendwelchen Kanälen versickern würden, eine entscheidende Rolle gespielt haben. Hier schließt sich für mich der Kreis. Denn wenn man bedenkt, daß etwa jeder vierte unserer Mitarbeiter in Otzenhausen in engen, durchaus freundschaftlichen Kontakt zu Vertretern anderer Nationen gekommen ist, diese als liebenswerte Menschen kennen- und schätzen gelernt und 5 FS Krause

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darüber hinaus erkannt hat, wie gut es uns vergleichsweise in Deutschland geht, von diesen Erfahrungen auch noch im Betrieb berichtet hat - und das tun unsere Otzenhausen-Aspiranten in epischer Breite! -dann ist dies für mich die schlüssigste Erklärung für diese anders kaum nachvollziehbare Hilfsbereitschaft einer sich im Alltag "ganz normal" verhaltenden Belegschaft. Denn wie nachhaltig dieses ,,Erlebnis Otzenhausen" auf unseren Nachwuchs wirkt, das merken wir nicht nur bei den Lehrabschlußfeiern, wenn auf die Frage, was denn die Höhepunkte der Ausbildungszeit gewesen seien, die nahezu stereotype Antwort lautet: ,,Die Tage an der EAO". Nein, auch viele Jahre später, wenn ich den einen oder anderen der ehemaligen Seminarteilnehmer - oftmals dann schon gestandene Familienväter oder -mütter - in einer unserer Betriebsstätten wiedergetroffen habe, drehte sich jedes Gespräch ganz schnell um eben diesen Höhepunkt. Um nachvollziehen zu können, warum das so ist, muß man es selbst erlebt haben, wie unbekümmert und frei von jeglichen Vorurteilen die jungen Menschen von diesseits und jenseits unserer Grenzen heute aufeinander zugehen (das war vor dreißig Jahren noch nicht so!), wie aufmerksam sie bemüht sind, den anderen trotz aller Sprachbarrieren - zu verstehen, denn die ,,Englisch-Brücke" trägt nicht in jedem Fall, und wie ernsthaft sie einerseits miteinander arbeiten und wie ausgelassenfröhlich sie andererseits gemeinsam zu feiern verstehen. Man muß es erlebt haben, wie plötzlich Interesse für Dinge wachgerufen wird, die gestern noch auf der Hab-ich-nichts-mit-am-Hut-Liste standen. So, um nur dieses eine Beispiel von vielen möglichen zu nennen, wenn, wie in der Vergangenheit häufig geschehen, aufmerksame Beobachter unter unseren Hamburger Teilnehmern eine unsichtbare Mauer im Verhältnis der französischen zur britischen Gruppe zu erkennen meinen, die sie sich nicht erklären können und ihre Begleiter nach deren möglichen Ursachen fragen. Dann dreht es sich bei den abendlichen Gesprächen in der Kellerklause - meist in relativ kleinem Kreis - eben nicht mehr nur um die jüngere Geschichte dieser beiden Nationen, auf die die unsichtbare Mauer zurückzuführen ist (der "Verrat" von DUnkirchen läßt grüßen), sondern generell um jene Ereignisse, die das Bild des heutigen Europa so nachhaltig geprägt haben. Darüber erstaunt zu sein, mit welchem Minimalwissen um die Ereignisse der letzten siebzig, achtzig Jahre die allgemeinbildenden Schulen, die Gymnasien eingeschlossen, die Jugendlichen entlassen, habe ich mir bereits vor langer Zeit abgewöhnt. Umso mehr freut es mich darum immer, wenn durch das Miteinander der verschiedenen Nationen, durch die geführten Diskussionen oder einfache Beobachtung initiiert, plötzlich Interesse an den Geschehnissen unserer jüngeren Vergangenheit erkennbar wird. Dann heißt es, die einmalige Chance zu nutzen. Dabei habe ich es oft erlebt, wenn ich zu später Nachtstunde das Gespräch beenden wollte - im Gegensatz zu den jungen Springern benötigen die gesetzteren mit den grauen Schläfen ein gewisses Mindestmaß an Schlafeinheiten -, daß ich gleich für den

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nächsten Abend zu dessen Fortsetzung "verpflichtet" wurde und erst nach entsprechender Zusage zum ,,Matratzen-Horchdienst" entlassen wurde. Von geschichtsbedingten Vorbehalten oder gar Ressentiments ist hingegen im Verhältnis der jungen Russen zu ihren deutschen Freunden - bezeichnenderweise verwenden sie den Begriff Freunde nur im Zusammenhang mit den Deutschen nicht das Geringste zu spüren. Im Gegenteil: Die von den Russen mitgebrachte und den Deutschen erwiderte Herzlichkeit gehört für mich zu den anrührendsten Dingen, die ich je in Otzenhausen erlebt habe. Wobei die jungen St. Petersburger offenbar diesselben Philosophien vertreten, wie wir sie von ihren Eltern schon so oft gehört haben. Die eine lautet sinngemäß: ,,Nicht die Deutschen haben die UdSSR überfallen, unsere Heimatstadt 900 Tage belagert und allein dort fast eine Million Menschen auf dem Gewissen, sondern die Fachisten". Und die andere: "Unsere beiden Vdlker teilten einst das gleiche Schicksal. Mit Stalin und Hitler litten sie gleichzeitig unter den größten Verbrechern, die es je gegeben hat". Diese Betrachtungsweise ist mit Sicherheit viel zu vereinfachend, um von der furchtbaren Geschichte kommentarlos zur Gegenwart überzugehen, aber sie schafft ein Verhältnis zwischen den jungen Menschen dieser beiden Nationen, das zu großen Hoffnungen Anlaß gibt. Und dies, obgleich es gerade zwischen diesen beiden Gruppen im persönlichen Gespräch - während des "offiziellen" Seminars stehen ja Dolmetscher zur Verfügung - die größten Sprachprobleme gibt. Dennoch haben wir es erlebt, daß sich beide Gruppen schon drei Stunden nach ihrer Ankunft ohne jede vorhergehende Absprache auf der Terrasse trafen und gemeinsam das taten, was man von unseren am Hard-Rock und Disco-Sound orientierten Jugendlichen am allerwenigsten erwartet: Sie sangen Volkslieder - von Kalinka bis zum Hamburger Veermaster. Die britische Gruppe war angesichts von so viel Spontaneität geschlossen in die nächstgelegene Kneipe ausgewandert. Aber - und auch das spricht für die ausgeprägte Toleranz der heutigen Jugendlichen - keiner der binationalen Volkssänger hat es ihr übel genommen. Oder ein anderes Beispiel deutsch-russischen Verstehens: Für den St. Petersburger Abend - jede Nation gestaltet einen Abend nach eigenem Programm einschließlich des von den betreffenden Gastgebern erdachten und eigenhändig servierten Menüs - gingen die Vladimirs, Serges und Nataschas am Abend zuvor daran, einige hundert Pelmenis (gefüllte Teigtaschen) zu produzieren. Eine Handfertigkeit voraussetzende, überaus Zeit und vor allem Freizeit! raubende Geschicklichkeitsübung. Der Abend schien für die jungen Russen gelaufen. Zu ihrer großen Überraschung aber wurden sie bei ihrem "Frondienst" nicht allein gelassen, sondern derart tatkräftig von ihren deutschen Freunden unterstützt, daß die Küche wegen Überdrangs hilfsbereiter Geister alsbald geschlossen werden mußte. Eigentlich schade, denn es war ein zwar ungeplantes, dafür aber ein überaus gelungenes, Vdlker verbindendes Happening.

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Umso rührender ist es jedes Mal, wenn es heißt, Abschied zu nehmen. Die Taschentücher reichen dann in der Regel nicht, um die Tränenströme zu trocknen. Nicht nur bei den Mädchen oder Pärchen, die sich gefunden haben, nein, auch unsere sich oft so cool gebenden Macho-Typen haben dann mehr als feuchte Augen. Und es ist ihnen nicht einmal peinlich. "Unsere Herzen", zog vor einigen Jahren einmal ein junger Franzose das Resümee des Aufenthaltes in Otzenhausen, "haben die gleiche Frequenz".Gibt es eine schönere Brücke auf dem Wege in ein europäisches Haus, in dem alle Menschen als gute, friedliebende und hilfsbereite Nachbarn miteinander leben, als diese während eines Aufenthaltes an der Europäischen Akademie gewonnene Erkenntnis?

FIME: Leitbild Europa Politischer Bildungsauftrag als fortwährender Bestandteil europäischer Integration Von Christophe Langenbrink Wer das Danton-Denkmal an der Place de !'Odeon in Paris besucht, wird die Inschrift entdecken: "Apres Ia paix le premier besoin [de l'homme] c'est I'education." Dieser Satz galt für die Zeit der Französischen Revolution, ist aber für das Europa des 20. Jahrhunderts immer noch aktuell. Nach den leidvollen Erfahrungen des Ersten und Zweiten Weltkrieges, der Teilung Deutschlands und des beginnenden Ost-West-Konflikts einte viele Menschen der Wunsch nach einem neuen Selbstverständnis, nach einem freiheitlichen, rechtsstaatliehen und demokratisch verfaßten Europa. Bildung und Erziehung spielen flir den dauerhaften Erfolg dieser Bemühungen eine ausschlaggebende Rolle. Seit fast vierzig Jahren versucht die Internationale Föderation der Europa-Häuser (fortan FIME), europapolitische Bildung als Orientierung umzusetzen.

I. Ziele und Entwicklung der FIME Nach dem Raager Kongreß von 1948, der zur Gründung des Europarates führte, zeichnete sich in der praktischen Politik rasch ab, daß die Vorstellungen, Erwartungen und Zielvorgaben hinsichtlich einer konkreten Umsetzung der europäischen Einigung vielfaltiger Natur waren. Mit der Diskussion um die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) wurde offensichtlich, daß der komplexe Prozeß der europäischen Einigung durch ein breit angelegtes Informations- und Bildungsprogramm für die Bürger in Europa mitgestaltet und mitgetragen werden muß. In der ersten vorbereitenden Phase fanden eigenständige bildungspolitische Aktivitäten der Gemeinschaft nur in einem sehr begrenzten Umfang statt. Zwar hatte Jean Monnet bereits 1960 weitsichtig in einem Schreiben an Konrad Adenauer vorgeschlagen, neben regelmäßigen Treffen der Regierungschefs auch Begegnungen der Außen-, der Verteidigungs- und der Erziehungsminister vorzusehen. Doch gaben diese Treffen keine konkreten Impulse. Zu groß waren die Unterschiede, um eine gemeinsame europäische Bildungspolitik zu formulieren. Vorausschauende Europäer hatten sich an der erfolgreichen Idee der von den USA gegründeten Amerika-Häuser orientiert, so daß 1951 ein erstes Europa-Haus

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in Bad Marienberg im Westerwald seine Arbeit aufnehmen konnte. Rasch folgten weitere Gründungen in Douai, Lilie und Otzenhausen. Anfang der 60er Jahre waren bereits 15 Europa-Häuser in Österreich, Frankreich, Dänemark, Großbritannien und Deutschland aktiv. Als Zusammenschluß dieser Einrichtungen wurde 1962 unter der Schirmherrschaft des Europarates in Straßburg die FIME (Federation Internationale des Maisons de I'Europe), als internationaler Dachverband, gegründet. Ein Jahr später sprach das Gremium der Beratenden Versammlung des Europarates der FIME einstimmig den Konsultativstatus der Kategorie I zu. Das Statut der FIME erwähnt ausdrücklich, daß die Europa-Häuser Partner des Europarates und der Europäischen Union auf dem Gebiet der europäischen Information und Bildung sind. Die Annäherung der pädagogischen Kulturen erwies sich als ein·Thema, das in den bildungseuphorischen 60er Jahren auch im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft (fortan EG) im Vordergrund stand.' Das Treffen der Staats- und Regierungschefs im Dezember 1969 in Den Haag, das die seit 1963 bestehende und zwischen 1963 und 1966 von Frankreich durch seine Politik des .,leeren Stuhls" verschärfte Krise der EG endgültig beendete, gab neben der Einleitung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit und der Öffnung der Gemeinschaft für neue Beitrittskandidaten auch entscheidende Anstöße für Bildung und Kultur. Der Appell an die Jugend als die Zukunft Europas, der durch die Schlußerklärung der Pariser Konferenz im Oktober 1972 weiter verstärkt wurde, war seit der Gründung der FIME wesentlicher Bestandteil ihrer Arbeit. Die Forderung nach einem aktiven Beitrag der politischen Bildung zur Entwicklung eines europäischen Bewußtseins wurde zunehmend stärker gewichtet. Seit 1970 ist die FIME Mitglied der Europäischen Bewegung. Mit Hilfe des Europäischen Parlaments, hier ist ganz besonders das Engagement der Buropaabgeordneten Doris Pack und Detlef Samland zu erwähnen, verfügt die FIME über einen eigenen Haushaltstitel, der die kontinuierliche Weiterentwicklung der europäischen politischen Jugend- und Erwachsenenbildung gewährleistet. Mit derzeit nahezu 120 Mitgliedseinrichtungen in über 25 Nationen ist die FIME das größte Netzwerk außerschulischer Bildungsträger in Europa, und ein weiterer Anstieg der Mitgliederzahl ist absehbar. Gemeinsam ist allen Europa-Häusern die überkonfessionell und überparteipolitisch ausgerichtete europäische politische Bildungsarbeit Diese hat das Ziel, die Menschen für den europäischen Gedanken zu sensibilisieren, das Bewußtsein einer gemeinsamen europäischen Identität zu stärken, interkulturelle Begegnungen und grenzüberschreitenden Dialog zu fördern sowie gemeinsame Inhalte und Methoden der Weiterbildung mit transnationalem europäischem Bezug zu entwickeln. I V gl. Hermann Müller-Solger I Armin Czyszl Petra Leonhardl Ulrich Pfaff: Bildung und Europa. Die EG-Fördennaßnahmen, Bonn 1993, S. 15 f .

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Durch ihre Mitgliedseinrichtungen, die Europa-Häuser und Europäischen Akademien, versucht die FIME zu sensibilisieren, zu informieren und zu bilden, indem sie als Vermittler von Informationen und Sachverhalten über Europa agiert mit dem Ziel, den Sinn der Schaffung eines geeinten Europas herauszustreichen, die Komplexität dieses Prozesses transparenter zu machen, die Chancen und Risiken zu erklären und somit zur Bildung einer europäischen Staatsbürgerschaft beizutragen. Aus diesem Grunde strebt sie danach, die Distanz zwischen den konkreten Problemen der Bürger und den Fragen, die auf der Ebene der Europäischen Union (fortan EU) debattiert werden, zu verringern, die regionalen und nationalen Identitäten mit der europäischen Identität zu verknüpfen und die Bürger die Kohärenz und die Komplementarität der europäischen, nationalen, regionalen und lokalen Entscheidungsebenen erkennen zu lassen. Für die FIME und ihre Mitgliedseinrichtungen ist der europäische Gedanke ein gleichermaßen wirtschaftliches, soziales, politisches und kulturelles Projekt. Die Europa-Häuser und die Europäischen Akademien behandeln die Grundwerte der Schaffung Europas - Frieden, Demokratie, Menschenrechte, Gesellschaftsmodell - und stellen Überlegungen bezüglich der Gemeinsamkeiten an, die der Europäischen Union ein Gesicht verleihen: politischer Pluralismus, Demokratie, Frieden, soziale Solidarität, Reichtum an Menschen und an Talenten, Reichtum des gemeinsamen kulturellen Erbes, Rolle Europas im globalen Gleichgewicht. Die Veranstaltungsthemen betreffen dabei nicht nur die europäische Einigung oder die aktuelle Europapolitik, sondern auch unter globalem Gesichtspunkt Menschenrechtsfragen oder Probleme der "Dritten Welt". Pro Jahr erreichen die FIME-Häuser mit ihren Aktionen in ganz Europa über 200.000 Teilnehmer. Zudem verstehen sie sich in ihrer Region als Anlaufstelle für europapolitisch interessierte Bürger und stellen zum Teil Publikationen und Informationsmaterial zu europäischen Themen zur Verfügung.

ß. Arbeitsweise der FIME Seit 1974 treffen sich in einem Europa-Haus der ersten Stunde, in der Europäischen Akademie Otzenhausen, zweimal jährlich die Delegierten der FIME-Mitgliedseinrichtungen zu den .Programmkonferenzen, um neue gemeinsame Programme und Methoden der internationalen Informations- und Bildungsarbeit zu entwickeln und zu diskutieren. Die Organisation und Durchführung der Konferenzen obliegt dem Generalsekretariat der FIME. Da jede Konferenz unter einem aktuellen Thema steht, kann unmittelbar auf Veränderungen im sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Bereich reagiert werden. Die Organe der FIME sind die Generalversammlung, der Föderationsrat, das Präsidium, die Generalsekretärin, die Programmkonferenz, die Hauptnetzwerke und das Ehrenkomitee. An der Spitze der Organisation steht der Präsident. Die Geschäfte der Föderation werden vom Generalsekretariat geführt. Nachdem sich die-

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ses zunächst ftir ein Jahrzehnt in Wien befand, hat es seit 1972 seinen festen Sitz in Saarbrücken und wird von der Europäischen Akademie Otzenhausen getragen, einem Europa-Haus, das mit seiner Umsetzung des europapolitischen Bildungsauftrags beispielhaft für den dynamischen Verlauf, den die Europäische Einigung bis heute genommen hat, steht. Das Generalsekretariat in Saarbrücken fungiert als Relaisstelle zwischen der Europäischen Kommission und seinen Mitgliedseinrichtungen. Seit ihrer Gründung befindet sich die FIME in einem kontinuierlichen Wandlungs- und Anpassungsprozeß. Neben der Konzentration auf den zielgruppenorientierten Ansatz, wie Jugendbildung, europäische Erwachsenenbildung bzw. berufsorientierte Bildung, ist und bleibt Hauptaufgabenfeld der FIME die Förderung der grenzüberschreitenden Kooperation. Um diese internationale Zusammenarbeit effizienter zu gestalten, verständigten sich die FIME-Mitgliedseinrichtungen 1997 auf eine Reform, die anläßlich des FIME-Kongresses im Oktober 1998 verabschiedet wurde. Ziel war eine grundlegende Umstrukturierung in drei Hauptnetzwerke, die sich jeweils auf einen der Arbeitsbereiche Animation, Information und Bildung konzentrieren. Neben den modernen Instrumentarien der Bedarfsanalysen und ständiger Qualitätskontrollen wird auch den neuen Medien stärkere Bedeutung zugemessen. Die schnelle und problemlose Kommunikation der Europa-Häuser über das Internet und ein nur den FIME-Häusern zugängliches Intranet läßt die FIME-Mitgliedseinrichtungen von Schweden bis Malta, von Portugal bis Rußland enger zusammenrücken. Neben dem internationalen Dachverband existieren in manchen Ländern auch nationale Föderationen. Älter als die FIME selbst sind die Österreichische Föderation der Europa-Häuser (ÖFEH) sowie die seit 1961 existierende Federation Fran~aise des Maisons de l'Europe (FFME). Fast alle deutschen Bildungseinrichtungen haben sich in der Gesellschaft der Europäischen Akademien (GEA) zusammengeschlossen, während die italienischen Häuser die Federazione ltaliana delle Case d'Europa (FICE) gründeten.

111. Die FIME-Konferenzen Die erste und damit als historisch zu bezeichnende Generalversammlung der FIME fand 1962 statt. Die dort gefaSten Beschlüsse bilden bis heute die Grundlage für die Zusammenarbeit der Europa-Häuser. Die Konferenzen werden nach dem Vorbild von Fachkongressen organisiert, so daß jeder Delegierte gemäß seiner Interessen die Sitzungen auswählt, an denen er teilnehmen möchte Das Problem der Sprachenvielfalt - die Teilnehmer kommen aus über 25 Ländern - löste die FIME dadurch, daß sich ihre Mitglieder auf vier Konferenzsprachen einigten (Französisch, Italienisch, Englisch und Deutsch). Erstmals fand 1974 eine FIME-Programmkonferenz in der Europäischen Akademie Otzenhausen statt. Seither ist Otzenhausen alljährlich, jeweils im Frühjahr und

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im Herbst, internationaler Konferenz-, Versammlungs- und Begegnungsort der FIME und somit für das internationale Bildungsnetz und die grenzüberschreitende Programmarbeit der FIME von zentraler Bedeutung. IV. Bedeutung als NGO beim politischen WiUensbildungsprozeß Als eine Nicht-Regierungsorganisation (fortan NGO) entstand die FIME als Reaktion auf fehlenden Gestaltungswillen und mangelnde Kompetenz staatlicher Institutionen. Effizienter und weniger bürokratisch als staatliche Behörden, kann sie flexibel reagieren, wo Regierungen ein Vakuum zulassen. Wo der Staat die Interessen seiner Bürger nicht voll abdecken kann, springt die Selbstorganisation ein. NGOs spielen im Prozeß der öffentlichen Meinungsbildung eine wichtige Rolle und tragen dazu bei, daß neue Lösungen breit diskutiert und politisch tragfähig werden. Oft ist der Staat mit seinen Organen dazu nicht in der Lage. Die Herausforderungen durch die europäische Integration waren und sind immer noch immens und brachten Umwälzungen mit sich, deren Dimension an die der "Sozialen Frage" im vergangenen Jahrhundert heranreicht. Menschen haben lernen müssen, mit einer nie gekannten Vielfalt zu leben und offen mit Andersartigkeit umzugehen. In einer immer Undurchschaubareren Welt werden Menschen auf der Suche nach dem Lebenssinn überfordert, weil traditionelle Formen der Sinnstiftung an Überzeugungskraft verlieren: Parteien, Religionsgemeinschaften, Gewerkschaften und Verbände. V. Der europäische Handlungsauftrag politischer Bildung Gesamteuropa, Ost und West, befindet sich in einem Umbruch, der einmalig in der europäischen Geschichte ist und dessen tiefgreifende und sich mit atemberaubender Schnelligkeit vollziehenden Veränderungen und Auswirkungen wohl erst von späteren Generationen vollständig erfaßt und begriffen werden können. Die westeuropäischen Staaten schicken sich an, die ökonomische Einheit mit der Einführung des Euro zur verwirklichen. Die Staaten Mittel- und Osteuropas befinden sich dagegen seit dem Fall des Eisernen Vorhangs in einem Prozeß des ökonomischen und politischen Transformationsprozesses, der kaum dramatischer ablaufen könnte. Anstelle der jahrzehntelangen Teilung des europäischen Kontinents mit seinen Schreckensbildern der atomaren Vernichtung ist eine gesamteuropäische Verständigung getreten, die auch die Chance einer Überwindung der Folgen des Zweiten Weltkrieges impliziert.

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VI. Komplexität Europa: Dringlichkeit der Bildung Die Kenntnisse der EU-Bürger über und ihr Engagement für Europa sind nach Auffassung vieler europäisch orientierter Politiker längst noch nicht ausreichend. Sie weisen gerne darauf hin, daß man zum Aufbau Europas vor allem die Jugend gewinnen müsse: die erste Garantie dafür, daß das gefahrliehe nationalistische Denken der Vergangenheit überwunden werden könne und daß langfristig in den Herzen der Menschen dieses Kontinentes ein Zusammengehörigkeitsgefühl, ein "europäisches Bewußtsein", entstehe. Um dieses europäische Bewußtsein der EUBürger zu stärken, organisiert die FIME jährlich besondere Jugendseminare. Somit leistet sie interkulturelle und transnationale Annäherungs- und Verständigungsarbeit Die FIME versucht, das Bewußtsein der jungen Menschen für die europäische Identität zu stärken und ihnen die Werte der europäischen Kultur und der gemeinsamen Wurzeln, auf welche die Völker Europas ihre Entwicklung heute stützen wollen, nämlich die Wahrung der Grundsätze der Demokratie, der sozialen Gerechtigkeit und der Achtung der Menschenrechte, zu verdeutlichen. Doch reicht es nicht, allein die Jugend aufzuklären. Europa ist für viele Menschen immer noch ein Buch mit sieben Siegeln. Gerade der europäische Einigungsprozeß birgt viele Fragen in sich. Musterbeispiel hierfür ist die Entscheidungsebene europäischer Organe. Obgleich Europa immer häufiger das tägliche Leben bestimmt, fcillt es den Bürgern in Europa nicht leicht, die offizielle Europapolitik zu durchschauen. Wichtige Ursache hierfür ist, daß die Europa-Thematik sowohl von den Begrifflichkeilen als auch von den zugrundeliegenden Sachverhalten her sehr komplex ist. Selbst Politiker verwechseln Begriffe wie z. B. "Europäischer Rat" und "Europarat". Zudem werden Handlungsspielräume europäischer Institutionen falsch eingeschätzt. Auch die Politik auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene kann heute ohne den Bezug zu europäischen Zusammenhängen nicht mehr verstanden werden, denn viele der dort zu behandelnden Probleme, wie der Schutz der Umwelt, die Schaffung und der Erhalt von Arbeitsplätzen, Friedenssicherung oder das wirtschaftliche Wohlergehen, haben eine grenzüberschreitende Dimension. Ein vereintes Europa bietet zur Aufarbeitung derartiger Fragestellungen Lösungsansätze, die auf anderen Ebenen nicht vorhanden sind. Selbst dort, wo ein Staat heute noch eigenständige Beschlüsse fassen zu können glaubt, sind diese häufig von europäischen Vorgaben abhängig oder müssen in Absprache mit den europäischen Nachbarn getroffen werden.

Vß. Vorbild europäische Grenzregionen Wohl nirgendwo sonst hat der europäische Einigungsprozeß das friedvolle Zusammenleben der Bevölkerung unterschiedlicher Länder so nachhaltig gefördert und den grenzüberschreitenden Austausch von Personen, Gütern und Gedanken so

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intensiviert wie in den europäischen Grenzregionen. Jahrhundertelang waren innereuropäische Staatsgrenzen Gegenstand und Ort zwischenstaatlicher Auseinandersetzungen und die Grenzgebiete waren als Schauplätze kriegerischer Konflikte hiervon oftmals unmittelbar betroffen. Der Sitz des FIME-Generalsekretariates in Saarbrücken an der deutschfranzösischen Grenze steht symbolisch für das Fortschreiten der europäischen Integration. Denn es war diese Grenze, die sogenannte ,,Erbfeinde" trennte, deren Feindschaft unweit im Iothringischen Verdun ihren blutigen Höhepunkt erlebte. Gerade heutzutage sind die europäischen Grenzregionen die Orte, in denen das Zusammenwachsen Europas in vielerlei Hinsicht am intensivsten zu spüren ist und erprobt werden kann. Im Zuge der stärkeren Gewichtung der Großregionen in Europa zeichnet sich heute eine noch intensivere Zusammenarbeit innerhalb der Euregionen, die Laboratorien grenzüberschreitender Zusammenarbeit par excellence sind, ab. So sind u. a. FIME-Mitgliedseinrichtungen in einigen europäischen Grenzregionen aktiv und bilden Schwerpunkte in der Bildungsarbeit Dort beweisen sie, wie grenzüberschreitende Arbeit erfolgreich angegangen und umgesetzt werden kann.

VID. Erweiterung der FIME in die mittel- und osteuropäischen Staaten Seit dem Fall der Mauer im November 1989 konzentrieren sich die Bemühungen der FIME vor allem auf die Integration mittel-, ost- und südosteuropäischer Initiativen. Zu Beginn der 90er Jahre wurden erste Europa-Häuser in den fünf neuen Bundesländern, in Polen, Ungarn, in Tschechien, Slowenien, Kroatien und der damaligen Sowjetunion in die FIME aufgenommen. Daß die Gewalt innerhalb der Geschichte des europäischen Kontinents keineswegs beendet ist, belegen die von Haß und Terror geprägten Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien. Um so wichtiger ist es, gerade dort für Versöhnung und friedliche europäische Einigung einzutreten. Dank der Hilfe der FIME konnte im März 1998 ein Europa-Haus in Sarajevo eröffnet werden.

IX. Ausblick Die Bildungspolitik der FIME beruht im wesentlichen auf der Erkenntnis, daß sie zur Entwicklung eines europäischen Bewußtseins bei den Bürgern beitragen muß, dieses jedoch nur von den Bürgern selbst vertreten und getragen werden kann. Die Partizipation der Bürger an politischer Willensbildung und Gestaltung gesellschaftlicher Bedingungen ist eine Grundvoraussetzung demokratischer Kultur, die durch den Prozeß der europäischen Integration eine neue Dimension erhält. Die FIME wird sich auch weiterhin auf die Informations- und Überzeugungsarbeit konzentrieren. Der in jahrzehntelanger Kooperation erreichte Erfolg der FIME be-

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ruht im wesentlichen auf der bürgernahen Vermittlung eines breiten europäischen Informations- und Bildungsangebots und der Durchführung transnationaler Begegnungen. Durch diesen kontinuierlichen Kommunikationsprozeß lernen die Teilnehmer unterschiedlicher Nationalitäten einander nicht nur besser kennen, sondern auch verstehen. Denn so lautet auch das Motto der FIME "Europäische Bildung kennt keine Grenzen". Noch während der Französischen Revolution hegten die Ideologen die Hoffnung, die Errungenschaften der Revolution dehne sich auf den gesamten europäischen Kontinent aus. Heute, mehr als zweihundert Jahre danach, verwirklicht sich diese Hoffnung, so daß der berühmte Satz am Danton-Denkmal nach langer Zeit endlich umgesetzt wird.

II. Demokratie und Föderalismus

Der schwierige Weg zur Demokratie Von Helmut Reinalter I.

Der fast zur selben Zeit eingetretene Zusammenbruch der osteuropäischen politischen Systeme hat sehr viele Menschen überrascht. Die dadurch entstandene Euphorie ist heute in Skepsis und Sorge über die Zukunft Osteuropas übergegangen. Innerhalb von kürzester Zeit haben nationale Strömungen die Vielvölkerstaaten Sowjetunion und Jugoslawien zerstört. Auch in der Tschechoslowakei entstand ein nationaler Konflikt, und slowakische Emanzipationsbestrebungen lösten eine permanente Verfassungskrise aus. In Ungarn und Polen verbinden sich nationalistische Mythen mit populistischen Bestrebungen, und in Bulgarien und Rumänien werden nationale Orientierungen im Kampf zwischen alten und neuen politischen Kräften instrumentalisiert. Wie erklären sich diese eng mit der Auflösung der alten politischen Ordnung und deren Wert- und Lebenswelten verbundenen Probleme? Ist das Hervortreten fundamentalistischer und nationaler Strömungen eine notwendige Begleiterscheinung im Übergang von autoritären Systemen mit schwach ausgebildeter "Zivilgesellschaft" zu demokratischen Gemeinwesen? 1 Angesichts der seit dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa dominierenden supranationalen Integration erscheinen diese Entwicklungen in Osteuropa als ein von den globalen Trends längst überholter Irrweg. Gleichwohl ist jedoch in diesem Zusammenhang zu bedenken, ob vielleicht die verspäteten Nationalstaatsbildungen bloß ein Umweg zum letztlich gleichen Ziel darstellen. 2 II.

Ich möchte einen kurzen, sehr gerafften Überblick über die demokratischen Ansätze in Osteuropa seit 1989/90 geben, wobei sich meine Überlegungen wegen t Vgl.dazu Ernest Gellner, Bedingungen der Freiheit. Die Zivilgesellschaft und ihre Rivalen, Stuttgart 1995, S. 10 ff.; lohn Keane (Hrsg.), Civil Society and the State: New European Perspectives, London 1988; Kn.ysztof Michalski (Hrsg.), Europa und die Civil Society, Castelgandolfo-Gespräche 1989, Stuttgart 1991; Rainer Deppe/Helmut Dubiel/Ulrich Rödel (Hrsg.), Demokratischer Umbruch in Osteuropa, Frankfurt IM. 1991, S. II ff. 2 Margareta Mommsen (Hrsg.), Nationalismus in Osteuropa. Gefahrvolle Wege in die Demokratie, München 1992, S. 8 (Einleitung).

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des raschen Veränderungsprozesses nur auf die ersten Jahre nach dem fundamentalen Systemwechsel beziehen können. 3 Die erste moderne Demokratie entstand bekanntlich nicht in Europa, sondern im Kampf gegen Europa, in Amerika 1776. Die europäische Geschichte war eher von Erscheinungen wie Absolutismus, Despotismus, Bonapartismus, Faschismus und Diktatur geprägt, die sich teilweise bis nach dem Zweiten Weltkrieg halten konnten.4 Die Demokratie ist in Europa eine relativ späte und mit Ausnahme Englands instabile Erscheinung. So bemerkenswert die englische Demokratie auch sein mag, geheime Wahlen führte sie erst Ende des 19. Jahrhunderts ein. Ein echtes, allgemeines Wahlrecht entstand erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und in Englands riesigem Kolonialreic"h wurden niemals demokratische Strukturen geschaffen. Auch wenn es sich in seiner Geschichte nur in ungenügendem Maße demokratisch zeigte, so ist Westeuropa heute doch in seiner Gesamtheit demokratisch. 5 Der Systemwechsel 1989/90 zeigte zwar einige Analogien zu den ersten drei Demokratisierungsprozessen Europas im 20.Jahrhundert- 1918 ff., 1945 ff. und in den 70er Jahren, aber die Differenzen überwogen. Nie zuvor in der Geschichte dieses Jahrhunderts hat ein gestürztes System so tiefe Nachwirkungen in den neuen Systemen entwickelt wie 1989/90 in Osteuropa. 6 In der Forschung werden heute fünf Aspekte unterschieden, die die Umbruchprozesse - mit der deutlichen Ausnahme Rumäniens - miteinander gemeinsam haben: 1. der Aspekt der Moral 2. der der Gewalt 3. der des Nichtvorhandenseins von konterrevolutionärer Gegenwehr 4. das Aufkommen neuer Nationalismen sowie 5. das Legitimationskonzept der "civil society".7 Dieses Legitimationskonzept, das heute besonders intensiv diskutiert wird, 8 fordert in seinem nonnativen Kern, daß die klassischen bürgerlichen Freiheitsrechte 3 Dazu grundlegend: Klaus von Beyme, Systemwechsel in Osteuropa, Frankfurt/M.l994; Wolfgang Merkelf Andreas Busch (Hrsg.), Demokratie in Ost und West. Festschrift für Klaus von Beyme. Frankfurt 1999. 4 Mariano Delgado!Matthias Lutz-Bachmann (Hrsg.), Herausforderung Europa. Wege zu einer europäischen Identität, München 1995; Edgar Morin, Europa denken, Frankfurt/M.New York 1991; Josep Fontana, Europa im Spiegel. Eine kritische Revision der europäischen Geschichte, München 1995; Karl Mittermair!Meinhard Mair, Demokratie. Die Geschichte einer politischen Idee von Platon bis heute, Darmstadt 1996; Anton Pelinka/ Helmut Reinalter (Hrsg.), Interdisziplinäre Demokratieforschung, Wien 1996. ~ Vgl. dazu Edgar Morin, a. a. 0., S. 207 ff. 6 Vgl. Klaus von Beyme, a. a. 0., S. 9 ff., S. 229 ff. 7 Ebd., S. 35 ff., S. 46 ff., S. 100 ff.; Rainer Deppe/Helmut Dubiel/Ulrich Rödel, a. a. 0 ., s. 8 ff. s Ernest Gellner, a. a. 0., S. 62 ff., S. 194 ff.

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und die eher modernen Rechte politischer Kommunikation die Meinungen der realen und konflikthaften Vielfalt von regionalen, lokalen, professionellen und autonomen Interessen möglich machen. Dieses Konzept reagiert auf die früher vorherrschende totalitäre Tendenz, alle zwischen dem autoritären Staat und dem Individuum liegenden Formen sozialer Assoziationen zu zerstören. So ist der Begriff "civil society" eine Art Schlüsselbegriff zur Analyse des Demokratisierungsprozesses in Osteuropa geworden, und dies in zweifacher Hinsicht: Er wird sowohl auf die Vorgeschichte des Umbruchs bezogen, nämlich auf den Prozeß der Herausbildung freiwilliger, auf demokratische Prinzipien festgelegter, autonomer Assoziationen, die mit gewaltlosen Mitteln dem Staat eine politische Gegenöffentlichkeit abtrotzten. - Er wird aber auch - nach dem Systemwechsel - auf die politisch kulturellen, ökonomischen und sozialstruktureilen Potentiale bezogen, die einem nur formell etablierten demokratischen System überhaupt erst dieses stabilisierende, moralische und legitimatorische Fundament geben können.9 - Ernest Gellner meint, daß die Zivilgesellschaft eine Reihe verschiedener nichtstaatlicher Institutionen darstelle, "stark genug, um ein Gegengewicht zum Staat zu bilden, doch ohne ihn daran zu hindern, seine Rolle als Friedenshüter und Vermittlungsinstanz für die wichtigen Interessengruppen zu spielen, und gleichwohl fähig, ihn daran zu hindern, die übrige Gesellschaft zu beherrschen und zu atomisieren." 10 Gellner wendet allerdings auch ein, daß eine solche Definition von Zivilgesellschaft zu eng sei, weil sie viele Gesellschaftsformen meint, die eben nicht immer demokratisch genug wären. Der Begriff "civil society" verfolgt einen doppelten Zweck: Er leistet einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis, wie eine bestimmte Gesellschaft eigentlich funktioniert und wie sie sich von alternativen Gesellschaften unterscheidet. Zugleich zeigt er uns ein klares Verständnis von unseren sozialen Nonnen, unseren Werten und den Motiven, warum wir sie akzeptieren. 11

m. Die politischen Veränderungen in Osteuropa, die sich seit der Mitte der achtziger Jahre abzuzeichnen begannen und dann ab Sommer /Herbst 1989 zum Zusammenbruch des sogenannten "real existierenden Sozialismus" geführt haben, sind immer wieder - etwas voreilig - als "Sieg der Demokratie" bezeichnet worden. Diese Feststellungen müssen m. E. dazu führen, die Frage nach den Entwicklungsperspektiven der Demokratie in Osteuropa und ihren Chancen neu zu stellen. Genauere Beobachtungen zeigen nämlich, daß die Demokratie nichts ist, was von einer Ebd., S. 14 ff., S. 194 ff., S. 222 ff. Ebd., S. 14. II Ebd., s. 14 ff.

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Gesellschaft besessen werden kann, sondern gegen Entwicklungstendenzen und Bedrohungen immer wieder neu errungen werden muß. Um wieviel schwerer dies in Gesellschaften mit tiefgehenden ethnischen Konflikten ist, mit sozialen Verwerfungen, die zu einem weitreichenden Verlust lebenspraktischer Orientierungen geführt haben, mit ökonomischen Problemen, die zur Herausbildung mafioser Strukturen beigetragen haben, schließlich auch in Gesellschaften mit politischkulturellen Traditionen, in denen Toleranz, Ausgleich und Kompromiß nicht sonderlich hoch geschätzt werden, zeigen die Entwicklungen nach 1989 I 90 sehr deutlich. 12 Von allen osteuropäischen Ländern hat nur die Sowjetunion die Demokratisierung durch Reformpolitik von oben versucht. In den anderen Systemen gab es das Modell einer "Umfunktionierung" des Sozialismus durch die oberflächlich gewandelte kommunistische Partei (wie in Bulgarien und Rumänien). Sie erfolgte zudem nicht freiwillig, sondern erst, als alle sozialistischen Systeme Osteuropas zusammengebrochen waren und die eigene Machtposition bereits in Frage gestellt und erschüttert wurde. 13 Diesem Modell der Steuerung "von oben" stehen zwei weitere Modelle gegenüber, in denen die Demokratisierung mehr durch Druck "von unten" entstand. Sie erfolgte entweder, wie in Polen und Ungarn, durch Erosion des Sozialismus, indem die Demokratisierungsstufen zwischen kommunistischer Partei und Opposition ausgehandelt wurden, oder sie wurde durch den Kollaps des Systems nach erfolgten Massenprotesten ausgelöst. 14 Diese verschiedenen Muster lassen sich - mit gebotener Vorsicht und Vorläufigkeit - in einer Vierfeldermatrix veranschaulichen: Lavieren, pragmatisches Durchwursteln: Ideologiegesteuerter Erneuerungsversuch: 1. Feld Steuerung von oben

Umfunktionierung des Sozialismus (Bulgarien, Rumänien)

3. Feld Innovation des Sozialismus (Perestroika in der Sowjetunion)

2. Feld Druck von unten

Erosion des Sozialismus (Polen, Ungarn)

4.Feld Kollaps des Sozialismus und Machtübernahme durch die Gegenelite (Tschechoslowakei, DDR)IS

Im Vergleich der Demokratisierungsprozesse ist die sowjetische Perestroika durch zwei besondere Aspekte gekennzeichnet:

12 13 t4

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Margareta Mommsen, a. a. 0., S. 7 ff.; Klaus von Beyme, a. a. 0 ., S. 46 ff. Klaus von Beyme, a. a. 0 ., S. 94 ff. Ebd. Ebd., S. 95.

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1. Sie ist ein ideologiegesteuerter Versuch von Demokratisierung, die von oben angeleitet wurde. Die notwendigen Schritte wurden hier vor dem Kollaps eingeleitet. Diese Vorgangsweise schien der Partei zu erlauben, die Kontrolle über den in Gang gesetzten Prozeß zu behalten. 2. Sie ist nicht durch Druck von unten zustandegekommen. Auch dies scheint eine gewisse Sicherheit dafür, daß der Reformprozeß relativ gut gegen die wechselnden Interessenmehrheiten im Volk abgeschirmt werden könnte. 16 Eine solche Typologie stellt jedoch nur geronnene Momentaufnahmen in einem historischen Prozeß dar, der einem starken und raschen Wandel unterliegt. Sie gilt eigentlich nur für die Anfangsphase des Demokratisierungsprozesses. In den späteren Phasen entglitt die Initiative der politischen Führung in vielen Bereichen. Damit wurde das Modell der Perestroika dem der Erosion des Sozialismus auf Druck von unten immer ähnlicher. Der geordnete Rückzug, wie er von den Parteien Ungarns und Polens im korporatistischen Modell der Demokratisierung begonnen wurde, wäre auch für die Perestroika-Führung möglich gewesen. Aus drei Gründen wurde allerdings diese Möglichkeit nicht ergriffen: Gerade, weil die Reformpolitik von oben eingeleitet worden war, ging sie vielen in der Partei zu weit. Die eigene Regierungsunfahigkeit der Partei wurde erst in kleinen Schritten erfaßt. Gorbatschow 17 hat den radikalen Umbauprozeß nur halbherzig und zögerlich vorangetrieben. Dazu kam noch, daß viele Exponenten im Volksdeputiertenkongreß und im Obersten Sowjet schon seit einiger Zeit die Sozialdemokratisierung der Partei gefordert haben. Für eine korporatistische Übergangslösung zur Demokratie bedarf es eines etwa gleich starken Partners am Verhandlungstisch, der in der Sowjetunion nicht vorhanden war. Es gab keine organisierte Opposition, ein Mehrparteiensystem wurde zwar akzeptiert, aber es fehlte an einer geschlossenen Partei. Aufgrund der Zersplitterung der politischen Kräfte in viele Gruppen und kleinere Grüppchen und angesichtsder Vorentscheidung auf der Verfassungsebene in Richtung eines Präsidialsystems wäre zweifelsohne größte Eile am Platze gewesen, um ein Zweiparteiensystem zu etablieren, durch das ein Präsidialsystem hätte funktionsfaltig werden können. Die Gegenmacht trat in der Sowjetunion in einer Form auf, die für korporatistische Ansätze der Demokratisierung ungeeignet war: gemeint sind hier die nationalen Bewegungen in den Unionsrepubliken und einigen ihrer Untereinheiten. 18 Zum Korporalismus zählen vor allem zwei wichtige Elemente: die Fähigkeit der VerEbd., S. 94 ff., S. 100 ff. Ebd., S. 94 ff., S. 100 ff. 18 Margareta Mommsen, Von der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken zur Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Zur Wechselwirkung von Demokratisierung und nationaler Dynamik in der Sowjetunion, in: dies., Nationalismus in Osteuropa, a. a. 0., S. 18 ff. ; Klaus von Beyme, a. a. 0., S. 124 ff. 16

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handlungspartner, ihre Mitglieder auf die einmal geschlossenen Kompromisse zu verpflichten und festzulegen. Nationale Bewegungen traten eher als neue soziale Bewegungen auf, nämlich kompromißlos und maximalistisch. 19 Die Inkompatibilitäten zwischen Demokratie und Nationalismus werden fast immer im Lichte der ethnischen Vielfalt gesehen. Die ethnische und regionale Vielfalt hat in der ersten Demokratisierungsphase den Ausschlag dafür gegeben, daß die Perestroika-Führung das Gesetz des Handeins nicht behielt. In der nächsten Phase wurde sie der eigentliche Gegenspieler der Zentralmacht und zwang die Führung zu immer neuen Kompromissen, die den Nationalitäten nicht weit genug gingen. Die konservativen Anhänger des Imperiums im Apparat waren davon überzeugt, daß Gorbatschow den ,,Rubikon" bereits überschritten hatte. Viele große Reformer der Geschichte haben das politische System geändert und wirtschaftliche Reformen eingeführt. Sie mußten dabei kein grundsätzlich neues Wirtschaftssystem schaffen. Die Perestroika hingegen war eher in der Position Lenins. Relativ leicht wurden die Machtverhältnisse geändert, viel schwerer war es allerdings, die Ökonomie zu ändern. Die Herstellung einer verläßlichen Demokratie hing nicht nur vom Übergang zur Marktwirtschaft, sondern auch von der Institutionalisierung ab. 20 Die Demokratisierung bedeutet in der Anfangsphase einer Reform die Parlamentarisierung. Aus der Parlamentarisierung nach britischdeutschem Modell wurde das System in ein präsidiales überführt - halb parlamentarisch und halb präsidentiell. 21 Schematisch lassen sich drei Typen von Institutionen unterscheiden: 1. Institutionen, die in Grundzügen den Systemwechsel überlebten; 2. Institutionen, die den Systemwechsel nicht überstanden und 3. Institutionen, die aus dem Systemwechsel hervorgegangen sind. 22 Im Kräftegleichgewicht zwischen Exekutive und Legislative trat in der Transformation zur Demokratie eine starke Abweichung vom parlamentarischen Durchschnittsmodell in Westeuropa ein. In den übrigen Teilen der Verfassungen ist das Bild sehr unterschiedlich. Neu waren in vielen Verfassungen die Selbstbenennungen des Verfassungssystems. Die russische Föderation bezeichnete sich in ihrer Verfassung von 1993 (Art. 1) als "demokratischer föderativer Rechtsstaat mit republikanischer Regierungsform".23 In den Verfassungssystemen und in den Parteiensystemen zeigen sich Elemente der Kontinuität politischer Kräfte. Da die Sozialdemokraten kaum Erfolg hatten, 19

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Klaus von Beyme, a. a. 0., S. 124 ff.; S. 135 ff., S. 148 ff. Ebd., S. 192 ff., S. 229 ff. Ebd., S. 254 ff., S. 238 ff. Ebd., S. 230 f. Ebd., S. 230 f.

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übernahmen die Reformkommunisten ihre Funktionen. Klaus von Beyme unterscheidet in der Typologie der Regierungsformen drei Varianten: 1. die Autokratie (der Autoritarismus),

2. die neue Demokratie und 3. den Mischtypus Anokratie. 24 Dieser Mischtypus enthält widersprüchliche Systemelemente. Solche Typologisierungen unterliegen allerdings raschen Veränderungen, weshalb sie nur bedingt verwendet werden können. IV.

Das Hauptproblem in der gegenwärtigen Entwicklungsphase in Osteuropa scheint darin zu bestehen, daß, solange die ökonomischen Grundlagen für eine echte Zivilgesellschaft nicht existent sind, die massive politische Mobilisierung der Bevölkerung nur auf nationalistischen und fundamentalistischen Wegen möglich ist. Der Staat muß in einer sehr schwierigen Situation vor allem im Rahmen eines "exklusiven Korporatismus" agieren, um eine Gesellschaft zu neutralisieren, die sich selbst auf einer fundamentalistischen oder nationalistischen Grundlage zu einer politischen Einheit formiert hat. Die Entwicklung solcher Herrschaftstechniken ist deutlich sichtbar - von Polen bis zu Rumänien und zur Sowjetunion. In jedem einzelnen Fall sind die Techniken jedoch verschieden. Andere Strukturelemente der staatlichen Organisation sind inzwischen auch schon deutlich hervorgetreten: neue Formen des Kolonialstaates, die den neuen Mustern der Segmentierung von Wirtschaft und Staat folgen; die Zweideutigkeiten des Präsidialamtes und schließlich der Widerspruch zwischen den Bemühungen, einen Rechtsstaat zu schaffen, und der gleichzeitigen Notwendigkeit, einige außerverfassungsrechtliche Übereinkommen einzuhalten, die sich aus früheren Absprachen mit den Kommunisten und der imperialen Macht ergaben. 25 Der schwierige Weg zur Demokratie steht in Osteuropa vor einer harten Bewährungsprobe. Ob dieser Weg angesichts der ökonomischen Schwierigkeiten erfolgreich sein kann, ist noch immer fraglich. Wird es gelingen, auf demokratischer Grundlage Konsensbildung zu erreichen und wie kann man in Osteuropa aus der ökonomischen Krise durch gemeinsame Anstrengungen herausfinden und den Anschluß an Europa vollziehen? Die Entwicklung ist offen. Einiges ist jedoch bereits jetzt deutlich zu sehen: 1. Der Zusammenhang von Demokratie und Marktwirtschaft scheint sich umzukehren. Die Erhaltung der internationalen Solidarität ist nur möglich, wenn ein Land "demokratische Requisiten" vorweisen kann. 24 2S

Ebd., S. 358 (Matrix), S. 355 ff. Ebd., s. 355 ff.

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2. Der Prozeß der Institutionalisierung gelang - mit Ausnahme von Rußland und Polen - verhältnismäßig und vergleichsweise reibungslos. 3. Es kann noch keine demokratische Kultur in so kurzer Zeit entstanden sein. Die Bürger der neuen Demokratien leben in ständiger Furcht vor einem Rückfall in die Diktatur. Der Nationalismus gefahrdet zunehmend den innneren und äußeren Frieden der Völker Osteuropas. 26 Das Ziel der künftigen Entwicklung heißt trotz aller Schwierigkeiten "Demokratie". Aber die demokratischen Ansätze müssen- so scheint es bis heute- vielfach mit dem Weg vorlieb nehmen, ohne das Ziel zu erreichen.

26 Ebd., S. 359 f.; Jadwiga Staniszkis, Dilemmata der Demokratie in Osteuropa, in: Deppe/Dubiei/Rödel, a. a. 0 ., S. 326 ff.

"Ein Volk, das die Gefahr nicht scheut ..."Anmerkungen zur Revolution von 1848 Von Peter Steinbach An die Revolution von 1848 und an seine Revolutionäre zu erinnern, kann nicht bedeuten, einen Leichnam zu feiern. Man könnte statt dessen versuchen, das innere Verhältnis der Deutschen zu einem Umbruch zu klären, mit dem sich der Übergang in ihre Gegenwart, die ,,Modeme", ereignet hat. Denn Revolutionen können Traditionen begründen, die für ein Gerneinwesen wichtig sind. Voraussetzung ist allerdings, in Revolutionen Umwälzungen zum Guten zu sehen, weder Aufruhr allein noch Scheitern oder gar Halbheit revolutionären Strebens. Vielleicht bietet sich mehr als 150 Jahre nach der ,,Achtundvierziger Revolution" endlich die Chance zu einer Neubewertung als Konsequenz einer Neubesinnung.

Schwer genug war die Erinnerung an die Revolution des Jahres 1848 in den letzten 150 Jahren. Die Revolutionäre selbst empfanden sich ohne Zweifel als Gescheiterte. Wer überlebt hatte, emigrierte, nicht selten unter Gefahr, nach Frankreich und Belgien, ins Zarenreich oder nach Großbritannien, nicht selten, wie Carl Schurz, in die Vereinigten Staaten von Amerika - oder er resignierte. Manchen der in Deutschland gebliebenen Revolutionäre machte man den Prozeß, man ächtete und trieb sie in die politische Resignation. In der Tat: vielen der "Umstürzler" war die Begeisterung für den Umsturz später nicht nur peinlich, sie verdrängten sie und nahmen eine Entwicklung, die nicht mehr im Einklang mit ihren revolutionären Zielen stand. So verging der fünfzigste Jahrestag der Revolution im Jahre 1898 beinahe unbemerkt von der Öffentlichkeit. Nur Sozialdemokraten und Intellektuelle hatten sich heftig erinnert. August Bebel war es sogar gelungen, seine parlamentarischen Gegner herauszufordern, als in überraschend in einer Reichstagsdebatte arn 18. März erreichte, daß diese ihr Verhältnis zur Revolution bestimmten. Selbst Franz Mehring, sonst ein Kritiker des "Parlarnentelns", frohlockte, weil es gelungen war, eine parlamentarische Debatte zu "improvisieren". 1 Diese wies alle Elemente späterer Geschichtspolitik auf: In der Auseinandersetzung mit einem zurückliegenden Ereignis wurden nicht nur politisch motivierte Deutungen, sondern auch Bemühungen sichtbar, den Revolutionären und ihren Opfern Anerkennung zu zollen. Bebel I Franz Mehring, Nachklänge zur Märzfeier, in: Die Neue Zeit 16 (1897/98), 2. Bd., S. I ff.; vgl. auch ders., Zur deutschen Geschichte von der Revolution 1848/49 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, Berlin (Ost), 1965, S. 15.

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reagierte vor allem auf die Ansicht, die politischen Veränderungen der Jahre 1948 I 49 seien auch ohne die Barrikadenkämpfe erfolgt. Die Rechte bestritt dies heftig und beschwor erneut den "Ludergeruch" der Straßen- und Barrikadenkämpfe. Die Antisemiten boten die gewohnt einfache Erklärung und machten die Juden für die Unruhen verantwortlich. Der nationalliberale Parlamentarier Rudolf von Bennigsen vermittelte zwischen den Positionen der Rechten und der Linken, als er behauptete, nicht die Barrikadenkämpfe seien bedeutsam gewesen, sondern das Frankfurter Parlament und seine Verfassung. Dies wirkte nicht so brav, wie man heute denken könnte, denn offensichtlich hatten die gemäßigten Liberalen keineswegs vergessen, daß der deutsche Konstitutionalismus kein parlamentarisches System war. Friedlich stimmte sie die Ablehnung einer "ungezügelten Demokratie", die sich 1848 in den Straßen, bei Demonstrationen und Aufläufen, oder gar auf den Barrikaden gezeigt hatte. Einige Intellektuelle gründeten eine Zeitschrift und nannten sie ,,März", andere träumten von einer ,,Neuen Gesellschaft" u"nd der ,,Neuen Zeit". Die Vertreter des linken Liberalismus - "Freisinnige", ehemalige "Fortschrittler" - wanden sich in ihren Deutungen und konnten desto leichter von den Sozialdemokraten vorgeführt werden, die sich als wahre Sachwalter der "bürgerlichen Revolution" bezeichneten, die vom Bürgertum schon längst verraten worden sei. Die Parlamentsberichterstattung nahm die Kontroversen genüBlich auf, wobei sich in der Gesinnungspresse natürlich die jeweiligen politischen Positionen und Optionen niederschlugen. Die Historiker hatten im Unterschied zu manchen Publizisten und Schriftstellern - Theodor Fontane, Heinrich Mann, Carl Sternheim - ihren Frieden mit den Mächtigen gemacht und schwelgten über Jahrzehnte hinweg in der Reichsgründungsstimmung: "Welche Wendung durch Gottes Fügung", so lautete eine der gängigsten politischen Parolen. Heinrich von Sybel schrieb gar seinem liberaleren Kollegen Hermann Baumgarten: " ... die Tränen fließen mir über die Backen. Wodurch hat man die Gnade Gottes verdient, so große und so mächtige Dinge erleben zu dürfen? Und wie wird man nachher leben! Was zwanzig Jahre der Inhalt allen Wünschens und Strebens gewesen, das ist nun in so unendlich herrlicher Weise erfüllt! Woher soll man in meinen Lebensjahren noch einen neuen Inhalt für das weitere Leben nehmen?"2 Bismarck als Vollender der deutschen Revolution durch Blut und Eisen - das konnte weder eine demokratischrevolutionäre Tradition begründen noch die Revolution von 1848 in ein nur durch Bemühungen um historische Gerechtigkeit gefärbtes Licht rücken. Der fünfundsiebzigste Jahrestag der "deutschen Revolution" fiel in das Jahr 1923, das wohl kritischste Jahr der Weimarer Republik. Es war ein Jahr der Aufstände in Hamburg, Mitteldeutschland und Bayern, das Jahr des Hitlerputsches. Revolutionen zu feiern, danach war den Deutschen nicht recht zumute.3 Ansatz2 Ernst Deuerlein (Hrsg.), Die Gründung des Deutschen Reiches 1870/71 in Augenzeugenberichten, München 1977, S. 11.

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weise hatten das entschiedene Demokraten und Republikaner bereits 1919 versucht und den Zusammenhang zwischen der Paulskirchenversammlung und der deutschen Vetfassungsgebenden ,,Nationalversammlung" hergestellt.4 Allerdings paßte sich die Historikerzunft dieser Stimmung bis auf ganz wenige Ausnahmen, die erst Jahrzehnte später in Deutschland geachteten pazifistischen, linksliberalen und demokratisch orientierten Historiker wie Gustav Mayer, 5 Ludwig Quidde6 oder Veit Valentin, 7 nicht an. Bereits vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte der liberal gesonnene, nach 1933 aus Deutschland vertriebene Historiker Veit Valentin damit begonnen, eine Darstellung der gesamten Geschichte der deutschen Revolution in Angriff zu nehmen. Karriere konnte er damit an deutschen Universitäten nicht machen. Im Gegenteil: Bereits 1917 hatten ihn, den Juden, den Liberalen und Pazifisten, alldeutsche Kollegen und seine Freiburger Universität wegen eines angeblichen "totalen Mangels an korporativer Gesinnung"8 zum Verzicht auf seine venia legendi gezwungen. Valentin, ein leidenschaftlicher Historiker, ließ sich dadurch aber nicht beirren. In den frühen Jahren der Republik hatte er eine Reihe von Arbeiten zur Revolution vorlegen können, mit denen er versuchte, die Revolution von 1848 mit seiner Gegenwart zu verbinden.9 1923 hatte Valentin endlich wieder eine Anstellung im Potsdamer Reichsarchiv gefunden. An eine Universität wurde er allerdings nicht mehr berufen, sondern 3 Vgl. aber Dieter Rebentisch, Friedrich Ebert und die Paulskirche: Die Weimarer Demokratie und die 75-Jahrfeier der 1948er Revolution, Heidelberg 1998. 4 Paul Wenrzke, Die erste deutsche Nationalversammlung und ihr Werk: Ausgewählte Reden, München 1921; Joseph Hansen, (Hrsg.), Rheinische Briefe und Akten zur Geschichte der politischen Bewegung 1830-1850, Bd. I, Essen 1919. Ein zweiter Band folgte dann mit einem I. Halbband wesentlich später, Bonn 1942. s Gustav Mayer, Arbeiterbewegung und Obrigkeitsstaat, hrsg. v. Hans-Ulrich Wehler, Frankfurt IM. 1972. 6 Ludwig Quidde, Caligula. Schriften über Militarismus und Pazifismus, hrsg. v. Hans-UIrich Wehler, Frankfurt/M. 1977. 7 Hans Schleier, Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik, Berlin-Ost 1975, S. 346 ff. s Elisabeth Fehrenbach/Veit Valentin, in: H.-U.Wehler (Hrsg.), Deutsche Historiker Bd. 1, Göttingen 1971, S. 69. 9 Bereits 1908 hatte Valentin seine Studie ,,Frankfurt am Main und die Revolution 1948/ 49" veröffentlicht. Diese Arbeit war ebenso traditionell orientiert wie die zweite Untersuchung, die unter dem Titel "Karl Fürst Leiningen und das deutsche Einheitsproblem" 1910 erschien. Ein Umbruch seiner Interpretation ist 1919 spürbar, denn in seiner Arbeit über "Die erste deutsche Nationalversammlung", die 1919 erschien, wird eine Verbindung zwischen der politischen Linken in Deutschland und der Nationalversammlung hergestellt. In diesen Zusammenhang einer historisch-politischen Deutung gehören auch die Abhandlungen ,,Das erste deutsche Parlament und wir" sowie "Die 48er Demokratie und der Völkerbundsgedanke". Sie erschienen ebenfalls 1919 und fanden ihre Fortsetzung in einer Darstellung des "Hambacher Festes" (1932) sowie einer symbolhistorischen Untersuchung über "Die deutschen Farben" (1929). Beide Arbeiten spiegeln den Wunsch, historische und politische Bildung zu verbinden.

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lehrte an der Berliner Hochschule für Politik, die sich durch die Absicht definierte, republikanische Demokraten auszubilden. Valentins große Geschichte der Revolution konnte 1930 in zwei Bänden erscheinen. Sie war lange Zeit die einzige Gesamtgeschichte der Jahre 1848 und 1849, kam zur unrechten Zeit und hinterließ wenig Spuren in der Diskussion. Sie war bis in die sechziger Jahre hinein ein Geheimtip der Kenner, obwohl sich 1948 durchaus die Möglichkeit geboten hätte, das Werk neu zu verlegen und breit zu rezipieren. Valentin war bereits 1947 gestorben, und ein Jahr später machte die geteilte Erinnerung aus der Revolution von 1948 eine in Ost und West "halbierte Revolution" (Edgar Wolfrum). Bereits in der Weimarer Republik hatten sich vor allem die Kommunisten des 18. März bemächtigt und regelmäßig einen großen Aufmarsch veranstaltet, um die auf dem Friedhof in Friedrichshain bestatteten mehr als 250 Revolutionäre zu ehren. An diese Tradition knüpfte die SED-Führung an und rief anläßlich des einhundertsten Jahrestags des 18. März zu einer Massendemonstration auf. Der 18. März wurde zum Feiertag erklärt. Die SED-Fühiung erklärte sich zur Vollstreckerio der Revolution von 1848. Auch im Westen wurde 1948 zu einer Demonstration aufgerufen, der viele tausend Berliner folgten. Sie wurde von Sozialdemokraten geprägt, die sich nicht nur als Kraft darstellten, welche die verfassungsstaatlichen Ziele der Achtundvierziger erfüllt hätte, sondern ihren Anspruch auf politische Erbenschaft gegen die SEDFührung richtete, die gleichzeitig den 2. Volkskongreß ausgerichtet hatte. 10 Hinzu kamen Erinnerungen an die Nationalversammlung und die Verfassungsdiskussionen. Überdies setzte die Symbolisierung der - damals zerstörten - Paulskirche ein. Historiker leisteten bis auf wenige Ausnahmen - etwa des Tübinger Historikers Rudolf Stadelmann 11 weiterhin einen wichtigen Beitrag zur Domestizierung der Revolutionsbewegung, indem sie vor allem die Geschichte der Aufstände ausblendeten. Eine Wende in der Erinnerung zeichnete sich fünfundzwanzig Jahre später ab, denn der aus der Sozialdemokratie kommende deutsche Bundespräsident Gustav Reinemann hatte immer wieder gefordert, die Deutschen sollten sich nicht nur zu freiheitlichen Traditionen bekennen, sie hätten sie nicht selten erst zu entdecken und zu erforschen. Deshalb setzte er sich für ein Freiheitsmuseum in Rastau ein, deshalb regte er einen Schülerwettbewerb um den Preis des Bundespräsidenten an, deshalb begann er, die wichtigen und runden Gedenktage durch eine Inszenierung der Erinnerung in das Bewußtsein der Öffentlichkeit zu heben. Nun erlebte auch Veit Valentins Werk eine Neuentdeckung, Ende der sechziger Jahre kräftig gefördert durch den Historiker Hans-Ulrich Wehler 12 • In einer Neuauflage kam die 10 Hermann Rudolph, "Tag der Einheit - Tag der Spaltung", in: Der Tagesspiegel Nr. 16265 V. l. 3. 1998, S. 3. II Rudolf Stadelmann, Soziale und politische Geschichte der Revolution von 1848, Tübingen 1948; wichtig ist gewiß Theodor Heuss. 1848- Werk und Erbe, Stuttgart o.J. (1948) 12 Veit Valentin, 1848 in der deutschen Geschichte und andere Aufsätze, hrsg. v. H.U.Weh1er, Frankfurt IM. 1972.

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zweihändige, bis dahin nicht überholte Darstellung 1970 heraus 13 • Seitdem nahm die Revolutionsforschung einen kräftigen Aufschwung 14,lebte von Kontroversen 15 und aus unterschiedlichen Methoden, nicht zuletzt auch aus der vergleichenden Perspektive komparatistischer Forschung. 16 Valentin, der in der Emigration eine "Weltgeschichte" 17 und eine "Geschichte der Deutschen" 18 verfaßt hatte, ehe er am 12. Januar 1947 im Alter von 62 Jahren verstarb, konnte so die Rezeption seines Lebenswerkes nicht mehr erleben. Im Schicksal dieses bedeutenden historisch-politisch orientierten Historikers der Revolution von 1848 wird nicht zuletzt der Umgang der Deutschen mit der Revolution selbst deutlich. Nach seiner Vertreibung durch die Nationalsozialisten, die ihn als jüdischen Historiker diffamierten, wurde er in Deutschland nicht mehr heimisch; damit zwang aber auch niemand die deutschen Historiker, sich mit der vorherrschenden Überlieferungsgeschichte der Revolution kritisch auseinanderzusetzen, die auch nach dem Ende des NS-Staates, das sich selbst in die Tradition der deutschen Nationalbewegung stellte und mit der Selbstbezeichnung "Drittes Reich" den Anspruch erhob, das Kaiserreich von 1871 zu erfüllen, unverdrossen "schwarz-rot-gold", also nationalgeschichtlich, eingefärbt wurde. Bis heute bestimmen die Kontroversen um die Deutungen dieses Ereignisses die öffentlichen Debatten, werden grundlegende Neuansätze in der öffentlichen Wahrnehmung kaum angenommen. Wer sich vergegenwärtigt, wie andere Gesellschaften den Ausbruch ihrer Revolutionen in das Bewußtsein ihrer Zeitgenossen heben, wirft unausweichlich die Frage auf, welches Verhältnis die Deutschen zu jener Revolution entwickelt haben, der sie immerhin bis heute einen wesentlichen Teil ihrer Staatssymbolik verdanken. Vielleicht liegt gerade in der Verwendung dieser Symbole ein Teil der Beantwortung unserer Frage. Die Franzosen feierten den Sturm auf die Bastille als ihren 13 Angeregt von Hans-Uirich Wehler, der gleichzeitig in der •.roten" Studienbibiothek der "Gelben Reihe" den Bereich der Geschichte betreute, in der Studienbibliothek des Verlags Kiepenheuer & Witsch, Köln und Berlin 1970. 14 Vgl. Dieter Langewiesche, Die deutsche Revolution von 1848/49, Darmstadt 1983. 1s Dieter Langewiesche, Buropa zwischen Restauration und Revolution 1815-1849, München 1985, S. 159 ff. 16 Horst Stuke/Wilfried Forstmann, Die europäischen Revolutionen von 1848, Königstein/T.s 1979. 17 Veit Valentin, Weltgeschichte: Volker, Männer, Ideen, Amsterdam (Allert de Lange) 1939, Neuaufl. dann Köln 1950 und München 1959, als Knaur-Taschenbuch München 1963, erweiterte Neuauflage unter dem Titel "Reader's Digest Illustrierte Weltgeschichte, bis in die Gegenwart fortgeführt von Albert Wucher mit einem Beitrag über das heutige Afrika von Franz Ansprenger, Stuttgart u. a.l958. 18 Veit Valentin, The German People, New York 1946, deutsch als Geschichte der Deutschen, Berlin 1947, unter dem Titel ,,Deutsche Geschichte", 2 Bde., München 1960, als Knaur-Taschenbuch München 1965, dann noch einmal mit einer Erweiterung aus der Feder von Erhard Klöss Köln 1991 (dazu Die Zeit 13 v. 20. 3. 1992, wo VolkerUHrich den Verzicht auf eine Lebens- und Werkeinführung berechtigerweise als "lnstinktlosigkeit" bezeichnet).

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Nationalfeiertag, die Amerikaner den Tag ihrer staatlichen Unabhängigkeit, die sie im Zuge ihrer Revolution zugleich mit einer denkbar freiheitlichen Verfassung errangen. Beide Ereignisse verkörperten das politisch Neue und bis dahin kaum Vorstellbare: Die Proklamation eines neuen Staates, zugleich der Menschenrechte, der Gewaltenteilung und des größtmöglichen Glücks des Individuums. In den großen Revolutionen wurde so eine neue Struktur von Politik und Gesellschaft, von Staat und Interessen, von Regierung und Selbstbestimmung sichtbar. In der Erinnerung an revolutionäre Ziele, die in den Mittelpunkt ihres Wollens rückten, bildete sich in diesen Gesellschaften, die sich niemals von ihren revolutionären Ursprüngen abwandten, eine neue politische Identität heraus. In diese Tradition hätten sich die Deutschen auch mit der Erinnerung an die Revolution von 1848 stellen können. Sie entschieden sich anders und feierten weniger den Ausbruch der Revolution als die erste Stufe ihrer Zähmung, vor allem den Zusammentritt der erstmals auf demokratischer - wenngleich ohne Beteiligung der Frauen Grundlage gewählten Parlaments in der Frankfurter Paulskirche. Der Verfassung, die einen beeindruckenden Grundrechtskatalog enthielt, gewannen sie schon erheblich weniger ab. Debattiert wurde hingegen über die nationalen Fragen, viel weniger über die Verfassungsfragen, vielleicht, weil diese als Machtfragen sehr schnell deutlich machten, daß die Volkssouveränität nur ein Traum fern fast aller Realität war., So wurde in der Erinnerung die Radikalität der Revolution entschärft, wurde der "Aufbruch zur Freiheit" domestiziert.

Die Revolution selbst hätte verdient, gefeiert zu werden, anders jedenfalls, als es eine in dieser Hinsicht fast stumm gebliebene Stadt Berlin zu tun beliebte, in deren offizieller Erinnerung kaum etwas 19 an den 18. März erinnerte, der noch vor wenigen Jahren in der Vorstellung von Heinz Galinski und anderer ein gesamtdeutscher Nationalfeiertag hätte werden können. Wer die Flugblätter jener Vormärz- und Märztage20 liest, wer in der Revolutionspresse blättert, ist überrascht, wie munter manche Gedanken der im allgemeinen Bewußtsein fast verblichenen Revolution, die wir so verhalten vor unser Auge rücken, noch sind. Der Vormärz und die Revolutionszeit waren unserer Gegenwart näher als manche der Epochen, die ihm zeitlich folgten. Denn im Vormärz entstanden unsere Gesellschaften mit ihren Konflikten ·und Interessen, mit ihrer Presse und ihren Parteien, mit ihren Verfassungen und deren Prinzipien. Die Sprache politischer Programme ist ursprünglich, das Selbstwertgefühl der Epoche ungemein frisch und ert9 Das bemerkenswerte Ereignis war ein Gedenkzug zur Erinnerungsstätte der Märzgefallen und dem Versuch, den Platz vor dem Brandenburger Revolution in Erinnerung an die Revolution urnzubenennen und eine Gedenkveranstaltung im Abgeordnetenhaus, bei der Hagen Schulze die Chance nutzte. an die Vielfältigkeit der Erinnerungsbezüge zu erinnern, die in der Revolution verborgen liegen. Eine anschließende Podiumsdiskussion verlief wesentlich konventioneller und konzentrierte sich wieder auf die bekannten Fragen "großdeutschkleindeutsch", politische oder soziale Demokratie. 20 Vgl. Harrwig Brandt (Hrsg.), Restauration und Frühliberalismus, Darmstadt 1979, S. 253 ff.; Hans Fenske, Vormärz und Revolution 1840-1849, Darmstadt 1976.

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frischend. Nach den Pariser Impulsen zündete die Flamme in Wien, bald in Budapest, wo sich der Revolutionsgedanke mit einer nationalen Komponente verband, die sich gegen die Herrschaft der Habsburger und der deutschen Zunge richtete, und weitete sich rasch zur europäischen, vielleicht zur am meisten europäischen Revolution der Geschichte überhaupt, 21 aus. In Berlin bestimmten ganz andere politischen Ziele die gesellschaftlichen Kräfte, die entscheidende Impulse ftir eine in vielfaltigen Formen stattfindende Auseinandersetzung mit den Herrschenden und um die Politik gaben.22 Es ging zum einen um den Versuch, die gesellschaftliche Krise und die politische Stagnation zu überwinden. Es ging zum anderen um das Wagnis des politisch Neuen. Dieser Wunsch durchzog die Schichten. Deshalb standen Studenten neben Handwerkern auf den Barrikaden, übrigens auch so viele Frauen wie niemals zuvor bei einer politischen Eruption dieser Art. Hier wurde nicht nur ein neues politisches Selbstbewußtsein deutlich, sondern auch eine Lebensfreude, die sich in vielen Gesängen auf der Straße Bahn brach. Der Berliner Nante wurde zum Symbol des klugen, wenngleich nicht so recht handlungsfähigen Berliners. Ihn lieben die Berliner ja nicht, weil er an der Ecke stand, sondern weil er sich morgens mit der Bemerkung streckte: ,,Lebenslauf, ick erwarte Dir!" Bisher haben wir uns im Rückblick auf die Jahre 1848 und 1849 die Möglichkeit entgehen lassen, das Ereignis des eigentlichen Aufstandes zu feiern. Lediglich im Südwesten, in Karlsruhe, erinnern wir uns mit einer großen Ausstellung an Aufstände, die aber bereits den schalen Geschmack des Scheitern in sich trugen. Die dramatischen Ereignisse in Berlin bleiben eigentlich verborgen. Die Berliner Revolution steht zum einen im Schatten der anderen Jubiläen. 1948 -wir feiern 1998 die "Deutsche Mark", die Berliner "Luftbrücke" und damit die überstandene Blokkade, die "Frankfurter Dokumente", vielleicht auch den dreißigsten Jahrestag des ,,Prager Frühlings", den die Deutschen gerne vergessen, weil sie den "Pariser Mai" von 1968 für ihr eigenes "1968" halten, obwohl das "Achtundsechzig der Deutschen" eigentlich bereits ein Jahr früher, 1967, stattfand. Es ist zu befürchten: Was im Leben gilt, kann auch für ein Gemeinwesen gelten: Nicht nur die vielen Geburtstage führen unausweichlich zum Tod eines jeden Menschen. Wir sind seit einigen Jahren auch nach Kräften damit beschäftigt, die Erinnerung im Gedenken verschwinden zu lassen. Dabei wird offensichtlich, daß Gedenktage nach langer Zeit sogar zum Ende der Erinnerung führen können. Das muß nicht immer so sein. Zuweilen brechen Erinnerungen glücklicherweise auch 21 Vgl. dazu Dieter Dowe u. a., Hrsg., Europa 1848: Revolution und Refonn, Bonn 1998. Vgl. Jürgen Kocka, Die europäischste Revolution, in: Der Tagesspiegel v. 15. 3. 1998, Beilage S. 1. 22 Rüdiger Hachtmann, Berlin 1848: Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution, Bonn 1997; grundlegend ferner Manfred Gailus, Straße und Brot: Sozialer Protest in den deutschen Staaten unter besonderer Berücksichtigung Preußens 1847- 1849, Göttingen 1990.

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nach langer Zeit wieder auf. Dies geschah 1989 in Frankreich, als man sich 200 Jahre nach der Großen Revolution ganz grundsätzlich um die Bewertung dieser Umwälzung stritt, die als Geburt der Moderne gilt und schon deshalb die ganze Ambivalenz- ,,Modernität und Barbarei"- spiegelte, die diesem Begriff anhaftet. Historisch handelt es sich bei der "Großen französischen Revolution", die zwischen 1789 und 1795 als Ereignisverkettung stattfand, gewiß um das wohl am besten erforschte Ereignis der französischen Vergangenheit, 23 und es steht auch nicht außer Frage, daß diese Revolution der Ausgangspunkt der französischen Gegenwart war: Parteien, Verwaltungsstrukturen, Bildungssysteme nahmen in ihr den Ausgang. Die revolutionären Forderungen können uns bis heute bewegen und begeistern: Bürger- und Menschenrechte, mehr noch: der Anspruch auf die Universalisierung dieser Menschenrechte, darunter auch das Recht auf den Zugang zu Archiven, waren der Ausgangspunkt des Selbstbewußtseins einer Nation, die auch den anderen Volkern neue menschenwürdige Verhältnisse bringen wollte und in der Regel doch nur deren Nationalismus anfachte. Ganz Europa wurde mit Frankreich konfrontiert. Dies entschied in großem Maße über die Kosten des Umsturzes. Revolutionen und Gegenrevolutionen, großer Terror im Innern, Todesopfer bei den europäischen Kriegen, Entwicklungsverzögerungen, all dies ist bei einem Rückblick zu bewerten. Und natürlich fragte man sich immer wieder, wie eigentlich die Entwicklung in Frankreich und Europa ohne derartige Umbrüche verlaufen wären. Alexis de Tocqueville, ein Kind der Revolutionszeit, trieb die Frage nach dem Neuen im Alten, nach revolutionären Tendenzen vor der eigentlichen Revolution um. 24 Er wurde so zum vielleicht wichtigsten Theoretiker des nicht mehr revolutionär verwirklichten Wandels, der Evolution durch Reform. Stellen wir uns ähnliche Debatten im Hinblick auf die anderen Revolutionen vor, die unser Jahrhundert erschütterten, die Russische Oktoberrevolution, die chinesische Revolution, die ungarische Revolution des Jahres 1956, und versuchen wir Kosten und Folgen dieser Umbrüche abzuschätzen! Wir werden rasch begreifen, weshalb die in europäische Kontexte eingebettete deutsche Revolution des Jahres 1848 niemals in eine Reihe mit diesen entscheidenden Umbrüchen gestellt wird, mag man heute auch noch so sehr versuchen, ihre Folgen zu präzisieren und zu erhöhen. Weltgeschichtlich erreichen die Revolutionen des Jahres 1848 niemals die Bedeutung der anderen, weil sie nicht auf einen gesellschaftlichen Strukturwandel zielen. Sie wollen eine neue politische Struktur des Gemeinwesen schaffen. Dabei scheitern sie, und überdies ist ihr Scheitern zu offensichtlich, auch die sozialen und 23 Eberhard Schmitt, Einführung in die Geschichte der französischen Revolution, München 1976. 24 Alexis de Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution, verschiedene Ausgaben. Diese Frage nimmt wieder auf Manfred Hettling, Reform ohne Revolution: Bürgertum, Bürokratie und kommunale Selbstverwaltung in Württemberg von 1800 bis 1850, Göttingen 1990.

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ökonomischen Ursachen dieser Revolutionen sind zu komplex, um alle Faktoren auf einen Begriff- .,die Revolution" - zu bringen. Deshalb sind die Ereignisse jedoch nicht bedeutungslos, schon gar nicht derart unwichtig, wie es uns eine Berliner Stadtregierung zu suggerieren sucht, die sich die Chance entgehen ließ, dieser Revolution in Erinnerung und Gedenken, im Rückblick also, das Profil zu schärfen. In Frankfurt hat man diese Chance eher und besser genutzt, nicht zuletzt auch, weil sich hier bürgerschaftliebes Erinnerungsbestreben mit den Neigung der Stadt und des Landes zum offiziellen Gedenken verband. Unbestreitbar ist, daß uns diese Revolution kostbar zu sein hat, denn viele Versuche, eine zivile Gesellschaft zu errichten, haben wir Deutschen nun wahrlich nicht aufzuweisen. Überdies sind manche Umsturzversuche gescheitert, in ihren Umbrüchen fast steckengeblieben, weil es der Obrigkeit gelang, den Elan der Demokratisierung zu brechen, und dies gilt um so mehr, als die deutschen Revolutionen immer zugleich politische, soziale und kulturelle Umbrüche darstellen oder vorantreiben sollten, dabei die Umwälzung aber weniger vorantreiben als nachholen sollten. Dies vor allem belastet ihren Verlauf, denn Revolutionsbestrebungen reagieren auf Krisenerscheinungen, die immer auch das Versagen der politischen Führungsschicht spiegeln. Vielleicht tun sich deshalb Regierende in Deutschland so schwer, die deutschen Revolutionen zu feiern. Sie erinnern immer an das Versagen derjenigen, denen, mit Fichte zu sprechen, die "deutschen Dinge" aufgetragen waren und die sich ihrer Verpflichtung entzogen: 1871 kapitulierte der Liberalismus vor Bismarck, 1918 schafften es die Revolutionäre nicht, die Geheimräte abzuschaffen, 1932 flüchteten die Parteien aus ihrer Verantwortung und überließen es Hitlers Propagandisten Goebbels, die nationalsozialistische Machtergreifung als Vollendung der "deutschen Revolution" zu feiern, zugleich aber die Revolutionäre von 1918 als Novemberverbrecher zu titulieren. Wenn wir die Revolution von 1848 mit denen von 1918/1919 und der von 1989 vergleichen, dann fällt zunächst auf, wie positiv sie in der Regel trotz ihres Scheiteros bewertet wird. Sie war immer ein Eckstein der rückwärtsgewandten Prophetie, die der Historiker so gern betreibt und die man als das Charakteristikum seiner Arbeit bezeichnet hat. In der Tat kann er nur deuten, was sich ereignet hat, weil es sich ereignet hat, und die Eule der Minerva gilt deshalb fast als das Wappentier der Zunft. Die Bedeutung eines Ereignisses erschließt sich, so lautet dann die Maxime, aus dem Rückblick. Wer zurückschaut, ist aber nicht klüger, weil er nachfolgende Entwicklungen kennt, sondern er wäre klüger, wenn er vergangene Ereignisse auf Konstellationen beziehen kann, die gegenwärtig bestimmend sind. Wenn man rückschauend deutete, bekam 1848 seine Bedeutung deshalb zunächst von 1871 her, denn die Reichsgründung Bismarcks scheint die Einheit zu schaffen, für die angeblich die ,,Achtundvierziger" auf die Straßen zogen. Die Weimarer Reichsverfassung scheint die Freiheit zu bringen, die 1871 nicht verwirklicht werden konnte. Das Grundgesetz läßt hingegen wieder die Einheit vermissen, die 1871 angeblich verwirklicht wurde. Deshalb rückt dem Grundgesetz die Ver-

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fassungvon 1848 so nahe. Die DDR-Verfassung von 1949 steht dem Grundgesetz in dieser Hinsicht nicht nach, stellt sich wiederum in die Tradition sozialer Grundrechte, die sich als Defizit politisch-liberaler Grundrechtskataloge benennen lassen. Daran ändert sich 1968 und 1974 durch die neue DDR-Verfassung nicht viel, vielleicht nur die Tatsache, daß nun auch von der DDR-Führung eine sozialistische deutsche Nation proklamiert und die Teilung akzeptiert wurde. Faktisch geschah dies in der Bundesrepublik ja auch. Erst 1989 schlägt die Eule der Minerva wieder mit den Flügeln. Nun verlängern die Historiker ihre Gegenwart wieder mit kräftigen Strichen in die Geschichte zurück. 1989 wurde nicht so sehr gedeutet als geglückter Versuch einer Bevölkerung, sich von den Fesseln politischer Herrschaft zu befreien, sondern als die Erfüllung einer deutschen Nationalgeschichte, die auf die Gleichzeitigkeit von Freiheit und Einheit, von Einheit in Freiheit, von Freiheit in Einheit abzielte. Es waren vor allem Historiker, die nach 1989 immer wieder verkündeten, den Deutschen sei die Verwirklichung ihres Traumes von der glücklichen Verbindung von Freiheit und Einheit gelungen?5 Tröstlich ist nicht, daß dies heute ein wenig zurückhaltender gesehen wird, wenngleich es sogar geschichtspolitisch aktive Zeitdiagnostiker gibt, die weiterhin eine kräftigen Strich vom Harnbacher Fest über den 20. Juli 1944 und den 17. Juni 1953 zum 3. Oktober 1990 zeichnen. 26 Wie sagte Isaiah Berlin? "Geschichte ist das Bild, das wir uns von ihr im Kopfe machen?" Merkwürdig ist, daß in diesen Strichen zur deutschen Geschichte das Jahr 1848 und seine Revolution keine große Rolle spielte. Wenn überhaupt, dann war das Jahr 1848 Symbol für die nicht in Kraft getretene, in die Zukunft weisende Verfassung, keineswegs aber für einen Aufstand oder gar für den Versuch der Untertanen, selbst die politischen Dinge in die Hand zu nehmen. So ist das Gespür für die politische Eruption gering geblieben, die sich ereignete, als in vielen Residenzstädten Menschen auf die Straße gingen und von den Herrschern im Protest eine neue Regelung des für die Politik und das politische Verständnis grundlegendes Verhältnis zwischen Individuum, Gesellschaft und Staat27 verlangten. Um diese drei Sphären- das Individuum, die Gesellschaft und den regierenden Staat - kreist eigentlich alles Denken über Politik, und immer wieder haben Theoretiker darüber nachgedacht, wie sie diese Sphären verbinden, ohne die eine den anderen Sphären auszuliefern 28• Denn Ausgewogenheit des Verhältnisses zwischen dem Recht des Individuums auf seine Entfaltung und Würde, zwischen den Zwän2s Udo Wengst (Hrsg.), Historiker betrachten Deutschland: Beiträge zum Vereinigungsprozeß und zur Hauptstadtdiskussion, Bonn 1992. 26 So in Ansätzen Klaus Schroeder; Der 17. Juni 1953: Volkserhebung gegen Fremdherrschaft, in: Symposium zum Denkmal für die Ereignisse des 17. Juni 1953, Berlin 1996, S. 49 ff., ähnlich auch in Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 17. 6. 1997. 27 Vgl. Fritz Bauer u. a., Widerstandsrecht und Widerstandspflicht des Staatsbürgers, Drei Vorträge, Frankfurt/M. 1962, S. 41 ff. 28 Ernst-Wolfgang Böckenförde, (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, Darmstadt 1976.

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gen, die Gesellschaften erzeugen, zwischen dem Druck politischer Herrschaft ist entscheidend für den Grad der Freiheit, die in einem Gemeinwesen vorhanden ist. In der Revolution von 1848 wird die Frage nach dem Verhältnis dieser Sphären erstmals staatsorganisatorisch umgesetzt. Denn zum ersten Male wurden im Vormärz auf politische Konsequenzen drängende Versuche unternommen, diese Sphären in politisch-praktischer Weise zu definieren, jede einzelne Sphäre auf die jeweils anderen Bereiche zu beziehen und sie so zu organisieren, daß die Stabilität des einen Bereiches den des anderen zur Voraussetzung hat. Potentiell strebt jede Sphäre dahin, die andere zu beeinflussen. Eine Vergesellschaftung des Staates führt unweigerlich zur Durchstaatlichung der Gesellschaft, diese entwertet den Menschen. Illustrieren läßt sich dies an den diktatorischen Systemen unseres Jahrhunderts. Sie verstanden sich als Bewegungen und zielten auf den Staat; hatten sie sich seiner Institutionen bemächtigt, dann veränderten sie die Gesellschaft, proklamierten einen neuen Menschen und entwerteten das Individuum: "Du bist nichts, Dein Volk ist alles", war zu lesen, "Wir wollen neue Menschen machen", las man über Schultüren in SBZ und DDR, und wenn westdeutsche Abiturienten sich gleichzeitig den Kopf über einen dumm-dumpfen Satz wie: "Kritik am Staat, die steht Dir zu, doch denk daran, der Staat bist Du!" zu zerbrechen hatten, dann war auch hier tendenziell die Gefahr der Verschränkung von Sphären spürbar. Dabei hätte die Verfassung mit ihrem ersten Satz ganz anderen Stoff geboten: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt". Da finden wir in einem knappen Zweisatz das für einen freiheitlichen Verfassungsstaat grundlegende Organisations- und Verpflichtungssystem, das wir in den vergangenen Jahren nicht selten zu schnell in den politischen Regelungsprozessen preisgeben haben. Erstmals wird in Deutschland im Vormärz die Frage aufgeworfen, wie sich die Sphären von Staat, Gesellschaft und Individuum trennen und doch aufeinander beziehen lassen. Gelöst wird sie erst mehr als einhundert Jahre später, nach vielen Rückschlägen. Und fragil bleibt dieses Verhältnis immer. Das Atemberaubende in den Märztagen ist, daß trotz der großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, trotz der Finanznot des Staates, trotzder Repression durch Zensur und Polizei, durch Spitzel und Unzufriedenheit der jüngeren Beamten, die im Vormärz keine festen Anstellungen bekamen, diese großen Fragen politischer Ordnung niemals aus dem Blick schwanden. Das scheint mir deshalb ein Kennzeichen der Revolution von 1848 zu sein: Das Bürger begreifen, daß sie ihre politischen Verhältnisse gestalten, daß sie selbst die Grundstrukturen der Entscheidungsprozesse festlegen, daß sie ein Gemeinwesen konzipieren mit Grundrechten, mit Rechtsstaatlichkeit, mit Wahlrecht und politischer Verantwortung der Exekutive, mit einen klaren Verständnis von der Legislative, mit freier Presse und freien Vereinigungen, und daß sie für dieses Gemeinwesen verantwortlich sind. Dies alles sind keine Errungenschaften, die der Verfassung zugesprochen werden, die wir mit dem Zusammentritt des Paulskirchenparlaments 7 FS Krause

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im Mai feiern werde - dies sind Ordnungsvorstellungen, die in der Mitte der Bevölkerung, in Leseklubs, an Stammtischen, in kleinen Zeitungen und Zeitschriften, von -ja die gab es damals - aufgeklärten Beamten entwickelt wurden. Hier einige Belege und Illustrationen, ganz willkürlich, ganz unzusammenhängend. Es reicht der Blick auf ein Dokument aus der Fülle der revolutionären Programmschriften.29 Südwestdeutsche Demokraten verlangten in Offenbach am 10. September 184730 von Ihrer Regierung, sie möge sich lossagen von den Karlsbader Spitzel- und Zensurbeschlüssen, verletzten sie doch "gleichmäßig unsere unveräußerlichen Menschenrechte". Sie verlangten Preßfreiheit, Gedankenfreiheit- nein, man muß das genau lesen: sie proklamieren "das unveräußerliche Recht des menschlichen Geistes, seine Gedanken unverstümmelt mitzuteilen". Sie verlangten Gewissens- und Lehrfreiheit, wirklich in dieser Reihenfolge, und sie setzten noch einmal mit der Forderung nach: "Keine Gewalt dränge sich mehr zwischen Lehrer und Lernende". Sie legten ein klares- wie heißt es heute modisch?- "antitotalitäres Bekenntnis ab", indem sie sich gegen den "gedankenpolizeilichen" Anspruch irgendwelcher Aufsichtsbehörden wandten: Die ,,Beziehungen" des Menschen, so heißt es, "zu seinem Gott gehören seinem innersten Wesen an und keine äußere Gewalt darf sich anmaßen, sie nach seinem Gutdünken zu bestimmen." Sie verlangten die Gleichwertigkeit des Glaubensbekenntnisses anzuerkennen, und sie forderten, "Den Unterricht scheide keine Konfession". verklausuliert wird hier die Überzeugung ausgedrückt, daß alle Menschen gleich und ihre Religionen gleichberechtigt seien. Hier wurde der Vollzug einer Emanzipation angesprochen, die immer wieder ins Stocken gekommen war und doch insgesamt über Zustand und Qualität einer Gesellschaft Auskunft gab: die Emanzipation der Juden. Man spürt, wie dieser Text lebt. Er atmet einen Zukunftswillen, ein ungeheures politisches Selbstbewußtsein. Und seine Energie zieht er gerade aus diesem Selbstbewußtsein. Die Versammelten sind so selbstbewußt, daß sie sich die Zivilisierung des Militärs vornehmen: "Wir verlangen Beeidigung des Militärs auf die Verfassung", proklamierten sie, und sie wissen, daß man dem Bürger, dem die allgemeine Wehrpflicht die Waffe in die Hand spielt, kein Unterdrücker ist. Wo, hätte es einen Eid wie den folgenden, gefordert 1847 in Offenburg, jemals schon vorher gegeben: ,,Der Bürger, welchem der Staat die Waffen in die Hand gibt, bekräftige gleich den übrigen Bürgern durch seinen Eid seine Verfassungstreue". Hier wird die bewaffnete Macht eingebunden, sie wird gezähmt durch das Bekenntnis zur Verfassung welche militärischen Traditionen liegen im Vormärz verborgen!

29 Waller Grab (Hrsg.), Die Revolution von 1848/49, Frankfurt/M. 1998; ders., Hrsg., Die Revolution von 1848: Eine Dokumentation, München 1980; Rolf Weber (Hrsg.), Revolutionsbriefe 1848/49, Leipzig 1973; Kar/ Obentlilnn (Hrsg.). Flugblätter der Revolution: Eine Flugblattsammlung zur Geschichte der Revolution von 1848/49 in Deutschland, Berlin (Ost)

1970. 30 Ernst Rudolf Huber (Hrsg.). Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1: Deutsche Verfassungsdokumente 1803-1850, Stuttgart 1961, S. 261 ff.

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Selbstverständlich fordern die Demokraten "persönliche Freiheit", selbstverständlich verlangten sie, die Polizei möge aufhören, Bürger zu bevormunden und zu quälen. Sie setzen auf die Zusammengehörigkeit der Menschen und Bürger, im Vereinsleben, im - wie es heißt- "frischen Gemeindeleben", durch Versammlungs- und Rederecht, im Recht auf Freizügigkeit - wörtlich: im "Recht des Einzelnen, sich zu bewegen und auf dem Boden des deutschen Vaterlandes frei zu verkehren." Und so geht es weiter: Volksvertretung beim Bund wird verlangt, was bedeutete, die Fürsten und ihre gesandten sollten nicht mehr unter sich sein. Nur auf dieser Grundlage war an Einheit zu denken, an ein, wie man sagte "Vaterland mit einer Stimme in diesen deutschen Angelegenheiten". Alles andere wurde daraus keineswegs abgeleitet, sondern war Begleitumstand und Voraussetzung: "Gerechtigkeit und Freiheit im Innern," waren eben nicht eine andere Priorität, sondern Bedingung und Umstand, Begleitumstand halt. Gerechte, progressive Besteuerung, Volksbewaffnung, eine für alle zugängliche Bildung durch Unterricht, deren Finanzierung, man traut den Augen kaum, "die Gesamtheit in gerechter Verteilung aufzubringen hat". Auf dieser Ebene wurde auch Gesetze gefordert, welche "freier Bürger würdig sind". Der Landesherr sollte nicht mehr Gerichtsherr sein, sondern die Rechtsprechung war so anzulegen, daß letztlich der Bürger den Bürger richten sollte. Dieses klingt angesichts der späteren Erfahrungen mit "Volksgerichten" beängstigend. Gemeint war die Entlassung der Rechtsprechung aus staatlicher Kontrolle. Denn die Gerechtigkeitspflege sei Sache des Volkes, behauptete man, und zog den Schluß, Geschworenengerichte zu bilden. Diese Demokratisierung der Justiz scheint zwar im Widerspruch zu Prinzipien der Gewaltenteilung zu stehen, aber nur scheinbar, denn mit dieser Forderung war noch keineswegs gesagt, daß die Teilung der Gewalten aufzuheben sei. Im Gegenteil: In der Gesetzgebung waren Repräsentanten der Bevölkerung tätig, die nicht an Aufträge gebunden waren, sondern allein ihrem Gewissen folgen sollten. Sie waren also unabhängig von ständiger gesellschaftlicher Einflußnahme und staatlichem Druck. In der Rechtsprechung waren Menschen tätig, die sich auf das Gesetz zu beziehen hatten - auf Gesetze, die nicht mehr den Wunsch des Herrschers spiegelten, sondern den Willen einer aus dem Prinzip der Volkssouveränität hervorgegangenen Legislative. Man spürt, wie die Sphären unabhängiger werden, so sehr sie verbunden bleiben. Auch die sozialen Verhältnisse rückten immer wieder in den Kreis der Forderungen, etwa, wenn die ,,Ausgleichung des Mißverhältnisses zwischen Arbeit und Kapital" verlangt und erklärt wurde, die Gesellschaft sei dafür verantwortlich ,.schuldig" sagte man-, die Arbeit zu heben und zu schützen." Kernpunkt der Forderungen war aber die Politik. Deshalb verlangte man eine ,.volkthümliche Staatsverwaltung". Wörtlich: ,,Das frische Leben eines Volks bedarf freier Organe. Nicht aus der Schreibstube lassen sich die Kräfte regeln und 7•

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bestimmen." Dies richtete sich gegen die Bürokratie, die Herrschaft aus dem Büro heraus, gegen die Beamtenherrschaft Hier lag die Spitze der Forderungen: An die Stelle der ,.Vielregierung" der Beamten trete die Selbstregierung Volkes". Die Folge werde die Abschaffung der willkürlichen Vorrechte, der Privilegien, sein. Hier wurde nicht ausführlich zitiert, um durch anachronistische Formulierungen zu erbauen. Unmittelbar spürbar ist die Aktualität vieler Forderungen. Diese Aktualität ist keine Folge einer präsentistischen Argumentation, einer Anverwandlung gegenwärtiger Empfindungen und Stimmungen, sondern spiegelt ein grundsätzliches Problem. Im Vormärz formiert sich ein neues politisches Selbstbewußtsein, welches sich grundlegend von den Artikulationen des Willens unterscheidet, die wir aus den vorangegangenen Jahrzehnten zwischen Befreiungskriegen und Biedermeier kennen. Diese Jahre waren gekennzeichnet durch Mißtrauen- Kotzebue -, durch den Zynismus der Herrschenden - Metternichs System -, die auf ihre Bündnisse setzten und darauf vertrauten, Revolutionen dauerhaft eindämmen zu können. Sie waren gekennzeichnet durch den raschen Umschlag des Opferwillens, der in der Befreiungszeit spürbar war, in die Innerlichkeit des Biedermeiers, in die Lähmung der Ansätze zur Selbstverwaltung nach den großen preußischen Reformen.Gegen starke Widerstände formiert sich im Vormärz ein neues Selbstbewußtsein, das an unglaublicher Schlagkraft gewinnt, weil es sich Kanäle schaffen kann, die eine Artikulation von Vorstellungen erleichtern, die das Gemeinwesen betreffen. Denn mit der Presse, mit Flugblättern, mit Straßendemonstrationen erwachsen Organe der Verständigung über politische Ziele. Es bilden sich Vereine, die auf die Beeinflussung des öffentlichen Willens zielen und sich in Parteiungen scheiden. Diese Parteien wollen nicht mehr für die Gesamtheit des Volkes eintreten, sondern sie verstehen sich als Organe politischer Konkurrenz - Monarchisten, Republikaner, Konstitutionalisten, Liberale, Konservative und Reaktionäre 31 drängen auf den politischen Massenmarkt, auf dem sich der stumme, unmündige, willige Untertan allmählich in einen Staatsbürger verwandelt. Sie können politisch sein, weil sie ein Gespür für die Notwendigkeit entwickeln, die private Sphäre zu schützen. Grundrechte dienen nicht nur wie Menschenrechte der Proklamation des Anspruchs politischer Menschen, sondern sie setzen dem Zugriff staatlicher Einrichtungen Grenzen. Bereits im Spätsommer 1847 wird so in Offenbach ein Ton angeschlagen, der sich wenig später in Heppenheim verstärkt und Anfang 1848 dann auf eine Steigerun drängt. Denn mündige Bürger formulieren den Anspruch auf Mitverwaltung, auf Selbstverwaltung. Sie machen insofern etwas sehr Revolutionäres, als sie ein System fordern, welches Selbstregierung ermöglicht. Selbstregierung - kann man denn sich selbst regieren? Bisher wurde man regiert, und wir hängen bis heute eigentlich an diesem Bild. Demokratie ist, streng 31 Vgl. Günter Wollstein, Deutsche Geschichte 1848/49: gescheiterte Revolution in Mitteleuropa, Stuttgart 1986.

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betrachtet, eine Staatsform, mit der und durch die Menschen über sich selbst Herrschaft ausüben. Es entsteht eine Herrschaftsordnung, in welcher- der Althistoriker Christian Meier hat es ausgedrückt- "Herrschaft bei sich selbst bleibt". Politische Verpflichtung wird so zur Selbstverpflichtung. Jeder sich selbst Regierende ist seiner eigenen, von ihm und seinem Willen ausgehenden Regierung unterworfen. Er wird nicht mehr beherrscht, bestenfalls läßt er herrschen. In der Tat haben wir zu oft vergessen: Jeden Polizisten an der Ecke leisten wir uns. Dies ist ein altes Bild. Wir kennen es aus der antiken Dernokratietheorie. "In welchem Umfange, mit welcher Konsequenz habe ich Gesetzen zu gehorchen, die ich selbst verantworte". So etwa erfragte sich Sokrates. Er begründete das Prinzip politischer Verantwortung und Schuldfahigkeit, das die Mitläufer totalitärerer Systeme verdrängen. Lieber bekennen sie sich zum Kadavergehorsam als zu ihrer Verantwortung für Gedankenlosigkeit, Feigheit, Verbrechen. Sokrates hingegen unterwarf sich in letzter Konsequenz den Folgen jener Bestimmungen, die er auch verantwortete. Wie können wir, so fragen wir seit mehr als zweitausend Jahren, ein System entwickeln, welches Herrschaft zeitlich begrenzt, welches die Voraussetzungen für eine ständige Anpassung der Herrschenden an veränderte Stimmungen schafft und durch seine Organisation die Konzentration von politischer Macht verhindert? So fragte sich John Locke und konzipierte die Grundlinien einer Civil Society, einer Zivilgesellschaft, in welcher der Staat seine Funktion durch die Gesellschaft bekommt. Wie können wir die Rechte von Menschen denken, die dem Staat vorausgehen? Dies fragten sich die Revolutionäre im Jahre 1789 und deklarierten Menschenrechte. Mit den Diskussionen des Vormärz kommen alle diese Problerne endgültig in Deutschland an. Sie werden artikuliert, sie werden verbreitet und ergreifen die Köpfe von Menschen, die bisher vor allem Untertanen waren, denen der Geist einer Zivilgesellschaft aber schlagartig deutlich gernacht werden konnte. Deshalb gingen sie auf die Straße. Die Tragik dieses Jahres war, daß dieser Geist nicht umgesetzt wurde. Denn in Deutschland herrschte noch das monarchische Prinzip, also die Vorstellung, daß letztlich König, Gottesgnadenturn und Krone die höchste Souveränität verkörperten und legitimierten. Mit der Volkssouveränität wurde ein ganz anderes Prinzip proklamiert. Der Kampf zwischen Regierung und Volk wurde 1848 I 49 noch nicht entschieden, weder in den theoretischen Diskussionen noch in der Verfassungspraxis. Staat und Gesellschaft standen sich weiterhin gegenüber, in den Köpfen der Theoretiker so unvermittelt wie in der Praxis. Im Vormärz beginnen aber Versuche, diese Sphären zu verschränken und zu versuchen, die Trennung nicht aufzuheben, sondern vor allem "Scharniere" (Theodor Schieder) einzuziehen, mit denen politische Artikulation und politische Mobilisierung zur Bündelung von Stimmen werden kann, ohne das Prinzip totaler Mehrheitsherrschaft zu etablieren. Deshalb hat nichts so die Revolution von 1848 gezeichnet wie der Versuch, sie allein von natio-

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nalen und sich dabei auch nationalistisch übersteigemden Forderungen zu bewerten. Denn die zivilgesellschaftliche Stoßrichtung ist Teil der Ambivalenz dieser Revolution. Bis dahin hatte es vor allem das Instrument der Eingabe durch Bittschriften, durch "Petitionen" gegeben, um Interessen zu artikulieren. In der Tat wird dieses Mittel auch in der Revolution eingesetzt. Eine Zeit der Massenpetitionen beginnt. Petitionen müssen organisiert werden, Massenpetitionen zumal. Dies verlangt eine Abstimmung mit Hilfe der Presse, in Vereinen, mit Gruppen, die sich mit politischen Programmen an die Öffentlichkeit wenden. Parteien entstehen. Was aber, wenn sich deren Meinungen nicht in der Willensbildung niederschlagen könnten? Dann erfüllt sich der Alptraum des 19. Jahrhundert, der Alp der Revolutionen. Der Dampfkessel bricht, Barrikaden werden gebaut, es kommt zu Aufruhr, zu Kämpfen, zu Toten. Bis dahin hatte sich in Deutschland immer die andere Seite durchgesetzt. Erstmals schlug die Stimmung um - Zigtausende waren in Berlin auf den Straßen, rissen die Straßen auf, zerrten Balken hervor, griffen zu den Waffen, setzten ihr Leben ein. Weit über 200 Menschen wurden allerdings nicht von Mitkämpfern erschossen, sondern von der bewaffneten Macht. Denn es war kein Bürgerkrieg, den Bürger miteinander führten, es war ein Aufstand der Bürger gegen die Vertreter des Staates. Schlagend wurde nun deutlich, wie wichtig es war, Macht und Herrschaft zu begrenzen. Nun ging es nicht mehr um Vielregierung, nicht mehr um Selbstregierung - es ging um die Verteidigung wohlerworbener Rechte und Ansprüche. Einer der Höhepunkte dieser Auseinandersetzungen war Berlin. Andere Städte folgten. Wien, Budapest, Paris - ganz zu schweigen von den Landstrichen im Südwesten Deutschlands. Die Revolution wurde zu einem europäischen Phänomen, aber sie scheiterte in den Hauptstädten, sie wurde auf dem Lande dann abschließend vernichtend geschlagen. Was bleibt? Im Vormärz verlor die deutsche Gesellschaft ihre Untertanengesinnung, gewiß nicht dauerhaft, aber erstmals in breiteren Ansätzen. Deshalb ist uns diese Zeit so nah, so verständlich. In der Revolution bemächtigte sich die Gesellschaft erstmals der Institutionen, mit denen sie sich eigentlich selbst steuern will. Sie tat dies, ohne einem neuen Totalitarismus zu huldigen, denn sie wollte eine Verfassungsstruktur schaffen, in der menschliche Würde in Grundrechten zum Ausdruck kam und staatliches Handeln band, in der man davon ausging, daß der Staat einem Zwecken zu dienen hätte und von diesem Zweck her sich selbst seine Grenzen setzte, über welche die Gesellschaft auch in Zukunft mit entschied. Das Gottesgnadentum war nicht mehr zu retten - es konnte nur noch seine Frist verlängern -bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Diese Revolution aber bekommt ihre Bedeutung so nicht allein vom Ende her, von Einheit und Freiheit, zumindest nicht ausschließlich. Sie gewinnt an Bedeutung, wenn man mit zivilgesellschaftlicher Perspektive an den Anfang zurück geht -da trafen sich in Offenbach im September 1847 politikwillige und politikfähige,

Anmerkungen zur Revolution von 1848

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verantwortungsbereite Menschen und formulierten ein Programm. Es ist bis heute aktuell geblieben, und wenn wir kritisch sind, dann spüren wir, wie in diesem Programm auch unserer Zeit ein Spiegel vorbehalten wird. Sind wir denn wirklich weiter? Wie steht es mit den Schranken der Politik, der Begrenzung des Staates und seiner Verpflichtung, die Würde des Menschen aktiv zu schützen, zu achten und zu verteidigen? Wie steht es mit der Zivilisierung unserer Armee, mit der Gewaltenteilung und der Sicherheit von Grundrechten? Bleibt ein letzter Satz zu betonen: ,,Jedem sei die Achtung freier Mitbürger einziger Vorzug und Ruhm" schrieben die Revolutionäre 1847. Hier werden Konturen einer Gesellschaft deutlich, die wir nicht selten als "Bürgergesellschaft" bezeichnen. Sie ist nicht zu verwechseln mit der civil society, denn in dieser geht es um das Verhältnis zwischen Gesellschaft, Regierung und Einzelnen, in jener um die Eigenschaften der Bürger und ihrer Fähigkeit zum vertrauensvollen Miteinander, zur Hoffnung, daß nicht jeder politische Ordnungskonflikt unter Gesichtspunkten der Macht entschieden wird. Wenn wir anschauen, wie man in der werdenden Bundeshauptstadt Berlin mit dieser Revolution und seinen Revolutionären umgegangen ist, die wir nach dem Umbruch 1989 eigentlich erstmals wieder richtig im Zusammenhang mit einem durch eine Null geheiligten Jahrestag feiern könnten in der durch die DDR-Führung verengten und mißbrauchten ehemaligen Gedenkstätte der Sozialisten, dann kann man nur zu dem Schluß kommen: Der preußische König Friedeich Wilhelm IV. war weiter, als er in seinem Aufruf nach dem 18. März erklärte: ,,Ein Volk, das die Gefahr nicht scheut . . ." Das waren seine Berliner. Er verneigte sich vor den Aufgebahrten auf dem Gendarmenmarkt, gezwungenermaßen, aber er verneigte sich. Wir haben das 150 Jahre später nicht in der gebotenen Selbstverständlichkeit geschafft und fast die Chance verspielt, einen ins Auge stechenden Platz in Berlin nach den Achtundvierzigern zu benennen. Straßennamen erinnern in Berlin eher an die Gegenrevolution als an die Aufstände und die Hoffnungen der Deutschen. Der spätere Kaiser Wilhelm I. hatte seinen Ruhm als "Kartätschenprinz" begründet. Die Badensehe Straße, an der lange Zeit die in der Erinnerung an den 18. März 1848 neu begründete Hochschule für Politik lag, wurde nicht nach dem Aufstandsversuch benannt, sondern sollte an dessen Zerschlagung erinnern. Machen wir das doch unseren französischen, italienischen, polnischen, belgischen, Österreichischen und ungarischen Nachbarn klar. Sie leben mit ihren Revolutionen und wissen, was sie ihr verdanken - wir aber lieben es viel mehr, an den akademischen Stammtischen, in den Talkshows, jenen Optionen nachzugehen, die alle den Aufstand zu Voraussetzung hatten. Die Deutung dieser Revolution als ein bürgerschaftliebes Ereignis könnte ein neues Verständnis begründen, das noch einmal den Versuch von Gustav Heinernano aufnähme, auch demokratisch-verfassungsstaatliche Traditionen in Deutsch-

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land zu begründen. Im Richtigen ist ohne Zweifel das Falsche angelegt: Nationalismus, Antisemitismus, die Preisgabe der Grundrechte gehört dazu wie das Mißtrauen der Gemäßigten, die auch als ,,Laue" bezeichnet werden, vor der Straße, der Menge, dem Pauper und dem Pöbel. Aber dies sind Entwicklungen, die nicht den Versuch diskreditieren können, die politischen Entwicklungen in die Hand zu nehmen und aktiv zu beeinflussen. In der Achtundvierziger Revolution drücken sich Bürgerbewußtsein und bürgergesellschaftliches Grundgefühl aus: Keine Gesellschaft, die immer wieder den Verlust von Werten und Geschichte in den Sonntagsreden ihrer Sinnstifter beklagen läßt, kann dies ausschlagen.

Föderalismus als politisches Bauprinzip für Europa Von Claus Schöndube ,,Aber alles deutet darauf hin, daß sich die Zeiten geändert haben und daß auf die Revolution der Ideen als legitime Folge die Revolution der Interessen folgen muß. Das XX. Jahrhundert wird die Ära der Föderation eröffnen, oder die Menschheit wird wieder durch ein tausendjähriges Fegefeuer gehen. Das wahre Problem, das es zu lösen gilt, ist in Wirklichkeit nicht das politische, sondern das wirtschaftliche Problem". P. J. Proudhon (Du principe federatif, 1863)

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil vom 12. Oktober 1993 über den Vertrag von Maastricht einen neuen Beitrag zur Frage der Rechtsnatur der Europäischen Gemeinschaft beigesteuert. Diese Frage nach der Rechtsnatur und damit auch nach der politischen Struktur des vereinten Europas ist nicht erst mit oder bei Gründung der Europäischen Gemeinschaft entstanden, sie ist auch viel älter als der Beginn der Europäischen Integrationspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Grunde ist sie immer wieder von fast allen Autoren behandelt worden, die sich in den vergangenen Jahrhunderten mit der Idee der Einheit Europas befaßten. Sieht man von allen hegemonialen und antidemokratischen Entwürfen ab, so waren es immer zwei Modelle, die die Gemüter bewegten: Die Konföderation (Staatenbund) und die Föderation (Bundesstaat), selbst wenn diese beiden Wörter nicht oder mit unterschiedlicher Bedeutung gebraucht wurden. Auch im Zuge der Gründung des Europarates 1949 und der Europäischen Gemeinschaften (1951 bis 1957) ist um diese Frage immer heftig gerungen worden. Die Anhänger der Föderation beschuldigen diejenigen, die das konfooerale Modell empfohlen, sie seien "genau die, welche nichts wollen. Sie wollen, daß die Staaten, deren Bürger sie sind, vollkommen souverän bleiben wie bisher. Die Konföderation ist, da sie über keinerlei Mittel verfügt, den Staaten, aus denen sie sich zusammensetzt, ausgeliefert. Es handelt sich mehr oder weniger um eine Allianz, die jederzeit durch lauwarme, abwesende oder sogar betrügerische Partner aufgelöst werden kann. Es besteht keine Föderation, wenn die Staaten, aus denen sie besteht, nicht auf einen Teil ihrer Souveränität verzichten und ihm den neuen föderalen Organismus übertragen haben" (Luigi Einaudi, ehemaliger italienischer Staatspräsident). Die Konföderalisten dagegen behaupteten: ,,Es ist eine Schimäre, zu glauben, man könnte etwas Wirksames schaffen, und daß die Völker etwas billigen, was außerhalb oder über dem Staat stehen würde. Gewiß trifft es zu, daß, bevor man das Europa-Problem in seiner Gesamtheit behandelt hat, gewisse mehr oder

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weniger supranationale Einrichtungen geschaffen werden konnten. Diese Einrichtungen haben ihren technischen Wert, aber sie haben und können keine Autorität und politische Wirksamkeit besitzen. Solange nichts Ernstliches geschieht, funktionieren sie ohne viel Komplikationen, doch sobald ein dramatischer Umstand eintritt oder ein großes Problem zu lösen ist, stellt man fest, daß diese oder jene hohe Behörde für die verschiedenen Nationen ohne Autorität ist, und daß nur die Staaten über eine solche verfügen" (General de Gaulle, ehemaliger französischer Staatspräsident). Bei der Gründung und dem Aufbau der Europäischen Gemeinschaft hat man eine Antwort auf diese Frage umgangen. Vielmehr ging man pragmatisch vor und schuf eine Gemeinschaft ,.sui generis", indem man Elemente beider Rechtsfiguren finden kann. Walter Hallstein, der erste Präsident der EWG-Kommission (der sicherlich zu den Föderalisten zu zählen ist), hat im politischen Kampf um die Entwicklung der Gemeinschaft die Alternative Konföderation I Föderation als ein ,.falsches Problem" bezeichnet - die Integration Europas folge anderen Gesetzen als denen des 19. Jahrhunderts. Immer wieder unterstrich er, daß Integration auf Recht gegründet sein muß, daß sie eigene Organe brauche, die die gemeinsamen Aufgaben wahrnehmen können und schließlich, daß durch diese Organe sowohl die Gemeinschaftsinteressen schöpferisch gestalten, aber auch für einen harmonischen Ausgleich der gegeneinander laufenden Einzelinteressen sorgen können, wobei er auf die ,.Sachlogik" und den ,.Sachzwang" baute, die die begonnene (Teil-)Integration voran treiben würde und weitere Gebiete - über die Wirtschaft hinaus - in die integrale Entwicklung mit einbeziehen würde, nicht zuletzt deshalb, weil sie im Interesse der Mitgliedstaaten liegen würde. Hallstein hat in einem gewissen Sinne recht behalten - die Europäische Gemeinschaft hat sich entwickelt und ihre Zuständigkeiten vergrößert, die Organe, vor allem das Europäische Parlament, erhielten de facto und de jure immer mehr Rechte. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ist die EG heute ,.ein Staatenverbund zur Verwirklichung einer Europäischen Union der staatlich organisierten Völker Europas, der supranational organisiert ist" und die ihr übertragenen Hoheitsrechte in eigener Verantwortung wahrnimmt, wozu sie allerdings vorher von den Staatsvölkern der Mitgliedstaaten bzw. durch die nationalen Parlamente legimitiert werden müssen. Auch das Bundesverfassungsgericht vermeidet die Unterscheidung zwischen konföderal und föderal, aber es räumt der EG eine supranationale Gewalt ein, und darüberhinaus stellt es fest, daß die demokratische Legitimation - innerhalb des institutionellen Gefüges der Gemeinschaft - zunehmend von dem von den Bürgern gewählten Europäischen Parlament ausgeht. Diese Ausweitung der Kompetenzen der EG - insbesondere die Bemühungen der Umwandlung der Gemeinschaft in eine Europäische Union - hat zu heftigen

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Debatten in den Mitgliedsländern der EG geführt, vor allem auch in den deutschen Bundesländern, die den Kernbereich ihrer Eigenständigkeit immer mehr bedroht sahen und eine Aushöhlung der föderalen Ordnung in der Bundesrepublik befürchteten. Das Wort von der Wahrung der Subsidiarität wurde zum Schlagwort und fand Aufnahme im Vertrag von Maastricht über die Europäische Union. Kein Zweifel, was mit der EG entstanden ist, ist ein fOderaler Staatenverbund neuartiger Prägung. Nicht mehr Konföderation, aber noch keine Föderation sagen eine Reihe von Autoren, andere weisen darauf hin, daß diese Unterscheidung eine "falsche Frage" sei, da der Föderalismus einem Prozeß vergleichbar sei, der von losen Bünden und Verbindungen im Laufe der Zeit zu immer festeren und differenzierten Gemeinschaften führt. Wenn also die EG eine föderale Staatenverbindung neuer Art ist, dann muß man auch die Frage stellen, welchen Wesensgehalt man dem Föderalismus zuordnet. Es sei nicht verschwiegen, daß es unterschiedliche Bilder eine föderalen Ordnung gibt. In Deutschland mit seiner staatlichen Ordnung versteht man im allgemeinen darunter ein staatliches, politisches Organisationsprinzip. Andere Autoren - etwa die Anhänger des sogenannten Integralen Föderalismus- sehen darin ein gesamtgesellschaftliches Organisationsprinzp, nach dessen Grundsätzen alle Lebens- und Wirkungsgemeinschaften umgestaltet werden sollen. Solche Entwürfe sind aber bisher im Rahmen der Einigung Europas nur von wenigen verfolgt worden; die Politik der Einheit Europas, also die politische Einigung Europas unter einem gemeinsamen Rechtsgesetz folgte bisher den föderalistischen Entwürfen, wie sie in der Schweiz, in den USA und schließlich auch in Deutschland verwirklicht wurden (und die in der föderalistischen Diskussion häufig als "Hamiltonischer Föderalismus" - benannt wurde nach einem der Autoren der federalist papers - Alexander Hamilton). Dieser Föderalismus ist ein gesellschaftlich-politisches Strukturprinzip, das die Beziehungen der Menschen und ihre Gruppenbildungen auf der Basis größtmöglicher Freiheit zu organisieren versucht und trotzdem soviel Bindungen ermöglicht, daß alle Streitfragen und gemeinsame Probleme auf der Grundlage eines gemeinsamen Rechtes friedlich und durch politische Mittel und Institutionen gelöst werden können. Vor allem der transnationale Föderalismus - über die bisherigen Nationalstaaten hinaus - hat zum Ziel, die machtorientierte zwischenstaatliche Konfliktstrategie zugunsten einer Friedens- und kooperativen Entwicklungspolitik abzulösen. Der Föderalismus ist also bestrebt, auf allen Ebenen eine engere Verbindung aller Gemeinwesen zu umfassenden Verbänden herbeizuführen bis hin zu globalen Verbänden der freien und befriedeten Menschenorganisation unter größtmöglicher Freiheit seiner Glieder. Die wesentlichen Elemente dieses politischen Bauprinzips können wie folgt dargestellt werden.

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I. Der Föderalismus ist keine Ideologie Der Föderalismus ist keine Ideologie, die versucht, nach einem Weltbild die Realität zu erklären und zu ordnen. Vielmehr geht er stets vom Realen aus, wobei er versucht, entsprechend den Bedürfnissen und Wünschen gemeinsame Lösungen für gemeinsame Probleme zu finden. Das politische Problem, das es dabei zu lösen gilt, ist die Herstellung eines Gleichgewichts zweier antagonistischer Prinzipien: der Autorität, die notwendig ist, um Lösungen durchzusetzen, und der Freiheit, die es für alle Menschen und kleineren Gemeinschaften zu bewahren gilt. Deshalb bedarf die föderale Organisation des Prinzips der Subsidiarität, das heißt, die Gesellschaft ist von unten nach oben aufgebaut, und alle öffentlichen Aufgaben sollen möglichst bürgemah, das heißt soweit wie möglich jeweils von der untersten Gliederung gelöst werden, wenn sie dazu in der Lage ist. Das Prinzip der Subsidiarität muß ergänzt werden durch das Prinzip der Solidarität, das die Verantwortung aller für das Ganze umfaßt, und das ebenfalls mit jener Autorität (d. h. auch politischer und finanzieller Kompetenz und Macht) ausgestattet sein muß, um die Gemeinschaftsaufgaben auch lösen zu können. Selbstverantwortung der Glieder und Mitverantwortung für die Ordnung des Ganzen sind also die Eckpfeiler der föderalen Ordnung.

II. Der Föderalismus bedeutet Verwirklichung der Demokratie Der Föderalismus ist ohne Demokratie nicht zu verwirklichen. Demokratie bedeutet vor allem Geltung der Menschen- und Bürgerrechte, horizontale Gewaltenteilung, Herrschaft auf Zeit und freie Wahlen sowie Rechtsstaatlichkeit. Durch den Föderalismus wird die Einführung einer weiteren Ebene der Gewaltenteilung (innerhalb und über den bisherigen Nationalstaaten), nämlich die vertikale, hinzugefügt. Durch die transnationale Föderierung bisher souveräner Staaten entstehen ebenso neue Bindungen wie neue Freiheiten - über den bisherigen Nationalstaat hinaus. Bindung an Recht und Gesetz, auch für die bisherigen sogenannten souveränen Staaten, aber auch Freiheit für die Bürger, deren demokratische Rechte bisher an der Staatsgrenze aufhörten. Durch diese neuen Bindungen und Freiheiten wird die Demokratie weiterentwickelt in Richtung auf mehr Freiheit im lnnem durch subsidiäre Aufgabenverteilung und Freiheiten über den bisherigen Nationalstaat hinaus.

111. Der Föderalismus ist eine Revolution Wer die Revolution als die Einführung einer neuen Ebene von Freiheit definiert, wird in der föderalen Umorganisation der Staatenwelt durchaus einen revolutionären Akt sehen, obwohl sie mit reformistischen und evolutionären Schritten erreicht

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werden soll. Man könnte in dieser Umordnung der Staatenwelt - vom souveränen Nationalstaat zum Gliedstaat einer föderalen Staatenorganisation als den dritten Teil der großen, weltweiten demokratischen Revolution, die von den Schlagworten: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit gekennzeichnet ist, bezeichnen. Die Einführung der bürgerlichen Freiheiten war die große Aufgabe der Liberalen Bewegung, der Verwirklichung der Gleichheit, das heißt im weitesten Sinne der sozialen Gerechtigkeit, widmete sich die weltweite Arbeiterbewegung, die transnationale Brüderlichkeit ist die Aufgabe der föderalen Bewegung. Sie wird heute möglich und unumgänglich durch die zunehmende transnationale Interdependenz im technischen Zeitalter, die den Föderalismus zur freiheitlichen Überlebensbedingung dieses Zeitalters macht.

IV. Der Föderalismus setzt motorische Kräfte frei mobilisiert aber auch Widerstände ,,Die föderalistische Idee stellt ein dynamisches Prinzip dar, das alle menschlichen Aktivitäten verändert. Sie schafft nicht nur einen neuen politischen Rahmen, auch neue soziale, wirtschaftliche und kulturelle Strukturen". (Aus der politischen Entschließung des ersten Kongresses in Montreux vom 27.-31. 8. 1947)

Obwohl die Europäische Gemeinschaft noch nicht in allen Bereichen föderale Elemente entwickelt hat - so ermangelt es der Europäischen Union auch nach dem Maastricht-Vertrag noch an wirklicher Regierungsfaltigkeil und dem Gesamtsystem an wünschenswerter demokratischer Legitimation (ein Mangel, den die große Mehrheit des EP fast deckungsgleich mit dem Bundesverfassungsgericht kritisiert), läßt sich schon heute die Veränderung in den politischen Beziehungen und der Wandel innerhalb der EG deutlich erkennen. Mit der Europäischen Konvention der Menschenrechte wurde eine Zone der Demokratie geschaffen und gefestigt, die EG hat eine Friedenswirklichkeit entwickelt, in der die politischen und Wirtschaftskräfte für den gemeinsamen Fortschritt tätig sind (und nicht mehr vorwiegend für die Wohlfahrt eines Staates auf Kosten der Nachbarn). Die nationalen und ethnischen Minderheiten haben ein Maß an Freiheit erreicht, wie es im Zeitalter des Nationalismus und Imperialismus nie verwirklicht werden konnte. Motorische Kräfte wurden freigesetzt, die in wenigen Jahrzehnten ein Maß an Wohlstand entwickelt haben, wie es früher undenkbar gewesen wäre. Daß dabei neue Probleme entstanden sind - wie etwa die zunehmende Umweltzerstörung - soll dabei nicht verschwiegen werden. Aber die bisherige ultima ratio nationaler Politik - der Krieg - ist als politische Möglichkeit der Zwischenstaatenpolitik zwischen den EG-Ländem undenkbar geworden. Und der Krieg war bisher in Europa das größte soziale Elend. Allerdings stößt die föderale Umgestaltung auch auf Widerstände, dort nämlich, wo die neuen Freiheiten und Bindungen alte Privilegien aufheben oder begrenzen. Auch im ökonomischen Bereich wurden solche Widerstände sichtbar, vor allem dort, wo die freie Konkurrenz und die Prinzipien eines freien ge-

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meinsamen Marktes veraltete Strukturen und subventionierte Schutzzonen bedrängte.

V. Der Föderalismus ist das freiheitliche und friedliche Bauprinzip menschlicher Gesellschaft Der Föderalismus verspricht nicht das Paradies auf Erden, er hat wie alle Organisationsformen seine Schwächen und Gefahren. Sein System ist ständig in Gefahr, einerseits über einen übertriebenen Regionalismus in den Separatismus abzugleiten, ebenso wie über Zentralismus in einen neuen Totalitarismus zu verfallen. Das angemessene Gleichgewicht zwischen Freiheit und Bindung immer wieder herzustellen, bleibt also die ständige Aufgabe der gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Organe des föderalen Systems. Ebenso bedarf es der Abwehr jeglicher Versuche von Hegemonie, denn in einem föderalen Verbund sollen alle Glieder grundsätzlich gleichberechtigt sein, woraus sich die Verpflichtung ableitet, schwache Glieder besonders zu stärken und zu entwickeln. Auch hier gibt es in der Gemeinschaft mit den Strukturfonds (mögen sie noch so unvollkommen sein) neue Entwicklungen, die im rein nationalstaatlich organisierten Europa bisher undenkbar waren. Föderale Einheit bedarf deshalb der Toleranz gegenüber der Verschiedenheit, die es zu bewahren gilt. Kulturelle Verschiedenheit bereichert ein föderales System, aber es gilt, sie auch für ihre Bürger erlebbar zu machen - eine Herausforderung an die Kulturpolitiker, die bisher noch sehr im Rückstand sind - trotz zahlreicher Initiativen zur Begegnung vor allem junger Menschen.

VI. Die föderalistische Aktion heute: Mehr Demokratie, mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Solidarität Ebenso wie sich der Föderalismus weigert, jedwede Schemalösung zu akzeptieren, so muß eine auf Föderalismus zielende Politik die Entwicklung im Auge haben und entsprechend reagieren. Es war sicher richtig, daß die Europäische Einigungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg für eine Föderalisierung Westeuropas und später der sechs EGKS-Staaten eintrat, denn nur so konnte der Anfang gemacht werden, der heute seine Früchte trägt. Es wird auch in Zukunft richtig sein, dieses Konzept der abgestuften Integration weiter zu verfolgen, wenn anders zunächst kein Fortschritt möglich ist. Aber die Türen müssen dabei stets ftir andere offen bleiben. Nachdem das westliche Modell der Nachkriegspolitik nicht an seinen Widersprüchen gescheitert ist, sondern das östliche, bedarf es großer Solidarität mit den Volkern Mittel I Ost- und Osteuropas, um deren Weg in das gemeinsame demokratische Europa zu erleichtern. Es bedarf weiterer Anstrengungen, die demokratische Legitimation der Europäischen Organe zu verstärken und ihre Handlungsfahigkeit - im Rahmen der ihnen zugewiesenen Hoheitsaufgaben - zu erhö-

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hen. Und schließlich muß die Wirtschaft so entwickelt werden, daß sie umweltschonender und sozialgerechter über alle bisherigen Grenzen hinweg sich entwikkeln kann, ohne die Entwicklung selbst zu behindern. Auch dafür gibt es keine Schemalösung, es ist die Aufgabe der föderalen Organe, eine solche Politik zu entwickeln. Dabei kann auch im föderalen System auf die politische Kontroverse, auf den Wettkampf der Ideen und Lösungsvorschläge nicht verzichtet werden. Das bisherige föderale System der EG muß politischer werden, das heißt, es muß mehr als bisher sozialen Kräften Ausdruck verleihen können, und dies wird nur verwirklicht werden können, wenn das föderale Prinzip die Demokratie nicht begrenzt und umgekehrt. Das heißt: Auf allen politischen Handlungsebenen müssen entsprechend der föderalen Gewaltenteilung (mit ihrer Begrenzung von Befugnissen) das demokratische Prinzip voll verwirklicht werden, ohne Vorherrschaft eines Organs gegenüber einem anderen.

VII. Föderalismus und seine Gegensätze Im Jahr 1964- während der ersten Debatte in der Schweiz über einen möglichen Beitritt des Landes zur EWG - hat die überparteiliche Schweizer Europa-Union (die älteste föderalistische Organisation, gegründet 1934) in einer großen Debatte ihre Vorstellungen vom ..Föderalismus im kommenden Europa" entwickelt und in einer gleichnamigen Broschüre veröffentlicht. Nach Ansicht des Autors dieses Beitrages gibt es bis heute kaum eine bessere kurze Zusammenfassung des Föderalismus und seiner Gegensätze. Zu den Autoren der Schrift gehörten namhafte Wissenschaftler, aber auch viele Mitglieder der Organisation die sich in einer Umfrage dazu geäußert haben. Deshalb soll ein zentraler, allgemein gültiger Abschnitt diesen Beitrag beenden: "Föderalismus bedeutet die Gültigkeit der demokratischen Rechte und Freiheiten über die Einzelpersonen hinaus für die menschlichen Gemeinschaften aller Art und aller Stufen. Er ist das Organisationsprinzip, durch das der Einzelne und die menschlichen Gemeinschaften in höchstmöglichem Maße autonom sind und zugleich politische Verantwortung tragen und mittragen können. Diese Mitverantwortung wird gesichert durch ein garantiertes Mitspracherecht aller einzelnen Menschen und Gemeinschaften auf der Grundlage der Gleichberechtigung im Rahmen einer dauernden verfassungsmäßigen Rechtsordnung, die neben die vertikale Trennung der staatlichen Gewalten die horizontale Teilung der Gewalten stellt. Die Macht ist von unten nach oben aufgebaut, legitimiert und kontrolliert und wird stets so nahe am Einzelmenschen ausgeübt, wie es sinnvoll möglich ist. Nur dadurch, daß sie sich dieser rechtlich demokratisch gebundenen Macht unterstellen, können der Einzelne und die Gemeinschaften, insbesondere auch die Kleinstaaten, sich ihrer Unabhängigkeit im Eigenen und zugleich die Teilnahme an der Ordnung des Gemeinsamen und den gegenseitigen Beistand sichern. Der Föderalismus garantiert auf diese Weise gleichzeitig den Bestand und die Entwicklung des Bundes und der Bundesglieder. Nach außen schafft er die Kraft der Einigkeit und Einheit gegenüber geistigen, wirtschaftlichen und poli-

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tischmilitärischen Gefahren. Nach Innen gewährt er den Bürgern und einzelnen Staaten ein Höchstmaß an Freiheit und Sicherheit."

Damit hebt sich der Föderalismus ab: - von der unverbindlichen Kooperation, - von der unkontrollierten Technokratie, - vom gleichmacherischen Zentralismus, - vom hegemonialen Machtstreben. Eine unverbindliche Kooperation gibt der Staatengemeinschaft keine Sanktionsmittel in die Hand, mit. denen sie den gemeinsamen Beschlüssen und Verpflichtungen Achtung verschaffen kann. Maßgebend bleibt der gute oder schlechte Wille der einzelnen Staaten. Rechtliche Ordnung und demokratische Willensbildung können auf diese Weise nicht garantiert werden. Es herrschen Unsicherheit und Anarchie. Ein Bund auf dieser Grundlage wird durch die Willkür der einzelnen nationalen Staaten stets von der Auflösung bedroht, und die Bundesziele können nicht erreicht werden. Eine unkontrollierte Technokratie entsteht dann, wenn Bundesorgane geschaffen werden, die keiner demokratischen Aufsicht unterstehen. Es erfolgt keine demokratische Willensbildung von unten nach oben. Die Bundesorgane bleiben anonym und ungenügend legitimiert. Ohne in demokratischer Willensbildung gewonnene Richtlinien fehlt ihnen aber auch die Möglichkeit, sich gegen widerstreitende nationale Interessen durchzusetzen und das gemeinsame Recht zu behaupten. Ein gleichmacherischer Zentralismus gibt alle entscheidenden Befugnisse dem Bund, der alles dominiert. Damit nimmt er dem Bund aber gerade die stabile Basis in den einzelnen Volkern und Ländern. Es entsteht das Paradox: Um des Bundes willen werden die Staaten und andere Gemeinschaften - insbesondere die sprachlichen Minderheiten- die Glieder und Träger des Bundes sein müssen, geschwächt oder gar zerstört, und der Bund verfehlt sein Zweck. Ein hegemoniales Machtstreben will Führung auf der einen und Unterordnung auf der anderen Seite. Dadurch werden die Gleichberechtigung und die gemeinsame Verantwortung der Bundesglieder bei der Willensbildung aufgehoben. Dieses Machtstreben führt zu einem steten Wechsel von Zwang und Aufbegehren; es wird ein Herd neuer, nie endender Konflikte. Die Hegemonie ist die schlimmste Perversion der Einigung, denn sie vernichtet die Substanz sowohl des Bundes wie der Gliedstaaten. Kooperation und technische Organe, die noch ungenügend demokratisch legitimiert und kontrolliert sind, können unter Umständen als Übergangsstufen zu einer föderativen Einigung Europas unvermeidlich sein. Bei diesen Übergangsstufen bleibt aber immer noch der Weg zum Zentralismus und zur Hegemonie offen: jener verbirgt sich gerne hinter der Technokratie, dieser hinter der Kooperation.

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Zentralismus und Hegemonie können aber nie Übergangsstufen zur Föderation sein; sie stehen im radikalen Widerspruch dazu, denn sie vernichten das, was geeinigt werden soll. Gerade das Übermaß kooperativen Elementen, an Technokratie und intergouvernmentaler Zusammenarbeit in den Dunkelkammern der Räte und der hohen Exekutivbeamten haben die EG in eine Legitimationskrise geführt, die eine der Gründe ist, warum unsere Bürger es so schwer mit dem Maastrichter- und Amsterdamer-Vertrag haben. Was vor allem fehlt bei diesem Prozeß, ist das öffentliche, demokratische, verantwortliche Ringen um den besten Weg, kurzum: der nachvollziehbare demokratische Prozeß. Föderalismus und Demokratie und Transparenz Europa kann auf keines dieser Elemente verzichten, wenn der Aufbau Europas nicht Schaden leiden soll. Und wie anders also könnte die Einheit Europas organisiert sein, wenn nicht nach den Prinzipien eines freiheitlichen, demokratischen Föderalismus?

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111. Europa als Friedens~ und Wertegemeinschaft

"Meine Rache heißt Verbrüderung" Die f"axe Idee des Victor Hugo

Von Claus Schöndube Vorbemerkung: Im ersten Halbjahr 1981 strahlte der WDR eine zwölfteilige Sendereihe unter dem Titel ,.Der schwierige Weg nach Europa" aus. Diese Sendung befaßte sich mit wichtigen Fragen des Aufbaus Europas. Gesprächspartner in dieser Sendereihe waren neben einer Reihe von Wissenschaftlern und Fachleuten vor allem Abgeordnete des Europäischen Parlaments. Der Redakteur dieser Sendereihe war Willi Erfurt, Köln, Autor von zehn dieser Sendungen Claus Schöndube, Frankfurt am Main. Eingeleitet wurde diese Sendereihe durch eine Sendung über die Buropaideen des französischen Dichters Victor Hugo. In einem fiktiven Gespräch kommt der Dichter selbst zu Wort. Der französische Text mit den Originalzitaten wurde von einem wortgewaltigen belgiseben Schauspieler gesprochen, dessen Pathos und Tremolo an die Romantik erinnern sollte. Bei der Sendung wurde zunächst der französische Text eingespielt, der dann mit einer deutschen Übersetzung unterlegt wurde. Die Lehrer, die diese Sendungen im Unterricht einsetzen wollten, konnten einige Monate vorher ein Begleitheft bei der Redaktion anfordern, in dem zusätzliches Material und Einführungen zu den jeweiligen Sendungen enthalten waren. Wir drucken nachfolgend den Beitext und das Manuskript dieser Sendung ab. Die gesamte Sendereihe wurde 1982 in dem Buch: Claus Schöndube, Willi Erfurth, Der schwierige Weg nach Europa, Berichte aus dem Europäischen Parlament, Eine Sendereihe des WDR, im Europa Union Verlag, Bonn, (176 S.) veröffentlicht. Beitext "Hugo ist verrückt." Am 17. Juli 1851 gab es in der französischen Nationalversammlung, dem französischen Parlament, große Aufregung. Einer der Abgeordneten hatte durch eine Rede die Mehrheit seiner Kollegen entweder erzürnt oder erheitert. ,.Das französische Volk", so donnerte dieser Redner damals in den Saal, ,.hat durch Schaffung der Republik und durch Einführung der Menschenrechte, inmitten dieses monarchischen Kontinents, den Grundstein des gewaltigen Gebäudes der Zukunft gelegt, das eines Tages die Vereinigten Staaten von Europa heißen wird."

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Das stenographische Protokoll verzeichnet an dieser Stelle langanhaltendes Lachen und zahlreiche Protestrufe. "Die Vereinigten Staaten von Europa! Was für eine Idee, welche Torheit," rief der Abgeordnete Mole, und der Abgeordnete de Montalembert meinte gar: ,,Die Vereinigten Staaten von Europa? Das ist ein starkes Stück. Hugo ist verrückt." Dieser Spott und dieser Zorn galten also dem großen französischen Dichter Victor Hugo, der viele Jahrzehnte seines Lebens unverdrossen das Ideal des vereinigten Europas in Wort und Schrift beschwor. Er war nicht der erste - die Idee der europäischen Einigung hat eine lange Geschichte. Man muß schon weit in der Zeit zurückgehen, um an ihren Anfang zu kommen.

I. Das Streben nach dem vereinigten Europa wurzelt im Mittelalter Vor 700 Jahren- an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert- wurden die ersten Europa-Pläne geboren. In dieser Epoche begannen sich immer mehr die dynastischen Sonderinteressen zu regen, die das trotz staatlicher Teilung erhalten gebliebene Band der geistigen Einheit Europas sprengten. Je mehr sich im Verlauf der Jahrhunderte die Staaten voneinander abgrenzten und schließlich das Streben zum souveränen Nationalstaat zum höchsten Ideal wurde, umso zahlreicher wurden auch die Pläne und Vorschläge zur europäischen Einheit, mit dem Ziel, durch eine zwischenstaatliche und fooerale Organisation in Europa den Frieden dauerhaft zu sichern. Aber alle diese Pläne, zu deren Autoren Dante und Pierre Dubois, Sully und der Böhmenkönig Podiebrad, William Penn und der Abbe de Saint-Pierre, Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant, Guiseppe Mazzini, Pierre-Joseph Proudhon und Friedrich Nietzsche gehörten, blieben unerfüllte Hoffnungen, von den Mächtigen ihrer Zeit entweder nicht nur Kenntnis genommen oder belächelt. So etwa schrieb Friedrich der Große in einem Brief über den Buropaplan des Abbe de Saint-Pierre an seinen Freund Voltaire: ,,Der Abbe von Saint-Pierre, der mich der Ehre eines Briefwechsels mit seiner Person für würdig hielt, hat mir ein schönes Werk über die Art und Weise, wie in Europa der Friede wiederhergestellt werden könnte, zugesandt. Die Sache ist sehr praktisch - um ihr zum Erfolg zu verhelfen, bedarf es nur der Zustimmung Europas und einiger anderer Kleinigkeiten."

ll. Neue Impulse im 19. Jahrhundert Erst am Vorabend des Zeitalters der Weltkriege formierten sich erste politische Bewegungen für dieses Ziel. Die Friedensbewegung entstand, in der die Gründung eines europäischen Bundes als dauernder Friedenszustand ebenso leidenschaftlich diskutiert wurde wie in großen Teilen der Arbeiterbewegung, die aus internationa-

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!er Solidarität ebenfalls nach Wegen zur dauerhaften Friedenssicherung suchten. Trotz gewisser Anfangserfolge im Bereich der großen Politik um die Jahrhundertwende - wie die Raager Friedenskonferenzen und die Errichtung des Raager Schiedsgerichtshofes - schlidderte Europa in den Ersten Weltkrieg. Von allen denen, die vor dem Ersten Weltkrieg die europäische Einigung als Alternative europäischer dynastischer und nationalistischer Politik anstrebten, ist der französische romantische Dichter Victor Hugo im 19. Jahrhundert wohl der, der sie mit der größten Leidenschaft und Beredsamkeit gefordert hat.

m. Kurzer Lebenslauf von Victor Hugo Victor-Marie Hugo wurde am 26. Februar 1802 in Besancon geboren und stammt, wie er selbst sagt, "aus bretonischen und lothringischem Blut". Zwischen 1820 und 1840 schrieb er eine Reihe von Gedichtbänden, Romanen und Dramen, die der Romantik in Frankreich zum Siege verhalfen, so daß er auch in der Folgezeit als "der" französische Romantiker galt. Sein politisches Denken und Wirken, das hier vor allem interessiert, entwickelte sich im Laufe seines Lebens, von der innenpolitischen Betrachtung hin zum außenpolitischen Engagement, vom konservativen Monarchisten zum sozial engagierten demokratischen Republikaner, vom napoleonischen Generalssohn zum Streiter für den Frieden. 1845 wurde er Pair von Frankreich; nach dem Staatsstreich Napoleons m. am 2. Dezember 1851 mußte Victor Hugo für 19 Jahre ins Exil gehen. Nach der Schlacht von Sedan und dem Sturz Napoleons III. kehrte er nach Frankreich zurück, wo er zum Deputierten in die Nationalversammlung gewählt wurde. Am 9. September 1870 hatte Hugo einen Appell an die Deutschen gerichtet, den Krieg nicht fortzuführen, denn der Kaiser sei beseitigt und das republikanische Frankreich reiche dem deutschen Volk die Hand. Dieser Appell blieb - wie bekannt - ohne Erfolg. In zahlreichen Briefen, Schriften und berühmt gewordenen Reden, so als Präsident des Pariser Friedenskongresses 1849 und anläßlich der Pariser Weltausstellung 1866 - um nur zwei Beispiele zu nennen -, setzte er sich für die Vereinigten Staaten von Europa ein. Am 22. Mai 1885 starb Victor Hugo hochgeehrt in Paris.

IV. Eine Rede für den Frieden - 1849 Von allen seinen Erklärungen ist wohl die Rede am bekanntesten geworden, die er als Präsident des Pariser Weltfriedenskongresses am 22. August 1849 gehalten hat. In ihr heißt es: "Ein Tag wird kommen, wo die Waffen auch Euch aus den Händen fallen werden! Ein Tag wird kommen, wo ein Krieg zwischen Paris und London, zwischen Petersburg und Berlin, zwischen Wien und Turin ebenso absurd

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erscheinen und unmöglich sein wird, wie er heute absurd schiene zwischen Rouen und Amiens, zwischen Boston und Philadelphia. Ein Tag wird kommen, wo Ihr, Frankreich, Rußland, Ihr, Italien, England, Deutschland, all Ihr Nationen des Kontinents ohne die besonderen Eigenheiten Eurer ruhmreichen Individualität einzubüßen, Euch eng zu einer höheren Gemeinschaft zusammenschließen und die große europäische Bruderschaft begründen werdet, genau so wie die Normandie, die Bretagne, Burgund, Lothringen, Elsaß und alle unsere Provinzen sich zu Frankreich verschmolzen haben. Ein Tag wird kommen, wo es keine anderen Schlachtfelder mehr geben wird als die Märkte, die sich dem Handel öffnen, und die Geister, die für die Ideen geöffnet sind. Ein Tag wird kommen, wo die Kugeln und Granaten von dem Stimmrecht ersetzt werden, von dem ehrwürdigen Schiedsgericht eines großen, souveränen Senats, der für Europa das sein wird, was das Parlament für England, was die Nationalversammlung für Deutschland, was die Gesetzgebende Versammlung für Frankreich ist. Ein Tag wird kommen, wo man in den Museen eine Kanone zeigen wird, wie man heute dort ein Folterwerkzeug zeigt, voll Staunen, daß es so etwas gegeben hat. Ein Tag wird kommen, wo man sehen wird, wie die beiden ungeheuren Ländergruppen, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Vereinigten Staaten von Europa, Angesicht in Angesicht sich gegenüberstehen, über die Meere sich die Hand reichen, ihre Produkte, ihren Handel, ihre Industrien, ihre Künste, ihre Genien austauschen, den Erdball urbar machen, die Einöden kolonisieren, die Schöpfung unter den Augen des Schöpfers verbessern, um aus dem Zusammenwirken der beiden unendlichen Kräfte, der Brüderlichkeit der Menschen und der Allmacht Gottes, für alle das größte Wohlergehen zu ziehen!"

V. Daten zur Vorgeschichte der Idee Europa 25.12.800

Kar1 der Große wird in der Petersk.irche zu Rom zum Kaiser gekrönt.

843

Vertrag von Verdun; erste Teilung des Reiches Karls des Großen.

1306

Unter dem Titel "Von der Wiedergewinnung des Heiligen Landes" veröffentlicht Pierre Dubois sein Buropaprojekt

1308

Dante entwickelt anläßtich der Krönung Kaiser Heinrichs VII. durch Papst Clemens V. seinen Buropaplan "Über die Monarchie".

1462-63

König Georg Podiebrad von Böhmen schlägt König Ludwig XI. von Frankreich die Schaffung eines europäischen Staatenbundes vor.

1517

Erasmus von Rotterdam schreibt sein Buch ,,Die Klage des Friedens".

1638

Sully verfaßt die ersten Abschnitte seines "Grand Dessein" zur Einigung Europas.

"Meine Rache heißt Verbrüderung"

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1692-1694

William Penn schreibt sein Essay ,,Für den gegenwärtigen und zukünftigen Frieden in Euiopa ...".

1712

Veröffentlichung des Traktates "Vom ewigen Frieden" des Abbe de Saint-Pierre.

1761

Jean-Jacques Rousseau publiziert ein Urteil über das Projekt des Abbe de Saint-Pierre vom ewigen Frieden.

1789- 1795

Französische Revolution.

1795

Immanuel Kant läßt sein berühmtes Buch "Zum ewigen Frieden" erscheinen.

1814- 1815

Wiener Kongreß.

1815

Veröffentlichung des Buropaplanes des Grafen de Saint-Sirnon ,,Die Neuordnung der europäischen Gesellschaft oder von der Notwendigkeit, die Völker Europas unter Wahrung ihrer Unabhängigkeit zu einer einzigen politischen Körperschaft zusammenzuschließen".

1815 - 1816

Gründung der ersten Friedensgesellschaften in den Vereinigten Staaten und England.

1826

Veröffentlichung des 1799 geschriebenen Essays ,,Die Christenheit und Europa" von Novalis.

15. 4.1834

In Bern gründet der Italiener Giuseppe Mazzini den Geheimbund ,,Junges Europa".

1843

Veröffentlichung des Planes des englischen Theoretikers Jeremy Bentham "Plan for an universal and perpetual Peace", der bereits 1789 geschrieben worden war.

1843

Erster internationaler Friedenskongreß in London (es folgten die Kongresse 1848 in Brüssel, 1849 in Paris und 1850 in der Paulskirche in Frankfurt am Main).

1848- 1849

Anläßtich der Deutschen Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt am Main fordert der Abgeordnete Ruge (am 22. 7. 1848) die Errichtung eines europäischen Völkerkongresses.

17. 7. 1851

In der Französischen Nationalversammlung fordert Victor Hugo die Vereinigten Staaten von Europa.

1864

Gründung des Internationalen Roten Kreuzes.

1889

Bertha von Suttner veröffentlicht ihr Buch "Die Waffen nieder".

18. 8. 1898

Zar Nikolaus II. veröffentlicht ein Manifest und schlägt eine internationale Friedenskonferenz vor.

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Claus Schöndube

1899

Erste Friedenskonferenz in Haag, Gründung des Ständigen Gerichtshofes, und Abschluß der Haager Landkriegsordnung.

1907

Zweite Haager Friedenskonferenz.

I. 8. 1914

Kriegserklärung des Deutschen Reiches in Rußland. Beginn des Ersten Weltkrieges.

Literatur Foerster, Rolf Hellmut (Hrsg.): Die Idee Europa 1300-1946, dtv Dokumente Nr. 134, München 1963.

- Europa-Geschichte einer politischen Idee, München 1967. de Rougemont, Denis: Europa- Vom Mythos zw: Wirklichkeit, München 1962. Schöndube, Claus/ Ruppert, Christel: Eine Idee setzt sich durch, Hangelar bei Bonn 1964. Hugo, Victor: Gesammelte Werke.

Sendung (Manuskript: Claus Schöndube) Dienstag, dem 13. Januar 1981, von 11.15-11.25 Uhr/WDR 3 und von 15.05-15.25 Uhr/ WDR3 Freitag, dem 23. Januar 1981, von 9.25-9.45 Uhr/WDR 1 Dienstag, dem 5. Januar 1982, von 11.05-11.25 Uhr/WDR 3 Donnerstag, dem 7. Januar 1982, von 9.40-10.00 Uhr/WDR I Personen: Autor (erzählt), Sprecherin, Dolmetscher

Victor Hugo (französischer Dichter). Autor (erzählt): Am 17. Juli 1851 tagte die französische Nationalversammlung, also das gewählte Parlament Frankreichs. Ein Abgeordneter erregte durch seine Rede Aufsehen und Widerspruch (mit leichtem Hall). Victor Hugo (in Französisch): Le peuple francais a taille dans un granit indestructible et pose au milieu meme du vieux continent monarchique Ia premiere assise de cet immense edifice de l'avenir, qui s'appellera unjour les Etats-Unis d'Europe! Dolmetscher: Das französische Volk hat in der Mitte dieses alten monarchischen Kontinents die erste Schicht zu jenem gewaltigen Gebäude der Zukunft errichtet, das eines Tages die Vereinigten Staaten von Europa heißen wird. Autor (erzählt): Was er sagte, klang in den Ohren der meisten anderen Abgeordneten einfach ungeheuerlich. Der Abgeordnete sprach von den "Vereinigten Staaten von Europa" einem Zustand, dem wir heute- 130 Jahre später- zwar näher gekommen sind, ohne ihn jedoch erreicht zu haben.

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Die Wirkung seiner Rede auf die anderen Parlamentarier hat der Abgeordnete selbst beschrieben: Victor Hugo: Ce mot, !es Etats-Unis d'Europe fit un effet d'etonnement. II etait nouveau. II y eut une explosion de rires, auxquels se melaient des apostrophes de toutes sortes. Le represantant Bancel en saisit au passage quelquesunes et !es nota. Les voici: M. de Montalembert: ,,Les Etats-Unis d'Europe! C'est trop fort. Hugo est fou". M. Moli: ,,Les Etats-Unis d'Europe" Voila une idee! Quelle extravagance!" M. Quantin-Bauchart: "Ces Poetes !" Dolmetscher: Dieses Wort, die Vereinigten Staaten von Europa rief Erstauen hervor. Es war neu. Es gab stürmische Heiterkeitsausbrüche, in die sich Zurufe aller Art mischten. Der Abgeordnete Bancel hat einige aufgefangen und notiert: Zum Beispiel: ,,Die Vereinigten Staaten von Europa! Das ist ein starkes Stück! Hugo ist verrückt!", rief der Herr Montalembert. Die Vereinigten Staaten von Europa! Das ist man eine Idee! Welche Überspanntheit!", schrie Herr Mole. ,Diese Poeten', rief Quentin-Bauchart. Autor (erzählt): ,Diese Poeten' -damit wollte der Abgeordnete Quentin-Bauehart die Rede seines Parlamentskollegen Victor Hugo - des angesehenen Dichters -in das Reich schriftstellerischer Hirngespinste verweisen, in einen Bereich des Wunschdenkens. Dabei war die Forderung nach einem vereinigten Europa auch damals - in der Mitte des 19. Jahrhunderts - gar nichts Neues. Sprecherin: Die ersten Pläne zur Einheit Europas entstanden an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert. Mit der Ausbildung der Nationalstaaten, ihrer Abgrenzung gegeneinander und den damit verbundenen Kriegen wuchs auch die Zahl der Pläne, Europa einheitlich zu organisieren und so den Frieden zu sichern. Autor (erzählt): Hier wären viele Namen zu nennen- Politiker und Philosophen vor anderen. Ich habe als Beispief Victor Hugo herausgegriffen. Sprecherin: Victor Hugo wurde 1802 in Besancon geboren. Als Kind erlebte er das napoleonische Zwischenspiel nach der großen Französischen Revolution, die die Freiheitsfackel auf dem Kontinent entzündete und das demokratische Zeitalter einläutete. Zwischen ·1820 und 1840 schrieb er eine Reihe von Gedichtbänden, Romanen und Dramen, mit denen er relativ schnell die Aufmerksamkeit seiner Mitbürger auf sich zog. In dieser Zeit entwikkelte und veränderte er auch sein politisches Denken; aus dem konservativen Monarchisten wurde ein sozial engagierter Republikaner; vom napoleonischen Generalssohn wandelte er sich in einen leidenschaftlichen Streiter für Frieden und Freundschaft, für eine universelle Republik. Sein umfangreiches Werk, das er hinterließ, ist bis heute noch nicht vollständig veröffentlicht. Aber in Frankreichs modernster Bibliothek - im Pariser Centre Pompidou sind die meisten seiner Schriften zu finden. Autor (erzählt): Dorthin ging ich, um mich über diesen Vorboten einerneuen politischen Ordnung Europas zu informieren. Aus meterlangen Regalen holte ich mir Buch auf Buch Romane, Gedichte, Briefe, Reden, Zeitungsartikel, Fragmente - blätterte darin, las mich fest, vergaß die Gegenwart, wurde Zeitgenosse Hugos, stellte Fragen, suchte und fand die Antworten in seinen Schriften . . . im Zwiegespräch mit ihm ... (blättert ... nach einer Weile vor sich hin fragend ... ) M. Hugo ... mir fallt auf ... Sie haben sich vom Anhänger der Monarchie zum Demokraten gewandelt. Was bedeutet Ihnen die Demokratie?

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Victor Hugo: La democratie, c'est Ia grande patrie. Republique universelle,c'est patrie universelle. 11 y a quelque chose qui est audessus de l'allemand, du beige, de l'italien, de l'anglais, du francais, c'est le citoyen; il y a quelque chose qui est audessus du citoyen, c'est l'homme. Dolmetscher: Die Demokratie ist das große Vaterland; universale Republik ist das universale Vaterland. Es gibt etwas, was über dem Deutschen, dem Belgier, dem Italiener, dem Engländer, dem Franzosen steht: der Bürger; und etwas, was über dem Bürger steht: der Mensch (Pause). Autor (blättert hörbar -vor sich hinsprechend): Die Vereinigten Staaten von Europa - M. Hugo - Ihre Vision, Ihr Wunschbild. Welche Hoffnungen setzen Sie darauf? (blättert hörbar). Victor Hugo: Ob! ce sera Ia une realisation splendide! Plus de frontieres, plus de douanes, plus de guerres, plus d'armees, plus de proletariat, plus d'ignorance, plus de misere; toutes les exploitations coupables supprimees, toutes les usurpations abolies; Ia riebesse decuplee, le problerne du bienetre resolu par Ia science;-le travail, droit et devoir; Ia concorde entre le peuples, l'amour entre les hommes; Ia prenalite resorbee par l'education; Ia glaive brisee comme le sabre; tous les droits proclames et mis hors d'atteinte, le droit de l'homme a Ia souverainete, Je droit de Ia femme a l'egalite, le droit de l'enfant a Ia lumiere; Ia pensee, moteur unique, Ia matiere, esclave unique; Je gouvernement resultant de Ia superposition des lois de Ia societe aux lois de Ia nature, c'esta-dire pas d'autre gouvernement que Je droit l'Homme. Dolmetscher: Ob, das wird ein herrliches Werk sein! Keine Grenzen mehr, keine Zölle, keine Kriege, keine Armeen; kein Proletariat mehr, keine Unwissenheit, kein Elend; unterdrückt alle schuldige Ausbeutung; abgeschafft alle Gewaltanmaßung; der Reichtum verzehnfacht, das Problem des allgemeinen Wohlstandes durch die Wissenschaft gelöst; die Arbeit, Recht und Pflicht; Eintracht unter den Völkern, Liebe unter den Menschen; die Kriminalität beseitigt durch die Erziehung; alle Rechte proklamiert und unantastbar, das Recht des Menschen auf Selbstbestimmung, das Recht der Frau auf Gleichheit, das Recht des Kindes auf Bildung und Leben; der Gedanke, die einzige Triebkraft, die Materie, der einzige Sklave; die Regierung basiert auf den Gesetzen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, das heißt keine andere Regierung als die Menschenrechte. Autor (vor sich hinblätternd): Ein erstaunlicher Mann, dieser Victor Hugo. Während er dieses Zukunftsbild beschreibt, sitzt er bereits seit drei Jahren im Exil, das 19 Jahre dauern wird. Denn in Frankreich hat Louis Napoleon die Monarchie wieder hergestellt -drei Revolutionen hat Frankreich hinter sich, dreimal erlebte es die Restauration der gestürzten königlichen Herrschaft - und er glaubt immer noch unbeirrt an die Demokratie, an ein demokratisch geeintes Europa der Zukunft. Victor Hugo: L'avenur a plusieurs noms. Pour les faibles, il se nomme !'impossible; pour les timides, il se nomme l'inconnu: pour les penseurs et pour les vaillants, il se nomme !'ideal. Quoi! les Etats-Unis d'Europe libres et maitres chacun chez eux, mus et relies par une assemblee centrale, et communiant a travers les mers avec les Etats-Unis d' Amerique, ce serait l'inconnu! Mais on nous dit: - Et Ia transition! et les douleurs de l'enfantenement! et Ia tempete du passage du vieux monde au monde nouveau! un continent qui se transforme! l'avatar d'un continent! Vous figurezvous cette chose redoutable? Ia resistance desesperee des trönes, Ia

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colere des castes, la furie des annees, Je roi defendant sa Iiste civile, Je pretre defendant sa prebende, Je juge defendant sa paie, l'usurier defendant son bordereau, l'exploiteur defendant son privilege, quelles ligues! quelles luttes! quels ouragans! quelles batailles! quels obstacles! Preparez VOS yeux arepandre des !armes; preparez VOS veines averser SU sang! arretezvous! reculez! ... - Silence aux faibles et aux timides! !'impossible, cette barrede fer rouge, nous y mordrons; l'inconnu, ces tenebres, nous nous y plongerons; et nous te conquerrons, ideal! Vive Ia revolution future! Dolmetscher: Die Zukunft hat mehrere Namen. Für die Schwachen heißt sie das Unmögliche, für die Zaghaften das Unbekannte; für die Denkenden und Mutigen heißt sie das Ideal. Was, die Vereinigten Staaten von Europa, frei und Herren ihres Geschicks, verbunden durch eine zentrale Versammlung und über die Meere in Kontakt mit den Vereinigten Staaten von Amerika, das wäre das Unbekannte, das Unmögliche! Man sagt uns: Und die Übergangszeit! Und diese Geburtsschmerzen! Und diese Stürme bei der Verwandlung der alten in eine neue Welt! Ein Kontinent soll sich umgestalten! Stellen Sie sich dieses schreckliche Geschehen vor! Der verzweifelte Widerstand der Throne, der Zorn der Kasten, das Wüten der Armeen, der König, der seine Zivilliste, der Priester, der seine Pfründe, der Richter, der seine Würde verteidigt .. . Welche Bündnisse, welche Kämpfe, welche Schlachten, welche Hindernisse! Halt, weicht lieber zurück! Schweigt, Ihr Schwachen und Ängstlichen! Das Unmögliche, das Unbekannte, wir werden es überwinden und das Ideal verwirklichen. Es lebe die kommende Revolution! Autor (erzählt): Und wie soll das Unbekannte, das Unmögliche aussehen? Wie wird es wirtschaftlich funktionieren, M. Hugo! Auch auf diese Frage finde ich die Antwort in seinen Schriften (Papierblättern unterlegen). Victor Hugo: Plus de frontieres, plus de douanes, plus d'octrois; Je libre echange; flux et reflux gigantesques de numeraire et de denrees, industrie et commerce vingtuples; bonification anuelle pour Ia riebesse du continent: au moins dix milliards. Ajoutez !es quatre milliards de Ia SUppression des annees, plus de deux milliards au moins gagnes par l'abolition des fonctions parasites sur tout Je continent, y compris Ia fonction de roi, cela fait tous !es ans un levier de seize milliards pour soulever !es questions economiques. Calculez cette enorme production de bienetre. Une monnaie continentale, a double base metallique et fiduciaire, ayant pour d'appui Je capital Europetout entier et pour moteur l'activite libre de deux cents millions d'hommes, cette monnaie, une, remplacerait et resorberait toutes les absurdes varietes monetaires d'aujourd'hui, effigies de princes, figures des miseres. Dolmetscher: Keine Grenzen mehr, keine Zölle, keine Abgaben. Frei wäre der Handel, gewaltig der Austausch von Geld und Waren, Industrie und Handel wären verzwanzigfacht; der Reichtum des Kontinents wüchse von Jahr zu Jahr um mindestens zehn Milliarden. Nehmt hinzu vier Milliarden aus der Abschaffung der Armeen, mindestens zwei Milliarden durch die Beseitigung parasitärer Funktionen (einschließlich der der Könige) auf dem gesamten Kontinent; das ergibt alle Jahre einen Hebel von 16 Milliarden zur Hebung der ökonomischen Fragen. Rechnet Euch diese enorme Produktion von Wohlstand aus. Eine kontinentale Währung, auf der doppelten Basis von Metall- und Papiergeld, die als Stützpunkt das ganze europäische Kapital hätte und als Tri"ebkraft die freie Aktivität von 200 Millionen Menschen, diese einheitliche Währung ersetzte und resorbierte alle die ab-

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surden tausend Währungen von heute, mit den Bildnissen der Fürsten, Gestalten des Elends ...

Autor (erzählt): Ich muß mich wiederholen: ein erstaunlicher Mann, dieser Victor Hugo. Während ich in seinen Büchern herumstöbere, die er vor über 100 Jahren geschrieben hat, ist mancher von seinen Gedanken inzwischen Wirklichkeit geworden - anderes ist Gegenstand der heutigen Politik. - Ich frage (Blättern unterlegen) nach seinem Verhältnis zu den Deutschen. Noch im Exil erfährt er vom Ausbruch des deutschfranzösischen Krieges 1870, hört von der Niederlage Frankreichs bei Sedan, vom Sturz des Kaisers Napoleon Ill. Und schon ist er unterwegs nach Paris und schreibt an die auf die französische Hauptstadt vordringenden deutschen Soldaten:

a

Victor Hugo: Allemands, celui qui vour parleestun ami. II y a trois ans, l'epoque de !'Exposition de 1867, du fond de l'exil, je vous souhaitais Ia bienvenue dans notre ville. Aujourd'hui vous y revenez. Comment? En freres, comme il y a trois ans? Non, en ennemis. Pourquoi? Quel est ce malentendu sinistre? Pourquoi cette invasion? Pourquoi cet effort sauvage contre un peuple frere? Qu'estce nous vous avons fait? Cette guerre, estce qu'elle vient de nous? C'est l'empire qui l'a voulue, c'est l'empire qui a faite. II est mort. C'est bien. Nous n'avons rien de commun avec ce cadavre. II est passe, nous sommes I'avenir. II est Ja haine, nous sommes Ja sympathie. II est Ja trahison, nous sommes Ia loyaute. Nous somrnes Ia Republique francaise: nous avons pour devise: Liberte, Egalite, Fraternite; nous ecrivons sur notre drapeau: Etats-Unis d'Europe. Mais cette guerre, Allemands, quel sens at-elle? Vous avez tue votre ennemi que etait Je nötre. Que voulezvous de plus? Vous voulez prendre Paris de force! Mais nous vous l'avons toujours offert avec amour. Ne faites pas fermer !es portes par un peuple qui de tout temps vous a tendu !es bras.

Dolmetscher: Deutsche, der zu Euch spricht, ist ein Freund. Vor drei Jahren hieß ich Euch bei der Ausstellung von 1867 von meinem Exil aus in unserer Stadt willkommen. Heute kommt Ihr zurück. Wie? Als Brüder wie vor drei Jahren? Nein, als Feinde. Warum? Wegen welchem schrecklichen Mißverständnis? Warum diese Invasion? Warum diese Grausamkeit gegen ein Brudervolk? Was haben wir Euch getan? Haben wir diesen Krieg gewollt? Das Kaisertum hat ihn gewollt und geführt. Das Kaisertum ist tot. Dies ist gut so. Wir haben nichts gemein mit diesem Leichnam. Er ist Vergangenheit, wir sind die Zukunft. Er ist der Haß, wir sind die Sympathie. Er ist der Verrat, wir die Loyalität. Wir sind die französische Republik. Wir haben unsere Devise: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit; wir schreiben auf unsere Fahne: Vereinigte Staaten von Europa. Dieser Krieg, Deutsche, welchen Sinn hat er? Ihr habt Euren Feind zerstört, der auch unser Feind war. Was wollt Ihr noch mehr? Ihr wollt Paris mit Gewalt einnehmen! Aber wir ha-

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ben es Euch doch immer mit Liebe angeboten. Verhaltet Euch nicht so, daß ein Volk, das Euch immer die Hand bot, die Türen schließen muß. Autor (erzählt): Soll man den Kopf schütteln über diesen Romantiker? Eben in dem Augenblick, in dem die Deutschen mithelfen, in Frankreich die Monarchie endgültig zu beseitigen, schicken sie sich an, ihr eigenes II. Reich zu gründen - als Monarchie. Und wenig später muß auch Victor Hugo bekennen: Victor Hugo: II y a aura desormais en Europe deux nations qui seront redoutables; l'une parce qu 'elle sera victorieuse, I' autre parce qu' elle sera vaincue. Dolmetscher: Nunmehr wird es in Europa zwei Nationen geben, die furchterregend sind; die eine, weil sie gesiegt hat, die andere, weil sie besiegt wurde. Autor (erzählt): Er sollte Recht behalten- der romantische Dichter, der kein Politiker waraber dafür eine prophetische Begabung besaß. Wie sonst hätte er ein Jahr nach dem Ende des deutschfranzösischen Krieges schreiben können: Victor Hugo: Donc nous aurons l'Europe Republique. Comment l'auronsnous? Par une guerre ou par une revolution. Par une guerre, si I' Allemagne y force Ia France. Par une revolution, si !es rois y forcent !es peuples. Mais, a coup siir, nous aurons ces grands EtatsUnis d'Europe, qui couronneront Je vieux monde comme !es Etats-Unis d' Amerique couronnent Je nouveau. Dolmetscher: Wir werden die europäische Republik haben. Wie werden wir zu ihr gelangen? Durch einen Krieg, wenn Deutschland Frankreich dazu zwingt. Durch eine Revolution, wenn die Könige die Völker dazu zwingen. Aber, das ist gewiß. wir werden diese großen Vereinigten Staaten von Europa haben, die die alte Welt krönen werden, wie die Vereinigten Staaten von Amerika die neue Welt krönen. Autor (erzählt): Es gehörte schon Mut dazu, eine solche Voraussage zu machen- in den Siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.- Ich suche in seinen Schriften nach einer Wertung des deutschfranzösischen Verhältnisses. Und ich finde sie - offene Worte aus der Sicht eines französischen Patrioten und leidenschaftlichen Europäers: Victor Hugo: II y a actuellement deux efforts dans Ia civilisation, l'un pour, l'autre contre; I' effort de Ia France et I' effort de I' Allemage. Chacune veut creer un monde. Ce que I' Allemagne veut faire, c'est Allemagne; ce que Ia France veut faire, c'est l'Europe.

Faire I' Allemagne, c'est construire l'empire, c'esta-dire Ia nuit; faire l'Europe, c'est enfanter Ia democratie, c'esta-dire Ia lumiere. L'avenir departagera I' Allemagne et Ia France. Dolmetscher: Es gibt gegenwärtig zwei Bestrebungen in der Zivilisation, eine positive und eine negative; die Bestrebungen Frankreichs und die Deutschlands. Beide wollen eine Welt schaffen. Was Deutschland will, ist Deutschland; was Frankreich will, ist Europa.

Deutschland schaffen, daß heißt, das kaiserliche Imperium aufbauen, das bedeutet Nacht; Europa schaffen, heißt die Demokratie zur Welt bringen, das bedeutet Licht. Die Zukunft wird zwischen Deutschland und Frankreich entscheiden. Autor (erzählt): Ich lese mich fest in den Schriften dieses Mannes - und immer mehr geht mir auf, daß er zwar kein Politiker war, aber über eine einzigartige politische Vorstellungskraft verfügte. Oder wie anders soll ich seine Rede deuten, die er 1876 bei einem Bankett am Jahrestag der ~ntstehung der französischen Republik hielt:

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Victor Hugo: Completons Ia revolution francaise par Ia fraternite europeenne, et l'unite de Ia France par l'unite du continent. Etablissons entre !es nations cette solide paix, Ia federation, et cette solide justice, I' arbitrage. Soyons des peuples d' esprit au lieu d' etre des peuples stupides. Changeons des idees et non des boulets. Dolmetscher: Vervollständigen wir die französische Revolution durch die europäische Brüderlichkeit, und die Einheit Frankreichs durch die Einheit des Kontinents! Schaffen wir zwischen den Nationen diesen soliden Frieden, die Föderation, und diese solide Justiz, die Schiedsgerichtsbarkeit! Seien wir Völker des Geistes statt stupide Völker zu sein! Tauschen wir Ideen und nicht Kugeln! Autor (erzählt): Ich lese zweimal, was da geschrieben steht- sechs Jahre nach der Schlacht von Sedan, vierzig Jahre vor der Schlacht von Verdun, die 500 000 Soldaten das Leben kostete - Franzosen und Deutschen. Victor Hugo konnte davon nichts wissen - er konnte nicht wissen, daß 100 Jahre später vieles von seiner Idee politische Wirklichkeit geworden sein wird. Seine Idee, die damals als ,,fixe Idee" gelten mußte, als Spinnerei, würde man heute sagen. Darauf muß er wohl häufig angesprochen worden sein; denn hier lese ich, unter dem Datum des 11. Dezember, was der 75jährige Dichter dazu meinte: Victor Hugo: Messieurs, amon age, il est rare qu'on n'ait pas, qu'on ne finisse pas par avoir une idee fixe. L' idee fixe ressemble aI'etoile fixe; plus Ia nuit est noire, plus I'etoile brille. II en est de meme de l'idee. Monidee m'apparait avec d'autant plus d'eclat que Je moment est plus tenebreux. Cette idee fixe, je vais vous Ia dire: - C' est Ia paix ... Mon reve aurait ete: plus de guerre, plus de haine; les peuples uniquement occupes de travail, d'industrie, de bienetre, de progres, Ia prosperlte par Ia tranquillite. Ce reve, quelles que soient !es epreuves passees ou futures, je le continuerai, et je tächerai de Ia realiser sans me lasser jamais, jusqu' amon dernier souffle. Dolmetscher: In meinem Alter ist es selten, daß man keine fixe Idee hat. Eine solche gleicht einem Fixstern; je schwärzer die Nacht, um so leuchtender der Stern. So ist es auch mit der Idee. Meine Idee scheint mir mit um so größerem Glanz, je wolkiger die Zeit, in der wir leben. Ich will Ihnen diese fixe Idee nennen: es ist der Frieden ... Mein Traum wäre gewesen: kein Krieg mehr, kein Haß mehr, die Völker einzig hingegeben der Arbeit, der Technik, dem Wohlstand, dem Fortschritt. An diesem Traum - welches auch die vergangenen und künftigen Prüfungen sein mögen- werde ich festhalten, und ich werde versuchen, ihn zu verwirklichen, ohne je zu ermüden, bis zu meinem letzten Atemzuge. Autor (erzählt): Es ist dunkel geworden draußen- in der Bibliothek hat man das Licht angezündet. Ich schließe die Bücher, die ein freundlicher Mitarbeiter der Bibliothek nun wegstellt. Mein Zwiegespräch mit einem großen Europäer des 19. Jahrhunderts ist beendet. Nur mühsam finde ich zurück aus der Welt des Victor Hugo in unsere Gegenwart. Was würde er sagen, der leidenschaftliche Kämpfer für Demokratie und europäische Einheit, säße er mir jetzt gegenüber - was würde er sagen zum heutigen Stand der europäischen Einigung? Wir wissen es nicht. Aber ich bin sicher, er wäre nicht zufrieden - er würde weitere neue Ziele stecken, für ihre Verwirklichung kämpfen und daran glauben.

Entwurf der Bildung einer mitteleuropäischen Föderation während des Zweiten Weltkrieges und die Rolle von Jozef Hieronim Retinger beim Aufbau der europäischen Institutionen in den Nachkriegsjahren Ein Beitrag zur Geschichte der Anfänge der Europäischen Integration Von Marian Zg6rniak Im Zeitalter des erwachenden politischen Bewußtseins der kleineren europäischen Nationen bildeten losere Staatenbünde, die aufgrundeiner Föderation oder Konföderation aufgebaut waren, eine Alternative gegenüber den großen, zentralisierten Nationalitätenimperien. Die Konzeptionen dieser Art haben im 19. Jahrhundert u. a. Toquevill und Proudhon lanciert, und an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert fanden diese Idee ihre Anhänger in vielen europäischen Staaten. Der Erste Weltkrieg, der zur Entstehung zahlreicher neuer Staaten auf den Trümmern der Vielvölkermonarchien der Habsburger, Romanow's und der osmanischen Pforte geführt hatte, belebte gleichzeitig das Streben nach der Bildung verschiedener mehr oder weniger engen zwischenstaatlichen Verbindungen, vorwiegend auf dem Gebiet des Süd- und Mittelosteuropas. Dafür sprachen vor allem wirtschaftlichen Gründe und Befürchtungen vor den Bestrebungen Deutschlands und Rußlands, wie auch teilweise im faschistischen Italien war das Ausdruck des bestrebten Wiederaufbaus oder Ausbaus des Besitzes aus der Vorkriegszeit und eine territoriale Expansion. Föderative und konföderative Konzeptionen besaßen in der polnischen Verfassungspraxis und im politischen Denken eine lange Tradition. Das im 14. Jahrhundert mit der dynastischen Union begonnene Bündnis zwischen dem Königreich Polen und der Großfürstentum Litauen erhielt sich auch nach dem Erlöschen der Dynastie der Jagiellonen und bestand bis zum Ende der Ersten Republik, das heißt bis gegen Ende des 18. Jahrhundert. Die in den Jahren 1794, 1830 und 1863 gegen die Okkupation gerichteten nationalen Aufstände knüpften an eben diese Tradition an und forderten die Wiederherstellung eines Bundesstaates, wobei radikale Gruppierungen den Willen bezeigten, die polnisch - litauische Konföderation auch auf Ruthenien auszudehnen, das heißt auf die Ukraine und Weißrußland, sowie eventuell auch noch auf andere Nationen, deren nationales Bewußtsein im 19. Jahrhundert erwacht war. 9 FS Krause

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Marian Zg6miak

An eine fOderative Konzeption knüpfte auch die im Jahre 1918 wiedererstandene Zweite Republik an. Ihr erster Staatschef J6zef Pilsudslei strebte die Schaffung eines föderativen Staates oder einer loseren Konföderation an, die die Gebiete des alten polnischen Staates und im Falle des Auftretens günstiger Umstände, auch andere Staaten im Ostmitteleuropa umfassen sollte. Fast während des ganzen Zeitabschnittes der zwanzig Zwischenkriegsjahre unterstützten die polnischen Regierungen und der Generalstab die sogenannte Prometheische Bewegung, die dem Gedanken der Wiederbelebung und Entwicklung verschiedener Nationen dieser Zone und eventuell auch ihrer Konföderation dienen sollte. Als jedoch das Anwachsen der Macht Deutschlands und der UdSSR diese Konzeption wenig realistisch machte, lancierte Warschau den ,,Zwischenmeer''-Gedanken, das heißt eine Verständigung jener Staaten, die zwischen der Ostsee sowie dem Schwarzen Meer und Mittelmeer lagen, wobei dieses Bündnis Hitlerdeutschland von der Sowjetunion trennen sollte. Angesichts der sich in den dreißiger Jahren zwischen diesen Staaten abspielenden ideologischen und politischen Streitigkeiten sollte diese Konzeption den europäischen Frieden dienen und das Gleichgewicht erhalten. Der endgültige Zusammenbruch dieser Pläne trat im August des Jahres 1939 nach der Unterzeichnung des Vertrages Ribbentrop-Molotow ein, der Ostmitteleuropa in Einflußsphären beider Mächte teilte.

Die polnischen föderativkonföderativen Konzeptionen aus der Zwischenkriegszeit fanden keine Anerkennung in Prag, das versuchte, in Ostmitteleuropa eine eigene Einflußzone auf der Basis der Kleinen Entente zu schaffen, in der Polen nicht gerne gesehen war. Die Rivalität zwischen diesem beiden Staaten angesichts der Bedrohung seitens des ,,Dritten Reiches" Hitlers sollte für sie tragisch enden. Die strenge Lehre, die beiden Volkern von der neuesten Geschichte erteilte wurde, bewirkte, daß schon im Herbst 1939 zur einer Anknüpfung polnisch-tschechoslowakischer Gespräche in der Emigration kam 1, und die Denkschrift des Präsidenten Benes2 vom 1. November 1940, die eine Annäherung zwischen Polen und der Tschechoslowakei und ein dauerndes Bündnis auch in der Nachkriegszeit postulierte, wurde von der polnischen Exilregierung in London, vor allem vom Ministerpräsidenten General Wladyslaw Sikorski und seinem Berater J6zef Retinger mit großer Zufriedenheit aufgenommen. Schon am 11. November 1940 wurde eine gemeinsame polnisch-tschechoslowakische Erklärung beschlossen 3 und am 3. De• P. S. Wandycz. Czechoslovak - Polish Confederation and the Great Powers 1940- 1943 ..Slavic and East European" Series 3, Bloomington 1956; H. Batowski, Polska dyplomacja na obczyznie 1939-1943 (Die polnische Diplomatie im Exil 1939-1943, Krak6w 1991, s. 271-291. 2 T. Kisielewski, Federacja srodkowoeuropejska. Pertraktacje polsko-czechoslowackie 1939-1943 (Die Mitteleuropäische Föderation. Die polnisch-tschechoslowakischen Verhandlungen 1939-1943), Warszawa 1991, Beilage Nr. I, S. 251-256. 3 lbid., Nr. 2, S. 257; P. Wandycz. op. cit. S. 128; E. Taborsky, A Polish-Czechoslovak Confederation: A Stroy of the First Soviet Veto, in: Journal of Centtal European Affairs 9/4 (1950), S. 379-395; M. Zgomiak. Föderative Konzeptionen der polnischen Emigrations-

Der Entwurf einer mitteleuropäischen Föderation

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zember drückte General Sikorski seine Bereitschaft zur Schaffung einer Konföderation aus. Es entstand ein gemeinsamer polnisch-tschechoslowakischer Koordinationsausschuß und der Politische Ausschuß, der Weisungen für die polnische Abordnung im polnisch-tschechoslowakischer Koordinationsausschuß erarbeiten sollte. Bis Juni des Jahre 1941 entwarf er die "Grundsätze des konstitutionellen Aktes einer Union zwischen Polen und der Tschechoslowakei". Polen und die Tschechoslowakei sollten der Union einen Teil ihrer souveränen Rechte übertragen. Mit Einwilligung der beiden Gründungspartner konnten noch andere Staaten dieser Region in die Union aufgenommen werden, wobei aus vertraulichen Kommentaren hervorging, daß hier Ungarn, Rumänien, Österreich und Litauen in Betracht gezogen wurden. In der Kompetenz der Unionsbehörden sollten sich die Außenpolitik, die äußere Repräsentation, die Verteidigung sowie die wichtigsten wirtschaftlichen und finanziellen Fragen befinden, dagegen sollten innere Angelegenheiten, nationale und kulturelle Fragen sowie das Gesundheitswesen in der Kompetenzen der lokalen Behörden bleiben. Der polnische Entwurf der Union wurde anfanglieh von der tschechoslowakischen Seite grundsätzlich akzeptiert. Den Vertrag betreffende Streitfragen traten erst zu einem späteren Zeitpunkt auf und waren hauptsächlich mit der Entwicklung der Lage an der Ostfront verbunden. Die militärischen Erfolge der Sowjetunion, ihre immer feindseligere Haltung gegenüber der polnischen Emigrationsregierung in London sowie die immer öfter zum Ausdruck gebrachten Anzeichen der Unzufriedenheit der Moskauer Regierung hinsichtlich der Entwürfe der Konföderation, veranlaßten die tschechoslowakische Führung zu einem allmählichen Abrücken von den polnisch - tschechoslowakischen KonfOderationsplänen. Präsident Benes war der Meinung, daß sich in der aktuellen Lage eine unmittelbare Verständigung mit Moskau und eine Erneuerung des tschechoslowakisch-sowjetischen Bündnisses vom Jahre 1935 besser bezahlt machen würde. Während eines Besuches des Präsidenten Benes in Moskau im Herbst 1943 kam es zur Unterzeichnung eines tschechoslowakisch-sowjetischen Vertrags, der die früheren Pläne einer polnischtschechoslowakischen Konföderation definitiv zunichte machte.4 Bi- oder multilaterale Verständigungen zwischen Staaten, die den Aufbau von sowjetischen Einflußsphären in Ostmitteleuropa erschweren konnten, lagen nämlich nicht im Interesse Moskaus. Der sowjetische Druck vereitelte übrigens nicht nur eine polnischtschechoslowakische Konföderation, sondern auch spätere Pläne einer Föderation der Balkanstaaten. Die Westmächte unterstützten anfangs die Idee einer mitteleuropäischen Konföderation.5 Er erweckte auch beträchtliches Interesse bei den anderen Regierungen regierung in London während des Zweiten Weltkrieges, in: R. G. Plascka u. a., Mitteleuropa - Konzeptionen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wien, 1995, S. 345-349. 4 S. Kirkor, Rola Benesza w sprawie polskiej w 1944 roku (Bene5 RoHe in der polnischen Frage) in: ,.zeszyty historyczne" Nr. 26, Paris 1973, S. 39 -56. s D. Brandes, Großbritannien und seine kleinen AUiierten (Polen, Tschechoslowakei, Jugoslawien) 1939-1943, München 1988; B. Grzelonski, Europa Wschodnia w koncepcjach

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der vom Hitlerdeutschland okkupierten europäischen Staaten, darunter vor allem der belgiseben und niederländischen Regierung. 6 Zu einem späteren Zeitpunkt im Verlauf des Zweiten Weltkrieges unterlagen jedoch auch die Westmächte dem Druck Moskaus in dieser Frage und ließen der Sowjetunion praktisch freie Hand bei der Gestaltung der politischen Wirklichkeit in Ostmitteleuropa. Eine bedeutende Rolle spielte bei dem Lancieren polnischer föderativer Konzepte Dr. J6zef Hieronim Retinger (1888 -1960). Er wurde in Krakau geboren, und im Jahre 1908 wurde ihm der Doktortitel in der Literatur an der Sorbonne-Universität verliehen, während des Ersten Weltkrieges war er in Paris und in London in den polnischen Fragen politisch aktiv. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges war er einige Jahre Berater der Regierung in Mexiko, danach arbeitete er mit der Internationalen Föderation der Gewerkschaften und den Oppositionsparteien in Polen zusammen. In den dreißiger Jahren fing seine Freundschaft mit dem General Wladyslaw Sikorski, dessen Berater er im Zweiten Weltkrieg wurde. Die Rolle Retingers wuchs besonders nach der Niederlage Frankreichs im Jahre 1940, als er Sikorski bei der Verlegung der polnischen Emigrationsregierung nach Großbritannien geholfen hatte, es war auch damals gelungen, einen Teil der polnischen Armee aus Frankreich zu evakuieren. Retinger war damals ein der Hauptberater des polnischen Ministerpräsidenten, erleichterte ihm Kontakte mit den britischen Behörden und trug wesentlich dazu bei, daß Sikorski die Gespräche über die zukünftige Föderation in Mitteleuropa und auf dem Balkan aufgenommen hatte. Mit dieser Problematik hat er sich übrigens seit langem schon beschäftigt. Wie er in seinem Buch über J6zef Konrad Korzeniowski, mit dem er auch befreundet war, geschrieben hatte, hat ihn die Frage der friedlichen Integration Europas schon in zwanziger Jahren fasziniert, und seine Ansichten darüber sollte er noch vor dem Kriege dem General Sikorski dargestellt haben. 7 Während des Zweiten Weltkrieges unterhielt er Kontakte zu den tschechischen Anhänger der Föderation mit Jan Masaryk und Hubert Ribka wie auch mit zahlreichen Politikern der okkupierten Ländern, die damals sich in London aufhielten, u. a. mit dem Ministerpräsidenten Belgiens Spaak, mit dem man im Februar 1941 Gespräche über zukünftige europäische Einheit eingeleitet hatte. Retinger regte die periodischen Treffen der Außenminister und Staatspräsidenten der okkupierten Staaten an, bei denen man aktuelle Problemen und die Fragen der zukünftigen Zusammenarbeit der europäischen Staaten besprochen hatte. An diesen Treffen nahmen auch britische Politiker teil, darunter der damalige Außenminister AnDepartamentu Stanu w 1941 roku (Osteuropa in den Konzeptionen des State Department im Jahre 1941, in: Zeszyty Historyczne, Nr. 90, Paris, S. 218-221; T. Kisielewski, op. cit. 63,

247.

a

6 Archives du Ministre des Affairs Etrangers, Bruxelles, Legation de Belgique Londres, Nr. 473/l08,5ll/123,92/33, 191/55, 343/67, 448/139, 582/ II. 7 J. H. Retinger,, Dwie narodowo5ci Conrada (Zwei Nationalitäten von Conrad) in: Conrad zywy, London, 1957; Kuzynek diabla (Der kleine Cousin des Teufels), Krak6w 1989,

s. 150-151.

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thony Eden, Sir Stafford-Cripp und Ernest Bevin wie auch Vertreter der Vereinigten Staaten. Die ersten Verhandlungen hinsichtlich der künftigen niederländisch britischen Zusammenarbeit zwischen Spaak und van Kleffens fanden in der Anwesenheit von Sikorski und Retinger statt. Alle Anwesenden haben die Herstellung der Verbindungen und Schaffung der überstaatlichen Institutionen anerkannt.8 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges blieb Retinger im Exil in Großbritannien und setzte seine Bemühungen um die Vereinigung Europas fort. Am 9. Mai 1946 hat er im Königlichen Institut der Internationalen Beziehungen einen Vortrag zum Thema ,,Der europäische Kontinent " gehalten, in dem er u. a. festgestellt hatte, daß die kleineren Staaten auf dem Kontinent die Verhandlungen miteinander beginnen sollen und die Grundlagen für die Zukunft des vereinten Europas schaffen sollen.9 Im Oktober desselben 1946 Jahres kamen Retinger, van Zeeland und Krestens, die sich noch aus der Londoner Zeit kannten, in der Brüsseler Residenz von van Zeeland zusammen und haben sich entschieden, eine unabhängige Bürgerorganisation für die Rekonstruktion Europas zu gründen. Die Organisation hat im Jahre 1949 den bis heute geltenden Namen der Europäischen Liga der Wirtschaftlichen Zusammenarbeit angenommen. Zum ersten Vorsitzenden wurde von Zeeland und zum Generalsekretär J6zef Retinger gewählt. 10 In den Jahren 1947-1951 haben Retinger, van Zeeland und Kerstens die Organisation der Liga ausgebaut. Die Ausschüsse der Liga entstanden in verschiedenen Ländern: in den USA (wo er aber nach der Einführung des Marschall-Planes aufgelöst wurde), in den Jahren 1946-1949 wurden sie auch in Großbritannien, Frankreich, Belgien, Holland ins Leben gerufen, der deutsche, italienische und Österreichische Ausschuß entstanden in den Jahren 1950-1951. Die führenden Persönlichkeiten, die an den Treffen der Liga teilgenommen hatten, waren zum Beispiel Sir Harold Butler, Harold Macmillan, Edmond Giscard d' Estaign, Benz von der Berg, Gill Konsbruck, Herman Abs und viele anderen. 11 Im Jahre 1947 wurde Retinger zum Generalsekretär des Internationalen Ausschusses der Bewegungen für die Europäische Einheit, der später den Namen der Europäischen Bewegung hatte, gewählt. Dunkan Sandys war der Vorsitzende dieses Ausschusses. Im Mai 1948 hat dieser Ausschuß aus der Initiative Retingers und Sandys in den Haag einen Kongreß organisiert, der zur Entstehung des Europarates geführt hatte, und im August 1949 kam es zur ersten Sitzung des Europarates in Straßburg. 8 European League for Economic Cooperation. 50th Anniversary of ELEC 1946- 1996. In remembrance of Josef Retinger Initiator of the European League for Economic Cooperation, Brussels,l996, S. 32; Thiery Grosbois, L'action de Jozef Retinger en faveur de l'idee europeenne 1940-1946, European Review of History-Revue europeenne d'Histoire, vol. 6, No. I. 1999. 9 J. H. Retinger. The European Continent? The Address given on 9th May, London 1946. 10 European League for Economic Cooperation, op. cit. 11 Ibid.

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Als es im Jahre 1952 zu den gewissen Spannungen in den Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa gekommen war, haben Retinger gemeinsam mit van Zeeland und Paul Rijkinsen vorgeschlagen, ein spezielles Forum für die Verbesserung dieser Beziehungen zu bilden. Auf den Vorschlag von Retinger wurde zum Vorsitzenden dieses Forums Fürst Bemard von Holland gewählt, mit dem zusammen hat Retinger die sog. Bilderherger Gruppe gegründet, die sich u. a. den Fragen des Nordatlantikpaktes beschäftigt hatte. Wie Fürst Bemard von Holland in seinen Erinnerungen geschrieben hatte: ,,Mit seiner angeboren Bescheidenheit bemühte sich Retinger immer im Schatten zu bleiben, obwohl er in der Wirklichkeit der Initiator aller Aktivitäten war. Dank den umfangreichen Kenntnissen der Menschen und der Problematik hat dieser unscheinbare, bescheidene Mann nie versäumt, durch sein nüchternes und fruchtbares Denken Gepräge zu geben, auch die Quelle seiner inspirierenden Aktivitäten versiegte nicht. Viele Meinungsverschiedenheiten zwischen Europa und den Vereinigten Staaten konnten dank den Konferenzen und persönlichen Freundschaftsbanden, die dadurch entstanden waren, aus dem Weg geräumt werden. Die Bilderherger Gruppe hofft, daß sie nach dem Vorbild und im Geiste des Doktors Retinger so lange weiter bestehen und arbeiten wird, wie das nötig sein wird. Der Geist dieses Menschen, dem die freie Welt so viele zu verdanken hat und über den man ohne weiteres sagen kann, daß er trotz seines unscheinbaren Aussehens wirklich groß war, leuchtete uns immer und wird immer unserer Versammlung leuchten." 12 Zum fünfzigsten Jahrestag der Entstehung der Europäischen Liga der Wirtschaftlichen Zusammenarbeit veranstaltete diese Organisation in Krakau im Jahre 1996 eine feierliche Konferenz, die der Tatigkeit und den Verdiensten J6zef Retingers für die Idee des vereinten Europas gewidmet war. Er selbst hat nie seine Person exponiert und begnügte sich mit der Rolle einer "grauen Eminenz", die die Tatigkeit anderer Persönlichkeiten inspiriert und geleitet hatte. So hat man auch seine Memoiren, die schon nach seinem Tod herausgegeben wurden, betitelt. 13 Am Hause, in dem er in Krakau zur Welt gekommen war, wurde eine Gedenktafel angebracht, die an die proeuropäische Tatigkeit dieses außergewöhnlichen, obwohl öfters verkannten, Menschen gedenkt.

12 13

lbid., s. 27.

J. H. Retinger, Memoirs of an Eminence Grise. Edited by John Pomian, London 1972.

"Rückkehr nach Europa" - Ostmitteleuropa an der Schwelle zum 21. Jahrhundert* Von Jörg K. Hoensch Als im Herbst 1989 innerhalb weniger Wochen der sowjetische Hegemonialbereich in Osteuropa kollabierte, wurde in den betroffenen Ländern vom Baltikum bis zur Adria und dem Schwarzen Meer das Ende der kommunistischen Diktatur und die Wiedergewinnung der uneingeschränkten Souveränität begeistert als ,,Rückkehr nach Europa" begrüßt. 1 Die "sanften Revolutionen" hatten in Polen zehn Jahre, in Ungarn zehn Monate, in der DDR zehn Wochen und in der CSSR zehn Tage gedauert, während in Rumänien zehn - allerdings sehr gewalterfüllte Stunden für die Implosion des realen Sozialismus ausreichten. In historizistischer Metaphorik wurden die "Wende",2 der ,,Aufbruch", der "Übergang" und die "Wiedergeburt" beschworen, obwohl nur wenige unter den Betroffenen genauere Vor-

* Erweiterte Fassung eines Vortrags, der am 21 . Juni 1999 im Rahmen der Ringvorlesung der Philosophischen Fakultät der Universität des des Saarlandes ,,Europa. Traditionen -Werte- Perspektiven" gehalten wurde. I Der "Rückkehr nach Europa" wurde in einer ganzen Reihe von Büchern und Zeitschriftenartikeln nachgegangen. Darunter sind u. a. Landeszentrale für politische Bildung BadenWürttemberg (Hrsg.): Mitten in Europa-DieRückkehr von Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn. Bad Urach, Stuttgart 1995; Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Europabilder in Mittel- und Osteuropa. Neue Herausforderungen für die politische Bildung. Bonn 1996; Hans Misselwitz/Dieter Segert (Hrsg.), Rückkehr nach Europa? Die geistig-politische Dimension des ostmitteleuropäischen Umbruchprozesses seit 1989. Potsdam 1997: [Themenheft] Eastern Europe ... Centra1 Europe ... Europe, in: Daedalus 119 (1990) 1; Gerard Beaupretre (Hrsg.), L' Europe Centra1e. Realite, mythe, epjeu, XVUI-XX siecles, Warschau 1991: Leonid Luks/ Donald O'Sullivan (Hrsg.), Die Rückkehr der Geschichte. Osteuropa auf der Suche nach Kontinuität. Köln u. a. 1999; Herfried Münkler, Europa als politische Idee. Ideengeschichtliche Facetten des Europabegriffs und deren aktuelle politische Bedeutung, in: Leviathan 19 (1991) 4, S. 521-541 ; Hans-Heinrich Nolte, Wohin mit Osteuropa? Überlegungen zur Neuordnung des Kontinents, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 39/95 vom 22. September 1995, S. 1-11. 2 Der Begriff wurde offenbar von Egon Krenz in das deutsche politische Vokabular eingebracht, der nach dem RücktrittErich Honeckers am 18. Oktober 1989 bei der Übernahme der Ämter des Staats- und Parteichefs eine "Wende" in der Politik der SED ankündigte. Allerdings hatten ungarische Sozialwissenschaftler und Ökonomen aus dem Forschungsinstitut des Finanzministeriums bzw. dem Umkreis von Rezsö Nyers, dem Architekten der Wirtschaftsreform von 1968, nach anfänglichem Widerstand der Führung der USAP bereits 1987 eine kritische Bestandsaufnahme unter dem Titel "Wende und Reform" veröffentlichen können.

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stellungen besaßen, welche Probleme der politische und ökonomische Systemwechsel sowie die juristische, personelle und gesellschaftliche Aufarbeitung der Vergangenheit mit sich bringen würden. Publizisten und wissenschaftliche Beobachter der Umbruchsprozesse des Jahres 1989 im "Ostblock" waren sich allerdings schon bei der aktuellen Berichterstattung und Analyse darin einig, daß diese Prozesse weit über den Rahmen von Reformen hinausgingen und als tiefgreifende, dauerhafte Veränderungen der Machtund Herrschaftsstrukturen sowie der Gesellschaftsordnung die Bedeutung von Revolutionen hatten. 3 Nicht aber - mit Ausnahme Rumäniens - die Form von Revolutionen im klassischen Sinn, bei denen die Umwälzung der politischen und sozioökonomischen Verhältnisse im Regelfall von Massenmobilisierung und Gewaltanwendung begleitet wird und die revolutionäre Machtübernahme durch Regimesturz erfolgt. In den meisten anderen Ländern, für die gegenwärtig sowohl in der Presse als auch in der Fachliteratur und den Berichten internationaler Wirtschaftsorganisationen immer häufiger die Bezeichnung "die Reformstaaten" verwendet wird, konnte der Umbruch gemessen am Kriterium der Strukturveänderungen durchaus als ,,Revolution" qualifiziert werden. Dem geringen Ausmaß oder gänzlichen Fehlen von Massenmobilisierung und Gewaltanwendung wurde in der Eigen- und Fremdinterpretation mit solchen - in sich widersprüchlichen - Charakterisierungen wie "friedliche", "samtene" oder "ausgehandelte Revolution" Rechnung getragen. Dort, wo die "Revolutionen" bereits einen längeren Vorlauf an Reformen aufzuweisen hatten, erwuchs die Möglichkeit, sie friedlich zwischen Regime- und Oppositionseliten "auszuhandeln", gerade aus der von beiden Seiten bekundeten Einsicht in ihre Notwendigkeit, d. h. aus dem Konsens darüber, daß das sozialistische System letztlich unreformierbar war. Bei einem Vergleich von Zeitdauer und Verlaufsform der angestrebten ,,Rückkehr nach Europa" in den einzelnen osteuropäischen Ländern sind Unterschiede nahezu von Land zu Land und eine erhebliche Variationsbreite festzustellen. Fragt man darüber hinaus, in welchem Zusammenhang dabei das jeweilige Ausmaß von Massenmobilisierung, Gewaltanwendung und Strukturveränderungen zueinander standen, zeigt sich fast durchgehend ein Verhältnis umgekehrter Proportionalität. Den Extremfall stellen hier auf der einen Seite Polen und Ungarn dar, auf der anderen Seite Rumänien. Weder für den einen noch für den anderen erweisen sich jedoch die Begriffe Reform und Revolution als zureichende deskriptive bzw. analytische Kategorien. Unter Berücksichtigung der Zielsetzungen und Ergebnisse des Umbruchs in den ehemaligen monopolsozialistischen Staaten können die einzelnen Fälle in ihren unterschiedlichen Ausprägungen unter den Begriff "Systemwechsel" oder "Systemtransformation" gefaßt werden. Als analytisches Instrument entstammen diese Begriffe der vergleichenden Politikwissenschaft und wurden bei der Untersuchung der Prozesse des Übergangs von einer autoritären Diktatur zur liberalen 3 Ludger Kühnhardt, Revolutionszeiten. Das Umbruchjahr 1989 im geschichtlichen Zusammenhang. München 1995.

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Demokratie in den südeuropäischen Ländern- Spanien, Portugal und Griechenland - sowie in einigen lateinamerikanischen Staaten entwickelt. Im Zusammenhang derartiger Transformationsanalysen bezeichnet der Ausdruck "(demokratischer) Übergang" dann entweder einen speziellen Typus der politischen Systemveränderung im Unterschied zu anderen Typen bzw. Formen, wie Putsch, Reform oder Revolution, oder eine spezifische Phase innerhalb des längeren Prozesses der Systemtransformation zur Demokratie. Auf die Entwicklungen in den vormals sozialistischen Ländern Ost- und Ostmitteleuropas und den noch nicht endgültig abgeschlossenen "Umbruch" bezogen, verlagert sich die Untersuchungsperspektive meist stärker auf den Ausgangspunkt (kommunistisches System) als auf die Zielrichtung (demokratisches System) der Systemtransformation. In der wissenschaftlichen Literatur, vor allem in der angelsächsischen Forschung, wird daher häufig auch vom "postkommunistischen Übergang" (post-communist transition) gesprochen. Sind nun aber die theoretischen Ansätze und Ergebnisse, die bei der Analyse der Übergänge von autoritären Diktaturen zu liberalen Demokratien in Südeuropa erarbeitet wurden, wirklich auf die Systemwechsel in Ost- und Ostmitteleuropa und die angestrebte ,,Rückkehr'' dieses Raums "nach Europa" anwendbar? Parallelen lassen sich insofern ziehen, als es sich bei den Anciens Regimes in den meisten sozialistischen Ländern nicht mehr um totalitäre Diktaturen stalinistischer Prägung, sondern bereits um posttotalitäre, autoritäre Einparteienherrschaften handelte. Andererseits ist ein fundamentaler Unterschied nicht zu übersehen: Er liegt darin, daß die autoritären Regime Südeuropas weder die Bürgergesellschaft (civil society) und die damit verbundene politische Kultur ihrer Länder noch die marktwirtschaftlichen Grundstrukturen in dem Maße zerstört haben wie die kommunistischen Diktaturen. Das heißt, in den Ländern des ehemaligen Ostblocks hat der Systemwechsel neben der vergleichbaren politischen Dimension des Übergangs von der autoritären zur demokratischen Herrschaftsordnung eine zweite, sozioökonomische Dimension, nämlich die des - historisch erstmaligen - postkommunistischen Übergangs von der kollektivierten, zentralverwalteten Planwirtschaft zur freien Marktwirtschaft auf der Basis von Privateigentum. In allen diesen Ländern zeigt sich zudem eine Diskrepanz zwischen dem politisch- institutionellen und dem sozioökonomischen SystemwechseL Die beiden Prozesse finden zwar gleichzeitig statt, haben aber unterschiedliche Zeithorizonte und verlaufen nicht abgestimmt. Der Prozeß der sozioökonomischen Transformation, also der Abbau des alten Wirtschaftssystems und die neuerliche Bildung einer Bürgergesellschaft, erweist sich als wesentlich langwieriger und mit höheren sozialen Kosten belastet als die Neuordnung des politischen Systems. Das gilt selbst für ein Land wie Ungarn, wo Wirtschaftsreformen schon vor dem Umbruch das alte System durch die Einführung marktwirtschaftlicher Elemente und die Anerkennung unterschiedlicher Interessen in der Gesellschaft aufgeweicht hatten. Zugleich empfiehlt es sich, zwischen einem ersten Stadium, der eigentlichen Transformation, und einem zweiten, der Stabilisierung, zu unterscheiden. Die

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Grenzen sind freilich fließend, nicht zuletzt wegen der Diskrepanz der Teilprozesse der politischen und der sozioökonomischen Transformation, wenn zum Beispiel der politische Systemwechsel scheinbar erfolgreich verlaufen ist, die neuen demokratischen Institutionen aber wegen der unbewältigten Sozial- und Wirtschaftsprobleme einen Legitimationsschwund oder -verlust erleiden, noch bevor sie bei der Bevölkerung breite und aktive Zustimmung gefunden haben und wirklich in der Gesellschaft verankert sind. Auf den politischen Systemwechsel im engeren Sinn bezogen, kann zwischen der ersten Phase des demokratischen Übergangs (transition) und der zweiten Phase der demokratischen Konsolidierung (consolidation) unterschieden werden. Dabei umfaßt die Phase des Übergangs ihrerseits zwei eigenständige, oft - aber nicht immer und unbedingt - gleichzeitig ablaufende Prozesse: den "Untergang" des alten, nichtdemokratischen Systems in der Form von Erosion, Zusammenbruch (Kollaps, Implosion) oder gelenktem Abbau und die Errichtung des neuen demokratischen Regimes. Der Übergang in den ehemaligen Ostblockländern folgte keinem einheitlichen Muster, sondern verlief - abhängig von der Art der Koppelung dieser beiden Prozesse - von Land zu Land unterschiedlich: In Ungarn und Polen arbeitete beispielsweise die Führungsspitze des noch herrschenden alten Regimes mit der Regime- bzw. Systemopposition zusammen, was zu einer konstitutionellen Vereinbarung über die neue demokratische Institutionenordnung und die Prozeduren eines nach dem Legalitätsprinzip geregelten Machtwechsels führte. In der DDR und der Tschechoslowakei hingegen kam es unter dem Druck gewaltloser Massenbewegungen zum Zusammenbruch des alten Regimes, bevor noch ein verfassungsrechtlieh-institutioneller Rahmen für die neue Ordnung entworfen war. Den Abschluß der ersten Phase des politischen Systemwechsels markieren im Regelfall die ersten freien Parlaments- und Kommunalwahlen im Rahmen eines Mehrparteiensystems und die Bildung der neuen, demokratisch legitimierten Regierung und lokalen Selbstverwaltungen. In der Phase der Stabilisierung und der demokratischen Konsolidierung geht es neben der Umsetzung der sozioökonomischen Transformation vor allem darum, die Normen und Strukturen des neuen politischen Systems auszugestalten und gesellschaftlich zu verankern und damit seine Funktionsfcihigkeit und Dauerhaftigkeit zu gewährleisten. Systemerhaltung über zwei Wahlperioden hinweg gilt daher - auch oder gerade bei zwischenzeitlichem Regierungswechsel - als eines der Kriterien erfolgreicher Konsolidierung. Positive Voraussetzungen für eine solche sind gegeben, wenn - bereits der demokratische Übergang vom Konsens der beteiligten politischen Kräfte getragen war; - sich ein stabiles, nicht zu stark zersplittertes Mehrparteiensystem mit einer breiten demokratischen Mitte entwickelt; - sich neben den Parteien organisierte Interessenvertretungen (Vereinigungen, Verbände, Gewerkschaften, Kammern etc.) bilden und in den politischen Prozeß integriert werden;

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- das demokratische Verfassungskonzept soziale und wirtschaftliche Zielsetzungen umfaßt, also nicht nur die Kompetenzen, Verfahren und "demokratischen Spielregeln" der politischen Institutionen festlegt. Selbst in Ungarn waren diese Voraussetzungen nur teilweise erfüllt, obwohl sich dort der demokratische Übergang politisch - institutionell gleichsam perfekt und ohne Zwischenlösungen wie in Polen vollzogen hat. In seinen Auswirkungen durchaus revolutionär, entsprach der politische Umbruch in Ungarn nach Erscheinungsbild und Verlauf am wenigsten einer Revolution. Der Übergang - ein fast ausschließlich von Eliten bestimmter und getragener Prozeß, an dessen Höhepunkt gerade kein revolutionärer Akt kollektiver Befreiung stand- verlief geregelt, jagesetzlich abgesichert, gewaltlos und praktisch ohne Beteiligung der Massen. Kurs, Inhalt, Tempo und gesetzliche Rahmenbedingungen des demokratischen Übergangs waren in Ungarn Gegenstand politischer Abkommen. Diese waren ausgehandelt worden zwischen den Reforrnkommunisten, die in der alten Staatspartei bereits die Oberhand gewonnen hatten, und den oppositionellen Kräften, die sich seit 1987 politisch formierten. Bei den Verhandlungen am ,,Runden Tisch" des Sommers 1989 wurde der politische Systemwechsel und dessen Fahrplan vereinbart. Bewußt ausgespart blieben dabei die Fragen einer umfassenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systemtransformation. Hierfür die Programme zu liefern und durchzuführen, blieb Aufgabe der neuen demokratisch legitimierten Regierung und parlamentarischen Opposition. Der Erfolg der demokratischen Konsolidierung hängt wesentlich von der Fähigkeit der Akteure ab, gesellschaftliche Kompromisse zu schließen, um den sozioökonomischen Systemwechsel nicht nur in Gang zu setzen, sondern ihn - bei notwendigerweise starker Beteiligung des Staats - unter Zeitdruck und in einem wirtschaftlich-sozial ungünstigen Umfeld durchzuführen. Dieses Umfeld wird u. a. bestimmt von sozialistischen ,,Altlasten" Rezession, binnen- und außenwirtschaftlieber Verschuldung, Inflation, steigender Arbeitslosigkeit, Wohlstands- und sozialer Sicherheitseinbußen für die Bevölkerung bis hin zur Verarmung breiterer Schichten. Die sozialen, ökonomischen und politischen Konflikte müssen über und durch die neuen Institutionen vermittelt, gemanagt und gelöst werden. Dies bedeutet vor allem für die neu entstandenen politischen Parteien als der bislang überwiegenden Institutionenform, daß sie fähig sein müssen, die Interessen, aber auch die Unzufriedenheit der Bevölkerung zu artikulieren und gesellschaftliche Spannungen so zu kanalisieren, daß daraus keine Gefährdung der demokratischen Herrschaftsordnung erwächst. Als Hauptproblem der demokratischen Konsolidierung und langfristig wohl größte Herausforderung des Systemwechsels dürfte sich in den Transformationsländern neben dem sozial abgesicherten Aufbau einer leistungsstarken Marktwirtschaft die Entwicklung und breite Verankerung einer politischen Kultur von Konflikt und Konsens in der Gesellschaft erweisen. Diese Gesellschaft hatte vierzig Jahre kommunistischer Einparteienherrschaft bzw. drei Jahrzehnte paternalisti-

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sehen Staatssozialismus hinter sich. Ihre Vorkommunistischen politischen Traditionen wurden zudem weit stärker von autoritäretatistischen Regimen als von demokraisch-parlamentarischen Systemen geprägt. Trotz allem hatten sich diese Länder und ihre Bevölkerung aber gerade in der Zwischenkriegszeit als integrale Bestandteile der europäischen politischen und kulturellen Identität empfunden, in die wieder vorbehaltlos aufgenommen zu werden der Wunsch einer ,,Rückkehr nach Europa" zum Ausdruck brachte. Die Frage nach den Grenzen dieses Europa war allerdings bereits vor der "Wende" aufgeworfen worden, als im Verlauf einer 1983 von dem im französischen Exil lebenden tschechischen Romancier Milan Kundera initiierten Diskussion.4 Intellektuelle aus Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und Slowenien dafür plädierten, ihre Länder Mitteleuropa und nicht Osteuropa zuzurechnen. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch hatte sich für dieses aus der Konkursmasse der zerfallenden Vielvölkerimperien als Produkte der Pariser Friedensordnung von 1929 I 20 hervorgegangene ,,Zwischeneuropa" der jungen ·,,Nachfolgestaaten" der politische Begriff "Ostmittel-Europa" eingebürgert. Nach Hitlees Krieg und Stalins Sieg wurde diese geschundene Region geteilt, an Stellen auseinandergerissen, wo zuvor Jahrtausende lang keine Grenzen gewesen waren oder bestenfalls solche, die fast nicht bemerkt wurden und die Mobilität der Menschen, den Austausch von Ideen, Kulturen und Waren kaum behindert hatten. Ostmitteleuropa geriet unter beherrschenden kommunistischen Einfluß und wurde vom Westen her nur noch als Teil der Hegemonialzone des sowjetischen Imperiums, als "Ostblock", wahrgenommen. Die kommunistische Staatengemeinschaft sollte nach dem Willen ihrer sowjetrussischen Machthaber das ,,Lager des Friedens und des Sozialismus" bilden, in strenger Abgrenzung zum "ausbeuterischen kapitalistischen Westen", der unter dem dominierenden wirtschaftlichen und kulturellen Einfluß der angeblichen Kriegstreiber in den Vereinigten Staaten von Amerika stand. In diesem in zwei antagonistische Blöcke geteilten Europa lag der ostmitteleuropäische Staatengürtel wie im Mittelalter an der Peripherie Europas, diesmal des östlichen, kommunistischen Europa mit dessen sowjetischem Zentrum. In den Wortmeldungen der intellektuellen Elite ging es vorrangig um die Rettung und Wiederherstellung dieser "verschwundenen (gekidnapten) Mitte" (Kundera), wobei Einvernehmen darüber bestand, daß die Zukunft Europas ohne die Renaissance dieser Mitte nicht denkbar sei. Die Idee eines eigenständigen Mitteleuropa konnte freilich nur unter dem apolitischen Deckmantel eines "Traums" artikuliert werden. ,,Im Vergleich zur geopolitischen Realität Osteuropas und Westeuropas", so formulierte es der ungarische Autor György Konrad 1985 noch vorsichtig, "existiert Mitteleuropa heute lediglich als eine kulturpolitische Antihypothese". 5 Was mit dieser Antihypothese gemeint 4 Milan Kundera, Un occident kidnappe; deutsch in: Kommune 2 (1984), S. 43-52; vgl. dazu Erhllrd Busek/Gerhllrd Wilfinger, Aufbruch nach Mitteleuropa. Rekonstruktion eines versunkenen Kontinents. Wien 1986; Karl Schlögel, Die Mitte liegt ostwärts. Die Deutschen, der verlorene Osten und Mitteleuropa. Berlin 1986. s Kundera (Anm. 4), S. 46.

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sein sollte, blieb ebenso vieldeutig und umstritten wie die wechselvolle Geschichte diese Raumes selbst. Im Begriff und in den Diskussionen um ,,Mitteleuropa" artikulierte sich im Namen der gemeinsamen Kultur des Kontinents ein intellektuelles Aufbegehren gegen die Diktatur. Die Eigenart des Europäerseins wurde angerufen gegen die unmenschliche Tyrannei eines Totalitarismus, der keineswegs spezifischen kulturellen oder kontinentalen Charakter besaß, sondern in seiner ganzen Häßlichkeit der Fratze einer Diktatur schlechthin gleichkam. Gegen diese lehnte man sich auf im Namen des Europäerseinwollens. Der Anspruch, wieder in Freiheit unter allen anderen Europäern zu leben, war keine strategische, sondern eine ausschließlich kulturelle Konzeption ohne Expansionsdrang. Verknüpft allerdings mit der Erwartung eines schnellen Aufholens der wirtschaftlichen Rückständigkeit im Vergleich zum Westen Europas und erfüllt von der Hoffnung auf die dauerhafte Etablierung und Stabilisierung eines demokratischen Pluralismus. Doch aufgrund fehlender Definition und mangelnder Präzision ist ,,Europa" für die Politik eine bestenfalls offene Zielvorgabe, die überaus großen Spielraum läßt. Bereits in der Zwischenkriegszeit haben polnische und tschechische Geographen den wissenschaftlich fragwürdigen Beweis angetreten, daß der Mittelpunkt Europas in ihren Ländern liege; erst vor wenigen Monaten meldete die slowakische Presse stolz, daß sich das geographische Zentrum Europas in der Slowakischen Republik befinde und sie sich daher zu Recht als das eigentliche "Herzland Europas" fühlen und bezeichnen dürfe. Zumindest nach Osten hin sind Europas Grenzen undeutlich - ihre Festlegung war abhängig von den jeweiligen politischen Gegebenheiten. Schon in der Antike hatten die Geographen kein Einvernehmen erzielen können, ob die Scythia zu Europa oder zu Asien gehöre. Erst im 18. Jahrhundert, im Zeitalter der petrinischen Öffnung Rußlands nach Westen, ist die fiktive Ostgrenze Europas vom Don bis zum Ural vorgeschoben worden. In bewußter Abkehr von den durch den Kommunismus verordneten Europabildern, wonach die ehemalige Sowjetunion das Zentrum des östlichen europäischen Raumes bildete, wird in den heutigen Reformstaaten die Trennungslinie, die durch das Kirchenschisma von 1054 entlang von Narev, Bug, den Karpaten und der Save entstand, als die Ostgrenze Mitteleuropas reklamiert und die Bedeutung der westlich davon liegenden Länder erneut als Vorposten der lateinischen Christenheit gegenüber der ostkirchlichen Orthodoxie und dem Islam betont. Weißrußland, die Ukraine, Rumänien, Serbien und Bosnien werden als Grau- oder Zwischenzone zwischen einem "Kultureuropa" einerseits und "Halbasien" (so der galizische Schriftsteller Karl Emil Franzos) oder den ,,Barbarenländern" andererseits betrachtet und Rußland zur unberechenbaren, daher weiterhin bedrohlichen Dominanzmacht Osteuropas erhoben.6 Es mag erstaunen, daß zehn Jahre nach der Wende selbst meinungsbildende intellektuelle und politische Eliten in den Reformstaaten von einer - sowohl kulturell als auch wirtschaftlich - fortbestehenden Teilung Europas in West und Ost aus6 Dieser gesamte Komplex wurde abgehandelt in dem unvollendet gebliebenen Buch von Werner Conze, Ostrnitteleuropa. Von der Spätantike bis zum 18. Jahrhundert. München 1992.

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gehen und ihre östlichen Nachbarn offen als "weniger europäisch", teilweise sogar als "asiatisch" einschätzen. Die Erfahrung, während der Hochzeit des Kommunismus durch den Eisernen Vorhang,7 von Europa abgeschnitten gewesen zu sein, setzte die gegenwärtig noch andauernde Diskussion in Gang, ob Polen oder Ungarn nicht immer zum "eigentlichen Europa" gehört hätten und jetzt dabei seien, zum Zentrum Europas zurückzukehren, jedoch wegen ihres Modernisierungsrückstandes in Gefahr gerieten, nur einen Platz an der Peripherie Westeuropas zugewiesen zu bekommen. Wenn der schwedische Journalist Richard Swartz im Untertitel einer eindrucksvollen Reportagensammlung8 das östliche Mitteleuropa als ,,Europas Nahen Osten" charakterisiert und der Politologe Claus Offe die politische Transformation im ,,Neuen Osten" untersucht, 9 dürfte ihre pejorative Assoziationen weckende Begrifflichkeit in den "Transformationsländern" auf wenig Verständnis gestoßen sein. Die von dem britischen Historiker und Jornalisten Timothy Garton Ash verwendete Umschreibung dieser Staaten des sozialistischen Lagers als "Vereinigte Königreiche der Großen Leiden" 10 entsprach schon eher der Stimmungslage, zumal die Betroffenen den Ost-West-Konflikt und die Teilung Europas konkret nicht nur als Freiheitsverlust erfuhren. Deswegen konnte György Konrad Ende der achtziger Jahre unwidersprochen anmahnen, daß das westliche Glück nicht länger auf Kosten des östlichen Unglücks aufrechterhalten werden dürfe. I I

7 Der wahre Autor dieser Metapher ist nicht Winston Churchill, der in seiner Rede am 5. März 1946 in Fulton (Missouri) das Niederfallen eines Eisernen Vorhangs von der Ostsee bis zur Adria beklagte, sondern Joseph Goebbels, der bereits in einem Leitartikel "Vom Irrtum im Kriege" in: Das Reich am 3. Dezember 1944 einen "eisernen Vorhang des Schweigens" beklagte und die Großen Drei nach der Konferenz von Jalta in dem Artikel: ,,Das Jahr 2000" in: Das Reich vom 25. Februar 1945 beschuldigte, durch ihre Beschlüsse inmitten Europas einen Eisernen Vorhang herabzulassen. Gerade nach einer deutschen Niederlegung der Waffen "würden die Sowjets, auch nach den Abmachungen zwischen Roosevelt, Churchill und Stalin, ganz Ost- und Südosteuropa zuzüglich des größten Teils des Reiches besetzen. Vor diesem einschließlich der Sowjetunion riesigen Territorium, würde sich sofort ein eiserner Vorhang heruntersenken, hinter dem dann die Massenabsehtachtung der Völker begänne". Ralf Georg Reuth, Goebbels. Eine Biographie. München 3 1995, S. 581; Wolfgang Mieder; Biographische Skizze zur Überlieferung des Ausdrucks "lron Curtain"/ ,,Eiserner Vorhang". in: Muttersprache. Zeitschrift zur Pflege und Erforschung der deutschen Sprache 1981, S. I 14. R Richard Swartz, Room Service. Geschichten aus Europas Nahem Osten. Frankfurt/Main 1996. 9 Claus Offe, Der Tunnel am Ende des Lichts. Erkundungen der politischen Transformation im Neuen Osten. Frankfurt/Main, New York 2 1994. IO Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert wird abgewählt: Aus den Zentren Mitteleuropas 1980-1990. München 2 1993; ders.: Mitteleuropa, in: Daedalus 119 (1990)1, S. 1-21. II Auch der polnische Publizist Dawid Warszawski hatte in der Untergrundzeitschrift KOS kritisiert: "Heute, genau so wie vor vierzig Jahren, ist unsere Unterdrückung der Preis, den die westlichen Länder für die Erhaltung ihrer eigenen Ruhe zahlen". Zit. nach Jiri Dienstbier; Träumen von Europa. Berlin 1991. S, 133.

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Westeuropa jenseits von Zonengrenze und Todesstreifen wurde im sozialistischen Lager durchgängig mit "dem Westen" gleichgesetzt, zu dem unreflektiert die Bundesrepublik Deutschland, die USA, Kanada, ja sogar Australien gezählt wurden, im Grunde alle wohlhabenden Länder, die vergleichsweise rasch die Folgen des Zweiten Weltkriegs überwunden hatten und in denen erstrebenswerte politische, soziale und wirtschaftliche Normen Anwendung fanden, wo die elementaren Lebensnotwendigkeiten gewährleistet waren, die Freiheit des Individuums sowie das Recht auf freie Meinungsäußerung beachtet wurden und eine Leben ohne Angst möglich war. Diese idealisierte Vorstellung des "anderen Europa" wurde konfrontiert mit der Tristesse im Ostblock, in dem überall trotz aller nationaler Unterschiedlichkeit die gleichen Einrichtungen und Absurditäten anzutreffen waren: Dieselben Gerüche und Farben, das Grau des Alltags und das Zinnoberrot der Spruchbänder an Feiertagen. Reden und Rituale der Parteigewaltigen glichen sich ebenso wie die Resignation und der Spott der Beherrschten, die als "Werktätige" angeblich die Macht ausübten. Diese Welt brachte die Konformität der wohlbestallten Funktionäre hervor und all die Schattierungen der Unterdrückung, die vom tödlichen Terror bis zur patemalistischen Bevormundung der Untertanen reichten. Sie forderten aber auch Widerstand heraus, der sich manchmal in Form von Heldenmut, meist aber in schlauer, stiller Verweigerung manifestierte. Not erzog zu Höchstleistungen in der Kunst des Überlebens. Für die Betroffenen wurde ,,Rückkehr nach Europa" zur Bekenntnis- und Beschwörungsformel der neuen Zeit, zum Codewort einer politischen und mentalen Fluchtbewegung, die darauf aus war, den Osten hinter sich zu lassen und in der mit "dem Westen" verschmolzenen Mitte Europas Platz zu nehmen. Die von Michail S. Gorbatschow nach 1985 angebotene Alternative, alle europäischen Länder einschließlich der zu fünf Sechsteln in Asien liegenden Sowjetunion in einem "gemeinsamen europäischen Haus" (Evropa - nas obsei dom) zu versammeln, fand daher selbst in den Parteiführungen der sozialistischen ,,Bruderländer" nur wenig Zustimmung. Dieses einprägsame Bild hatte ursprünglich Leonid Breschnew im November 1981 bei seinem letzten Besuch in der Bundesrepublik Deutschland gebraucht, wohl ohne zu wissen, daß bereits Aeneas Silvius Piccolomini, der spätere Papst Pius II., nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen 1453 mehrfach sinngemäß von "unserem gemeinsamen Haus" gesprochen hatte, um vor der Europa bedrohenden Türkengefahr zu warnen und gemeinsame Verteidigungsanstrengungen anzumahnen. 12 Die langfristige Strategie Gor12 Bereits im April 1452 warnte Piccolomini als Bischof von Siena Papst Nikolaus V. erstmals vor der von den Türken für das christliche Europa ausgehenden Gefahr. Nach dem Fall von Konstantinopel setzte er sich mit dem Thema in mehreren Briefen, so am 21. Juli 1453 an Kardinal Nikolaus von Kues, auseinander. Auf dem Reichstag von Regensburg und vor allem am 29. September 1454 auf dem Reichstag in Frankfurt rief er zum Kreuzzug mit dem Argument auf: .,Retroactis namque temporibus in Asia atque in Aphrica, hoc est in aliena terris vulnerati fuimus: nunc vero in Europa, id est in patria, in domo propria, in sede nostra percusi caesique sumus" [In zurückliegenden Zeiten wurden wir in Asien und Afrika, d. h. in fremden Ländern, verwundet: Nun aber werden wir in Europa, d. h. in der Heimat, im eige-

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batschows zielte offensichtlich darauf ab, im Rahmen der KSZE die mit Europa verbundenen Probleme gemeinsam zu behandeln sowie eine gesamteuropäische Friedensordnung zur Überwindung der zwischen Ost und West bestehenden Spannungen zu entwickeln, eine engere Zusammenarbeit durch den Ausbau der bilateralen und multilateralen zwischenstaatlichen Beziehungen zu ermöglichen und trotz der in der UdSSR fehlenden ökonomischen Strukturen einen gesamteuropäischen Markt als Voraussetzung eines allmählichen, ganz Europa erfassenden Integrationsprozesses einzurichten. Als - allerdings unausgesprochenes - Hauptziel dieses in mehreren Varianten entwickelten Programms verfolgte der Kremlchef jedoch eine Ablösung Westeuropas von Nordamerika, den Rückzug der USA auf den eigenen Kontinent und eine stärkere Ausrichtung der EG-Staaten auf die Sowjetunion. Im Werben. um Zustimmung für seine Konzeption wurde Gorbatschow nicht müde zu betonen: "Wir sind Europäer. Mit Europa war das alte Rußland durch das Christentum verbunden". Gleichzeitig verwies er auf die gemeinsame Geschichte und Kultur, die durch die Renaissance, die Aufklärung sowie die philosophischen Lehren des 19. und 20. Jahrhunderts bestimmt worden sei. 13 Den USA warf er dagegen einen negativen politischen und geistigen Einfluß auf Europa vor, wobei er sich als Zeugen auf den ehemaligen Außenminister Henry Kissinger berief, der Europa bereits an der Weichsel enden lassen wollte. 14 Aber selbst das Versprechen des Generalsekretärs der KPdSU, daß alle Mitbewohner des gemeinsamen Hauses ihre nationale und soziale Spezifik behalten könnten, zudem berechtigt seien, unter Respektierung der bestehenden, aber uneingeschränkt durchlässigen Grenzen ihre besonderen Interessen ohne Benachteiligung der anderen Parteien zu verteidigen, konnte die Skepsis in den europäischen Metropolen über diese als "Ergebnis der Geschichte Europas ... von der Wirklichkeit des ausgehenden 20. Jahrhunderts hervorgebrachte"Vision nicht abbauen. 15 nen Haus, in unserem Sitz angegriffen und getötet]. Aeneae Sy1vii Piccolominei Senensis, qui post adeptum pontificatum Pius eius nominis Secundus appellatus est, opera quae extant omnia. Nunc demum post corruptissimas aeditiones summa diligentia castigata et in unum corpus redacta. His quoque accessit gnomologia ex omnibus Sylvii operibus collecta, et index rerum ac verborum omnium copiosissimus. Frankfurt/M. 1967, S. 678 [Fotomech. Nachdr. d. Ausg. Basileae, 1571]. 13 Auf diesen Aspekt ging nachdrücklich der italienische Staatspräsident Giovanni Spadolini: Die Gesellschaftskrise im Osten und die Rückkehr zum gemeinsamen Europa. Luxemburg 1991, ein, der mit dem Argument, daß das transeuropäische Rußland'seine Wurzeln in der Entwicklung und Ausbreitung der aus der Alten Welt erwachsenden Kultur habe, dafür plädierte, Rußland nicht aus ,,Europa" auszugrenzen. 14 Michael Gorbatschow, Perestroika. Die zweite russische Revolution. München 1987, S. 247 ff.; vgl. auch ders.: Meine Vision. Die Perestroika in den neunziger Jahren. München 1991, s. 100 f. 1s Zum "gemeinsamen europäischen Haus", das Gorbatschow gelegentlich auch "gemeinsames Erdenhaus" und .,unser gemeinsames Haus" nannte, siehe Hannes Adomeit, Gorbatschows Westpolitik: Die Beziehungen im "gemeinsamen Haus", in: Osteuropa 38 ( 1988) 6, S. 419-434, und 9, S. 816-834; Horst Teltschik, Das Konzept vom gemeinsamen europäischen Haus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. Dezember 1988; ders.: Die Reformpolitik Gorbatschows und die Perspektiven der West-Ost-Beziehungen, in: Außenpolitik

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Seit den "sanften Revolutionen" von 1989 suchtEuropawieder zusammenzufinden. Dabei müssen auch Uraltdifferenzen überwunden werden, die durchaus auf überkommene, geschichtlich bedingte Teilungszustände hinweisen. Nur bedingt ironisch ist der Hinweis gemeint, daß die erste Teilung Europas, oder besser gesagt, die erste Einigungsverhinderung im Jahre 9 nach dem Sieg Hermanns des Cheruskers stattfand. Wer die Landkarte der EG-Gründungsstaaten und der um Spanien und Portugal erweiterten Gemeinschaft mit der Westausdehnung des Römischen Reiches vergleicht, wird verblüffende Übereinstimmungen feststellen, denn im Kern war die EWG mit dem Weströmischen Reich und seinen Territorien fast identisch. Die gravierenden Unterschiede zwischen dem römischlateinischen und dem griechischorthodoxen sowie dem russischorthodoxen Kulturkreis dürfen nicht unberücksichtigt bleiben. Ein weiteres Trennungselement ist ebenfalls durchaus mit einer altrömischeuropäischen Dimension verbunden: der Stadtkultur. Die meisten Städte Westeuropas, die Teil des römischen Reiches gewesen oder von Römern gegründet worden waren, sind im Verhältnis zu allen späteren Pflanzstädten in Mittel- und Osteuropa tausend Jahre älter- mit der ganzen Konsequenz, die dies für die Stadtgeschichte, ftir die Mentalitätsgeschichte, für die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte beinhaltet. Schlägt man den Bogen bis in die Neuzeit, dann bleibt festzustellen, daß praeter propter auch die Industrialisierungsprozesse eine geteilte europäische Erfahrung gewesen sind. Natürlich gab es Zentren der Industrialisierung in Osteuropa, die simultan mit den frühesten Industrialisierungsinitiativen Westeuropas verbunden waren, aber generell gilt doch, daß der Übergang von der Agrargesellschaft in die Industriegesellschaft nebst allen damit verbundenen soziologischen, kulturellen, mentalen und politischen Fragestellungen sich in Westeuropa mindestens hundert, teilweise zweihundert Jahre eher vollzogen hat als in Osteuropa. Differenzen des ökonomischen Lebensstandards, die wir heute erleben, haben sich durch die kommunistische Selbstisolation der letzten Jahrzehnte zwar verschärft, sie verweisen aber in viel tiefere Schichten sozialer Diskrepanzen und Differenzen in Europa. Wahrend die emotionale Devise der Osteuropäer "Zurück nach Europa" lautet, heißt die technokratische Losung auf Seiten der Westeuropäer "Assoziierung" und "schrittweise Integration". Der Sachverhalt aber ist, emotional oder technokratisch ausgedrückt, der gleiche. Europa sucht sich wieder selbst, sucht sich zu einer neuen Gestalt zu entwickeln, wobei die Europäische Union der wichtigste handlungsfähige Kristallisationspunkt in der komplexen politischen Architektur ist. Die militärische Integration im Rahmen der NATO kommt freilich rascher voran, weil sich die 40 (1989) 3, S. 211-215; Boris Meissner. "Neues Denken" und sowjetische Außenpolitik, in: Außenpolitik 40 (1989) 2, S. 107 ff., hier S. 121-124; Peter W Schulze (Hrsg.), Überlegungen zum gemeinsamen europäischen Haus. Bonn 1989; Otmar Franz (Hrsg.), Europa und Rußland- das Europäische Haus? Göttingen u. a. 1993. Der seit längerer Zeit angekündigte, von Wulf Köpke/Bernd Schmelz (Hrsg.), Begleitband einer Ausstellung im Museum für Völkerkunde in Harnburg Das Gemeinsame Haus Europa. Handbuch zur europäischen Kulturgeschichte. München 1999, lag bei Fertigstellung der Druckvorlage noch nicht vor. 10 FS Krause

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Aufnahme in dieses nordatlantisch-europäische Bündnis problemlos mit den früheren Konfrontationsstrukturen und -erfahrungen in Einklang bringen läßt. Beide Prozesse demonstrieren sehr deutlich, daß der Wandel der späten achtziger und der neunziger Jahre Ausdruck einer tiefgreifenden Systemkrise ist. Der damals noch in Konstanz, jetzt an der Viadrina in Frankfurt/Oder lehrende Osteuropa-Historiker Kar! Schlögel hat davon gesprochen, daß Deutschland sich in einer "Transitionskrise ohne Krisenbewußtsein" befindet - von ihren Konsequenzen kann sich aber auch Westeuropa je länger desto weniger abschotten. Der revolutionäre Umbruch in Osteuropa ist Zeichen eines komplexen Modernisierungsvorganges. Tatsächlich läßt sich der Marxismus-Leninismus auch als eine Ideologie der Modernisierungsverhinderung beschreiben, die zwar mit dem Ziel angetreten war, Rückständigkeit zu überwinden, die am Ende jedoch nur eine dürftige und unausgewogene Industrialisierung eingeleitet und die Klassengesellschaft mit neuen Formen sozialer Verelendung hinterlassen hat. In der Euphorie über die Überwindung der Teilung Europas vertraten nach 1989 die überraschten Politiker und Publizisten in den westlichen Demokratien, die "posttotalitäre" Illusionen über Reformwillen, Veränderungsbereitschaft und Leistungspotential der bislang sozialistischen Länder hegten, die Auffassung, den unaufschiebbaren Transformationsprozeß ohne größere Schwierigkeiten und Opfer bewältigen zu können. In der "Charta von Paris" der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) war 1990 das Ende der Ost-West-Konfrontation verkündet und das neue, freie und friedliche Europa proklamiert worden. Der Machbarkeitsfortschritt schien einen neuen Namen gefunden zu haben: die Hoffnung auf Europa. Doch mit den düsteren Erfahrungen des Krieges im früheren Jugoslawien und auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion ist längst die Illusion zerbrochen, daß der Friede in Europa unteilbar sein könnte. Das vielbeschworene "gemeinsame europäische Haus" erwies sich nur als eine einprägsame Metapher, nicht als politische Realität. Führende tschechische Dissidenten wie z. B. der Ex-Außenminister Jirf Dienstbier, der in seinem Buch "Träumen von Europa"16 die Erwartungen der antikommunistischen Oppositionellen beschrieben hatte, stellte bereits nach wenigen Jahren ernüchtert fest, daß ihre Europa-Vorstellungen "naiv" gewesen seien. Versuche, die authentischen Erfahrungen der ethischen Politik, das von Vaclav Havel geforderte "Leben in der Wahrheit", in die internationalen Beziehungen hineinzutragen, erwiesen sich als ebenso voreilig wie die Wünsche nach einer stabilen postnationalen Identität. Als dann die Erblast und die Konkursmasse der wirtschaftlichen, sozialen und soziokulturellen Hinterlassenschaft des Realsozialismus einer genaueren Bewertung unterzogen worden waren und mit der Einführung der Marktwirtschaft die Industrieproduktion und das Bruttoinlandsprodukt um über ein Fünftel zurückgingen, Hunderttausende in die zuvor unbekannte Arbeitslosigkeit entlassen wurden und sich eine Hyperinflation in bislang unvorstellbarer Größenordnung ausbreitete, kamen in breiten Bevölke16

Jiri Diensrbier, Träumen von Europa. Berlin 1991.

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rungskreisen Zweifel und Unzufriedenheit über die Folgen der "Rückkehr nach Europa" auf. 17 Die wirtschaftliche Transformation schuf- neben neuen Perspektiven - auch eine neue Spannung zwischen Arm und (Neu-)Reich und untergrub staatliche Versorgungsmechanismen. Deshalb begannen sich unzählige Verlierer der seit 1989 eingetretenen Veränderungen nach den paternalistischen Strukturen der kommunistischen Ära zurückzusehnen. Insofern bedeutet die Suche nach Kontinuität eine Kombination zweier konkurrierender Gesellschaftsentwürfe: einerseits die Verklärung der vorkommunistischen, andererseits der kommunistischen Vergangenheit - und nicht selten beides zugleich. Im großen und ganzen unterscheiden sich aber die Europabilder in den Ländern Osteuropas nicht auff