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German Pages 698 Year 2006
Fiat iustitia Recht als Aufgabe der Vernunft
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1035
Fiat iustitia Recht als Aufgabe der Vernunft Festschrift für Peter Krause zum 70. Geburtstag
Herausgegeben von Maximilian Wallerath
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-11934-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Θ Internet: http://www.duncker-humblot.de
Z U M GELEIT
Freunde, Kollegen und Schüler widmen diese Festschrift Peter Krause zum 70. Geburtstag. Sie enthält Beiträge, in denen sich sein langjähriges Wirken als Forscher, Hochschullehrer und Richter widerspiegelt. Peter Krause wurde am 27. Februar 1936 in Osnabrück geboren. Nach Schulbesuchen in Königshütte/Oberschlesien, Stadtoldendorf und Holzminden an der Weser studierte er Rechtswissenschaften und Philosophie, Soziologie und Geschichte in Saarbrücken. Zwischen erstem und zweitem juristischem Staatsexamen (2. Juni 1962 bzw. 21. Oktober 1966) promovierte Peter Krause am 26. April 1966 mit dem Thema „Die Lehre von der Arbeit in der Philosophie des Deutschen Idealismus und ihre Bedeutung für das Recht" bei Joachim Kopper. Am 8. Februar 1973 wurde er für die Fächer Staats- und Verwaltungsrecht sowie Sozialrecht habilitiert. Nach Lehrtätigkeiten an den Universitäten Mainz und Mannheim sowie einer Professur für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Sozialrecht an der Universität Saarbrücken bekleidete er von 1975 bis zu seiner Emeritierung am 31. März 2004 die ordentliche Professur für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Trier. Dort leitet er seit vielen Jahren die Forschungsstelle „Vernunftrecht und Preußische Rechtsreform". Peter Krause ist ein Hochschullehrer und Forscher „alter Schule" - eine Entpflichtung vor Vollendung des 67. Lebensjahrs wäre undenkbar für ihn gewesen. Bei wechselnden Forschungsschwerpunkten, die sich im Laufe der Zeit herausbildeten, sind es die gleich bleibende Schaffenskraft und das nie erlahmende Engagement, die ihn als leidenschaftlichen Forscher und ambitionierten Lehrer des Rechts kennzeichnen. Bei aller wissenschaftlichen Distanz zum Gegenstand war und ist sein persönlicher Einsatz unübersehbar. Das zeigt sich nicht nur in der Übernahme der alle Kräfte beanspruchenden Aufgabe der Edition von neun Bänden zum Entwurf eines allgemeinen Gesetzbuches für die Preußischen Staaten, sondern auch in der Bereitschaft zur Bekleidung akademischer Ämter. So war Peter Krause zweimal Dekan des Fachbereichs Rechtswissenschaften der Universität Trier, Vorsitzender der Versammlung der Universität (Großer Senat) sowie abgeordneter Gründungsdekan an der Juristenfakultät der Universität Leipzig. Peter Krause verstand und versteht es, verschiedene Zugänge zum Recht zu nutzen. Durch und durch als Jurist dogmatischer Analyse verschrieben, genügt
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Zum Geleit
ihm dennoch nicht die ausschließliche Befassung mit dem positiven Recht. Seine Liebe galt und gilt nicht zuletzt der Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte, die in den letzten Jahren den Schwerpunkt seiner Arbeit bildeten. Dabei ist es seine Sache nicht, sich wichtigen gesellschaftlichen und rechtspolitischen Entwicklungen zu entziehen. Schon seine 1966 erschienene Dissertation über die Lehre von der Arbeit befasste sich mit einem Untersuchungsgegenstand, der seit jeher größte gesellschaftliche Aufmerksamkeit genoss und heute nicht aktueller sein könnte. Sein lebhafter Geist drängt darauf, wo nötig klar Stellung zu beziehen. Aus dem Grundzug unbedingter Aufrichtigkeit erwuchs seine hohe Glaubwürdigkeit, die jeder, der Peter Krause kennt, zu schätzen gelernt hat. Sie geht einher mit einer prinzipiellen, nicht zuletzt durch seine Beschäftigung mit philosophischen Fragestellungen gespeisten Werteorientierung, die fern von rigoristischem Denken ist. Das legt eine Traditionslinie offen, die bis auf Immanuel Kants Philosophischen Entwurf „Zum Ewigen Frieden" zurückführt, in dem sich dieser dafür ausspricht, den Bestand „eines mit Ungerechtigkeit behafteten öffentlichen Rechts" solange zu respektieren, bis „zur völligen Umwälzung alles entweder von selbst gereift oder durch friedliche Mittel der Reife nahe gebracht worden" sei. Von dieser Grundeinstellung geleitet hat sich Peter Krause anspruchsvollen Aufgaben auch außerhalb der Universität gestellt und diese stets engagiert wahrgenommen. 23 Jahre war er im zweiten Hauptamt als Richter am Landessozialgericht in Mainz tätig, seit 2000 ist er stellvertretendes Mitglied des Verfassungsgerichtshofes Rheinland-Pfalz. Lange Zeit war er Landesvorsitzender des Deutschen Hochschulverbandes, Vorsitzender des gemeinsamen Schiedsamtes nach § 89 Abs. 5 SGB V sowie Mitglied der Ethikkommission der Caritas-Trägergesellschaft, in der er seit kurzem auch den Vorsitz führt. So fand er in unterschiedlichen Rollen Gelegenheit, Entscheidungsfreude mit dem Sinn dafür zu verbinden, wissenschaftliches Denken in die Praxis konkreter Problembewältigung überzuführen. Dem beeindruckend breiten Spektrum seines wissenschaftlichen Interesses und seines Engagements entsprechen die Beiträge dieser Festschrift. Deren Aufbau folgt den unterschiedlichen Schwerpunkten, die Peter Krause in seiner wissenschaftlichen Arbeit im Lauf der Jahre gesetzt hat. An der technischen Realisierung der Festschrift haben Christian Rühr und Edna Rasch maßgeblich mitgewirkt; ihnen gebührt ein besonderer Dank. Autoren und Herausgeber freuen sich, Peter Krause mit dieser Festschrift ihre Wertschätzung und ihren Dank bekunden zu können. Greifswald, im Februar 2006 Maximilian Wallerath
INHALTSVERZEICHNIS
Erster Teil: Recht der sozialen Sicherung HANS FRIEDRICH ZACHER
Entwicklung einer Dogmatik des Sozialrechts
3
B E R N D VON M A Y D E L L
Sozialversicherung - ein Modell für das 21. Jahrhundert?
37
PING-CHENG CHUNG
Die
Sozialversicherung
in
Taiwan.
Sozial-
und
verfassungsrechtliche
Aspekte
47
KERSTIN ODENDAHL
Die „offene Koordinierung" der Alterssicherungssysteme in der Europäischen Gemeinschaft
61
PETER A X E R
Soziale Versicherungsträger als Thema der grundgesetzlichen Kompetenzordnung. Verfassungsrechtliche Fragen der Errichtung und Organisation sozialer Versicherungsträger
79
INGWER EBSEN
Die ambulante ärztliche Versorgung als Sachleistung der GKV im Überschneidungsfeld von Sozialversicherung und ärztlichem Berufsrecht sowie von Bundes- und Länderkompetenz zur Gesetzgebung
97
GERHARD IGL
Wirtschaftlichkeits- und Wirksamkeitsprüfungen von Pflegeleistungen aus sozial- und verfassungsrechtlicher Perspektive
115
OTTO ERNST KRASNEY
Hilfsmittel
im
Krankenversicherungs-
zwei Problemfelder
und Pflegeversicherungsbereich 133
Inhaltsverzeichnis
VIII M I C H A E L RUPPELT
Künstler ohne Kunst
153
HERMANN PLAGEMANN
Persönliches Budget - Chance für mehr Teilhabe MAXIMILIAN
171
WALLERATH
Paradigmenwechsel in der sozialen Sicherung? Eine Nachlese zum Projekt „Hartz"
187
Zweiter Teil: Europarecht, Staats- und Verwaltungsrecht M A T T H I A S RUFFERT
Überlegungen zu den Rechtsformen des Verwaltungshandelns im europäisierten Verwaltungsrecht
215
C H R I S T I A N B A L D U S UND F R I E D E R I K E V O G E L
Gedanken zu einer europäischen Auslegungslehre: grammatikalisches und historisches Element
237
REINHARD HENDLER
Innovative Impulse für das deutsche Umweltrecht
durch europäisches
Gemeinschaftsrecht M A X I M I L I A N F U C H S UND A L E X A N D R A
253 RUTZ
Die Geltung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Beamte
267
W O L F G A N G RÜFNER
Die Richtlinie 2000/78/EG und das kirchliche Arbeitsrecht in Deutschland
283
JOSEF ISENSEE
Verfahrensfragen der Volksgesetzgebung - Überlegungen zum Landesverfassungsrecht
303
RÜDIGER BREUER
Gemeinschaftsaufgaben und Mischfinanzierung - eine Crux des Bundesstaates
325
M E I N H A R D SCHRÖDER
Die Verantwortung der Verfassungsorgane bei der auf Auflösung des Bundestages gerichteten Vertrauensfrage. Zum Urteil des BVerfG vom 25.08.2005 ...
349
Inhaltsverzeichnis MICHAEL
REINHARDT
Der Hochschullehrer als Richter. Anmerkungen zu einer parallelen Tätigkeit in Exekutive und Judikative HANS-WERNER
361
LAUBINGER
Die Untersuchung von Vorwürfen wissenschaftlichen Fehlverhaltens
379
G E R H A R D ROBBERS
Bemerkungen zum Religionsunterricht in Berlin
411
THOMAS WÜRTENBERGER
Gewissen und Recht
427
M I C H A E L KLOEPFER
Verkehrslärmschutz als Verfassungsabwägung
443
ULRICH BATTIS
Risikoentscheidungen durch Bauordnungsrecht - Wirkungen im Verhältnis zu Zivil- und Strafrecht
455
CHRISTIAN HEITSCH
Zum Recht auf Akteneinsicht in Bauleitplan- und Raumordnungsplanverfahren
465
Dritter Teil: Geschichte, Philosophie DETLEF MERTEN
Zur Staatsphilosophie im aufgeklärten Potsdam
483
FRANZ DORN
Die napoleonische Gesetzgebung aus der Sicht von Ernst Ferdinand Klein und Christoph Goßler
503
GUNTHER FRANZ
„Ad magistratus Germaniae hoc tempore necessarius". Christliche Obrigkeit, Staat und Menschenrechte bei Friedrich Spee
533
JÖRG W O L F F
Christian Otto Mylius - nicht nur ein preußischer Militärjurist
549
Inhaltsverzeichnis HANS WIELING
Possessorisch und petitorisch
571
THOMAS FINKENAUER
Lohn für die Rettungstat?
589
GERHARD LINGELBACH
Gottlieb Christian Schüler - ein Jenaer Rechtsgelehrter
611
NORBERT HINSKE
Kants Warnung vor dem Wohlfahrtsstaat
und sein Plädoyer für den
Sozialstaat
627
LUDGER HONNEFELDER
Selbstbestimmung und Verantwortung
639
RAINER ZACZYK
„Fiat iustitia, pereat mundus" - Zu Kants Übersetzung der Sentenz
649
Verzeichnis der Schriften von Peter Krause
665
Verzeichnis der Autoren
683
Erster Teil: Recht der sozialen Sicherung
Entwicklung einer Dogmatik des Sozialrechts Von Hans Friedrich
Zacher
I. Die Anfänge des Sozialrechts und die dogmatische Blüte des Sozialversicherungsrechts Der Name „Sozialrecht' 41 gewann in der Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals Substanz.2 Um 1800 ist das Ancien Regime zusammengebrochen. Seitdem mühen sich die deutschen Staaten mit sehr unterschiedlicher Entschlossenheit und Geschwindigkeit um den Aufbau eines modernen bürgerlichen Rechts- und Verfassungsstaates. Das Wort „sozial" dringt von Frankreich her in die deutsche Sprache ein. Es wird in seinen drei elementaren Deutungsmöglichkeiten verstanden, die teils isoliert, teils sich überlappend und spezifisch verstanden werden: erstens, als allgemein gesellschaftsbezogen; zweitens, als allgemein gemeinschaftsverpflichtet; und, drittens, als Kritik an unangemessenen Wohlstandsunterschieden. Letzteres ist der Sinn, der mit der „sozialen Frage" gemeint ist. Da es auf sie lange Zeit keine wesentliche rechtliche Antwort gibt, gibt es zunächst auch kein „Sozialrecht" im Sinne von Normenkomplexen, die der „sozialen Frage" abhelfen. Zwar gibt es, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt, die Armenfürsorge. Aber sie ist primär Armenpolizei: Abwehr der Gefahren, die von der Armut ausgehen. Zwar verdichtet sich das Netz begrenzter öffentlicher Einrichtungen, mittels derer - wie vor allem durch Hilfskassen - Ansätze sozialer Sicherheit organisiert werden. Aber im Verhältnis zur Not der Zeit bleiben sie partikular, wenn nicht marginal. Anders ist es mit dem ersten Wortsinn: dem allgemeinen Gesellschaftsbezug. Die Zivilisation verändert sich rasch - vor allem das Wirtschaftsleben. Und nicht weniger rasch entwickeln sich die Praktiken der gesellschaftlichen 1
Der Jubilar hat zur Entwicklung einer Sozialrechtsdogmatik außerordentlich viel und Wesentliches beigetragen. Darum sei ihm dieser Beitrag gewidmet. Um den Anteil, den Peter Krause an der Entwicklung der Sozialrechtsdogmatik genommen hat, zur Geltung zu bringen, wird im Folgenden vor allem auf seine einschlägigen Veröffentlichungen hingewiesen. Im Übrigen konzentriert sich der Apparat auf einige wenige Schlüsselhinweise. 1 Stolleis, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, 2003; Tennstedt , Geschichte des Sozialrechts, in: Baron von Maydell/Ruland (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, 3. Aufl. 2003, S. 24 ff.
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Hans F. Zacher
Interaktion sowie der Nutzung, Produktion und Verteilung der Güter. Die alten Ordnungsinstrumente des Standes und des individuellen Privilegs taugen nicht mehr. Nur das allgemeine Gesetz und eine am Gesetz orientierte Verwaltungspraxis können die Autonomie der Gesellschaft und die komplexe Vielfalt der Interaktionen, die sich in ihr vollziehen, sinnvoll organisieren. Gesellschafts-, Handels- und Gewerberecht, Wasser-, Berg- und Baurecht, Ordnungen für das Kreditwesen usw. werden neu geschaffen oder neu formuliert. Und immer wieder werden Felder, auf denen das Recht in besonderem Mai3e dazu beiträgt, Gesellschaft zu integrieren, als „Sozialrecht" begriffen und benannt. Hermann Roesler3 und Otto von Gierke 4 vertreten diese Richtung. Aber letztlich sind alle Ordnungen, durch die transprivate Aktivitäten privater Subjekte geregelt werden, „Sozialrecht" in diesem Sinne. Die „soziale" Gemeinsamkeit dieser vielen Rechtsgebiete ist schwächer als das jeweils Besondere etwa des Aktienrechts oder des Gewerberechts, etwa des Genossenschaftsrechts oder des Wasserrechts. Der Auftrag des „Sozialrechts" bleibt Idee. Der Einfluss auf die Entwicklung des Rechts ist schwer zu fassen. Erst in der Zeit Bismarcks entsteht mit dem Projekt einer Arbeiterversicherung ein Corpus spezifischen Sozialleistungsrechts. Dieses Recht ist „sozial" im Sinne einer Kritik an unangemessenen Wohlstandsunterschieden. Es will eine direkte Antwort auf die soziale Frage geben: Auch die Arbeiter sollten eine Chance - wenn auch zunächst minimaler - sozialer Sicherung haben. In der Zeit von 1883 bis 1889 entstanden die grundlegenden Gesetze über die Krankenversicherung, die Unfallversicherung und die Invaliditäts- und Altersversicherung. Sie entstanden in einer Zeit, in der nicht nur die Qualität der Gesetzgebung, sondern auch ihre dogmatische Erklärung und Einbettung einen hohen Stand erreicht hatte. Und so entstand rasch eine Literatur, die sich um ein kohärentes Verständnis des neuen Rechts bemühte. Freilich dominierten dabei die speziellen Ansätze. In jedem Fall blieben die Grenzen der drei Versicherungszweige maßgeblich. Da die neue Versicherung jedoch eine Arbeiterversicherung war, entstanden auch dogmatische Arbeiten, die am Status des Arbeiters - den die Versicherungsgesetze beträchtlich verändert und erweitert hatten - ansetzten und so eine übergreifende Ganzheit vergegenwärtigten. Zu den gesetzgeberischen Eigentümlichkeiten der Zeit zählte ferner die Kodifikation. Durch sie trug der Gesetzgeber selbst dazu bei, übergreifende, möglichst ganzheitliche Zusammenhänge sichtbar zu machen. 1911 erfasste das Prinzip der Kodifikation auch das Arbeiterversicherungsrecht: in Gestalt der Reichsversicherungsordnung. Damit war ein entscheidender Impuls gesetzt, das Sozialversicherungsrecht literarisch als eine dogmatische Einheit zu entwickeln. Freilich 3 Zu Hermann Roesler s. Rauscher, Die soziale Rechtsidee und die Überwindung des wirtschaftsliberalen Denkens, 1969. 4 Zu Otto v. Gierke s. Thieme, Gierke. In: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 2, 7. Aufl. 1986, Sp. 1063 f.
Entwicklung einer Dogmatik des Sozialrechts
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irritierte, dass neues reichsgesetzliches Sozialversicherungsrecht weiterhin auch außerhalb der Reichsversicherungsordnung entstand: mit dem Angestelltenversicherungsgesetz (1911), dem Reichsknappschaftsgesetz (1923) und der Arbeitslosenversicherung (Gesetz über die Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung von 1927). Die Literatur hielt sich zuweilen an die weiter ausgreifende Einheit der Sache, zuweilen an die engere Einheit der Kodifikation. So entstand in dem halben Jahrhundert zwischen 1883 und 1933 - um aus der nicht unbeträchtlichen Schar von Rechtswissenschaftlern, die diese Entwicklung maßgeblich trugen, die zwei leuchtendsten Namen zu nennen: zwischen Heinrich Rosin und Lutz Richter - eine Dogmatik des Sozialversicherungsrechts von hohem Niveau.5 Damit vertiefte sich aber auch der Graben zwischen der rechtsdogmatischen Kultur des Sozialversicherungsrechts auf der einen Seite und der rechtsdogmatischen Kultur der Frühformen anderer Sozialleistungszweige, die heute unter „Sozialrecht" mit verstanden werden, auf der anderen Seite. Die Dogmatik des Sozialversicherungsrechts hatte im nicht-sozialversicherungsrechtlichen „Sozialrecht" nicht ihresgleichen. Das gilt vor allem für die Fürsorge, die auch nach ihrer Reform (1924) primär Staats auf gäbe und nur ausnahmsweise auch ein Anspruch der Bedürftigen war. Als „gehobene Fürsorge" war sie zudem extrem zersplittert. Der Vorrang der Aufgabe vor dem Anspruch beherrschte auch die Jugendhilfe. Die Kriegsopferversorgung war zu einem Teil zwar als Anspruch geregelt, der in einem besonderen Rechtsweg durchgesetzt werden konnte. Weite Bereiche der Hilfe für die Kriegsopfer aber waren als „gehobene Fürsorge" auf eine Weise geregelt und organisiert, die dem Versuch einer nützlichen, relevanten dogmatischen Erklärung nur allzu große Widerstände entgegensetzte. Genug der Beispiele. Als 1933 der Rechtsstaat zusammenbrach, gehörten zu seinem Nachlass auch eine wohl entwickelte Rechtsdogmatik des Sozialversicherungsrechts, aber allenfalls Spurenelemente einer Rechtsdogmatik allen weiteren Sozialrechts. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass sich in der Weimarer Zeit auch wieder weitere, umfassendere Konzepte eines „Sozialrechts" geltend machten: so eine zentrale Orientierung des Rechts an der Lebenssituation der Arbeitnehmer (Nußbaum, Sinzheimer) 6 oder im Sinne einer postindividualistischen Gesellschaft und einer ihr gemäßen, der Entfaltung und der Einbindung der Menschen dienenden Rechtsordnung (Radbruch). 7 Der Abstraktionsgrad dieser Konzepte war allemal zu hoch, um daraus wirkungsvoll eine differenzierte Rechtsdogmatik entfalten zu können.
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Mikesic, Sozialrecht als wissenschaftliche Disziplin, 2002. Clemens Zacher , Die Entstehung des Wirtschaftsrechts in Deutschland, 2002, S. 142 ff., 151 ff. 7 Radbruch, Vom individualistischen zum sozialen Recht. In: Gustav Radbruch, Gesamtausgabe, Bd. 2: Rechtsphilosophie II, bearbeitet von A. Kaufmann, 1993, S. 485 ff. 6
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Hans F. Zacher
II. Die Nachkriegszeit: Vom Sozialversicherungsrecht zum Sozialrecht 1. Die ersten Jahre: Not und Daseinsvorsorge In der Not der Nachkriegszeit 8 konnte Rechtsdogmatik keine wirkliche soziale Sorge sein. Die Wirklichkeiten drängten. Die Menschen waren entwurzelt hatten ihren Beruf, ihr Obdach, ihren Unterhaltsverband, ihre Heimat usw. verloren. Die Güter waren knapp. Die Geldwirtschaft war zerrüttet. Vielfach konnte den Menschen nur mit Dienst- und Sachleistungen geholfen werden. Aber auch da, wo sich die Verteilung von Gütern noch über einen Markt vollzog, musste neben die Preise die Bewirtschaftung treten. Das Soziale hatte mehr als je vorher die Gestalt der „Daseinsvorsorge" angenommen. Es ging nicht mehr um Gleichheit oder Ungleichheit, sondern um die Allgemeinheit der Güterversorgung. Aber in der Regel hatten auch die Preise eine Funktion behalten. Und deshalb war es auch notwendig, Einkommen zu gewährleisten. Weder Sozialversicherung noch Fürsorge waren darauf eingerichtet, das in solcher Breite und unter so katastrophalen Bedingungen zu bewirken, wie es nun notwendig war. Beide Systeme erwiesen eine außerordentliche Flexibilität, um der Vielzahl derer, die darauf angewiesen waren, wenigstens das Nötige zu zahlen. In dieser Zeit nahm auch eine Entwicklung der Sozialversicherung ihren Anfang, die das Sozialversicherungsrecht immer mehr veränderte: die Öffnung der Sozialversicherung für eine immer größere Vielfalt von Vorsorgegeschichten (sei es durch die Berücksichtigung beitragsloser Zeiten; sei es durch die Anknüpfung an soziale Biographien, die sich außerhalb der westdeutschen Länder vollzogen hatten). Zugleich wuchsen die Bereitschaft und das Interesse der Bevölkerung am Schutz der Sozialversicherung. Die klassischen Grenzen der Klientel verloren an Gültigkeit. Daneben aber machte sich das Bedürfnis geltend, der Betroffenheit Rechnung zu tragen: den Schäden, welche das nationalsozialistische Regime und der Krieg bewirkt hatten; und den Ursachen, die zu den Schäden geführt hatten. Für die Entschädigung der Sonderopfer, denen die Einzelnen als Mitglieder der nationalen Gemeinschaft ausgesetzt waren, gab es zwar positivrechtliche Vorbilder - vor allem die Kriegsopferversorgung. Sie bezog sich auf Schäden an Leib und Leben. Nun aber waren in unerhörtem Ausmaß auch Vermögensschäden entstanden. Dazu kamen Integrationsschäden: der Verlust der gewohnten 8 Zu der Zeit s. Krause, Gemeinsame Fragen der Organisation und des Rechts der sozialen Leistungen. In: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung/Bundesarchiv (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 2/1 1945 - 1949: Die Zeit der Besatzungszonen. Bandherausgeber Udo Wengst, 2001, S. 341 ff. - Zu allem Folgenden s. Zacher, Grundlagen der Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. In: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung/Bundesarchiv (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. I: Grundlagen der Sozialpolitik, 2001, S. 333 ff.
Entwicklung einer Dogmatik des Sozialrechts
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gesellschaftlichen, infrastrukturellen, beruflichen, vielfach auch familiären usw. Umwelt und die Ausgesetztheit in einer fremden, abweisenden und überforderten Umwelt. Diese Integrationsschäden entzogen sich jeder schlichten Kompensation (wie etwa der Abfindung durch Geldleistungen). Für die Entschädigung der vom Staat (und den quasistaatlichen Repräsentanten und Organisationen der NSDAP) rechtswidrig zugefügten Schäden freilich musste vollends Neuland betreten werden. Schadensersatz für Staatsunrecht gab es bis dahin nur in Einzelfällen - wenn der Staat im Wege der so genannten „Amtshaftung" für ein Verschulden seiner Amtsträger einstand. Nun aber war Massenunrecht begangen worden. Gleichwohl verlangten das Gerechtigkeitsgefühl ebenso wie die politische Opportunität zwingend Abhilfe. Als Antwort auf das massenhafte Staatsunrecht entstand das Wiedergutmachungsrecht. Sein Verhältnis zum Sozialrecht blieb ungewiss. Das Unrecht sollte nicht mit sozialen Leistungen abgefunden werden. Und für das Restitutionsrecht schied eine sozialrechtliche Qualifikation a priori aus. Im Übrigen aber ergaben sich aus der Sache doch vielfältig Analogien der Gestaltung und der Wirkung der Leistungen. Dagegen lag für die Entschädigung der Sonderopfer der Einbezug in das Sozialrecht nahe. Der patriotische Ansatz, der noch das Kriegsopferversorgungsrecht der Weimarer Zeit getragen hatte (und die Stellung der Veteranen, Kriegsinvaliden und Kriegshinterbliebenen im Ausland oft sehr nachdrücklich prägt), schied für Deutschland nunmehr aus. Freilich blieben Hemmungen, die Entschädigung von Vermögensverlusten, wie sie vor allem durch das Lastenausgleichsrecht geregelt wurde, als soziale Leistung zu betrachten, verbreitet. 2. Die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik: Wachstum und Differenzierung a) Die Weichenstellungen des Grundgesetzes Die Impulse, die das Grundgesetz gab, kamen von drei sehr unterschiedlichen Ebenen: erstens, die sachliche Programmatik des Sozialen; zweitens, die Zuständigkeitsordnung des sozialen Bundesstaates; drittens, die unspezifischen Determinanten, die sich - wie etwa aus den Grundrechten - aus dem Grundgesetz im Übrigen ergeben. aa) Das soziale Staatsziel Die sachliche Programmatik konzentrierte sich auf das soziale Staatsziel (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 Satz 1 GG). 9 Die Allgemeinheit und Unbestimmtheit dieser Programmnorm konnte und kann der Rechtsdogmatik nur sehr schwache
9 Zacher , Das soziale Staatsziel. In: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl. 2004, S. 659 ff.
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Anregungen geben. Selbst die Lösung des Rätsels, welche der elementaren Bedeutungen des Wortes „sozial44 gemeint ist, blieb noch eine Zeit lang im Ungewissen, um dann von der ganz herrschenden Meinung im speziellsten Sinn, dem einer Antwort auf die „soziale Frage44, entschieden zu werden. Das aber nicht in einem engen Sinn einer „Armenfrage 44 oder einer „Arbeiterfrage", sondern in einem weiten Sinn der Negation unangemessener Wohlstandsunterschiede und der Kontrolle entsprechender Abhängigkeiten, eines menschenwürdigen Existenzminimums für jedermann und der sozialen Sicherheit. Das ist ein Auftrag, der - jedenfalls potentiell - in mehr oder minder der ganzen Rechtsordnung gegenwärtig ist. Und das in den unterschiedlichsten Konstellationen. Trotzdem ist er dogmatisch bedeutsam. Das erklärt sich aus dem Gefälle der Maßgeblichkeit, den der soziale Zweck für das Recht hat. In der großen Mehrheit der Rechtsgebiete verbindet sich der soziale Zweck mit einem - spezielleren oder allgemeineren - anderen Zweck (so etwa im Steuerrecht mit dem Einnahmezweck, im Arbeitsrecht mit dem Leistungsaustausch zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer). Und selbst privatrechtliche Gestaltungen, die - wie karitative Organisationen, non-profit-Unternehmen oder Selbsthilfegruppen wesentlich einem sozialen Zweck verpflichtet sind, dienen auch den Freiheiten der Beteiligten, die sich darin zur Geltung bringen. Die größte Dichte aber erreicht der soziale Zweck in der rechtlichen Ordnung staatlich verantworteter sozialer Leistungen. Auch die Gestaltung öffentlichrechtlich geregelter sozialer Leistungen hat freilich auch andere Zwecke als den sozialen Zweck zu berücksichtigen (so dient die Krankenversicherung auch gesundheitspolitischen Zwecken und dienen viele soziale Leistungen familienpolitischen Zwecken). Aber der soziale Zweck dominiert ihre Gestaltung. Mit anderen Worten: Das soziale Staatsziel beherrscht - so unbestimmt es selbst auch sein mag - das öffentliche Sozialleistungsrecht auf ganz besondere Weise. So rechtfertigt es sich auch, vom Sozialleistungsrecht als vom „Sozialrecht" zu sprechen und von der Dogmatik des Sozialleistungsrechts als von der Dogmatik des Sozialrechts. bb) Die bundesstaatliche Zuständigkeitsordnung Die bundesstaatliche Zuständigkeitsordnung vergegenwärtigte demgegenüber die Teile des Sozialleistungsrechts - und dies in grundsätzlich rückwärtsgewandter Perspektive. Besonders deutlich wird das bis heute in dem Zuständigkeitsverbund des „Arbeitsrecht(s) einschließlich des Betriebsverfassungsrechts, des Arbeitsschutzes und der Arbeitsvermittlung 44 mit der „Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung" (Art. 74 Nr. 12 GG a.F.) und in der Zuständigkeit für die „öffentliche Fürsorge" (Art. 74 Nr. 7 GG a.F.). Das Recht der Entschädigung und Wiedergutmachung für Regime- und Kriegsfolgen sowie der sonstigen Sorge für die Betroffenen wird in einer Reihe aktuell formulierter Positionen angesprochen (Art. 74 Nr. 6, 9 und 10 GG a.F.).
Entwicklung einer Dogmatik des Sozialrechts
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Die „Rück-Ständigkeit" dieser Zuständigkeitsordnung zeigte sich am deutlichsten hinsichtlich der „öffentlichen Fürsorge" (Art. 74 Nr. 7 GG a.F.). Die gesetzgeberische Entwicklung überholte diesen Ansatz bald. Schon als das Grundgesetz in Kraft trat, war die Rechtsprechung dabei, dem Fürsorgerecht den alten armenpolizeilichen Charakter zu nehmen und den Bedürftigen einen Anspruch auf Hilfe zu geben. Ein gutes Jahrzehnt danach (1961) trat an die Stelle der alten Fürsorge die Sozialhilfe: eine umfassende Gewährleistung jedenfalls minimaler Teilhabe an den Lebensmöglichkeiten der Gesellschaft. Zur gleichen Zeit wurde die Kinder- und Jugendhilfe entsprechend modernisiert. Darüber hinaus wurden in Spezialgesetzen allgemeine steuerfinanzierte Leistungen geregelt: Kindergeld, Wohngeld usw. Nur für die Ausbildungsförderung wurde eine eigene Zuständigkeit begründet (Art. 74 Abs. 1 Nr. 13 GG n.F.). Für die anderen Leistungen dient die Zuständigkeit für die „öffentliche Fürsorge" als Grundlage. Anders machte sich das Missverhältnis zwischen der sozialen Vorsorge und der Zuständigkeitsordnung bemerkbar. Das Grundgesetz hatte die Sozialversicherung in den Zusammenhang der Arbeitsordnung gestellt. Die sozialpolitische Entwicklung sprengte diesen Rahmen. Die Sozialversicherung wurde auf immer weitere Bevölkerungskreise erstreckt: auf immer neue Gruppen von Selbständigen, auf Schüler und Studierende usw. Zudem wurden die Gemeinsamkeiten der Vorsorgesysteme immer bedeutsamer. Im Grundgesetz aber fanden sie die unterschiedlichsten Zuordnungen: so die Beamten-, Richterund Soldatenversorgung (Art. 73 Nr. 8, 75 Nr. 1, 98 Abs. 3 GG a.F.; Art. 73 Nr. 1, 74 a, 75 Abs. 1 Nr. 1, 98 Abs. 3 GG n.F.) oder die Privatversicherung (Art. 74 Nr. 11 GG a.F.; Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG n.F.). Oder sie blieben ohne ausdrückliche Erwähnung: so die betriebliche Alterssicherung oder die Versorgung der Minister, Abgeordneten und anderer Amtsträger. Oder schließlich: Sie blieben in der Zuständigkeit der Länder - so die Alterssicherung der Freien Berufe (Art. 30, 70 GG). Auch die Gemeinsamkeiten und Differenzierungen der sozialen Entschädigungssysteme, die in unterschiedlichen Entwicklungsphasen immer vielfältigere Bedeutung erlangten, fanden keinen Ausdruck. Dieses Missverhältnis zwischen Zuständigkeitsordnung und sozialrechtlicher Entwicklung erweist sich insofern als besonders bedeutsam, als das Grundgesetz dem Bund die entsprechende Gesetzgebung weitgehend vorbehielt. Zwar waren die ausschließlichen Zuständigkeiten des Bundes die Ausnahme. Aber auch der Spielraum der konkurrierenden Zuständigkeiten war durch altes Recht ausgeschöpft (Art. 30, 70, 72, 123-125 GG). Während die Länder also a priori von einem Wettbewerb um das bessere Konzept des Sozialleistungsrechts ausgeschlossen waren, war der Bund auf den Spielraum der spezifischen Bundeszuständigkeiten beschränkt. Die bundesstaatliche Zuständigkeitsordnung wirkte sich also auf die Rechtsdogmatik irritierend aus. Sie war extrem historisch orientiert. Und sie befestigte - auf den ersten Blick ganz unauffällig - die unitarische Prämisse des sozialen Bundesstaates. Sie gab dem Zentralstaat aber nicht die Freiheit rationaler Gestaltung, sondern band ihn an die Pfade der Vergangenheit. Die Praxis fand
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einen Kompromiss. Der Gesetzgeber weitete die Pfade. Und das Bundesverfassungsgericht duldete das. cc) Grundrechte und Verfassungsprinzipien Die spezifisch sozialen Aussagen des Grundgesetzes beschränkten sich von Grenzfällen wie der Sozialisierung (Art. 15 GG) oder der Koalitionsfreiheit (Art. 9 GG) abgesehen - auf das Sozialstaatsprinzip und die Zuständigkeitsordnung. Die Normenmasse sonstigen Verfassungsrechts - im Wesentlichen der Grundrechte und der Verfassungsprinzipien (Art. 20, 28 Abs. 1 Satz 1 GG) war sozial unspezifisch. Der Geltungsanspruch dieser Normen war maximal (Art. 1 Abs. 3, 20, 28 GG). Aber die sachliche Bedeutung für das Soziale war oft schwer zu erkennen. Selten war sie evident. Grundrechte und Verfassungsprinzipien waren nicht nur weitgehend neu formuliert. Auch ihr Rang war neu. Dass Sozialgesetze nur im Einklang mit ihnen gelten konnten und angewandt werden durften, war ohne Tradition. Gleichwohl: dass es so war, war unübersehbar. Das brachte die Dogmatik des Sozialrechts in eine elementare Verlegenheit. Sie vollzog sich zwischen zwei Polen. Der eine Pol: das Gesetzesrecht mit all den Gewissheiten, die ein Text bieten kann; und all den Ungewissheiten, die offenbar werden, wenn der Text von den Herausforderungen der Wirklichkeit her gelesen werden muss; aber auch all den Ungewissheiten, die sich aus der Möglichkeit ergeben, dass das geschriebene Recht durch ungeschriebenes Recht ergänzt wird. Der andere Pol: das Verfassungsrecht, dessen Intervention in das Sozialrecht immer denkbar, aber schwer vorhersehbar ist und dessen sozialrechtliche Konkretisierung nur zu oft eines kreativen Prozesses bedarf und in den frühen Jahrzehnten der Bundesrepublik fast ausnahmslos eines kreativen Prozesses bedurfte. Die Dogmatik des Sozialrechts muss also das Verfassungsrecht immer in Rechnung stellen, kann das grundsätzlich aber nur im Sinne von Möglichkeiten, allenfalls von Wahrscheinlichkeiten, von Vermutungen. Gewissheiten entstehen nur dort, wo die höchstrichterliche Rechtsprechung - insbesondere die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - zu entsprechenden Fixierungen gelangt ist. b) Die Entwicklung
unter dem Grundgesetz
aa) Die Dynamik der Gesetzgebung Mit der Etablierung der gesetzgebenden Organe und der Einrichtung der Ministerien setzte alsbald ein überaus wichtiger Charakterzug der Sozialgesetzgebung ein: die rasche Folge von Gesetzesänderungen und von neuen Gesetzgebungseinheiten. Die überkommenen Gesetze mussten den neuen Gegebenheiten, dem neuen staatlichen und rechtlichen Rahmen, den neuen wirtschaftlichen Verhältnissen usw. angepasst werden. Sie mussten sich der Kriegs- und
Entwicklung einer Dogmatik des Sozialrechts
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Regimefolgen annehmen. Alsbald kamen neue Gesetze hinzu. Vor allem das soziale Entschädigungsrecht erwies sich früh als Wachstumsbahn des Sozialleistungsrechts: sowohl im Sinne des Ausgleichs von Sonderopfern und der Integration der Betroffenen, als auch im Sinne der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts. Dem folgten grundlegende Reformen im Rahmen traditioneller Rechtsbereiche: herausragend die Rentenreform, die Ergänzung der Sozialversicherung durch die soziale Sicherung der Landwirte, die Umwandlung der Fürsorge zur Sozialhilfe. Und immer wieder wurden neue Personenkreise in den Schutz des Sozialrechts einbezogen, neue „soziale Lagen" aufgegriffen, Leistungen verbessert. Von grundlegender Bedeutung war die immer häufigere Vermittlung zivilisatorischer Teilhabe auch über das Existenzminimum hinaus durch allgemeine steuerfinanzierte Leistungssysteme. Die Reformen der Fürsorge, der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Arbeitsförderung waren von diesem Prinzip getragen. Dazu kamen neue Leistungszweige: Kindergeld, Ausbildungsförderung (vorübergehend auch Graduiertenförderung), Unterhaltsvorschuss, Wohngeld. Um für dieses sich immer rascher differenzierende und ausweitende Sozialleistungsrecht gemeinsame Prinzipien der Gestaltung oder der Handhabung auszuweisen, geschah nichts. Zuweilen aber geschah Gegenteiliges. Und zwar auf dem Gebiet des Rechtsschutzes. Sehr früh schon, im Jahre 1953, wurde, wie vom Grundgesetz vorgesehen, eine eigene Sozialgerichtsbarkeit 10 geschaffen. Sie ersetzte die überkommenen gerichtlichen und gerichtsähnlichen Institutionen auf dem Gebiet der Sozialversicherung, der Arbeitsförderung und der Kriegsopferversorgung. Der neuen Vielfalt des Sozialleistungsrechts und ihrer immer weiter voranschreitenden Ausdehnung folgte sie nur ausnahmsweise. So blieben die allgemeinen steuerfinanzierten Hilfs- und Förderungssysteme mit Ausnahme des Kindergeldes in der Zuständigkeit der allgemeinen Verwaltungsgerichte. Die Entschädigungssysteme, so sehr sie sich auch ausdifferenzierten, fielen in die Zuständigkeit der Sozialgerichtsbarkeit nur, soweit es sich analog zur Kriegsopferversorgung um Sonderopfer durch Gesundheitsschäden oder durch den Tod eines Unterhaltsträgers handelte. Sonderopfer durch Vermögensschäden, Berufsschäden usw. (insbesondere also der Lastenausgleich und die Integration Vertriebener) fielen in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte. Und die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts fiel grundsätzlich in die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte. Am ehesten mochte einleuchten, dass gewisse Vorsorgesysteme ihres besonderen arbeitsrechtlichen Zusammenhanges zufolge in der Zuständigkeit der Arbeitsgerichte, ihres besonderen versicherungsrechtlichen Zusammenhangs wegen bei den ordentlichen Gerichten oder ihres administrativen Zusammenhangs wegen bei
10 Krause , Sozialgerichtsbarkeit. Bd. 4,7. Aufl. 1988, Sp. 1293 ff.
In: Görres-Gesellschaft
(Hrsg.),
Staatslexikon,
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den Verwaltungsgerichten verblieben. Jedenfalls wurde dem Sozialleistungsrecht die Gemeinsamkeit einer Gerichtsbarkeit versagt. Dass dies nicht ohne Auswirkungen auf die Ausbildung einer übergreifenden Rechtsdogmatik bleiben konnte, ist offenkundig. 11 bb) Die wissenschaftliche Entwicklung Der - unruhige, systemisch unbekümmerte aber auch kraftvolle - Gang der Gesetzgebung wurde von der Wissenschaft vielfältig begleitet. Ein erster wesentlicher Weg war die bereichsspezifische Kommentar- und Aufsatzliteratur, die viel zur Inkulturation vor allem des überkommenen Rechtsbestandes im neuen Rechtszusammenhang leisten konnte. Am erfolgreichsten waren diese Bemühungen - dank der früher erreichten Rechtskultur im Sozialversicherungsrecht. Mit der Zeit gab es anspruchsvolle Arbeiten auch zu einzelnen der neuen Sozialrechtszweige. In jedem Fall: diese Beiträge zur Rechtsdogmatik waren bereichsspezifisch, zumeist selektiv auch innerhalb jeweils ihres Bereichs. Eine Ausnahme ergab sich vor allem für die Lehre von den Formen des Verwaltungshandelns. Sie war in der Nachkriegszeit unter dem Zwang einer nunmehr umfassenden Normgebundenheit und richterlicher Kontrolle des Verwaltungshandelns neu entwickelt worden. So fehlte ihr auch die Einbindung in konkrete Gesetzgebungseinheiten. Als - zunächst noch - ungeschriebenes Recht ergänzte sie alles Gesetzesrecht. Auf einem zweiten Weg rang die Wissenschaft um ein systematisches Verstehen und Ordnen des nunmehr so rasch angewachsenen und immer weiter wachsenden Stoffes des Sozialrechts und der Gesetzgebungseinheiten, in die dieser Stoff „gepackt" war. Es ging darum, sachliche, funktionale Maßstäbe zu erkennen, an Hand derer sich Sozialrecht sinnvoll von anderem Recht unterscheiden ließ. So erwies es sich als richtig, alles von einem sozialen Zweck geprägte Recht (also einschließlich der „internalisierenden" rechtlichen Lösungen, die - wie im Falle des Arbeitsrechts - einen vorfindlichen Rechtszusammenhang in sozialer Absicht gestalten) als „Sozialrecht in einem weiteren Sinn u zu verstehen; während es sich entsprechend als richtig erwies, den Begriff eines „Sozialrechts in einem engeren Sinn" auf die rechtlichen Lösungen sozialer Probleme zu beschränken, die ausschließlich oder doch primär von einem sozialen Zweck bestimmt sind (mit anderen Worten: auf die Lösungen, die den sozialen Zweck auf einen spezifischen Rechtszusammenhang hin „externalisieren"). 12 In diesem letzteren Fall stimmt der Begriff des Sozialrechts mit 11 Zur Praxis s. Krause, Bundessozialgericht und allgemeines Verwaltungsrecht. In: Neue Juristische Wochenschrift 1979, S. 1007 ff. 12 Zu der Begrifflichkeit von „internalisierenden" und „externalisierenden" Lösungen s. Zacher, Grundtypen des Sozialrechts. In: ders., Abhandlungen zum Sozialrecht, 1993, S. 257 ff. (251 f.).
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dem des Sozialleistungsrechts alrecht" meint.
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überein. Das ist auch, was dieser Text mit „Sozi-
Es ging weiter darum, die jeweils wichtigsten Gemeinsamkeiten von den jeweils wichtigsten Andersartigkeiten zu unterscheiden. Ein erster Versuch dieser Art hatte sich - vergröbernd - an dem Rechtsbestand orientiert, wie er seit der Weimarer Zeit und noch in den ersten Nachkriegsjahren gegeben war. Er unterschied zwischen der Sozialversicherung, der Versorgung (im Sinne von Beamtenversorgung und Kriegsopferversorgung) und der Fürsorge. Diese Trias erklärte die Verhältnisse nicht mehr. Die Vielzahl neuer Sozialleistungsgesetze, die nunmehr ergangen waren und ergingen, bedurften einer neuen Ordnung. Welche Regelungseinheiten überlappten sich? Welche ergänzten sich? Und wie ergänzten sie sich? Was sollte primär gelten, was subsidiär? Walter Bogs, der Großmeister des Sozialrechts jener Zeit, legte sensible und kreative Analysen vor. 13 Später ging daraus die Trias von Vorsorge (Leistung nach Maßgabe einer Vorsorgegeschichte), Entschädigung (Leistung nach Maßgabe einer Verantwortungsgeschichte), Hilfe und Förderung (Leistung nach Maßgabe einer Situation) hervor. Diese Fragen führten die Rechtswissenschaft auf breiter Front in einen intensiven interdisziplinären Austausch. Soziologen, Ökonomen, Politikwissenschaftler, Theologen, Philosophen und Sozialwissenschaftler im engeren Sinne (der Wissenschaft von der Sozialpolitik) empfanden die gleiche Verantwortung, die Entwicklung der Sozialpolitik und des Sozialrechts zu erfassen, zu verstehen und zu bewerten und Sozialpolitik und Sozialrecht den richtigen Weg zu weisen. Immer wieder wurden einzelne Experten der verschiedensten Disziplinen oder Gruppen von Experten auch von der Politik aufgerufen, Analysen und Konzepte vorzulegen. Die Wirkungen, die so von anderen Disziplinen auf die Dogmatik des Sozialrechts ausgingen, sind freilich schwerlich dingfest zu machen. Die umfassendste rechtswissenschaftliche Summe dessen, was auf diesem Weg damals erreicht werden konnte, legte Georg Wannagat im Jahre 1965 vor: mit seinem „Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts. I. Band". Das Buch gab dem rechtsdogmatischen „Erstgeburtsrecht" der Sozialversicherung Ausdruck, stellte das Sozialversicherungsrecht aber auch in einen weit ausgreifenden Rahmen. Ein ganz anderer Weg, auf dem die Wissenschaft vom Sozialrecht sich entfaltete, ging vom Verfassungsrecht aus. Wie schon bemerkt: die Verfassung
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Zu Walter Bogs s. Zacher , Gratulation für Walter Bogs, Vierteljahresschrift für Sozialrecht Bd. II (1974) S. 99 ff.; dens., Walter Bogs - 90 Jahre alt, Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht 1988, S. 355 ff. Klassisch im Sinne des Textes: W. Bogs, Grundfragen des Rechts der sozialen Sicherheit und seiner Reform, 1955.
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war für das Sozialrecht ein Potential der Bestätigung und der Veränderung, der Erwartung und der Bedrohung. Von diesem aufregenden Verhältnis zwischen Verfassung und Sozialrecht wurde 1960 der Deutsche Juristentag angestoßen, sich zum ersten Mal in seiner Geschichte mit dem Sozialrecht zu befassen: „Die Einwirkung verfassungsrechtlicher Normen auf das Recht der sozialen Sicherheit". (Der Referent war - einmal mehr - Walter Bogs.) Schon Jahre vorher hatte der Verfasser dieser Seiten damit begonnen, das Verhältnis zwischen Verfassung, Sozialpolitik und Sozialrecht zu vermessen. 1961 legte er seine Habilitationsschrift vor: „Das Verfassungsrecht der sozialen Intervention des Staates."14 Vieles ist mittlerweile geklärt. Aber neue Probleme sind entstanden. Die Ungewissheit dessen, was das Verfassungsrecht für Bestand und Entwicklung des Sozialrechts bedeutet, blieb ein spezifisches Problem der Sozialrechtsdogmatik. 1965 wurde schließlich der Deutsche Sozialgerichts verband (später: Sozialrechtsverband) gegründet. Mit ihm wurde eine breite Plattform geschaffen, auf der die Sozialrechtswissenschaft sich selbst finden, in das Gespräch mit anderen juristischen und nichtjuristischen Disziplinen eintreten und zum Austausch mit der Praxis gelangen konnte. Der Deutsche Sozialgerichts-/Sozialrechtsverband bemühte sich mit Erfolg auch um den Ausbau der Sozialrechtswissenschaft an den Universitäten. Die Tagungsbände des Deutschen Sozialgerichts/Sozialrechtsverbandes 15 sind bis heute das zentrale Archiv, in dem sich die thematische Entwicklung der Sozialrechtswissenschaft dokumentiert findet. cc) Politik und Kodifikation - das Sozialgesetzbuch als rechtsdogmatische Enttäuschung und Herausforderung Schon 1949 hatte ein Deutscher Fürsorgetag eine umfassende „Sozialreform" gefordert. Die Zeit seit dem Zusammenbruch des Reiches hatte klar gemacht, dass das Sozialrecht einer elementaren Neukonzeption und Neugestaltung bedarf. Die multidisziplinäre Anstrengung, die schon erwähnt wurde, galt dieser Herausforderung. Immer wieder waren es auch Regierungen und Parteien, die einzelne Wissenschaftler oder - öfter noch - Gruppen von Wissenschaftlern baten, Analysen zu erstellen, Prinzipien zu klären und Ordnungen zu entwerfen. In diesem Zusammenhang wurde alsbald auch die Kodifikation des Sozialrechts zum Projekt. 16 Die Kodifikation sollte einerseits dem neu konzi-
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Im Druck erschienen unter dem Titel „Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland" (1980). 15 Seit Bd. 1 (1966) als Schriftenreihe des Deutschen Sozialgerichtsverbandes. Seit Bd. 23 (1982) als Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsverbandes. 16 Krause, Die Entwicklungsgeschichte des Sozialgesetzbuchs. In: Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung. Textausgabe mit zwölf einführenden Aufsätzen, 1977, S. 1 ff.; ders., Die Entwicklung des deutschen Sozialrechts bis
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pierten und strukturierten Sozialrecht Ausdruck geben. Und sie sollte andererseits das Wachstum der Sozialleistungen unter Kontrolle bringen. Die vielen neuen Regelungen und die von ihnen geschaffenen Leistungsfälle, Leistungstypen und Leistungsinhalte hatten den Verdacht ausgelöst, es könnte nur zu oft doppelt geleistet werden, wo allenfalls einmal geleistet werden sollte. Die Idee der Sozialreform und die Idee der Kodifikation ergänzten sich wie die Schwünge einer Schaukel. Aber erst 1969, mit der ersten Regierungserklärung des Kanzlers Brandt, wurde das Projekt der Kodifikation ins Werk gesetzt. Doch die Arbeiten zogen sich hin. Die Dominanz des besonderen, bereichsspezifischen Sozialrechts machte sich geltend. Die Regelungskomplexe, welche die Besonderen Teile der Kodifikation bilden sollten - genauer: die Interessen, die hinter dem jeweils geltenden Recht oder seiner Veränderung standen - , widersetzten sich der Neugestaltung im Duktus der Kodifikation. So wurden die Allgemeinen Teile vorgezogen. Zwischen 1975 und 1982 erschienen der allgemeinste Allgemeine Teil (I. Buch), die Gemeinsamen Vorschriften für die Sozialversicherung (IV. Buch), das Verwaltungsverfahren, 17 der Sozialdatenschutz sowie die Zusammenarbeit der Sozialleistungsträger untereinander und mit Dritten (X. Buch). Erst von 1988 an erschienen Besondere Teile (mittlerweile II., III., V.-IX., XI. und XII. Buch). Die Besonderen Teile haben wohl grundsätzlich zur Klärung des bereichsspezifischen Sozialrechts beigetragen. Die Kodifikation hat jedoch nie alle Gesetzeseinheiten, die sie nach ihrem Programm (explizit nach Maßgabe der „sozialen Rechte" [§§ 2-9 SGB I], der „Einweisungsnormen" [§§ 18-29 SGB I] oder der Einschlussklausel [§ 68 SGB I], implizit nach dem „Vorspruch" des § 1 SGB I) erfassen sollte, erfasst. Auch haben immer wieder Sondergesetze das Prinzip der Kodifikation missachtet. Schließlich stellt die Unruhe der Gesetzgebung, die mit der Kodifikation kein Ende gefunden hat, jede Klärung und Befestigung der Rechtsdogmatik immer wieder in Frage. Die Verantwortung für eine bereichsübergreifende Rechtsdogmatik aber lag und liegt bei den Allgemeinen Teilen. Und deshalb sind die Defizite, die sie aufweisen, von wesentlicher Bedeutung. Sie aber sind zahlreich und gewichtig.
zum Sozialgesetzbuch. In: Der Präsident der Universität Trier (Hrsg.), Trierer Beiträge aus Forschung und Lehre an der Universität Trier, 1977, S. 1 ff. 17 Zum Verwaltungsverfahren s. vor allem den Anteil Peter Krauses an der Kommentierung zum 1. Kapitel des X. Buches des Sozialgesetzbuches: Krause/von Mutius/Schnapp/Siewert , Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch. Verwaltungsverfahren, 1991. S. ferner Krause , Das neue Sozialgesetzbuch: Verwaltungs verfahren. In: Neue Juristische Wochenschrift 1981, S. 81 ff.
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Die Defizite der Allgemeinen Teile 18 können hier nur in Beispielen angedeutet werden. (1) Die irritierende
Unstimmigkeit des Sachprogramms der Kodifikation
Zunächst die allgemeinsten Irritationen. So der elementare Widerspruch zwischen der zutreffenden Ankündigung eines „Sozialleistungsrechts" (§ 1 Abs. 2 SGB I) und der verallgemeinernden Überschrift „Sozialgesetzbuch"; die verstörend ungleiche Struktur der Sozialen Rechte (§ 3-9 SGB I); die Bezeichnung der beschreibenden Ankündigung der kodifizierten oder noch zu kodifizierenden Gesetzgebungseinheiten (§§ 3-9 SGB I) als „Rechte" und die Vortäuschung eines über das positivierte Normgut hinausweisenden Sinnes (§ 2 SGB I); die Nichtübereinstimmung der „Sozialen Rechte" mit den „Einweisungsnormen" (§§ 18-29 SGB I) untereinander und mit der Summe der (durch die Besonderen Teilen oder durch die Inklusionsklausel [§ 68 SGB I]) einbezogenen Gesetzgebungseinheiten. (2) Die Zufälligkeit
der Auswahl des Regelungsgutes
Die Auswahl der Gegenstände, die sich in den Allgemeinen Teilen geregelt finden, ist weitgehend irrational. Über die Handlungsfähigkeit der natürlichen Personen findet sich eine Aussage zur Geschäftsfähigkeit Minderjähriger (§ 38 SGB I). Die Fähigkeit des Betroffenen, auf die Verwirklichung von Rechten und Pflichten einzuwirken, wird normativ-objektiv (§ 36 Satz I SGB I) aber auch durch das Gebot, Wünsche zu berücksichtigen (ebenda Satz 2), durch das Verbot nachteiliger (!) privatrechtlicher (!) Vereinbarungen (§ 32 SGB I), durch die Ermöglichung, aber auch Begrenzung von Verzichten (§ 46 SGB I) und durch die Beschränkung öffentlichrechtlicher Verträge (§§ 53 ff. SGB X) ausgestaltet. Nicht weniger fragmentarisch ist das „Sozialleistungs-Schuldrecht": Regelungen über die Entstehung und die Fälligkeit von Ansprüchen (§§ 40, 41 SGB I), über vorläufige Leistungen bei objektiver oder subjektiver Ungewissheit der Leistungspflicht (§§ 42, 43 SGB I), über die Verzinsung (§ 44 SGB I), über Erfüllungsmodalitäten und -surrogate (§§ 47-52 SGB I), über die Übertragung oder Verpfändung von Forderungen (§53 SGB I), über die Rechtsnachfolge in Ansprüche (§§ 56-59 SGB I). Ergänzend findet sich „SozialrechtsSchuldrecht" im Zusammenhang des Verfahrensrechts (Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen: § 50 SGB X) und in dem Recht der Zusammenarbeit zwischen Leistungsträgern (Beschleunigung der Leistung: § 87 SGB X). Im
18 Die Rechtspraxis zu SGB I und SGB IV hat Peter Krause seit 1979 im Jahrbuch des Sozialrechts der Gegenwart periodisch besprochen. Beginnend mit Bd. 1 (1979), S. 73 ff. Seit Bd. 6 (1984) zusammen mit Heinz-Jürgen Sattler. Seit Bd. 21 (1999) heißt das Periodicum „Jahrbuch des Sozialrechts".
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Zusammenhang mit der Rechtsnachfolge findet sich auch ein Stück „Sozialrechts-Erbrecht" (§§ 56-58 SGB I); im Zusammenhang mit Pfändung und Verpfändung auch ein Stück „Sozialrechts-Vollstreckungsrecht" (§§ 54 f. SGB I). (3) Die Konzentration auf den Verwaltungsakt und die Ungleichheit zwischen der Teilmenge Verwaltungsakt und der Gesamtmenge ordnungsbedürftigen Handelns 19 Riesige Lücken ergeben sich daraus, dass das Verfahren sich ganz auf die rechtsgeschäftliche Gestaltung der Verhältnisse durch Verwaltungsakte konzentriert (§§ 1 ff. [= Erstes Kapitel] SGB X). Vier Bereiche bleiben dabei ohne eine Regelung.20 - Das nicht rechtsgeschäftliche (reale) Handeln der Leistungsträger und Leistungserbringer - vor allem also der Realakt. Nur insoweit dieses Handeln vorher oder gleichzeitig durch Verwaltungsakte (oder Verträge) gestaltet wurde oder wird, findet es im Sozialgesetzbuch eine Ordnung. - Das rechtsgeschäftliche Handeln der Leistungserbringer, die nicht auch Verwaltungssubjekte sind. - Das rechtsgeschäftliche oder nicht rechtsgeschäftliche Handeln der betroffenen Privaten - der Vorsorgebeteiligten (der Versicherten; derer, die versichert werden wollen oder sollen; derer, die versichert waren usw.), der (potentiell) Leistungsberechtigten und -empfänger usw. - Die nähere Regelung von Leistungen durch andere untergesetzliche Vorschriften als Satzungen (also durch Kollektivverträge, Richtlinien usw.). (4) Die Vernachlässigung der Dienst- und Sachleistungen und der nichtbehördlichen Leistungserbringer Auf eine andere, besonders hilflose Weise unvollkommen blieben die Allgemeinen Teile hinsichtlich der Dienst- und Sachleistungen .21 Sie gehören -
19 Damit befasste sich grundlegend Peter Krauses Habilitationsschrift: Rechtsformen des Verwaltungshandelns, 1974. S. ferner Krause , Die Willenserklärung des Bürgers im Bereich des öffentlichen Rechts. In: Verwaltungsarchiv 61 (1970), S. 289 ff.; ders ., Formen des Verwaltungshandelns im Hinblick auf die Sozialversicherungsträger. In: Mitteilungen der Landesversicherungsanstalt Oberfranken und Mittelfranken 1980, S. 373 ff. 20 Ergänzend s. Krause , Willensmängel bei mitwirkungsbedürftigen Verwaltungsakten und öffentlich-rechtlichen Verträgen. In: Juristische Schulung 1972, S. 425 ff. 21 Krause , Rechtsprobleme der Konkretisierung von Dienst- und Sachleistungen. In: Im Dienst des Sozialrechts. Festschrift für Georg Wannagat zum 65. Geburtstag, 1981, S. 249 ff.; ders ., Die Bestimmung von sozialen Dienst- und Sachleistungen. In: Klages/Merten (Hrsg.), Sozialpolitik durch soziale Dienste. Schriftenreihe der Hochschule Speyer Bd. 82 (1981), S. 67 ff.; ders., Die sozialen Dienste im System der Sozialversi-
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und alles andere wäre auch völlig wirklichkeitsfremd - zum Programm der Kodifikation (§§ 1 Abs. 1 Satz 1, 11 SGB I). Aber alles, was die Allgemeinen Teile dazu sagen, ist dürftig: dass „das Recht des Sozialgesetzbuches ... auch dazu beitragen" soll, „dass die zur Erfüllung der ... genannten Aufgaben erforderlichen Dienste und Einrichtungen rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen" (§ 1 Abs. 2 SGB I) und dass die Leistungsträger dafür zu sorgen haben, dass „die zur Ausführung der Sozialleistungen erforderlichen sozialen Dienste und Einrichtungen rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen" (§ 17 Abs. 1 SGB I). Sonst einige Kleinigkeiten - etwa dass es bezüglich Dienst- und Sachleistungsansprüchen keine Übertragung, keine Verpfändung und keine Pfändung gibt (§§ 53 Abs. 1, 54 Abs. 1 SGB I). Von den Leistungserbringern spricht die Kodifikation unmittelbar nur Körperschaften, Anstalten und Behörden an (§ 12 SGB I). Gleichwohl ist offenkundig, in welchem Ausmaß soziale Leistungen von gemeinnützigen und freien Trägern, von wirtschaftlichen Unternehmen, von Angehörigen freier Berufe, von Heilhandwerkern, 22 von ähnlich gewerblich Tätigen und von Einzelpersonen erbracht werden, die von den gemeinnützigen und freien Trägern, von wirtschaftlichen Unternehmen oder von den sonstigen Selbständigen organisiert und beschäftigt werden. Darüber sagen die Allgemeinen Teile aber kaum etwas. Ein zentraler Satz lautet: „In der Zusammenarbeit mit gemeinnützigen und freien Einrichtungen und Organisationen wirken die Leistungsträger darauf hin, dass sich ihre Tätigkeit und die der genannten Einrichtungen und Organisationen zum Wohl der Leistungsempfänger wirksam ergänzen" (§ 17 Abs. 2 Satz 1 SGB I). Im Übrigen müssen Dritte, die mit der Erfüllung einer Aufgabe betraut werden, „die Gewähr für eine sachgerechte, die Rechte und Interessen der Betroffenen wahrende Erfüllung der Aufgabe" bieten (§ 97 Abs. 1 SGB X). Immerhin war das Sozialleistungsrecht im Sinne des Rechts jener externalisierenden Sozialleistungen, deren rechtliche Gestaltung ausschließlich oder primär von seinem sozialen Zweck geprägt ist, als potentielle Gesamtheit sichtbar gemacht und anerkannt worden. Diese potentielle Gesamtheit darzustellen, war das Programm der Kodifikation (§ 1 SGB I). Die Vorschriften über die übergreifenden Aufgaben der Auskunftserteilung (§ 15 SGB I), der Entgegennahme von Anträgen (§ 16 SGB I, § 28 SGB X) und der Leistungserbringung (§§ 43, 52 SGB I) sowie über die Rückabwicklung von Leistungen zwischen verschiedenen Trägern (§§ 102 ff. SGB X) akzentuieren diese Gesamtheit zum Bürger hin. Die Implementation dieser Gesamtheit ist den Trägern auch unter-
cherung, der sozialen Entschädigung und der Sozialhilfe. In: Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch 1985, S. 346 ff. 22 Krause, Das Gesundheitshandwerk zwischen Gewerbe-, Gesundheits-, Sozial- und Wettbewerbsrecht. In: Gewerbearchiv 1984, S. 313 ff.; ders., Die Stellung der Gesundheitshandwerker und ihrer Verbände im Sozialgesetzbuch Fünftes Buch. In: Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch 1989, S. 416 ff.
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einander zur Aufgabe gemacht (§§ 86 ff. SGB X). Dass die Praxis diese Vorschriften zum Teil unzulänglich verwirklicht, ändert nichts an ihrer grundsätzlichen Bedeutung. Das Programm ist: die Darstellung der Gesamtheit. Der Gesetzgeber ist ihm nur fragmentarisch gerecht geworden. Das fordert die Rechtsdogmatik heraus, die Unvollständigkeit der Ordnung zu analysieren und ihre Ansätze zu einer vollständigen Ordnung zu integrieren.
I I I . Die Zeit seit den siebziger Jahren: neue Probiemsicht - Entfaltung der Wissenschaft 1. Die Entwicklung der Sozialpolitik und des Sozialrechts a) Allgemeine Entwicklungen Bis in die siebziger Jahre war die politische und gesetzgeberische Entwicklung des Sozialrechts durch Wachstum und Differenzierung gekennzeichnet. Dann zeichnete sich allmählich ab, dass der Wohlstand nicht beliebig weiter wachsen wird, ja stagnieren und sogar rückläufig werden könnte. Alterungserscheinungen des Wohlfahrtsstaates wurden spürbar: so etwa die wachsende Unsicherheit, inwieweit soziale Leistungen der Mehrung der Freiheit dienen und inwieweit sie Bindung voraussetzen; der Wandel der Arbeitswelt, die immer hartnäckigere Arbeitslosigkeit; das Wachstum der medizinischen Kosten. Allmählich wurde auch die ganz andere Alterung sichtbar, die rasch immer wichtiger wurde, die Alterung der Gesellschaft. Für lange Zeit war nun die Entwicklung durch ein „Vor und Zurück", durch den Wechsel von Ausdehnung und Einschränkung gekennzeichnet.23 Der letzte große Schritt einer Ausweitung war die Einführung der Pflegeversicherung (1994). 24 Dann wandte sich die Entwicklung endgültig den Strategien des Umgangs mit dem Mangel zu, dem Umbau des Generationenvertrages und der Entdeckung der Nachhaltigkeit auch für das Soziale.25 23
Krause , Die Fortentwicklung des Rechts der sozialen Sicherheit zwischen Anpassungszwang und Bestandsschutz. In: Die öffentliche Verwaltung 1984, S. 740 ff. - S. zu der Zeit auch Krause , Gemeinsame Fragen der Organisation und des Rechts der sozialen Leistungen. In: Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung/Bundesarchiv (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 7: 1982 -1989 Bundesrepublik Deutschland. Finanzielle Konsolidierung und institutionelle Reform. Bandherausgeber: M.G. Schmidt. 2005, S. 289 ff. 24 Im Vorfeld s. Krause , Empfiehlt es sich, soziale Pflege- und Betreuungsverhältnisse gesetzlich zu regeln? 52. Deutscher Juristentag Bd. I: Gutachten, Teil E, 1978; ders., Entwurf eines Gesetzes zur Absicherung des Pflegerisikos, Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 1986, S. 419 ff. 25 Zacher , Gemeinsame Fragen der Organisation und des Rechts der sozialen Leistungen. In: Bundesministerium für Arbeit und Soziale Sicherung/Bundesarchiv (Hrsg.), Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 11. Bandherausgeber: G.A. Ritter (im Druck).
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b) Die Wahrnehmung der Gesamtheit der sozialen Leistungen Diese Entwicklung vollzog sich in einem Klima der wachsenden Selbstverständlichkeit, dass die Sozialleistungssysteme eine - in ihren Grenzen und Strukturen sehr ungewisse - Gesamtheit bilden. Schon vor dem Sozialgesetzbuch hatte man begonnen, Sozialpolitik und Sozialrecht übergreifend darzustellen: seit 1960 erstellten Beamte des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung in immer neuen Auflagen eine „Übersicht über die soziale Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland". Später (1994) wurde daraus eine vom Ministerium herausgegebene „Übersicht über das Sozialrecht". Seit 1968 erstellte die Bundesregierung „Sozialbudgets", seit 1970 „Sozialberichte". Die Darstellungen blieben additiv. Ihre Abgrenzungen blieben pragmatisch. Die Gesamtheit der Sozialleistungssysteme stellte sich auch im positiven Recht neu dar: - Politik und Gesetzgebung griffen immer neu partikulare Zusammenhänge auf: im Rehabilitations-Angleichungs-Gesetz (1974), im Versorgungsausgleich (1976), in der Neuordnung der Hinterbliebenenbezüge (1985), in den jahrzehntelangen Diskussionen über die Besteuerung der Alterseinkünfte (Alterseinkünftegesetz 2004). - Längst vorher hatte der schleichende Prozess einer immer dichteren Vernetzung der Sozialleistungssysteme untereinander begonnen. Er ergab sich aus der Entdeckung des „sekundären sozialen Risikos" des „Sich-nicht-sichernKönnens". Diese Entdeckung ging aus Fragen hervor wie dieser: Soll ein Arbeitsloser, der Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe bezieht, damit den Schutz der Krankenversicherung und/oder der Rentenversicherung verlieren? Wenn nicht: Soll er die Beiträge selbst bezahlen, sollen sie als Zusatz zu der Einkommensersatzleistung entrichtet werden, oder soll die Versichertengemeinschaft der Kranken- und/oder Rentenversicherung sie aufbringen?26 Die „guten Jahre" brachten Lösungen zu Lasten des einen oder des anderen Solidarverbandes. Das Netz dieser Querverbindungen wuchs. Und bald wurde es auch missbraucht. Die „Verschiebebahnhöfe" entstanden. Insgesamt wurde immer deutlicher, dass die institutionelle Zuordnung von Personenkreisen, „sozialen Lagen", Leistungen, Finanzierung und Organisation, wie sie sich in den überkommenen Leistungssystemen ausgeprägt hatte, keine apriorische Notwendigkeit ist, dass sie vielmehr der kritischen Bewertung und eventuell der Revision bedurfte. Es sollte freilich bis 2003 dauern, bis durch die Neuordnung der Grundsicherung für Arbeitssuchende und der Sozialhilfe (Zweites und Zwölftes Buch des Sozialgesetzbuches) erste wesentliche Konsequenzen gezogen wurden. 26
Krause, Einführung in das Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland. In: o.V., Sozialgesetze. Textausgabe mit einer Einführung von Professor Dr. Peter Krause, 3. Aufl. 1987, S. 19 ff. (50 f.).
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Neben das Gegenüber des Rechts, das für die Gesamtheit der externalisierenden Sozialleistungen gilt, und des Rechts, das für die einzelnen Leistungssysteme spezifisch ist, waren somit mehr und mehr partikulare Gemeinsamkeiten und Querverbindungen getreten, die einzelne Leistungssysteme miteinander verbinden. Zugleich aber traten auch die funktionalen Äquivalenzen neu hervor, die über den Bereich der externalisierenden Sozialleistungen hinaus auf andere Regelungsbereiche verweisen: - so die Analogie der Sozialversicherung mit den internalisierenden Lösungen des Arbeitsrechts (der Lohnfortzahlung oder der betrieblichen Alterssicherung 27 ) oder den internalisierenden Lösungen des öffentlichen Dienst- und Amtsrechts (der Versorgung der Beamten, Richter und Soldaten sowie der Minister, Abgeordneten und sonstigen Amtsträger 28 ) 29 - oder die Analogie der Sozialversicherung mit der Privatversicherung, 30 die zwar den Zweck der Sicherung in einem besonderen Regelungstypus externalisiert, jedoch nicht primär des sozialen Zweckes wegen, aber auch - die multiple Äquivalenz zwischen sozialen Beiträgen und Steuern oder zwischen sozialen Leistungen (insbesondere als Einkommensersatz oder Einkommensergänzung) und Steuern (insbesondere indem Steuersätze oder Steuerverschonungen Einkommen belassen) bis hin zum Ersatz von sozialen Leistungen durch einen Verbund von Steuerverschonung und „negativer Steuer" (wie seit 1996 für das Kindergeld). Eine besondere Verbindung gingen Steuerrecht und Privatversicherungsrecht in Gestalt der „Riester-Rente" ein (2001). Das Sozialrecht erweist sich somit immer neu als eine offene Gesamtheit, deren funktionale Zusammenhänge und institutionelle Strukturen sich immer weiter entwickeln.
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Zu einem Grenzfall zwischen der „normalen" betrieblichen Alterssicherung und der nachfolgend erwähnten Beamten Versorgung s. Krause , Zur rechtlichen Einordnung der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst. In: Zeitschrift für Sozialreform 1971, S. 58 ff. 28 Krause , Die Versorgung der Amtsträger im Bund und in den Ländern. In: Battis (Hrsg.), Alterssicherungssysteme im Vergleich. Schriften des Wissenschaftlichen Instituts Öffentlicher Dienst Bd. 8, 1988, S. 19 ff. 29 Krause , Die Vereinbarkeit der Vorschläge der Sachverständigenkommission „Alterssicherungssysteme" zur Umgestaltung der Beamtenversorgung mit dem Grundgesetz. Verantwortung und Leistung. Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft der Verbände des höheren Dienstes Heft 10, 1984; ders., Landesbericht zur sozialen Sicherung im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik Deutschland. In: Zacher/Bullinger/Igl (Hrsg.), Soziale Sicherung im öffentlichen Dienst, Schriftenreihe für internationales und vergleichendes Sozialrecht, 1982, S. 19 ff. 30
Krause , Sozialversicherung durch Privatversicherung. In: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (Hrsg.), Sozialpolitik und Wissenschaft. Positionen zur Theorie und Praxis der sozialen Hilfen, 1992, S. 106 ff.
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c) Europäisierung, Globalisierung, deutsche Vereinigung Binnenrecht und Außenrecht Zwei Prozesse veränderten die Verhältnisse auf besonders tief greifende Weise. Der eine: die Europäisierung. Das supranationale Europa hat die Bedingungen der Sozialrechtsdogmatik grundlegend verändert. Lange Zeit konzentrierte sich die Einwirkung des europäischen Rechts auf die soziale Begleitung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Erst im Laufe der achtziger und vor allem der neunziger Jahre verdichteten sich die normativen Anforderungen des europäischen Rechts. Auf der einen Seite wurde der Kreis der in ihrer Freizügigkeit sozial begleiteten Personen vielfältig ausgeweitet. Dazu kam, dass mit der Zeit auch die Freiheiten des Dienstleistungs- und des Warenverkehrs auf das Sozialleistungsgeschehen angewandt wurden. Auf der anderen Seite wurde in dieser Zeit auch entdeckt, dass soziale Leistungen in der Regel einen wirtschaftlichen Wert darstellen, dass daher die europäischen Regeln zur Sicherung des Marktes und des Wettbewerbs auch auf das Sozialleistungsgeschehen angewandt werden können. Vor allem die Strukturen, mittels derer soziale Leistungen organisiert werden, bedürfen von daher einer besonderen Sorgfalt. Für die Rechtsdogmatik ist das europäische Recht in besonderer Weise anstrengend. Europäisches Recht zielt nur ausnahmsweise direkt auf die Gestaltung nationalen Sozialrechts. Abgesehen von sozialrechtlich unspezifischen allgemeinen Normen, wie etwa den Diskriminierungsverboten, dient das europäische Sozialrecht der Implementation der Grundfreiheiten und des Gemeinsamen Marktes. Sein Licht fällt gleichsam schräg auf das nationale Sozialrecht. Und so ist auch für die europäischen Instanzen, insbesondere für den Europäischen Gerichtshof, nicht immer klar, inwieweit sie ihre Entscheidungen von der Integration einer europäischen Gesellschaft, von der Herstellung des Gemeinsamen Marktes oder von einer sozialpolitischen Vision her rechtfertigen sollen. Noch mehr als das deutsche Verfassungsrecht stellt das europäische Recht für die deutsche Sozialrechtsdogmatik ein zuweilen schwer einzuschätzendes Potential latenter Bedingungen und aktueller Interventionen dar. Das Phänomen der Globalisierung liegt nicht auf der gleichen Ebene. Die Globalisierung ist primär ein Inbegriff von Tatsachen. Als solche ist sie weitgehend ursächlich für die Veränderungen des Wirtschaftslebens und der Arbeitsbeziehungen, für die Trennung des Kapitals von der Arbeit und die Abwanderung von Arbeitsplätzen und also auch für die Erosion von Voraussetzungen, von deren Selbstverständlichkeit her das deutsche Sozialrecht gestaltet wurde. Sie bedeutet einen gewaltigen Anstoß für die Transnationalität der sozialen Praxis: für das gleichzeitige Leben und Arbeiten in mehreren Ländern, für die Spaltung von Familien, für die Wanderung auf Zeit, für die Wanderung für immer, für den Zugang zu sozialen Leistungen, für die Mitnahme sozialer Leistungen. Auf die Sozialrechtsdogmatik kommen diese Veränderungen vor allem nach Maßgabe der gesetzgeberischen Reaktionen, aber auch in Gestalt neuer Fragen an die Auslegung und Handhabung des Rechts zu,
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die neuer Antworten bedürfen. Für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union und ihre Bürger (oder auch Einwohner) ist diese Problematik längst eine Verantwortung des europäischen Rechts und seiner Praxis. Darüber hinaus aber ist sie immer noch eine Verantwortung der Nationalstaaten und ihres Rechts und der internationalen Abmachungen, denen sie sich unterworfen haben. Dabei aber geht es nicht nur um Sozialrecht. Dabei geht es auch - und für die jeweils Fremden: in erster Linie - um das Recht der Staatsangehörigkeit und des Aufenthalts und seine Handhabung. Die deutsche Vereinigung schließlich war ein komplexer Wendepunkt in drei sehr unterschiedlichen Geschichten: - Die erste Geschichte ist die Geschichte der Sozialpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Sie vollzog sich bis zur Wende in den schon aufgezeigten Bahnen der Entwicklung, in deren Verlauf sich mehr und mehr wesentliche, das Gesamtsystem berührende Veränderungen anbahnten. Diese Geschichte wurde durch die deutsche Vereinigung „einen Augenblick lang" angehalten. Schon der Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion war von dem Prinzip beherrscht, dass die Deutsche Demokratische Republik das soziale System der Bundesrepublik übernimmt. Noch eindeutiger und definitiver basierte der Einigungsvertrag auf dem Prinzip, dass - von Übergangsvorschriften abgesehen - das Sozialrecht der alten Bundesrepublik auch das Sozialrecht des vereinigten Deutschland sein sollte. Damit stabilisierte die deutsche Vereinigung die Institutionen des deutschen Sozialrechts. Die Implikationen und Konsequenzen der Vereinigung bekräftigten alsbald jedoch die Ursachen, die schon vorher auf Veränderungen der deutschen Sozialpolitik, auf die Auflösung alter und die Entwicklung neuer Strukturen, hingewirkt hatten. - Die zweite Geschichte greift weiter aus. Seit dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches waren die westlichen Besatzungszonen und war noch deutlicher die Bundesrepublik nicht nur die sozialrechtliche Heimat derer, die da lebten, sondern auch das sozialrechtliche Zufluchtsgebiet aller deutschen Staatsangehörigen und all der deutschen Volkszugehörigen, die als Vertriebene oder Flüchtlinge oder unter gleichgestellten Umständen in das Bundesgebiet gelangten (Art. 116 GG), auch der Bürger der Deutschen Demokratischen Republik. Die entscheidenden Argumente dafür waren die Fortdauer der Staatsangehörigkeit zum Deutschen Reich und die Teilidentität der Bundesrepublik mit dem Deutschen Reich. Mit den internationalen Verträgen, welche die deutsche Vereinigung bewirkten und begleiteten, endete diese Doppelnatur. Deutschland ist Deutschland. Und der Status einer staatsangehörigkeits-ähnlichen Zugehörigkeit beschränkt sich auf Ausnahmen. - Die dritte Geschichte fügt sich in die beiden ersten ein. Es ist die Geschichte der Menschen, die in der sowjetisch besetzten Zone und in der Deutschen Demokratischen Republik lebten. „Ihr" Sozialrecht schied nach 1945, vermehrt noch nach 1949 aus den gemeinsamen Traditionen aus. Sie lebten im
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sozialistischen Sozialrecht der Deutschen Demokratischen Republik. Wenn es ihnen gelang, in die Bundesrepublik zu übersiedeln, mündete ihre Geschichte in die zweite Geschichte. Im Übrigen leben sie seit 1990 nach dem Sozialrecht der Bundesrepublik - freilich in vielem vom Übergangsrecht variiert. Mit all dem werden die besonderen Entwicklungslinien sichtbar, entlang derer sich „drinnen" und „draußen" in Bezug auf das Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland abgrenzen.31 - Die deutsche Linie - genauer, die Linie Deutsches Reich/Bundesrepublik Deutschland/Deutsche Demokratische Republik/vereinigtes Deutschland: Sie definierte und definiert die Zugehörigkeit zur Inlandsgesellschaft der Bundesrepublik Deutschland und das Potential derer, die infolge ihrer Zugehörigkeit zum Deutschen Reich zu ihr Zugang hatten und haben. - Die europäische Linie: Sie definiert die europäische Inlandsgesellschaft. Als Mitglieder der europäischen Inlandsgesellschaft haben die Deutschen einen weitgehenden Zugang zur Teilhabe an anderen mitgliedstaatlichen Inlandsgesellschaften. Und als Mitglieder der europäischen Inlandsgesellschaft haben die Zugehörigen anderer Mitgliedstaaten einen weitgehenden Zugang zur Teilhabe an der deutschen Inlandsgesellschaft. Der sozialrechtliche Schutz folgt dabei primär europäischem Recht, sekundär nationalem Recht. - Die internationale Linie: Sie definierte, wer als Fremder Zugang zur Inlandsgesellschaft der Bundesrepublik Deutschland hatte, und sie definiert jetzt, wer Zugang zur Inlandsgesellschaft des vereinigten Deutschland hat. Diese Linie folgt teils internationalem Recht (insbesondere zum Schutz von Flüchtlingen), grundsätzlich aber deutschem Recht. Die Wahrnehmung der sich daraus ergebenden Ordnung ist - infolge der Verschränkung des Rechts der Zugehörigkeit und des Aufenthalts auf der einen Seite mit dem Recht der Teilhabe (das heißt des Zugangs zu den allgemeinen zivilisatorischen Gegebenheiten, zu den Erwerbsmöglichkeiten, aber auch zu den sozialen Leistungen) auf der anderen Seite, - infolge der unterschiedlichen Ebenen - der deutschen Ebene, der europäischen Ebene und der internationalen Ebene, - infolge der historischen Abfolgen, - im Hinblick auf die Schwierigkeiten, sich des europäischen Rechts und der europäischen Politik zu vergewissern, - schließlich im Hinblick darauf, dass sich die internationale Linie von Land zu Land anders darstellen kann, außerordentlich schwierig. Umso wichtiger ist es, das Wesentliche gleichwohl zu vergegenwärtigen.
31 Zacher, Deutschland den Deutschen ? In: Der Staat des Grundgesetzes - Kontinuität und Wandel, Festschrift für Peter Badura zum 70. Geburtstag, 2004, S. 639 ff.
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d) Die Nachfrage nach Recht Alle die skizzierten Entwicklungen für sich würden genügen, um Rechtsdogmatik gleichermaßen dringend und anstrengend zu machen. Alle die Veränderungen des Rechts, die Ausdifferenzierungen, auf den vielen Ebenen rechtlicher Ordnung, in der Vielfalt der Verfahren und Äußerungen, die gleichzeitige Relevanz vorrangigen und nachrangigen Rechts, die gleichzeitige Relevanz früheren und aktuellen Rechts, die gleichzeitige Relevanz deutschen und fremden Rechts, die große Zahl derer, die Recht auslegen, verbindlich und unverbindlich, allgemein oder im einzelnen Fall. Und dazu die Wirklichkeiten. Der ständige Wandel der Wirklichkeiten. Der immer neue Anprall neuer Wirklichkeiten. Wirklichkeiten, die einfach neue Fragen stellen. Wirklichkeiten, die Änderungen notwendig machen. Wirklichkeiten, die Lücken aufreißen. Wirklichkeiten, die Recht delegitimieren. Dazu kommt eine ganz andere Quelle der Nachfrage nach Recht: das Rechtsbewusstsein, die Erfahrung des Fehlens von Recht, die Erfahrung der Lücken des Rechts. In vielen Bereichen, in denen zu Anfang der Bundesrepublik Recht noch nicht nötig erschien, ist mittlerweile Recht notwendig geworden. Weil das Recht auch sonst im Leben allgegenwärtig wurde. Weil Selbstverständlichkeiten verloren gegangen sind. Wo die Normlosigkeit selbstverständlich war und nicht mehr selbstverständlich ist. Wo Normen selbstverständlich waren und es nicht mehr sind. Oder Recht wurde notwendig, weil sich Konflikte ergeben, die es früher nicht gab. Weil Konflikte früher ertragen wurden, während sie heute nicht mehr erträglich erscheinen. Wer Verantwortung für das Recht, für seine Gestaltung, seine Wahrnehmung, seine Handhabung trägt, wird auch noch eine andere Nachfrage nach Recht kennen: dass es Konflikte gibt, für deren Entscheidung es keine Normen zu geben scheint, und keine Instanzen, die entscheiden, sodass sie kraft konkreter sozialer Überlegenheit und Unterlegenheit entschieden werden. Das Sozialrecht kennt viele solche Felder der Rechtsnachfrage: - Die Überschätzung der Ordnungsleistung des Verwaltungsakts. 32 Er ist ein Akt des Leistungsträgers. Er ergeht am Beginn eines Leistungsgeschehens. Er legitimiert die Leistungserwartung eines Leistungsempfängers und die Leistung eines Leistungserbringers. Das Leistungsgeschehen kann in einer komplizierten Interaktion bestehen. Was kann der Verwaltungsakt über Entwicklungen sagen, die nicht vorausgesehen werden konnten oder wurden? Ist er eine Begleitung des Leistungsgeschehens? - Die Kooperation zwischen Leistungsempfänger und Leistungserbringer. Sie ist so etwas wie ein „Sozialrechts-freier" Raum - sowohl was gestaltende
32 Krause, Rechtsformen des Verwaltungshandelns (Fn. 19); s. zum Folgenden auch noch einmal die in Fn. 19 sowie 20 genannten Hinweise.
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Entscheidungen der Beteiligten betrifft als auch die Kooperation im unmittelbaren Zusammenhang der Leistung. - Das Verhältnis zwischen mehreren Leistungsbeteiligten. Das gilt für mehrere an einer Leistung Beteiligte: Krankenhaus/Personal; Arzt/Helfer/in; Personalservice-Agentur/Ausbilder oder Berater usw. Und es gilt für mehrere Leistungserbringer untereinander, die um gleiche Leistungsmandate konkurrieren. Der Wettbewerb unter Leistungserbringern ist ein vielseitiges Problem geworden. - Der Wettbewerb unter Leistungsträgern. Er wird neuerdings angestrebt. Aber gibt es eine rechtliche Ordnung dafür? Sehr oft wird auf die Frage nach einer rechtlichen Ordnung dieser Beziehungen auf das Privatrecht verwiesen. Aber die Leistungserbringung steht nicht in einem privatrechtlichen Lebenszusammenhang. Der sozialrechtliche Rahmen stellt das Leistungsgeschehen unter grundlegend andere Bedingungen als die, welche ein entsprechendes privatrechtliches Leistungsverhältnis umgeben. Die privatrechtliche Ordnung etwa eines Behandlungsverhältnisses ist wesentlich begrenzter als die sozialrechtliche. Sagt das Privatrecht etwas über den Personenkreis der Vertragspartner? Über die Gewährleistung eines Angebotes? Über die gebotenen oder die zulässigen Leistungen? Über die Entgelte? Über die Aufbringung der Entgelte? Natürlich ist das Privatrecht eine ergiebige Quelle, um die Probleme eines Behandlungsverhältnisses kennen zu lernen und ebenso die Lösungen, die sich bewährt haben. Aber die Beteiligten eines Sozialleistungsverhältnisses stehen in einem spezifischen Wertbezug. Sie bilden einen Mikrokosmos in einem weiter ausgreifenden sozialen System, ohne das ihre Beziehungen nicht so gedacht werden könnten, wie sie sind. Die Nachfrage nach Recht ist also eine spezifisch sozialrechtliche. Sie muss vom Sozialrecht wenn auch mit Hilfe der Muster des Privatrechts - befriedigt werden. 2. Die rechtsdogmatische Entfaltung Auf der anderen Seite: Seit der Mitte der sechziger Jahre ist die Sozialrechtswissenschaft enorm gewachsen - qualitativ und quantitativ.33 Studienbücher wurden geschrieben, Monographien und Aufsätze. Festschriften sind erschienen und haben Autoren der verschiedensten Provenienz zusammengeführt. Das Angebot an sozialrechtlichen Zeitschriften hat sich immer mehr erweitert und verbessert. Dissertationen wurden geschrieben und stattliche Habilitationsschriften. Immer mehr Universitäten halten periodisch „Sozialrechtstage" ab. Auch Versicherungsträger haben sich an diesem wissenschaftlichen Aufbruch beteiligt. In besonderer Weise der - nunmehr in der Deutschen Rentenversiche-
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Die eindrucksvollste Bilanz bei Baron von Maydell/Ruland, 3. Aufl. 2003.
Sozialrechtshandbuch,
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rung Bund aufgegangene - Verband Deutscher Rentenversicherungsträger. Die Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung hat ein bemerkenswertes Programm interdisziplinärer Arbeit geschultert. Das Max-PlanckInstitut für ausländisches und internationales Sozialrecht wurde gegründet. Der Deutsche Juristentag hat in dichter Sequenz jeweils auch sozialrechtliche Abteilungen in sein Programm aufgenommen. Und immer wieder haben Sachverständigenkommissionen der Bundesregierung Rationalität in die politische Entwicklung des Sozialen zu tragen versucht. Ein umfangreiches historisches Projekt „Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945" bietet eine kohärente zeitgeschichtliche Grundlage. Auch diese Entwicklung konzentrierte sich in besonderer Weise auf die Sozialversicherung. Mehrere Habilitationsschriften widmeten sich speziell der Sozialversicherung. Mit seiner Reihe „Handbuch des Sozialversicherungsrechts" (vier Bände: Krankenversicherung, Unfallversicherung, Rentenversicherung und Pflegeversicherung, 1994-1999) hat Bertram Schulin die Dogmatik des Sozialversicherungsrechts auf den denkbar höchsten Stand gebracht. Einen hohen Stand hat auch die Literatur zum Sozialhilferecht erreicht, die freilich seit den Reformen des Jahres 2003 (Zweites und Zwölftes Buch des Sozialgesetzbuches) an einem neuen Anfang steht. Im Übrigen freilich sind Diskussion und Darstellung des Rechts der spezifischen Sozialleistungsbereiche auf sehr unterschiedlichem Stand.
IV. Trotzdem das Desiderat: Sozial-Rechts-Dogmatik 1. Was fehlt? Was gleichwohl fehlt, ist jedoch nicht nur ein hoher Stand der Erörterung und der Darstellung für alle Teilbereiche des Sozialrechts. Was vor allem fehlt, ist vielmehr die Darstellung der Gesamtheit:34 eine flächendeckende, systematische Darstellung des Allgemeinen; ein systematisches Programm, 35 das es erlaubt, das Allgemeine vom Besonderen zu unterscheiden und das Besondere einzuordnen; ein systematisches Programm, das es erlaubt, die Lücken des geschriebenen Rechts (und seiner Auslegung) zu erkennen und durch (eine
34 Am reichhaltigsten in dieser Richtung sind unter den gegenwärtigen Gesamtdarstellungen wohl Bley/Kreikebohm/Marschner, Sozialrecht, 8. Aufl. 2001; Eichenhofer, Sozialrecht, 5. Aufl. 2004. 35 Frühere eigene Entwürfe des Verfassers: Zacher, Die Rechtsdogmatik sozialer Umverteilung. In: Die öffentliche Verwaltung 1970, S. 3 ff.; ders., Die Anatomie des Sozialrechts. In: Die Sozialgerichtsbarkeit 1982, S. 329 ff.; ders., Der Sozialstaat als Aufgabe der Rechtswissenschaft. In: Rechtsvergleichung, Europarecht und Staatenintegration. Gedächtnisschrift für Leontin Jean Constantinesco, 1983, S. 953 ff.; ders., Verrechtlichung im Bereich des Sozialrechts. In: Kübler (Hrsg.), Verrechtlichung von Arbeit, Wirtschaft und sozialer Solidarität, 1984, S. 11 ff.
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weiter gespannte Interpretation oder durch) ungeschriebenes Recht zu schließen; eine systematische Ordnung der Vielfalt der Meinungen und eine glaubwürdige Bewertung ihrer Richtigkeit und also auch der Gültigkeit der normativen Vorschläge, die sich aus ihnen ergeben. Es bedarf der umfassenden Suche nach den Fragen, die das Leben an das Recht stellt, sowie einer umfassenden, logischen Sichtung und einer kohärenten, verlässlichen, wohlgeordneten Darstellung der Antworten, die das Recht dem Leben gibt, und der Grundsätze, aus denen sich diese Antworten ergeben. 2. Topoi a) Die Gesamtheit Die Inhalte des Sozialleistungsrechts sind in ihrer gemeinsamen Aufgabe zu sehen: das soziale Staatsziel insoweit zu verwirklichen, als es durch externalisierende Sozialleistungen verwirklicht wird. Das soziale Staatsziel meint, indem es durch externalisierende Sozialleistungssysteme verwirklicht wird, die Gewährleistung eines Existenzminimums, die Ermöglichung sozialer Sicherheit und „mehr Gleichheit". Das ist eine offene und bis zur Widersprüchlichkeit vielfältige Zielsetzung. Die Möglichkeiten der Verwirklichung sind deshalb immer unbegrenzt größer als die konkrete Verwirklichung. Das Sozialleistungsrecht existiert im Partikularen. b) Elemente und Systeme Es ist hilfreich, die Typen der Leistungssysteme zu definieren und deren Elemente („soziale Lagen", 36 Kategorien geschützter Personen, Leistungsfälle,
36 Die intensivste Analyse s. bei Krause, Einführung in das Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland (Fn. 26), S. 31 ff. - Früher schon dazu Krause, Die sozialen Risiken und Gefahrenlagen. Zuordnung zu den einzelnen Zweigen der sozialen Sicherheit. In: Zeitschrift für Sozialreform 1972, S. 385 ff., 509 ff. - Zu einzelnen Risiken/„sozialen Lagen" s. Krause, Das Risiko des Straßen Verkehrsunfalles - Zuordnung und Absicherung. Gutachten erstattet im Auftrag des deutschen Sozialgerichtsverbandes. Schriftenreihe des Deutschen Sozialgerichtsverbandes Bd. 12, 1974; ders./Babel, Der Arbeitsunfall - Seine Tatbestandsfeststellung und seine Beurteilung nach den Bestimmungen der RVO, der Rechtsprechung und dem Schrifttum, 1990; ders./Scholler, Die Neukonzeption des Sozialhilferechts und die Situation blinder Menschen, 1978; ders., Alterssicherung in der sozialen Marktwirtschaft. In: Zeitschrift für Sozialreform 1988, S. 318 ff.; ders., Die verfassungsrechtliche Problematik der Alterssicherung im sozialen und wirtschaftlichen Wandel. In: Aktionsgemeinschaft soziale Marktwirtschaft e.V. (Hrsg.), Die Zukunft der Alterssicherung: Grundsicherung und private Vorsorge, 1988, S. 47 ff.; ders., Alterssicherung. In: Blüm/Zacher (Hrsg.), 40 Jahre Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland, 1989, S. 431 ff.
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Leistungen, Leistungsträger, Leistungserbringer und Aufbringung der Mittel) in ihren Zusammenhang zu stellen.37 Die komparative Betrachtung der Elemente („soziale Lagen", Kategorien geschützte Personen usw.) der verschiedenen Systeme wird das Erfassen, Verstehen und Darstellen des gesamten Sozialleistungsrechts ebenso bereichern wie das Erfassen, Verstehen und Darstellen der einzelnen Systeme. c) Mikrokosmen: Sozialrechtsverhältnisse
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Wichtig ist dann vor allem aber, die Abläufe der Verwirklichung in Ordnungen zu bringen, in denen die Träger korrespondierender Rollen zusammenwirken, um das jeweilige System zu verwirklichen. Es ist sinnvoll, diese Mikrokosmen als Sozialrechtsverhältnisse zu begreifen: als ein Interaktionsprogramm für zwei oder mehr Beteiligte zur Erfüllung eines gewissen Programms mit Alternativen für den Fall des Fehlgehens. Sie sind je für sich eine nach Subjekten, Gegenständen und Zielen begrenzte Ordnung, in der sich Subjekte, Inhalte und Ziele jeweils entsprechen. Diese Sozialrechtsverhältnisse greifen in der Regel im Sinne einer Sequenz ineinander. Der Grund ist der: Die Konstellationen, in denen Subjekte, Inhalte und Ziele, in ein- und demselben Mikrokosmos zu einer in sich geschlossenen, wirkungsvollen und befriedenden Ordnung vereinigt werden können, um die Zwecke zu erfüllen, die das Recht erfüllt wissen will, sind nicht beliebig machbar. Sie können weder beliebig erweitert noch beliebig vermehrt werden. Um den Weg von der Ausgangswirklichkeit zur Zielwirklichkeit zurückzulegen, müssen immer neue Ensembles von Subjekten, Inhalten und Zielen mittels je eigener Ordnungen vereinigt werden. Sie folgen wie die Glieder einer Kette aufeinander. So wie, um ein elementares Beispiel zu nennen, das Vorsorgesystem der Sozialversicherung mit dem Vorsorgeverhältnis einsetzt, das im Leistungsfall den Charakter eines Leistungs-
37 Krause , Einführung in das Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland (Fn. 26); ders., Strukturprinzipien der Gesetzlichen Krankenversicherung - Finanzierungs-, Leistungs- und Gliederungsprobleme. In: Die Strukturreform der Krankenversicherung. Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsverbandes Bd. 30, 1987, S. 32 ff.; ders., Die teilweise Leistungsminderung als Grenzproblem der Arbeitslosen- und der Invaliditätssicherung in der Bundesrepublik Deutschland. In: Ebsen (Hrsg.), Invalidität und Arbeitsmarkt, 1992, S. 189 ff.; Instrumente risiko-, bedarfs- und systemgerechter Finanzierung von Sozialleistungen. In: Sozialfinanzverfassung. Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsverbandes Bd. 35, 1992, S. 41 ff. 38 Krause, Empfiehlt es sich, soziale Pflege- und Betreuungsverhältnisse gesetzlich zu regeln? (Fn. 24); Das öffentlichrechtliche Schuldverhältnis in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. In: Blätter für Steuerrecht, Sozialversicherung und Arbeitsrecht 1979, S. 145 ff.; ders., Das Sozialrechtsverhältnis. In: Das Sozialrechtsverhältnis. Schriftenreihe des Deutschen Sozialgerichtsverbandes Bd. 18, 1979, S. 12 ff.; ders., Rechtsverhältnisse in der Leistungsverwaltung. In: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Bd. 45, 1987, S. 212 ff.
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grundverhältnisses annimmt, dessen Zusage in einem Leistungserbringungsverhältnis verwirklicht wird. Dieses Grundmuster ist weiterer Komplikation zugängig.39 So wie etwa am Vorsorge Verhältnis Garanten (der Arbeitgeber für den Arbeitnehmer) oder Mitgesicherte (Familienmitglieder) beteiligt sein können. So wie etwa die Rolle der Leistungserbringer 40 durch deren Organisation (z.B. der Vertragsärzte in der Kassenärztlichen Vereinigung 41 ) überwölbt sein kann. Oder wie die „Arbeitsteilung" zwischen mehreren Leistungserbringern (z.B. in der Arbeitsförderung: Bundesagentur, Personalservice-Agentur, deren „Erfüllungsgehilfen", Leiharbeitgebern) zu einer Gemengelage von komplementären Teilordnungen (im Beispielsfall: zwischen Bundesagentur und Arbeitslosem, zwischen Bundesagentur und Personalservice-Agentur, zwischen Personalservice-Agentur und Arbeitslosem, zwischen [Leih-]Arbeitgeber und Personalservice-Agentur) gerät, die selbst erst wieder der übergreifenden Ordnung bedarf. Diese Komplikation erzeugen rechtsdogmatische Herausforderungen von besonderer Dringlichkeit. Dies umso mehr, wenn der Gesetzgeber die je konkreteren Beziehungen einem Regime von Vereinbarungen überlässt. Im Vertragsverhältnis fällt es den Parteien eher leicht, das positive Programm zu formulieren. Es fiele, käme ihnen nicht das allgemeine Recht zu Hilfe, sehr viel schwerer, den Folgen des Fehlgehens eine angemessene Ordnung zu geben. Das ist erstens ein Problem der Phantasie. Zweitens finden darin, wie das Vereiteln, das Scheitern und die Konsequenzen geregelt werden, Über- und Unterlegenheit der Beteiligten besonders wirksamen Ausdruck. Im Sozialleistungsrecht wird das positive Programm vom Gesetz vorgegeben. Der soziale Zweck ist von besonderer politischer Wertigkeit. Aber das Recht muss auch Wege wissen, wenn der Erfolg nicht eintritt. Vereitelt etwa ein Versicherter die soziale Vorsorge, so kann nicht einfach „Zug um Zug" gelten. Der Sinn der Sozialleistungssysteme darf nicht im Versagen der Beteiligten enden. Der soziale Zweck verlangt eine andere Lösung. Aber welche? d) Kooperation und Verwaltungsakt Der Verwaltungsakt 42 ist das herkömmliche Instrument, durch das die Sozialleistungsträger ihre besondere Verantwortung wahrnehmen. Die Verwirklichung der Sozialrechtsverhältnisse setzt jedoch eine Fülle weiteren - rechtgeschäftlichen oder realen - Zusammenwirkens voraus. Das gilt vor allem für die
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Zu den Dienst- und Sachleistungen s. noch einmal Fn. 21. S. dazu auch Krause, Die Rechtsbeziehungen zwischen Kassenarzt und Kassenpatient. In: Die Sozialgerichtsbarkeit 1982, S. 425 ff. 41 Krause, Das Kassenarztrecht. In: Die Sozialgerichtsbarkeit 1981, S. 404 ff. 42 Krause, Rechtsformen des Verwaltungshandelns (Fn. 19). 40
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Erbringung von Dienst- und Sachleistungen.43 Darum ist es notwendig, diese Abläufe zu analysieren und entsprechende rechtsgeschäftliche und nichtrechtsgeschäftliche Handlungsformen zu typisieren und angemessen zu ordnen. e) Mesokosmen Über diesen Mikrokosmen liegen die Mesokosmen der Leistungsträger (z.B. der Krankenkassen oder der Kommunen). Sie können durch Zusammenschlüsse (Verbände z.B. der Krankenkassen) überwölbt werden. Die Träger sind die zentralen Faktoren administrativer Verantwortung und primäre Räume der Partizipation. 44 Die Vielfalt der Aufgaben und Elemente („sozialen Lagen", Kategorien geschützter Personen usw.), die sich in ihnen begegnen, führen nicht selten zu Inkongruenzen und Verwerfungen. Die Spannung zwischen der Offenheit, Vielfalt und Widersprüchlichkeit des sozialen Staatsziels und der Partikularität konkreter Verwirklichung findet darin Ausdruck. 45 Eine Stufe darüber liegen die Mesokosmen der Systeme (z.B. der Gesetzlichen Krankenversicherung oder der Sozialhilfe). Sie alle integrieren durch politische Steuerung, durch übergreifende Normen und Praktiken, durch Finanzströme usw. gewisse funktionale und/oder regionale Teilräume des Sozialleistungsrechts. Sie bestimmen damit begünstigend oder benachteiligend, unmittelbar oder mittelbar die Funktionsbedingungen und Wirkungen der jeweils engeren Ordnungseinheiten bis hin zu den einzelnen Sozialrechtsverhältnissen. Dazwischen schaffen die unterschiedlichsten Kompetenz- und Prozessbündelungen selektive Einheiten gemeinsamer Steuerung (z.B. die Kollektivverträge
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Krause , Wahlfreiheit des Leistungsempfängers und Bestimmungsrecht der Leistungsträger - am Beispiel der Therapieeinrichtungen für Suchtkranke. In: Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch 1984, S. 51 ff. S. auch noch einmal Fn. 19-21. 44 Zur Selbstverwaltung s. vor allem den Anteil Peter Krauses an der Kommentierung des 1. Kapitels der Gemeinsamen Vorschriften für die Sozialversicherung: Gleitze/Krause/von Maydell/Merten , Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung, 2. Aufl. 1992. S. ferner Krause , Die Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger in der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts und des Bundessozialgerichts. In: Deutscher Sozialrechtsverband (Hrsg.), Entwicklung des Sozialrechts Aufgabe der Rechtsprechung. Festgabe aus Anlass des 100jährigen Bestehens der sozialgerichtlichen Rechtsprechung, 1984, S. 575 ff.; ders ., Selbstverwaltung als mittelbare Staatsverwaltung: ihre verfassungsrechtliche Problematik. In: Gäfgen (Hrsg.), Neokorporatismus und Gesundheitswesen. Gesundheitsökonomische Beiträge, 1988, S. 253 ff. - Speziell: Krause , Möglichkeiten, Grenzen und Träger des autonomen Sozialrechts. In: Vierteljahresschrift für Sozialrecht 1990, S. 107 ff. - Zu einer wesentlich anderen Perspektive s. Krause , Das Paradoxon der Mitwirkung von passiv Sozialbetreuten. In: Braun u.a. (Hrsg.), Selbstverantwortung in der Solidargemeinschaft, 1981, S. 101 ff. 45
Krause , Rechtsgutachten zur Vereinbarkeit der gesetzlichen Bestimmungen über die Beitragssatzgestaltung der Krankenkassen, insofern diese unterschiedliche Beitragsbelastungen der Versicherten nicht verhindern, 1987.
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der Leistungsträger und der Leistungserbringer, durch welche die Bedingungen der Pflegeversicherung geregelt werden, oder Richtlinien der Ausschüsse der Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen, welche die Leistungen der Krankenkassen abgrenzen). Andere Prozesse laufen quer über die Systeme hin: so etwa Finanzausgleiche, die Systeme als solche integrieren, oder die finanziellen Brücken, die - insbesondere auf dem Nenner der Sicherung für den Fall des Sich-nicht-sichern-Könnens - zwischen den Systemen verlaufen. Diese selektiven Mesokosmen strecken sich am weitesten in Richtung auf die Vision eines Makrokosmos des gesamten Sozialleistungsrechts aus. Auch darin findet die Spannung zwischen der Offenheit, Vielfalt und Widersprüchlichkeit des sozialen Staatsziels und der Partikularität konkreter Verwirklichung Ausdruck. f) Bund und Länder Letztlich aber bilden den umfassenden Rahmen der Bund und die Länder durch ihre gesetzgeberische, (aufsichtliche 46 oder unmittelbare) administrative und politische Verantwortung, vor allem aber auch durch ihren Anteil an der Finanzierung der sozialen Leistungen. Sie aber sind andererseits unspezifische Größen. Sie sind nicht an sich Elemente, auch nicht Einheiten des Sozialleistungsrechts. Dieses Geflecht gibt den Schwierigkeiten der Sozialrechtsdogmatik den stärksten Ausdruck. g) Sozialleistungsrecht, primäre Lebensordnungen und komplementäre Ordnungen Sozialleistungsrecht ist lebensbegleitend. Die „sozialen Lagen" und Leistungsfälle dürfen ebenso wie die Leistungen nicht ohne das Recht gesehen werden, das die vorausliegenden Lebenssachverhalte regelt: Arbeitsrecht 47, Recht sonstiger Erwerbstätigkeit, Familienrecht, 48 Recht der Bedarfsdeckung
46 Krause, Aufsicht in der Sozialversicherung. In: Deutscher Sozialgerichtsverband (Hrsg.), Sozialrechtsprechung: Verantwortung für den sozialen Rechtsstaat. Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts, 1979, S. 185 ff. 47 Mit einer philosophischen Dissertation über „Die Lehre von der Arbeit in der Philosophie des Idealismus und ihre Bedeutung für das Recht" (Saarbrücken 1966) hat Peter Krause seine wissenschaftlichen Arbeiten begonnen. - Zum Verhältnis von Arbeitsrecht und Sozialrecht s. Krause, Der Arbeitskampf in der Sozialversicherung. In: Der Betrieb 1974, Beilage Nr. 14. 48 Krause/Ruland, Unvollständige Familie und Auflösung der Ehe im Sozialrecht. In: Zeitschrift für Sozialreform 1969, S. 129 ff., 200 ff., 260 ff.; Krause, Ein neues Modell für den Familienlastenausgleich. In: Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 1969, S. 617 ff.; ders., Fragen der sozialen Sicherung der geschiedenen Frau. In: Evangelische Akademie Bad Boll (Hrsg.), Das Recht der verheirateten und geschiedenen Frau, 1971, S. 58 ff.; ders., Soziale Versicherung der Frau - Risiken, Rechtslage, Reform. In: Politische Akademie Eichholz (Hrsg.), Probleme der Sicherung der Frau in unserer Industrie-
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(des Kaufs, der Miete usw.), Deliktsrecht. 49 Sozialrechtsdogmatik muss Wege finden, diese Zusammenhänge zu klären, zur Geltung zu bringen und darzustellen. h) Funktionale Äquivalenzen Drei Dimensionen sind in Betracht zu ziehen. Erstens: Sozialleistungsrecht meint die externalisierenden Sozialleistungen. Jedoch erfüllen internalisierende Lösungen (wie Arbeitsrecht oder Beamtenrecht) zuweilen analoge Aufgaben. Zweitens: Sozialleistungsrecht ist öffentliches Recht. Jedoch ist es angebracht, die gesellschaftlichen Energien, die in privatrechtlichen Lösungen Ausdruck finden (Privatversicherung, Wettbewerb unter Bedarfsdeckungs-Anbietern), zu nutzen, um optimale soziale Wirkungen zu erzielen. Drittens: Ein sehr komplexes Feld ineinander greifender und komplementärer Funktionen besteht im Verhältnis zum Steuerrecht. Auch das alles zu erfassen, zu verstehen und darzustellen, ist Aufgabe der Sozialrechtsdogmatik. i) Nationalität , Supranationalität , Transnationalität Sozialrecht ist lebensbegleitendes Recht. Das Leben, das so begleitet wird, ist nationales und transnationales Leben. Die Begleitung inländischen Lebens regelt primär nationales Recht. Aber auch europäisches Recht und internationales Recht können daran beteiligt sein. Für die Begleitung transnationalen Lebens kommt es darauf an, ob es sich in der Europäischen Union vollzieht oder außerhalb der Europäischen Union. Leben innerhalb der Europäischen Union wird in besonderer Weise vom europäischen, komplementär aber vom nationalen, nur marginal auch vom internationalen Recht begleitet. Leben außerhalb der Europäischen Union wird dagegen vom nationalen und vom internationalen Recht begleitet. In jedem Fall wird die Begleitung transnationalen Lebens nicht nur durch die Abgrenzung und Verknüpfung nationalen Sozialrechts, sondern auch durch das Recht geregelt, das die nationale Zugehörigkeit, den Aufenthalt
gesellschaft, 1971, S. 18 ff.; ders., Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit des Regierungsentwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Hinterbliebenenrenten sowie zur Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der Gesetzlichen Rentenversicherung. In: Deutsche Rentenversicherung 1985, S. 254 ff.; ders., Die Familie in der Rentenversicherung 1986, S. 280 ff.; ders., Ehe und Familie im sozialen Sicherungssystem. In: Der Schutz von Ehe und Familie. Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche Bd. 21, 1986, S. 45 ff.; ders., Familienlastenausgleich und Sozialrecht. In: Bottke (Hrsg.), Familie als zentraler Grundwert demokratischer Gesellschaften. Interdisziplinäre gesellschaftliche Gespräche an der Universität Augsburg Bd. 3, 1994, S.185 ff. 49 Krause, Die Sozialversicherung - keine ergänzende Haftpflichtversicherung. In: Neue Juristische Wochenschrift 1982, S. 2293 ff.; ders., Reformbedürftigkeit des § 116 Abs. 2 SGB X. In: Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch 1983, S. 1 ff.
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und die allgemeine Teilhabe an den nationalen Lebensmöglichkeiten betrifft. Sozialrechtsdogmatik muss diese Zusammenhänge integrieren. 3. Das Problem Die Grundmuster rechtlicher Ordnung sind vertikaler und horizontaler Natur. Vertikal: die rechtliche Ordnung des Staat-Bürger-Verhältnisses. Zuständigkeit und Verantwortung „oben", Freiheit und Gehorsam in den Grenzen des Rechts „unten". Horizontal: das Recht als Ordnung unter Gleichen und als Ordnung ihrer jeweils gemeinsamen Autonomie; oder als Ordnung ihrer Solidarität (in der Familie, in frei eingegangenen Zusammenschlüssen oder frei übernommenen Aktivitäten). Diese Grundmuster variieren. Vor allem dort, wo das Recht unter Gleichen variiert wird: in der Regel dort, wo der soziale Zweck in einen Regelungszusammenhang eingebracht wird (so wie im Arbeitsrecht in einen horizontalen Regelungszusammenhang; oder im Beamtenrecht in einen vertikalen Regelungszusammenhang). Entscheidend ist in diesen Fällen, ob der originäre Charakter des Regelungszusammenhangs seine steuernde Kraft behält. Das Sozialleistungsrecht lagert labil zwischen den beiden Grundmustern. In der horizontalen Dimension organisiert es Solidargemeinschaften. In der vertikalen Dimension gibt es der Verantwortung und der Autorität des Staates ebenso Ausdruck wie der Angewiesenheit und der Unterworfenheit des Einzelnen und seiner privaten Gemeinschaften. Es folgt unterschiedlichen Zwecken, deren Vielfalt sich zum Widerspruch steigern kann - das umso mehr, je konkreter ihre Umsetzung wird: die Sicherung des Existenzminimums; die soziale Sicherung, die auch Ungleichheit sichert; die Negation unangemessener Ungleichheit, deren Praxis den unterschiedlichsten Konstellationen von gleich und ungleich, angemessen und unangemessen ausgesetzt ist. Und das Sozialleistungsrecht, wie es ist, greift diese Ziele mittels der unterschiedlichsten Abgrenzungen der Personenkreise, der „sozialen Lagen" und der Leistungen, auch mittels der unterschiedlichsten Verhältnisse zwischen Bindung und Freiheit, Belastung und Entlastung auf. Sozialleistungsrecht ist ein Recht, das auf Ungleichgewichte mit Ungleichgewichten reagiert. Sie mögen besser, „sicherer", „gleicher" sein als die Ungleichgewichte, die ausgeglichen werden. Aber sie bleiben Ungleichgewichte. Es ist nicht ein Recht in sich geschlossener Systeme. Es ist ein Recht der offenen Enden. Rechtsdogmatik kann im Sozialrecht immer wieder selbst tragende Eigengesetzlichkeit entdecken. Aber Rechtsdogmatik wird immer wieder auch die Ungereimtheiten, die Ungleichgewichte, die offenen Enden entdecken. Diese Problematik wird besonders deutlich, wo engere und weitere Solidarverbände miteinender verkoppelt werden, um eine Umverteilung zwischen „reicher" und „ärmer", einen Ausgleich zwischen Last und Vorteil oder einen Austausch von Leistung und Gegenleistung zu verwirklichen. Und sie wird umso deutlicher, je länger der Zeitraum ist, über den hin
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sich diese Zusammenhänge erstrecken. Die Diskussionen um „versicherungsfremde Leistungen" der Sozialversicherung 50, der Einbau der Rechtsfigur des „Eigentums" 51 in das Sozialleistungsrecht oder auch die Konzepte von Generationenvertrag, Generationengerechtigkeit und Generationensolidarität sind wichtige Beispiele dafür. Gerade wegen dieser Schwierigkeiten aber hat Sozialrechtsdogmatik nicht weniger Aufgaben, sondern mehr. Sie kann das Potential selbst tragender Eigengesetzlichkeit besser ausschöpfen. Sie kann die Gefahren sichtbar machen, die mit den Grenzen selbst tragender Eigengesetzlichkeit verbunden sind. Und sie kann vielleicht auch Wege erschließen, die Spielräume selbst tragender Eigengesetzlichkeit auszuweiten. 4. Die maßgebliche Ebene des Rechts Das Ziel muss es sein, das Recht jener Ebene zu klären und darzustellen, in der - von der einen Seite her - die Politik positiven normativen Ausdruck findet und die - auf die andere Seite hin - das Verhalten der Beteiligten maßgeblich steuert. Das ist die Ebene des Gesetzesrechts und des gesetzesergänzenden ungeschriebenen Rechts. Diese Ebene in sich ernst zu nehmen, ist der Dogmatik wesentlich. Diese Ebene in ihrer Eigengesetzlichkeit zu erfassen, zu verstehen und darzustellen, begründet den Wert der Dogmatik gegenüber der Politik einerseits, für die Rechtsanwender und die Rechtsbetroffenen andererseits. Vorordnungen wie das Verfassungsrecht oder entsprechende Normen des Europarechts sind in der Regel Geltungsbedingungen dieser Rechtsebene und können Rechtmäßigkeitsbedingungen seiner Anwendung sein. Je nach der Dichte des Sach- und Regelungsbezuges wird es die orientierende Wirkung der Dogmatik steigern, sie einzubeziehen. Jedoch darf das die In-sichWahrnehmung der maßgeblichen Ebene nicht verdunkeln. Dem Sozialrecht voraus liegt ein wirkkräftiges Potential an vorpositiver Normativität: Gerechtigkeit, Solidarität, Teilhabe, Inklusion, Subsidiarität, soziale Sicherheit, Daseinsvorsorge. Der allgemeinste, beständigste und politisch effektivste Satz gebietet die Negation unangemessener Ungleichheit und die Herstellung von „mehr Gleichheit". Dieses Potential trägt und begleitet die politische Gestaltung des Rechts ebenso wie seine Auslegung und Anwendung. Es kann das Recht und seine Anwendung bekräftigen. Es ist jedoch stets vieldeutig und offen genug, um Kritik, alternative Entwürfe und Veränderungen zu rechtfertigen. Der rechtsdogmatische Umgang mit den vorpositiven Normen muss daher von dem Bemühen um Unterscheidung bestimmt sein. Dieses vor50 Krause, Fremdlasten der Sozialversicherung. In: Vierteljahresschrift für Sozialrecht 1980, S. 115 ff.; ders., dass., Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1979/80 S. 249 ff. 51 Krause , Eigentum an subjektiven öffentlichen Rechten, 1982.
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positive Normgut macht die humane Verantwortung des Umgangs mit dem Sozialrecht deutlich. Aber seine Vieldeutigkeit und Offenheit ist auch der Grund, warum die Dogmatik des positiven Rechts davon getrennt entwickelt werden muss. Die Dogmatik muss das geltende Recht in sich ausweisen.
Sozialversicherung - ein Modell für das 21. Jahrhundert?* Von Bernd von Maydell
I. Sozialversicherung Zentrales Institut der deutschen sozialen Sicherung Am Anfang der modernen deutschen sozialen Sicherung steht die Sozialgesetzgebung Bismarcks aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Das dieser Gesetzgebung zugrunde liegende neue Konzept war die Sozialversicherung, die zur Absicherung der Lebensrisiken (Krankheit, Unfall, Invalidität, Alter und Hinterbliebenenschaft) dienen sollte. Zu der Ausweitung des erfassten Personenkreises und der zu erbringenden Leistungen traten im 20. Jahrhundert die Einbeziehung neuer Risiken, wie die Arbeitslosigkeit (1927) und die Pflege Versicherung (1995). Während ursprünglich nur besonders schutzbedürftige Arbeitnehmer erfasst wurden, erfolgte Schritt für Schritt die Einbeziehung weiterer Personengruppen (weitere Arbeitnehmer, teilweise auch Selbständige) in den Schutzbereich. Dieser Schutz ist inhaltlich stark erweitert worden. Während ursprünglich nur eine Mindestsicherung angestrebt wurde, sollte etwa seit der Rentenreform des Jahres 1957 eine Lebenstandardsicherung im Alter erreicht werden 1.
I I . Reformbedarf 1. Herausforderungen Das System sozialer Sicherheit hat eine Reihe von schwerwiegenden Herausforderungen zu bewältigen2. Deshalb besteht seit Jahren weitgehende Einig-
* In Anbetracht der Weite der Fragestellungen sind hier nur exemplarische Anmerkungen möglich. Eine auch nur annähernd vollständige Dokumentation hätte den Rahmen des Beitrages gesprengt. 1 Zur Entwicklung vgl. Tennstedt , Geschichte des Sozialrechts, in: v. Maydell/Ruland (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, 3. Aufl. 2003, S. 24 ff. 2 Diese Herausforderungen hat bereits Anfang der 80er Jahre eine Sachverständigengruppe des Sozialbeirats herausgearbeitet und mögliche Lösungswege aufgezeigt. Die Gutachten sind vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 1983 veröffentlicht worden.
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keit darüber, dass grundlegende Reformen notwendig sind. Es geht vor allem um folgende Herausforderungen. a) Die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt haben sich verändert, was Auswirkungen auf die Erwerbsverhältnisse der Beschäftigten hat. Industrialisierung, Automatisierung und Globalisierung führten dazu, dass nicht nur der Umfang der Arbeit sondern auch die Beschäftigungsformen sich gewandelt haben. Das lebenslange Beschäftigungsverhältnis ist nicht mehr die generelle Regel. Vielmehr nehmen die durch Arbeitslosigkeit unterbrochenen Erwerbsverläufe mit häufigen Arbeitsplatzwechseln zu. Teilzeitverhältnisse und selbständige Erwerbstätigkeiten unterbrechen und verdrängen VollarbeitsVerhältnisse. Dies wirkt sich auf alle Zweige der Sozialversicherung auf der Einnahmenwie auf der Leistungsseite aus. Vor allem in der Rentenversicherung wird der Aufbau einer ausreichenden Alterssicherung bei unsteten Erwerbsverläufen erschwert oder gar unmöglich gemacht. b) Verändert hat sich auch die Bedeutung der Familie in der Gesellschaft 3. Das Leben in einem Familienverband mit mehreren Kindern ist nicht mehr der Regelfall. Viele Menschen gehen gar keine Ehe mehr ein, außerdem steigt die Zahl der Ehescheidungen. Demzufolge nehmen die Einpersonenhaushalte und die Haushalte von Alleinerziehenden zu. Dadurch ändert sich auch die typische Situation, für die durch das Sicherungssystem Vorsorge geschaffen werden sollte. c) Die Erhöhung der Lebenserwartung führt dazu, dass der Lebensabschnitt nach der Verrentung (bei stabilem Renteneintrittsalter) länger wird und damit die für die Rentenzahlung notwendigen finanziellen Aufwendungen steigen. In einem Versicherungssystem kann dies, soweit keine Einnahmensteigerung möglich ist, nur durch eine Kürzung der Leistungen aufgefangen werden 4. Gleichzeitig sinkt die Zahl der Geburten. Eine Verringerung der heranwachsenden Generation führt dazu, dass die Aufwendungen für die wachsende ältere Generation von immer weniger Erwerbstätigen aufgebracht werden müssen. Die daraus erwachsenden Probleme für soziale Sicherungssysteme sind offensichtlich.
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Vgl. dazu den 7. Familienbericht der Bundesregierung. Siehe dazu Ruland, Rentenversicherung, in: v. Maydell/Ruland (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, 3. Aufl. 2003, S. 958 ff., 1055 ff. 4
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d) In einem Sozialversicherungssystem werden die Aufwendungen für die Leistungen im Wesentlichen durch Beiträge finanziert, die von Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufgebracht werden. Erhöhte Beiträge, wie sie in Anbetracht der gekennzeichneten Herausforderungen notwendig sind, verteuern den Faktor Arbeit zusätzlich. In einer globalisierten Welt kann dies zu Nachteilen für die Unternehmen gegenüber anderen Wettbewerbern im Ausland führen, deren Produkte nicht in so starkem Maße durch Sozialabgaben belastet sind. 2. Reformkonzepte Bei der Debatte, wie diesen Herausforderungen begegnet werden kann, ist die Frage zu beantworten, ob eine Reform im Rahmen des Sozialversicherungsmodells noch möglich ist oder ob nicht grundsätzlich andere Lösungen, etwa eine Staatsbürgerversorgung, gewählt werden müsste. Diese Frage stellt sich im Übrigen nicht allein für den jeweiligen nationalen Gesetzgeber, auch im internationalen Vergleich, etwa bei der offenen Methode der Koordinierung im Rahmen der EU oder bei der beratenden Begleitung von Transformationsprozessen bedarf es der Entscheidung, ob und in welchem Umfang das Sozialversicherungsmodell noch Grundlage für soziale Sicherungssysteme sein kann5.
I I I . Wesentliche Elemente einer Sozialversicherung 1. Historische Prägung Die Sozialversicherung beruhte von Anfang an nicht auf einem rational konstruierten Modell, sondern auf politischen Entscheidungen, für die unterschiedliche Zielsetzungen maßgebend waren. Die ursprünglichen Strukturelemente haben daher, jedenfalls in ihrer Kombination, keine zwingende Verbindlichkeit. Das zeigt sich besonders an den Elementen, die in den verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung unterschiedlich sind, wie etwa die Beteiligung der Arbeitgeber an den Beiträgen. Hinzu kommt, dass die Sozialversicherung sich in den über 120 Jahren ihrer Geschichte in Deutschland weiter entwickelt hat und dadurch die Vielfältigkeit noch zugenommen hat. Insgesamt lässt sich daher sagen, dass die historisch entwickelte Sozialversicherung nicht einem Idealmodell entspricht, sondern ein Realmodell darstellt. Das bedeutet, dass man nicht von klinisch reinen Strukturelementen, die eine Sozialversicherung kennzeichnen, ausgehen kann, sondern allenfalls von typischen Gestaltungen. 5
Vgl. dazu v. Maydell , Social Insurance - an instrument of social security in the future? Labour Law and industrial elations at the turn of the century. Liber amicorum in ana of Prof. Dr. Roger Blanpain, 1998, S. 125 ff.
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Einige dieser Gestaltungselemente, die die Sozialversicherung von anderen Systemen der sozialen Sicherheit unterscheiden6, sollen nachfolgend darauf untersucht werden, inwieweit sie noch geeignet sind, die Herausforderungen zu bewältigen. 2. Organisationsform Die Sozialversicherung ist öffentlich-rechtlich organisiert. Die Sozialversicherungsträger können dadurch die ihnen übertragenen Aufgaben mit den Mitteln des öffentlichen Rechts erfüllen. Das schließt nicht aus, dass sich die Träger bei der Leistungserbringung unter Umständen auch des Privatrechts bedienen können. Darüber hinaus wird im Rahmen der - wenig präzisen Privatisierungsdebatte 7 auch diskutiert, die Aufgaben der sozialen Sicherung privaten Institutionen zu übertragen, wie dies bei der privaten Pflegeversicherung und - in begrenztem Umfang - bei der so genannten Riester-Rente geschehen ist. Die Privatisierung der Versicherungsträger ist, was die Krankenversicherung anbelangt, z.B. in den Niederlanden weiter vorangeschritten. Die öffentlich-rechtlich ausgestalteten Sozialversicherungsträger sind kein Bestandteil der unmittelbaren Staatsverwaltung, vielmehr genießen sie als Selbstverwaltungskörperschaften oder Anstalten eine gewisse Selbständigkeit vom Staat8. Die Selbstverwaltung wird getragen von den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern, deren Vertreter die Selbstverwaltungsorgane besetzen. An der demokratischen Legitimation und der Effektivität der Funktionsweise der Selbstverwaltung wird seit längerem Kritik geübt, ohne dass eine überzeugende Alternative bislang deutlich geworden wäre. Die Beteiligung der Arbeitgeber an der Selbstverwaltung, die allerdings - wie die Ersatzkassen belegen - nicht lückenlos durchgeführt ist, wird immer wieder in Frage gestellt oder allein von der finanziellen Beteiligung der Arbeitgeber, den Arbeitgeberbeitrag - abhängig gemacht. Diese Sichtweise verkennt, dass die Arbeitgeber in vielfältiger Weise in das Funktionieren der Selbstverwaltung involviert sind. Das beginnt bei dem Beitragseinzugsverfahren, setzt sich fort bei der nicht ersetzbaren Rolle der Arbeitgeber im Rahmen der Prophylaxe, der Arbeitssicherheit und der beruflichen Rehabilitation und kommt auch dort zum Tragen, wo die Arbeitgeber Leistungen erbringen, die die Leistungen der Sozialversicherung substituieren (Entgeltfortzahlung) und ergänzen (betriebliche Altersversorgung). Durch
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Grundlegend Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, 2000. Siehe dazu z. B. v. Maydell, Private und öffentliche Elemente in den Organisationsstrukturen sozialer Sicherheit, in: v. Maydell/Shimomura/Tezuka (Hrsg.), Entwicklung der Systeme sozialer Sicherheit in Japan und Europa, 2000, S. 247 ff. 8 Vgl. Becker, Organisation und Selbstverwaltung der Sozialversicherung, in: v. Maydell/Ruland (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, 3. Aufl. 2003, S. 225 ff. 7
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die Selbstverwaltung sind die Arbeitgeber im Übrigen integriert in die sozialpolitische Diskussion. Trotz mancher Vorbehalte gegen die Selbstverwaltung ist die Überführung der Sozialversicherung in die unmittelbare Staatsverwaltung keine erstrebenswerte Option9. Dass die bestehende Organisationsstruktur nicht geeignet sein sollte, ihren Beitrag bei der Bewältigung der Herausforderung zu leisten, ist nicht ersichtlich. In der Vergangenheit hat die Selbstverwaltung gezeigt, dass sie auch schwierige Aufgaben zu lösen in der Lage ist. Die Organisationsreform in der Rentenversicherung und vor allem der Aufbau der Sozialversicherung in den neuen Bundesländern sind Beispiele dafür. Inwieweit sozialpolitische Zielsetzungen auch in privatrechtlicher Organisationsform realisiert werden können, ist bislang noch umstritten. Die private Pflegeversicherung und die - freiwillige - Riester-Rente sind Versuche in Richtung einer Privatisierung des Durchführungsweges, die jedoch noch weiterer Erfahrungen und einer umfassenden Evaluierung bedürfen. Auch ausländische Beispiele, wie etwa in den Niederlanden10, sollten dabei herangezogen werden. Eine umfassende Ersetzung der öffentlich-rechtlichen Struktur steht nach den gegenwärtigen Erkenntnissen jedenfalls nicht zur Debatte. 3. Finanzierung a) Beiträge versus Steuern Das Finanzierungsinstrument der Sozialversicherung ist der Beitrag, der im Gegensatz zur Steuer in einer Beziehung zur Leistung steht11. Steuermittel fließen zwar auch in manche Sektoren der Sozialversicherung, sie werden aber regelmäßig besonders dadurch gerechtfertigt, dass sie versicherungsfremde Leistungen ausgleichen sollen. Beiträge und Steuern unterliegen unterschiedlichen Bemessungskriterien, die Verteilungswirkungen sind daher verschieden. Während der Einkommensteuer grundsätzlich alle Einkünfte unterliegen, werden Beiträge regelmäßig nur vom Arbeitseinkommen erhoben. Hinzu kommt, dass das Arbeitseinkommen nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze der Bei-
9 So schon v. Maydell , Die Zukunft der sozialen Selbstverwaltung, in: Perspektiven. 50 Jahre Tarif- und Sozialpolitik in der Chemie, 1999, S. 153 ff. 10 Gegenwärtig wird vor allem die Kranken Versicherungsreform in den Niederlanden diskutiert, die zu einer weitgehenden Verschmelzung der privaten und gesetzlichen Krankenversicherung geführt hat. Inwieweit diese Reform für Deutschland bedeutsam werden könnte, ist bislang noch nicht vollständig ausgelotet. 11 Vgl. dazu Fn. 4.
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tragspflicht unterliegt. Diese degressive Wirkung der Beitragsfinanzierung, die sich z.B. in der Schweiz so nicht findet, wird als unsolidarisch kritisiert 12 . Demgegenüber ist allerdings zu bedenken, dass sich eine Einebnung der Unterschiede zwischen Beitrag und Steuer die Vorteile, die der Beitrag hinsichtlich der Erhebung hat, verloren gehen können. Im Übrigen ist es eine durchaus vertretbare Entscheidung, dass der Solidarausgleich zwischen Reichen und Armen durch die Besteuerung und nicht parallel dazu in vielen anderen Bereichen, wie etwa der Beitragsgestaltung, erfolgen soll. Ernsthaft zu überlegen ist allerdings, ob nicht neben dem Arbeitseinkommen auch andere Einkünfte bei der Beitragserhebung herangezogen werden sollten. Insbesondere in der Krankenversicherung können so Ergebnisse verhindert werden, dass der soziale Ausgleich zu Gunsten von Personen erfolgt, die auf Grund ihrer Einkommenssituation gar nicht hilfebedürftig sind. Bei den Beiträgen wird zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträgen unterschieden, wobei eine hälftige Aufteilung üblich ist, aber auch die Arbeitgeber die gesamte Beitragslast tragen können, wie die gesetzliche Unfallversicherung zeigt. Abgesehen davon, dass wirtschaftlich auch der Arbeitgeberbeitrag von den Arbeitnehmern zu erarbeiten ist, ist der so genannte Arbeitgeberbeitrag nicht ein notwendiges Kennzeichen der Sozialversicherung. Die Verantwortung der Arbeitgeber für die soziale Sicherung der Arbeitnehmer, die letztlich das Konzept der sozialen Selbstverwaltung trägt, manifestiert sich in vielfältigen Formen der Mitwirkung, worauf schon hingewiesen worden ist 13 . b) Umlage versus Kapitalbildung Ganz überwiegend erfolgt die Finanzierung der Leistungen der Sozialversicherung im Umlageverfahren. Ursprüngliche Ansätze für eine Kapitalbildung, vor allem in der Rentenversicherung, sind in den letzten Jahrzehnten vollständig eliminiert worden. Ein Grund dafür ist, dass ein gebildetes Kapital in der Sozialversicherung eine Versuchung für den Gesetzgeber darstellt, über dieses Kapital für andere Zwecke zu verfügen. Die Erfahrung lehrt, dass diese Gefahr tatsächlich besteht. Daraus wird allgemein die Folgerung gezogen, dass eine Kapitalbildung in der Sozialversicherung nicht opportun ist. Daraus wird ferner der Schluss gezogen, dass die Gestaltungsform privater Vorsorge eher in der Lage ist, der demographischen Herausforderung zu begegnen, weil sie auf Kapitalbildung beruht und diese Finanzierungsform resistent gegenüber einem Bevölkerungsrückgang sein soll. Es kann auf diese These hier nicht näher ein12
Zur Schweizer Grundsicherung zuletzt grundlegend Lenze, Staatsbürgerversicherung und Verfassung, 2005, S. 177 ff. 13 Siehe oben Fn 2.
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gegangen werden. Jedenfalls weisen sowohl Umlage- als auch Kapitalbildung Vor- und Nachteile auf, so dass eine Kombination beider empfehlenswert ist 14 . Das bedeutet, dass die Sozialversicherung in Zukunft ein Sicherungsinstrument bleibt, obwohl sie mit dem Umlageprinzip arbeitet. c) Geldbeitrag versus generativer Beitrag Dem Konzept der Sozialversicherung als einer Versicherung entspricht es, dass der Beitrag in Geld erbracht wird. In Anbetracht der Bedeutung, die die Geburt und Erziehung von Kindern für das Funktionieren des Generationenvertrages hat, wird seit längerer Zeit die Frage diskutiert, ob nicht auch die Erziehungsleistung als Beitrag zu werten ist 15 . Bislang hat sich diese Auffassung nicht durchsetzen können. Vielmehr wird die Erziehung nach wie vor als eine gesamtgesellschaftliche Leistung qualifiziert, für die dementsprechend finanziell der Steuerhaushalt aufzukommen hat. Dem entspricht, dass die gesetzliche Rentenversicherung für die Erziehungszeiten Beitragszahlungen aus dem Bundeshaushalt erhält. Ob diese Regelung nach der neuen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufrechterhalten werden kann, muss noch abschließend geklärt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zum Beitragsrecht der Pflegeversicherung 16 entschieden, dass der Beitrag der Kindererziehung für alle sozialen Sicherungssysteme konstitutiv sei, die auf das Nachwachsen einer neuen Generation angewiesen sind. Das Gericht leitet aus dem allgemeinen Gleichheitssatz des Artikel 3 Abs. 1 GG den Grundsatz ab, dass Kindererziehung als ein Beitrag für diese Sicherungssysteme zu bewerten ist. Ob diese für die Pflegeversicherung aufgestellten Grundsätze auch auf andere Zweige der Sozialversicherung übertragen werden müssen, ist noch umstritten 17. Sollte dies allerdings der Fall sein, so ist zweifelhaft, ob das Konzept der Sozialversicherung beibehalten werden kann. Vielmehr wird dann wohl ein Übergang zu einer allgemeinen Bürgerversorgung notwendig werden. 4. Leistungen Sozialversicherungsleistungen werden dadurch gekennzeichnet, dass auf sie bei Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen ein Rechtsanspruch dem Grunde 14
So überzeugend Krupp , Anforderungen an eine gerechte und funktionsfähige Alterssicherung, in: ZVersWiss 2002, S. 499 ff. 15 Grundlegend dazu Borchert, Die Berücksichtigung familiärer Kindererziehung im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung, 1981; ders., Die familienpolitischen Strukturreformen der Sozialversicherung, in: Die Familienpolitik muss neue Wege gehen, hrsg. von Hess. Staatskanzlei, 2003, S. 307 ff. 16 BVerfGE 87, 1. 17 Ablehnend Ruland, Das BVerfG und der Familienlastenausgleich in der Pflegeversicherung, in: NJW 2001, S. 1673 ff.; bejahend dagegen Lenze (Fn. 12), S. 251 ff.
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und der Höhe nach besteht. Eine Bedürftigkeitsprüfung findet nicht statt. Von diesem Prinzip ist allerdings eine - begrenzte - Ausnahme bei der Anrechnung von anderweitigen Einkünften auf Hinterbliebenenrenten gemacht worden 18. Das Versicherungselement der Leistungen kommt dadurch zum Ausdruck, dass zwischen Leistungen und Beitrag eine Beziehung besteht, die allerdings durch das Prinzip des sozialen Ausgleichs modifiziert wird. In den verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung ist das Mischungsverhältnis dieser beiden Elemente sehr unterschiedlich, wie die Rentenversicherung einerseits und die Krankenversicherung andererseits deutlich zeigen. Dennoch wird man sagen müssen, dass bei einer vollständigen Dominanz des sozialen Ausgleichs von einer Sozialversicherung nicht mehr die Rede sein kann und die sachgerechte Finanzierung insoweit nicht der Beitrag sondern die Steuer wäre. Abgesehen von dem Verlust der Äquivalenzbeziehung kann das sozialversicherungsrechtliche Leistungsverhältnis auch dadurch die Funktionsfähigkeit verlieren, dass das Versorgungsziel verfehlt wird. Dies kann durch eine Absenkung des Leistungsniveaus, etwa bedingt durch Finanzierungsprobleme, geschehen, wenn die Leistungen nach der Absenkung bei regulärem Erwerbsverlauf nicht oder nur knapp oberhalb der sozialhilferechtlichen Grundsicherung liegen19. Eine solche Versorgung, insbesondere in der Alterssicherung, kann auch ohne eigene Beitragszahlung erreicht werden. Ein auf Pflichtbeiträgen beruhendes Alterssicherungssystem kann sich mit einem solchen Versorgungsergebnis nicht zufrieden geben, es stellt sich dadurch selbst in Frage. Für die gesetzliche Rentenversicherung bedeutet dies, dass weiteren Absenkungen des Rentenniveaus enge Grenzen gesetzt sind. Die Kompensation der Niveauabsenkung durch die Riester-Rente kann diese Lücke schon deshalb nicht vollwertig schließen, weil die Riester-Rente freiwillig ist und gerade Geringverdiener diese freiwillige Sicherungsform aus Mangel an verfügbaren Mitteln häufig nicht wählen werden 20.
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Dazu Peter Krause , Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit des Regierungsentwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Hinterbliebenenrenten sowie zur Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung, in: DRV 1985, S. 254; kritisch gegenüber dieser Regelung u.a. Heinze, Zur Reform der Hinterbliebenenversorgung oder Auf dem Weg zur „Sozialhilfe-Rente", in: DRV 1985, S. 245; in diesem Sinne auch v. Maydell , DRV 1984, 662 ff. 19 Dazu v. Maydell , Herausforderungen für die Altersvorsorge im 21. Jahrhundert, in: 10. Münsterische Sozialrechtstagung: Reformen in der privaten und betrieblichen Altersvorsorge in der Krise des Sozialstaats, 2004, S. 1 ff. 20 Siehe Fn 19.
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5. Ergebnisse der Analyse Die wesentlichen Elemente einer Sozialversicherung sind trotz vielfältiger Modifikationen und trotz der gravierenden Herausforderungen für das System sozialer Sicherheit nach wie vor funktionsfähig, wie die Analyse gezeigt hat. Es liegt daher nahe, die notwendigen Reformen im Rahmen des überkommenen Sozialversicherungssystems vorzunehmen, sofern nicht ein anderes Modell bessere Ergebnisse verspricht.
IV. Alternativen Es gibt eine unübersehbare Zahl von verschiedenen Systemen sozialer Sicherheit in der Welt. Stellt man es allerdings auf die Grundmodelle ab, so ergibt sich eine Beschränkung auf zwei unterschiedliche Konzepte. Einerseits kann die Absicherung durch den Einzelnen und seine Familie selbst und privaten Sicherungsformen erfolgen, wobei bei Fehlschlagen der Absicherung die staatliche Fürsorge eingreifen muss. Andererseits kann der Staat selbst ein umfassendes Versorgungssystem zur Verfügung stellen, das letztlich durch Steuermittel zu finanzieren ist. Wie ein internationaler Vergleich zeigt, haben sich diese beiden Grundmodelle in Reinform nicht durchsetzen können, vielmehr finden sich durchweg Mischsysteme. Auch die Sozialversicherung ist letztlich ein solches Mischmodell, in dem sich Elemente der privaten Vorsorge mit solchen der staatlichen Versorgung verbinden. Man könnte insoweit die Sozialversicherung als das adäquate soziale Sicherungssystem für eine soziale Marktwirtschaft bezeichnen, bei der die auf privater Initiative aufbauende Marktwirtschaft durch Elemente des sozialen Schutzes modifiziert wird. Auch insoweit ist die Sozialversicherung nicht ein veraltetes Modell.
V. Folgerungen 1. Notwendigkeit von Anpassungsprozessen Die Analyse hat gezeigt, dass die Sozialversicherung nach wie vor geeignet ist, auch in der Gesellschaft des 21. Jahrhundert die Regelsicherung zu gewährleisten. Allerdings sind, wie auch in der Vergangenheit, Anpassungen notwendig. So kann den Veränderungen der sozialen Verhältnisse dadurch Rechnung getragen werden, dass den Formen der privaten Vorsorge stärker als in der Vergangenheit eine Funktion zur Substitution und zur Addition eingeräumt wird. Auch wird die alleinige Ausrichtung auf das Arbeitseinkommen modifiziert werden müssen, indem auch andere Formen des Erwerbseinkommens berücksichtigt werden. In diesem Zusammenhang wandelt sich notwendig die Rolle der Arbeitgeber.
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2. Gefahren durch Verwässerung der Sozialversicherungselemente Obwohl das Sozialversicherungssystem ein Mischmodell ist, wird es durch einige Kernelemente, wie die Beitragsfinanzierung und die Selbstverwaltung, gekennzeichnet. Gehen die Elemente verloren, so wird die Sozialversicherung auf Dauer keinen Bestand haben können. So droht vor allem eine Aufweichung des Beitragselements, indem die Abgrenzung zur Steuer nicht beachtet wird. Wesentliche steuerfinanzierte Leistungen sprengen aber das Versicherungselement und führen zu dem Übergang in ein staatliches Versorgungssystem. Dies wird bei der Reform der Krankenversicherungen zu beachten sein. Welche Folgen eine Vermischung haben kann, belegt die Arbeitslosenversicherung, bei der durch einen sehr schmerzhaften Prozess (Hartz-Gesetzgebung) eine Rückorientierung zum Arbeitslosengeld als Versicherungsleistung versucht worden ist. Auch die Erhaltung des Elements der Selbstverwaltung bedarf einer besonderen Beachtung. Wahlverfahren und Verwaltungspraxis müssen erneuert werden. Vor allem wäre es aber problematisch, aus der Notwendigkeit der Stärkung der einzelnen Berufsgenossenschaften zu folgen, dass es eines zentralen Trägers für Unfallversicherung bedürfte. Ganz abgesehen von der damit verbundenen Gefährdung der Aufgaben der Prophylaxe und der Rehabilitation würde eine Zentralanstalt zu einer weiteren Schwächung der Selbstverwaltung führen. Eine weitere Aufgabe für die Zukunft ist, die Sozialversicherung in der sich weiter entwickelnden Europäischen Union zu verankern. 3. Erhaltung und Stärkung der Sozialversicherung als Aufgabe Die Sozialversicherung hat sich in ihrer über hundertjährigen Geschichte zu einem zentralen Baustein des Systems sozialer Sicherheit in Deutschland entwickelt. Dieser Prozess sollte nicht abgebrochen, sondern Schritt für Schritt weitergeführt werden. Dann lassen sich auch die gravierenden Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bewältigen.
Die Sozialversicherung in Taiwan Sozial- und verfassungsrechtliche Aspekte Von Ping-Cheng Chung
I. Einführung Das Sozialversicherungssystem in Taiwan wurde schon in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gegründet. Wegen der politischen Entwicklung und der Verbesserung des Sozialbewusstseins der Bevölkerung hat es sich während der letzten zehn Jahre wesentlich verändert. Die in der Vergangenheit verstreuten Regelungen zur Sozialversicherung finden sich heute in sechs Zweigen „gebündelt". Dieser Veränderungsprozess ist bis heute noch nicht abgeschlossen. Er umfasst einen Komplex von berufsständischer Versicherung und Volksversicherung, „Gesamtversicherung" und risiko-orientierter Versicherung sowie - nach einer Neuregelung im Jahr 2004 deutlicher hervortretend - ein zweistufiges Alterssicherungssystem. Insbesondere nach der Einführung einer umfassenden Krankenversicherung ist das Versicherungsprinzip deutlicher zur Geltung gebracht worden, so dass Leistungen und Finanzierung schrittweise verbessert wurden. In dem nachfolgenden Beitrag sollen die taiwanesische Sozialversicherung und die damit verbundenen sozial- und verfassungsrechtlichen Probleme skizzenhaft dargstellt werden.
I I . Die Entwicklungsgeschichte Weil Taiwan eine längere geschichtliche Kontinuität als das Festland China aufzuweisen hat - letzteres war früher von der westlichen Kultur beeinflusst worden - begann seine sozialpolitische sowie sozialrechtliche Modernisierung erst nach dem zweiten Weltkrieg, genauer gesagt, nach dem Bürgerkrieg, welcher 1949 zur Ausrufung der Volksrepublik China durch Mao und der Vertreibung der Kuomintang-Regierung vom Festland nach Taiwan führte. In der Zeit zwischen 1895 und 1945 war Taiwan japanisches Besatzungsgebiet. Das damalige Fürsorgewesen in Taiwan lässt sich allerdings mit dem in Japan nicht vergleichen. Wohl aber bildete das unter der Kolonialpolitik aufgebaute Verwal-
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tungssystem eine Basis für die Durchführung künftiger Sozialpolitik und die Einführung einer Sozialversicherung 1. Die Entwicklung der Sozialversicherung in Taiwan vollzog sich in drei Phasen2. 1. Die Phase von 1950 bis 1980 Die Arbeiterversicherung, die 1958 auf der Rechtsgrundlage des „Gesetzes über die Arbeiterversicherung" (AVG) eingeführt wurde, zählte zu den ersten Zweigen der Sozialversicherung in Taiwan. Dessen Vorläufer war die „Verordnung über die Arbeiterversicherung in der Provinz Taiwan" 19503. Diese war nicht ein Erfolg beruflicher Genossenschaften, sondern ein Werkzeug der Regierung gegen die Arbeiterbewegung, die bis heute eine schwache Position in der Sozialpolitik einnimmt 4 . Neben der Arbeiterversicherung bestehen seit 1953 die Soldatenversicherung sowie - seit 1958 - die Bediensteten Versicherung, die als Sondersysteme der Sozialversicherung verstanden werden können. Aufgrund der Bestrebungen zur Wiedervereinigung mit dem chinesischen Festland wurde Taiwan über 30 Jahre von Seiten der Kuomintang nur als ein „Trittstein für die Rückgewinnung" des Festlands angesehen. Unter der diktatorischen Regierung der Kuomintang als Einheitspartei war das System der Sozialversicherung mehr paternalistisch als sozialstaatlich. Der Staat trug großenteils die Aufwendungen der Sozialversicherung. Personengruppen der öffentlichen Bediensteten, Lehrer und Soldaten wurden insofern privilegiert, als für sie neben den beamtenrechtlichen Versorgungsmaßnahmen zusätzlich der Schutz der Sozialversicherung bereitgehalten wurde 5. 2. Die Phase von 1980 bis 1994 Vor dem Hintergrund der positiven wirtschaftlichen Entwicklung und der Stärkung demokratischer Strukturen wurden in diesem Zeitraum zahlreiche Versicherungsbereiche eingeführt: 1980 die Versicherung privater Lehranstalten, 1982 die Krankenversicherung der Familienangehörigen von Beamten, 1989 die Krankenversicherung der Landwirte. Zum Schutz der Beamten und deren Familienmitglieder wurde der Kreis der versicherten Personen schrittweise ausgedehnt, so dass schließlich für die Ehepartner, die Eltern und alle Kinder der Beamten, der Lehrkräfte und Angestellten privater Lehranstalten sowie für 1 W. /. Lm, Analyse des Geschichtsvergleichs der Wohlfahrtsstaaten, Taipei, Taiwan 1994, S. 177 f.; P. C. Chung, Das Sozialversicherungsrecht, Taipei, Taiwan 2005, S. 7 f. 2 C. H. Lin, Steuerungsprobleme und Reformbestrebungen des Gesundheitswesens in Taiwan, Bielefeld 1996, S. 40 ff.; vgl. Lin (Fn. 1), S. 181 f. 3 P. C. Chung, Aufbau einer umfassenden Alterssicherung in Taiwan, 2000, S. 49 f. 4 Y. C. Huang , Das neue Arbeitsrecht, Taipei, Taiwan 2001, S. 359 ff.
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Chung (Fn. 3), S. 55 f.
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die pensionierten Beamten ein eigener Zugang zur Krankenversicherung bestand6. Im Gegensatz dazu genossen die Familienangehörigen anderer Personengruppen, insbesondere der betrieblichen Arbeitnehmer, keine Leistungen der Sozialversicherung, soweit sie sich nicht freiwillig versichern konnten. Diese soziale Ungleichheit konnte die damalige Kuomintang-Regierung nicht übersehen. Nachdem 1986 die Oppositionspartei DPP gegründet wurde, hob die Kuomintang 1987 den Ausnahmezustand des Kriegsrechts auf. Wahlkämpfe und unterschiedliche Sozialbewegungen trieben die Entwicklung der Sozialversicherung voran: Der Ruf nach einem allgemeinen Schutz in Krankheitsfällen war laut geworden 7. 3. Von 1995 bis zur Gegenwart 1995 wurde endlich eine gesetzliche Krankenversicherung, die die gesamte Bevölkerung erfasst, in Taiwan eingeführt. Durch diese Volkskrankenversicherung wurden sowohl die über lange Zeit bestehenden Lücken sozialer Sicherheit ausgefüllt und zugleich der Gedanke einer risiko-orientierten Versicherung mit finanzierbarer Organisation eingeführt. Die bisher in verschiedenen Sozialleistungsbereichen geregelten medizinischen Leistungen wurden aus diesen heraus gelöst und in der Volkskrankenversicherung zusammengeführt. Außerdem wurden die Bedienstetenversicherung und die Versicherung privater Lehranstalten 1999 im „Gesetz über die Bediensteten- und Lehrerversicherung" (BLVG) zusammengefasst 8. Eine entsprechende Reformtendenz bestand auch in der Alterssicherung: Seit 1994 war eine Volksrentenversicherung für das Jahr 2000 geplant9. Dieser Plan, eine umfassende Altersrente in Taiwan aufzubauen, wurde aber wegen des großen Erdbebens am 21.9.1999 doch verschoben. Dies dürfte einen Teil des Hintergrundes darstellen, weshalb die Kuomintang ihre über 50jährige Herrschaft verloren hat und die demokratische Oppositionspartei DPP 2000 eine neue Regierung bilden konnte. Unter den veränderten politischen Verhältnissen beschleunigte sich die Entwicklung der Sozialversicherung. Im Mai 2002 wurde eine neue Arbeitslosenversicherung eingeführt. Zwar existierte eine Regelung zu Versicherungsleistungen bei Arbeitslosigkeit schon zuvor im AVG, indes wurde diese lange Zeit nicht realisiert. Nach der Einrichtung der Volkskrankenversicherung stellt die Arbeitslosenversicherung den zweiten Zweig der Sozialversicherung Taiwans dar, der an ein individuelles Sozialrisiko anknüpft 10. Überdies ist für das Jahr
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hin (Fn. 2), S. 44. hin (Fn. 1),S. 186. 8 Chung (Fn. 3), S. 169 f. 9 Chung (Fn. 3), S. 83 f. 10 Chung (Fn. 3), S. 179. 7
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2007 geplant, die 1999 zurückgestellte Einführung der Volksrentenversicherung nachzuholen. Aufgrund der vorstehend dargestellten Entwicklungen weist die Sozialversicherung in Taiwan heute hauptsächlich folgende sechs Zweige auf: - Soldatenversicherung (seit 1953), - Arbeiterversicherung (seit 1958), - Krankenversicherung der Landwirte (seit 1989), - Volkskrankenversicherung (seit 1995), - Bediensteten- und Lehrerversicherung (seit 1999), - Arbeitslosenversicherung (seit 2002).
I I I . Merkmale der taiwanesischen Sozialversicherung Die jetzige Lage der Sozialversicherung in Taiwan bietet Anlass zur Erörterung folgender Merkmale. 1. Berufsständische Versicherung und Volksversicherung Das taiwanesische Sozialversicherungssystem wurde ursprünglich nach dem Schutzbedürfnis verschiedener Berufsgruppen mehrgliedrig aufgebaut, wie z.B. Versicherungen für Arbeiter, Soldaten, staatlich Bedienstete und Landwirte. Im Übrigen bestand keine erweiternde Institution wie die „Familienversicherung 4'11 in Deutschland. Trotz des Versuchs, unterschiedliche Zugänge für die Familienangehörigen, insbesondere der öffentlich Bediensteten und der Lehrer zu schaffen, bestand immer noch für ca. 50% der Bevölkerung kein Sozialversicherungsschutz 12. Mit der Einführung der Volkskrankenversicherung 1995 ist der Gedanke einer umfassenden „sozialen Volksversicherung" erstmalig realisiert worden. In gleicher Weise ist die bereits angesprochene Volksrentenversicherung geplant. Dagegen bleiben die Unfall- und Arbeitslosenversicherung ihrer Struktur nach eher berufsständisch. Die Volks Versicherung bietet zwar eine Grundsicherung für alle Bürger, doch ist das System nicht unproblematisch. Vor allem besteht - sozialpolitisch bedenklich - ein Versicherungsmonopol, was die Gefahr der Bürokratisierung und verschiedene Steuerungsprobleme provoziert 13. Aus diesem Grund wird beispielsweise die Volkskrankenversicherung, die heute eine Basis medizinischer Versorgung in Taiwan aufgebaut hat, immer noch heftig kritisiert. Zunächst wurde die Zwangseingliederung der Versicherung zum Gegenstand
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Schulin/Igl, Sozialrecht, 7. Auflage, 2002, Rz. 188 ff. K. S. Wu, Probleme der Integration und Analyse des gegenwärtigen Sozialversicherungssystems, im Auftrag der CRED der Republik China, Taipei, Taiwan 1993, S. 37 f. 13 Lantpert, Lehrbuch der Sozialpolitik, 7. Auflage, 2004, S. 239; Lin (Fn. 2), S. 95 ff. 12
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einer verfassungsrechtlichen Streitigkeit, da die zusätzliche Beitragspflicht die Arbeiternehmer sowie deren Arbeitgeber belaste. Die Regelung wurde durch die Auslegung Nr. 472 der „Versammlung der Hohen Richter" 14 (VHR) vom 29.1.1999 gebilligt mit der Begründung, dass die Volkskrankenversicherung als Verfassungsauftrag zu erfüllen sei und die Zwangseingliederung sowie die Beitragspflichten aufgrund des Sozialausgleichs, der Risikoverteilung und des Gedankens des Gemeinwohls erforderlich seien. In letzter Zeit gingen viele Vertragsärzte auf die Straße, um gegen das sog. „Total Payment System" 15 zu protestieren. Inzwischen ist ein Reformprogramm der Volkskrankenversicherung für 2007 in Aussicht genommen. Danach sollen medizinische Leistungen verbessert und die Beitragslasten verschiedener Versichertenpersonengruppen angemessener ausgestaltet werden. 2. Gesamtversicherung und risiko-orientierte Versicherung Die anfänglichen Sozialversicherungszweige in Taiwan sind als sog. „Gesamtversicherung" aufgebaut 16, d.h. der Versicherte muss nur einen einzigen Beitrag entrichten, der verschiedene soziale Risiken wie z.B. Mutterschaft, Krankheit, Arbeitsunfall, Invalidität, Arbeitslosigkeit, Alter und Tod abdeckt so § 2 des AVG. Ähnliche Regelungen bestehen in der Bediensteten- und Lehrerversicherung sowie der Soldatenversicherung. Da in einem solchen System die versicherungsrechtlichen Risiken bzw. Kosten unterschiedlicher Versicherungsleistungen schwierig zu kalkulieren sind, blieb der jeweilige Beitragssatz langjährig unverändert. Da der Arbeitgeberanteil 70% des Beitragssatzes betrug, war eine angemessene Beitragserhöhung politisch außerordentlich bedenklich. Schließlich musste der Staat in der Arbeiterversicherung ein etwaiges Finanzdefizit tragen (§ 69 AVG), so dass die Sozialversicherung in Taiwan eher den Charakter eines sozialen Fürsorgesystems als den eines Vorsorgesystems hatte. Um die genannten Probleme zu vermeiden, wurde ein neues Modell der Sozialversicherung eingefordert und mit der Volkskrankenversicherung 1995 in die Tat umgesetzt. Die moderne gesetzliche Krankenversicherung ist risikoorientiert. Gemäß § 2 des „Gesetzes über die Volkskrankenversicherung"
14 Die VHR, die gem. Art. 78 f. der Verfassung der Republik China (RCV) die Befugnis verfassungsrechtlicher Auslegung hat, übernimmt in Taiwan die Rolle des Verfassungsgerichts. 15 Ziel des Systems ist die Qualitätssicherung. Die jährlichen medizinischen Aufwendungen sind auf ein bestimmtes Budget begrenzt. D.h. je mehr ärztliche Behandlung und Versorgung geleistet wird, desto geringer fällt der Gewinn der Ärzte und der Krankenhäuser ab Erreichen der Budgetgrenze aus. Siehe http://www.doh.gov.tw zu Informationen über das Thema „Total Payment System". Chung (Fn. 3), S. .
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(VKVG) werden nur medizinische Leistungen wegen Krankheit, Unfall und Mutterschaft gewährleistet. Geldleistungen sowie Leistungen wegen Invalidität, Alter und Tod aus anderen Versicherungszweigen bleiben unberührt. Ein spezieller Fall ist die Krankenversicherung der Landwirte, die angesichts des Fehlens eines Versicherungsschutzes für Landwirte 1989 eingeführt wurde. Neben der Volkskrankenversicherung übernimmt dieses Sondersystem immer noch die Aufgabe eines allgemeinen Schutzes der Landwirte, obwohl sie als „Krankenversicherung" bezeichnet wird. Nach § 2 des „Gesetzes über die Krankenversicherung der Landwirte" (KVLG) werden Geldleistungen bei Mutterschaft, Unfall, Krankheit, Invalidität und Tod des Versicherten geleistet17. Die zweite risiko-orientierte Sozialversicherung in Taiwan ist die seit 2002 bestehende Arbeitslosenversicherung; ab dem Jahr 2007 kommt die geplante Volksrentenversicherung hinzu. Mit dem Wandel der Sozialversicherung ist ein organisatorisches Problem verbunden: Es müssen zusätzliche Behörden bzw. Versicherungsträger eingeführt werden. Im Vergleich mit der Sozialversicherung in Deutschland, die bisher am „Prinzip der organisatorischen Vielfalt der Versicherungsarten und träger" 18 festhält, besteht in Taiwan nur ein einheitlicher Träger für die jeweiligen oder sogar mehrere Versicherungszweige, z.B. das „Bureau of Labor Insurance" für die Arbeiter- und Arbeitslosenversicherung und die Krankenversicherung der Landwirte sowie der „Central Trust of China" für die Soldaten-, Bediensteten- und Lehrerversicherung. Deshalb wird seit 1995 das „Bureau of National Health Insurance" besonders für die Volkskrankenversicherung eingesetzt. Für künftige Versicherungszweige wie Rentenversicherung oder Pflegeversicherung könnte sich die gleiche Frage stellen. Auch hier ist zu fragen, ob eine zentrale Organisation wie das in § 4 KVLG genannte „Central Bureau of Social Insurance" eingeführt werden soll. Schließlich könnten Sozialversicherungsträger auch in Form einer öffentlich-rechtlichen Anstalt oder sozialen Körperschaft eingerichtet werden. Das könnte den Zugang für private Versicherungsträger öffnen und einen Anreiz für die Wettbewerbsfähigkeit unterschiedlicher Träger schaffen 19. 3. Das zweistufige Alterssicherungssystem Mit der Einführung der Volkskrankenversicherung wird dem Bedürfnis nach medizinischer Behandlung Rechnung getragen, insbesondere bei den Versicherungsfällen der Krankheit, des Unfalls und der Mutterschaft. Gegen die sozia-
17
Chung (Fn. 1), S. 229 f. Blüm, Einführung, in: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.): Übersicht über das Sozialrecht, 1997, S. 24. Chung (Fn. 1), S. 1 5 . 18
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len Risiken wie Invalidität, Alter und Tod bestehen Regelungen der Alterssicherung, die in Deutschland im Rahmen der Rentenversicherung bereitgehalten werden. Diese sind in Taiwan zweistufig gestaltet: Zur ersten Stufe der Alterssicherung gehören Leistungen aus der Gesamtsozialversicherung: die Arbeiterversicherung, die Bediensteten- und Lehrerversicherung und die Soldatenversicherung. Dagegen umfasst die zweite Stufe der Alters Sicherung besondere Systeme der Altersversorgung: die Beamtenversorgung für die öffentlich Bediensteten und die „obligatorische" betriebliche Altersversorgung 20. a) Probleme der betrieblichen Altersversorgung Das Alterssicherungssystem sollte sich nach dem Vorschlag der Weltbank auf eine sog. Drei-Säulen-Theorie stützen21. Daher könnte sich das Erwerbsersatzeinkommen eines Älteren aus Einkünften aus der gesetzlichen Rentenversicherung, aus betrieblicher Altersversorgung und privater Altersvorsorge ergeben. Es besteht eine Besonderheit in der betrieblichen Altersversorgung, die aufgrund der vergleichsweise schwachen Arbeiterbewegung in Taiwan zum Ausgleich zwingend ausgestaltet wird, während diese in anderen Ländern regelmäßig in die Autonomie der Tarifvertragsparteien fällt. Gesetzliche Grundlage der betrieblichen Altersversorgung war seit 1984 das „Gesetz über die Standards der Arbeitsbedingungen" (SAG), das ursprünglich zum Schutz der Mindestarbeitsbedingungen der Arbeitnehmer verabschiedet wurde. Nach den §§ 53 f. SAG mussten Arbeitgeber die Finanzierung der betrieblichen Altersversorgung allein tragen; die Arbeitnehmer hatten einen Anspruch auf eine einmalige Pauschalsumme, wenn sie beim Ruhestand die gesetzliche Voraussetzungen erfüllten 22 . Diese betriebliche Altersversorgung nach dem SAG wurde aus zwei Gründen heftig kritisiert: zum einen wegen der nur geringen Leistungen, zum anderen, weil die Fondszahlungen der Arbeitgeber oft ausblieben. Im Juni 2004 wurden die Regelungen daher dahingehend ergänzt, dass fehlende Fondsabgaben nun innerhalb bestimmter Zeit zu leisten sind. Die Verfassungsmäßigkeit der Arbeitgeberpflicht wurde erst unlängst durch Auslegung der Nr. 578 der VHR vom 21.5.2004 bestätigt. Dabei wurde darauf hingewiesen, dass die betriebliche Altersversorgung dem Schutz der Arbeitnehmer, der Stärkung des Arbeitsverhältnisses sowie der Förderung der sozialen Sicherheit und wirtschaftlichen Entwicklung dient. Vor allem fällt es unter den gesetzgeberischen Spielraum, neben der Altersleistung der Arbeiterversicherung eine obligatorische betriebliche Altersversorgung einzuführen.
20
Chung (Fn. 3), S. 49 ff. T. A. Cheng, Das Volksrentensystem, Taipei, Taiwan, 2003, S. 15 f.; Pelikan, Altersvorsorge, München 2002, S. 14 f. 22 Chung (Fn. 3), S. 68 ff. 21
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Eine solche zweistufige Alterssicherung könnte das Einkommen während des Lebensabends der Arbeitnehmer in Taiwan sichern, wenn die daraus erwachsenden Probleme gelöst würden. Zunächst ließen sich die Voraussetzungen der betrieblichen Altersversorgung nur schwer erfüllen. Gem. § 53 und § 57 SAG hatten Arbeitnehmer einen Anspruch auf Altersversorgung, wenn sie 15 bzw. 25 Beschäftigungsjahre vollendet hatten, und zwar „in demselben Unternehmen". D. h. sie verloren ihre Anwartschaften auf die Altersversorgung, falls sie vor der Erfüllung dieser Voraussetzung aus dem Unternehmen ausschieden oder zu einem anderen Unternehmen wechselten. Nach Angaben der zuständigen Behörden ist die durchschnittliche Zeit der Existenz von Unternehmen kürzer als zwölf Jahre, so dass die zweite Stufe der Alterssicherung nur in seltenen Fällen gewährleistet werden konnte 23 . Um die oben genannten Probleme zu lösen, wurde im Juni 2004 das „Gesetz über das Altersruhegeld der Arbeiter" eingeführt. Nach den neuen Regelungen besteht ein Schutz der Anwartschaft: Arbeitnehmer erhalten ein eigenes Konto und können bei einem Arbeitswechsel die bisherigen Beschäftigungszeiten bzw. die von den vorherigen Arbeitgebern monatlich eingezahlten Altersruhegelder „mitnehmen". Außerdem ist die Einbringung in eine private Rentenversicherung möglich. Indem das neue System auf mehrere Elemente eigener Altersvorsorge setzt, müssen die Arbeitnehmer ein gewisses Risiko selbst tragen. b) Die Beamtenversorgung Die öffentlich Bediensteten in Taiwan, die die Personengruppen der Beamten, Lehrer und Soldaten umfassen, werden bei der Alterssicherung privilegiert. Sie erhalten neben den Altersleistungen aus der gesamten Sozialversicherung noch eine berufsständische Altersversorgung. Eine solche Beamtenversorgung ist auch anderen Ländern nicht fremd, so etwa in Deutschland aus der staatlichen Alimentations- und Fürsorgepflicht des Dienstherrn aus dem öffentlichrechtlichen Dienstverhältnis 24. Diese ist in Taiwan jedoch anders organisiert: Die bisher vom Staat finanzierte Beamtenversorgung wird seit 1995 durch Beiträge finanziert, von denen die Beamten 35% tragen müssen. Insoweit ist das Beamtenversorgungssystem in Taiwan als „Quasi-Sozialversicherung" anzusehen, obwohl die Beiträge großenteils vom Staat getragen werden 25.
23
P. C. Chung, Rechtssystem der Sozialsicherheit und dessen verfassungsgrundrechtlicher Schutz, Taipei, Taiwan 2004, S. 111. 24 Süsterhenn, Soziale Sicherung der Beamten, in: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.): Übersicht über das Sozialrecht, 1997, S. 437. 25 Chung (Fn. 1), S. 155.
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Besonders zu beachten ist, dass in Taiwan das System gesetzlicher Renten nur bei der Beamtenversorgung zu finden ist. Leistungen aus anderen Systemen der Sozialversicherung erfolgen durch eine einmalige Pauschalsumme, so dass der Schutz gegen langfristige soziale Risiken wie z.B. Invalidität, Alter und Tod von der Eigenvorsorge der Versicherten abhängt. Um diese Ungleichheit der Alterssicherung zu vermeiden, wurden 1995 ein Altersgeld für Landwirte und 2002 ein allgemeines Altersehrengeld eingeführt. Dies sind jedoch keine Teile der Sozialversicherung, sondern der sozialen Fürsorge, die allein durch den Staat finanziert werden 26.
4. Leistungsarten der Sozialversicherung Die Leistungsarten der Sozialversicherung umfassen Naturalleistungen (Dienst- und Sachleistungen) und Geldleistungen. Naturalleistungen sollen vorrangig zur Senkung der Leistungskosten gewährt werden. Dabei soll der Versicherungsträger eine „ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Leistung" für alle Versicherten garantieren und dies durch Verträge mit den Leistungserbringern sicherstellen 27. Außerdem werden allen Anspruchsberechtigten im Bedarfsfalle Leistungen in gleicher Höhe und Dauer gewährt, unabhängig von den geleisteten Beiträgen. Darin zeigt sich die Umverteilung zwischen den Versicherten. Werden im Versicherungsfall Geldleistungen vom Versicherungsträger gezahlt, haben Leistungsberechtigten eine „Wahlfreiheit" und können ihren Bedarf auf dem freien Markt decken. Obwohl diese Form der Leistung bei privaten Versicherungen oft anzutreffen ist, bestehen dagegen Bedenken. Vor allem ist zweifelhaft, ob tatsächlich in jeder Situation ein „freier Markt" besteht. Darüber hinaus setzt die effektive Wahrnehmung der Wahlfreiheit oft hinreichende fachliche Kenntnisse der Berechtigten voraus 28. Geldleistungen sind im Versicherungsfall als Barleistungen von den Trägern der Sozialversicherung gegenüber den Berechtigten zu erbringen, um Verdienstausfälle auszugleichen29. Deshalb werden Geldleistungen nach der Höhe des Beitrags bzw. des Arbeitslohns berechnet. Sofern man hier überhaupt von einer Umverteilung reden möchte, so ist diese eher intertemporär als interpersonal 30.
26
Chung (Fn. 21), S. 195 f.; Chung (Fn. 3), S. 79 f.
27
Hier sind das sog. Wirtschaftlichkeitsgebot und das Naturalleistungsprinzip zu beachten. Gitter/Schmitt, Sozialrecht, 5. Auflage, 2001, S. 62 f. 28 29
Chung (Fn. 1), S. 195.
Heinze, Sozialleistungen, in: v. Maydell/Ruland (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, 2. Auflage 1996, S. 285 f. Rz. 4 f. 30 Peter Krause, Die Alterssicherung, in: Blüm/Zacher (Hrsg.), 40 Jahre Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland, 1989, S. 431 f.
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a) Naturalleistungen Da in Taiwan noch keine Pflegeversicherung besteht, werden bislang ausschließlich die medizinischen Leistungen der Krankenversicherung in Form von Naturalleistungen erbracht. In den Versicherungsfällen Krankheit, Unfall und Mutterschaft gewährt § 31 VKVG ambulante oder stationäre Leistungen gemäß der „Verordnung über die medizinischen Leistungen der Volkskrankenversicherung". Zudem können Ärzte Arzneimittel verschreiben. Zwischen dem Versicherungsträger auf der einen und den Ärzten, den Krankenhäusern und Apotheken auf der anderen Seite bestehen öffentlich-rechtliche Leistungsverträge. Die Leistungen sollen nach dem bereits angesprochenen Total Payment System nach den Gesichtspunkten der Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit erfolgen 31. Die verfassungsrechtliche Rechtsprechung hat bei der Auslegung von Nr. 524 der VHR vom 20.4.2001 daraufhingewiesen, dass versicherungsrechtliche Rechte und Pflichten dem Gesetzesvorbehalt entsprechend gesetzlich geregelt werden müssen. Deswegen sind Beschränkungen medizinischer Leistungen durch Rechtsverordnungen verfassungswidrig, wenn sie ohne Ermächtigung des VKVG erfolgen. Darüber hinaus wurde durch die Auslegung von Nr. 533 der VHR vom 16.11.2001 bestätigt, dass das Rechtsverhältnis zwischen dem Versicherungsträger und den medizinischen Leistungserbringern einen Verwaltungsvertrag darstellt und folglich Streitigkeiten in Angelegenheiten des Leistungserbringungsrechts dem Verwaltungsrechtsweg zugewiesen sind. Besondere Gerichtsbarkeiten, wie z.B. Finanzgerichte, Arbeitsgerichte und Sozialgerichte, wie sie in Deutschland bestehen, gibt es in Taiwan nicht. b) Geldleistungen Um die Funktion eines Erwerbsersatzes zu erfüllen, wird die Höhe der Geldleistungen nach dem „letzten Verdienst" berechnet. Bei der Berechnung der Arbeitnehmerversicherung in Taiwan ist gemäß § 19 Abs. 2 AVG das gemeldete durchschnittliche Monatsentgelt der letzten sechs Monate vor Eintritt des Versicherungsfalles, bei der Altersleistung das der letzten drei Jahre zugrunde zu legen. Die Leistungsberechtigten erhalten im Versicherungsfall der Mutterschaft, des Arbeitsunfalls, der Invalidität, des Alters und Todes eine Pauschalsumme, deren Höhe sich nach der Art des Verdienstausfalles und der Dauer der Versicherungszeiten bemisst32. Hingegen werden die Geldleistungen der Bediensteten- und Lehrerversicherung gemäß § 12 BLVG nach dem „Grunddienstbezug" des jeweiligen Versicherungsmonats berechnet.
31
Chung (Fn. 1), S. 194.
32
Chung (Fn. 1), S.211 f.
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Ein Privileg besteht bei der Alterssicherung der öffentlich Bediensteten, für die die Pauschalsumme auf ein „Sondersparkonto" mit jährlichen Zinsen von 18% eingezahlt werden kann. Diese Besonderheit hat den Hintergrund, dass die Beamtenversorgung in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auch in Form einer Pauschalsumme geleistet wurde und die Höhe der Leistungen relativ niedrig war. Durch das Sonderkonto kann die einmalige Geldleistung als „Rente" geleistet werden, um den Lebensabend der Beamten zu sichern. Dies wurde aber in der letzten Zeit heftig kritisiert, da die Notwendigkeit hierfür nach Einführung des Rentensystems in der Beamtenversorgung und der Erhöhung der Bezüge nicht mehr besteht. Vor allem könnte der Einkommensersatz über 100% liegen, wenn die Monatsrenten aus der Beamten Versorgung und das Sondersparkonto zusammengerechnet werden 33. Um diese „Überversorgung" zu vermeiden, soll die Sonderregelung reformiert werden. Zum verfassungsrechtlichen Schutz hat die VHR in der Auslegung von Nr. 434 vom 25.7.1997 erstmals Leistungen der Sozialversicherung in die Eigentumsgarantie mit einbezogen, insbesondere den Schutz der Altersleistung und ihrer Anwartschaft in der Bedienstetenversicherung 34. Im Gegensatz dazu wurde die Hinterbliebenenleistung und die Sterbehilfe in der Auslegung der Nr. 549 der VHR vom 2.8.2002 und der Nr. 560 der VHR vom 4.7.2003 aus dem Schutzbereich der Eigentumsgarantie ausgegrenzt, da diese eher fürsorgerechtlich als versicherungsrechtlich sind. Ähnlich sieht dies auch die deutsche Rechtsprechung 35.
5. Die Finanzierung der Sozialversicherung Die Mittel für die Sozialversicherung werden hauptsächlich durch Beiträge aufgebracht. Die Beitragspflichten sind im Prinzip zu gleichen Teilen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu tragen. Hingegen sollen staatliche Zuschüsse die Kosten der Verwaltung und gegebenenfalls der Fremdleistungen ausgleichen. Bei der Altersversicherung ist das Verfahren der Finanzierung besonders wichtig. Es können zwei Arten, nämlich das Kapitaldeckungsverfahen und das Umlageverfahren, unterschieden werden: Bei der Kapitaldeckung ist der Bedarf an Versicherungsleistungen durch das angesammelte, verzinste Kapital und den stückweisen „Verkauf' dieses Versorgungskapitals zu decken. Dieses Verfahren hat den Vorteil, dass die Mittel zur Garantie der versicherungsrechtlichen Leistungen immer vorhanden sind 36 . Das Kapitaldeckungsverfahren wird in Deutschland nur von privaten Versorgungssystemen angewandt, während die
33 34
Chung (Fn. 3), S. 93. Chung (Fn. 3), S. 136 f.
35
Siehe dazu BVerfGE 97, 271 (285).
36
Chung (Fn. 3), S. 22 f.
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gesetzliche Rentenversicherung - auch um den Gefahren einer Inflation auszuweichen - auf dem Umlage verfahren beruht: Die Ausgaben eines Kalenderjahres werden durch die Einnahmen des gleichen Kalenderjahres und, soweit erforderlich, durch Entnahmen aus der Schwankungsreserve gedeckt (§ 153 I SGB VI). a) Das Beitragsrecht Nach den Vorschriften der Sozialversicherung in Taiwan wird der weitaus größte Teil des Beitrages von den Arbeitgebern getragen. Bei der Arbeitnehmerversicherung beispielsweise beträgt der Arbeitgeberanteil 70%, der Eigenanteil 20% und der Staatzuschuss 10% des Beitragssatzes (§15 1 AVG). Nach Einführung der Volkskrankenversicherung ist dies nicht wesentlich verändert worden. Die Arbeitgeber tragen nun immer noch 60%, die Arbeitnehmer 30% und die Regierung 10% des Beitragssatzes (§ 27 VKVG). Die Höhe der Beiträge wird nach den beitragspflichtigen Einnahmen der Versicherten bemessen. Ein „Beitragsbemessungstarif 4 dient dazu, die Beitragshöhe stufenweise zu typisieren. Gegen eine solche Typisierung und die unterschiedliche Höhe der Beiträge wurden verfassungsrechtliche Zweifel erhoben. Ihre Verfassungsmäßigkeit wurde aber durch die Auslegung von Nr. 473 der VHR vom 29.1.1999 unter Hinweis auf die „Gerechtigkeit der Umverteilung" und die „Vereinfachung der Verwaltung" bejaht. § 27 VKVG, wonach der staatliche Beitragszuschuss der Volkskrankenversicherung zu je 5% vom Staat und den regierungsunmittelbaren Städten zu tragen ist, gab Anlass zu mehreren Erstattungsklagen zwischen den Städten und dem Versicherungsträger. Vor allem auf den Stadtregierungen lasten hohe Schulden. Zu dieser Finanzbelastung durch Verteilung der Beitragszuschüsse hat die VHR zwar in der Auslegung der Nr. 550 vom 4.10.2002 betont, dies sei mit der Verfassung vereinbar. Zugleich wurde aber darauf hingewiesen, dass es im Gesetzgebungsverfahren seitens der zuständigen Behörden einer Anhörung der Stadtregierungen bedarf. Unter den gegebenen Umständen der politischen Gegensätze zwischen den Regierungen des Staats und der Städte ist jedoch von einer solchen Debatte kaum ein Ergebnis zu erwarten. b) Das Finanzverfahren Die Finanzierung der Sozialversicherung in Taiwan wird - vor allem aufgrund der einmaligen Leistungen - nach den Prinzipien des Kapitaldeckungsverfahrens organisiert. Eine Abweichung findet sich jedoch bei der Krankenversicherung: Nach § 67 VKVG soll eine Schwankungsreserve die Ausgaben für ein bis drei Monate decken. Darüber hinaus steht für die anderen Versicherungszweige ein Versicherungsfonds zur Deckung der Leistungen zur Verfügung. Obwohl eine „volle Kapitaldeckung" nach dem Wesen der Sozialversi-
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cherung unmöglich ist, vermag der Gedanke eines „Generationenvertrags" in Taiwan nicht zu überzeugen 37.
IV. Schlusswort Im Jahr 1994 begann ich das LL.M.-Studium an der Universität Trier. 1996 schrieb ich meine Magisterarbeit unter Betreuung von Herrn Krause und 2000 die Dissertation. Für mich als ausländischen Studenten in Deutschland war Herr Krause sowohl im Studium wie auch privat ein „Vater", durch den ich eine nachhaltige Förderung erfuhr. Die damals gewonnenen Erfahrungen kommen mir bei meiner heutigen Arbeit immer wieder zugute: Der rechtsvergleichende Blick erweist sich als große Hilfe bei der systematischen Erfassung und Fortentwicklung des Rechts sozialer Sicherung in Taiwan.
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Chung (Fn. 3), S. 95 f.
Die „offene Koordinierung" der Alterssicherungssysteme in der Europäischen Gemeinschaft Von Kerstin Odendahl
Sicherheit und Zukunftsfähigkeit der Altersrentensysteme sind Themen, denen sich Peter Krause im Laufe seiner wissenschaftlichen Laufbahn immer wieder gewidmet hat. Zahlreiche Veröffentlichungen bekunden sein Interesse und sein wissenschaftliches Engagement in diesem Bereich. Auch in seinen Vorlesungen zum Sozialrecht, denen die Verfasserin als Studentin in Trier folgen durfte, ging er das Problem der Alterssicherung temperamentvoll und diskussionsfreudig an. Schon früh weckte er damit bei seinen jungen Zuhörerinnen und Zuhörern das Bewusstsein für die Bedeutung des Themas. Angesichts der bedenklichen demografischen Entwicklungen stellt sich die Sicherung der Altersrentensysteme heute als eine gesamteuropäische,1 wenn nicht gar eine weltweite Problematik dar. Diese europäische Dimension lässt die Frage aufkommen, ob und inwieweit die Europäische Gemeinschaft in diesem Reformprozess eine Rolle spielt. Die Antwort hängt von der Reichweite der sozialpolitischen Kompetenzen der Gemeinschaft sowie dem Umfang ihrer Wahrnehmung ab.
I. Kompetenzen der EG im Bereich der sozialen Sicherheit Die Ausgestaltung der Systeme der sozialen Sicherheit und damit auch der Alterssicherung gehört zu den wenigen Materien, die im Gemeinschaftsrechtssystem noch grundsätzlich in die alleinige Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen. Nur vereinzelt verfügt die EG über Kompetenzen in diesem Bereich. 1. Art. 42 EGV Die am weitesten reichende Gemeinschaftszuständigkeit ist in Art. 42 EGV verankert. Sie dient der Verwirklichung der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Der Rat
1 Datenmaterial zum demografischen Wandel in Europa findet sich u.a. im Grünbuch der Kommission „Angesichts des demografischen Wandels - eine neue Solidarität zwischen den Generationen", vom 16.3.2005 (KOM(2005) 94 endgültig).
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kann für die Herstellung dieser bedeutenden Grundfreiheit die notwendigen Maßnahmen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit beschließen. Ziel ist es, aus- wie einwandernden Arbeitnehmern und deren Angehörigen den Erhalt ihrer Ansprüche auf Leistungen der sozialen Sicherheit zu gewähren. Eine Person, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft Gebrauch macht, soll durch den Umstand, dass sie im Laufe ihres Erwerbslebens verschiedenen nationalen Sozialversicherungssystemen angehört, keine Nachteile erleiden. Zu diesem Zweck verfügt die Gemeinschaft gemäß Art. 42 a) und b) EGV über Rechtsetzungskompetenzen für die Zusammenrechnung von Leistungszeiten sowie für die Berechnung und Zahlung von Leistungen. Gegenstand der EG-Rechtsetzung sind aber immer nur grenzüberschreitende Sachverhalte. Die sozialpolitische Kompetenz der Gemeinschaft aus Art. 42 EGV ist demnach ein „rechtliches Anhängsel" der Arbeitnehmerfreizügigkeit und untrennbar mit ihr verbunden. Eine generelle Regelungskompetenz für Fragen der sozialen Sicherheit oder eine sozialpolitische Kompetenz für Sachverhalte mit rein innerstaatlichem Bezug folgt aus der Norm nicht. Darüber hinaus ermächtigt Art. 42 EGV lediglich zu einer Koordinierung der nationalen Sozialsysteme, nicht aber zu einer Harmonisierung derselben.2 Die materiellen und formellen Unterschiede zwischen den Systemen der sozialen Sicherheit der einzelnen Mitgliedstaaten und folglich zwischen den Ansprüchen der dort Beschäftigten werden durch Art. 42 EGV nicht berührt. 3 Die Beschlussfassung für Maßnahmen nach Art. 42 EGV erfolgt im Wege des Mitentscheidungsverfahrens nach Art. 251 EGV. Der Rat beschließt dabei einstimmig. 2. Art. 136,137 EGV Neben Art. 42 EGV sind Art. 136 und 137 EGV für die Kompetenzverteilung im Bereich der sozialen Sicherheit maßgeblich. Gemäß Art. 137 Abs. 1 c) EGV fällt die soziale Sicherheit in den Katalog der sozialpolitischen Kompetenzen der Gemeinschaft. Diese sind zwar umfassend in dem Sinne, dass Sie nicht, wie Art. 42 EGV, an eine andere Regelungsmaterie anknüpfen, sondern eigenständige Zuständigkeiten darstellen. Sie sind jedoch in mehrfacher Hinsicht materiell wie formell begrenzt. Die Gemeinschaft unterstützt und ergänzt lediglich die sozialpolitischen Tätigkeiten der Mitgliedstaaten (Art. 137 Abs. 1 EGV). Die Begriffe „unterstützen" und „ergänzen" verdeutlichen, dass die primäre Zuständigkeit bei den
2 3
Vgl. EuGH, Rs. C-340/94, Slg. 1997,1-495 (Rn. 18) - de Jaeck. Vgl. EuGH, Rs. 41/84, Slg. 1986, 1 (Rn. 20) - Pinna.
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Mitgliedstaaten verbleibt. 4 Die Gemeinschaft verfügt lediglich über eine so genannte „Beitragskompetenz". 5 Dementsprechend ändert auch die Zuweisung sozialpolitischer Zuständigkeiten an die EG nichts an der anerkannten Befugnis der Mitgliedstaaten, die „Grundprinzipien ihres Systems der sozialen Sicherheit festzulegen" (Art. 137 Abs. 4 erster Spiegelstrich EGV). Diese Feststellung korrespondiert mit der Basisaussage in Art. 136 UAbs. 2 EGV, wonach die von der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten durchzuführenden sozialpolitischen Maßnahmen „der Vielfalt der einzelstaatlichen Gepflogenheiten" Rechnung zu tragen haben. Auch die der EG zur Verfügung stehenden Instrumente sind eingeschränkt. Zwar darf der Rat gemäß Art. 137 Abs. 2 a) EGV Maßnahmen, d.h. alle Arten von Gemeinschaftsrechtsakten, 6 annehmen, um seiner unterstützenden und ergänzenden sozialpolitischen Tätigkeit nachzukommen. Diese Maßnahmen müssen jedoch unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten erfolgen. Darüber hinaus dürfen sie nur darauf gerichtet sein, die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten durch Initiativen zu fördern, die beispielsweise den Austausch von Informationen und bewährten Verfahren zum Inhalt haben. Daneben ist in Art. 137 Abs. 2 b) EGV eine Richtlinienkompetenz der Gemeinschaft verankert. Sie ist aber auf den Erlass von Mindestvorschriften beschränkt und muss die in den einzelnen Mitgliedstaaten bestehenden Bedingungen und technischen Regelungen berücksichtigen. Die Beschlussfassung hat bei Fragen der sozialen Sicherheit gemäß Art. 137 Abs. 2 UAbs. 2 Satz 1 EGV einstimmig zu erfolgen. Vorher sind das Europäische Parlament, der Wirtschafts- und Sozialausschuss sowie der Ausschuss der Regionen anzuhören.
I I . EG-Rechtsakte mit Auswirkungen auf die nationalen Alterssicherungssysteme Trotz der nur begrenzten Zuständigkeiten der EG haben einige Gemeinschaftsrechtsakte die Ausgestaltung der nationalen Alterssicherungssysteme zum Teil erheblich beeinflusst.
4 Vgl. statt vieler Krebber, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU- und EGVertrag, 2. Aufl., 2002, Art. 137 Rn. 2. 5 Vgl. Streinz, Europarecht, 7. Aufl., 2005, Rn. 155. 6 Vgl. Oppermann, Europarecht, 3. Aufl., 2005, § 27 Rn. 8.
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1. Die Wanderarbeitnehmer Verordnung Zu nennen ist in erster Linie die so genannte „Wanderarbeitnehmerverordnung" 1408/71,7 die durch die Durchführungsverordnung VO 574/728 ergänzt wird. Sie hat ihre Rechtsgrundlage in Art. 42 EGV. Ihr wesentliches Ziel ist es, die Anwendung der in den einzelnen Mitgliedstaaten9 geltenden Systeme der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, nach einheitlichen und gemeinschaftlichen Kriterien sicherzustellen. Zu diesem Zweck stellt sie Vorschriften auf, die sich insbesondere auf das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder des Aufenthaltsortes sowie auf die Aufrechterhaltung der Ansprüche gründen, die der Arbeitnehmer nach dem System oder den Systemen der sozialen Sicherheit, die für ihn gelten oder gegolten haben, erworben hat. 10 Berechtigt sind die von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch machenden Arbeitnehmer sowie ihre nach den nationalen Systemen anspruchsberechtigten Angehörigen. 11 Durch die unter Rückgriff auf Art. 308 EGV erlassene VO 1390/8112 wurde der persönliche Anwendungsbereich der Wanderarbeitnehmerverordnung auf Selbständige und ihre Familienangehörigen ausgedehnt. Gemäß ihrem Art. 4 Abs. 1 gilt die VO 1408/71 für eine Vielzahl sozialer Leistungen, darunter auch für solche bei Alter und Tod. Die entsprechenden Vorschriften finden sich in den Art. 44 bis 51. In erster Linie regelt die Verordnung die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten sowie die Berechnung der Rentenhöhe. Während letztere ausgesprochen kompliziert ausgestaltet ist, gilt bei der Zusammenrechnung von Versicherungszeiten ein einfacher Grund-
7 Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, Abi Nr. L 149/2 vom 5.7.1971, zuletzt geändert durch VO 631/2004 vom 31. März 2004, AblEU Nr. L 100/1 vom 6.4.2004 und die Beitrittsakte. 8 Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zuund abwandern, Abi Nr. L 74/1 vom 27.3.1972, zuletzt geändert durch VO 631/2004 vom 31. März 2004, AblEU Nr. L 100/1 vom 6.4.2004 und die Beitrittsakte. 9 Im Verhältnis zwischen der Schweiz und den EG-Mitgliedstaaten gelten Sonderregelungen, vgl. Art. 8 i.V.m. Anhang II des Freizügigkeitsabkommens vom 21.6.1999 (SR 0.142.112.681). 10 Vgl. EuGH, verb. Rs. C-95/99 bis C-98/99 und C-180/99, Slg. 2001, 1-7413 (Rn. 67) - Mervett Khalil. 11 Vgl. EuGH, Rs. C-308/93, Slg. 1996,1-2097 (Rn. 49) - Cabanis Issarte. 12 Verordnung (EWG) Nr. 1390/81 des Rates vom 12. Mai 1981 zur Ausdehnung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, auf die Selbständigen und ihre Familienangehörigen, Abi. Nr. L 143/1 vom 29.5.1981.
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satz: Versicherungszeiten, die in einem anderen Mitgliedstaat angefallen wurden, sind genauso zu berücksichtigen wie Inlands Versicherungszeiten. 13 Maßgeblich für die Anspruchsberechtigung sind immer nur die Vorschriften eines einzelnen Mitgliedstaates. Wie dieser zu bestimmen ist, richtet sich nach Art. 13 bis 17 der Verordnung. Es verbleibt also bei unterschiedlichen nationalen Rentenrechtssystemen. Eine „europäische Gesamtrente" 14 entsteht nicht; es kommt lediglich zu einer Zusammenrechnung von Teilrenten aus mehreren Mitgliedstaaten. In absehbarer Zeit wird die über 30 Jahre alte und mehrfach geänderte VO 1408/71 durch die VO Nr. 883/200415 abgelöst werden. Die neue Verordnung ist zwar bereits 20 Tage nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der EU in Kraft getreten. Geltung erlangt sie gemäß ihres Artikels 92 UAbs. 2 allerdings erst am Tag des In-Kraft-Tretens der Durchführungsverordnung. Mit ihrem Erlass ist erst im Laufe des Jahres 2007 zu rechnen. Auch die neue Verordnung folgt trotz einiger wichtiger Neuerungen 16 ihrer Vorgängerin in der grundsätzlichen Ausrichtung: Sie dient nur der Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit, nicht ihrer Harmonisierung. Die Altersrentensysteme der Mitgliedstaaten bleiben also in ihrer grundsätzlichen Struktur unberührt; sie werden lediglich für den Spezialfall der Personenfreizügigkeit aufeinander abgestimmt.
2. Die Zusatzversorgungsrichtlinie Die Wanderarbeitnehmerverordnung gilt nur für die gesetzlichen Rentensysteme. Die betriebliche Zusatzversorgung von Wanderarbeitnehmern fällt in den Anwendungsbereich der Richtlinie RL 98/49/EG. 17 Diese regelt allerdings nicht alle Probleme, die bei Wanderarbeitnehmerbiographien entstehen können. Demnach besteht in diesem Bereich immer noch eine „Regelungslücke".
13
Vgl. ausf. Brechmann, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU- und EGVertrag, 2. Aufl., 2002, Art. 42 Rn. 31 ff. 14 So der Ausdruck von Schuler, in: Fuchs (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, 4. Aufl., 2005, Kap. 3, Rn. 4. 15 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, AblEU Nr. L 166/1 vom 30.4.2004. 16 Näher zum Inhalt der neuen Verordnung Marhold (Hrsg.), Das neue Sozialrecht der EU, 2005. Speziell zu den Neuerungen im Bereich der Leistungen bei Alter und Tod
Schuler (Fn. 14), Rn. 10 ff. 17
Richtlinie 98/49/EG des Rates vom 29. Juni 1998 zur Wahrung ergänzender Rentenansprüche von Arbeitnehmern und Selbständigen, die innerhalb der Europäischen Gemeinschaft zu- und abwandern, AblEG Nr. L 209/46 vom 25. Juli 1998.
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Nach dem Willen der Kommission soll sie demnächst durch eine neue Richtlinie geschlossen werden. Im Oktober 2005 legte sie einen Richtlinienvorschlag zur Verbesserung der Portabilität von Zusatzrentenansprüchen vor. 18 Der Vorschlag zielt darauf ab, durch einzelne Bestimmungen der Zusatzrentensysteme bedingte Freizügigkeitshindernisse zwischen Mitgliedstaaten sowie innerstaatliche Mobilitätshindernisse abzubauen. Hindernisse wurden von der Kommission insbesondere bei den Bedingungen für den Erwerb von Rentenansprüchen, bei der Wahrung ruhender Rentenansprüche sowie bei der Übertragbarkeit von Ansprüchen identifiziert. Als Rechtsgrundlage dienen Art. 42 und 94 EGV. 3. Weitere EG-Rechtsakte Weitere sozialpolitische Rechtsakte der EG, die unmittelbar 19 die nationalen Alterssicherungssysteme zum Gegenstand haben und sich wesentlich auf diese auswirken, sind bislang nicht erlassen worden. Insbesondere hat die Gemeinschaft von der Ermächtigung zur Festlegung von Mindestvorschriften nach Art. 137 Abs. 2 b) EGV oder zur Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten nach Art. 137 Abs. 2 a) EGV für den Bereich der Altersversorgung noch nicht Gebrauch gemacht.
I I I . Rechtlich unverbindliche Aktivitäten der EG im Bereich der Alterssicherung Das soll jedoch nicht heißen, dass sich die Europäische Gemeinschaft der notwendigen allgemeinen Reform der Alterssicherungssysteme nicht angenommen hätte. Das Gegenteil ist der Fall. Es handelt sich dabei jedoch um einen Prozess, der als rechtlich unverbindliches Verfahren bislang relativ wenig Aufmerksamkeit erfahren hat. Rechtsgrundlage für das entsprechende Handeln der Gemeinschaft ist Art. 2 EGV. Demnach gehört die Förderung eines hohen Maßes an sozialem Schutz zu den Aufgaben der Gemeinschaft. Die daraus folgenden rentenpolitischen Aktivitäten der EG setzten mit einer Mitteilung der Kommission aus dem Jahr
18 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verbesserung der Portabilität von Zusatzrentenansprüchen vom 20.10.2005 (KOM(2005) 507 endgültig). 19 Eine Auflistung von Rechtsakten und rechtlichen Konkretisierungen der Grundfreiheiten, die sich mittelbar auf die Alterssicherung auswirken, finden sich u.a. in: Unterstützung nationaler Strategien für zukunftssichere Renten durch eine integrierte Vorgehensweise, Mitteilung der Kommission KOM(2001)362 vom 4. Juli 2001, Anhang 1 (http://europa.eu.int/comm/employment_social/social_protection/docs/com3622001_de.pdf).
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799920 e j n j n Dokument identifizierte die Kommission vier Hauptziele der mitgliedstaatlichen sozialpolitischen Zusammenarbeit, darunter auch die Sorge dafür, dass „die Renten sicher und die Rentensysteme langfristig finanzierbar sind". Um dieses Ziel zu erreichen, schlug die Kommission eine „konzertierte Strategie zur Modernisierung des Sozialschutzes" vor. Die neue Strategie sollte darauf abzielen, die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft auf der Grundlage des Austauschs von Erfahrungen, einer Strategiediskussion und der Beobachtung der aktuellen politischen Entwicklungen zu vertiefen, um die besten Lösungsmodelle herauszuarbeiten.
Die Kommission nahm dabei Bezug auf eine kurz zuvor ergangene Entschließung des Europäischen Parlaments. 21 In dieser hatte das Europäische Parlament die Kommission aufgefordert, „einen Prozess der freiwilligen Abstimmung der Ziele und Politiken im Bereich des sozialen Schutzes nach Vorbild der europäischen Beschäftigungsstrategie in Gang zu setzen". Die vom Europäischen Parlament und der Kommission entwickelte Idee wurde 2000 vom Europäischen Rat von Lissabon 22 aufgegriffen. Themen des Europäischen Rates waren unter anderem Beschäftigung, Wirtschaftsreform und sozialer Zusammenhalt. In diesem Rahmen setzte sich die Union ein neues strategisches Ziel für das kommende Jahrzehnt: Das Ziel, „die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen - einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen." 23 Zur Erreichung dieses Ziels bedurfte es nach Ansicht des Europäischen Rates einer globalen Strategie, in deren Rahmen unter anderem das europäische Gesellschaftsmodell zu modernisieren sei. Die Umsetzung der Strategie sollte über die Verbesserung der bestehenden Prozesse erreicht werden. Dazu gehörte auch die Einführung einer Methode der „offenen Koordinierung".
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Eine konzertierte Strategie zur Modernisierung des Sozialschutzes, Mitteilung der Kommission KOM(99)347 vom 14. Juli 1999 (http://europa.eu.int/comm/employment_social/social_protection/docs/com99347_de.pdf). 21 Entschließung zu dem Bericht der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Wirtschafts- und Sozialausschuss „Soziale Sicherheit in Europa 1997" (A4-0099/99), März 1999. 22
Vgl. Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Lissabon), 23. und 24. März 2000 (http://ue.eu.int/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/00100-rl .dO.htm). 23 Vgl. Schlussfolgerungen (Fn. 22) Rn. 5.
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1. Die Methode der offenen Koordinierung Die Methode der offenen Koordinierung 24 stellt ein neues, primärrechtlich nicht vorgesehenes Verfahren dar, das nach dem Willen des Europäischen Rates auf allen Ebenen Anwendung finden soll. Gekoppelt ist es an eine starke Leitungs- und Koordinierungsfunktion des Europäischen Rates, die eine kohärentere strategische Leitung und eine effektive Überwachung der Fortschritte gewährleisten soll. 25 Der Europäische Rat versteht die neue Methode als Mittel für die Verbreitung der bewährten Praktiken und für die Herstellung einer größeren Konvergenz in Bezug auf die wichtigsten Ziele der EU. Den Mitgliedstaaten soll eine Hilfe bei der schrittweisen Entwicklung ihrer eigenen Politiken geboten werden. Im Einzelnen umfasst die Methode der offenen Koordinierung folgende Verfahrensabschnitte :26 - Festlegung von Leitlinien für die Union mit einem jeweils genauen Zeitplan für die Verwirklichung der von ihnen gesetzten kurz-, mittel- und langfristigen Ziele; - gegebenenfalls Festlegung quantitativer und qualitativer Indikatoren und Benchmarks im Vergleich zu den Besten der Welt, die auf die in den einzelnen Mitgliedstaaten und Bereichen bestehenden Bedürfnisse zugeschnitten sind, als Mittel für den Vergleich der bewährten Praktiken; - Umsetzung dieser europäischen Leitlinien in die nationale und regionale Politik durch Entwicklung konkreter Ziele und Erlass entsprechender Maßnahmen unter Berücksichtigung der nationalen und regionalen Unterschiede; - regelmäßige Überwachung , Bewertung und gegenseitige Prüfung im Rahmen eines Prozesses, bei dem alle Seiten voneinander lernen. In Lissabon identifizierte der Europäische Rat mehrere Bereiche, in denen die neue Methode zur Anwendung gelangen sollte: Informationsgesellschaft, Forschung und Innovation, Gründung und Entwicklung innovativer Unternehmen, Wirtschaftsreformen, Bekämpfung der Armut sowie Modernisierung des sozialen Schutzes. Deutlich wird, dass es sich dabei um Rechtsgebiete handelt, die grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen. Die Lissaboner Aufzählung ist jedoch nicht abschließend. Die Mitgliedstaaten können über einen entsprechenden Beschluss im Europäischen Rat die neue Form der Zu-
24 Einen guten Überblick über das neue Instrument bietet de la Rosa, The Open Method of Coordination in the New Member States - the Perspectives for its Use as a Tool of Soft Law, European Law Journal 2005, S. 618 ff. 25 Vgl. Schlussfolgerungen (Fn. 22) Rn. 7. 26 Vgl. Schlussfolgerungen (Fn. 22) Rn. 37. Kursive Hervorhebungen stammen von der Verfasserin.
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sammenarbeit auf weitere Bereiche ausdehnen. Die Verwendung des Terminus „offen" verdeutlicht die rechtliche Unverbindlichkeit des neuen Verfahrens. 27 Methodisches Vorbild 28 ist die koordinierte Beschäftigungsstrategie, wie sie durch den Vertrag von Amsterdam in Art. 125 EGV Aufnahme gefunden hat. Die Zuständigkeit für die Materie verbleibt hier ebenfalls bei den Mitgliedstaaten. Das in Art. 128 EGV niedergelegte Verfahren, das auch die Aufstellung von Leitlinien, Durchführung von Prüfungen und Formulierung von Empfehlungen beinhaltet, weist jedoch dem Rat eine eigene inhaltliche Kompetenz mit dem Ziel einer Abstimmung der nationalen Beschäftigungspolitiken zu. 29 Der Einfluss der koordinierten Beschäftigungsstrategie auf die mitgliedstaatliche Ebene ist dementsprechend, trotz der rechtlichen Unverbindlichkeit der Leitlinien, von erheblicher Bedeutung.30
2. Die offene Koordinierung der Alterssicherungssysteme Der Tragfähigkeit der Altersversorgungssysteme wurde in Lissabon erste Priorität eingeräumt. 31 Die hochrangige Gruppe „Sozialschutz" wurde damit beauftragt, auf der Grundlage einer Mitteilung der Kommission eine Studie über die Entwicklung des Sozialschutzes in Langzeitperspektive in verschiedenen zeitlichen Abschnitten bis 2020 zu erstellen. Die erwähnte Mitteilung der Kommission wurde bereits etwa ein halbes Jahr später veröffentlicht. 32 In dem Dokument entwickelte die Kommission Grundmaximen für die langfristige Sicherung der Renten. Sie bildeten das Fundament für die daraufhin einsetzende Anwendung der offenen Koordinierungsmethode auf die nationalen Altersrentensysteme. 33
27
So der Hinweis von Oppermann (Fn. 6) § 6 Rn. 114.
28
Vgl. die Entschließung des Europäischen Parlaments aus dem Jahre 1999 (Fn. 21).
29
Vgl. Krebber (Fn. 4) Art. 128 Rn. 1.
30
Vgl. Ashiagbor, Soft Harmonisation: The "Open Method of Coordination" in the European Employment Strategy, European Public Law 2004, S. 305 ff.; Favarel-Dapas , L'Europe sociale, in: Dubouis (ed.), L'Union Europeene, 2004, S. 216 f. 31 Vgl. Schlussfolgerungen (Fn. 22) Rn. 31. 32 Die Entwicklung des Sozialschutzes in Langzeitperspektive: zukunftssichere Renten, Mitteilung der Kommission KOM(2000)622 vom 11. Oktober 2000. Zu einer kurz darauf stattfindenden Tagung aus Anlass der Kommissionsmitteilung vgl. Eichenhof er, Offene Koordinierung der Alterssicherung in der Europäischen Union, DRV 2002, S. 75 ff. 33 Zusammenfassende Überblicke bieten VDR/BMA/MPI für ausländisches und internationales Sozialrecht , Offene Koordinierung der Alterssicherung in der Europäischen Union, 2002, DRV-Schriften, Band 34; dies., Offene Methode der Koordinierung im Bereich der Alterssicherung - Quo Vadis ?, DRV-Schriften, Band 47, 2003.
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α) Zielvorgaben Der Europäische Rat von Göteborg Mitte 2001 legte auf der Basis eines Berichtes des Sozialschutzausschusses drei Rahmenprinzipien für die Sicherung der langfristigen Zukunftsfähigkeit der Rentensysteme fest: 34 1. Angemessenheit der Renten; 2. Erhaltung der Finanzierbarkeit der Renten; 3. Berücksichtigung der sich wandelnden sozialen Erfordernisse. Eine weitere Kommissionsmitteilung Mitte 2001 35 griff die drei Rahmenprinzipien wieder auf und präsentierte Zielvorstellungen zu ihrer Realisierung. Auf dem darauf folgenden Europäischen Rat von Laeken im Dezember 2001 36 wurde der Gemeinsame Bericht des Sozialschutzausschusses und des wirtschaftspolitischen Ausschusses über die Renten37 zur Kenntnis genommen. Der Bericht ist insofern von Bedeutung, als er - in Konkretisierung der drei Rahmenprinzipien - insgesamt elf Ziele entwickelte, welche die Mitgliedstaaten bei der Reform ihrer Altersrentensysteme verfolgen sollten. Die vom Europäischen Rat übernommenen Ziele lassen sich wie folgt zusammenfassen: Angemessenheit der Renten 1. Verhinderung der Altersarmut und -ausgrenzung; 2. Zugang zu angemessenen staatlichen und/oder privaten Rentensystemen, um eine Beibehaltung des Lebensstandards zu ermöglichen; 3. Förderung der Solidarität innerhalb und zwischen den Generationen; Erhaltung der Finanzierbarkeit der Renten 4. Hohes Beschäftigungsniveau, soweit erforderlich durch umfassende Arbeitsmarktreformen; 5. Verlängerung der Lebensarbeitszeit; 6. Nachhaltigkeit der Rentensysteme und der öffentlichen Finanzen; 7. ausgewogenes Gleichgewicht zwischen Erwerbspersonen und Rentnern; 8. Angebot von Rentenleistungen durch private und staatliche kapitalgedeckte Rentensysteme mit der erforderlichen Effizienz, Kostengünstigkeit, Nachhaltigkeit und Sicherheit;
34 Vgl. Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Göteborg), 15. und 16. Juni 2001 (SN 200/1/01 REV 1). 35 Unterstützung nationaler Strategien für zukunftssichere Renten durch eine integrierte Vorgehensweise, Mitteilung der Kommission KOM(2001)362 vom 4. Juli 2001 (http:// europa.eu.int/comm/employment_social/social_protection/docs/com362-2001_de.pdf). 36 Vgl. Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Laeken), 14. und 15. Dezember 2001 (SN 300/1/01 REV 1), Rn. 30. 37 Qualität und langfristige Finanzierbarkeit der Altersversorgungssysteme - Gemeinsamer Bericht über Zielsetzungen und Arbeitsmethoden im Bereich der Renten, übermittelt an den Europäischen Rat am 23.11.2001 (14098/01) (http://europa.eu.int/comm/employment_social/news/2002/jan/laeken_de.pdf).
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Berücksichtigung der sich wandelnden sozialen Erfordernisse 9. Verhinderung von unangemessenen Einbußen bei Rentenansprüchen als Folge von Arbeitsmarktmobilität innerhalb der Mitgliedstaaten, grenzübergreifender Mobilität oder atypischer Beschäftigungsverhältnisse; 10. Gleichbehandlung von Frauen und Männern; 11. Gewährleistung von Transparenz und Anpassungsfähigkeit der Rentensysteme. b) Umsetzung durch die Mitgliedstaaten
und regelmäßige Bewertung
In Laeken wurden die Mitgliedstaaten aufgefordert, nationale Strategieberichte vorzulegen, in denen die Reformbemühungen unter Berücksichtigung der vorgegebenen elf Ziele darzulegen waren. Die Strategieberichte lagen im September 2002 vor 38 und bildeten die Grundlage für den Gemeinsamen Bericht der Kommission und des Rates, der im März 2003 dem Europäischen Rat in Brüssel vorgelegt und 2004 veröffentlicht wurde. 39 Diese erste umfassende Bewertung der nationalen Altersrentensysteme zeigte, dass alle Mitgliedstaaten Reformprozesse eingeleitet hatten. Mehrere von ihnen hatten bereits in den 90er Jahren grundlegende, in einigen wenigen Fällen sogar radikale Reformen vollzogen. Dessen ungeachtet sah der Bericht eine Fortführung der Reformen als unabdingbar an. Die entsprechenden Anstrengungen der Mitgliedstaaten sollten - wie in Lissabon vorgesehen - in koordinierter Form erfolgen. Besonders wichtig seien dabei folgende Reformansätze: Es müssten stärkere Anreize für ältere Arbeitskräfte geschaffen werden, damit diese ihre Lebensarbeitszeit verlängern. Erreichen ließe sich dies vor allem durch eine engere Verknüpfung von Beiträgen und Leistungen. Des Weiteren müsse die finanzielle Basis der Rentensysteme durch den Ausbau der staatlichen und privaten Kapitalfundierung gestärkt werden. Schließlich müssten die Rentensysteme an flexiblere Beschäftigungs- und Laufbahnmuster sowie an die sich verändernde Rollenverteilung zwischen Frauen und Männern angepasst werden. Eine zweite Evaluierungsrunde der nationalen Alterssicherungssysteme wurde im Januar 2005 eingeleitet. Nach dem Beschluss des Europäischen Rates in Brüssel von März 2003, im Laufe des Jahres 2006 eine Überprüfung der
38
Vgl. http://europa.eu.int/comni/employment_social/social_protection/pensions_de.htm . Europäische Kommission (Hrsg.), Angemessene und nachhaltige Renten, Gemeinsamer Bericht der Kommission und des Rates, Luxemburg, 2004. Eine erste Bewertung des zugrundeliegenden Vorschlags der Kommission findet sich bei Horn, Haben die Europäer Konzepte für nachhaltige Renten?, SuP 2003, S. 85 ff. 39
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erzielten Fortschritte im Rentenbereich vorzunehmen, 40 richteten der Sozialschutzausschuss und der wirtschaftspolitische Ausschuss im Januar 2005 einen Vermerk an die Mitgliedstaaten, in dem Hinweise für die Vorbereitung der zweiten nationalen Strategieberichte enthalten waren. 41 Die auf dem Europäischen Rat von Laeken angenommenen elf Ziele wurden ausdrücklich aufrechterhalten und die Mitgliedstaaten aufgefordert, darzulegen, wie sie diese Ziele umsetzen bzw. umzusetzen gedenken. Die Mitgliedstaaten legten ihre „Nationalen Strategieberichte Alterssicherung" (NSA) zum 15. Juli 2005 v o r 4 2 Der auf dieser Grundlage zu erstellende Gemeinsame Bericht der Kommission und des Rates zur Sozialen Eingliederung und zum Sozialen Schutz soll dem Europäischen Rat auf seinem Gipfel im März 2006 vorgelegt werden. 43 Es ist zu erwarten, dass dieser Bericht - wie der erste - die vollzogenen Reformen im Einklang mit den elf Zielvorgaben begrüßt, aber weiterhin auf den immer noch hohen Reformbedarf aufmerksam macht. c) Suche nach quantitativen und qualitativen Indikatoren Parallel zur Bewertung der nationalen Altersrentensysteme und ihrer Reformen setzte nach dem Europäischen Rat in Brüssel vom März 2003 die Suche nach quantitativen und qualitativen Indikatoren sowie Benchmarks ein. Der Europäische Rat ersuchte zu diesem Zweck den Rat und die Kommission, die Dynamik der Zusammenarbeit durch die Vorlage besonderer Studien, in deren Mittelpunkt die gemeinsamen Herausforderungen für die Rentensysteme stehen, aufrechtzuerhalten. 44 Bislang sind drei solcher Studien des Sozialschutzausschusses veröffentlicht worden: 1. Eine Zwischenstudie zur Berechnung von Ersatzleistungsquotienten in Rentensystemen für hypothetische Arbeitnehmer, die heute oder in zukünftigen Jahren in Rente gehen45 (für das Rahmenprinzip „Angemessenheit der Renten").
40
Vgl. Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Brüssel), Tagung vom 20. und 21. März 2003, Übermittlungsvermerk des Rates vom 5. Mai 2003 (8410/03), Rn. 49. 41
The Social Protection Committee/ The Economic Policy Committee , Preparation of
the 2005 National Strategy, Reports on Adequate and Sustainable Pensions, Jan. 2005 (http ://europa. eu. int/comm/employ ment_social/soci al_protection/docs/outline_en. pdf). 42 Die nationalen Strategieberichte 2005 können im Internet abgerufen werden unter http://europa.eu.int/comm/employment_social/social_protection/pensions_de.htm . 43 Zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Manuskripts (15. Februar 2006) lag dieser Gemeinsame Bericht noch nicht vor. 44 Vgl. Schlussfolgerungen (Fn. 40), Rn. 49. 45 The Social Protection Committee , Current and Prospective Pension, Replacement Rates, Report on Work in Progress, Indicators Sub-Group (ISG) of the Social Protection
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2. Eine Untersuchung zur Verbesserung der Sozialschutzsysteme, um längere Erwerbsleben zu fördern 46 (für das Rahmenprinzip „Erhaltung der Finanzierbarkeit der Renten"). 3. Eine Untersuchung des gegenwärtigen und zukünftigen Beitrags der privaten Altersvorsorge zur Angemessenheit und Nachhaltigkeit der Rentensysteme47 (als eine für alle drei Rahmenprinzipien relevante Querschnittsfrage). Neben dem Sozialschutzausschuss gibt es ein weiteres Fachgremium, deren Aufgabenkreis allerdings auf eine spezifische Frage beschränkt ist. Mit Beschluss vom 9. Juli 2001 setzte die Kommission den Ausschuss für zusätzliche Altersversorgung (Rentenforum) ein. 48 Der Ausschuss besteht aus 45 Experten der nationalen Behörden, der Sozialpartner und der Träger der zusätzlichen Altersversorgung. Er legt der Kommission auf ihr Ersuchen hin Stellungnahmen vor. Die bisherige Hauptaufgabe des Ausschusses lag in der Beratung der Kommission bei Ausarbeitung des Richtlinienvorschlages zur Verbesserung der Portabilität von Zusatzrentenansprüchen. 49 Denkbar ist jedoch, dass der Ausschuss künftig auch bei der Suche nach quantitativen und qualitativen Indikatoren im Rahmen der offenen Koordinierungsmethode eingesetzt wird. Schließlich griff die Kommission zu einem weiteren bewährten Instrument der Konsultation und Beratung. Sie veröffentlichte im März 2005 das Grünbuch „Angesichts des demografischen Wandels - eine neue Solidarität zwischen den Generationen". 50 Als Mitteilung der Kommission richtete es sich vor allem an interessierte Dritte, Organisationen und Einzelpersonen, die dadurch die Möglichkeit erhielten, an der laufenden Diskussion aktiv teilzunehmen. Die Phase der öffentlichen Konsultation begann am 16. März und endete am 1. September 2005. Darüber hinaus organisierte die Kommission im Juli 2005 eine Konferenz aller Akteure, bei der die in dem Grünbuch angesprochenen Fragen mit dem Ziel diskutiert wurden, die besten Verfahren zu erfassen. Die im Grünbuch enthaltenen Fragen betrafen dabei zum Teil auch die Rolle der Europäischen Union („Glauben Sie, dass die europäische Ebene angemessen ist für die Eröffnung einer Diskussion über den demografischen Wandel und die
Committee, 23 February 2004 (http://europa.eu.int/comm/employment_social/social_protection/docs/progress_2004_en.pdf). 46 The Social Protection Committee , Promoting Longer Working Lives Through Better Social Protection Systems, February 2004. (http://europa.eu.int/comm/employment_social/social_protection/docs/working_longer_en.pdf). 47 The Social Protection Committee , Privately Managed Pension Provision, Feb. 2005 (http://europa.eu.int/comm/employment_social/social_protection/docs/private_pensions _en.pdf). 48 Beschluss der Kommission vom 9. Juli 2001 zur Einsetzung eines Ausschusses für zusätzliche Altersversorgung (2001/548/EG), AblEG Nr. L 196/26 vom 20.7.2001. 49 Zum Richtlinien Vorschlag vgl. Fn. 18. 50 Vgl. Fn. 1.
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Bewältigung seiner Folgen?"; „Wie könnte die Koordination der Beschäftigungs- und Sozialschutzpolitik auf europäischer Ebene die Dimension des demografischen Wandels stärker berücksichtigen?" oder „Wie kann man die Dimension des demografischen Wandels in alle internen und externen Politikbereiche der Union integrieren?").
3. Ein neuer Rahmen für die offene Koordinierung Die Neugestaltung des Lissabon-Prozesses auf dem Europäischen Rat im März 2005 51 führte zu einer deutlichen Schwerpunktverlagerung hin zu Wachstum und Beschäftigung. Die überarbeitete Lissabon-Strategie beinhaltete dabei auch Neuerungen für die Methode der offenen Koordinierung. 52 Sie sollen ab Herbst 2006 zur Anwendung gelangen. Im Kern geht es dabei um eine Straffung und Zusammenführung bislang getrennt ablaufender Koordinierungsprozesse. Seit ihrer Schaffung im Jahre 2000 ist die Methode der offenen Koordinierung in drei Bereichen angewendet worden: Soziale Eingliederung (seit 2000), Renten (seit 2001) sowie Gesundheit und Langzeitpflege (seit 2004). Bislang stellten die drei Koordinierungsprozesse getrennte Verfahren dar. Ab Herbst 2006 sollen sie aufeinander abgestimmt und zum Teil zusammengeführt werden. Der neue Ansatz wird als Streamlining bezeichnet. Als ersten Schritt hat die Kommission im Dezember 2005 eine Mitteilung über einen neuen Rahmen für die offene Koordinierung der Renten und der sozialen Eingliederung vorgelegt. 53 Die Kommission schlägt darin vor, die Arbeit in einem Gesamtprozess zusammenzuführen. Die Methode der offenen Koordinierung soll effektiver gestaltet und ihr ein höheres Profil gegeben werden. Der neue Rahmen soll die drei Bereiche zusammenbringen, gleichzeitig aber zulassen, dass sich die spezifischen Merkmale jedes der drei Gebiete weiterentwickeln. Neue integrierte gemeinsame Zielsetzungen sollen weiterhin einen vertieften Fokus in jedem Politikgebiet zulassen. Die Mitteilung enthält drei übergreifende Zielsetzungen für alle Bereiche sowie jeweils drei spezifische Zielsetzungen für Renten, soziale Eingliederung bzw. Gesundheit und Langzeitpflege. Darüber hinaus wird vorgeschlagen, einzelne Schritte in der Methode der offenen Koordinierung zu verfeinern und die Berichtspflichten der Staaten zeitlich wie inhaltlich neu zu gestalten.
51 Vgl. Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Brüssel), 22. und 23. März 2005, Übermittlungsvermerk vom 23.3.2005 (7619/1/05), Rn. 4 ff. 52 Vgl. Schlussfolgerungen (Fn. 51), Rn. 39. 53 Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen. Zusammenarbeiten, zusammen mehr erreichen: ein neuer Rahmen für die offene Koordinierung der Sozialschutzpolitik und der Eingliederungspolitik in der Europäischen Union, vom 22.12.2005 (KOM(2005) 706 endgültig).
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Nachdem die Mitteilung der Kommission auf dem informellen Treffen der Beschäftigungs- und Sozialminister in Villach im Januar 2006 eindeutig begrüßt wurde, ist damit zu rechnen, dass die Vorschläge auf einer der nächsten Tagungen des Europäischen Rates übernommen werden.
IV. Bewertung Die Methode der offenen Koordinierung ist als neues Instrument auf unterschiedliche Resonanz gestoßen. Zum Teil wird ihre Einführung deutlich begrüßt, ja sogar verlangt, dass man angesichts der Bedeutung der Rentenproblematik weiter gehen und zu einer Harmonisierung der europäischen Sozialversicherungssysteme gelangen müsste.54 Die meisten Stimmen in der Literatur sind jedoch mahnender Natur. Auch ohne Rechtsverbindlichkeit würde die Aufstellung einheitlicher Indikatoren und die Ausarbeitung von Leitlinien einen so starken politischen Druck erzeugen, dass es „naiv" wäre zu glauben, es würde auf längere Sicht nicht zu einer starken Annäherung der nationalen Systeme kommen. 55 Oder weiter noch: Mit der Einführung der neuen Methode sei das „Ende nationaler Souveränität" auf dem Feld der Sozialpolitik gekommen.56 Dass die Mitgliedstaaten eine solche Entwicklung offenbar befürchten, zeigen Äußerungen, die immer wieder im Zusammenhang mit der offenen Koordinierung der Rentensysteme auftauchen. Als ein Beispiel unter vielen möge ein Passus aus dem Nationalen Strategiebericht Alterssicherung der Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahre 2005 dienen: „Die Anwendung der offenen Methode der Koordinierung muss aber weiterhin im Geist des Subsidiaritätsprinzips erfolgen; es darf weder zu Harmonisierungsdruck noch zu einer Verlagerung von Kompetenzen kommen. Die Verantwortung für die Alterssicherung bleibt auch weiterhin bei den Mitgliedstaaten."57 Die Notwendigkeit einer Reform der nationalen Alterssicherungssysteme wird dabei nicht bestritten. Im Gegenteil: Dass etwas getan werden muss und dass angesichts der zunehmenden Verflechtung der europäischen Arbeitswelt 58 54
So etwa Horn (Fn. 39), S. 88.
55
Vgl. Reinhard, Die „Europäisierung" der Alterssicherungssysteme. Im Spannungsfeld zwischen Gewerkschaftsinteressen und europäischer Entwicklung, Z I AS 2003, S. 285 (291). 56 57
Vgl. Eichenhofer (Fn. 32), S. 75.
Bundesrepublik Deutschland, Nationaler Strategiebericht Alterssicherung 2005, S. 5 (http://europa.eu.int/comm/employment_social/social_protection/docs/2005/de_de.pdf). Vor einer möglichen Aushöhlung nationaler Kompetenzen durch die Methode der offenen Koordinierung warnt auch Streinz (Fn. 5), Rn. 1090. 58 Zu den Verflechtungen und Interdependenzen auf europäischer Ebene vgl. Trubek/Trubek, Hard and Soft Law in the Construction of Social Europe: the Role of the Open Method of Co-odination, European Law Journal 2005, S. 343 (345 ff.); Hatzopou-
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die Altersrentensysteme nicht mehr völlig losgelöst nebeneinander stehen können, ist weitestgehend anerkannt. Die Frage ist vielmehr, wie diese Abstimmung und Reform der Alterssicherungssysteme bewältigt werden sollen und dürfen. Die Methode der offenen Koordinierung hat dabei mehrere positive Seiten: 59 Zu nennen ist insbesondere die Schaffung von Transparenz zwischen den verschiedenen nationalen Alterssicherungssystemen. Flexibilität und Ergebnisoffenheit des Prozesses, die regelmäßige Selbstevaluierung auf nationaler Ebene sowie der sich daraus ergebende grenzüberschreitende Dialog machen die neue Methode ebenfalls zu einem interessanten Instrument. Zu begrüßen ist schließlich das Herausarbeiten gut funktionierender, in sich stimmiger Rentensysteme sowie das Aufzeigen erfolgreicher Reformansätze. Sie können eine wichtige Grundlage für politische Entscheidungen auf nationaler Ebene bieten. Nicht verschwiegen werden dürfen aber auch die Gefahren, die der neuen Methode inhärent sind: 60 Nicht die rechtliche, wohl aber die politische Gestaltungsautonomie der Mitgliedstaaten wird durch die Vorgabe von besten Praktiken und die regelmäßige Evaluierung nationaler Reformfortschritte beeinträchtigt. Als problematisch erweist sich auch die mögliche Umgehung von Verfahrens- und Beteiligungsrechten, etwa des Europäischen Parlaments, die bei formellen, nicht aber bei informellen Koordinierungsprozessen gegeben sind. Hinzuweisen ist schließlich auf die jüngsten Bestrebungen zur Schaffung eines „neuen Rahmens" für die Methode der offenen Koordinierung. Durch die verfahrensmäßige Zusammenfassung von drei Politikbereichen (Alterssicherung, soziale Eingliederung sowie Gesundheit und Langzeitpflege) besteht die Gefahr einer noch größeren Undurchsichtigkeit und noch schwierigeren Nachvollziehbarkeit dessen, was die Gemeinschaft im Bereich der Alterssicherung genau macht. Zusammenfassend lässt sich folgende Bewertung abgeben: Solange es nur um das Aufzeigen des „besten Weges" bzw. um die Vorstellung von Beispielen funktionierender Systeme sowie um die Formulierung entsprechender Vorschläge geht (also um eine Art wissenschaftliche Aufbereitung als Entscheidungshilfe für die Staaten), stellt die Methode der offenen Koordinierung eine begrüßenswerte, ja nützliche Neuerung dar. Die Gefahr, dass sie - wie schon so vieles in der EU - eine Eigendynamik entwickelt und allmählich zu einer delos, A (More) Social Europe: A Political Crossroad or a Legal One-Way? Dialogues Between Luxembourg and Lisbon, Common Market Law Review 2005, S. 1599 ff. 59 Zu den positiven Seiten vgl. etwa Eichenhofer (Fn. 32), S. 78; Trubek/Trubek (Fn. 58), S. 344; Duina/Oliver, National Parliaments in the European Union: Are There Any Benefits to Integration?, European Law Journal 2005, S. 173 (183 ff.). 60 Zu den Gefahren vgl. etwa Pochet, Subsidiarite, Gouvernance et Politique Sociale, Revue beige de securite sociale, 2001, S. 125 ff.; Eichenhofer (Fn. 32), S. 78 ; Raunio, Does ОМС Really benefit National Parliaments?, European Law Journal 2006, S. 130 f.
Die „offene Koordinierung" der Alterssicherungssysteme
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facto-Harmonisierung ohne entsprechende gemeinschaftsrechtliche Kompetenz führt, ist jedoch nicht ganz von der Hand zu weisen. Ein solches Ergebnis wäre nicht nur juristisch problematisch, da es sich bei den betroffenen Politikbereichen um mitgliedstaatliche Zuständigkeiten handelt. Eine zu starke Angleichung nationaler Rentenpolitiken würde auch in historisch gewachsene Sozialsysteme61 eingreifen und dort möglicherweise verheerende Folgen zeigen. Was in einem Mitgliedstaat gut funktioniert, kann sich in einem anderen als ein völlig falscher Ansatz erweisen, da die Rahmenbedingungen andere sind. Die Unterschiede zwischen den nationalen Alterssicherungssystemen sind erheblich. 62 Sie betreffen nicht nur den persönlichen Geltungsbereich (Gruppen- oder Volksversicherung), die Altersgrenze und die gewährten Leistungen (Grundoder Vollsicherung), sondern auch und gerade die Finanzierung (Steuern oder Beiträge). Das Instrument der offenen Koordinierungsmethode sollte daher mit der gebotenen Vorsicht eingesetzt werden - nicht nur, um die Aushebelung von primärrechtlichen Kompetenzverteilungen zu verhindern, sondern auch, um den historisch gewachsenen nationalen Sozialsystemen ihre notwendigen Besonderheiten zu belassen.
V. Ausblick Abgesehen von der Frage, ob man die offene Koordinierung der Altersrentensysteme für richtig hält, stellt sich jedoch die Frage, ob die weitere Annahme einer völligen Freiheit der Mitgliedstaaten im Sozial- und speziell im Altersrentenbereich mittlerweile überhaupt noch realistisch ist. Zwei Aspekte sind hier von Bedeutung: Die effektive Gewährleistung der Freizügigkeit und die Rechtsprechung des EuGH zur Unionsbürgerschaft in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot. Die Freizügigkeit wird zwar derzeit über die Wanderarbeitnehmerverordnung VO 1408/71, die Selbständigenverordnung VO 1390/81 sowie die Zusatzversorgungsrichtlinie RL 98/49/EG geregelt. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass die europaweite Anrechnung von Versicherungszeiten und die Vorgabe von Leistungsberechnungsmethoden nicht ausreichen, um europäischen Rentenbiographien ihre problematischen Seiten zu nehmen. Die zum Teil erheblichen Unterschiede zwischen den nationalen Systemen, man denke nur an divergierende Altersgrenzen und unterschiedliche Leistungen, können zu wesentlichen Einschnitten in der Lebenswirklichkeit der Betroffenen führen.
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So insb. der Hinweis von Eichenhof er (Fn. 32), S. 78. Vgl. etwa die Zusammenstellung in VDR (Hrsg.), Rentenversicherung im internationalen Vergleich, 2003, DRV-Schriften Band 45, sowie VDR (Hrsg.), Renten auf einen Blick: Staatliche Politik im OECD-Ländervergleich, 2005, DRV-Schriften Band 61. 62
Kerstin Odendahl
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Das von der EG verfolgte Ziel einer effektiven Gewährleistung der Grundfreiheiten könnte dazu führen, dass die Gemeinschaft über Art. 42 und 94 EGV zu weitergehenden Koordinierungsmaßnahmen greift. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist darüber hinaus die Rechtsprechung des EuGH zur Koppelung von Unionsbürgerschaft und Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Mit einer Serie von Urteilen, beginnend mit der Rechtssache Sala im Jahre 1998,63 hat der Gerichtshof sukzessive die Öffnung der nationalen Sozialsysteme betrieben - und zwar unabhängig von einer ausgeübten Erwerbstätigkeit des betreffenden Unionsbürgers. 64 Hauptargument des EuGH ist die Erklärung der Unionsbürgerschaft zum grundlegenden Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten, der zur Gleichbehandlung aller derjenigen führe, die sich in der gleichen Situation befänden, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und der insoweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen.65 Die damit bewirkte Durchlässigkeit der nationalen Sozialsysteme lässt die Frage aufkommen, ob sich auf Dauer ihre völlige Unabhängigkeit noch in der Praxis wird realisieren lassen. Der „europäische Vereinheitlichungsdruck" geht nicht nur von der Methode der offenen Koordinierung aus, sondern resultiert in noch viel stärkerem Maße aus der Rechtsprechung des EuGH.
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EuGH, Rs. C-85/96, Slg. 1998,1-2691 - Maria Martinez Sala. Eine kritische Darstellung der EuGH-Rechtsprechung findet sich bei Hailbronner, Die Unionsbürgerschaft und das Ende rationaler Jurisprudenz durch den EuGH?, JZ 2004, 2185 ff.; ders. Unionsbürgerschaft und Zugang zu Sozialsystemen, JZ 2005, S. 1138 ff. Überblicksartig Kadelbach, Urteilsanmerkung, JZ 2005, S. 1163 (1164 f.). 65 Vgl. EuGH Rs. C-184/99, Slg. 2001,1-6193 (Rn. 31) - Grzelczyk. 64
Soziale Versicherungsträger als Thema der grundgesetzlichen Kompetenzordnung Verfassungsrechtliche Fragen der Errichtung und Organisation sozialer Versicherungsträger Von Peter Axer
Das Grundgesetz spricht die Sozialversicherung 1 nur an wenigen Stellen explizit an. Es beschränkt sich darauf, dem Bund die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für die Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung zu geben (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG), es regelt den Vollzug des Sozialversicherungsrechts durch soziale Versicherungsträger (Art. 87 Abs. 2 GG) und weist dem Bund die Finanzierungskompetenz 2 zu für die Zuschüsse zu den Lasten der Sozialversicherung (Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG). Sozialversicherung ist im Grundgesetz begrifflich somit allein ein Thema der bundesstaatlichen Kompetenzordnung. Trotzdem wird die Sozialversicherung in erheblichem Umfang vom Verfassungsrecht geprägt und in ihrer Ausgestaltung vom Grundgesetz her gelenkt und bestimmt. Dies beruht nicht nur auf den grundrechtlichen Bindungen, denen der Staat hinsichtlich der Versicherten, der Arbeitgeber, der privaten Versicherungsunternehmen und der Leistungserbringer unterliegt 3, oder auf der Geltung des Sozialstaatsprinzips 4, das allerdings bislang zumeist - wenn überhaupt - nur in Verbindung mit anderen Verfassungsbestimmungen Wirkungen zeitigte. Vielmehr kommt gerade auch den genannten Kompetenzvorschriften besondere Relevanz für die Ausgestaltung der Sozialversicherung zu, weil ihnen eine über den primären bundesstaatlichen Regelungsgehalt hinausgehende Funktion und Bedeutung eignet, indem sie
1 Zur Geschichte des Begriffs: Peter Krause , Sozialversicherung durch Privatversicherung, in: Sozialpolitik und Wissenschaft, Frankfurt 1992, S. 106 (107 f.). 2 Zur Finanzierung der Sozialversicherung: Peter Krause , Instrumente risiko-, bedarfs- und systemgerechter Finanzierung von Sozialleistungen, in: SDSRV 35 (1992), S. 41 ff. 3 Vgl. allgemein zu den grundrechtlichen Bindungen der Sozialversicherung: Peter Krause , Fremdlasten der Sozialversicherung, in: VSSR 1980, S. 115 (130 ff.); ders., Eigentum an subjektiven öffentlichen Rechten, 1982; ders. (Fn. 1), S. 113 ff. 4 Dazu: Peter Krause , Sozialstaat und Sozialrecht, in: JuS 1986, S. 349 ff.
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auch inhaltliche Vorgaben für die Sozialversicherung treffen und insoweit einen kompetenzüberschießenden Gehalt aufweisen. Die besondere Bedeutung der Kompetenzvorschriften für die Sozialversicherung illustriert auch und gerade die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 2005 zum Risikostrukturausgleich in der gesetzlichen Krankenversicherung 5. Mit dem Risikostrukturausgleich verfolgt der Gesetzgeber das Ziel, Beitragssatzunterschiede zwischen den Krankenkassen aufgrund unterschiedlicher Versichertenstruktur durch finanzielle Transfers unter den Kassen auszugleichen, um bei (weitgehend) freier Kassenwahl gleiche Wettbewerbsbedingungen herzustellen 6. Das Gericht sieht den Risikostrukturausgleich im Ergebnis als mit der Verfassung vereinbar an. Es prüft und misst diesen nicht nur an den Regelungen der bundesstaatlichen Finanzverfassung und am allgemeinen Gleichheitssatz, sondern befasst sich auch mit Fragen der Errichtung und Organisation sozialer Versicherungsträger vor dem Hintergrund der grundgesetzlichen Kompetenzordnung für die Sozialversicherung. Die Vorschriften der Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, Art. 87 Abs. 2 und Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG bilden nach Ansicht des Gerichts „ein in sich geschlossenes Regelungssystem für die Sozialversicherung und deren Finanzierung" 7. Das Grundgesetz sieht danach für die Sozialversicherung „ein in sich geschlossenes und spezielles kompetenzrechtliches Normkonzept" 8 vor, das auch die Errichtung und Organisation sozialer Versicherungsträger bestimmt und auf diese einwirkt.
I. Soziale Versicherungsträger Den Begriff „soziale Versicherungsträger" verwendet das Grundgesetz in Art. 87 Abs. 2 GG. Danach werden als bundesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts diejenigen sozialen Versicherungsträger geführt, deren Zuständigkeitsbereich über das Gebiet eines Landes hinaus reicht. Sofern sich die Zuständigkeit eines sozialen Versicherungsträgers nicht über mehr als drei
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BVerfG, in: GesR 2005, S. 501 ff. - In einem Kammerbeschluss vom 9. Juni 2004 (NZS 2005, S. 139 ff.) hatte das Gericht bereits eine Verletzung von Grundrechten der Krankenkassen durch den Risikostrukturausgleich mangels Grundrechtsfähigkeit der Krankenkassen verneint. Zur Problematik der Grundrechtsfähigkeit von Sozialversicherungsträgern ausführlich: Axer , Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S. 241 ff. 6 Zum Risikostrukturausgleich (§§ 266 ff. SGB V) statt vieler: BSGE 90, 231 ff.; Axer , Der Risikostrukturausgleich auf dem Prüfstand des Bundessozialgerichts, in: SGb 2003, S. 485 ff.; Gohla, Der Risikostrukturausgleich auf dem Prüfstand des Grundgesetzes, 2002; Jarbonegg/Resch/Seewald (Hg.), Finanzausgleich in der gesetzlichen Krankenversicherung, 2002; Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 84 ff. 7 BVerfG, in: GesR 2005, S. 501 (505). 8 BVerfG, in: GesR 2005, S. 501 (505).
Soziale Versicherungsträger
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Länder hinaus erstreckt, können sie als landesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts geführt werden, wenn das aufsichtsführende Land durch die beteiligten Länder bestimmt ist. „Soziale Versicherungsträger" im Sinne der Vorschrift meint Träger der Sozialversicherung im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG 9 . Sozialversicherung als weit gefasster, am klassischen Bild von Sozialversicherung orientierter Gattungsbegriff, der auch die Einbeziehung neuer vergleichbarer Lebenssachverhalte erlaubt 10 , bezeichnet die „gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisatorische Vielfalt" 11 . Kennzeichnend für die Sozialversicherung ist neben dem sozialen Bedürfnis nach Ausgleich besonderer Lasten die Aufbringung von Mitteln durch Beiträge von Beteiligten und die Durchführung mittels selbständiger Anstalten oder Körperschaften des öffentlichen Rechts12. Zu den sozialen Versicherungsträgern 13 zählen neben den Krankenkassen oder den Berufsgenossenschaften sowohl neu errichtete Sozialversicherungsträger 14 wie die Pflegekassen oder die Deutsche Rentenversicherung Bund als auch die Bundesagentur für Arbeit, weil die Arbeitslosenversicherung trotz ihrer bereits durch die besondere Erwähnung in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zum Ausdruck kommenden Sonderstellung zur Sozialversicherung zählt 15 .
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Krause (Fn. 4), S. 351; ebenso: BVerfGE 63, 1 (35); Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hg.), Grundgesetz, Bd. III, 4. Aufl. 2001, Art. 87 Rn. 69; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 7. Aufl. 2004, Art. 87 Rn. 11. 10 BVerfGE 88, 203 (313); 109, 96 (109); BVerfG, in: DVB1. 2005, S. 1503. 11 So die klassische Formulierung in BVerfGE 11, 105 (112); vgl. auch: BVerfGE 75, 108 (146); 88, 203 (313); 89, 365 (377). - Zum Begriff der Sozialversicherung in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG aus dem Schrifttum statt vieler: Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 151 ff.; Schnapp, Sozialversicherung - Begriff ohne Kontur?, in: VSSR 1995, S. 101 (112 ff.). 12 Vgl. nur: BVerfGE 11, 105 (111 ff.); BVerfG, in: DVB1. 2005, S. 1503. 13 Überblick über die sozialen Versicherungsträger in den einzelnen Zweigen bei: Peter Krause, in: Gleitze/Krause/v Maydell/Merten, Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung (GK-SGB IV), 1992, § 29 SGB IV Rn. 12 ff.; siehe auch: Becker, Organisation und Selbstverwaltung der Sozialversicherung, in: v. Maydell/Ruland (Hg.), Sozialrechtshandbuch, 3. Aufl. 2003, § 6 Rn. 17 ff. 14 Zur Einbeziehung neuer, nach in Kraft treten des Grundgesetzes hinzukommender Sozialversicherungsträger allgemein: BVerfGE 11, 105 (123); Hermes, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz, Bd. III, 2000, Art. 87 Rn. 57; Sachs, in: ders. (Hg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 87 Rn. 50. 15 Für eine Einbeziehung der Bundesanstalt für Arbeit als Vorläufer der Bundesagentur für Arbeit: Jestaedt, in: Umbach/Clemens (Hg.), Grundgesetz - Mitarbeiterkommentar, Bd. II, 2002, Art. 87 Rn. 87; Kluth, in: Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht, Bd. 3, 5. Aufl. 2004, § 81 Rn. 85; Müller-Franken, Die Verwaltung der Arbeitslosenhilfe im System der mittelbaren Bundesverwaltung, in: VSSR 1998, S. 133 (141 ff.); Winkler, Die verfassungsrechtliche Legitimation der Bundesanstalt für Arbeit zum Erlass arbeitsförderungsrechtlicher Anordnungen, 1997, S. 81, 106 f. Kritisch dagegen: Dittmann, Die Bundesverwaltung, 1983, S. 248 ff.
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Nicht zu den sozialen Versicherungsträgern gerechnet werden oftmals die Zusammenschlüsse von Sozialversicherungsträgern 16. Soziale Versicherungsträger sollen nur diejenigen Verwaltungseinheiten sein, die gegenüber den Versicherten zur Leistungserbringung verpflichtet sind, nicht dagegen diejenigen, die nur Aufgaben der Kooperation zwischen den Leistungsträgern wahrnehmen. Insoweit würden dann die Verbände der Sozialversicherungsträger oder die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen als Zusammenschlüsse der Leistungserbringer 17 ebenso wenig zu den sozialen Versicherungsträgern gehören wie die von den Krankenkassen und den Leistungserbringern gebildeten Ausschüsse der gemeinsamen Selbstverwaltung 18 , etwa der Gemeinsame Bundesausschuss19. Verfassungsrechtliche Grundlage für die Zusammenschlüsse von Krankenkassen oder Leistungserbringern wäre dann die Vorschrift des Art. 87 Abs. 3 S. 1, 2. Alt. GG 2 0 . Gegen die Herausnahme der Zusammenschlüsse von Sozialversicherungsträgern oder von Leistungserbringern aus dem Begriff der sozialen Versicherungsträger spricht jedoch, dass diese, selbst wenn sie, wie etwa die Kassenärztlichen Vereinigungen, primär die Modalitäten der Leistungserbringung regeln, in den Vollzug des Sozialversicherungsrechts eingebunden sind und Aufgaben im Rahmen der Sozialversicherung erledigen. Sozialversicherung wird aber in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG weit verstanden und erfasst beispielswei-
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Blümel , Verwaltungszuständigkeit, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, 2. Aufl. 1999, § 101 Rn. 113 mit Fn. 656; Dittmann (Fn. 15), S. 246 f.; Merten , Juristische Personen im Sinne von Art. 87 Abs. 2 und Abs. 3 GG, in: FS Franz Knöpfle, S. 219 (228 f.); Lerche , in: Maunz/Dürig (Hg.), Grundgesetz, Loseblatt, Stand: 2005, Art. 87 Rn. 156, klammert die Dachverbände aus, allerdings mit dem Vorbehalt „soweit sie nicht zugleich auch Trägerfunktion haben" (Fn. 39); Ebsen, Rechtsquellen, in: Schulin (Hg.), Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, § 7 Rn. 22, ordnet dagegen die Verbände der Krankenkassen Art. 87 Abs. 2 GG zu, während er für die Kassenärztlichen Vereinigungen und sonstige rechtlich selbständige Einrichtungen der gemeinsamen Selbstverwaltung auf Bundesebene Art. 87 Abs. 3 GG als Grundlage ansieht. 17
Zur Bedeutung und Entwicklung der Kassenärztlichen Vereinigungen: Peter Krause, Das Kassenarztrecht, in: SGb 1981, S. 404 ff.; siehe auch: ders ., Das Spannungsverhältnis zwischen Einheitlichem Bewertungsmaßstab und Honorarverteilungsmaßstab, in: Schnapp (Hg.), Probleme der Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, Teil I, 1998, S. 99 ff. 18 Zur gemeinsamen Selbstverwaltung: Axer , Gemeinsame Selbstverwaltung, in: FS 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 339 ff. 19 § 91 SGB V. Zum Gemeinsamen Bundesausschuss statt vieler: Hase, Verfassungsrechtliche Bewertung der Normsetzung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss, in: MedR 2005, S. 391 ff., mit weiteren Nachweisen. 20 Für die Dachverbände der Sozialversicherungsträger: Blümel (Fn. 16), § 101 Rn.
114; Dittmann (Fn. 15), S. 247.
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se auch das Vertragsarztrecht 21, so dass ein enges Verständnis des Begriffs sozialer Versicherungsträger in Art. 87 Abs. 2 GG dem weiten Verständnis der Gesetzgebungskompetenz Sozialversicherung widerspricht. Die Aufgaben der Landes- und Bundesverbände der Sozialversicherungsträger beschränken sich nicht darauf, die Kooperation zwischen den Mitgliedern zu gewährleisten und diese bei der Erfüllung ihrer Aufgaben und bei der Wahrnehmung ihrer Interessen zu unterstützen 22. Vielmehr obliegt etwa den Verbänden der Kranken- und Pflegekassen auch die Aufgabe, Normenverträge über die Leistungserbringung durch Ärzte oder Pflegeeinrichtungen gegenüber dem Versicherten mittels Bundesmantelverträgen oder Gesamtverträgen im Vertragsarztrecht oder mittels Rahmenverträgen im Pflegeversicherungsrecht zu schließen und damit letztlich den Leistungsanspruch des Versicherten zu konkretisieren. Zu den sozialen Versicherungsträgern gehören daher nicht nur die Dachverbände, sondern ebenso sonstige kraft gesetzlicher Ermächtigung mit Normsetzungsbefugnissen ausgestattete Verwaltungseinheiten wie die Spitzenverbände der Krankenkassen, Arbeitsgemeinschaften oder der Gemeinsame Bundesausschuss. Soziale Versicherungsträger sind ebenfalls die privatrechtlich organisierten Dachverbände der Kranken- und Unfallversicherung, soweit sie mit der Durchführung der Sozialversicherung betraut sind und damit als Beliehene handeln. Zu den sozialen Versicherungsträgern rechnen schließlich die Zusammenschlüsse der Leistungserbringer, etwa die Kassenärztlichen Vereinigungen und ihre Bundesvereinigungen, soweit sie in die Durchführung der Sozialversicherung eingebunden sind. Dieses Ergebnis widerspricht nicht der Entstehungsgeschichte der Vorschrift des Art. 87 Abs. 2 GG. Der Begriff des sozialen Versicherungsträgers wurde im Parlamentarischen Rat nicht diskutiert. Schon in der Weimarer Zeit aber waren Dachverbände und andere verselbständigte Verwaltungseinheiten gerade im Kassenarztrecht in die Durchführung der Sozialversicherung eingebunden. Daher liegt es nahe, sie ebenfalls als soziale Versicherungsträger im Sinne des Grundgesetzes anzusehen. Der Sinn und Zweck des Art. 87 Abs. 2 GG besteht überdies gerade darin, die Durchführung der Sozialversicherung in Form der mittelbaren Staatsverwaltung festzuschreiben. Dieses Ziel wäre verfehlt, wenn jenseits der sozialen Leistungsträger Aufgaben der Sozialversicherung durch die unmittelbare Staatsverwaltung wahrgenommen werden könnten. Diese Möglichkeit bestünde bei Ausklammerung der Dachverbände, denn die Vorschrift des Art. 87 Abs. 3 S. 1 GG, auf welche die Errichtung der Dach verbände dann gestützt werden müsste, verlangt nicht obligatorisch die Durchführung in mittelbarer Staatsverwaltung, sondern eröffnet nur fakultativ die Möglichkeit. 21 BVerfG, in: NJW 1999, S. 2730 (2731); Papier, Staatsrechtliche Vorgaben für das Sozialrecht, in: FS 50 Jahre Bundessozialgericht, 2003, S.23 (31). 22 Überblick über die Aufgaben etwa bei Hain , Die Verbände der Sozialversicherungsträger in der Bundesrepublik Deutschland, 1990.
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Daher wäre es denkbar, auf der Grundlage des Art. 87 Abs. 3 S. 1, 1. Alt. GG die Dachverbände und sonstige rechtlich selbständige Einheiten in der Sozialversicherung als selbständige Bundesoberbehörden zu führen und damit Sozialversicherung in weitem Umfang durch die unmittelbare Bundesverwaltung zu vollziehen 23 . Soziale Versicherungsträger sind nicht nur diejenigen Organisationen, die dem Versicherten gegenüber für die Erbringung der Leistung zuständig sind, sondern alle mit der Wahrnehmung von Aufgaben in der Sozialversicherung betrauten Organisationen. Der Begriff „soziale Versicherungsträger" i. S. d. Art. 87 Abs. 2 GG hat damit einen anderen, weiteren Inhalt als der im Sozialgesetzbuch verwendete Begriff „Träger der Sozialversicherung" 24, der als gesetzlicher Begriff allerdings nicht den verfassungsrechtlichen Begriff des sozialen Versicherungsträgers definieren kann. Aus dem weiten verfassungsrechtlichen Verständnis folgt, dass allein Art. 87 Abs. 2 GG, und nicht Art. 87 Abs. 3 S. 1 GG, die verfassungsrechtliche Grundlage für alle mit der Wahrnehmung der Sozialversicherung betrauten verselbständigten Verwaltungseinheiten bildet.
I I . Die Errichtung sozialer Versicherungsträger In Hinblick auf die Errichtung sozialer Versicherungsträger ist zwischen bundes- und landesunmittelbaren Sozialversicherungsträgern zu unterscheiden. Bundesunmittelbare Sozialversicherungsträger kann der Bund aufgrund der Kompetenz des Art. 87 Abs. 2 GG errichten. Als Organisations- und Kompetenznorm 25 kommt der Vorschrift Vorrang gegenüber einer Herleitung der Errichtungskompetenz aus der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Sozialversicherung zu. Die ausdrückliche und spezielle Regelung der Organisationskompetenz in Art. 87 Abs. 2 GG schließt den Rückgriff auf eine Annexkompetenz zur Regelung des Vollzugs aus der Gesetzgebungskompetenz aus26. Art. 87 Abs. 2 GG fordert anders als Art. 87 Abs. 3 GG im Hinblick auf die fakultative Errichtung selbständiger Bundesoberbehörden und bundesunmittelbarer Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts nicht ausdrücklich ein Parlamentsgesetz. Doch bedarf es auch für die Errich23 Das Bundesverfassungsgericht zählt die selbständigen Bundesoberbehörden zur unmittelbaren Bundesverwaltung (E 37, 1 (24)).
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§ 29 Abs. 1 SGB IV. - Dazu: Krause (Fn. 13), § 29 SGB IV Rn. 12 ff.
BVerfGE 21, 362 (371); 63, 1 (35). 26 Axer, Verfassungsrechtliche Fragen einer Organisationsreform in der Rentenversicherung, 2000, S. 15; Boecken, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Organisationsreform der gesetzlichen Rentenversicherung nach Maßgabe der Diskussionsgrundlage der Sozialpartner, in: DRV 1999, S. 714 (718 ff.); Krebs, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Organisationsreform der Deutschen Rentenversicherung, 1999, S. 9 ff.; Schnapp, Organisationsreform der Rentenversicherung durch Hochzonung der Entscheidungskompetenzen?, in: DÖV 2003, S. 965 (967).
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tung eines bundesunmittelbaren Sozialversicherungsträgers als wesentliche und bedeutsame Entscheidung für die Staatsleitung einer gesetzlichen Regelung. Dessen Errichtung steht somit unter einem (institutionellen) Gesetzesvorbehalt 27 . Sofern das Gesetz nicht nur die Errichtung einer bundesunmittelbaren Körperschaft regelt, sondern auch mit der Zuweisung von Kompetenzen an diese auf die Art und Weise sowie die Formen der Tätigkeit landesunmittelbarer Sozialversicherungsträger einwirkt und deren Aufgabenkreis neu bestimmt, bedarf es nach Art. 84 Abs. 1 GG überdies der Zustimmung des Bundesrates28. Die Errichtung landesunmittelbarer Sozialversicherungsträger obliegt den Ländern. Allerdings kann auch der Bund durch ein zustimmungspflichtiges Parlamentsgesetz landesunmittelbare Sozialversicherungsträger errichten. Die Kompetenz des Bundes zur Errichtung landesunmittelbarer Sozialversicherungsträger folgt aus Art. 84 Abs. 1 GG 2 9 , weil das Grundgesetz mit Art. 87 Abs. 2 GG nur die Kompetenz für die Errichtung bundesunmittelbarer Sozialversicherungsträger gibt. Eines Rückgriffs auf die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Sozialversicherung nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG bedarf es insoweit nicht, obwohl das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des Risikostrukturausgleichs den Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ohne nähere Begründung auf „sämtliche mit der Sozialversicherung zusammenhängenden organisationsrechtlichen Fragen" erstreckt und aus der Gesetzgebungskompetenz dem Bund auch die Kompetenz zur Errichtung landesunmittelbarer Sozialversicherungsträger gibt 30 .
I I I . Soziale Versicherungsträger als Körperschaften des öffentlichen Rechts Art. 87 Abs. 2 GG sieht die Errichtung und Organisation von Sozialversicherungsträgern in Form der Körperschaft des öffentlichen Rechts vor. Der Wortlaut der Vorschrift verbietet es jedoch nicht, Sozialversicherungsträger auch in Form der Anstalt zu errichten 31. Entstehungsgeschichtlich lässt sich nicht
27
Boecken (Fn. 26), S. 724; Krebs (Fn. 26), S. 38 f.; Schnapp (Fn. 26), S. 965.
28
Zum Zustimmungserfordernis nach Art. 84 Abs. 1 GG allgemein jüngst: BVerfG, in: DVB1. 2005, S. 1503 (1504 f.). 29
Boecken (Fn. 26), S. 756 f.; Krebs (Fn. 26), S. 34 ff.; siehe auch: Schnapp (Fn. 26),
S. 967. 30 BVerfG, Β. v. 18. 7. 2005, 2 BvF 2/01, Rn. 95, insoweit nicht in GesR 2005, S. 505 ff. abgedruckt. Das Gericht nimmt dabei auf BVerfGE 11, 105 (123 f.) Bezug. Dort werden allerdings Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und Art. 87 Abs. 2 GG gemeinsam genannt, ohne dass die Frage, ob und wann der Bundesgesetzgeber allgemein berechtigt ist, landesunmittelbare Körperschaften zu errichten, grundsätzlich geklärt wird. 31
A. A. Sachs (Fn. 14), Art. 87 Rn. 54; Merten (Fn. 16), S. 221 ff. - Lerche (Fn. 16),
Art. 87 Rn. 160, verlangt grundsätzlich die Organisation der sozialen Versicherungsträger in Form der Körperschaft, lässt aber Auflockerungen zu und begnügt sich damit,
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nachweisen, dass der Verfassungsgeber den Begriff „Körperschaft des öffentlichen Rechts" in einem engen technischen Sinne als mitgliedschaftlich verfasste rechtsfähige Verwaltungseinheit verstanden wissen wollte 32 . Auch die abweichende Formulierung gegenüber Art. 87 Abs. 3 S. 1,2. Alt. GG, wo von „Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts" die Rede ist, rechtfertigt kein enges Verständnis von Körperschaft im Sinne heutiger wissenschaftlicher Begriffsbildung. Die Aufnahme der Anstalten in Art. 87 Abs. 3 S. 1,2. Alt. GG hat der Verfassungsgeber als bloße „redaktionelle" und nicht als inhaltliche Änderung verstanden 33, so dass von der fehlenden Erwähnung der Anstalt in Art. 87 Abs. 2 GG nicht auf ein enges, technisches Verständnis von Körperschaft geschlossen werden kann. Gegen ein enges Verständnis von Körperschaft spricht zudem, dass in der Weimarer Zeit der Terminus „Körperschaft" häufig allgemein für juristische Personen gebraucht wurde 34 . Existierte aber für den Begriff der „Körperschaft des öffentlichen Rechts" zum Zeitpunkt des Erlasses des Grundgesetzes noch keine exakte, enge Definition, so spricht dies ebenfalls gegen ein enges Begriffsverständnis und eine Ausgrenzung der Anstalt. Ein enges Verständnis hätte zudem die Verfassungswidrigkeit bereits in der Weimarer Zeit bestehender sozialer Versicherungsträger, etwa der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung sowie der Reichsversicherungsanstalten, die als Anstalt qualifiziert wurden 35 , bedeutet. Mit der Festlegung der Körperschaft des öffentlichen Rechts als Organisationsform dass die mitgliedschaftliche oder mitgliedschaftsähnliche Struktur den Kern der Organisation des jeweiligen Selbstverwaltungsträgers ausmacht (а. а. O., Fn. 160); in diese Richtung auch: Hermes (Fn. 14), Art. 87 Rn. 61, der einer körperschaftlichen Ausstattung nur grundsätzliche Bedeutung zumessen will. Die Anstalt als Organisationsform für zulässig haltend: Becker , Staat und autonome Träger im Sozialleistungsrecht, 1996, S. 116 f.; Burgi (Fn. 9), Art. 87 Rn. 87; Emde , Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, 1991, S. 371; Jestaedt (Fn. 15), Art. 87 Rn. 90; Stern , Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 41 V I I 5 (S. 823). Das Bundesverfassungsgericht spricht von selbständigen Anstalten oder Körperschaften des öffentlichen Rechts als Träger der Sozialversicherung ( E l l , 105 (113)); vgl. auch Ε 63, 1 (30, 36)). 32 Der frühere Berichterstatter des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates Laforet hielt die Form der Anstalt für zulässig (Verwaltung und Ausführung der Gesetze nach dem Bonner Grundgesetz, in: DÖV 1949, S. 221 (226)). Zur Entstehungsgeschich-
te: Emde (Fn. 31), S. 371. 33
Vgl. Emde (Fn. 31), S. 366, mit weiteren Nachweisen. Zum Körperschaftsbegriff vor Erlass des Grundgesetzes: ForsthoffDie öffentliche Körperschaft im Bundesstaat, 1931, S. 1 ff.; Weber , Die Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts, 2. Aufl. 1943, S. 15 ff., der sich dagegen wendet, die Unterscheidung von Körperschaft, Anstalt und Stiftung ganz aufzugeben und den Begriff der Körperschaft als Oberbegriff anzusehen, wie in der Literatur verschiedentlich vertreten (S. 16). 35 Bühler , Übersicht über die reichsunmittelbaren Anstalten und Körperschaften, in: Anschütz/Thoma (Hg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Erster Band, 1930, § 50 I; Richter , Sozialversicherungsrecht, 1931, S. 92 ff. 34
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sozialer Versicherungsträger sollten aber bestehende Organisationsformen nicht für verfassungswidrig erklärt werden. Auch die Einfügung der Vorschrift des Art. 87 Abs. 2 S. 2 GG im Jahre 199436, der von landesunmittelbaren Körperschaften des öffentlichen Rechts spricht, lassen sich keine Anhaltspunkte für ein enges Verständnis des Körperschaftsbegriffs entnehmen. Sozialversicherungsträger können, weil der Verfassungsgeber den Terminus Körperschaft des öffentlichen Rechts als untechnischen Sammelbegriff für alle juristischen Personen des öffentlichen Rechts verwendet, nicht nur in Form der Anstalt des öffentlichen Rechts sondern auch in Form der Stiftung des öffentlichen Rechts errichtet und organisiert werden 37. Angesichts der Formulierung „Körperschaft des öffentlichen Rechts" in Art. 87 Abs. 2 GG stößt die Errichtung sozialer Versicherungsträger in Formen des Privatrechts allerdings auf Ablehnung 38 , weil der Verfassungsgeber damit schon begrifflich eine öffentlich-rechtliche Organisationsform fordere. Doch schließt dies es nicht aus, unter den Begriff der Körperschaft des öffentlichen Rechts auch den Beliehenen zu subsumieren 39. Ein privatrechtlich organisierter Versicherungsträger oder ein privatrechtlicher Zusammenschluss von Versicherungsträgern, etwa die Verbände der Ersatzkassen 40, agiert, wenn und soweit er als Beliehener tätig wird, öffentlich-rechtlich. Die Beleihung bindet den Privaten in die Staatsverwaltung ein; im Umfang der Beleihung wird der Beliehene zum Verwaltungsträger. Der Beliehene unterfällt, sofern Aufgaben der Sozialversicherung wahrgenommen werden, dem Regime des Art. 87 Abs. 2 GG. Die Formulierung „Körperschaft des öffentlichen Rechts" meint letztlich nichts anderes als „Rechtsträger der mittelbaren Staatsverwaltung" 41. Die Verfassung verlangt also die Errichtung und Organisation der Sozialversicherungsträger in Form rechtlich verselbständigter, öffentlich-rechtlicher Verwaltungs-
36
Vgl. zur Einfügung des Art. 87 Abs. 2 S. 2 GG und der in diesem Zusammenhang diskutierten Föderalisierung der Sozialversicherung: Heintzen/Kannengießer, Die Regionalisierung der Sozialversicherung aus verfassungsrechtlicher und verfassungspolitischer Sicht, in: DAngVers 1993, S. 58 ff.; Isensee, Föderalisierung der Sozialversicherung, in: NZS 1993, S. 281 ff. 37 Zur Zulässigkeit der Stiftung als Organisationsform: Burgi (Fn. 9), Art. 87 Rn. 87;
Pieroth (Fn. 9), Art. 87 Rn. 10. 38 Hermes (Fn. 14), Art. 87 Rn. 62; Lerche (Fn. 16), Art. 87 Rn. 162; Sachs (Fn. 14), Art. 87 Rn. 56. 39 Vgl. Krebs, Verwaltungsorganisation, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 2. Aufl. 1996, § 69 Rn. 57; Langosch, Ausgewählte Probleme im Verbandswesen der Sozialversicherung, 1995, S. 138; a. Α.: Hermes (Fn. 14), Art. 87
Rn. 62; Lerche (Fn. 16), Art. 87 Rn. 162 mit Fn. 65; Pieroth (Fn. 9), Art. 87 Rn. 10. 40
Zu den Ersatzkassenverbänden als Beliehene bei der Normsetzung: BSG, in: GesR 2005, S. 307 (318). 41 Deutlich: v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. III, 2. Aufl. 1974, Art. 87 Anm. V 5 a (S. 2283).
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einheiten. Dazu zählen die Körperschaft im engeren Sinne ebenso wie die Anstalt, die Stiftung, der Beliehene oder sonstige „Mischformen" 42 , sofern sie sich als öffentlich-rechtliche Organisationsformen qualifizieren lassen. Eine Grenze zieht das Grundgesetz mit der Formulierung „bundesunmittelbare Körperschaft des öffentlichen Rechts" zum einen gegenüber einem Vollzug der Sozialversicherung durch die unmittelbare Staatsverwaltung, zum anderen gegenüber einer Durchführung mittels privatrechtlichen, nicht als Beliehene handelnden Organisationen.
IV. Soziale Versicherungsträger und Selbstverwaltung Tragender Grundpfeiler und prägendes Organisationsprinzip der Gesetzlichen Krankenversicherung ist die Selbstverwaltung 43. Ihre Wurzeln liegen in der „Magna Charta der deutschen Sozialversicherung" 44, der von Bismarck zur Eröffnung der fünften Legislaturperiode des Reichstages am 17. November 1881 verlesenen und von ihm maßgeblich geprägten „Kaiserlichen Botschaft", die die Errichtung einer Arbeiterversicherung zum Schutz bei Krankheit, Unfall, Invalidität und im Alter ankündigte45. Die Versicherung sollte durch die „realen Kräfte des Volkslebens ... in Form korporativer Genossenschaften unter staatlichem Schutz und staatlicher Förderung" erfolgen, um so die „Lösung von Aufgaben" zu ermöglichen, „denen die Staatsgewalt allein in gleichem Umfang nicht gewachsen sein würde". Das Sozialgesetzbuch qualifiziert heute noch daran anknüpfend ausdrücklich die Träger der Sozialversicherung als „rechtsfähige Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung" 46. Allerdings zeigt sich in der Praxis, dass Selbstverwaltung, verstanden als Freiraum für eigenverantwortliches Handeln, in den meisten Zweigen der Sozialversicherung angesichts einer detaillierten Sozialgesetzgebung kaum noch existiert 47 . Die staatliche Regelungsdichte hat in vielen Bereichen einen Umfang erreicht, der den meisten Sozialversicherungsträgern eine eigenverantwortliche Gestaltung des Satzungs-, Organisations-, Beitrags- und Leistungs-
42
Begriff bei Pieroth (Fn. 9), Art. 87 Rn. 10.
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Zur Bedeutung der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung: Peter Krause , Die Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger in der Rechtsprechung des RVA und des BSG, in: FG aus Anlaß des 100jährigen Bestehens der sozialgerichtlichen Recht-
sprechung, 1984, S. 575 ff.; ders, (Fn. 13), § 29 SGB IV Rn. 27 ff. 44
Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, 1. Bd., 1965, S. 63. Der Text der „Kaiserlichen Botschaft" ist abgedruckt in: ZSR 1981, S. 730 ff.; zur Entstehungsgeschichte und Bedeutung der Kaiserlichen Botschaft allgemein: Stolleis , Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, 2003, S. 52 ff. 46 § 29 Abs. 1 SGB IV. 47 Vgl. dazu im Hinblick auf die Krankenkassen: Peter Krause , Die Selbstverwaltung in der Krankenversicherung - Rückblick und Ausblick, in: B K K 1979, S. 4 ff. 45
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rechts weitgehend verwehrt 48 . Ihre Hauptaufgabe - so das Gericht für die Krankenkassen - besteht im Vollzug einer detaillierten Sozialgesetzgebung, gleichsam nach Art einer übertragenen Staatsaufgabe 49. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass auf einzelnen Feldern durchaus Gestaltungsspielräume bestehen. Dies betrifft insbesondere die gesetzliche Unfallversicherung sowie die gemeinsame Selbstverwaltung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Namentlich dem Gemeinsamen Bundesausschuss in der gesetzlichen Krankenversicherung kommen weit reichende Kompetenzen zu, wenn der Gesetzgeber ihm die Befugnis einräumt, über den Umfang der ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung zu entscheiden50 und damit auch den Leistungsanspruch des Versicherten zu konkretisieren und festzulegen. Selbst wenn dem Gemeinsamen Bundesausschuss unter demokratischen Gesichtspunkten die Kompetenz zur Entscheidung auch in Form von Richtlinien zusteht51, bestehen allerdings Bedenken, ob die mitunter weiten Ermächtigungen auf der Grundlage der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung zum Parlamentsvorbehalt sowie vor dem Hintergrund der Regelung in Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG, wonach eine Rechtsverordnungsermächtigung nach Inhalt, Zweck und Ausmaß bestimmt sein muss, immer den Bestimmtheitsanforderungen genügen. Selbstverwaltung als eigenverantwortlicher Gestaltungsspielraum zur Regelung eigener Angelegenheiten wird den Sozialversicherungsträgern verfassungsrechtlich nicht vergleichbar den Gemeinden garantiert. Aus der Vorschrift des Art. 87 Abs. 2 GG lässt sich - auch nicht im Zusammenhang mit dem Sozialstaats- und Demokratieprinzip - eine Garantie sozialer Selbstverwaltung herleiten 52. Das Grundgesetz gewährleistet durch Art. 87 Abs. 2 GG allein die Durchführung der Sozialversicherung mittels verselbständigter Verwaltungseinheiten, ohne damit die Existenz eines einzelnen Sozialversicherungsträgers verfassungsrechtlich abzusichern. Doch selbst wenn keine institutionelle Garantie des Organisationsbestandes existiert, kommt der durch Art. 87 Abs. 2 GG gewährleisteten dezentralisierten Organisationsform der Sozialversicherungsträger immense Bedeutung zu. Die rechtliche Selbständigkeit der Sozialversicherungsträger bezieht sich auch und gerade auf den Einzug, die Verwaltung und die Verwendung der Sozialversicherungsbeiträge. Das Beitrags48
BVerfG, in: NZS 2005, S. 139 (142) für die gesetzliche Krankenversicherung. BVerfGE 39, 302 (313 f.). 50 § 92 Abs. 1 S. 1 SGB V. 51 Vgl. dazu: Axer (Fn. 18), S. 355 ff.; Hase (Fn. 19), S. 392 ff., jeweils mit weiteren Nachweisen. Einen Verstoß gegen das Demokratieprinzip dagegen etwa bejahend statt vieler: Butzer/Kaltenborn, Die demokratische Legitimation des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen, in: MedR 2001, S. 333 ff.; Ossenbühl, Richtlinien im Vertragsarztrecht, in: NZS 1997, S. 497 ff.; Wimmer, Grenzen der Regelungsbefugnis in der vertragsärztlichen Selbstverwaltung, in: NZS 1999, S. 113 ff. 52 Dazu mit weiteren Nachweisen: Krause (Fn. 13), § 29 SGB IV Rn. 37; siehe auch: 49
Axer (Fn. 5), S. 282 ff.
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aufkommen ist grundrechtlich und kompetenzrechtlich an die Sozialversicherung gebunden und als Fremdgeld der Haushaltsgewalt von Bund und Ländern entzogen53, so dass beispielsweise landesunmittelbare Sozialversicherungsträger und die von ihnen verwalteten Beitragsmittel trotz ihrer Zuordnung zur mittelbaren Staatsverwaltung finanzverfassungsrechtlich nicht als Teil eines Landes und als Teil der Landeshaushalte angesehen werden können 54 . Die verfassungsrechtlich durch Art. 87 Abs. 2 GG gewährleistete organisatorische Verselbständigung der Sozialversicherungsträger sichert daher die Beitragsverwendung und dient dem Schutz der Sozialversicherungsbeiträge als Finanzmittel, die allein der Finanzierung der Sozialversicherung zukommen. Die mit der Verselbständigung verbundene parafiskalische Organisation entzieht das Beitragsaufkommen der allgemeinen haushaltspolitischen Verteilungsmasse und wehrt fiskalische Begehrlichkeiten des Staates ab 55 .
V. Das Zusammenwirken bundes- und landesunmittelbarer Sozialversicherungsträger - unzulässige Mischverwaltung? Die deutsche Sozialversicherung ist dadurch gekennzeichnet, dass bundesund landesunmittelbare Versicherungsträger zusammenarbeiten und im Vollzug des Sozialversicherungsrechts miteinander verbunden sind. In der gesetzlichen Krankenversicherung vereinbaren etwa die aus den Landesverbänden der Krankenkassen gebildeten Bundesverbände der Krankenkassen mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung als Zusammenschluss landesunmittelbarer Kassenärztlicher Vereinigungen im Bundesmantelvertrag den allgemeinen Inhalt für die auf Landesebene zu vereinbarenden Gesamtverträge 56. In der gesetzlichen Rentenversicherung können Vertreter landesunmittelbarer Träger der Deutschen Rentenversicherung an Entscheidungen der bundesunmittelbaren Deutschen Rentenversicherung Bund mitwirken, die wiederum für bundes- und landesunmittelbare Rentenversicherungsträger verbindlich sind 57 . Die Kompetenzen von Bund- und Länderebene sind in der Sozialversicherung somit nicht
53 BVerfG, Β. v. 18. 7. 2005, 2 BvF 2/01, Rn. 97 ff., insoweit nicht in GesR 2005, S. 501 ff. abgedruckt. 54 BVerfG, in: GesR 2005, S. 501 (505). 55 Siehe dazu bereits Krause (Fn. 47), S. 7 f. 56 §§ 82, 83 SGB V. 57 Vgl. dazu: Axer , Lenkung und Regulierung der Sozialversicherung zwischen Bundes- und Länderebene, in DRV 2005, S. 542 ff. - Zur Organisationsreform in der Rentenversicherung: Ruland , Endlich: Die Organisationsreform ist in Kraft getreten, in: DRV 2005, S. 2 ff.; ders./Dünn , Die Deutsche Rentenversicherung Bund, in: DRV 2005, S. 50 ff.; dies., Die Organisationsreform in der gesetzlichen Rentenversicherung, in: NZS 2005, S. 113 ff.
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strikt nur einer Ebene zugewiesen, sondern Bund und Länder haben jeweils Vollzugskompetenzen58. Nach Art. 30 GG ist die Ausübung staatlicher Befugnisse allein Sache der Länder, soweit das Grundgesetz selbst keine anderen Regelungen trifft. Vor dem Hintergrund einer die Verantwortung von Bund und Ländern grundsätzlich trennenden Kompetenzordnung 59 stellt sich die Frage, ob eine Zusammenarbeit bundes- und landesunmittelbarer Versicherungsträger beim Gesetzesvollzug in der Sozialversicherung 60 überhaupt zulässig ist. Dies wird, auch für den Bereich der mittelbaren Staatsverwaltung 61, unter dem Topos „Mischverwaltung" diskutiert. Dabei ist der Begriff Mischverwaltung jedoch selbst schillernd, nicht abschließend definiert und alles andere als eindeutig62. Als Mischverwaltung wird zumeist eine Verwaltungsorganisation bezeichnet, bei der eine Bundesbehörde einer Landesbehörde übergeordnet ist oder bei der ein Zusammenwirken von Bund und Ländern durch Zustimmungserfordernisse erfolgt 63 . Unter Berufung auf die ältere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 64 sieht ein Teil des Schrifttums Mischverwaltung als mit dem Grundgesetz unvereinbar an, denn sie widerspräche der grundgesetzlichen Trennung der Kompetenzräume von Bund und Ländern. Die grundgesetzliche Trennung der Verantwortungsräume verbiete es dem Bund und den Ländern, Zuständigkeiten, die das Grundgesetz ihnen gesondert zuweist, gemeinschaftlich wahrzunehmen und damit die Aufgabenverantwortung zu verwischen 65. Ein pauschales und umfassendes Verbot der Mischverwaltung lehnte das Bundesverfassungsgericht bereits in seiner Entscheidung aus dem Jahre 1983
58 Peter Krause, in: Schnapp (Fn. 17), S. 99, weist daraufhin, dass historisch bei der Konkretisierung des Krankenversicherungs- und Kassenarztrechts die Kompetenzen „ohne Rücksicht auf die Zuordnung zum Reich und zu den Ländern verteilt" wurden. 59 Isensee, Gestalt und Idee des Föderalismus im Grundgesetz, in: ders./Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, 2. Aufl. 1999, § 98 Rn. 179 ff. 60 Allgemein zum Verhältnis von Föderalismus und Sozialversicherung: Ebsen, Föderalismus und Sozialversicherung, in: G+G Wissenschaft, Heft 4, 2005, S. 7 ff.; Schikorski, Zu einer Föderalisierung der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung, in: WzS 2005, S. 97 ff., 134 ff. 61 Broß, in: Münch/Kunig (Hg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 5. Aufl. 2003, Art.
83 Rn. 15; Isensee (Fn. 59 ), § 98 Rn. 182. 62
Zum Begriff: Erichsen/Biidenbender, Verfassungsrechtliche Probleme staatlichkommunaler Mischverwaltung, in: NWVB1. 2001, S. 161 (164 f.); siehe auch: Loeser, Die Mischverwaltung, Diss. Göttingen, 1974, S. 65 ff.; Ronellenfitsch, Die Misch Verwaltung im Bundesstaat, Erster Teil: Der Einwand der Mischverwaltung, 1975, S. 21 ff. 63 So die Umschreibung in BVerfGE 11, 105 (124); siehe auch: Dittmann, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz, Kommentar, 3. Aufl. 2003, Art. 83 Rn. 4; Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 46 VII, 1. 64 Vgl. etwa BVerfGE 32, 145 (156); 39, 96 (120); 41, 291 (311). 65 Siehe dazu die Nachweise bei Blümel (Fn. 16), § 101 Rn. 120, 122.
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zur Versicherungsanstalt der Bezirksschornsteinfeger ab 66 . Nach Ansicht des Gerichts kann die Verwendung des Begriffs „Mischverwaltung" zur klassifizierenden Kennzeichnung einer bestimmten verwaltungsorganisatorischen Erscheinungsform sinnvoll sein; für die Prüfung, ob ein Zusammenwirken von Bundes- und Landesbehörden bei der Verwaltung im konkreten Fall rechtlich zulässig sei, folge daraus allerdings noch nichts. Eine verwaltungsorganisatorische Entscheidung ist nach Ansicht des Gerichts nur verfassungswidrig „wenn ihr zwingende Kompetenz- oder Organisationsnormen oder sonstige Vorschriften des Verfassungsrechts entgegenstehen"67. Die Verwaltungszuständigkeiten von Bund und Ländern seien in den Art. 83 ff. GG erschöpfend geregelt und grundsätzlich nicht abdingbares Recht, so dass selbst mit Zustimmung der Beteiligten eine Kompetenzverschiebung unzulässig ist. In einer neueren Entscheidung zum Telekommunikationsrecht knüpft das Bundesverfassungsgericht inhaltlich daran an, scheint aber die Anforderungen zu verschärfen, wenn es in einem knappen Satz - insoweit ohne Bezugnahme auf die Grundsatzentscheidung aus dem Jahre 1983 - eine „sogenannte Mischverwaltung" als unzulässig ansieht, „soweit sie nicht ausdrücklich zugelassen" ist 68 . Ob damit ein Paradigmenwechsel zurück zur früheren Rechtsprechung verbunden ist, erscheint schon angesichts der sehr knappen und pauschalen Ausführungen fraglich, kann aber letztlich dahinstehen, denn auch unter strengeren Anforderungen lässt sich das Zusammenwirken von bundes- und landesunmittelbaren Sozialversicherungsträgern verfassungsrechtlich rechtfertigen. Verwaltungsorganisatorische Strukturen, die auf einer Zusammenarbeit von Bund und Ländern beruhen, sind nicht schon deshalb verfassungswidrig, weil sie als Mischverwaltung firmieren 69 , denn die Qualifikation als solche erlaubt noch nicht den Schluss auf die Verfassungswidrigkeit. „Mischverwaltung" ist kein Rechtsbegriff, aus dem sich bestimmte rechtliche Folgerungen ableiten lassen. Zu prüfen ist vielmehr, ob Vorschriften des Grundgesetzes ein Zusammenwirken verbieten, oder anders gewendet: ob sie ein solches Zusammenwirken zulassen. Zentrale Vorschrift ist insoweit Art. 87 Abs. 2 GG. Danach ist ausdrücklich das Nebeneinander bundes- und landesunmittelbarer Sozialversicherungsträger beim Vollzug des Sozialversicherungsrechts vorgesehen. Sowohl bundes- als auch landesunmittelbare Versicherungsträger sind von Verfassungs wegen gleichzeitig dazu berufen, das Sozialversicherungsrecht gemeinsam anzuwenden und zu vollziehen. Das damit verfassungsrechtlich vorgegebene Nebeneinander ist nach der grundgesetzlichen Konzeption der
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BVerfGE 63, 1 (38). BVerfGE 63, 1 (38). 68 BVerfGE 108, 169(182). 69 Papier , Verfassungsrechtliche Probleme bei der Organisation der Sozialversicherungsträger, in: FS Franz Knöpfle, 1996, S. 273 (279); Schnapp (Fn. 26), S. 968. 67
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Sozialversicherungsverwaltung kein beziehungsloses Verwalten auf zwei Ebenen, sondern schon aus Gründen des effektiven und gleichmäßigen Vollzugs wesensnotwendig ein Miteinander. Das Grundgesetz erlaubt daher mit der Gleichzeitigkeit von Bundes- und Landesverwaltung in Art. 87 Abs. 2 GG die Verbindung bundes- und landesunmittelbarer Verwaltungseinheiten in der Sozialversicherung zu einer „Wirkungseinheit" 70 und gestattet eine „Verbundverwaltung" 71 landes- und bundesunmittelbarer Sozialversicherungsträger. „Verbundverwaltung" bedarf aber Institutionen, die das Miteinander regeln und koordinieren, um einen gleichmäßigen und funktionsfähigen bundeseinheitlichen Gesetzesvollzug zu erreichen. Der Aufbau einer leistungsfähigen Verwaltung zur sachgerechten Ausführung von Bundesgesetzen und, damit korrespondierend, das Recht und die Pflicht zur Wahl einer sachgerechten Organisationsstruktur wird von Art. 87 GG geschützt, gewährleistet und gefordert 72. Zur Sicherung eines effektiven und bundeseinheitlichen Vollzugs des Sozialrechts lässt Art. 87 Abs. 2 GG daher Normsetzung durch die Bundesebene in der Weise zu, dass beispielsweise die Deutsche Rentenversicherung Bund aufgrund parlamentsgesetzlicher Ermächtigung, die der Zustimmung des Bundesrates bedarf 73, Entscheidungen gegenüber landesunmittelbaren Versicherungsträgern treffen kann 74 . An die Stelle einer strikten bundesstaatlichen Trennung der Verwaltungsräume tritt in der Sozialversicherung eine verfassungsrechtlich zulässige Selbstkoordinierung landes- und bundesunmittelbarer Sozialversicherungsträger.
70 Dazu: Krebs (Fn. 26), S. 11, 13 f.; siehe auch: ders., Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Selbststeuerung des Rentenversicherungssystems, in: DRV 2000, S. 573 (574 ff.). 71 Zur Verbundverwaltung: Krebs (Fn. 26), S. 11, 13 f., 16 f. - Zum Begriff „Verbundverwaltung" siehe bereits: Schneider, Körperschaftliche Verbundverwaltung. Verfassungsrechtliche Betrachtungen über die Bildung von landesunmittelbaren und bundesunmittelbaren Verwaltungsträgern durch Bundesgesetz, in: AöR 83 (1958), S. 1 (3 f., 14 f.). 72 Vgl. allgemein: BVerfGE 110, 33 (50). 73 Vgl. dazu: Axer (Fn. 5), S. 398 f.; siehe auch: Ebsen, Phänomenologie und Problemfelder der Rechtsquellen, in: Schnapp (Hg.), Probleme der Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, Teil I, 1998, S. 13 (30 f.). - Zur Bedeutung des Art. 80 Abs. 2 GG jüngst: BVerfG, in: DVB1. 2005, S. 1503 (1505 ff.). 74 Im Hinblick auf die Organisationsreform in der Rentenversicherung vgl.: Krebs (Fn. 26) S. 17 f.; Boecken (Fn. 26), S. 728 f.; allgemein zur Durchführung der Sozialversicherung mittels bundes- und landesunmittelbarer Körperschaften: Schneider (Fn. 71), S. 3 ff.; Sendler, Zur Zusammenarbeit von Einrichtungen der Sozialversicherung aus Bund und Ländern, in: DOK 1981, S. 721 (723 ff.); ders., Mischverwaltung in der Sozialversicherung?, in: DÖV 1981, S. 409 ff.; Weber, Organisationsprobleme des sozialen Bundesstaats, in: DRV 1969, S. 121 (129).
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VI. Einheitskrankenkasse oder gegliedertes System von Sozialversicherungsträgern? Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lässt sich dem Grundgesetz keine Garantie des bestehenden Sozialversicherungssystems oder zumindest seiner tragenden Organisationsprinzipien entnehmen75. Der einfache Gesetzgeber sei nicht daran gehindert, beispielsweise alle Träger der gesetzlichen Krankenversicherung zusammenzufassen und in einem Bundesamt für Krankenversicherung als bundesunmittelbare Körperschaft zu organisieren 76 . Nach Ansicht des Gerichts besitzt der Gesetzgeber im Interesse der Funktionsfähigkeit der Sozialversicherung und deren finanzieller Stabilität eine weitgehende sozialpolitische Gestaltungsfreiheit, die solange anzuerkennen ist, als seine Erwägungen weder offensichtlich fehlsam noch mit der Wertordnung des Grundgesetzes unvereinbar sind 77 . Das gegliederte System der gesetzlichen Krankenversicherung wird zwar als verfassungsrechtlich zulässig angesehen, genießt aber in den Augen des Gerichts keinen verfassungsrechtlichen Bestandsschutz. Aus dem Grundgesetz folgt für das Gericht, „was die Organisation der gesetzlichen Krankenversicherung angeht, weder ein Änderungsverbot noch ein bestimmtes Gestaltungsgebot"78. Scheint damit die Sozialversicherung nahezu grenzenloser Gestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers zu unterliegen, so zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass das Bundesverfassungsgericht doch Grenzen zieht. Bereits aus der Verfassung selbst folgt das Erfordernis, Sozialversicherungsträger als bundesunmittelbare Körperschaften zu organisieren, so dass eine Ei nheitsVersicherung durch einen rechtlich verselbständigten Träger erfolgen muss; eine unmittelbare Verwaltung durch Bundesbehörden ist nicht zulässig79. In der Entscheidung zum Risikostrukturausgleich weist das Gericht überdies auf die in verschiedenen Bestimmungen des Grundgesetzes zum Ausdruck gebrachte (vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, Art. 87 Abs. 2, Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG) und entstehungsgeschichtlich belegte grundsätzliche Anerkennung des klassischen Modells der Sozialversicherung durch das Grundgesetz hin 80 . Es spricht vom „klassischen, vom Verfassungsgeber grundsätzlich gebilligten Konzept einer Sozialversicherung" 81, rechtfertigt die Familienversicherung aus einer „langen sozialversicherungs-
75 BVerfGE 39, 302 (314); 89, 365 (377); BVerfG, in: GesR 2005, S. 501 (507); siehe auch BVerfG, in: NZS 2005, S. 139 (141). 76 BVerfGE 39, 302 (315); vgl. auch BSGE 90, 231 (261). 77 BVerfG, in: GesR 2005, S. 501 (506). 78 BVerfG, in: GesR 2005, S. 501 (509); BVerfGE 89, 365 (377); vgl. auch: BVerfGE 36, 383 (393) im Hinblick auf die Unfallversicherung. 79 BVerfGE 63, 1 (36). 80 BVerfG, in: GesR 2005, S. 501 (508). 81 BVerfG, in: GesR 2005, S. 501 (508).
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rechtlichen Tradition" und rechnet sie „zu denjenigen Sozialleistungen, die das klassische Bild der Sozialversicherung mitgeprägt haben" 82 . Das Gericht legt damit für die Beurteilung, ob sozialversicherungsrechtliche Regelungen zulässig sind, das klassische System zugrunde und nimmt es als Messlatte. Dies schließt weder Weiterungen noch Neuregelungen aus, doch haben diese sich vor dem klassischen, vom Grundgesetzgeber vorgefundenen Konzept einer Sozialversicherung zu rechtfertigen. Daher mag es zwar grundsätzlich zulässig sein, alle Krankenkassen in einer bundesunmittelbaren Einheitskrankenkasse zusammenzufassen, doch stellt das Gericht selbst fest, dass für die gesetzgeberische Entscheidung zugunsten einer gegliederten Krankenkassenorganisation „eigenständige Sachgründe von erheblichem Gewicht" sprechen 83. Die Einheitskrankenkasse stellt gegenüber dem Risikostrukturausgleich kein verhältnismäßigeres Mittel dar 84 . Das Gericht sichert damit letztlich, trotz der postulierten grundsätzlichen Offenheit der Organisation sozialer Versicherungssysteme, im Ergebnis das gegliederte Krankenkassensystem. Das gegliederte System sozialer Versicherungsträger entspricht dem klassischen, von der Verfassung aufgenommenen und gebilligten Konzept der Sozialversicherung; Änderungen mögen zwar verfassungsrechtlich möglich sein, doch stehen sie unter erhöhtem Rechtfertigungszwang. Die Verfassung wirkt nicht nur im Grundsätzlichen auf Organisation und Errichtung sozialer Versicherungsträger ein. Hat der Gesetzgeber sich für ein bestimmtes System entschieden, so muss er dieses aus Gründen des grundgesetzlichen Gleichheitssatzes auch systemgerecht ausgestalten85. Der Gleichheitssatz wirkt als objektiv-rechtliches bzw. im Rechtsstaatsprinzip verankertes allgemeines Prinzip auch auf die Ausgestaltung der Staatsorganisation ein 86 . Entscheidet sich der Gesetzgeber für ein gegliedertes System von Sozialversicherungsträgern und sieht er zwischen den Sozialversicherungsträgern einen solidarischen Wettbewerb 87 vor, so muss er auch die Bedingungen dafür schaffen, dass ein solcher Wettbewerb stattfinden kann. Für die Versicherten müssen Wahlmöglichkeiten bestehen, was wiederum eine ausreichende Zahl von im 82
BVerfG, in: GesR 2005, S. 501 (504). BVerfG, in: GesR 2005, S. 501 (512); vgl. auch: BVerfGE 89, 365 (376 f.). 84 Das BVerfG (GesR 2005, S. 501 (519)) spricht davon, dass die Einheitskrankenkasse nach Einschätzung des Gesetzgebers nicht geeignet sei, hinreichende Anreize für Effizienzverbesserungen zu setzen und der Gesetzgeber davon ausgehen durfte, dass kleinere Einheiten im Wettbewerb sparsamer wirtschaften als große. 85 Zur Bedeutung des Gleichheitssatzes: Steiner, Sozialer Konflikt und sozialer Ausgleich - Zur Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: FS Walter Schmitt Glaeser, 2003, S. 335 (342 ff.). 86 Jarass, in: ders./Pieroth, Grundgesetz, 7. Aufl. 2004, Art. 3 Rn. 8; Rüfner, in: Dolzer (Hg.), Bonner Grundgesetz, Kommentar, Loseblatt, Stand: 2005, Art. 3 Abs. 1 Rn. 159, jeweils mit weiteren Nachweisen. 87 Dazu: BVerfG, in: NZS 2005, S. 139 (141). 83
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Wettbewerb stehenden Sozialversicherungsträgern voraussetzt. Entscheidet er sich für eine Finanzierung der Sozialversicherungsträger durch Beiträge, so gelten insoweit neben den grundrechtlichen Grenzen für seine Erhebung die kompetenzrechtlichen Vorschriften für die Sozialversicherung, insbesondere die Vorschrift des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, die „bereits aus sich heraus auch auf die Regelung der Finanzierung der Sozialversicherung gerichtet" ist 88 . Sieht er dagegen eine teilweise Finanzierung aus Steuermitteln vor 89 , so hat gemäß Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG der Bund die Zuschüsse zu leisten. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber zum Teil einen sehr weitgehenden Gestaltungsspielraum im Hinblick auf die Ausgestaltung der Sozialversicherung zuerkennt, zeigt gerade auch die Entscheidung zum Risikostrukturausgleich, dass die grundgesetzlichen Kompetenzbestimmungen der Errichtung und Organisation sozialer Versicherungsträger Grenzen setzen und den Gesetzgeber letztlich doch stärker binden als es auf den ersten Blick scheint. Eine Einheitskrankenkasse anstelle eines gegliederten Kassensystems dürfte bei einer solidarischen Wettbewerbsordnung verfassungsrechtlich daher anstelle des gegliederten Systems allenfalls als ultima ratio zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung zulässig sein.
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BVerfG, in: GesR 2005, S. 501 (504). Vgl. zur Zulässigkeit: BVerfG, in: GesR 2005, S. 501 (507). Eine vollständige Finanzierung aus Steuermitteln wäre nicht mehr mit dem Begriff Sozialversicherung vereinbar. 89
Die ambulante ärztliche Versorgung als Sachleistung der GKV im Überschneidungsfeld von Sozialversicherung und ärztlichem Berufsrecht sowie von Bundes- und Länderkompetenz zur Gesetzgebung Von Ingwer Ebsen
Peter Krause hat sich immer wieder mit Rechtsfragen im Schnittfeld von Verfassungsrecht und Sozialrecht im Kontext der Gesundheitsversorgung befaßt - gerade auch mit Bezug auf Berufsrecht und Berufsfreiheit. 1 Ein solches Schnittfeld tut sich in mehrfacher Hinsicht auch bezüglich der ambulanten ärztlichen Versorgung als Gegenstand der Gesetzgebung auf. Die ambulante ärztliche Versorgung ist das traditionelle Kerngebiet des ärztlichen Berufsrechts. In der Tätigkeit des niedergelassenen Arztes oder Zahnarztes - und nicht etwa in der Großorganisation des Krankenhauses - entfaltet sich dasjenige, an was man denkt, wenn die ärztliche Tätigkeit als „freiberuflich" 2 qualifiziert wird, wie es neben vielen Heilberufegesetzen der Länder auch § 1 BÄO tut. Diese Tätigkeit wird durch die Heilberufegesetze und die auf ihnen beruhenden Berufsordnungen der Ärztekammern in mancherlei Hinsicht geregelt. Andererseits ist diese Tätigkeit im deutschen System der GKV-Gesundheitsversorgung als sog. Sachleistung der Krankenkassen an ihre Versicherten, für welche sie sich regelmäßig sog. Leistungserbringer bedienen müssen, das Kernfeld der „ärztlichen Behandlung" im Sinne von § 28 Abs. 1 SGB V. Bei dieser Sachlage ist es nicht verwunderlich, daß Sozialrecht - typischerweise das sog. „Vertragsarztrecht" - und ärztliches Berufsrecht Berührungspunkte und Überschneidungsfelder haben, welche einen Koordinierungsbedarf auslösen.
1 Siehe nur Peter Krause, Keine Kompetenz zu verbindlicher Gebührenregelung für Heilberufe für den Bund und den Verordnungsgeber, MedR 1983, S. 81 ff.; ders., Die Stellung der Gesundheitshandwerker und ihrer Verbände im Sozialgesetzbuch Fünftes Buch, ZfSH/SGB 1989, S. 416 ff.; ders. Bedarfslenkung bei Großgeräten durch Vergütungsausschluß, SGb 1992, S. 55 ff.; ders., Krankenhausfinanzierung in verfassungsrechtlicher Sicht, Bitburger Gespräche Jahrbuch 1996, S. 187 ff. 2 Siehe etwa Tettinger, MedR 2001, 287 ff.
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I. Das Problem: Kompetenzzuordnung bei Überlagerungen von Bundes- und Länderkompetenzen Koordinierung kann auf verschiedene Weise erreicht werden. Zum einen können die jeweiligen rechtlichen Regelungen schon inhaltlich so auf einander abgestimmt sein, daß sie einander nicht widersprechen, sondern sinnvoll ineinandergreifen. Das ist z.B. der Fall, soweit vertragsarztrechtliche Vorschriften über Zulassung, Qualitätsanforderungen und Voraussetzungen für die Abrechnung jeweiliger Leistungen zu Lasten der GKV sich auf die Strukturen beziehen, welche das ärztliche Weiterbildungsrecht geschaffen hat (vgl. etwa §§73 oder 95a SGB V). Eine solche Koordinierung in Form sinnvollen Ineinandergreifens kann gegebenenfalls auch leitender Gesichtspunkt systematischer Gesetzesauslegung sein. Es kommt aber auch der Fall in Betracht, daß die Regelungen des Berufsrechts und des Sozialrechts nicht - auch nicht durch Auslegung - miteinander zu harmonisieren sind. Für solche Fälle bedarf es, da Gegensätzliches nicht zugleich gelten kann, der Koordinierung durch Vorschriften über Vorrang und Nachrang. Dies ist im Verhältnis von ärztlichem Berufsrecht und GKV-Leistungserbringungsrecht insofern interessant, als sich hier zwei unterschiedliche Prinzipien der Konfliktkoordinierung überlagern, nämlich das durch Art. 31 GG ausgedrückte Vor- und Nachrangverhältnis von Bundes- und Landesrecht sowie das durch Art. 70 Abs. 1 GG ausgedrückte Verhältnis der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern. Konkret: der Bund kann zwar entgegenstehendes Landesrecht im Sinne von Art. 31 GG „brechen", jedoch benötigt er dafür einen spezifischen Kompetenztitel, da ansonsten die Gesetzgebungskompetenz bei den Ländern liegt. Im Verhältnis von ärztlichem Berufsrecht und Recht der GKV- Leistungserbringung geht es zum einen um die verfassungsgerichtlich im wesentlichen geklärte Begrenzung der Gesetzgebungskompetenz des Bundes aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG zur Regelung der „Zulassung zu ärztlichen und anderen Heilberufen". Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht schon 19543 einigermaßen restriktiv judiziert und auch in späteren Entscheidungen4 daran festgehalten, daß sich die Kompetenz des Bundes allein auf das Zulassungswesen im engeren Sinne bezieht, also bei Ärzten auf die Approbation und deren Voraussetzungen, nicht aber unter dem Gesichtspunkt der Erlaubtheit auf Einzelheiten der Berufstätigkeit. 5 Solche Einzelheiten gehören mangels eines spezifischen Kompetenztitels für den Bund im Grundgesetz nach Art. 70 Abs. 1 GG in die Kompetenz der Länder.
3
BVerfGE 4, 74. BVerfGE 33, 125, 106, 62. 5 Siehe dazu etwa Degenhart , in: Sachs (Hrsg.) GG-Kommentar, 3. Auf. 2003, Art. 74 Rz. 70 ff. 4
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Zum anderen geht es aber um die Kompetenz des Bundes aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zur Regelung der „Sozialversicherung". Dieser Kompetenztitel ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einigermaßen weit auszulegen und umfaßt insbesondere auch die Befugnis, die Leistungserbringung (auch durch Ärzte und andere Heilberufe) zu Lasten der GKV zu regeln. 6 Allerdings sei schon hier darauf hingewiesen, daß die Regelung der Leistungserbringung im Rahmen der Sozialversicherung einen Randbereich betrifft, für welchen sich die Kompetenz letztlich aus dem Bezug zum Kernbereich der Sozialversicherung ergeben muß, nämlich der solidarischen, qualitätsvollen und finanzierbaren Absicherung der versicherten Personen gegen soziale Risiken hier dasjenige der behandlungsbedürftigen Krankheit. 7 Es ist offensichtlich, daß hier Abgrenzungsprobleme auftreten können - insbesondere in Überschneidungsfeldern von Bundes- und Länderkompetenzen wie hier zwischen Leistungserbringungsrecht und Berufsrecht. Dabei ist der Begriff „Überschneidung" seinerseits nicht selbstverständlich, sondern verweist auf ein allgemeineres Abgrenzungsproblem zwischen Bundes- und Länderkompetenzen, was mit einem der Gesetzgebungstechnik des GG immanenten Dilemma zu tun hat. Die Bundeskompetenzen sind nämlich zwar dadurch die begrenzteren, daß sie - gewissermaßen gesetzgebungstechnisch als Ausnahmen ausgestaltet - grundsätzlich 8 jeweils im Grundgesetz benannt sein müssen, während die Länder - gesetzgebungstechnisch insofern die Regelkompetenz - keine benannten Titel benötigen. Die Länder haben jedenfalls gesetzgebungstechnisch die Residualkompetenz. Andererseits gibt es aber dadurch der Auslegung fähige Verfassungsbegriffe für die Bundeskompetenz wie „Sozialversicherung" oder „Zulassung zu Heilberufen", während für die allgemeine Residualkompetenz der Länder solche Verfassungsbegriffe nicht zur Verfügung stehen: die Länderkompetenzen sind eben nicht - jedenfalls nicht im Verfassungstext - benannt. Wenn man dieses gesetzestechnische Konzept wörtlich nähme, gäbe es keine Überschneidungsfelder von Kompetenzen. Zu beschreiben und durch begriffliche Präzisierungen im Wege der Auslegung zu begrenzen wären allein die Bundeskompetenzen, während sich der Kompetenzbereich der Länder lediglich negativ definieren ließe - gewissermaßen als die „Lücken" zwischen den Kompetenztiteln des Bundes. Diesen Weg ist, angeleitet durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die Verfassungsdogmatik aber nicht gegangen. Vielmehr sind - gestützt auf Tradition und in der Natur der Sache liegende Abgrenzungen von Politikfeldern - auch zur Beschreibung von Länderkompe-
6
Dazu Degenhart, in: Sachs (Hrsg.) GG-Kommentar, 3. Auf. 2003, Art. 74. Siehe schon Ebsen, VSSR 1996, 351 ff. (355f.). 8 Auf ungeschriebene Gesetzgebungskompetenzen (dazu Cremer, ZG 2005, 29 ff.) wird hier nicht eingegangen. 7
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tenzen Verfassungsbegriffe entwickelt worden wie etwa Rundfunkrecht oder Polizeirecht, die sich eignen, nun auch von den Länderkompetenzen her die Grenzen von Bundeskompetenzen zu definieren. Insofern ist es berechtigt, von einer „Beidseitigkeit der Kompetenz Verteilung" zwischen Bund und Ländern zu reden.9 Das ist nicht nur eine terminologische Angelegenheit, sondern hat auch eine „argumentationsstrategische" Bedeutung. Denn erst hierdurch ist es überhaupt möglich, von Kompetenzüberschneidungen zu reden, also von Bereichen, die vom Gegenstand her jedenfalls auf den ersten Blick sowohl zu einem Feld der Bundes- als auch zu einem Feld der Länderkompetenz gehören. Und erst dadurch wird der Ansatz plausibel, in solchen Überscheidungsbereichen die Grenzen der Bundeskompetenz nicht nur isoliert und aus sich heraus, sondern im Wege systematischer Auslegung und mit dem Ziel angemessener Zuordnung auch von der Länderkompetenz her zu bestimmen.
I I . Einige Beispiele für die Überlagerung der Bundeskompetenz für die Sozialversicherung mit der Länderkompetenz für das ärztliche Berufsrecht Solche Kompetenzüberlagerungen werden in der Literatur intensiv diskutiert und haben auch schon die Rechtsprechung beschäftigt. Hier sollen drei Beispiele genügen, die das Problem hinreichend verdeutlichen und die Erprobung eines Lösungsansatzes erlauben, nämlich erstens die vertragsarztrechtliche Unterscheidung von haus- und fachärztlicher Versorgung, zweitens die Bestimmungen des SGB V über Rechtsformen von Leistungserbringern (auch) ambulanter ärztlicher Versorgung und - eng damit zusammenhängend - drittens die Regelungen über zulässige Kooperationsformen zur Erbringung von GKVSachleistungen. Es gibt noch weitere entsprechende Überschneidungsfelder wie etwa die über das ärztliche Berufsrecht hinausgehenden Qualitätsanforderungen im Vertragsarztrecht 10 oder die Regulierung der Zulässigkeit von Zweigpraxen und ausgelagerten Praxisräumen 11 oder die Altersgrenzen im Vertragsarztrecht 12 oder - wenn auch aufgrund der Umsetzung des Grundrechts der Berufsfreiheit auch gegenüber den früher gar nicht so „freien Berufen" durch das
9 Siehe in diesem Sinne Heintzen , DVB1 1997, 689 ff.; dort auch weitere Nachweise zu den beiden unterschiedlichen Ansätzen der Kompetenzzuordnung. 10 Dazu Butzer , NZS 2005, 344 ff. (347); siehe auch BVerfG (Kammer) v. 16.7.2004 - 1 BvR 1127/01 - SozR 4-2500 § 135 Nr. 2. 11 Dazu Engelmann , GesR 2004, 113 ff.; ders., ZaeFQ 2005, 122 ff. 12 Dazu BVerfGE 103, 172.
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Bundesverfassungsgericht immer weniger bedeutsam13 - die auf Förderung des Wettbewerbs unter den Leistungserbringern gerichteten Gestaltungs- und Informationsregelungen im SGB V 1 4 . Anhand der drei zuerst genannten Beispiele läßt sich das Grundproblem aber so thematisieren, daß Verallgemeinerungen daraus auch auf weitere Fälle anwendbar sind. 15 Mit der Unterscheidung von hausärztlicher und fachärztlicher Versorgung in § 73 SGB V und einem darauf bezogenen durch das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) 16 mit Wirkung ab 1993 geschaffenen Regulierungssystem einschließlich der vorgegebenen untergesetzlichen Regulierungen hat der Bundesgesetzgeber praktisch zwei Typen des Vertragsarztes geschaffen. Zugleich hat er deren vertragsärztliche Tätigkeiten wechselseitig so gegeneinander abgegrenzt, daß Haus- und Fachärzte nur in jeweils einem der beiden Systeme vertragsärztlich tätig sein können - mit weitgehend auch sich wechselseitig ausschließenden therapeutischen und diagnostischen Leistungen und deren Honorierung. Hierdurch hat der Gesetzgeber des SGB V die Berufspraxis der meisten freiberuflich tätigen Ärzte in einer Weise strukturiert, die erheblich von dem abweicht, was das ärztliche Berufsrecht in den Heilberufegesetzen der Länder und den darauf beruhenden Berufs- und Weiterbildungsordnungen bestimmt. Diese Gestaltung war zunächst höchst umstritten, gerade auch, was die Kompetenz des Bundesgesetzgebers anging.17 Inzwischen hat das BVerfG mit einer Kammerentscheidung 18, welche eine entsprechende Entscheidung des BSG 19 im Wege der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde bestätigte, die konkrete praktische Bedeutung dieses Streits wohl weitgehend beseitigt.20 Immerhin
13 Zur Entfesselung der freien Berufe durch das BVerfG siehe (aus der Sicht einer wichtigen Akteurin in diesem Kontext) Jaeger , AnwBl 2000, 475 ff.; dies., AusR 2002,
153 ff.; dies., SGb 2003,311 ff. 14
Dazu Schirmer, VSSR 1998, 279 ff. Kein Beispiel für das Problem der föderalen Kompetenzzuordnung ist hingegen das Schnittfeld von haftungsrechtlichem „medizinischem Standard" und sozialrechtlicher Regulierung des sogenannten „Leistungskatalogs" und konkreter Therapieentscheidung behandelnder Ärzte auch unter Gesichtspunkten von Wirtschaftlichkeit und Kriterien evidenzbasierter Medizin (dazu Ehlers, RPG 1999, 7Iff.; Kern, GesR 2002, 5 ff.; Welti, GesR 2006, 1 ff.). Denn in diesen Fällen geht es um die Zuordnung von Materien, die beide bundesrechtlich geregelt sind, unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Rechtsordnung. Hier können Probleme allenfalls daraus erwachsen, daß die unterschiedlichen Materien in die Zuständigkeit unterschiedlicher Gerichtsbarkeiten fallen. 15
16
GSG v. 21.12. 1992 (BGBl. I, S. 2477). Zum Meinungsstand Ebsen, VSSR 1996, 351 ff. 18 BVerfG v. 17.6.1999 - 1 BvR 2507/97 - SozR 3-2500 § 73 Nr. 3. 19 BSGE 80, 256 (dies ist eine inhaltlich übereinstimmende Parallelentscheidung zu dem konkret mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Urteil 6 RKa 58/96). 20 Siehe auch Wenner, GesR 2002, 1 ff. (2). 17
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haben Riedel/Derpa 21 auch nach dieser Kammerentscheidung dem Bundesgesetzgeber die Kompetenz zur Gestaltung haus- und fachärztlicher Versorgung in der geschehenen Weise bestritten. Während das erste Beispiel bundesrechtliche Beschränkungen von Handlungsspielräumen betrifft, welche das jeweilige Landesrecht 22 eröffnet, geht es bei den beiden folgenden Beispielen um die umgekehrte Tendenz. Die Heilberufegesetze der Länder enthalten beschränkende Regelungen, welche letztlich dazu dienen, im Interesse eines bestimmten an der „Freiberuflichkeit" ausgerichteten Berufsbildes die Praxis der Berufsausübung zu reglementieren. 23 Hier ist in den letzten Jahren viel in Bewegung geraten, wobei die wesentlichen Anstöße von der Rechtsprechung des BVerfG ausgegangen sind, welches solche Beschränkungen am Grundrecht der Berufsfreiheit gemessen hat und ähnlich wie bei anderen freien Berufen 24 - zunehmend strengere Anforderungen an die Rechtfertigung der Reglementierungen durchgesetzt hat. 25 Diese Entwicklung soll hier nicht vertieft werden. Allerdings gibt es insofern einen praktischen Zusammenhang, als die „Umsetzung" der Rechtsprechung des BVerfG in den Heilberufegesetzen und den Berufsordnungen auf Länderebene die Menge berufsrechtlicher Regulierungen, mit denen bundesrechtliche Öffnungen in Konflikt geraten könnten, erheblich reduziert hat. Dennoch bleiben Bereiche übrig, in denen der Konflikt zwischen den Gesetzgebungszuständigkeiten noch nicht dadurch beseitigt ist, daß die landesrechtlichen Beschränkungen freier Berufsausübung aufgehoben wurden. Das erste einschlägige Beispiel sind die Bestimmungen im SGB V, welche es ermöglichen, ambulante ärztliche Behandlung durch eine juristische Person, sogar eine GmbH, als Sachleistung der GKV zu erbringen, während dies jedenfalls in einigen Bundesländern berufsrechtlich restriktiver geregelt ist. Durch das GMG 2 6 wurde als neuer vertragsärztlicher Leistungserbringer das medizini-
21 Riedel/Derpa , Kompetenzen des Bundes und der Länder im Gesundheitswesen, 2002, S. 45 ff. 22 Genau genommen gibt es natürlich nicht „das" Landesrecht, sondern die Rechte der 16 Länder. Allerdings bemühen sich die Länder weitgehend um einigermaßen einheitliche berufsrechtliche Regelungen, welche ihrerseits den Ärztekammern ermöglichen, einheitliches an Musterregelungen der Bundesärztekammer - ihres Dachverbandes in Form eines nichteingetragenen Vereins - ausgerichtetes untergesetzliches Recht zu erlassen. 23 Dazu allgemein und auch zur Entwicklung des ärztlichen Berufsrechts Ratzel/Lippert , Kommentar zur Musterberufsordnung der deutschen Ärzte (MBO), 4. Aufl.
2006. 24
Siehe Jaeger, NJW 2004, 1492 ff.; Kleine-Cosack , DNotZ 2004, 327 ff.; Gaier , BRAK-Mitt 2006, 2 ff. 25 Sieh dazu etwa Quaas, MedR 2001, 34 ff.; Lorz, NJW 2002, 169 ff.; Jaeger, ArztuR 2002, 153 ff.; dies., SGb 2003, 31 Iff.; Kleine-Cosack, NJW 2003, 868 ff. 26 GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) vom 14.11.2003 (BGBl. I S. 2190).
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sehe Versorgungszentrum (MVZ) geschaffen (§ 95 Abs. 1 SGB V), welches eine fachübergreifende ärztlich geleitete Einrichtung ist, die nur von zugelassenen Leistungserbringern gegründet werden kann und in der die behandelnden Ärzte in das Arztregister eingetragen sein müssen. Diese M V Z können im Prinzip ebenso wie Vertragsärzte eine Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung erhalten. Mit diesem neuen Institut sind viele Unklarheiten verbunden, auf die hier nicht eingegangen werden soll. 27 Jedenfalls hat der Bundesgesetzgeber bestimmt, daß diese M V Z „sich aller zulässigen Organisationsformen bedienen" können, und ist aus der amtlichen Begründung ersichtlich, daß insbesondere auch an die Erbringung vertragsärztlicher Leistungen durch eine GmbH gedacht worden ist. 28 Demgegenüber ist zumindest noch im bayerischen Berufsrecht der Ärzte (Art. 18 Abs. 1 S. 2 Bay HKaG) 2 9 geregelt: „Die Führung einer ärztlichen Praxis in der Rechtsform einer juristischen Person des privaten Rechts ist nicht statthaft." Es gibt sicherlich Möglichkeiten, den inhaltlichen Widerspruch dieser Normen durch juristische Rabulistik wegzuinterpretieren. So könnte etwa erwogen werden, ob nicht die Führung einer ärztlichen Praxis von vornherein etwas anderes ist als die ambulante ärztliche Versorgung durch eine GmbH mit angestellten Ärzten. Auch könnte man die Einschränkung in § 95 Abs. 1 S. 3 SGB V, wonach die Organisationsformen „zulässig" sein müssen, als Verweisung auch auf das jeweilige Berufsrecht der Länder verstehen mit der Folge, daß der Gesetzgeber des SGB V akzeptiert habe, daß es in diesem - gerade auch im Zusammenhang mit der ebenfalls durch das GMG neu strukturierten integrierten Versorgung - zentralen Punkt der Reform der Versorgungsstrukturen keine einheitlichen Bedingungen gäbe. Jedoch ist eigentlich sehr klar: der Sinn des Rechtsformenverbots in Art. 18 BayHKaG ist es, die ambulante ärztliche Versorgung (außerhalb von Krankenhäusern, soweit diesen ambulante Versorgung erlaubt ist) auf die klassischen freiberuflichen Formen der Selbständigkeit, d.h. bei der Bildung von Gemeinschaften auf Personengesellschaften, zu beschränken. Und umgekehrt ist es der Sinn der Schaffung von M V Z und deren Öffnung für alle zulässigen Organisationsformen, genau dies anders
27 Siehe dazu etwa Fiedler/Weber, NZS 2004, 358 ff.; Wigge, MedR 2004, 123 ff.; Behnsen, K H 2004, 602 ff., 698 ff.; Ratzel, ZMGR 2004, 63 ff.; Rau, MedR 2004, 667
ff.; Altendorf er/Merk/Jensch,
Das Medizinische Versorgungszentrum, 2004; Zwin-
gel/Preißler, Das Medizinische Versorgungszentrum, 2005. 28 BT-Drs. 15/1525, S. 107: „Medizinische Versorgungszentren müssen fachübergreifend tätig sein. Medizinische Versorgungszentren können als juristische Personen, z.B. als GmbH oder als Gesamthandgemeinschaft (BGB-Gesellschaft) betrieben werden." 29 Bayerisches Heilberufe-Kammergesetz (HKaG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 6. Februar 2002 (GVB1 2002, S. 42), zuletzt geändert am 24.12.2005 (GVB1 2005, S. 665).
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zu regeln. 30 Da es hier primär um die Verfassungsfrage der Kompetenzüberschneidung geht, soll einfach diese Auslegung den weiteren Überlegungen zugrunde gelegt werden. In engem Zusammenhang mit dem Thema der M V Z stellt sich die Problematik der Organisation auch noch bei der schon erwähnten integrierten Versorgung nach §§ 140a ff. SGB V. 3 1 Nach diesen Vorschriften können anstelle der üblichen kollektivvertraglich geregelten und sektoral nach Leistungserbringergruppen getrennten Versorgung der GKV-Versicherten - das klarste Beispiel ist die vertragsärztliche Versorgung, bei welcher im Normalfall nicht die Vertragsärzte, sondern nur die KVen Vertragspartner der Kassen sind - unter bestimmten Voraussetzungen die Kassen direkt mit Leistungserbringern Verträge über die Versorgung ihrer Versicherten schließen, in welchen sie weitgehend vom sonst geltenden Leistungserbringungsrecht abweichen können und wodurch die hierdurch gewährleistete Versorgung an die Stelle des üblichen Systems tritt - auch hier wieder am deutlichsten bei der ambulanten ärztlichen Behandlung: „Soweit die Versorgung der Versicherten nach diesen Verträgen durchgeführt wird, ist der Sicherstellungsauftrag nach § 75 Abs. 1 eingeschränkt." (§ 140a Abs. 1 S. 2 SGB V) Vertragspartner der Kassen können nach dem etwas redundant formulierten § 140b Abs. 1 SGB V zugelassene Leistungserbringer einschließlich M V Z in beliebiger Kombination, Gemeinschaften derselben (also bereits vor dem Vertrag über integrierte Versorgung verbundene Leistungserbringer) und sogar Einrichtungen mit dem alleinigen Zweck des Anbietens integrierter Versorgung durch zugelassene Leistungserbringer sein, wobei all diese sich auch wieder zu einer Gemeinschaft zusammentun können, mit welcher dann der Vertrag über integrierte Versorgung geschlossen wird. Abgesehen von der Frage zulässiger Kooperationspartnerschaften ist auch bei der integrierten Versorgung ersichtlich, daß der Bundesgesetzgeber darauf abzielt, bei der Organisation der oder des als Vertragspartner der Krankenkasse auftretenden integrierten Versorger(s) möglichst viel Spielraum bestehen zu lassen. Zusätzlich zum MVZ, welches nach § 95 Abs. 1 S. 3 SGB V schon von allen Arten zugelassener Leistungserbringer gegründet und damit auch getragen werden kann, kommen hier juristische Personen in Betracht, welche andere Leistungserbringer als Mitglieder haben und Leistungen erbringen, in denen die ambulante ärztliche Behandlung Teil eines Gesamtangebots ist. So kommt beispielsweise in Betracht, daß Vertragsärzte mit einem Krankenhaus ein ambulante und stationäre Versorgung integrierendes Angebot machen, bei welchem eine ärztliche Praxis als solche nicht mehr vom Krankenhaus als Ort
30
Siehe auch Butzer, NZS 2005, 344 ff. (350 f.). Siehe dazu Quaas, VSSR 2004, 175 ff.; Kuhlmann, KH 2004, 417 ff.; Bohle (Hrsg.), Vertragsgestaltung in der integrierten Versorgung, 2005. 31
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stationärer Versorgung unterscheidbar ist. Ebenso kommt aber in Betracht, daß der integrierte Versorger ein Angebot aufrecht erhält, welches in seiner Örtlichkeit und seinen Betriebsabläufen einer typischen ärztlichen Praxis entspricht - etwa in einem dem Krankenhaus angegliederten Ärztehaus. Bei dieser Organisation - auch das ist im System integrierter Versorgung möglich - kann die Dachorganisation, welche im Außenverhältnis die Leistungen erbringt, eine von den Beteiligten getragene juristische Person sein. Auch dieses Modell dürfte nicht mit den bayerischen Vorschriften über die Führung einer ärztlichen Praxis vereinbar sein. Bereits mit den MVZ, noch mehr aber mit der integrierten Versorgung ist auch schon das dritte Beispiel für eine Überschneidung von GKVLeistungserbringungsrecht und ärztlichem Berufsrecht angesprochen, nämlich die Frage zulässiger Kooperationen von Ärzten mit anderen Berufsgruppen. Das M V Z setzt nach § 95 Abs. 1 S. 2 SGB V voraus, daß die ärztlich geleitete Einrichtung „fachübergreifend" ist. Das dürfte, auch wenn es strittig ist, noch auf allein ärztliche - und im Wege einer etwas erweiternden Interpretation zahnärztliche - Leistungserbringer zugeschnitten sein 32 , wobei lediglich das, was berufsrechtlich allenfalls erlaubt ist, nämlich die durch die Weiterbildungsordnungen gebildeten Fachgebiete überschreitende Kooperation, hier eine notwendige Zulassungsvoraussetzung ist. Darauf kommt es aber im hier behandelten Zusammenhang nicht an, denn jedenfalls mit der integrierten Versorgung nach §§ 140a ff. SGB V sollen gerade umfassende, keinen der im SGB V vorgesehenen Leistungserbringer ausschließende Kooperationen ermöglicht und befördert werden. Das ergibt sich klar daraus, daß § 140a Abs. 1 SGB V neben die „interdisziplinär-fachübergreifende Versorgung" (das ist dasselbe wie bei § 95 Abs. 1 S. 2 SGB V) auch die „verschiedene Leistungssektoren übergreifende Versorgung" stellt. Wie weit das gehen soll, wird auch an einer andern - etwas versteckten - Stelle gesagt. Nach § 129 Abs. 5b SGB V können nämlich Apotheken an vertraglich vereinbarten Versorgungsformen beteiligt werden. Und selbstverständlich hat man dabei vor allem an Verträge über integrierte Versorgung gedacht.33
32
Dazu Fiedler/Weber, NZS 2004, 358 ff. (359), die selber im Hinblick auf die Gesetzesmaterialien für eine noch weitere, auch alle anderen Leistungserbringer einbeziehende Struktur und Tätigkeit des M V Z plädieren. 33 Siehe die amtliche Begründung BT-Drs. 15/1525, S. 129: „Wie schon nach geltendem Recht stehen im Übrigen alle sonstigen zur Versorgung im System des SGB V zugelassenen Leistungserbringer und deren Gemeinschaften als potenzielle Vertragspartner eines Integrationsvertrages mit den Krankenkassen zur Verfügung. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf die neue Vorschrift des § 129 Abs. 5b SGB V, die für Apotheken (hierzu gehören auch Versandapotheken) nicht nur noch einmal ausdrücklich regelt, dass diese an Integrationsverträgen beteiligt werden können, sondern darüber hinaus konkrete Regelungen zu einer solchen Beteiligung der Apotheken vorsieht (vgl. auch Begründung zu § 129 Abs. 5b SGB V)."
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Diese Regelungen, die auch keinerlei verfahrensmäßige Beschränkungen der Selbstorganisation der Leistungserbringer als integrierte Versorger vorsehen, konfligieren in verschiedenen Hinsichten mit ärztlichem Berufsrecht. Zum Beleg dessen müßte eigentlich für jedes der 16 Länder das Gesetzesrecht und für jede der 17 Ärztekammern die jeweilige Berufsordnung durchgemustert und interpretiert werden. Da es hier nur um das Grundsatzproblem der Koordination von Bundes- und Landeskompetenzen geht, soll ein einfacherer Weg gewählt werden, nämlich ein Vergleich mit der als Vorlage für die Ärztekammern gedachten Musterberufsordnung in ihrer jüngsten, vom 107. Deutschen Ärztetag beschlossenen Gestalt (MBO). 3 4 Mit den umfassenden vom Bundesgesetzgeber auch so offen gewollten Gestaltungsformen der integrierten Versorgung können je nach Organisationsform des integrierten Versorgers und nach dem Inhalt des Vertrages folgende Bestimmungen der MBO in Konflikt geraten: - § 18 Abs. 4: Gewährleistung der freien Arztwahl (auch innerhalb der Kooperation; dem könnten zeitlich begrenzte Bindungen entsprechen, in welche der Versicherte durch Einschreibung eingewilligt hat); - § 19 Abs. 1: Notwendige Leitung einer Praxis durch den niedergelassenen Arzt (dies könnte bei einem integrierten Versorger mit Beteiligung eines Krankenhauses anders sein); - § 20 Abs. 1 S. 2: Vertretung nur durch einen Facharzt gleicher Fachrichtung; - §§ 23a und 23b: diverse Beschränkungen ärztlicher Kooperationen untereinander und mit anderen Berufsgruppen (konfligieren können jedenfalls die Regeln über die Binnenstruktur und die Gewinnbeteiligung nach § 23a Abs. 1 S. 2, die Begrenzung der Rechtsformen zulässiger Kooperationen in § 23b Abs. 1 S. 2, die weiteren inhaltlichen Vorgaben in § 23b Abs. 1 S. 3 Buchst, a (Eigenverantwortlichkeit und Selbständigkeit), b (Trennung der Verantwortungsbereiche), d (freie Arztwahl), e (Befugnis zur Heranziehung Externer). Vereinfachend lassen sich die möglichen Konfliktfelder dahingehend zusammenfassen, daß es gerade auch der Sinn der integrierten Versorgung ist, Strukturen, wie sie im Krankenhaus ausgebildet werden (u.a. von der ärztlichen Funktion getrennte Managementfunktion mit Führungsaufgaben, Arbeitsteilung und planvoller Einsatz der personellen Ressourcen, Tätigkeitsabläufe und Kooperationen nach einheitlichen, auch hierarchisch durchgesetzten Vorgaben), auch in die sonstigen Bereichen der Krankenbehandlung hineinzutragen, um Wirtschaftlichkeitsreserven zugunsten der Beteiligten (integrierte Versorger, Krankenkassen und - über Beiträge und Boni - Versicherte) auszuschöpfen. Aus diesem Grunde können die Bestimmungen über integrierte Versorgung ebensowenig wie diejenigen über die M V Z so ausgelegt werden, als gelte die
34
Siehe http://www.bundesaerztekammer.de/30/Berufsordnung/Mbopdf.pdf ; auch Ratzel/Lippert , MedR 2004, 525 ff.
dazu
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Ermächtigung zu den Kooperationen nur nach Maßgabe des jeweiligen Berufsrechts. Insgesamt zeigt die Einzelbetrachtung, daß es bei den gegenüber dem Berufsrecht „öffnenden", die Handlungsspielräume erweiternden bundesgesetzlichen Regelungen und ihrem Verhältnis zum ärztlichen Berufsrecht um einen noch tiefgreifenderen Konflikt geht als bei der Trennung von haus- und fachärztlicher Versorgung: Während das Berufsrecht bei allen dem Art. 12 Abs. 1 GG geschuldeten und auch als Reaktionen auf die sozialrechtlichen Veränderungen zu verstehenden Öffnungen doch an zentralen, die freiberufliche Eigenverantwortlichkeit sichernden und damit für die ambulante Versorgung das Berufsbild des niedergelassenen Arztes in freier Praxis gegen hierarchische Großorganisationen schützenden Regeln festhält, setzt das Sozialrecht gerade auf Vertragsfreiheit und Markt, um Effizienzgewinne auch solcher Organisationsformen für die ambulante Versorgung zu ermöglichen. Vor diesem Hintergrund kann die inhaltliche Offenheit der sozialrechtlichen Regelungen nicht als Offenheit gegenüber den begrenzenden Bestimmungen des Berufsrechts verstanden werden, sondern im Gegenteil als Offenheit für die Kreativität der Marktteilnehmer, welche wechselseitig in bisher auch berufsrechtlich abgeschottete Marktsegmente eindringen können sollen. Wegen des Unterschiedes zwischen dem ersten Beispiel und den beiden anderen Beispielen soll die verfassungsrechtliche Prüfung in zwei Abschnitten, nämlich einmal für die Regelungen über haus- und fachärztliche Versorgung und zum anderen gemeinsam für die Bestimmungen über M V Z und Kooperationen in integrierter Versorgung, durchgeführt werden. Für ersteres kann dabei weitgehend an früher angestellte Überlegungen 35 angeknüpft werden.
I I I . Ansätze für die Lösung von Kompetenzkonflikten im Überschneidungsbereich Auch wenn oben in Teil 1 der in der Rechtsprechung immer zugrundegelegten und in der Literatur systematisch entfalteten These von der „Beidseitigkeit" der föderalen Kompetenzordnung zugestimmt wurde, bleibt es angesichts der Grundvorschriften des Art. 31 und des Art. 70 Abs. 1 GG dabei, daß für die Lösung von Kompetenzkonflikten von der bundesgesetzlichen Regelung auszugehen ist. Soweit sie gilt, bricht sie entgegenstehendes Landesrecht nach Art. 31 GG, sofern dieses im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung nicht ohnehin nach Art. 72 Abs. 1 GG wegen fehlender Kompetenz zur Landesgesetzgebung aufgrund Gebrauchmachens von der Bundeskompetenz nichtig ist. 36 Auf die ohnehin vorwiegend theoretische Frage, ob bei Kompetenzkonflikten 7,5
Ebsen, VSSR 1996, 351 ff.
36
Zu letzterem im vorliegenden Zusammenhang Butzer, NZS 2005, 344 ff. (346).
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Art. 31 GG oder Art. 72 Abs. 1 GG zur Nichtigkeit von Landesrecht führt, kommt es hier schon deshalb nicht an, weil das mit dem Berufsrecht der Länder im Konflikt liegende Bundesrecht ohnehin nur beansprucht, für die GKVVersorgung zu gelten, also bei eigener Gültigkeit jedenfalls nicht generell zur Nichtigkeit des Berufsrechts führt. Jedenfalls ist Ansatzpunkt für die Auflösung des Normenkonflikts allein eine Prüfung der Gültigkeit des einschlägigen Bundesrechts. 1. Die Trennung von haus- und fachärztlicher Versorgung Die Vorschriften über die Trennung in haus- und fachärztliche Versorgung wurden, wie schon ausgeführt, sowohl vom BSG wie auch von einer Kammer des BVerfG auch unter Kompetenzgesichtspunkten für verfassungsgemäß gehalten. Dabei hat das BVerfG aber keinen Gedanken an das Verhältnis von Berufsrecht und Sozialversicherungsrecht verschwendet. Demgegenüber hat das BSG sich mit der Abgrenzung der Kompetenzthemen befaßt und letztlich darauf abgestellt, daß der Bundesgesetzgeber bei seiner Abgrenzung das berufsrechtliche Weiterbildungsrecht beachtet und daraus lediglich sozialversicherungsrechtliche Konsequenzen gezogen habe.37 Dies dürfte insofern etwas zu formal sein, als die berufsrechtlich geprägten Berufsbilder faktisch erheblich verändert werden. Für die Prüfung einfachen Bundesrechts am Maßstab der Kompetenzvorschriften des GG ist es wichtig, zwei Schritte analytisch zu unterscheiden, auch wenn sie in der konkreten Rechtsanwendung aufeinander bezogen bleiben, nämlich zum einen die Auslegung der verfassungsrechtlichen Kompetenznorm, welche gerade geprüft wird, und zum anderen die Qualifikation des zu prüfenden Bundesgesetzes im Hinblick auf die jeweilige Kompetenznorm. Als einschlägige Kompetenznorm kommt hier offenkundig allein Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG in Betracht. Weniger offensichtlich ist, ob das Leistungserbringungsrecht zur GKV - hier das Vertragsarztrecht - unmittelbar unter den Begriff der Sozialversicherung zu subsumieren ist oder ob es sich um einen Fall erweiternder Kompetenzbegründung unter dem Vorzeichen der Kompetenz kraft Sachzusammenhangs oder der Annexkompetenz38 handelt. In der gerade erwähnten Entscheidung des BSG und in der Literatur 39 wird angenommen, der Verfassungsbegriff der Sozialversicherung umfasse kraft Tradition jedenfalls das schon vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes in der RVO enthaltene 37
BSGE 80, 256 (259 f.). Auf den praktisch irrelevanten Unterschied zwischen diesen beiden - auch in der Literatur nur bildhaft als Erweiterung in die „Tiefe" (dann Annexkompetenz) und als Erweiterung in die „Breite" (dann Kompetenz kraft Sachzusammenhangs) unterschiedenen - Fällen kommt es nicht an; dazu Kunig , JURA 1996, 254 (257). 39 Engelmann , GesR 2004, 113 ff. (117). 38
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Kassenarztrecht (heute Vertragsarztrecht). Und in der Tat ist im Parlamentarischen Rat anläßlich der im Ergebnis negativen Debatte um die Frage, ob der Bund die Kompetenz für das „Arztrecht" haben solle, unwidersprochen festgestellt worden, das Kassenarztrecht gehöre jedenfalls und „selbstverständlich" in den Kompetenztitel der Sozialversicherung. 40 Dennoch sprechen systematische Gesichtspunkte dafür, den Bereich der Sachleistungserbringung - also die Beziehungen der Kassen (und ebenso auch anderer Sozialversicherungsträger) zu Leistungserbringern als einen, wenn auch besonders klaren, Fall der Kompetenz kraft Sachzusammenhangs anzusehen. Die Einbeziehung ist nämlich begründet wegen der in der Tat einleuchtenden Erforderlichkeit, das Leistungserbringungsrecht mit dem Leistungsrecht zusammen zu regeln, da beide Bereiche nach dem Grundkonzept der „Sachleistung" der Kassen gegenüber ihren Versicherten durch außenstehende „Leistungserbringer" aufeinander bezogen sein müssen.41 Dies ist aber genau die Kernargumentation für die Begründung einer Kompetenz kraft Sachzusammenhangs. Es ist auch praktisch nicht ganz irrelevant, die Kompetenz für das Leistungserbringungsrecht auf diese Weise zu begründen, weil dadurch immer der funktionale Bezug zum Leistungsrecht als Kernfeld des Kompetenztitels im Auge bleiben muß und bei dessen Fehlen auch die Kompetenzgrenze für das Leistungserbringungsrecht überschritten ist. Jedenfalls besitzt der Bund hier unstrittig und unproblematisch mit Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG einen Kompetenztitel auch für das Recht der GKV-Leistungserbringung. Folglich kommt es im ersten Beispielsfall nur darauf an, ob die Regelungen über die haus- und fachärztliche Versorgung einschlägig zu qualifizieren sind, ob es sich also in der Sache um Regelungen des Leistungserbringungsrechts handelt. Hier ist der Ort, um auf Besonderheiten einzugehen, die sich daraus ergeben, daß eine Regelung im Überschneidungsfeld von Kompetenztiteln liegt, die jeweils dem Bund (ausschließlich oder konkurrierend) und (ausschließlich) den Ländern zustehen. Und eine solche Überschneidung läßt sich hier nicht leugnen. Denn sowohl für die Allgemeinärzte als auch für solche Arztgruppen deren spezifische Qualifikationen sich aufgrund der Weiterbildungsregelungen mit denen von Allgemeinärzten erheblich überschneiden, stellt das Trennungssystem angesichts der überragenden Bedeutung der GKV gerade für diese Ärzte eine faktische Prägung eines Berufsbildes dar. Für derartige Überschneidungsfälle kann an frühere Überlegungen 42 angeknüpft werden, die dazu dienen, die häufig nur im Wege der Abwägung und 40
Vgl. JöR NF 1, S. 542 f. So auch genau die Begründung von Engelmann, a.a.O. für die Bundeskompetenz, die er allerdings als Teil der Kernkomptenz für die Sozialversicherung ansieht. 42 Ebsen, VSSR 1996, 351 ff. (356 f.); in dem Beitrag auch ausführlichere Darlegungen zu den folgenden, hier nur knapp wiedergegebenen Beurteilungen der untersuchten bundesgesetzlichen Vorschriften. 41
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insofern letztlich nur dezisionistisch zu beantwortende Frage nach dem „Schwerpunkt" einer Regelung43 zumindest zurückzudrängen. Zu unterscheiden ist im Hinblick auf ein zu qualifizierendes Gesetz, was es regelt und welche darüber hinausgehenden Folgen es bezweckt und auch hat. Dabei ist unter „Regelung" in diesem Kontext die Setzung von Rechtsfolgen zu verstehen, während es bei den darüber hinausgehenden Folgen um außerhalb der gesetzten Rechtsfolgen liegende Wirkungen geht. Grundsätzlich kommt es für die Qualifizierung einer Gesetzesbestimmung im Hinblick auf einen Kompetenztitel darauf an, was sie regelt. Sofern die Rechtsfolge in dem Bereich gesetzt wird, für den der Bundesgesetzgeber die Kompetenz hat, kann es grundsätzlich auch im Überlagerungsbereich von Bundes und Landeskompetenzen nicht darauf ankommen, ob weitere, außerhalb der gesetzten Rechtsfolgen eintretende Effekte auch Kompetenzgegenstände betreffen, die der Bund nicht regeln dürfte. Lediglich wenn erkennbar ist, daß es dem Bund auch gerade um solche Effekte geht, kommt es unter dem Aspekt des Kompetenzmißbrauchs auf sie an. Und hier kann es doch darauf ankommen, ob der Schwerpunkt bei der Regelung und bei den weiteren Effekten liegt. In Anwendung dieser Grundsätze ist, wie bereits in dem zitierten Beitrag ausgeführt, einigermaßen klar, daß die Regelungen über haus- und fachärztliche Versorgung in den Kompetenztitel Sozialversicherung fallen, da die Regelungen ausschließlich auf die Beziehungen der Kassen zu den Vertragsärzten gerichtet sind: Es geht allein darum, welche Leistungen jeweilige Ärztegruppen zu Lasten der GKV erbringen und abrechnen dürfen, welche Nebenpflichten insbesondere mit der hausärztlichen Versorgung verbunden sind und wie die Gesamtvergütung unter den Ärztegruppen zu verteilen ist. Hingegen wird nichts geregelt, was in irgendeiner Weise die sonstige Tätigkeit der Vertragsärzte betrifft oder was überhaupt Gegenstand berufsrechtlicher Regelungen der Länder sein könnte. Auch für einen Kompetenzmißbrauch ist hier kein Anhaltspunkt ersichtlich. Es geht dem Bundesgesetzgeber mit der Trennung zwar durchaus um eine Beeinflussung der Struktur der ambulanten Versorgung in Richtung auf eine „primärärztliche" Funktion der Hausärzte in dem Sinne, daß sie eine stärkere weichenstellende, dokumentierende und überflüssige Leistungen vermeidende Verantwortung für die sonstigen, insbesondere die fachärztlichen Leistungen haben. Diese Rolle ist inzwischen durch die für die Versicherten optionale hausarztzentrierte Versorgung nach § 73b SGB V noch deutlicher geworden als bei Schaffung des Trennungssystems von hausärztlicher und fachärztlicher Versorgung. Hiermit verfolgt der Gesetzgeber aber offensichtlich Ziele, die zum Bereich einer effizienten und damit auch wirtschaftlichen Ver-
43 Zu diesem Gesichtspunkt der Kompetenzabgrenzung in der Rechtsprechung des BVerfG siehe Cremer , ZG 2005, 29 ff. (33 ff.).
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sorgung der Versicherten und damit zum Kernbereich der Kompetenz für die Sozialversicherung gehören. 44 2. Die Regelungen zur Öffnung ambulanter ärztlicher Versorgung für juristische Personen und für umfassende Kooperationen Die oben skizzierten Bestimmungen über M V Z und über Kooperationen im Rahmen von integrierter Versorgung unterscheiden sich gegenüber den zuvor betrachteten und vielen anderen gegenüber dem Berufsrecht einschränkenden Bestimmungen dadurch, daß sie nicht zusätzliche - beschränkende - Voraussetzungen für die Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung und Vergütung normieren, sondern daß sie im Gegenteil für den Bereich der GKVVersorgung berufsrechtlich Verbotenes erlauben. Dies führt zwar dazu, daß das Grundrecht der Berufsfreiheit auf der Seite der bundesgesetzlichen Regelungen streitet. Sofern aber einschränkende landesrechtliche Bestimmungen als Beschränkungen der Berufsfreiheit gerechtfertigt sind, führt es zu einer kompetenzrechtlich heikleren Situation. Butzer 45 hat für diesen Unterscheid das Bild verwendet, daß im einen Fall (hier dem der Zusatzanforderung der Einordnung entweder in die hausärztliche oder in die fachärztliche Versorgung) der Gesetzgeber gewissermaßen im Eingang zur vertragsärztlichen Versorgung eine zusätzliche Zugangssperre zu dem in seine Kompetenz fallenden Regelungsbereich errichtet, während er im anderen Fall (Butzer befaßt sich insbesondere mit den MVZ) bereits im Vorfeld der Einlaßkontrolle tätig werde. Das Heikle der gegenüber dem Berufsrecht befreienden Regelungen läßt sich auch in den hier verwendeten analytischen Kategorien darlegen. Man kann nämlich nicht sagen, daß der Bundesgesetzgeber hier nur deshalb, weil auch diese Vorschriften lediglich Geltung beanspruchen, soweit es um die Einbeziehung von Leistungserbringern in die GKV-Versorgung geht, wirklich allein das Leistungserbringungsrecht in dem Sinne regelt, daß er dort die Rechtsfolgen setzt.46 Wenn man der oben begründeten Auslegung des einschlägigen Bundesrechts folgt, normiert der Bundesgesetzgeber, daß bestimmte Aktivitäten, welche der berufsrechtlich zuständige Landesgesetzgeber generell verboten hat, unter bestimmten Voraussetzungen, zu denen die Teilnahme an der GKVVersorgung gehört, erlaubt sind. Dadurch daß die Teilnahme an der GKV-
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Aus diesem Grunde ist selbst dann der Ansicht von Riedel/Derpa (Fn. 21) nicht zu folgen, wenn man wie diese einen Vorrang der Qualifikation nach dem Gegenstand der Regelung ablehnt, und von vornherein auf den Zweck des Gesetzes abstellt. 45 Butzer, NZS 2005, 344 (347). 46 Dies ist auch ein Einwand gegen die Kritik von Riedel/Derpa (Fn. 21), S. 51, mit dem vorrangigen Abstellen auf die Frage, wo die Rechtsfolgen gesetzt werden, würde dem Bundesgesetzgeber Tür und Tor geöffnet, jede Regelung auf dem Gebiet des Arztrechts zu erlassen, sofern sie nur formal auf die Vertragsärzte beschränkt bleibe.
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Versorgung eine Voraussetzung für die Erlaubtheit des berufsrechtlich Verbotenen ist, verwandelt sich die gesetzte Rechtsfolge, nämlich das partielle Außerkraftsetzen des berufsrechtlichen Verbots, nicht ohne weiteres in eine zum Leistungserbringungsrecht der GKV gehörende Materie. Damit ist allerdings die Prüfung der Bundeskompetenz noch nicht mit negativem Ergebnis am Ende. Zu prüfen ist nämlich, ob nicht ebenso wie eine Regelung im eigenen Kompetenzfeld, wegen Kompetenzmißbrauchs aufgrund außerhalb des Kompetenzfeldes verfolgter Zwecke verfassungswidrig sein kann, eine Regelung außerhalb des eigenen Kompetenzfeldes dann kompetenzgemäß sein kann, wenn die Zwecke, um die es geht, ihrerseits im Kompetenzfeld liegen und hinreichend wichtig oder zwingend sind. Das ist genaugenommen ein Unterfall der Kompetenzausweitung kraft Sachzusammenhangs. Es geht also um die Frage, ob die Ziele, die mit den Öffnungen bestimmter Organisationsformen und Kooperationen für die GKV-Leistungserbringung verfolgt werden, so wichtig und so untrennbar mit ihr verbunden sind, daß nach den Grundsätzen für die Kompetenzerweiterung kraft Sachzusammenhangs oder als Annex eine Kompetenzerweiterung zu akzeptieren ist. Damit kommt die Prüfung gemäß der obigen Unterscheidung von Verfassungsauslegung der Kompetenzgrundlage und Qualifikation der zu prüfenden Norm wieder zurück auf die erstere Stufe. Und ausgehend von der oben begründeten Annahme, bereits das Leistungserbringungsrecht sei ein Bereich der Kompetenz kraft Sachzusammenhangs geht es hier um die Ausweitung einer Kompetenz kraft Sachzusammenhangs erneut kraft Sachzusammenhangs. Daß dies heikel ist, leuchtet ein. Allerdings gibt es gute Gründe für eine derartige Kompetenzausweitung. Hierfür kann auf die obige zusammenfassende Charakterisierung der Ziele von M V Z und integrierter Versorgung (und übrigens auch weiterer Instrumente für die Verstärkung von Wettbewerbsstrukturen im Leistungserbringungsrecht) verwiesen werden, die Bedingungen der Leistugnserbringung in der GKV und das bedeutet notwendigerweise immer auch: die dominanten regulativen Strukturen des Gesundheitssystems - so umzugestalten, daß sich im Markt, d.h. in wettbewerblichen Suchprozessen, die faktischen Versorgungsstrukturen herausbilden, welche am effizientesten, also in Abwägung von Kosten und Nutzen am günstigsten sind. Wenn der Bundesgesetzgeber hier der Auffassung ist, unverzichtbar seien die Öffnung von bisherigen sektoralen Grenzen zwischen Leistungserbringern, frei ausgehandelte Kooperationen unter denselben und die Öffnung für Rechtsformen, die größere, die Ausdifferenzierung von Management ermöglichende Organisationen begünstigen, so ist das seine im demokratischen Prozeß zu verantwortende politische Entscheidung. Bei Zugrundelegung dieser Entscheidung, dürfte dann die Unverzichtbarkeit der betrachteten Eingriffe in die Kompetenz des Landesgesetzgebers für das ärztliche Berufsrecht ebenso einleuchten wie der untrennbare Zusammenhang der getroffen Regelungen mit dem Leistungserbringungsrecht. Insofern lassen sich auch diese Regelungen als kompetenzgemäß rechtfertigen.
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Verallgemeinernd läßt sich folgendes Fazit ziehen: Ebenso wie sich das Leistungserbringungsrecht im Sachleistungssystem wegen Unverzichtbarkeit und Untrennbarkeit der Kompetenz für die Sozialversicherung zuordnen läßt, kann die Reglung der grundlegenden Versorgungsstrukturen des Gesundheitssystems wegen Unverzichtbarkeit und Untrennbarkeit ihrerseits dem Leistungserbringungsrecht der GKV zugeordnet werden. Zur Ebene der Qualifikation des jeweiligen Gesetzesrechts gehört dann die Prüfung, ob es wirklich um so grundlegende Gestaltungen der Versorgungsstrukturen geht, daß die Zuordnung gerechtfertigt ist.
Wirtschaftlichkeits- und Wirksamkeitsprüfungen von Pflegeleistungen aus sozial- und verfassungsrechtlicher Perspektive Von Gerhard Igl
I. Wirtschaftlichkeit öffentlichen Haushaltsgebarens Wenn die öffentlichen Hände Geld ausgeben, soll dies wirtschaftlich und sparsam geschehen. So bestimmt es die Bundeshaushaltsordnung in § 7 für die Aufstellung und Ausführung des Haushaltsplanes. Die Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes muss sich daraufhin prüfen lassen, ob wirtschaftlich und sparsam verfahren worden ist (§ 90 Nr. 3 BHO). Gleiche Vorschriften gelten für die Länder (§ 6 Abs. 1 HGrG) und für die Haushaltsgestaltung der Sozialversicherungsträger (§ 69 Abs. 2 SGB IV). 1 Am häufigsten wird wirtschaftliches Handeln in den Sozialleistungsgesetzen gefordert. Das Ausgabenvolumen für die Erbringung von Gesundheitsleistungen legt dieses gerade für die Kranken- und Pflegeversicherung nahe. So findet in der Gesetzlichen Krankenversicherung (SGB V) das Wort Wirtschaftlichkeit über 150mal Erwähnung.2 Etwas sparsamer geht der Gesetzgeber der Sozialen Pflegeversicherung (SGB XI) mit der Verwendung der Begriffe „wirtschaftlich" bzw. „Wirtschaftlichkeit" um: Er belässt es hier bei knapp 40maliger Verwendung. Wie im SGB V steht auch im SGB X I der Begriff der Wirtschaftlichkeit meist im Zusammenhang mit der Leistungserbringung. Dies kommt in den das Wirtschaftlichkeitsprinzip allgemein formulierenden Vorschriften des § 2 Abs. 4 SGB V und § 4 Abs. 3 SGB X I zum Ausdruck. Die nachfolgende Untersuchung beschränkt sich auf diesen Zusammenhang von Leistungserbringung und Wirtschaftlichkeitsprinzip.
1 Zum Wirtschaftlichkeitsgrundsatz im Zusammenhang des Haushaltsrechts s. etwa Paul Kirchhof, Die Steuerung des Verwaltungshandelns durch Haushaltsrecht und Haushaltskontrolle, NVwZ 1983, S. 505-515; v. Mutius, Die Steuerung des Verwaltungshandelns durch Haushaltsrecht und Haushaltskontrolle, VVDStRL 42 (1984), S. 147-215 (zum Wirtschaftlichkeitsprinizip S. 177). 2 Nur zum Vergleich: Das Wort „Gesundheit" kommt im SGB V 140mal vor, davon allerdings 129mal in der Benennung des Bundesministeriums für Gesundheit.
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I I . Wirtschaftlichkeits- und Wirksamkeitsprüfungen in der Pflegeversicherung In der Pflegeversicherung wird schon in den Allgemeinen Vorschriften der Begriff der Wirtschaftlichkeit mit dem der Wirksamkeit verbunden (§ 4 Abs. 3 SGB XI). Gleiches besagt § 29 Abs. 1 SGB X I in den Gemeinsamen Vorschriften für das Leistungsrecht. Damit wird Effektivität (Wirksamkeit) und Effizienz (Wirtschaftlichkeit) bei den Leistungen und in der Leistungserbringung verlangt. Die Wirtschaftlichkeit und die Wirksamkeit der Pflegeleistungen können von den Landesverbänden der Pflegekassen durch von ihnen bestellte Sachverständige überprüft werden (§ 79 Abs. 1 SGB XI). Rechtlich gesehen findet man auf der Tatbestands- oder Voraussetzungsseite dieser Vorschrift zwei unbestimmte Rechtsbegriffe: Wirtschaftlichkeit und Wirksamkeit. Auf der Rechtsfolgen- oder Handlungsseite besteht Ermessen der Landesverbände. Damit ist eingroßer Interpretationsspielraum eröffnet. Zu beginnen ist mit der systematischen Verortung der Wirtschaftlichkeitsund Wirksamkeitsprüfungen. Mit diesen befindet man sich im Leistungserbringungsrecht des SGB XI. Das Leistungserbringungsrecht stellt im deutschen Sozialrecht einen Balanceakt des Sozialgesetzgebers dar. 3 Es geht darum, die Balance zu finden zwischen einem rein staatlichen Gesundheitswesen mit Leistungserbringern, die Staatsbedienstete oder staatliche Institutionen sind, und einem gänzlich marktliberalen Gesundheitswesen, in dem die Leistungserbringer als private Anbieter von Gesundheitsleistungen agieren und in dem die Versicherten von einer Krankenversicherung - egal ob privat oder öffentlich Kostenerstattung nach Versicherungstarifen für die in Anspruch genommenen Leistungen erhalten. 4 Dieser Balanceakt wird bewältigt, indem auf der einen Seite das den privaten Markt beherrschende Prinzip des Vertrages die Beziehung zwischen den öffentlich-rechtlichen Kassen und den dem Marktgeschehen angehörenden Leistungsanbietern regelt; auf der anderen Seite gibt der Gesetzgeber per Gesetz, also einem Rechtsinstrument des Staates, teilweise ziemlich detailliert vor, wie diese Verträge zu gestalten sind. Dieses ausbalancierte System hat neben etlichen Vorteilen auch Nachteile für die Leistungserbringer. Die Träger von Pflegeeinrichtungen haben aber nur in dem vergleichsweise schmalen Sektor der Selbstzahler die Wahl, sich von den Anforderungen des SGB X I zu lösen. In der Regel sind die Erbringer von Pflegeleistungen darauf angewiesen, Leis-
3 Allgemein hierzu Schmitt, Leistungserbringung durch Dritte im Sozialrecht, Köln 1997. 4 Zu den Optionen Hans F. Zacher, Sozialstaat und Gesundheitspolitik, in: Naegele/ Igl (Hrsg.), Perspektiven einer sozialstaatlichen Umverteilung im Gesundheitswesen, 1999, S. 163-164 (156 ff.).
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tungsberechtigte der Sozialen Pflegeversicherung zu betreuen. Von den betuchten Selbstzahlern können nur vergleichsweise wenige Einrichtungen leben.5 Zu den Anforderungen des SGB X I an Pflegeeinrichtungen gehören auch die Wirtschaftlichkeits- und Wirksamkeitsprüfungen der ambulanten, teilstationären und stationären Pflegeleistungen (§ 79 SGB XI). Solche extern angeordneten Wirtschaftlichkeits- und Wirksamkeitsprüfungen sind nur in einem Pflegeleistungssystem denkbar, das unter staatlicher Verantwortung steht. Bei einem nur den Marktgesetzen gehorchendem System wäre eine extern, d.h. hoheitlich angeordnete Wirtschaftlichkeitsprüfung bei Leistungserbringern nicht mehr notwendig. Der Markt nimmt die Wirtschaftlichkeitsprüfung indirekt über die Akzeptanz von Preis und Leistung und Leistungsqualität vor. 6 Dass eine interne, d.h. innerbetrieblich angeordnete Wirtschaftlichkeitsprüfung trotzdem wichtig und sinnvoll ist, versteht sich von selbst. Und dass in staatlich regulierten Einrichtungen die Wirtschaftlichkeitsprüfung viel zu lange nicht existent war oder versagt hat, konnte man lange Zeit an der wirtschaftlichen Situation öffentlicher Krankenhäuser ablesen. Mit anderen Worten: Es gibt keine Gesundheitssystemgestaltung, in der eine Wirtschaftlichkeitsprüfung des unternehmerischen Verhaltens von Leistungsanbietern von Hause aus sinnlos wäre. Die Frage ist nur, ob sie extern, also von außerhalb des Unternehmens, oder intern, also innerbetrieblich, angeordnet wird.
I I I . Inhalt und Funktion der Begriffe Wirtschaftlichkeits- und Wirksamkeitsprüfung 1. Allgemeines: Wirtschaftlichkeit und Wirksamkeit als rechtliche und als betriebswirtschaftliche Begriffe Wirtschaftlichkeits- und Wirksamkeitsprüfungen stellen ein externes Kontrollinstrument im Leistungserbringungsrecht dar. In der Gesetzlichen Krankenversicherung ist eine Wirtschaftlichkeitsprüfung in der vertragsärztlichen Versorgung (§ 106 SGB V) und bei der Krankenhausbehandlung (§113 SGB V) vorgesehen. Die Wirtschaftlichkeitsprüfung nach § 79 SGB X I ist der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach § 113 SGB V nachgebildet.7 Die Rahmenverträge auf Landesebene regeln auch die Verfahrens- und Prüfungsgrundsätze für Wirtschaftlichkeitsprüfungen - von Wirksamkeitsprüfungen ist nicht die Rede (§ 75 5
Leider enthalten die pflegestatistischen Erhebungen des Statistischen Bundesamtes auf Grundlage der Pflegestatistik-Verordnung keine Angaben über den Anteil der Selbstzahler bei den Pflegeeinrichtungen. S. auch den Bericht Pflegestatistik 2003 des Statistischen Bundesamtes, Bonn 2005. 6 Eine Begrenzung bildet aber die Forderung nach der Angemessenheit von Entgelt und Leistungen nach § 5 Abs. 7 Satz 1 HeimG, s. hierzu Igl, in: Dahlem/Giese/Igl/Klie, Heimgesetz, § 5 Rz. 19 ff. 7 So auch Spellbrinck, in: Hauck/Noftz, SGB XI, К 79, Rn. 3.
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Abs. 3 Nr. 7 SGB XI). Der Inhalt der Verträge wird durch Empfehlungen auf Bundesebene vorgeprägt (§ 75 Abs. 6 SGB XI). 8 Der Unterschied zwischen den beiden Prüfarten - Wirtschaftlichkeit und Wirksamkeit - kann darin gesehen werden, dass bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung die effiziente Verwendung von Geld zur Leistungserstellung geprüft wird; bei der Wirksamkeitsprüfung geht es darum, welche Wirkungen mit den Leistungen beim Versicherten, also beim Verbraucher oder Nutzer erzeugt werden. So gesehen stehen Wirtschaftlichkeitsprüfung und Wirksamkeitsprüfung in einem logischen Zusammenhang. In der Parallelvorschrift des § 113 Abs. 1 Satz 1 SGB V wird zwar nicht von einer Wirksamkeitsprüfung gesprochen, sondern von der Prüfung der Wirtschaftlichkeit, Qualität und Leistungsfähigkeit der Krankenhausbehandlung. Man wird aber die Qualität und Leistungsfähigkeit mit der Wirksamkeit gleichsetzen können. Die Begriffe Wirtschaftlichkeit und Wirksamkeit sind unbestimmte Rechtsbegriffe. Weder das SGB X I selbst, noch die Verwendung der Begriffe in anderen Sozialleistungsgesetzen, so hier vor allem im SGB V, noch die konkretisierenden Rahmenverträge und die diese prägenden Empfehlungen auf Bundesebene enthalten fassbare Hinweise auf den Inhalt dieser unbestimmten Rechtsbegriffe. Die rechtswissenschaftliche Literatur zu diesem Themenbereich ist mit wenigen Ausnahmen9 - sehr zurückhaltend und beschränkt sich entweder auf Verfahrensfragen 10 oder geht auf die verfassungsrechtlichen Implikationen ein. 11 Erst mit der betriebswirtschaftlichen Dissertation von Johannes Zacher ist es gelungen, Licht in das von Juristen bisher nicht aufgehellte Dunkel der Begrifflichkeit zu bringen. 12
8 Gemeinsame Empfehlungen gemäß § 75 Abs. 5 SGB X I zum Inhalt der Rahmenverträge nach § 75 Abs. 1 SGB X I zur vollstationären Pflege vom 25. November 1996. 9 Eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Wirtschaftlichkeitsprinzip findet sich bei Luthe, Optimierende Sozialgestaltung. Bedarf - Wirtschaftlichkeit - Abwägung, Tübingen 2001, S. 266-292, 319-424, speziell zum SGB X I S. 261-266. 10 So vor allem Teile der Kommentarliteratur: Spellbrinck, in: Hauck/Noftz, SGB XI, К 79, Rn. 1 ff.; Leitherer , in: KassKomm, § 79 SGB XI. Wenig aussagekräftig zur Begrifflichkeit auch Neumann, in: Schulin Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 4 Pflegeversicherungsrecht (HS-PV), München 1997, § 21 RdNr 114 ff. sowie - zu §113 SGB V - Heinze , in: Schulin Handbuch des Sozialrechtsversicherungsrechts, Bd. 1 Krankenversicherungsrecht (HS-KV), München 1994, § 38 RdNr 104 ff. Selbst die umfassende Schrift von Rixen , Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, Tübingen 2005, S. 293 f., enthält für den Bereich des SGB V hierzu keine präzisierenden Ausführungen. 11 Klie, in: Soziale Pflegeversicherung - Lehr- und Praxiskommentar (LPK-SGB XI), 2. Aufl., 2003, Baden-Baden, 2003, § 79, Rn. 4; Udsching , SGB XI, 2. Aufl., München 2000, § 79, Rn. 3. 12 S. die von Pf äff, Augsburg, betreute Dissertation von J. Zacher, Wirtschaftlichkeit in der Pflege. Theorien - Absichten - Prüfung. Freiburg im Breisgau, 2003.
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Auch wenn die Begriffe Wirtschaftlichkeit und Wirksamkeit unbestimmte Rechtshtgniit sind, wird man für eine erste Bestimmung auf die Bereiche zurückgreifen müssen, in denen diese Begriffe herkömmlich verwendet werden. Diese Bereiche sind die Betriebswirtschaft und die Lehre von der Betriebswirtschaft. Die Wirtschaftswissenschaften liefern eine knappe und eingängige Begriffsbestimmung. Wirtschaftlichkeit wird als das Verhältnis von Aufwand zu Ertrag oder von Kosten zur Leistung definiert, wobei zwischen dem Minimal- und dem Maximalprinzip unterschieden wird. Ersteres steht für geringstmöglichen Einsatz von Produktionsfaktoren bei gegebenem Güterertrag, letzteres für die Erzielung eines größtmöglichen Güterertrags bei gegebenem Aufwand an Produktionsfaktoren. 13 Bei der Produktion von sozialen Dienstleistungen könnte dann das Minimalprinzip für das in den Sozialleistungsgesetzen aufgeführte Wirtschaftlichkeitsprinzip stehen, also um bestmögliche Ergebniserzielung bei geringstmöglichem Mitteleinsatz. Da das Ergebnis gesetzlich vorgegeben ist, käme es demnach nur auf den Mitteleinsatz an. 14 Der Begriff der Wirksamkeit wird als Grad der Zielerreichung definiert, in dem die Leistungen die beabsichtigten Wirkungen erreichen. 15 Im Neuen Steuerungsmodell der Kommunalverwaltung, in dem zwischen Output (= Leistung der Verwaltung) und Outcome (= erwünschte Wirkung) unterschieden wird, 16 würde die Wirksamkeit dem Outcome entsprechen. In der Medizin wird Wirksamkeit als Wirkung geplanter Interventionen definiert. 17 Die methodischen Voraussetzungen zur Messung sind: 18 - Eine evidenzbasierte Intervention für ein definiertes Problem oder Potenzial. Wie schwierig diese zu erzeugen sind, zeigen die jahrelangen Bemühungen bei der Erstellung von Leitlinien, Richtlinien oder „Experten"-Standards. - Eine Implementierung der evidenzbasierten Interventionen in den beruflichen Routinealltag (ärztlich wie pflegerisch und sozialpflegerisch). Hier zeigt sich, dass Wirksamkeit nur dann über die gesamte Versorgungskette gedacht und angestrebt werden kann, wenn der Anspruch auf Nachhaltigkeit, 13
S. Stichwort „Wirtschaftlichkeitsprinzip", in: Dichtl/Issing (Hrsg.), Vahlens Großes Wirtschaftslexikon, München 1994. 14 So Neumann/Bieritz-Harder, Die leistungsgerechte Pflegevergütung (wie Fn. 10). Schon vorher für das Sozialhilferecht Neumann, Freiheitsgefährdung im kooperativen Sozialstaat, Köln 1992, S. 126. Sinngemäß auch Heinze , Die Vergütung von Einrichtungen und Diensten nach SGB X I und BSHG, in: Köbl/Brünner (Hrsg.), Die Vergütung von Einrichtungen und Diensten nach SGB X I und BSHG, Baden-Baden 2001, S. 91-93 (91). 15 Online Verwaltungslexikon www.olev.de. 16 WieFn. 15. 17
S. etwa Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit
im Gesundheitswesen (IQWiG),
Methoden, Version 1.0 vom 1. März 2005, S. 36 (www.iqwig.de). 18 Diese Hinweise verdanke ich Frau Mona Frommelt , Direktorium (Projekte) der Hans-Weinberger-Akademie der Arbeiterwohlfahrt e.V., Case Management im Praxisnetz Nürnberg Nord e.V., wissenschaftliche Mitarbeiterin im EU Projekt CareKeys.
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positive gesundheitsökonomische Effekte und nicht zuletzt auf die Lebensqualität der Betroffenen erhoben wird. - Die Erzeugung von Indikatoren (validen und reliablen) zur Messung der erzielten Wirkung (Wirksamkeitsindikatoren =outcomes). - Die Erzeugung von Verfahren zur Prüfung (standardisiert und strukturiert und auf der Grundlage valider und reliabler Daten) von Wirksamkeit. Für die Pflege, insbesondere für die Langzeitpflege, besteht das Phänomen, dass Interventionen in einem komplexen, multifaktoriellen, interdisziplinären und sektorenübergreifenden Kontext gesetzt werden. Deshalb ist es schwierig, outcomes (in Form von Wirksamkeiten oder Qualitätsindikatoren) kausal mit dem Handlungsrahmen einer Profession zu verknüpfen. Am Beispiel der Entstehung oder Vermeidung von Stürzen ist zu sehen, dass ihr Ergebnis (outcome) nicht eindeutig einer Intervention bzw. deren geplanter Wirkung zuzuschreiben ist. 2. Präzisierung: Wirksamkeit von Pflegeleistungen Nach diesem ersten betriebswirtschaftlich und verwaltungswissenschaftlich gestützten Zugriff auf die inhaltliche Bestimmung der Rechtsbegriffe Wirtschaftlichkeit und Wirksamkeit stellt sich die weitere Frage nach dem Zusammenhang von Wirtschaftlichkeit und Wirksamkeit. Die sozialrechtliche Literatur hierzu ist wiederum wenig ergiebig. In der Regel wird nur von der Wirtschaftlichkeitsprüfung gesprochen. 19 Wirtschaftlichkeit ist aber das Prinzip, mit dem gesichert werden soll, dass die Wirksamkeit der Leistungen nicht nur überhaupt erreicht wird, sondern auch mit wenigen Mitteln erreicht wird. 20 Damit gilt: Ohne Wirksamkeitsprüfung keine Wirtschaftlichkeitsprüfung. Die Wirksamkeitsprüfung ist die Voraussetzung für eine Wirtschaftlichkeitsprüfung. Wirksamkeit als Abgleich von Erreichtem mit Zielen bedingt die Existenz von Zielen. Erst dann kann man prüfen, ob der finanzielle Mitteleinsatz zur Erreichung dieser Ziele effizient ist. Welche Ziele liegen der Wirksamkeit von Pflegeleistungen zugrunde? Da die Wirksamkeit von Pflegeleistungen, die eine bestimmte Einrichtung erbringt, zu prüfen ist, liegt es nahe, die von der Einrichtung gegebene Leistungsbeschreibung im Versorgungsvertrag (§ 72 Abs. 1 Satz 2 SGB XI) sowie nach der Leistungs- und Qualitätsvereinbarung (§ 80a Abs. 2 SGB XI) zugrunde zu legen.21 Ein Blick in die Praxis solcher vertraglichen Festlegungen zeigt jedoch sehr schnell, dass diese in der Regel nicht geeignet sind, als alleinige Zielbe19
S. die in Fn. 10 zitierte Literatur.
20
J. Zacher (Fn. 12), S. 47. So Neumann/Bieritz-Harder
21
(Fn. 14), S. 32.
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Schreibung für die Bestimmung der Wirksamkeit zu dienen. Diese Vereinbarungen stecken meist nur den Leistungsrahmen ab und geben Hinweise auf den zu versorgenden Personenkreis. Die Versorgungsverträge sind generell sehr unspezifisch gehalten. Die auf den Versorgungsverträgen aufsetzenden Leistungs- und Qualitätsvereinbarungen sollten nach dem Willen des Gesetzgebers die Einrichtungsspezifik und die dementsprechend abgestimmten Leistungen beschreiben. In der Praxis konnte dies jedoch weitgehend nicht geleistet werden. 22 Taugliche Instrumente zur Bestimmung der Ziele der Leistungserbringung können daher weder im Versorgungsvertrag noch in der Leistungsund Qualitätsvereinbarung gesehen werden. Trotzdem müssen diese Vereinbarungen als Grundlage herangezogen werden. Sie bedürfen aber der Vervollständigung in zwei Richtungen: Zum einen geht es um die Einordnung der Wirksamkeit der erbrachten bzw. zu erbringenden Pflegeleistungen im Verhältnis zum Pflegeerfolg. 23 Zum anderen sind die die Pflegeleistungen leitenden allgemeinen Zielsetzungen mit einzubeziehen.24 Die Einordnung der Wirksamkeit der erbrachten bzw. zu erbringenden Pflegeleistungen im Verhältnis zum Pflegeerfolg ist deswegen besonders herauszustellen, weil die Pflegeversicherung keine den Pflegebedarf voll abdeckenden Leistungen vorsieht. Eine isolierte Wirksamkeit der von einer ambulanten, teilstationären oder stationären Einrichtung erbrachten Leistungen kann es aber nicht geben, selbst wenn das durch die Pflegeversicherung abgedeckte Leistungssegment in der Regel nur einen Ausschnitt aus dem abzudeckenden individuellen Leistungsbedarf darstellt. 25 Johannes Zacher schlägt vor, 26 bei der individuell zu gestaltenden Pflegeaufgabe zu unterscheiden zwischen den unmittelbaren und den mittelbaren Leistungen der Pflegeversicherung. Zu den unmittelbaren Leistungen gehören die von der Pflegeversicherung finanzierten Leistungen, zu den mittelbaren Leistungen diejenigen Leistungsanteile, die im Rahmen der Höchstbeträge nicht mehr finanziert werden oder die leistungsrechtlich überhaupt nicht mehr erfasst sind (so die Unterkunft und Verpflegung bei der vollstationären Pflege). Zu den mittelbaren Leistungen gehören auch die Beratung, die Unterstützung von Angehörigen etc. Nur im Zusammenwirken dieser drei Komponenten kann die individuelle Pflegeaufgabe erfüllt und damit auf ihre Wirksamkeit hin überprüft werden.
22 Dies hat eine noch nicht veröffentlichte Untersuchung zu den Entbürokratisierungspotenzialen in der Pflege ergeben, die vom iSPO-Institut Saarbrücken in Zusammenarbeit mit Gerhard Igl und Ursula Mybes für das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erstellt worden ist. S. auch das Papier des Runden Tisches Pflege - Arbeitsgruppe 3 Entbürokratisierung, S. 30, www.bmfsj.de.
23 24 25 26
J. Zacher (Fn. 12), S. 30 ff. J. Zacher (Fn. 12), S. 35 ff. J. Zacher (Fn. 12), S. 33. J. Zacher (Fn. 12), S. 31 ff.
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An dieser Stelle ist nochmals auf die Bedeutung der Versorgungskette hinzuweisen.27 Sämtliche Pflegeinterventionen sind in ihrer Bedarfsfindung, Zielund Maßnahmenplanung, Durchführung wie auch in ihrem Ergebnis abhängig - vom zu Pflegenden/Klienten (Pflege entsteht in der Koproduktion zwischen mindestens dem Klienten und der Pflegekraft), - den verordnenden und kostentragenden Instanzen (Ärzte, Kassen), - und den diese Verordnungen Ausführenden, - bis hin zum Ergebnis. Das Ergebnis und die zu bildenden Indikatoren entstehen auf mehreren Ebenen: beim Klienten, beim Leistungserbringer und beim Kostenträger und nicht zuletzt auf einer gesundheitsökonomischen Metaebene. Interventionen wirken also in einer Versorgungskette, was zur Folge hat, dass Wirksamkeit ebenfalls über die Versorgungskette entsteht und abgebildet werden muss. Die über das RAI (Resident Assessment Instrument) 28 erzeugten und vergleichbaren Qualitätsindikatoren belegen dies sehr eindrücklich. Die allgemeinen Zielsetzungen, an denen die Pflegeleistungen auszurichten sind, können dem Grundgesetz (Menschenwürde) und den in den Allgemeinen Vorschriften des SGB X I (Erstes Kapitel des SGB XI) genannten Grundsätzen entnommen werden. Diese allgemeinen Vorschriften können unterteilt werden in Vorschriften, die sich direkt oder indirekt auf das Leistungsrecht auswirken, und in Vorschriften, die die an der pflegerischen Versorgung Beteiligten betreffen. Zu den ersteren rechnen die Vorschriften über die Selbstbestimmung (§ 2 SGB XI), den Vorrang der häuslichen Pflege (§ 3 SGB XI), die Art und den Umfang der Leistungen (§ 4 SGB XI), den Vorrang von Prävention und medizinischer Rehabilitation (§ 5 SGB XI), die Eigenverantwortung (§ 6 SGB XI) und die Aufklärung und Beratung (§ 7 SGB XI). Leitbild der Hilfen aus der Pflegeversicherung ist die Würde des Menschen, die sich in der Führung eines möglichst selbstständigen und selbstbestimmten Lebens konkretisiert (§ 2 Abs. 1 SGB XI). Zur Realisierung der Selbstbestimmung gehören auch die Wunschrechte des Pflegebedürftigen. Diese gehen in Richtung auf die Auswahl von Einrichtungen und Diensten und auf die Gestaltung der Hilfen. Bei stationären Leistungen soll die Betreuungsmöglichkeit durch Geistliche des jeweiligen Bekenntnisses gegeben sein (§ 2 Abs. 2 und 3 SGB XI). Der Vorrang der häuslichen Pflege ist zwar als Grundsatz ausgeprägt, jedoch leistungsrechtlich nicht vollständig instrumentalisiert, denn trotz des Vorrangs der häuslichen Pflege sollen die häuslichen Pflegeleistungen nicht dazu dienen, die pflegebedürftige Person bei der häuslichen Pflege in vollem Umfang zu versorgen. Das Gesetz spricht nur von der Unterstützung der Angehörigen und Nachbarn (§ 3 Satz 1 27
Die folgenden Hinweise verdanke ich wiederum Frau Frommelt (Fn. 18). Hierzu Garms-Homolovä/Gilgen, RAI 2.0. Resident Assessment Instrument. 2. Aufl., Bern 2000. 28
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SGB XI). Dem entspricht die Regelung, dass bei häuslicher und teil stationärer Pflege die Leistungen der Pflegeversicherung die familiäre, nachbarschaftliche oder sonstige ehrenamtliche Pflege und Betreuung ergänzen (§ 4 Abs. 2 Satz 1 SGB XI). Der Vorrang von Prävention und Rehabilitation stellt einen zentralen Grundsatz des SGB X I dar. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass auch Pflegebedürftigkeit grundsätzlich ein positiv beeinflussbarer Zustand ist. Vorrangige Leistungsträger für Prävention und Rehabilitation sind vor allem die Krankenkassen. Der Leistungsauftrag existiert nicht nur bei einer drohenden Pflegebedürftigkeit, sondern auch bei einer bestehenden Pflegebedürftigkeit. Dieser Leistungsauftrag findet sich ebenso in den entsprechenden Normen des Krankenversicherungsrechts, wobei jetzt auch die Vorschriften des SGB IX zu beachten sind (§ 11 Abs. 2 SGB V; § 8 Abs. 3 SGB IX). Die Pflegekassen haben aber keinen Rehabilitationsauftrag. Der Hinweis auf die aktivierende Pflege kann auch nicht als solcher verstanden werden (vgl. §§6 Abs. 2, 11 Abs. 1 Satz 2, 28 Abs. 4 SGB XI). Allerdings weist die aktivierende Pflege in ihrer Zielsetzung rehabilitative Aspekte auf. 29 Trotzdem muss grundsätzlich gelten, dass Rehabilitationsleistungen keine Pflegeleistungen im Sinne von § 79 Abs. 1 Satz 1 SGB X I sind und deshalb nicht Gegenstand einer Wirtschaftlichkeitsund Wirksamkeitsprüfung nach dieser Vorschrift sein können. Schließlich stellt die Qualität der Pflegeleistungen ein wesentliches Element im Rahmen der Wirksamkeit der Leistungen dar (§§ 11 Abs. 1 Satz 1, 80 SGB XI). Problematisch ist allerdings, dass es im Bereich der Pflegequalität bis auf einige Expertenstandards keine national konsentierten Standards gibt. 30 Bei den qualitativen Vorgaben seitens des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen und des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen handelt es sich um Anforderungen ebendieser Institutionen auf der Grundlage der Maßstäbe und Grundsätze zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität (§ 80 SGB XI). Ob sie den Anforderungen einer lex-artis-Regel nach § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB X I in vollem Umfang entsprechen, ist nicht gesichert. Auch wenn die Pflegeleistungen nach dem SGB X I nicht zu den Teilhabeleistungen nach dem SGB IX zählen, muss die allgemeine Zielsetzung der Teilhabe (vgl. § 1 Satz 1 SGB IX) auch für pflegebedürftige Menschen gelten, sofern sie unter den Behinderungsbegriff fallen (§ 2 SGB IX). Die Zielsetzung der gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ist ein in der 29 Klie, in: LPK-SGB XI, § 28 Rz. 20; stärker abgrenzend Udsching , SGB XI, § 28, Rz. 10. 30 So die Expertenstandards des Deutschen Netzwerks für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP), dazu Bieback, Qualitätssicherung der Pflege im Sozialrecht, Heidelberg 2004, S. 29 f., sowie Schiemann/Moers , Nationaler Expertenstandard Dekubitusprophylaxe, in: Igl/Schiemann/Gerste/Klose (Hrsg.), Qualität in der Pflege, Stuttgart 2002, S. 205-225.
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internationalen Behindertenpolitik anerkannter Grundsatz, der seine Wirksamkeit über die verfassungsrechtlichen Bestimmungen des Nichtdiskriminierungsgrundsatzes (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG) und das Sozialstaatsprinzip entfaltet. 31 Nach alledem kann die Wirksamkeit von Pflegeleistungen danach bestimmt werden, ob sie geeignet sind, den Pflegebedürftigen dazu zu verhelfen, trotz ihres Hilfebedarfs ein möglichst selbstständiges und selbst bestimmtes Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht, wobei die Hilfen darauf auszurichten sind, die körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte der Pflegebedürftigen wiederzugewinnen oder zu erhalten und ihre gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern. Bislang gibt es in der Fachwelt der Pflege weder anerkannte Verfahren der Erstellung von Wirksamkeitskriterien noch allgemein konsentierte Inhalte der Wirksamkeit, die der geschilderten Mehrdimensionalität der Wirksamkeit Rechnung tragen könnten. 32 Zwar sind verschiedene Pflegemodelle bekannt. Eine allgemein anerkannte lex-artis-Regel ist aber aus ihnen noch nicht abgeleitet worden. 33 Ebenso wenig ist ihre Tauglichkeit in Hinblick auf die Prüfung der Wirksamkeit von Pflegeleistungen noch nicht breit überprüft worden. Damit können alle Festlegungen in Richtung auf die Wirksamkeit von Pflegeleistungen allenfalls indizielle Wirkung haben. Eine Verbindlichkeit, wie sie etwa eine lex-artis-Regel beansprucht und wie sie von den Gerichten bei Haftungsprozessen zugrunde gelegt wird, kommt ihnen nicht zu. 34
31 Welti , Behinderung und Rehabilitation im sozialen Rechtsstaat, Tübingen 2005, S. 378 f.
32 33
Vgl. J. Zacher (Fn. 12), S. 43. f.
Bieback (Fn. 30), S. 18 Fußnote 38 (dort weitere Hinweise). 34 Dies gilt auch für Wirksamkeitskriterien, die von den Pflegekassen selbst entwickelt worden sind, so z.B. für das „Projekt Wirtschaftlichkeitsprüfung nach § 79 SGB X I " der AOK Bayern, s. hierzu Engel/Burk/Kapiza/Randzio, Wirtschaftlichkeitsprüfungen nach § 79 SGB X I - Modellprojekt zur Verbindung von Wirtschaftlichkeit und Wirksamkeit in stationären Pflegeeinrichtungen, in: Gesundheit und Gesellschaft (G+G) Wissenschaft, Ausgabe 4/2004, S. 26-34. Die wissenschaftlichen Grundlagen dieses Projektes sind nicht dargelegt; eine fachöffentliche Konsentierung hat nicht stattgefunden. Im Grunde handelt es sich um eine Expertenmeinung, nicht aber um eine fachlich breit anerkannte Vorgehensweise. Die Urheber des Projektes haben auch nicht die Erkenntnisse aus der internationalen Leitliniendiskussion verwertet. Aus dieser Diskussion hätten zumindest Hinweise für eine Verfahrensweise der Erstellung von Wirksamkeitskriterien gewonnen werden können; s. zu letzterem: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen, 2005, Heft 8, S. 465-524, Schwerpunkt LeitlinienQualität - das neue deutsche Bewertungsinstrument, sowie die Empfehlung Rec(2001) 13 des Europarates, angenommen vom Ministerkomitee des Europarates am 10. Oktober 2001, abgedruckt in: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen, Dezember 2002, Supplement III.
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Wirksamkeitsprüfungen unterscheiden sich von den Qualitätsprüfungen nach §112 Abs. 3 SGB XI. Auch wenn die Qualität der Pflegeleistungen im Zusammenhang mit den Wirksamkeitsprüfungen eine Rolle in der Dimension der Ergebnisqualität spielt, hat die Qualitätsprüfung andere Gegenstände und andere Ziele als die Wirtschaftlichkeits- und Wirksamkeitsprüfung. Allerdings wird schlechte Ergebnisqualität regelmäßig schlechte Wirksamkeit von Pflegeleistungen indizieren. 3. Zusammenhang von Wirtschaftlichkeits- und Wirksamkeitsprüfung Eine Wirtschaftlichkeitsprüfung kann nicht ohne Wirksamkeitsprüfung stattfinden. Eine Wirksamkeitsprüfung bedarf der validen Formulierung bestimmter Ziele. Eine Wirtschaftlichkeitsprüfung ohne Wirksamkeitsprüfung ist unvollständig, weil die Messlatte für das mit dem Mitteleinsatz zu erreichende Ziel fehlt: die Wirksamkeit der Leistungen. Eine Wirtschaftlichkeitsprüfung ohne Wirksamkeitsprüfung ist aus diesem Grund untauglich. Allerdings wäre eine Wirksamkeitsprüfung ohne Wirtschaftlichkeitsprüfung durchaus möglich. Dabei setzt eine Wirksamkeitsprüfung immer voraus, dass die Wirksamkeitsziele verlässlich und belastbar formuliert werden können. 4. Isolierte Wirtschaftlichkeitsprüfung zur Kontrolle der Verwendung öffentlicher Gelder? Eine Berechtigung für eine isolierte Wirtschaftlichkeitsprüfung unabhängig von einer Wirksamkeitsprüfung könnte in Folgendem gesehen werden: Die Vergütungen und Entgelte, die Einrichtungen für ihre Leistungen erhalten, stammen aus öffentlichen Abgaben, hier aus den Beiträgen der sozialversicherten Personen und ihrer Arbeitgeber und - bei den Investitionskostenzuschüssen - aus Steuergeldern. Diese Gelder müssen nach den anerkannten Grundsätzen des Haushaltswesens wirtschaftlich und sparsam verwendet werden. Dieses allgemeine Wirtschaftlichkeitserfordernis wird weitergereicht an die Einrichtungsträger in § 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XI, wo die Gewährbietung für eine leistungsfähige und wirtschaftliche Versorgung durch die Einrichtung unabdingbare Voraussetzung für den Abschluss des Versorgungsvertrages ist. Schließlich wird das Wirtschaftlichkeitserfordernis Prüfmaßstab in den Prüfungen nach § 79 SGB XI. Das Gesetz selbst ist zunächst eher wenig aussagekräftig in Hinblick auf den Sinn einer bloßen Wirtschaftlichkeitsprüfung. Der Wortlaut der Vorschrift könnte zunächst so interpretiert werden, dass beide Prüfarten unabhängig voneinander stattfinden können. Aber es handelt sich nicht um eine bloße Aneinanderreihung von Prüfarten. Die beiden Prüfarten sind aufeinander bezogen. Aus der Verknüpfung der Wirtschaftlichkeitsprüfung mit der Wirksamkeitsprü-
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fung ist zu entnehmen, dass die Wirtschaftlichkeitsprüfung nicht isoliert stattfinden darf. A u c h jenseits des Wortlautes lässt sich nichts gewinnen, was für einen eigenen Sinn einer isolierten Wirtschaftlichkeitsprüfung vorgebracht werden könnte. Gegen eine Wirtschaftlichkeitsprüfung sprechen die nachfolgenden Argumente: Das erste Argument ist eher schwach: Es besagt, dass wegen der Deckelung der Leistungen der Pflege Versicherung eine volle Überprüfung der Wirtschaftlichkeit i m Vergütungs-/Leistungsverhältnis nicht möglich ist. 3 5 Dabei wird aber übersehen, dass vergütungsrechtlich immer die gesamte Vergütung, nicht nur die Vergütung unter dem Deckel vereinbart wird (§§ 82 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 , 8 4 Abs. 1 SGB X I ) . Das zweite Argument zieht mehr: Es geht u m die v o m Bundessozialgericht mit einem Vorlauf durch das Bundesverwaltungsgericht 3 6 - eingeführte Technik des externen Marktvergleichs 3 7 bei der Findung von Vergütungen durch die Schiedsstellen. Die entscheidenden Passagen des BSG-Urteils seien noch einmal zitiert: 3 8 „Die in § 79 SGB X I vorgesehenen Wirtschaftlichkeitsprüfungen sind bei unter freien Wettbewerbsbedingungen ausgehandelten Vergütungsvereinbarungen entbehrlich, da der Wettbewerb und das natürliche Gewinnstreben des Unternehmers dafür sorgen, daß die Leistung von den Gestehungskosten her gesehen möglichst kostengünstig angeboten wird. Ein Interesse der Kasse kann nur daran bestehen, daß die erbrachte Leistung dem Angebot und den zu stellenden Qualitätsanforderungen (§ 80 SGB XI) entspricht. Erst wenn ein üblicher Marktpreis nicht ermittelt werden kann, etwa weil es wegen Besonderheiten des Pflegeheims nicht möglich ist, eine hinreichend große Zahl von vergleichbaren Angeboten zu erhalten, kann es von Belang sein, welche Kosten der Heimträger bei wirtschaftlicher Betriebsführung hat, um unter Zuschlag einer angemessenen Vergütung des persönlichen Arbeitseinsatzes, des zu tragenden Unternehmerrisikos sowie einer angemessenen Verzinsung des Eigenkapitals eine leistungsgerechte Vergütung zu ermitteln. (...) Der Versuch, eine leistungsgerechte Vergütung ausgehend von dem Betriebsaufwand des Pflegeheims zu ermitteln, muß schon deshalb unzulänglich sein, weil außenstehende Beobachter wie es die Kassenvertreter bei den Vertragsverhandlungen sind - nur schwer in der Lage sein werden, die geltend gemachten Aufwendungen als unwirtschaftlich zu belegen und vorhandenes Rationalisierungspotential zu erkennen. Es fehlt zudem an geeigneten Maßstäben dafür, eine angemessene Vergütung für die aufgewandte eigene Arbeitskraft des Unternehmers, für die Übernahme des Unternehmerrisikos und 35 Luthe (Fn. 9), S. 261 f., sieht den Wirtschaftlichkeitsgrundsatz im Leistungsrecht des SGB X I weitgehend als leer laufend an, während er sich vor allem im Leistungserbringungsrecht auswirke. Allerdings geht Luthe dann nicht auf die daraus folgenden Problemstellungen für das Leistungserbringungsrecht ein. 36 BVerwGE 108, 47 (55 f.). 37 BSG, Urt. v. 14.12.2000, Az. В 3 Ρ 19/00 R, BSGE 87, 199. Zu den einschlägigen Urteilen des BSG und des BVerwG Neumann/Bieritz-Harder (Fn. 14), S. 32 ff. 38 BSG (Fn. 37), Rn. 24 des Urteils.
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für die Kapital Verzinsung festzulegen. Das Anknüpfen an Arbeitnehmereinkünfte und an die Verzinsung sonstiger Kapitalanlagen kann nur ein Behelf sein, da es weitgehend an der Vergleichbarkeit fehlt. Ein externer Vergleich der Einrichtungen bedeutet somit (...) die Methode der Wahl, um für die angebotene Leistung die leistungsgerechte Vergütung zu ermitteln, d.h. die finanziellen Gegenleistungen für die Grundversorgung (Unterkunft und Verpflegung i.S. des § 87 SGB XI) sowie für die allgemeinen Pflegeleistungen (§ 84 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 43 Abs. 2 SGB XI) in Form der Grund- und Behandlungspflege zzgl sozialer Betreuung."
In der Tat muss man sich mit dem BSG fragen, was eine reine Wirtschaftlichkeitsprüfung soll, wenn die Vergütung angelehnt an Wettbewerbsmechanismen gefunden wird. Im Selbstkostendeckungssystem war die isolierte Wirtschaftlichkeitsprüfung sinnvoll. Schließlich mussten die Kassen und die Sozialhilfeträger wissen, wie sich Selbstkosten gestalten, sonst wäre dieses System zu einem reinen System der unüberprüfbaren Behauptung unüberprüfbarer Kosten geworden. 39 Die Pflegekassen sind mit der fraglichen Entscheidung des BSG in eine etwas unkomfortable Situation geraten: Auf der einen Seite spielen sie das Spiel des Marktvergleichs bei Vergütungsverhandlungen nur zu gerne mit; auf der anderen Seite müssten sie konsequenterweise auch nur dieses Spiel spielen, und auf Wirtschaftlichkeitsprüfungen verzichten. Aus der Praxis wird berichtet, dass Landesverbände der Pflegekassen manchmal meinen, das Instrument der Wirtschaftlichkeitsprüfung und Wirksamkeitsprüfung zu Zwecken der Einschüchterung im Zusammenhang von Vergütungsverhandlungen einsetzen zu müssen, um ihrer Verantwortung zur Sparsamkeit nachzukommen. Die Wirkungen nur der Androhung einer solchen Prüfung sind bekannt: Welche Einrichtung müsste eine Wirtschaftlichkeits- und Wirksamkeitsprüfung nicht fürchten? Und selbst wenn dies nicht so ist, stellt sich die Frage nach schnell verfügbarem Rechtsschutz. Das Problem ist, dass unter den heutigen Umständen der Justiz Rechtsschutz rechtzeitig, selbst Eilrechtsschutz, ohne wirtschaftliche Gefährdung kaum zu erreichen ist. Der Zeitablauf ist die offene Flanke des Rechtsschutzes. Unternehmer leiden unter diesem Zeitablauf, nicht aber die durch öffentliche Abgaben finanzierten Kranken- und Pflegekassen. Die Kassen wissen genau, welchen Vorteil sie beim Rechtsschutz haben, weil sie ein Insolvenzrisiko nicht kennen. Wer als Privater, gerade auch als Unternehmer, dringend Rechtsschutz benötigt und die öffentliche Hand als Gegner hat, ist gut beraten, alle Wege der Vermeidung des Rechtsweges zu gehen.
39 In diesem Sinne auch Udsching , Die vertragsrechtliche Konzeption der Pflegeversicherung, in: NZS 1999, S. 473-479 (477 f.); ders., Aktuelle Fragen des Leistungserbringungsrechts in der Pflegeversicherung - ein Jahr nach dem Inkrafttreten des PQsG, SGb 2003, S. 133-139 (136 f.).
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IV. Der verfassungsrechtliche Rahmen 1. Wirtschaftlichkeits- und Wirksamkeitsprüfungen nach § 79 SGB X I als Berufsausübungsregelung Betroffen ist das Recht der Berufsausübung, also das verfassungsrechtlich im Rahmen der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) am geringsten geschützte Recht. § 79 SGB X I hat objektiv berufsregelnde Tendenz. Fraglich ist nur, ob schon die Anordnung und Durchführung einer Wirtschaftlichkeits- und Wirksamkeitsprüfung den Einrichtungsträger in seinen durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Rechten tangiert, oder ob es darauf ankommt, dass erst eine auf eine Wirtschaftlichkeits- und Wirksamkeitsprüfung gestützte Kündigung des Versorgungsvertrages (§ 74 SGB XI) vorgenommen oder ob das Prüfungsergebnis bei der Vergütungsvereinbarung (negativ) berücksichtigt wird (§ 79 Abs. 3 SGB XI). Die Anordnung einer Wirtschaftlichkeits- und Wirksamkeitsprüfung kann bereits insofern in Rechte des Einrichtungsträgers eingreifen, als sie ihm aufgibt, sich zu einem bestimmten Zeitpunkt mit bestimmten Unterlagen bereit zu halten und insofern seine Mitwirkungspflichten nach § 79 Abs. 2 SGB X I konkretisiert. Ob diese Anordnung als Verwaltungsakt zu qualifizieren ist, hängt im Einzelfall davon ab, ob sie Regelungswirkung hat oder als bloßer Verweis auf die einschlägigen Rechtsnormen gestaltet ist. Die Durchführung einer Wirtschaftlichkeits- und Wirksamkeitsprüfung greift jedenfalls stets in die Berufsausübungsfreiheit ein, da die Prüfer und, wenn das Ergebnis vorliegt, auch die Kassen Einsicht in die Geschäftsunterlagen nehmen müssen und da der Einrichtungsträger auskunftspflichtig ist. Der durch § 79 SGB X I gestattete Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit bezweckt die Gewährleistung der Wirtschaftlichkeit bei der Verwendung durch Abgaben gespeister Haushaltsmittel, wie dies bei den beitragsfinanzierten Leistungen der Pflegeversicherung der Fall ist. Hier geht es zwar nicht unmittelbar um die wirtschaftliche Verwendung der Gelder durch die Kassen selbst, sondern durch Dritte, hier die Erbringer von Pflegeleistungen. Die Verpflichtung auf das Wirtschaftlichkeitserfordernis reißt aber bei den Pflegekassen nicht ab, sondern wird an die Einrichtungsträger weitergegeben. Flankiert wird das verfassungsrechtlich legitimierte Wirtschaftlichkeitserfordernis durch den Grundsatz der Beitragssatzstabilität, der gerade im Vergütungsrecht zu wahren ist (§ 70 SGB XI). Damit wird durch die in § 79 Abs. 3 SGB X I hergestellte Verknüpfung der Wirtschaftlichkeitsprüfung mit den Vergütungsvereinbarungen auf den Grundsatz der Beitragssatzstabilität Bezug genommen. Auch dies ist ein anerkannter und verfassungsrechtlich legitimierter Zweck auf dem Gebiet der Sozialversicherung. 40 Zu bedenken ist aber, dass für den Bereich der Vergü-
40
BVerfGE 68, 193 (218). Zuletzt BVerfG, Beschl. v. 13.9.2005, Az: 2 BvF 2/03, Rn. 294.
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tungen, der über die Sozialleistungsbeträge hinausgeht, der Grundsatz der Beitragsstabilität nicht mehr herangezogen werden kann. Zweifel können sich jedoch an der generellen Geeignetheit von Wirtschaftlichkeits- und Wirksamkeitsprüfungen zur Erreichung dieser legitimen Zwecke ergeben. Die Zweifel an der generellen Geeignetheit sind bereits ausgeführt worden. 41 Für die Grundrechtsverletzung kommt es jedoch auf die konkrete Betroffenheit an. Daher ist im Einzelfall zu prüfen, ob die Kriterien einer Wirksamkeitsprüfung wissenschaftlichen Standards genügen, insbesondere, ob sie in der Fachwelt anerkannt sind. Dabei muss die Erstellung von Kriterien transparent sein, um die Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten. Unabhängig davon ist festzustellen, dass das Bundesverfassungsgericht bei der Notwendigkeit einer die Berufsausübung auf dem Gebiet des Gesundheitswesens betreffende Regelung stets das wichtige Gemeinschaftsgut der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung mit schwerem Gewicht in die Waagschale geworfen hat. 42 Auf dieser Ebene der verfassungsrechtlichen Prüfung ebenso wie auf der nächsten Ebene der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn sind die Wirtschaftlichkeits- und Wirksamkeitsprüfungen nach § 79 SGB X I verfassungsfest. Die verfassungsrechtliche Problematik ist, wie ausgeführt, aber auf der vorgelagerten Ebene der Tauglichkeit des Mittels zur Zweckerreichung zu sehen. 2. Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Durchführung von Wirtschaftlichkeits- und Wirksamkeitsprüfungen Wenn Wirtschaftlichkeits- und Wirksamkeitsprüfungen in Hinblick auf die Zweckerreichung verfassungsrechtlich so problematisch sind, dann sollte man sich dieses Instruments nur vorsichtig bedienen. Konkret heißt dies, dass für das Ob und für das Wie einer Prüfung hohe Anforderungen zu stellen sind, die sich vor allem am Verhältnismäßigkeitsprinzip orientieren. Für Prüfungen muss also ein wichtiger Anlass bestehen. Dieser Anlass ist zu benennen und zu begründen. Beim Wie der Prüfung ist ein Verhältnis zum Anlass herzustellen. Das definiert dann Umfang und Tiefe der Prüfung. Auch muss die Prüfung so terminiert sein, dass Rechtsschutzmöglichkeiten rechtzeitig ergriffen werden können (Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes, Art. 19 Abs. 4 GG). 43 Unter diesen Voraussetzungen scheidet eine Wirtschaftlichkeitsprüfung nur zum Zweck des besseren Bescheidwissens einer Pflegekasse über das wirtschaftliche Gebaren einer Einrichtung aus. Gleiches gilt für Wirtschaftlich41
S. oben Abschnitt III.2. BVerfGE 103, 172(184). 43 Diese Verfahrensanforderung stellt das BVerfG im beamtenrechtlichen Auswahlund Besetzungsverfahren, BVerfG, NJW 1990, S. 201. 42
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keitsprüfungen, die nur zum Zweck der Erprobung eines Modell Vorhabens zur Wirtschaftlichkeit und Wirksamkeit von Pflegeleistungen oder nur deswegen durchgeführt werden, um allgemein mehr über das Leistungs- und Wirtschaftsgebaren von Pflegeeinrichtungen zu erfahren. Hier wäre an mögliche Ermessensfehler schon bei der Anordnung von solchen Prüfungen zu denken.
V. Zusammenfassung der Probleme einer Wirtschaftlichkeits- und Wirksamkeitsprüfung und daraus folgende Anforderungen Eine Prüfung der Wirtschaftlichkeit und Wirksamkeit der Pflegeleistungen einer Einrichtung ist aus mehreren Gründen problematisch: 1. Eine Wirtschaftlichkeitsprüfung ohne Wirksamkeitsprüfung ist unzulässig, weil der Bezugspunkt der Wirtschaftlichkeitsprüfung fehlt. 2. Wirtschaftlichkeits- und Wirksamkeitsprüfungen sind beim gegenwärtigen Stand der Fachlichkeit der Wirksamkeitsprüfungen nur möglich in Hinblick auf eindeutig akzeptierte Maßstäbe der Wirksamkeit. In der Praxis wird dies bedeuten, dass nur signifikante Verstöße gegen Wirksamkeitserfordernisse prüffähig sind. Diese Verstöße werden gleichzeitig auch Mängel in der Ergebnisqualität bedeuten, die nach § 112 Abs. 3 SGB X I zu überprüfen ist. 3. Die bei der Konkretisierung der Wirksamkeitsmaßstäbe erforderliche Fachlichkeit ist zurzeit problematisch, wenn man Maßstäbe zugrunde legt, die aus der internationalen und deutschen Leitlinien- und Qualitätssicherungsdiskussion stammen (insbesondere Transparenz bei der Erstellung, fachwissenschaftliche Anerkennung). Daraus ergeben sich folgende Anforderungen: 1. Eine Einrichtung kann nicht einer Wirksamkeitsprüfung unterworfen werden, deren Kriterien und Maßstäbe nicht schon für den Zeitraum bekannt waren, für den die Prüfung vorgenommen wird. Ansonsten liegt ein Verstoß gegen das Gebot der Bestimmtheit staatlichen Handelns vor. 2. Eine Prüfung darf unabhängig davon nur den Sinn haben, die Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit der Pflegeleistungen einer Einrichtung ins Verhältnis zu setzen. Prüfungen, die dazu dienen sollen, den Pflegekassen allgemeine Maßstäbe für Vergütungsverhandlungen zu liefern, sind schon von der Tatbestandsseite des § 79 Abs. 1 SGB X I nicht gedeckt. 3. Wegen der verfassungsrechtlichen Problematik der Wirksamkeitsprüfungen ist zu fordern, dass die zu prüfenden Einrichtungen von der geplanten Vorgehensweise (Verfahren und Inhalt der Prüfung) so rechtzeitig vorher informiert werden, dass wirkungsvoller Rechtsschutz gegen die Anordnung bzw. Durchführung einer Prüfung erreicht werden kann.
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VI. Ergebnis Wirtschaftlichkeits- und Wirksamkeitsprüfungen nach § 79 SGB X I stellen unter rechtlichen wie unter allgemein fachlichen Gesichtspunkten ein sehr problematisches Kontrollinstrument der Landesverbände der Pflegekassen gegenüber den Pflegeeinrichtungen dar. Eine Wirtschaftlichkeitsprüfung ohne Wirksamkeitsprüfung ist nicht zulässig. Eine isolierte Wirtschaftlichkeitsprüfung begegnet auch verfassungsrechtlichen Bedenken. Für die Wirksamkeitsprüfung fehlt es zurzeit an den gebotenen und fachlich anerkannten Kriterien für das Verfahren wie für die Inhalte. Dies gilt nicht für den Ausschnitt einer Wirksamkeitsprüfung, in dem für die Ergebnisqualität von Pflegeleistungen Aussagen gemäß der lex-artis-Regel (§ 11 Abs. 1 Satz 1 SGB XI) getroffen werden können. Die Durchführung einer Wirksamkeitsprüfung ist wegen der Bedeutung der Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) für die Träger von Pflegeeinrichtungen grundrechtssensibel zu gestalten. Dies zwingt zu einer rechtzeitigen Bekanntgabe der Kriterien und Maßstäbe der Wirksamkeit von Pflegeleistungen für den Überprüfungszeitraum, damit die Einrichtung ihr Leistungsverhalten entsprechend gestalten kann. Weiter ist eine rechtzeitige Information über das Verfahren und den Inhalt einer angeordneten Prüfung zu geben, damit effektiver Rechtsschutz erreicht werden kann.
Hilfsmittel i m Krankenversicherungsund Pflegeversicherungsbereich - zwei Problemfelder Von Otto Ernst Krasney
I. Hilfsmittel als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung Zum Leistungsbereich der gesetzlichen Krankenversicherung (KV) gehören seit Inkrafttreten der RVO und nunmehr nach § 33 SGB V Hilfsmittel 1 . Die Abgrenzung dieses Leistungsbereichs hat die Rechtsprechung insbesondere des BSG mehrfach vor grundlegende Entscheidungen gestellt. So bejahte das BSG die Frage, ob Hilfsmittel bei angeborenen Leiden zu gewähren sind2. Es setzte außerdem nicht voraus, dass das Hilfsmittel dazu führen sollte, den Leidenszustand zu beheben oder wenigstens eine Verschlimmerung zu vermeiden 3. Das Hilfsmittel brauchte zudem nicht dazu bestimmt zu sein, die Erwerbsfähigkeit des Versicherten zu sichern oder wieder herzustellen 4. Das klassische Hilfsmittel ist zwar dasjenige, das die natürlichen Funktionen eines nicht oder nicht voll funktionsfähigen Körperorgans ersetzt oder ergänzt (z.B. Prothese, Hörgerät). Das BSG hat jedoch den Begriff des Hilfsmittels nicht darauf beschränkt, ausgefallene Körperfunktionen zu ersetzen oder ein nicht voll funktionsfähiges Körperorgan zu ergänzen5. Es hat u.a. einen „clos-o-mat" (WC-Automatik) als Hilfsmittel im Sinne der KV angesehen, weil es in einem so engen Zusammenhang mit der körperlichen Behinderung, die das Aufsuchen der Toilette ohne fremde Hilfe nicht ermöglichte, stehe, dass sie dieser selbst zuzurechnen sei6. Dabei hat das BSG 7 einen nur mittelbaren Ersatz der ausgefallenen Funktionen in einem funktionell und räumlich eingeschränkten Teilbereich ausreichen lassen, um die Hilfsmitteleigenschaft eines Gerätes annehmen zu können. Mit 1
§ 187 Reichsversicherungsordnung ( RVO ) i.d.F. vom 19.7.1911 - RGBl 509; später § 182 RVO, § 182b RVO; Brillen gehören allerdings von Anbeginn an zu den Leistungen der KV, s. § 6 Krankenversicherungsgesetz vom 15.6.1883 - RGBl 73. 2 B S G E 3 0 , 151, 152 ff. 3 BSGE 33, 263: Hörgerät als Hilfsmittel für eine 81jährige Versicherte. 4 BSGE 33, 263, 265/266. 5 BSG SozR 2200 § 182b Nr. 10, hier S. 29. 6 BSG SozR 2200 § 182b Nr. 10, hier S. 29. 7 BSGE 51, 206, 207; BSG SozR 2200 § 182 Nrn. 12, 13, 17, 20, 29, 37; BSG SozR 3-2500 § 33 Nrn. 7, 13.
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Recht noch einen Schritt weiter ging das BSG in seiner Rechtsprechung insofern, als es ein Hilfsmittel auch dann annimmt, wenn es dazu dient, die Grundbedürfnisse der Versicherten insbesondere durch die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft zu sichern 8. Zu den allgemeinen Grundbedürfnissen gehören eine gesunde Lebensführung und die allgemeine Verrichtungen des täglichen Lebens, zu denen vor allem die elementare Körperpflege und die Nahrungsaufnahme zählen9 Sie umfassen zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben einen gewissen körperlichen und geistigen Freiraum 10. Das sind nur einige wenige Beispiele aus der Rechtsprechung des BSG zum Hilfsmittelbegriff. Zwei weitere Themenkreise seien hier kurz behandelt. Dabei muss im Hinblick auf den zur Verfügung stehenden begrenzten Seitenumfang schwerpunktmäßig die Rechtsprechung des BSG dargestellt werden.
I I . Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens keine Hilfsmittel 1. Gesetzliche Regelungen Wie schon nach § 182b Satz 1 RVO 1 1 sind auch nach § 33 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbsatz SGB V „allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens" nicht als Hilfsmittel anzusehen. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass bereits vor Ergänzung des § 182b Satz 1 RVO Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens nicht als Hilfsmittel im Sinne des § 182 RVO aF angesehen wurden12. Es ist deshalb - um dies vorwegzunehmen - auf den ersten Blick nicht verständlich, wenn es in der amtlichen Begründung zur Änderung des § 182b Satz 1 RVO insoweit heißt 13 : „Durch die Regelung im Gesetz wird insoweit eine einheitliche Leistungserbringung der Krankenkassen erreicht". Das zuletzt angeführte Ziel wurde jedoch allein durch die Gesetzesergänzung nicht erreicht. Zur Abgrenzung des Tatbestandsmerkmals „allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens" war das BSG vielmehr wiederholt und über längere Zeit gefordert.
8
Vgl. u.a. BSGE 33, 263, 267; BSG SozR 3-2500 § 33 Nrn. 5, 7, 13, 18. BSG SozR 3-2500 §33 Nr. 13. 10 S. u.a. BSGE 66, 245, 246; BSG SozR 3-2500 § 33 Nrn. 5, 7, 46. 11 Eingefügt mit Wirkung vom 1.10.1974 durch das Gesetz über die Angleichung der Leistungen der Rehabilitation vom 7.8.1974 (BGBl I 1881) und mit dem hier maßgebenden Halbsatz ergänzt durch das Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetz vom 22.12.1981 (BGBl I 1578). 12 S. BSGE 45, 133, 136; BSG Die Leistungen 1980, 58, 61. 13 BT-Drucks. 9/845 S. 13. 9
Hilfsmittel im Kranken- und Pflegeversicherungsbereich
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2. Rechtsprechung des BSG Dem Urteil des 3. Senats des BSG vom 19. Dezember 197814 lag folgender Sachverhalt zugrunde. Einem Mädchen, dem ihr linker Arm fehlte und deren rechter Arm verstümmelt war, wurde u.a. als Ess-Hilfe ein „Porzellanteller mit schräg verlaufendem Innenboden (Schrägbodenteller)" verordnet, um auch insoweit eine gewisse Selbständigkeit und Unabhängigkeit des Mädchens zu erreichen. Das BSG hat auf die Sprungrevision der Krankenkasse (KK) das zusprechende Urteil des SG aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG zurückverwiesen. Das BSG hat dazu ausgeführt: Es erscheine nicht ausgeschlossen, dass der Schrägbodenteller nur als besondere Ausführung eines allgemeinen Gebrauchsgegenstandes anzusehen sei. Ein allgemeiner Gebrauchsgegenstand werde nicht dadurch zu einem Hilfsmittel im krankenversicherungsrechtlichen Sinne, dass er behindertengerecht gestaltet sei. Anders verhalte es sich, wenn der Gegenstand seinem Wesen nach ein Hilfsmittel sei, also die Aufgabe habe, natürliche Körperfunktionen zu ersetzen. Dieser Gegenstand verliere die Eigenschaft als Hilfsmittel nicht allein deshalb, weil er auch als Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens diene. In einem solchen Fall sei aber die Leistungsverpflichtung der KK abzugrenzen von dem Bereich, welcher der Eigen Verantwortung des Versicherten oder der Sozialhilfe zuzurechnen sei. Die fehlende reale Trennbarkeit sei kein Hindernis, ein Hilfsmittel und Gebrauchsgegenstand wirtschaftlich zu unterscheiden und bei einer Verpflichtung der K K zur Gewährung des Hilfsmittels den Versicherten mit einem Eigenanteil zu belasten. Was allerdings aufgrund dieser Ausführungen das SG, an das der Rechtsstreit zurückverwiesen wurde, zur Abgrenzung eines Hilfsmittels von einem Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens noch neu zu ermitteln und erneut zu entscheiden hatte, ist nicht leicht ersichtlich. Offen blieb insoweit eigentlich (nur) die Höhe eines Eigenanteils. Näher zum Begriff des allgemeinen Gebrauchsgegenstandes des täglichen Lebens hat sich der 8. Senat des BSG in seinem Urteil vom 14. Dezember 198215 nicht positiv bestimmend, sondern negativ abgrenzend geäußert: Als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens könne ein Gerät nicht allein deshalb bezeichnet werden, weil es nicht nur zur gezielten heilenden Einwirkung auf einen krankhaften Körper- oder Geisteszustand geeignet ist, sondern auch zu anderen Zwecken verwendet würde (z.B. Gesunderhaltung). Schon der Begriff selbst stehe einer solchen ausweitenden Interpretation entgegen und werde auch nicht der damit beabsichtigten sinnvollen Einschränkung der Leistungen der sozialen KV entsprechen. Gegenstände, die allgemein im täglichen Leben verwendet werden, müssten nicht nur allgemein für jedermann zugänglich sein, sie müssten auch allgemein verwendet werden, d.h. üblicher14 15
3 RK 2/78 - Die Leistungen 1980, 58. BSG SozR 2200 § 182 Nr.86.
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weise von einer großen Zahl von Personen regelmäßig genutzt werden. In dem zu entscheidenden Fall ging es um ein Fahrradergometer. Insoweit führte das BSG weiter aus: Fahrradergometer seien zwar für jedermann im Handel käuflich zu erwerben. Sie sollten auch als Übungs- und Sportgeräte dienen. Sie seien aber weder allgemein verbreitet und würden nicht regelmäßig von einem erheblich großen Personenkreis benutzt. Diese Feststellung des BSG dürfte aber nunmehr schon seit langem nicht mehr zutreffen, besonders wenn die Benutzung von Fahrradergometern durch viele Menschen nicht nur in privaten Haushalten, sondern vor allem in Fitness-Zentren berücksichtigt würde. Ob dies für geeichte Personen-Standwaagen und insbesondere bei Baby-Rufanlagen auch gilt, bei denen das BSG in seinen Urteilen vom 27. Juni 198516 und 12. Oktober 198817 ein Hilfsmittel annahm, kann hier offen bleiben. Wesentlich ist, dass in beiden zuletzt angeführten Entscheidungen das BSG nicht davon ausging, ein Gerät müsse von Natur aus als Hilfsmittel entwickelt worden sein. Dagegen formulierte der 3. Senat in seinem bereits zitierten Urteil vom 19. Dezember 197818, wesentlich sei, dass „der Gegenstand seinem Wesen nach ein Hilfsmittel" sei. Zusätzlich wurde erwähnt, dass allgemeine Gegenstände des täglichen Lebens im Sinne der angeführten Vorschriften nicht nur allgemein für jedermann zugänglich sein müssten, sondern auch allgemein verwendet würden, d.h. üblicherweise von einer großen Zahl von Personen regelmäßig benutzt würden. Ist dies der Fall, dann hätten die gesetzlichen KKen allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens grundsätzlich selbst dann nicht als Sachleistung zur Verfügung zu stellen, wenn diese Gegenstände gleichzeitig therapeutischen Zwecken dienten19. Die Verbreitung eines Gegenstandes innerhalb der Bevölkerung in Deutschland kann sich jedoch vergrößern, sodass nach dieser Rechtsprechung des BSG ein Gerät, was zunächst nicht als allgemeiner Gegenstand des täglichen Lebens bewertet wurde, weil er noch nicht „üblicherweise von einer großen Zahl von Personen regelmäßig benutzt wurde", nunmehr als solcher gewertet wird, weil sich der Benutzerkreis erheblich vergrößert hat. Deshalb hat das BSG z.B. in seinem Urteil vom 23. August 199520 ein elektronisches Lese-Sprechgerät als Hilfsmittel der KV für Blinde bejaht, zugleich aber einschränkend ausgeführt, dieses Gerät sei „jedenfalls zur Zeit noch kein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens". Wann ein Gerät üblicherweise von einer großen Zahl benutzt wird und wie groß die Zahl der Benutzer sein muss, damit ein Gerät - insbesondere das früher einmal als Hilfsmittel bewertet wurde, nun16
BSG SozR 2200 § 182 Nr.97. BSG SozR 2200 § 182b Nr. 37. 18 BSG SozR 2200 § 182 Nrn. 86, 97; ebenso BSG SozR 3-2500 § 33 Nrn. 5, 7, 17. 19 Vgl. BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 16, hier S. 71: nur bei überwiegenden Herstellungskosten für die Hilfsmittelfunktion. 20 BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 16. 17
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mehr - ein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens wird, hat das BSG jedoch in diesem Urteil noch nicht näher dargelegt. In seinem Urteil vom 17. Januar 199621 hat es sich darum eingehend bemüht. Der diesem Urteil zugrunde liegende Sachverhalt zwang das BSG schon fast dazu. Das BSG bejahte zwar den Anspruch der gehörlosen Schülerin auf das ihr von der K K versagte Faxgerät als Hilfsmittel, führte jedoch konkretisierend u.a. aus22: Sei ein Gegenstand für alle Menschen oder jedenfalls für ihre Mehrzahl unentbehrlich oder besitze ihn die Mehrzahl der Menschen unabhängig von etwaigen Krankheiten oder Behinderungen aus sonstigen Gründen, könne stets von einem allgemeinen Gebrauch dieses Gegenstandes ausgegangen werden, ohne dass es nähere Feststellungen zur Verbreitung des Gegenstandes bedürfe. Da der Gesetzgeber nicht pauschal alle „Gebrauchsgegenstände" von der Leistungspflicht der KV ausgenommen habe, sondern lediglich die allgemeinen Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens, könne nicht die Verbreitung bzw. übliche Verwendung eines Gegenstandes in bestimmten Bereichen der Gesellschaft wie z.B. in der gewerblichen Wirtschaft, in der Verwaltung oder bei freien Berufen maßgeblich sein, sondern die Verbreitung innerhalb der privaten Haushalte der gesamten Bevölkerung in Deutschland. Komme ein Gegenstand in einem Haushalt üblicherweise nicht nur einmal vor, sondern - z.B. wegen des persönlichen Gebrauchs - häufig mehrfach, sei die Verbreitung pro Kopf der Bevölkerung entscheidend. Dabei könne angesichts der fortschreitenden serienmäßigen, teilweise sogar industriellen Fertigung auch von Spezialgeräten und -einrichtungen für Kranke und Behinderte (z.B. Rollstühle, elektronische Lese-Sprechgeräte, Farberkennungsgeräte) und des abnehmenden Anteils handwerklicher Herstellungsweisen in diesem Bereich nur noch aufgrund besonderer Gegebenheiten des Einzelfalles, nicht aber generell auf die Art der Produktion und die Angebotslage auf dem Markt abgestellt werden, wenn es darum ginge, ob es sich um einen allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens handele oder nicht. Das BSG kommt in dieser Entscheidung zu dem Ergebnis 23, in dem für das Urteil maßgebenden Jahr 1994 hätten Telefaxgeräte noch nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens angesehen werden können. Die Zahl der Telefaxgeräte habe, so führte das BSG weiter aus, Mitte des Jahres 1995 rd. 5,7 Millionen Geräte betragen, wovon 85 % in gewerblichem Einsatz gewesen wären. Die Zahl von verbleibenden 15 % werde man etwa der Nutzung in Privathaushalten gleichstellen können; dies seien 855.000 Geräte. Bei rd. 36,23 Millionen privaten Haushalten und einem Gerät pro Haushalt entspreche dies einer Verbreitung von 2,3 % aller Haushalte. Unter Berücksichtigung einer Haushaltsgröße von durchschnittlich
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BSGE 77, 209, 214 ff. BSGE 77,209,214. BSGE 77, 209,218.
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2,25 Personen und rd. 81 Millionen Einwohnern ergebe sich eine private Nutzung von rd. 1,923 Millionen Personen (2,3 % der Gesamtbevölkerung); die Grenze von 3 % wäre somit 1994 noch nicht erreicht gewesen. Damit war höchstrichterlich der Umfang des erforderlichen Benutzerkreises jedenfalls als Prozentgrenze festgesetzt, doch befriedigte diese Auffassung des BSG von vornherein nicht. Mit der Prozentzahl 3 v.H. war insoweit eine starre Grenze gesetzt; dagegen hatte das BSG in dieser Entscheidung zunächst die Ansicht vertreten, der Begriff des allgemeinen Gebrauchsgegenstandes des täglichen Lebens sei nicht nach unverzichtbaren Einzelkriterien bestimmbar; er erfordere vielmehr eine Gesamtwürdigung verschiedener Merkmale und erweise sich damit als Typusbegriff. Es überzeugt einerseits nicht, einen Gegenstand zunächst für den einzelnen Betroffenen als ein notwendiges Hilfsmittel anzusehen, da es in der Bevölkerung noch nicht ausreichend oft allgemein benutzt werde. Viele Geräte würden dann immer in einer längeren Phase der Einführung in den Markt grundsätzlich ein Hilfsmittel, später aber nach dem Erreichen der Grenze von 3 v.H. privaten Benutzern ausnahmslos nicht mehr ein Hilfsmittel sein. Den kranken und behinderten Menschen - und nicht nur ihnen - sind andererseits die rechtlich durchaus nachvollziehbaren Ausführungen des BSG kaum vermittelbar, dass ein Gerät, das zum Ausgleich für seine Krankheit oder Behinderung zunächst als notwendig angesehen und ihm als Hilfsmittel bewilligt wurde, er später nur deshalb nicht mehr als Hilfsmittel beanspruchen kann, weil es nunmehr auch 3 v.H. der Bevölkerung unabhängig von einer Behinderung benutzen. Zudem dürfte es bei der Mehrzahl der Geräte, die jedenfalls zunächst als Hilfsmittel bewertet werden konnten, anders als bei von Anschlüssen abhängigen Faxgeräten für die Träger der KV und später die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit kaum zu ermitteln seien, wie viel Geräte sich nunmehr auf dem Markt befinden, wie viele von ihnen in der gewerblichen Wirtschaft genutzt werden und wie hoch der Rest in den privaten Haushaltungen ist. Eine nur allgemeine Schätzung hätte wohl nicht ausgereicht, um die vom BSG angegebene Zahl von 3 v.H. festzustellen. Insoweit erscheint es auch nicht zweifelsfrei, einen allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens schon dann anzunehmen, wenn er von 3 % der Gesamtbevölkerung üblicherweise genutzt wird. Man vergleiche dagegen z.B. den Benutzergrad von Kühlschränken und Fernsehgeräten sowie wohl auch von Waschmaschinen und nunmehr von Pkw. Bereits in seinem Urteil vom 6. Februar 199724 hat der 3. Senat des BSG diese Begründung nicht mehr wiederholt, sondern darauf hingewiesen, dass die Leistungspflicht der KV nur Mittel umfasse, die „spezifisch einer Behinderung entgegenwirken, indem sie eigens für diesen Zweck hergestellt wurden oder
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BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 24; s. auch BSG Die Leistungen 1980, 58, 61: seinem Wesen nach ein Hilfsmittel.
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zumindest ganz überwiegend von Behinderten benutzt werden". Der 8. Senat des BSG hat in seinem Urteil vom 29. September 199725 ausdrücklich offen gelassen, ob der Rechtsprechung des 3. Senats in seinem Urteil vom 17. Januar 1996 gefolgt werde. In seiner Entscheidung vom 16. September 199926 hat der 3. Senat des BSG seine dem Urteil vom 17. Januar 1996 entwickelte Rechtsprechung aufgegeben. Allerdings heißt es in dem Leitsatz des neuen Urteils in BSGE und SozR nur „fortentwickelt", was aber nicht dem Urteilstext entspricht 27. Der 3. Senat des BSG führt hierzu insbesondere aus28: Im Hinblick auf die Aufgaben der KV, allein die medizinische Rehabilitation sicherzustellen, seien nur solche Gegenstände als Hilfsmittel zu gewähren, die spezifisch der Bekämpfung einer Krankheit oder dem Ausgleich einer Behinderung dienten. Was daher regelmäßig auch von Gesunden benutzt werde, falle auch bei hohen Kosten nicht in die Leistungspflicht der KV. Der ausdrückliche gesetzliche Ausschluss der allgemeinen Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens stelle dies nur klar; er sei in der Ursprungsfassung des § 182b RVO noch nicht enthalten gewesen, vielmehr von der Rechtsprechung entwickelt worden. Zur Ermittlung des Vorliegens der Eigenschaft eines Hilfsmittels der KV sei deshalb allein auf die Zweckbestimmung des Gegenstandes abzustellen, die einerseits aus der Sicht des Herstellers, andererseits aus der Sicht des tatsächlichen Benutzers zu bestimmen sei: Geräte, die für die speziellen Bedürfnisse kranker oder behinderter Menschen entwickelt sowie hergestellt worden seien und die ausschließlich oder ganz überwiegend auch von diesem Personenkreis benutzt würden, seien nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen; das gelte selbst dann, wenn sie millionenfach verbreitet seien (z.B. Brillen, Hörgeräte). Umgekehrt sei ein Gegenstand auch trotz geringer Verbreitung in der Bevölkerung und trotz hohen Verkaufspreises als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens einzustufen, wenn er schon von der Konzeption her nicht überwiegend für Kranke und Behinderte gedacht sei. Der 3. Senat verweist dann „zum Ganzen" auf seine Urteile vom gleichen Tage В 3 KR 9/98 R - Tandem - sowie В 3 KR 8/98 R - Rollstuhl-Bike - BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 32 und SozR 3-2500 § 33 Nr. 31. 3. Stellungnahme Diese neue Rechtsprechung des 3. Senats des BSG hat den Vorteil, in vielen, wenn nicht sogar in den meisten Fällen eine klare Abgrenzung des Hilfsmittels
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BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 25, S. 146. BSGE 84, 266. BSGE 84, 266, 268. BSGE 84, 266, 268.
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von den allgemeinen Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens zu ermöglichen. Das war wohl auch Zweck der Anfügung des „soweit" Satzteils durch das Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetz vom 22. Dezember 1981. In der bereits erwähnten amtlichen Begründung 29 zu diesem Gesetz heißt es insoweit u.a., durch die Regelung im Gesetz werde insoweit eine einheitliche Leistungserbringung der Krankenkassen erreicht. Allerdings ist nicht ersichtlich, weshalb der „soweit" Satzteil die einheitliche Leistungserbringung der KKen tatsächlich sichern würde, da das BSG 30 wiederholt entschieden hatte, Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens seien keine Hilfsmittel. Soweit man den Schwerpunkt der Einfügung des „soweit" Satzteils darin sieht, dass nunmehr nur „allgemeine" Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens keine Hilfsmittel seien, so spricht das eher für eine einengende, begrenzte Auslegung der Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens. Gegenüber der bis dahin maßgebenden Rechtsprechung des BSG wurde durch die Gesetzesergänzung jedenfalls eine einheitliche Leistungserbringung durch die Krankenhäuser nicht stärker gefördert. Die neue Rechtsprechung vermeidet auch, ein Gerät zunächst als Hilfsmittel zu bewerten, später aber diese Bewertung aufzugeben, weil es nunmehr durch einen entsprechend großen allgemeinen Personenkreis genutzt wird. Aufgrund der neueren Rechtsprechung obliegen den Instanzgerichten auch nicht umfangreiche, kaum zu bewältigende Ermittlungsarbeiten über die Verbreitung von Geräten, insbesondere dann, wenn diese nicht von Einrichtungen abhängen, deren Benutzung statistisch erfasst ist. Es ist allerdings eine gegenüber den vorausgegangenen Entscheidungen weitere Begrenzung des Hilfsmittelbegriffs. Dafür kann man sicherlich wiederum gute Gründe anführen, so z.B. dass der im Gesetz aufgenommene Ausschluss von allgemeinen Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens dahingehend verstanden werden kann, eine umfangreichere Begrenzung festzulegen als sie ggf. durch die Rechtsprechung entwickelt worden wäre, hätte man auf die in § 33 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbsatz SGB V übernommene Regelung verzichtet. Dies wäre allerdings durchaus möglich gewesen, da - wie aufgezeigt - die Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens von sich aus allgemein nicht als Hilfsmittel eingeordnet werden. Dennoch muss man insbesondere aus der Sicht der durch die Folgen einer Krankheit oder eines Gebrechens behinderten Menschen noch nicht davon überzeugt sein, dass Hilfsmittel nur solche Geräte sind, die für die speziellen Bedürfnisse kranker oder behinderter Menschen „entwickelt sowie hergestellt worden sind". Kommt es nicht vielmehr, wie es im Gesetz heißt, darauf an, ob sie „im Einzelfall erforderlich sind", um die Folgen einer Krankheit oder Behinderung soweit wie möglich auszugleichen. Dann wäre es entscheidend, ob der Versicherte die Gegenstände eben zum Ausgleich einer verlorenen oder zur 29 30
BT-Drucks. 9/845 S.13. S. u.a. BSG SozR 2200 § 182b Nr. 12; BSG Die Leistungen 1980, 58, 61.
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Ergänzung einer schwer geschädigten Körperfunktion nutzen muss. Ein Faxgerät ist sicherlich nicht für die speziellen Bedürfnisse kranker oder behinderter Menschen entwickelt worden; aber für einen taubstummen Versicherten ist es ein Mittel, das ihm ermöglicht, einem wesentlichen Grundbedürfnis des Menschen, nämlich die Kommunikation mit anderen, nicht unmittelbar anwesenden Personen nachzukommen. Diese Hilfe schließt unmittelbar an die ausgefallenen Körperfunktionen des Hörens und Sprechens an. Ein Essteller mit schräg verlaufendem Innenboden kann im Rahmen eines Porzellanmodetrends durchaus ohne Rücksicht darauf entwickelt worden sein, ob er bei bestimmten Behinderungen für den betroffenen Menschen eine wesentliche unmittelbar an die Behinderung anschließende Hilfe ist. Er wird dann auch von Menschen gekauft, die jedenfalls bei Einnahme von Mahlzeiten nicht behindert sind. Für den behinderten Menschen, für den es schwierig ist, aufgrund seiner Behinderung den Suppenteller schräg zu halten, ist es jedoch ein unmittelbar an seine Behinderung anschließendes Hilfsmittel. Kann es denn entscheidend sein, ob ein Essteller mit schräg verlaufendem Innenteller von einem Hersteller von Hilfsmitteln als Modegag von einer Porzellanmanufaktur entwickelt wurde? Perücken für Frauen werden ebenfalls wohl vornehmlich nicht deshalb hergestellt, um bei einem vollständigen oder zumindest sehr weitgehenden Haarausfall bei Frauen eine ausgefallene Körperfunktion auszugleichen. Passt einer durch diese Behinderung betroffenen Frau eine Perücke, so kann sie dennoch durchaus als Hilfsmittel angesehen werden, das unmittelbar durch die Behinderung bedingt ist. Davon geht auch der 3. Senat des BSG in seinem Urteil vom 23. Juli 200231 aus. Soweit er darauf hinweist, dass Damenperücken zwar vielfach auch aus modischen Gründen verwandt würden aber gerade nicht als „Zweitfrisur", wie sie vor 300 Jahren zur üblichen standesgemäßen Ausstattung gehobener gesellschaftlicher Kreise gehörten, getragen würden, greift er auf eine Begründung zurück, die er gerade in seiner neueren Rechtsprechung aufgegeben hat. Dieser Rechtsprechung entspricht allerdings das Argument, als vollständiger Haarersatz bei totalem Haarverlust seien die Perücken teilweise anders gearbeitet. Mit dieser Argumentation müsste man jedoch nunmehr den so genannten Schrägbodenteller 32 nicht mehr als allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens ansehen. Gleiches gilt für Spazierstöcke. Diese wurden einerseits nicht entwickelt, um Gehbehinderten als Hilfsmittel zu dienen. Sie sind ebenfalls seit längerem nicht mehr der üblichen „standesgemäßen Ausstattung gehobener gesellschaftlicher Kreise" zuzuordnen, wie es wohl vor 100 Jahren und auch noch später der Fall gewesen ist. Als Wandergerät dienen sie jedoch auch heute noch vielen nicht behinderten Menschen. Wird der Gehstock mit einem bestimmten für behinderte Menschen stärker geeigneten Griff versehen, so müsste
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dieser Stock entsprechend der Entscheidung des BSG zur Perücke als Hilfsmittel anzuerkennen sein. Sowohl für die Perücke als auch für den Gehstock müsste der 3. Senat des BSG jedoch seine frühere Auffassung aufgeben, ein allgemeiner Gebrauchsgegenstand werde nicht dadurch zu einem Hilfsmittel im krankversicherungsrechtlichen Sinne, dass er behindertengerecht gestaltet sei 33 . Die vorstehend aufgeführten Beispiele zeigen m.E. jedoch, dass der übergeordnete Gesichtspunkt für die Abgrenzung zwischen einem Hilfsmittel und einem allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens der Hilfsbedarf des behinderten Menschen sein sollte. So hat nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V der Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die „im Einzelfall" erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Auch das BSG geht 34 , wie aufgezeigt, in seinem Urteil vom 16. September 1999 zunächst davon aus, dass nur solche Gegenstände als Hilfsmittel zu gewähren sind, „die spezifisch der Bekämpfung einer Krankheit oder dem Ausgleich einer Behinderung dienen". Ob sie spezifisch einem dieser beiden Zwecke dienen, richtet sich nach dem Einsatz bei dem betreffenden erkrankten oder behinderten Versicherten. Aus dieser Blickrichtung dürfte dann die Abgrenzung zu dem im folgenden Halbsatz angeführten allgemeinen Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens erfolgen. Danach käme es darauf an, ob der maßgebende Gegenstand für den behinderten Menschen ein Hilfsmittel oder aber ein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens ist. Damit wäre auch die gleiche rechtliche Betrachtungsweise hergestellt zwischen der Beurteilung, ob ein Gegenstand ein Hilfsmittel oder ein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens ist, und der daran anschließenden Prüfung, ob das Hilfsmittel für den jeweils betroffenen behinderten Menschen erforderlich ist. Insofern kann auf die Entscheidung des 3. Senats vom 25. Oktober 199535 verwiesen werden, in dem der Senat ein Schreibtelefon dann als ein notwendiges Hilfsmittel für einen hörunfähigen Versicherten angenommen hat, wenn bei diesem ohne die Möglichkeit der Fernkommunikation die Gefahr der Vereinsamung besteht. Ebenso ist u.a. zu beachten, dass die erforderliche Versorgung eines Versicherten mit einem Hilfsmittel unter Berücksichtigung der Auswirkungen seiner Behinderung und der konkreten Betreuungssituation zu beurteilen ist 36 . Weiterhin setzt die Versorgung mit einem Hilfsmittel voraus, dass dadurch die Behinderung in nicht unwesentlichem Umfange ausgeglichen werden kann 37 . Diese somit bestehenden Grenz-
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BSG Die Leistungen 1980, 58, 61. BSGE 84, 266, 268. BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 17. BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 4 S. 11. BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 30 S 178.
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Ziehungen hinsichtlich der Leistungspflicht der gesetzlichen KV richten sich jedoch nach dem besonderen Bedürfnissen der behinderten Menschen, dem erforderlichen Ausgleich der Folgen der Behinderung durch ein Hilfsmittel sowie der Notwendigkeit und Eignung des Hilfsmittels im konkreten Fall. Allerdings führt diese Sichtweise bei der Auslegung des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V zum Teil rückläufig zu einer wieder größeren Kasuistik in den erforderlichen Einzelentscheidungen. Ganz zu vermeiden ist diese Kasuistik jedoch auch nach der Rechtsprechung des BSG weiterhin nicht im Bereich der Prüfung, ob ein an sich als Hilfsmittel zu kennzeichnender Gegenstand im Einzelfall erforderlich ist. Ihrer Erstreckung auf die Bewertung, ob der in Betracht kommende Gegenstand ein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens ist, steht aber der Vorteil gegenüber, den betroffenen behinderten Menschen in den Ausgangspunkt der Beurteilung zu stellen und nicht den Gegenstand, der in dem maßgebenden Einzelfall dazu geeignet und notwendig ist, eine Behinderung im Rahmen des Möglichen und unter den vorstehend angeführten Voraussetzungen auszugleichen. Allerdings ist in der Rechtsprechung oft ein ungerechtfertigtes Bestreben feststellbar, zugunsten einer allgemeinen abstrakten Grenzziehung auf die erforderliche Differenzierung wegen der regelmäßig damit verbundenen unvermeidbaren Kasuistik zu verzichten. Das BVerfG musste dem im Rahmen der verfassungsrechtlichen Relevanz schon entgegentreten38. Grundlagen der Rechtsprechung sind zwar die in der Regel mit dem Schrifttum erarbeitete Dogmatik und Systematik des anzuwendenden Rechts. Dabei darf aber gerade die Rechtsprechung nicht stehen bleiben, sondern hat als weiteren unentbehrlichen Teil ihrer Aufgabe zu versuchen, den konkreten Fall in seinen rechtlichen Ausrichtungen und seinen Besonderheiten möglichst gerecht zu entscheiden.
I I I . Hilfsmittel bei vollstationärer Pflege Abgrenzung der Leistungspflicht der gesetzlichen K V und der Pflegeversicherung Das BSG hatte im Rahmen der Hilfsmittel Versorgung auch wiederholt über die Abgrenzung der Leistungspflicht von gesetzlicher KV und Pflegeversicherung bei vollstationärer Pflege zu entscheiden. 1. Keine entsprechende Anwendung des § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB X I Nach § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB X I haben Pflegebedürftige Anspruch auf Versorgung mit Pflegehilfsmitteln, die zur Erleichterung der Pflege oder zur Linderung der Beschwerde des Pflegebedürftigen beitragen oder ihm eine selbständi-
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ge Lebensführung ermöglichen, soweit die Hilfsmittel nicht wegen Krankheit oder Behinderung von der KV oder anderen zuständigen Leistungsträgern zu leisten sind. Der vorstehend aufgeführte letzte Halbsatz hat die Rechtsprechung vor die erforderlichen Abgrenzungen gestellt. Der 3. Senat des BSG hat in seinem Urteil vom 10. Februar 2000 39 klargestellt, dass § 40 SGB X I nach seiner Stellung im Gesetz (Viertes Kapitel. Leistungen der Pflegeversicherung. Dritter Abschnitt. Leistungen. Erster Titel. Leistungen bei häuslicher Pflege) nur Pflegehilfsmittel und technische Hilfen bei der Pflege im häuslichen Bereich umfasst und auch nicht entsprechend für den Bereich der vollstationären Pflege gelten kann. Das ergibt sich außerdem aus dem Inhalt dieser Vorschrift, wonach die Pflegekasse auch technische Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen hat (Abs. 3) und auch finanzielle Zuschüsse für Maßnahmen zur Verbesserung des individuellen Wohnungsumfeldes des Pflegebedürftigen gewährt werden können (Abs. 4). 2. Abgrenzung durch Richterspruch Daraus folgt aber nach dem vorstehend bereits angeführten Urteil des 3. Senats des BSG vom 10. Februar 2000 nicht, dass die KKen sowohl die Kosten der Pflegehilfsmittel als auch die aller sonstigen Hilfsmittel zu tragen haben. Eine § 216 Abs. 1 Nr. 4 iVm § 165 Abs. 1 Nr. 3 RVO entsprechende Vorschrift enthält das SGB V nicht. Nach diesen Vorschriften ruhte für Personen, welche die Voraussetzungen für den Bezug einer Rente aus der Rentenversicherung erfüllten und diese Rente beantragt hatten, der Anspruch auf Krankenhilfe und auf sonstige Hilfen, solange sie in einer Anstalt dauernd zur Pflege untergebracht waren, in der sie im Rahmen ihrer gesamten Betreuung Krankenpflege erhielten. Somit ruht anders als nach der Rechtslage vor Inkrafttreten des SGB V der Anspruch auf Krankenbehandlung - zu der auch die Versorgung mit Hilfsmitteln gehört-, nicht mehr kraft ausdrücklicher gesetzlicher Regelung, wenn der Versicherte in einer Einrichtung vollstationäre Pflege erhält. Das BSG hat jedoch in seinem Urteil vom 10. Februar 2000 hierzu u.a. ausgeführt: Nach der ab dem 1. Januar 1989 geltenden Rechtslage seien die KKen also für die Versorgung eines Versicherten mit Hilfsmitteln grundsätzlich unabhängig davon verpflichtet, ob er in einer eigenen Wohnung oder in einem Heim lebt. Dieser Grundsatz erfahre jedoch beim „Versicherungsfair der vollstationären Pflegebedürftigkeit, also bei der vollstationären Pflege in einem Pflegeheim (§ 71 Abs. 2 SGB XI) oder in einer vollstationären Einrichtung der Behindertenhilfe (§ 43a SGB XI), weiterhin eine Einschränkung. Die Pflicht der gesetzlichen KV zur Versorgung der Versicherten mit Hilfsmitteln ende nach der gesetzlichen Konzeption des SGB V und des SGB X I dort, wo bei
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BSGE 85, 287, 292.
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vollstationärer Pflege die Pflicht des Heimträgers auf Versorgung der Heimbewohner mit Hilfsmitteln einsetze. Bei vollstationärer Pflege habe der Träger des Heimes für die im Rahmen des übrigen Pflegebedarfs notwendigen Hilfsmittel zu sorgen, weil er verpflichtet sei, die Pflegebedürftigen ausreichend und angemessen zu pflegen, sozial zu betreuen und mit medizinischer Behandlungspflege zu versorgen (s. § 43 Abs. 1, 2 und § 43a, § 71 Satz 2 SGB XI). Diese Auffassung überzeugt. Würde wegen der nicht übernommenen Regelungen in § 216 Abs. 1 Nr. 4 und § 165 Abs. 1 Nr. 3 RVO die Leistungspflicht der KV für alle Hilfsmittel im Sinne des § 33 SGB V auch während einer stationären Pflege bestehen bleiben, wären die Pflegeleistungen der Einrichtungen im Wesentlichen auf die persönlichen Hilfen beschränkt. Das ist aber nicht Sinn und Zweck der vollstationären Pflege und entspricht auch nicht den Aufgaben der und den Anforderungen an die Pflegeheime, in denen eine umfassende vollstationäre Pflege gewährleistet sein muss. Jedoch sind Hilfsmittel u.a. auch Hörgeräte, Fernsehlesegeräte und Schreibtelefone. Es sind Hilfsmittel, die völlig unabhängig von der stationären Pflege erforderlich sein können. Sie alle mit in die Leistungspflicht der Pflegekassen einzubeziehen und damit letztlich finanziell den Heimträger aufzuerlegen, wäre ebenfalls nicht vertretbar. Das BSG zog in seinem Urteil vom 10. Februar 2000 als Versuch eines Einstiegs in den „goldenen Mittelweg" Grenzen dahingehend, dass die KV während einer vollstationären Pflege nur solche Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen hat, die nicht der „Sphäre" der „vollstationären Pflege" zuzurechnen sind, die das BSG wie folgt beschreibt 40: Das seien im Wesentlichen individuell angepasste Hilfsmittel, die ihrer Natur nach auch für den einzelnen Versicherten bestimmt und grundsätzlich nur für ihn verwendbar sind, und Hilfsmittel, die der Befriedigung eines allgemeinen Grundbedürfnisses außerhalb des Pflegeheimes dienten. Das sei noch nicht der Fall, wenn es nur um das Spazierenfahren an der frischen Luft auf dem Heimgelände gehe. Die Sphäre des Heimes sei auch dann noch nicht verlassen, wenn es um gemeinsame Ausflüge der Heimbewohner oder um sonstige von der Heimleitung organisierte bzw. verantwortete Aktivitäten außerhalb des Heimes gehe. Regelmäßige Aktivitäten des Pflegebedürftigen außerhalb des Heimes allein oder in Begleitung von Angehörigen, Freunden und Bekannten, unabhängig vom Pflegepersonal, könnten hingegen nicht mehr der Sphäre eines Heimes oder seinem Verantwortungsbereich zugerechnet werden. Diese wiederum zutreffende Auffassung schränkt die Ansprüche auf Hilfsmittel der Pflegebedürftigen grundsätzlich nicht ein, worauf unten unter 3. noch einmal einzugehen ist, sondern regelt letztlich nur die Zuständigkeit unter den
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BSGE 89, 271,275.
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Sozialleistungsträgern. Die Auffassung des BSG berücksichtigt die wirtschaftlichen Interessen beider Sozialversicherungsträger und bildete vor allem einen ersten Schritt in eine relativ ausreichende Grundlage für die Praxis, die z.B. in den Verhandlungen über die Pflegevergütungen, in denen das Bereitstellen von Hilfsmitteln von wesentlicher Bedeutung ist. Dennoch waren weitere Grenzfälle zu entscheiden. 3. Fragen der Fortentwicklung a) Abgrenzung der Hilfsmittel
in der „Sphäre " der vollstationären
Pflege
Es darf nicht übersehen werden, dass die Entscheidung des BSG vom 10. Februar 2000 ein erstes Herantasten an eine von einem Grundsatz ausgehende, die Umrisse und Abgrenzungen jedoch noch weiter nachzuzeichnende Rechtsprechung bildete. Auf ihrer Grundlage war die Mitwirkung der Praxis gefragt, die entschiedenen Fälle aufzuarbeiten und die noch zu entscheidenden Fallkonstellationen vorzubereiten. Die Entscheidung zur vollstationären Pflege betraf zudem ein einzelnes, wenn auch sehr wesentliches und typisches Hilfsmittel bei der Pflege von Pflegebedürftigen in vollstationärer Pflege: den Rollstuhl. Sie beruhte auf einer noch relativ begrenzten Erfahrungsbreite des BSG. Es entspricht einer durchaus gefestigten und erprobten sowie erfolgreichen Rechtsprechungspraxis, zunächst einmal eine gewisse Grundlage für eine Abgrenzung zu legen, jedoch offen zu sein für weitere Erweiterungen oder Einschränkungen oder beides zugleich. Das mag der Verwaltung oder auch den Instanzgerichten oft nicht sogleich die eigentlich erwünschte Rechtssicherheit gegeben haben. Für die Betroffenen ist die Voraussehbarkeit der Entscheidung ebenfalls nicht immer gesichert. Aber als Vorteil - hier - für den ein Hilfsmittel benötigenden Versicherten ist diesen Nachteilen gegenüberzustellen, dass es der Rechtsprechung des 3. Senats des BSG im Wesentlichen gelungen ist, im gesetzlichen Rahmen die durch die Hilfsmittel zu sichernden Gestaltungsmöglichkeiten bei den einzelnen Betroffenen oder sogar - der Rechtssicherheit schon näher kommenden - Gruppen von Betroffenen zu erreichen. Eine klarstellende Fortentwicklung hat der 3. Senat des BSG schon in seinem Urteil vom 6. Juni 2002 41 vorgenommen. Der Ausdruck Heimsphäre sei nicht rein räumlich dahin zu verstehen, dass damit alle Hilfsmittel aus der Leistungspflicht der KK herausfielen, die nur innerhalb des Heimes verwendet würden. Das ergebe sich schon daraus, dass der Senat ausdrücklich individuell angepasste Hilfsmittel ausgenommen habe, und zwar unabhängig davon, wo sie benutzt würden. Der Ausdruck Heimsphäre solle vielmehr nur bildhaft beschreiben, was zur Vorhaltepflicht der Pflegeeinrichtung gehöre, die wiederum entscheidend vom jeweiligen Versorgungsauftrag und von den Anforderungen 41
BGBl I 2320.
Hilfsmittel im Kranken- und Pflegeversicherungsbereich
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des Pflege-Qualitätssicherungsgesetzes vom 9. September 2001 42 abhänge. Sie lasse sich daher nicht allgemein für Pflegeheime jeder Art beschreiben, sondern werde z.B. für Pflegeheime mit Pflegebedürftigen überwiegend der Pflegestufe I anders aussehen als bei Pflegeheimen mit Beatmungsbedürftigen, Schwerstpflegebedürftigen oder Apallikern. In seinem Urteil vom 28. Mai 2003 43 hat der 3. Senat des BSG u.a. ergänzt: Bestehe der Verwendungszweck eines Gegenstandes ganz überwiegend darin, die Durchführung der Pflege zu ermöglichen oder zu erleichtern, so begründe allein die Tatsache, dass er auch dem Behinderungsausgleich diene, nicht die Leistungspflicht der KK. Als Beispiel für diese Kategorie von Gegenständen sei bereits im Urteil vom 6. Juni 2002 ausdrücklich der einfache Schieberollstuhl, der primär Transportfunktionen innerhalb des Heimes erfülle, genannt. Die Abgrenzung der Leistungsverpflichtung der KV bei der Hilfsmittelversorgung in Pflegeheimen von der Vorhaltepflicht des Heimträgers habe, so führt der 3. Senat des BSG in seinem Urteil vom 22. Juli 2004 44 weiterführend aus, danach zu erfolgen, ob noch eine Krankenbehandlung und ein Behinderungsausgleich im Sinne medizinischer Rehabilitation stattfinde oder aber ganz überwiegend die Pflege im Vordergrund stehe, weil eine Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nicht mehr möglich sei. Nach den der Entscheidung des BSG zugrunde liegenden Feststellungen des LSG war es der Pflegebedürftigen mit Pflegestufe I I I als Härtefall schon seit längerem nicht mehr möglich, ihren Aufenthaltsort innerhalb oder gar außerhalb des Heimes selbst zu bestimmen, dem Ablauf des täglichen Lebens anfallenden Verrichtungen eigenständig und ohne Hilfeleistung des Pflegepersonals zu erledigen oder aktiv am Gemeinschaftsleben im Hause teilzunehmen. Das BSG hat deshalb eine Leistungspflicht der KK für einen so genannten Lagerungsrollstuhl verneint. b) Abgrenzung bei einzelnen Fallgestaltungen Aber auch Abgrenzungsfragen für die einzelnen Fallgestaltungen stellten sich und werden sich noch stellen. In der bereits zitierten Entscheidung des BSG vom 10. Februar 2000 hat das BSG einen Anspruch der Pflegebedürftigen auf einen Rollstuhl als Hilfsmittel gegen die KK in zutreffender Beachtung der maßgebenden Besonderheiten der zu entscheidenden Fallgestaltung bejaht, da die Pflegebedürftige von einem ihrer drei Kinder oder ihrem Lebensgefährden täglich besucht und - soweit es das Wetter zuließ - zu Aktivitäten außerhalb des Heimes, insbesondere zu Spazierfahrten mitgenommen werde. Wie wäre es, wenn die Familienangehörigen der Pflegebedürftigen nur einmal in der
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BSG SozR 4-2500 § 33 Nr. 4. BSG SozR 4-2500 § 33 Nr. 5. SozR 3-2500 § 33 Nr. 47.
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Woche oder nur alle 14 Tage oder lediglich einmal im Monat zu Besuch kämen und dann ihre Spaziergänge oder Spazierfahrten außerhalb der „Sphäre des Heimes" unternommen hätten? Hätte weiterhin die KK den Rollstuhl bezahlen müssen oder - wofür vieles spricht - kommt es entscheidend darauf an, ob der Rollstuhl wesentlich oder ggf. sogar hauptsächlich außerhalb der Sphäre des Heimes genutzt wird? Wie wäre es, wenn der Pflegebedürftige im Hause selbst bei den laufenden täglichen Pflegeleistungen mit einem „gewöhnlichen" Rollstuhl auskommen könnte, er aber mit einem Elektrostuhl sich allein auch auf dem gesamten großen Heimgelände bewegen könnte und so mit vielen anderen Heimbewohnern und die sie besuchenden Angehörigen und Freunden in Kotakt kommen könnte, ohne auf die hierfür nicht jederzeit zur Verfügung stehende Hilfe einer Pflegekraft angewiesen zu sein? In der Praxis wurden immer wieder zwei hinsichtlich der Zuständigkeit der Leistungsträger umstrittene Hilfsmittel genannt: Inkontinenzhilfen und Dekubituskissen, die wohl beide nach Ansicht der KKen im Rahmen der vollstationären Pflege zu den vom Heimträger bereitzustellenden Hilfe zählten. Dieser Auffassung war nicht uneingeschränkt zuzustimmen. Nach § 43 SGB X I besteht Anspruch auf „Pflege" und auf solche in einer „stationären" Einrichtung. Der Anspruch nach dieser Vorschrift ist nicht nur begrenzt auf den stationären Bereich - oder nach der Diktion des BSG auf die „Sphäre" der Einrichtung sondern auch durch die erforderliche stationäre Pflege. Sind Hilfsmittel nicht unmittelbar für den Bereich der Pflege erforderlich, so fallen sie selbst dann nicht in die Leistungspflicht des Trägers der Einrichtung, wenn sie räumlich innerhalb der Sphäre des Heimes genutzt werden können, wie der 3. Senat des BSG bereits überzeugend dargelegt hat. Inkontinenzhilfen sind Hilfsmittel im Sinne des § 33 SGB V. Sie stehen aber mit dem Bedürfnis nach Pflege nicht stets in einem Zusammenhang. Inkontinenzhilfen sind auch den Versicherten zu gewähren, die noch viele und gegebenenfalls die meisten gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens ausüben können. Benötigen Versicherte bei vollstationärer Pflege die Inkontinenzhilfen lediglich bei längeren Ausflügen z.B. mit den sie besuchenden Verwandten, so dürfte dies nach der Rechtsprechung des BSG nicht in die Sphäre der vollstationären Einrichtung fallen. Bei Versicherten, die überwiegend den Tag im Bett oder im Pflegeheimbereich verbringen müssen und ihren Harn- und Stuhldrang nicht mehr oder nur ganz kurze Zeit beherrschen können, gehören dagegen die erforderlichen Inkontinenzmittel mit zu der Pflege, die den gesamten Zustand der Pflegebedürftigen und ihrer Pflegebedürftigkeit erfassen. Gleiches gilt für entsprechende Schutztücher, die in die Betten pflegebedürftiger Personen gelegt werden, um die Folge eventueller Inkontinenz so begrenzt wie möglich zu halten. Wiederum teilweise anders stellt sich die Situation tatsächlich und rechtlich dar, soweit es die Dekubitusprophylaxe oder Dekubitusbehandlung betrifft. Bei
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Menschen, die vollstationärer Pflege bedürfen, wird die Gefahr, durch täglich sehr langes Sitzen oder Liegen wund zu werden, schon den Regelfall bilden. Da es aber zu den Aufgaben der vollstationären Pflege einer Einrichtung gehört, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um Fälle der sonst regelmäßig eintretenden Behandlungspflege zu vermeiden, erscheint es nach Sinn und Zweck gerechtfertigt, Dekubitusmatratzen regelmäßig zur erforderlichen Ausstattung einer vollstationären Einrichtung zu zählen. Der 3. Senat des BSG hat deshalb in seinem Urteil vom 24. September 2002 45 entschieden, soweit Dekubitusmatratzen unter pflegerischen Gesichtspunkten allein zur Prophylaxe eingesetzt würden, stehe der Aspekt der Pflege ganz im Vordergrund, obwohl sie in diesem Zusammenhang in bestimmtem Umfang zugleich dem Behinderungsausgleich dienten, eben weil eine krankheitsbedingte oder behinderungsbedingte eingeschränkte Fähigkeit zum Körperlagewechsel kompensiert werden soll. Die Leistungspflicht der KK könne in derartigen Fällen auch nicht durch den mit Einführung des SGB IX neu in den § 33 Abs. 1 SGB V aufgenommenen weiteren Zweck der Hilfsmittelversorgung begründet werden, einer drohenden Behinderung vorzubeugen. Das BSG hat jedoch eine Leistungspflicht der KK angenommen, wenn die Dekubitusmatratze nach ärztlicher Verordnung zur Behandlung eines akuten und zur Vermeidung eines unmittelbar drohenden Druckgeschwürs erforderlich sei. Dabei ist das BSG davon ausgegangen, dass für die erforderliche Prognose standardisierte Parameter zur Verfügung ständen, die eine verlässliche Beurteilung der Frage zuließen, in welchen Fällen insbesondere der Einsatz einer so genannten Wechseldruckmatratze zur Vermeidung eines krankhaften Zustandes erforderlich sei. Im Rahmen der Dekubitusprophylaxe und -behandlung würden mehrere Schweregrade pathologischer Hautveränderungen unterschieden, mit denen auf Seiten der einzusetzenden Hilfsmittel unterschiedliche Arten von Dekubitus-Matratzen korrespondierten. Zur Vorhaltepflicht eines Pflegeheimes gehören von allen Systemen nur diejenigen, die allgemein der Prophylaxe dienten und lediglich eine Druck reduzierende Weichlagerung ermöglichten (Stufe 0). Man wird dieser zutreffenden Abgrenzung nicht entgegenhalten können, dass damit die Pflegeeinrichtungen verleitet werden könnten, eben zunächst nicht das Bett eines Pflegebedürftigen mit einer Dekubitusmatratze auszustatten, sondern zu warten, bis ein Druckgeschwür unmittelbar drohe. In solchen Fällen würde die Pflegeeinrichtung ihrer vertraglichen Verpflichtung gegenüber der KK nicht nachkommen, so dass diese entsprechende Maßnahmen treffen müsste. Dazu könnte die Pflegekasse sowohl - worauf das BSG eingeht Schadensersatzansprüche wegen der fehlerhaften Pflege geltend machen (vgl. §116 SGB X) als auch die Kündigung des VersorgungsVertrages prüfen.
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BSGE 85, 287, 291; s. dazu auch unter c.
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c) Ansprüche der Versicherten Nach der dargelegten Auffassung des BSG 46 endet die Pflicht der KV zur Leistung von Hilfsmitteln nach der Konzeption des SGB V und des SGB X I dort, wo bei vollstationärer Pflege die Pflicht des „Heimträgers" auf Versorgung der Heimbewohner mit Hilfsmitteln einsetzt. Das BSG stellt es somit auf die Pflicht des Trägers der Pflegeeinrichtung ab. Nach § 11 SGB X I pflegen, versorgen, betreuen die Pflegeeinrichtungen die Pflegebedürftigen, die ihre Leistungen in Anspruch nehmen, entsprechend dem allgemein anerkannten Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse, und Inhalt und Organisation der Leistungen haben eine humane und aktivierende Pflege unter Achtung der Menschenwürde zu gewährleisten. Jedoch ergeben sich die Pflichten der Pflegeeinrichtungen nicht allein aus § 11 SGB XI. Vielmehr hat nach § 43 SGB X I der Pflegebedürftige Anspruch auf Pflege in vollstationären Einrichtungen, und die Pflegekasse übernimmt die pflegebedingten Aufwendungen. Bei den Ansprüchen sowohl nach Abs. 1 als auch nach Abs. 2 Satz 1 des § 43 SGB X I handelt es sich somit um Ansprüche gegenüber der Pflegekasse. Die rechtliche Verbindung zwischen den Ansprüchen des Pflegebedürftigen gegenüber der Pflegekasse und denen gegenüber der Pflegeeinrichtung geschieht auf der Grundlage des Sicherstellungsauftrages in dem Versorgungsvertrag, in dem Art, Inhalt und Umfang der allgemeinen Pflegeleistungen im Sinne des § 4 Abs. 2 SGB X I festzulegen sind, die von der Pflegeeinrichtung während der Dauer des Vertrages für die Versicherten zu erbringen sind. Der Träger der Pflegeversicherung kann und soll nach der Konzeption des SGB X I seiner Leistungsverpflichtung nachkommen, indem er im Versorgungsvertrag als Leistungsträger die Pflegeeinrichtung verpflichtet, die erforderlichen, von der Pflegeeinrichtung zu erbringende Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sowohl der Versorgungsvertrag mit der einzelnen Pflegeeinrichtung als auch die Rahmenverträge nach § 75 SGB X I naturgemäß ohne Mitwirkung des jeweiligen Pflegebedürftigen abgeschlossen sind. Wie ist es, wenn Streit darüber besteht, ob es sich bei einem erforderlichen Hilfsmittel um ein solches handelt, das der Träger der Pflegeeinrichtung bereitzustellen hat, weil es für die gewöhnlich anfallenden Pflegeleistungen erforderlich ist, oder ob es sich um Hilfsmittel handelt, das weiterhin in den Leistungsbereich der KV fällt, weil insoweit die Pflicht des Trägers der Pflegeeinrichtung auf Versorgung der Pflegebedürftigen Hilfsmittel nicht einsetzt? Ebenso kann Streit darüber bestehen, ob ein erforderliches Hilfsmittel nach dem Versorgungsvertrag mit der Pflegeeinrichtung oder nach einem Rahmenvertrag nach § 75 SGB X I weiterhin von der KK zu erbringen oder vereinbarungsgemäß vom Träger der Pflegeeinrichtung bereitzustellen ist.
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BSGE 85,287, 291.
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d) „Ende" oder Ruhen der Ansprüche gegen die Krankenkasse? Das BSG lässt die Verpflichtung der KV zur Leistung des Hilfsmittels „enden", sobald „die Pflicht" des Heimträgers einsetzt. Verlässt der Pflegebedürftige die vollstationäre Pflege, so lebt jedoch der Anspruch z.B. bei der häuslichen Pflege gegenüber der KV wieder voll auf. Letztlich ist bei vollstationärer Pflege dann doch ein Ruhen des Anspruchs aufgrund der Leistungsverpflichtung des Trägers der Pflegeversicherung oder der Pflegeeinrichtung gegeben. Zwar enthalten das SGB V und das SGB X I insoweit auch keine entsprechende Ruhensvorschrift. Aber rechtlich ist der Schritt zum Ruhen nach der gesetzlichen Konzeption des SGB V und des SGB X I doch leichter zu begründen als das noch stärkere Enden des Anspruchs. Es erscheint rechtlich stärker abgesichert, ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung einen zunächst gesetzlich gegebenen Anspruch im Rahmen der stationären Pflege nur ruhen zu lassen, als ihn allein aufgrund der Rechtsprechung für nicht gegeben anzusehen. Das Ruhen hätte einen ganz wesentlichen Vorteil für den Versicherten für den Fall, dass der Träger der Pflegeversicherung oder der Träger der Pflegeeinrichtung seiner Leistungspflicht nicht nachkommt. Bei der rechtlichen Konstruktion eines Ruhens der Leistungspflicht der KV könnte dieses entsprechend den Regelungen in § 49 Abs. 1 Nrn. 1, 3, 4 und 6 SGB V dahingehend eingeschränkt werden, dass es nur eintritt, „soweit und solange" Versicherte die Leistungen von einem anderen Sozialleistungsträger oder nach der Rechtsprechung des BSG vom Träger der Pflegeeinrichtung erhält. Damit wäre auch berücksichtigt, dass der Versicherte im Bereich der Hilfsmittel sowohl Ansprüche gegen die KK oder den Träger der Pflegeeinrichtung haben kann, wie oben unter a) und b) dargelegt ist, jedoch keinen Einfluss besitzt auf die Ausgestaltung des Versorgungsvertrages mit der Einrichtung der stationären Pflege, in die er aufgenommen ist. In der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen KV und Pflegeversicherung würde sich dadurch im Ergebnis nichts ändern. Nur der Streit, wer zur Leistung des Hilfsmittels zuständig ist, würde zwischen der K K und der Pflegeversicherung oder dem Träger der Pflegeeinrichtung ausgefochten werden. Damit wäre auch der besonderen Situation der Versicherten Rechnung getragen, die stationäre Pflege erhalten. Die Versicherten, die sich in stationärer Pflege befinden, und ebenso ihre in der Regel im Alter ebenfalls fortgeschrittenen nahen Angehörigen vermögen die Last eines längeren Prozesses nicht zu tragen. Unabhängig von allen rechtlichen Erwägungen muss man die besondere Situation dieser Menschen verstehen, in ihrer Lage einen Prozess führen zu müssen, in dem es lediglich darauf ankommt, welcher Sozialleistungsträger das erforderliche Hilfsmittel zu erbringen hat. Zu Lasten der KV würde nur eine Vorleistungspflicht bestehen. Eine „Neuverteilung" oder eine höhere Kostenlast wäre weder für die KK noch für den Träger der Pflege Versicherung oder der Pflegeeinrichtung gegeben. Deshalb erscheint es auch nicht gerechtfertigt darauf hinzuweisen, dass die Leistungen
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der Pflegeversicherung in ihrer Höhe vielfach begrenzt sind. Auch nach der Rechtsprechung des BSG wird der Träger der Pflege Versicherung von seiner Leistungsverpflichtung weder dem Grunde noch der Höhe nach freigestellt oder begrenzt. Es geht hier lediglich darum sicherzustellen, dass nicht zu Lasten des stationär Pflegebedürftigen entweder der Träger der Pflegeversicherung in der Pflegevereinbarung mit dem Heimträger die Gewährung der erforderlichen Hilfsmittel rechtlich oder finanziell nicht ausreichend absichert, oder aber der Träger der Pflegeeinrichtung, der für die Pflegekasse die Sachleistung stationärer Pflege erbringt, seinen gesetzlichen und vertraglichen Verpflichtungen nicht nachkommt, obwohl nach der Rechtsprechung des BSG oder nach der mit dem Träger der Pflegeversicherung getroffenen Vereinbarung dies hätte der Fall sein müssen. Entsprechend den Ausführungen unter 2 wäre dies eine nach den besonderen von der Versicherung umfassten Bedürfnissen des pflegebedürftigen Versicherten ausgerichtete Lösung.
Künstler ohne Kunst Von Michael Kuppelt
I. Einleitung „Es gibt immer noch so ein paar verlorene Seelen, die sagen: Photographie wieso Kunst? Auf den Auslöser drücken kann jeder! Installation? Wieso Kunst? Bretter hinschmeißen kann jeder! Meines Erachtens völlig müßig! Wenn die Museen, die Ausstellungsmacher, der Kunsthandel und die Kritik etwas als Kunst behandeln, dann ist es Kunst! Faktisch und in jeder Beziehung! Basta!"1 Sind damit die Fragen, ob etwas „Kunst" sei und der Urheber „Künstler" beantwortet? Der 3.Senat des Bundessozialgericht (BSG) teilt für die Versicherungspflicht in der Künstlersozialversicherung (KSVG) 2 offensichtlich diese auf den ersten Blick so einleuchtende Auffassung, wenn er ausführt, der unter Berücksichtigung des Schutzzweckes des KSVG zutreffende Maßstab zur Abgrenzung des Künstlers vom Kunsthandwerker könne nur darin gefunden werden, ob der Schaffende mit seinen Werken zumindest in einschlägigen fachkundigen Kreisen als „Künstler" anerkannt und behandelt werde. Dies lasse sich feststellen, indem etwa nach der Teilnahme an Ausstellungen, der Mitgliedschaft in Künstlervereinen, der Aufnahme in Künstlerlexika, bei Musikschaffenden insbesondere auch nach der Mitwirkung an Musikveranstaltungen und Konzertaufnahmen sowie der Erwähnung in Programmheften oder Tonträgeraufschriften gefragt werde. 3 Bei Vertretern der bildenden Kunst sei vor allem maßgebend, ob der Betroffene an Kunstausstellungen teilnehme, Mitglied von Künstlervereinen sei, in Künstlerlexika aufgeführt werde, Auszeichnungen als Künstler erhalten habe oder andere Indizien auf eine derartige Anerkennung schließen ließen.4 Als weitere Indizien für die Künstlereigenschaft
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Irmi : in Strizz von Volker Reiche, F.A.Z. 7.12.05, S 44.
Gesetz über die Sozialversicherung der selbständigen Künstler und Publizisten (Künstlersozialversicherungsgesetz - KSVG) vom 27.7.1981 (BGBl I S. 705), zuletzt geändert durch Art 21 des Gesetzes zur Vereinfachung der Verwaltungsverrfahren im Sozialrecht (Verwaltungsvereinfachungsgesetz) vom 21.03.2005 (BGBl I, S. 818). 3 BSG, SGb 1998, 133. 4 BSGE 82, 164.
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käme bei einem Instrumentenbauer in Betracht, ob dieser bei Aufführungen mittelalterlicher Musik mit seinen Instrumenten in Programmheften oder bei Tonaufnahmen auf den Tonträgern gleichrangig mit Musikern, Dirigenten und Komponisten aufgezählt werde und es sich dabei nicht um bloße Verkaufswerbung für die Instrumente handle.5 Ist also Irmi 6 beizupflichten, wenn sie Kunst so formal definiert? Ist es daher und angesichts der zahlreichen Darstellungen müßig, nochmals den Versuch einer Begriffsbestimmung zu unternehmen.7 Vielleicht. Jedenfalls der 3. Senat des BSG bedient sich der genannten Definitionsdelegation bei der Abgrenzung des Künstlers vom Kunsthandwerker. Allerdings wird dieser Ansatz heftig kritisiert. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Pflichtmitgliedschaft in der Künstlersozialversicherung regelt das Gesetz. Für den hier interessierenden Zusammenhang ist dies eine Tätigkeit, welche unter den Begriff Kunst zu subsumieren ist. Der Gesetzesanwender, und damit die Rechtsprechung, schuldet daher eine Antwort auf die Frage, was Kunst von Nichtkunst unterscheidet, ohne dass die Beantwortung dieser Frage Dritten („einschlägigen Kreisen") überlassen werden könnte.8
I I . Künstlersozialversicherung 1. Grundlagen und Entwicklung Die Versicherungspflicht der selbständigen Künstler und Publizisten stellt eine Besonderheit im System der sozialen Sicherung dar, weil selbständig erwerbstätige Personen in diesem System grundsätzlich nicht der Versicherungspflicht unterliegen. Die in § 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) für die Rentenversicherung und in § 5 Abs. 1 Ziffer 3 und 4 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) für die Krankenversicherung geregelten Ausnahmen zeigen die Besonderheit der Versicherungspflicht Selbständiger. Die Pflicht zur sozialen Absicherung selbständiger Künstler und Publizisten im Hinblick auf die Risiken des Alters und der Krankheit nach dem KSVG trat im Wesentlichen mit Wirkung zum 1.1.1983 in Kraft und stellt das Ergebnis einer langen Debatte über den fehlenden und lückenhaften Schutz der selbständig arbeitenden Künstler und Publizisten (letztere sollen hier außer Betracht bleiben) in der Bundesrepublik dar, die durch den Bericht der Bundesregierung
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Fn. 3. Fn. 1. 7 Von den zahlreichen Abhandlungen zum Begriff der Kunst im Allgemeinen und in der Rechtsprechung seien nur die jüngsten genannt: Schriever, Der Begriff der Kunst im Künstlersozialversicherungsrecht, Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 709; Schnapp, Anmerkung zu BSG 12.5.05 - В 2 RK 39/04, SGb 2006, 44. 8 Eichenhof er, Anmerkung zu BSG 20.3.97 - 3 RK 15/96, SGb 1998, 136. 6
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zur sozialen Lage der Künstler aus dem Jahre 1975 ausgelöst wurde. 9 Mit Wirkung vom 1.1.1995 ist der Versicherungsschutz um die soziale Pflege Versicherung erweitert worden. 10 Die schlechte soziale Sicherung der meisten selbständigen Künstler wurde durch den genannten Bericht objektiv belegt. Die Mehrzahl der selbständigen Künstler hätten sich etwa für den Versicherungsschutz in der Rentenversicherung freiwillig versichern oder von der für Selbständige seit 1973 möglichen Versicherungspflicht auf Antrag Gebrauch machen müssen, waren dazu aber in aller Regel nicht nur deshalb nicht in der Lage, weil sie die Beiträge in vollem Umfang hätten selbst aufbringen müssen.11 Die Voraussetzungen für die Begründung einer Versicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung konnten regelmäßig überhaupt nicht erfüllt werden. Diese Lücke im Sozialversicherungssystem verbunden mit den oft niedrigen Einkommen der Künstler führte dazu, dass vielfach im Krankheitsfall die Sozialämter die Kosten übernehmen mussten. Im Alter litten viele Künstler unter wirtschaftlicher Not. Deren Einkommen verringerte sich im Alter u.a. infolge schwindender Schaffenskraft oder veränderter Marktanforderungen oft erheblich, so dass ältere Künstler entweder von der Sozialhilfe abhängig waren oder aber unter beklagenswerten ökonomischen Verhältnissen lebten. Die beim Bundespräsidenten angesiedelte Deutsche Künstlerhilfe, die von verschiedenen Bundesländern vergebenen Ehrensolde oder andere (Sozial-) Leistungen an Künstler sowie die Leistungen aus Versorgungskassen der Verwertungsgesellschaften konnten nur einen geringen Ausgleich schaffen. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass selbständige Künstler sich größtenteils in einer wirtschaftlichen und sozialen Situation befinden, die der von Arbeitnehmern vergleichbar ist. Sie sind auf die Mitwirkung von Vermarktern oder Verwertern angewiesen, damit ihre Werke oder Leistungen dem Endabnehmer zugänglich gemacht werden können. Sie werden deshalb in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung pflichtversichert und die Finanzierung der Sozialversicherungsbeiträge derjenigen der Arbeitnehmer nachgebildet. Nach dem KSVG versicherte selbständige Künstler haben wie Arbeitnehmer nur den halben Beitrag zu zahlen. Der „Arbeitgeberanteil" wird von den Verwertern aufgebracht. Hinzu kommt ein Bundeszuschuss, welcher dem Umstand Rechnung trägt, dass nicht alle Produzenten sich der professionellen Verwerter der künstlerischen Produkte bedienen, sondern als Selbstvermarkter ihre Produkte oder Leistungen dem Markt anbieten.
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Bericht der BReg über die wirtschaftliche und soziale Lage der künstlerischen Berufe (Künstlerbericht), BT-Drucks. 7/3071. 10 Art. 12 Pflege-Versicherungsgesetz vom 26.5.1994, BGBl. I, S. 1014. 11 Finke/Brachmann/Nordhausen , Künstlersozialversicherungsgesetz, 3.Aufl. 2004, Einf. Rz. 3.
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Nach dem Inkrafttreten des KSVG hatte die mit der Umsetzung betraute Künstlersozialkasse mit einer erheblich über den Erwartungen liegenden Zahl von Personen zu tun, welche um Aufnahme in die Versicherung nachsuchten. Hierauf war sie weder personell noch in Hinblick auf die Sachausstattung eingerichtet. Hinzu kamen erhebliche Probleme bei der Beitragsberechnung und der Beitragsentrichtung und die Weigerung von Verwertern künstlerischer und publizistischer Leistungen, die Künstlersozialversicherungsabgabe zu zahlen. Verwerter künstlerischer und publizistischer Leistungen erhoben beim Bundesverfassungsgericht in Hinblick auf die Verfassungskonformität des KSVG Verfassungsbeschwerde. Diese Schwierigkeiten und auch der Widerstand der Verwerter konnten allerdings bei der Komplexität des Gesetzeswerkes und der Einführung einer neuen Abgabepflicht nicht wirklich überraschen. Nachdem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) am 8.4.198712 die Verfassungsbeschwerden der Verwerter gegen das KSVG im Wesentlichen als unbegründet zurückgewiesen hatte und nach in Kraft Treten des Gesetzes zur Änderung des KSVG vom 20.12.198813 kann die soziale Sicherung der selbständigen Künstler auf der Grundlage des KSVG durchaus als ein erfolgreiches Element der deutschen Sozialversicherung bezeichnet werden. So ist auch die Zahl der nach dem KSVG versicherten selbständigen Künstler ständig angestiegen. Im Jahre 1992 waren 46.303, am 30.9.2005 bereits 109.451 Künstler nach dem KSVG versichert (jeweils ohne Publizisten und einschließlich der neuen Bundesländer). 14 Für den starken Anstieg der Versichertenzahl kommen verschiedene Ursachen in Betracht. Eine Rolle spielen sicherlich der wachsende Kultur- und Medienmarkt, die größere Bereitschaft zur Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit und auch die Verselbständigung von ehemals fest angestellten Mitarbeitern in künstlerischen Unternehmensbereichen. 15 Zu berücksichtigen ist sicherlich auch die Tatsache, dass über das KSVG die überwiegende Zahl der Versicherten einen vergleichsweise günstigen Krankenversicherungsschutz erlangen, da sich die Beitragsbemessung grundsätzlich an dem voraussichtlichen - oft geringen - Jahresarbeitseinkommen aus der künstlerischen Tätigkeit orientiert. Inwieweit auch Personen Aufnahme in der Künstlersozialversicherung gefunden haben, die nicht die hierfür erforderlichen persönlichen Voraussetzungen erfüllen, kann nur gemutmaßt werden.
12
BVerfGE 75, 108. BGBl I S. 2606. 14 Zahlen-Daten-Fakten, www.kuenstlersozialkasse.de. 15 Finke/Brachmann/Nordhausen (Fn. 11), Einf. Rz. 46 unter Verweis auf den Künstlerbericht 2000 der Bundesregierung. 13
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2. Künstlersozialversicherungsgesetz Das Gesetz enthält keine inhaltliche Definition des Begriffs des Künstlers oder der Kunst, sondern nur eine formale Konkretisierung, wer Künstler und Publizist im Sinne des KSVG ist. Künstler ist danach, wer Musik, darstellende oder bildende Kunst schafft, ausübt oder lehrt. 16 Auf eine materielle Definition ist bewusst verzichtet worden. Dem stehe die Vielfalt, Komplexität und Dynamik der Erscheinungsformen künstlerischer und publizistischer Berufstätigkeit entgegen. Von jeder Abgrenzung nach der Qualität der künstlerischen und publizistischen Tätigkeit ist abgesehen worden. Für die soziale Sicherung könne lediglich das soziale Schutzbedürfnis maßgebend sein.17 Versicherungspflichtig sind die selbständig erwerbsmäßig tätigen Künstler, also nicht diejenigen, die im Rahmen ihrer Freizeit künstlerisch tätig werden oder Kunst als Hobby betreiben. Die künstlerische Tätigkeit muss mit der Absicht verbunden sein, auf Dauer hieraus nicht nur geringfügige Einnahmen zu erzielen. Zur Abgrenzung künstlerischer von nichtkünstlerischer Betätigung hat die Praxis Kriterien entwickelt. Die Versicherung beginnt in der Regel mit der Meldung des Künstlers oder Publizisten bei der Künstlersozialkasse (KSK). Diese prüft anhand eines ausgefüllten Fragebogens und verschiedener Nachweise (z. B. Zeugnisse über Ausbildung und Prüfungen, Veröffentlichungen, Rezensionen, Ausstellungskataloge, Vertragsunterlagen über Engagements, Bescheinigungen über künstlerische Tätigkeit, Preise oder Stipendien, Mitgliedsbescheinigungen von Berufsverbänden) die Künstlereigenschaft sowie die sonstigen Voraussetzungen für die Versicherungspflicht. Qualitätsfragen spielen für die Beurteilung keine Rolle. Die Verordnung zur Durchführung des KSVG vom 23. Mai 198418 enthält eine - allerdings nicht abschließende Aufzählung der künstlerischen und publizistischen Berufe.
I I I . Der Begriff der Kunst in der Jurisdiktion 1. Bundesverfassungsgericht Was ist Kunst? Eine Frage von philosophischer Dimension 19 , die für die Künstlersozialversicherung allerdings auch nicht in voller Gänze beantwortet werden muss. Jedoch muss ein Gericht, das Rechtsfolgen an das Sachverhaltsmerkmal Kunst knüpft, einen Begriff von Kunst haben und ihm justitiable Konturen geben. Ob dieser Kunstbegriff dann philosophischer oder gar künstleri16
§ 2 Satz 1 KSVG. BT-Drs. 8/3172, S.21. 18 BGBl I S. 709; die Verordnung ist mittlerweile wieder aufgehoben worden, weil die ihr zugrunde liegende Spartentrennung seit 1.1.2000 nicht mehr gilt, vgl. Fin17
ke/Brachmann/Nordhausen 19
(Fn. 11), § 2 Rz. 3.
Kant, Kritik der Urteilskraft, § 48, Vom Verhältnisse des Genies zum Geschmack.
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scher Überprüfung standhält, bleibt ebenso offen wie die Richtigkeit der Behauptung, Kunst dürfe überhaupt nicht definiert werden. 20 Zum ersten Mal in der „Mephisto"-Entscheidung von 1971 bezeichnet das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden als das Wesentliche der künstlerischen Betätigung. Alle künstlerische Tätigkeit sei ein Ineinander von bewussten und unbewussten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen seien. Beim künstlerischen Schaffen wirkten Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammen; es sei primär nicht Mitteilung, sondern Ausdruck und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers. 21 In der Entscheidung zum „Anachronistischen Zug" aus dem Jahr 1984 hat das BVerfG seine Auffassung weiterentwickelt. Den bisherigen Versuchen der Kunsttheorie (einschließlich der Reflexionen ausübender Künstler über ihr Tun), sich über ihren Gegenstand klar zu werden, lasse sich keine zureichende Bestimmung entnehmen, so dass sich nicht an einen gefestigten Begriff der Kunst im außerrechtlichen Bereich anknüpfen lasse. Dass in der Kunsttheorie jeglicher Konsens über objektive Maßstäbe fehle, hänge allerdings auch mit einem besonderen Merkmal des Kunstlebens zusammen: die „Avantgarde" ziele gerade darauf ab, die Grenzen der Kunst zu erweitern. Dies und ein weit verbreitetes Misstrauen von Künstlern und Kunsttheoretikern gegen starre Formen und strenge Konventionen seien Eigenheiten des Lebensbereiches Kunst, welche zu respektieren seien und bereits darauf hindeuteten, dass nur ein weiter Kunstbegriff zu angemessenen Lösungen führen könne. Die Unmöglichkeit, Kunst generell zu definieren, entbinde indessen nicht von der verfassungsrechtlichen Pflicht, die Freiheit des Lebensbereichs Kunst zu schützen, also bei der konkreten Rechtsanwendung zu entscheiden, ob es sich um eine künstlerische Hervorbringung handle.22 In dieser Entscheidung und seither kombiniert das BVerfG drei Kriterien, um den Begriff der Kunst i.S. von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG zu erfassen. Zunächst zieht es den in der Mephisto-Entscheidung entwickelten materiellen Kunstbegriff heran, der durch die schöpferische Gestaltung geprägt ist, mit der sich der Künstler durch das Medium einer bestimmten Formensprache (Musik, Malerei usw.) zum Ausdruck bringt. 23 Zum Zweiten berücksichtigt das Gericht eine rein positivistische Betrachtung, wonach das Wesentliche eines Kunstwerks darin zu sehen sei, dass bei formaler, typoplogischer Betrachtung die
20 Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, 1967, S.217. 21 BVerfGE 30, 173. 22 BVerfGE 67,213,224. 23 Fn. 21.
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Gattungsanforderungen eines bestimmten Werktyps erfüllt sind. Dieser formale Kunstbegriff knüpft lediglich an die Tätigkeit und die Ergebnisse etwa des Malens, Bildhauens, Dichtens usw. an. 24 Diese Herangehensweise vermeidet zwar die nur subjektiv wertend mögliche Erfassung der schöpferischen Gestaltungstiefe, es ist damit aber nicht möglich, neue avantgardistische Ausdrucksformen und Formate als Kunst zu erkennen. 25 Drittens wird das kennzeichnende Merkmal einer künstlerischen Äußerung darin gesehen, dass es wegen der Mannigfaltigkeit ihres Aussagegehaltes möglich ist, der Darstellung im Wege der fortgesetzten Interpretation immer weiterreichende Bedeutungen zu entnehmen, so dass sich eine praktisch vielstufige Informationsvermittlung ergibt. Die Elemente (Zeichen) der künstlerischen Darstellung reichen über ihre alltägliche Aussagefunktion hinaus und führen zu weiteren, theoretisch unbegrenzten Erkenntnissen. 26 Diese Definition erfasst allenfalls in begrenztem Umfang Trivial· oder Unterhaltungskunst und führt damit einen Qualitätsmaßstab in die Definition ein, welcher auch nach der Rechtsprechung des BVerfG grundsätzlich zur Feststellung, ob etwas Kunst sei, ungeeignet ist. Eine wertende Einengung des Kunstbegriffs ist mit der umfassenden Freiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG nämlich nicht zu vereinbaren. Verfassungsrechtlich ist nur die Unterscheidung zwischen Kunst und Nichtkunst erlaubt. Eine Niveaukontrolle, also eine Differenzierung zwischen guter und schlechter (und deshalb nicht oder weniger schutzwürdiger) Kunst liefe auf eine unstatthafte Inhaltskontrolle hinaus.27 Das BVerfG wendet diese Kriterien allerdings nur wenig systematisch an. Am ehesten lässt sich eine Kombination der Kriterien erkennen, die darauf hinausläuft, dass jedenfalls bei der Erfüllung formaler und materieller Anforderungen der genannten Art der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG betroffen ist. Soweit ersichtlich liegt noch keine jüngere Entscheidung vor, welche dazu gezwungen hätte, bei Vorliegen nur der formalen oder nur der materiellen Kriterien des Kunstbegriffs den Eingriff in den Schutzbereich festzustellen oder zu verneinen. Zuletzt in einem Kammerbeschluss vom 3.11.2000 hat das BVerfG zur Einordnung einer Gesangsdarbietung mit dem Titel „Deutschland muss sterben, damit wir leben können" der Hamburger Punkrock-Gruppe „Slime" ausgeführt, dass es sich dabei um Kunst im Sinne des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG handle. Dies ergebe sich sowohl bei ausschließlich formaler Betrachtungsweise, weil die Gattungsanforderungen des Werktyps 24 25
Knies (Fn. 20), 219.
Henschel , Die Kunstfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, NJW 90, 1937. 26 von Noorden , Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) und die Strafbarkeit der Verbreitung unzüchtiger Darstellungen (§ 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB), Diss. Köln 1969. 27 BVerfGE 75, 369.
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„Komposition" und „Dichtung" erfüllt seien, als auch bei einer eher inhaltsbezogenen Definition des Kunstbegriffs. Der Verfasser benutze die Formensprache eines Liedes, um seine Erfahrungen und Eindrücke zu bestimmten Vorgängen mitzuteilen, die man unter der Überschrift „Bedrohliche Lebensumstände in Deutschland" zusammenfassen könne. Da eine wertende Einengung des Kunstbegriffs mit der umfassenden Freiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG nicht zu vereinbaren ist, komme es bei der verfassungsrechtlichen Einordnung und Beurteilung auf die „Höhe" der Dichtkunst nicht an. 28 Ganz ähnlich äußerte sich der 1.Senat des BVerfG in einem Beschluss vom 7.3.1990 zu einer satirischen Nachdichtung des Deutschlandliedes. Diese Nachdichtung sei Kunst im Sinne dieses Grundrechts. Dies ergebe sich sowohl bei ausschließlich formaler Betrachtungsweise, weil die Gattungsanforderungen des Werktyps „Dichtung" erfüllt seien, als auch bei einer eher inhaltsbezogenen Definition des Kunstbegriffs. Der Verfasser benutze die Formensprache des Gedichts, um seine Erfahrungen und Eindrücke zu bestimmten Lebensvorgängen mitzuteilen, die man unter der Überschrift „Deutsches Alltagsleben" zusammenfassen könne. Erkennbare Absicht des Künstlers sei es dabei gewesen, hinsichtlich der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit aufzuzeigen. Eingekleidet werde diese Aussage in eine Nachdichtung des Deutschlandliedes, in der unter Verwendung des Versmaßes, phonetischer Annäherung und Verfremdung des Urtextes dessen Idealisierungen in überspitzt negative Beschreibungen unserer Lebenswirklichkeit umgemünzt, also gerade in ihr Gegenteil verkehrt würden. 29 2. Bundesfinanzhof Für die finanzgerichtliche Rechtsprechung hat sich der Bundesfinanzhof (BFH) der Rechtsprechung des BVerfG zur Frage des Kunstbegriffs im Wesentlichen angeschlossen. Zaubern sei keine Kunst i.S. des § 52 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977), hat der 1. Senat des BFH in seiner Entscheidung vom 2.8.1989 wörtlich ausgeführt. 30 Wobei das Gericht möglicherweise anders entschieden hätte, wäre es tatsächlich um Zauberei gegangen. Tatsächlich ging es jedoch (leider nur) um magische Illusionen, also um so genannte Zaubertricks, die von geschickten Manipulateuren dem regelmäßig verblüfften Publikum öffentlich vorgefühlt werden. Für die künstlerische Betätigung sei wesentlich die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht würden. Alle künstleri-
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BVerfG, NJW 2001, 596. BVerfGE 81, 298. BFH, NJW 1990, 2024.
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sehe Tätigkeit sei ein Ineinander von bewussten und unbewussten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen seien. Beim künstlerischen Schaffen wirkten Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammen; es sei primär nicht Mitteilung, sondern Ausdruck, und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers. Den so umschriebenen Anforderungen genüge das Zaubern nicht. Zwar könnten schöpferische Elemente bei der Entwicklung neuer Zaubertricks gegeben sein, aber dies stelle ebenso wenig eine künstlerische Äußerung dar wie beim Erfinder im technisch-wirtschaftlichen Bereich; vielmehr seien diese Tricks Ergebnis und Anwendung naturwissenschaftlich erklärbarer Vorgänge. Der Vorführung eines Zauberers fehle es an dem Ineinandergreifen von bewussten und unbewussten, rational nicht aufklärbaren Vorgängen. Die Vorführung erschöpfe sich in der reinen Unterhaltung. Die Zauberei beruhe auf Täuschung. Der Zuschauer sei sich darüber klar, dass er getäuscht werde; er wisse nur nicht wie. Die Fertigkeit des Zauberers bestehe darin, mit Hilfe von Effekten, Apparaturen oder Fingerfertigkeit den Eindruck zu erwecken, die elementarsten Naturgesetze auf den Kopf zu stellen. In diesem Sinne sei Zaubern nur Spiel, Artistik, angewandte Fingerfertigkeit, jedoch keine Kunst. Zaubern könne auch dann nicht als Kunst gewertet werden, wenn man das Wesentliche eines Kunstwerks darin sehe, dass bei formaler, typologischer Betrachtung die Gattungsanforderungen eines bestimmten Werktyps erfüllt seien, man also einen formalen Kunstbegriff zugrunde lege, der nur an die Tätigkeit und die Ergebnisse etwa des Malens, Bildhauens, Dichtens anknüpfe. Das der Aufführung eines Zauberers zugrunde liegende Werk gehöre ebenso wenig zu den klassischen Formen künstlerischer Äußerung wie seine Darbietung. Zaubern erfülle schließlich nicht das kennzeichnende Merkmal einer künstlerischen Äußerung, das darin gesehen werde, dass es wegen der Mannigfaltigkeit ihres Aussagegehalts möglich sei, der Darstellung im Wege einer fortgesetzten Interpretation immer weiterreichende Bedeutungen zu entnehmen, so dass sich eine praktisch unerschöpfliche, vielstufige Informationsvermittlung ergebe. Eine gelungene Zaubervorführung verblüffe und unterhalte die Zuschauer und rege diese im Allgemeinen dazu an, darüber nachzudenken, wie dieser erlebte Effekt zustande gekommen sei. Eine weiterreichende Bedeutung könne dem Geschehen nicht zugeordnet werden. 31 Entsprechend wurden Fakire , Hypnotiseure , Feuerschlucker und Trauerredner steuerrechtlich eingeordnet. 32 Im Urteil vom 4.11.2004 hat der BFH sein eher materielles Verständnis von Kunst präzisiert. 33 Eine künstlerische Tätigkeit i.S.v. § 18 Abs 1 Nr 1 EStG übe ein Steuerpflichtiger nur dann aus, wenn er eine schöpferische Leistung mit einer gewissen Gestaltungshöhe vollbringe,
31 32 33
Fn. 30. Fn. 30; BFH, BStBl I I 1982, 22. BFH, NJW 2005, 1554.
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d.h. eine Leistung, in der seine individuelle Anschauungsweise und seine besondere Gestaltungskraft klar zum Ausdruck kommen. 3. Bundesgerichtshof Die Rechtsprechung des BGH verwendet zur Beschreibung der Kunst ebenfalls die dargestellten Prinzipien der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen. Alle künstlerische Tätigkeit sei ein Ineinander von bewussten und unbewussten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen seien. Die Gestaltung eines geistigseelischen Anliegens gehöre nicht zu den Voraussetzungen eines Kunstwerkes. Kunst lebe vielmehr in erster Linie aus der formalen Gestaltung, die sich in einem schöpferischen Akt vollziehe, gleichgültig worauf sie sich beziehe und welchen Inhalt sie habe. Auch die realistische Darstellung von Dingen oder Vorgängen in Umsetzung der bloßen Sinneserfahrung ohne einen spezifisch geistigen oder seelischen Bezug könne ein Anliegen künstlerischer Betätigung sein. Das gelte nicht nur für den Bereich der bildenden Kunst und des Kunsthandwerks, sondern auch für literarische Erzeugnisse. Erforderlich ist lediglich eine irgendwie geartete schöpferische Formgestaltung. 34 4. Bundessozialgericht Für das KSVG geht das BSG zunächst von folgenden Grundsätzen aus: Der Begriff der Kunst lässt sich nicht allgemein umschreiben, sondern bewegt sich von einer elitären Auffassung über den breiten Publikumsgeschmack bis hin zu einem alles menschliche Handeln umfassenden Kunstverständnis. Hinzu kommt, dass selbst vom Standpunkt eines einzelnen Betrachters mit seinem individuellen Kunstverständnis nicht genau zu sagen ist, wo die Grenze verläuft, da die Kriterien nicht messbar und die Übergänge fließend sind. Die Folge ist, dass häufig kaum nachvollziehbar begründet werden kann, weshalb im Einzelfall eine künstlerische Qualität vorliegt oder nicht. Das Erfordernis, die Versicherungspflicht in der Künstlersozialversicherung festzustellen, verlangt aber auch in solchen Fällen nach einem nachvollziehbaren, allgemeingültigen Abgrenzungsmaßstab. Dieser kann weder im Kunstverständnis des jeweiligen Rechtsanwenders liegen, noch in dem Verständnis des überwiegenden Bevölkerungsanteils oder zumindest breiter Bevölkerungskreise. Bei Anlegung des letzteren Maßstabs würden gerade viele besonders schutzbedürftige jüngere Menschen mit neuartigen Ideen (sog. Avantgarde) nicht unter die Künstlersozialversicherung fallen, weil sich neue Entwicklungen erfahrungsgemäß oft erst
34
BGHSt 37, 55.
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nach Jahrzehnten durchsetzen und in das Kunstverständnis breiter Bevölkerungskreise eingehen.35 Grundsätzlich verlangt zwar auch das BSG für die Frage, ob eine künstlerische Betätigung im Sinne des KSVG vorliegt, eine in den Werken und Darbietungen zum Ausdruck kommende eigenschöpferische Leistung, schränkt diese Anforderung im Hinblick auf den Zweck des KSVG jedoch erheblich ein. Weil in § 2 Satz 1 KSVG lediglich die drei Bereiche künstlerischer Tätigkeit, nämlich die Musik, die Bildende Kunst und die Darstellende Kunst jeweils in den Spielarten des Schaffens, Ausübens und Lehrens umschrieben würden und eine weitergehende Festlegung, was darunter im Einzelnen zu verstehen sei, im Hinblick auf die Vielfalt, Komplexität und Dynamik der Erscheinungsformen künstlerischer Betätigungsfelder nicht erfolgt sei, sei dieser Begriff deshalb aus dem Regelungszweck des KSVG unter Berücksichtigung der allgemeinen Verkehrsauffassung und der historischen Entwicklung zu erschließen. 36 Aus den Materialien zum KSVG ergebe sich, dass der Begriff der Kunst trotz seiner Unschärfe auf jeden Fall solche künstlerischen Tätigkeiten umfasse, mit denen sich der „Bericht der Bundesregierung über die wirtschaftliche und soziale Lage der künstlerischen Berufe (Künstlerbericht)" aus dem Jahre 197537 beschäftigt habe. Der Gesetzgeber habe damit einen an der Typologie von Ausübungsformen orientierten Kunstbegriff vorgegeben, der in aller Regel dann erfüllt sei, wenn das zu beurteilende Werk den Gattungsanforderungen eines bestimmten Kunsttyps entspreche. Jedenfalls bei diesen Berufsfeldern sei das soziale Schutzbedürfnis zu unterstellen, ohne dass es auf die Qualität der künstlerischen Tätigkeit ankomme oder eine bestimmte Werk- und Gestaltungshöhe vorausgesetzt werde. 38 Aber auch bei künstlerischen Betätigungsfeldern außerhalb des Katalogs des Künstlerberichts stellt das BSG nur geringe bis keine Anforderungen an eine wie immer geartete Werk- oder Gestaltungshöhe. Dies erscheint jedenfalls im Hinblick auf den Zweck des KSVG gerechtfertigt. Bei der Wertung einer Leistung als künstlerisch ist in Bezug auf die Künstlersozialversicherung ist vielmehr vorrangig die Absicht des Gesetzgebers zu berücksichtigen, eine umfassende Grundsicherung der Künstler für die allgemeinen Lebensrisiken einzuführen. Als sicherungsbedürftig wurden hierbei gerade nicht diejenigen Personen angesehen, deren Qualifikation als Künstler wegen der allgemeinen Wertschätzung ihrer Produkte außer Zweifel steht und die aus diesem Grund aus ihren Einkünften auch die eigene soziale Sicherung ohne Hilfe durch ein staatliches Sicherungssystem bewerkstelligen können. Der Gesetzgeber hielt 35 36 37 38
BSGE 80, 136. BSG, SozR 4 - 5425 § 24 Nr. 6; BSGE 83, 160. BT-Drucks 7/3071 BSG, SGB 2006, 44 mit Anmerkung Schnapp.
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gerade die soziale Sicherung solcher Personen für unbefriedigend, deren wirtschaftliche Situation nicht zuletzt wegen fehlender allgemeiner Anerkennung eine eigenständige Sicherung nicht zulässt.39 Auch bei Tätigkeiten, die sowohl in handwerklicher als auch künstlerischer Form ausgeübt werden können, stellt das BSG in neueren Entscheidungen bei der Zuordnung zum Zwecke der Abgabenerhebung nach dem KSVG nicht auf die künstlerische Qualität der jeweiligen Arbeiten ab, sondern sieht es als maßgebend an, in welchem Tätigkeitsbereich und gesellschaftlichen Umfeld die einzelnen Leistungen erbracht werden: Wer sich auf dem herkömmlichen Berufsfeld eines Handwerks bewege, werde auch nicht dadurch zum Künstler i.S. des KSVG, dass seine Leistungen einen eigenschöpferischen gestalterischen Charakter aufwiesen, weil ein solcher bei diesen Handwerksberufen typisch sei. Als Künstler sei er vielmehr erst dann einzuordnen, wenn er das typische handwerkliche Berufsfeld verlasse, sich mit seinen Produkten in einem künstlerischen Umfeld bewege und in künstlerischen Kreisen als gleichrangig anerkannt werde. Andererseits hat der Senat bei Berufstätigkeiten, die nach dem gesetzgeberischen Willen den künstlerischen zuzuordnen sind, nicht als entscheidend angesehen, ob im Einzelfall (z.B. wegen der Eigenart des Produkts oder wegen konkreter Vorgaben des Auftraggebers) ein großer oder kleiner Gestaltungsspielraum bei der Auftragsdurchführung verbleibe. Die Zweckgebundenheit der Produkte (Gebrauchsgegenstände, Werbung) stehe ihrer Einordnung als künstlerisch in keinem Fall entgegen.40 Jedenfalls in den Entscheidungen aus neuerer Zeit bedient sich das BSG somit zur Einstufung einer Tätigkeit als künstlerisch im Sinne von § 2 Satz 1 KSVG zunächst rein formaler Kriterien. Ist die Tätigkeit im Künstlerbericht aus dem Jahre 197541 oder in der - zwischenzeitlich aufgehobenen - Durchführungsverordnung zum KSVG vom 23.5.198442 aufgeführt, steht die zu beurteilende Tätigkeit einer dort aufgeführten Tätigkeit gleich oder entspricht das zu beurteilende Werk den Gattungsanforderungen eines bestimmten Kunsttyps handelt es sich um eine Betätigung im Sinne der genannten Vorschrift, ohne dass es auf eine bestimmte Werk- und Gestaltungshöhe oder die Qualität der künstlerischen Tätigkeit ankommt. Ein besonderer schöpferischer Werkanteil wird nicht verlangt, allenfalls bei diesen Betätigungsformen unterstellt. Bei allen anderen, auf diese Weise nicht zu qualifizierenden Tätigkeiten kommt es darauf an, ob in den Werken ein eigenschöpferischer Anteil zum Ausdruck
39
BSGE 77,21. BSG, SozR 4-5425 § 24 Nr. 6. 41 Bericht der BReg über die wirtschaftliche und soziale Lage der künstlerischen Berufe (Künstlerbericht), BT-Drucks 7/3071. 42 BGBl. I S. 709. 40
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kommt. 43 Diese anderen Tätigkeiten sind in erster Linie diejenigen, die sich im Grenzbereich zum Handwerk bewegen oder sich neuerer Technologien bzw. Ausdrucksformen bedienen. Hinzukommen alle übrigen Grenzfälle. Für die sowohl handwerklich als auch künstlerisch ausgeübten Tätigkeiten, wie etwa die des Goldschmieds , des Steinmetzen ( Bildhauer ) oder des Fotografen nimmt das BSG die Abgrenzung von Handwerk und Kunst nach materiellen Kriterien vor. Für die Zuordnung zur Kunst lässt das BSG allein die Tatsache, dass die Erzeugnisse eine gestalterische Leistung enthalten, nicht ausreichen. Gestalterische Elemente seien bei zahlreichen Arbeiten unabdingbar, die unzweifelhaft zum Bereich des Handwerks zählten. Gerade dem Kunsthandwerk sei ein gestalterischer Freiraum immanent; es bleibe damit dennoch Handwerk. Für die Bewertung als künstlerische Leistung komme es darauf an, ob eine über eine kunsthandwerkliche Gestaltung hinausgehende schöpferische Leistung entfaltet werde. Bei der handwerklichen Fertigung von Einzelstücken nach eigenen Entwürfen sei eine Zuordnung zum Bereich der Kunst nur dann anzunehmen, wenn der Betroffene mit seinen Werken in einschlägigen fachkundigen Kreisen als „Künstler" anerkannt und behandelt werde. Hierfür sei bei Vertretern der bildenden Kunst vor allem maßgebend, ob der Betroffene an Kunstausstellungen teilnehme, Mitglied von Künstlervereinen sei, in Künstlerlexika aufgeführt werde, Auszeichnungen als Künstler erhalten habe oder andere Indizien auf eine derartige Anerkennung schließen ließen.44 Erstaunlich ist, dass der Senat diesen „Kunstgriff bei neuen oder ungewöhnlichen Ausdrucksformen künstlerischer Tätigkeit nicht anwendet, sondern eigenständig den kreativ-schöpferischen Werkanteil überprüft. Hinsichtlich der Tätigkeit eines so genannten Webdesigners , der sich im Wesentlichen mit der Gestaltung von Internetauftritten befasst, wird wieder das Kriterium der „eigenschöpferischen Gestaltung" bemüht, welche in den Werken dieser Person zum Ausdruck kommen müsse, damit dieser als Künstler im Sinne des KSVG gelten könne.45 Der Webdesigner wird als moderner Grafikdesigner begriffen, der lediglich dessen Werkzeuge (Feder, Pinsel, Farbe) nicht mehr benutzt. Webdesign ist Bestandteil der bildenden Kunst, so das BSG. Denn Kunst sei - unter Berufung auf Schriever 46 - nach heutigem Verständnis nicht wesentlich durch seine Gegenständlichkeit, sondern vielmehr durch die dem Kunstwerk Authentizität verleihende Form gebende Idee zu bestimmen. Dies ist nichts anderes als der materielle Kunstbegriff, wie er bereits im Mephisto-Urteil des Bundesverfassungsgerichts verwendet worden ist. 47
43 44 45
BSG, SGb 2005, 522. BSGE 82, 164; BSGE 80, 136. Fn. 43.
46
Schriever (Fn. 7), 722.
47
BVerfGE 30, 173.
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Zur japanischen Teezeremonie entschied das BSG, dass es sich dabei um keine Kunstform des KSVG handle und daher eine diplomierte japanische Teemeisterin, welche diese Zeremonie in Deutschland vorführt und unterrichtet, nicht der Versicherungspflicht nach dem KSVG unterliegt. 48 Wesentliche Grundlage dieser Entscheidung bildete die Feststellung des Gerichts, dass schon die historische Entwicklung der japanischen Teezeremonie mit ihren buddhistisch-shintoistischen Wurzeln zeige, dass die Teemeisterin ihre Tätigkeit nicht schöpferisch frei gestalte. Die von ihr gebotenen Darbietungen seien die Perfektionierung einer alltäglichen Verrichtung mit dem Ziel der inneren Vervollkommnung aller Teilnehmer, nicht Ausdruck einer eigenschöpferischen künstlerischen Gestaltung, sondern eines stilisierten gemeinschaftlichen Handelns mit dem Ziel der Verschmelzung besonderer ästhetischer Ausdrucksformen und spiritueller Bewusstseinsbildung. Der äußere Ablauf sei für eine Teemeisterin immer obligatorisch; sie vermöge ihn kaum zu variieren, weil sie einer bestimmtem Teeschule verpflichtet sei, und habe Handlungsspielraum nur insoweit, als sie die Teeutensilien sowie den Bild- und Blumenschmuck jeweils unterschiedlich zusammenstellen könne. Ob den Werken einer in den Bereichen Mode, Werbung und Musikvideos tätigen selbständigen Visagistin ein eigenständiger künstlerischer Werkcharakter zukommt, brauchte das BSG nicht abschließend zu entscheiden, weil die Visagistin im konkreten Fall in einem Team von Spezialisten zur Herstellung von Mode- und Werbefotografien im Rahmen eines vorgegebenen Themas selbständig für ihren Arbeitsbereich verantwortlich war. Das Kunstwerk war daher nicht nur dem Fotografen, sondern auch der Klägerin zuzurechnen, weil sie dieses durch ihre Arbeit entscheidend mitgestaltet hat, was auch darin zum Ausdruck kam, dass sie auf den Fotografien neben dem Fotografen ebenfalls als Verantwortliche hervorgehoben worden ist. 49 Die Einbeziehung der Artisten in den Schutzbereich der Künstlersozialversicherung ergibt sich aus der Gesetzesgeschichte. Vor dem in Kraft Treten des KSVG waren nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) selbständige Artisten in der Rentenversicherung der Angestellten und nach § 166 Abs. 1 Nr. 3 Reichsversicherungsordnung (RVO) in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert. Diese Vorschriften sind durch das KSVG aufgehoben worden, weil Artisten im „Bericht der Bundesregierung über die wirtschaftliche und soziale Lage der künstlerischen Berufe" (Künstlerbericht) 50 aufgeführt worden sind und daher nach der Vorstellung des Gesetzgebers vom KSVG erfasst werden. Nach Auffassung des BSG bezieht sich dies aber nur auf Artisten, die üblicherweise in Theater, Variete, Revue oder Zirkus 48 49 50
BSG, SGb 2005, 402. Fn. 38. Fn. 9, S. 39.
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auftreten, weil nur dieser Personenkreis nach den außer Kraft getretenen Vorschriften versicherungspflichtig gewesen ist und im Künstlerbericht Erwähnung gefunden hat. Auch nur dieser Personenkreis würde nach der Verkehrsanschauung als Künstler angesehen, obwohl eine schöpferische Werkgestaltung im Regelfall nicht vorliegen wird. 51 Mit der „Verkehrsanschauung" wird ein bisher nicht genutzter, wenig aussagekräftiger Maßstab zur Bestimmung der Künstlereigenschaft eingeführt, der allerdings bisher nicht auf einen weiteren Kreis als den der Artisten und Unterhaltungskünstler angewandt worden ist. Letztere sind in der nach dem KSVG grundsätzlich pflichtversichert, weil sie Künstlerbericht aufgeführt worden sind. Im Einzelfall kommt es nicht darauf an, ob der Artist tatsächlich im Variete oder Zirkus auftritt, ausreichend ist, dass die konkrete Darbietung dort grundsätzlich zur Aufführung kommt, wie dies etwa bei Jongleuren , Seiltänzern, Akrobaten, Tänzern oder Magiern der Fall ist. Dies erklärt auch die vielfach kritisierte und oft belächelte Entscheidung, wonach Damenunterwäschevorführungen in Discotheken der Künstlersozialabgabe unterliegen. Hierbei handelt es sich nach Auffassung des BSG um Unterhaltungskunst, welche wie beim Artisten nur ein Mindestmaß an schöpferischer Gestaltung voraussetzt und grundsätzlich der Künstlersozialversicherung unterfällt. 52 Dennoch ist im Hinblick auf den Gesetzeszweck des KSVG, nämlich eine umfassende Grundsicherung der Künstler für die allgemeinen Lebensrisiken einzuführen, die Ausgrenzung der Berufsringer ( Catcher ), Steilwandfahrer und Jahrmarktsboxer , also Artisten, die üblicherweise auf Volksfesten und Jahrmärkten auftreten - aber nicht in Variete oder Zirkus nur wenig nachvollziehbar.
IV. Vorschlag zur Problemlösung Was ist Kunst? Die Frage ist in dieser Allgemeinheit kaum zu beantworten, weil die Auffassung, was Kunst sei, nicht nur durch subjektive Vorstellungen bestimmt ist, sondern auch einem ständigen Veränderungs- und Entwicklungsprozess unterworfen ist. Die Rückschau zeigt, dass nicht prognostizierbar ist, welche Formate und Ausdrucksformen eine Abstraktionshöhe erreichen, welche sie von Kunsthandwerk, Geschmacklosigkeit53, Provokation 54 oder auch schlichtem Unsinn abhebt. Andererseits ist es selbstverständlich nicht zulässig, einen numerus clausus der künstlerischen Ausdrucksformen und -möglichkeiten einzuführen. Vielleicht sollte auch einfach hingenommen werden, dass ein allgemeingültiger Kunstbegriff weder existiert noch eine Definition in dem Sinne möglich ist, dass konkrete Erscheinungsformen in jedem Fall ent51 52 53 54
BSGE 83, 160. BSGE 77, 21 mit kritischer Anmerkung Eichenhofer , SGb 1996, 448. OVG Münster, NJW 1997, 1180 (Nacktgeher). SG München, NJW 1997, 1188 (Fahrbahngeher).
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weder unter den abstrakten Begriff Kunst subsumiert werden können oder es sich eben um Nicht-Kunst handelt. Vielleicht ist „Kunst" gar kein abstraktallgemeiner Begriff, der ein solches Verfahren ermöglichte. 55 Gleichwohl hat sich der Gesetzgeber dafür entschieden, diesen Begriff abstrakt zu verwenden und an ihn Rechtsfolgen zu knüpfen. Verwaltung und Rechtsprechung haben daher eine Unterscheidung zwischen Kunst und Nichtkunst vorzunehmen, da ihnen unter Entscheidungszwang aufgegeben ist, über den Eintritt oder den Nichteintritt der Rechtsfolgen zu befinden. Dabei dürfte die Rechtsanwendung praktikabler werden, wenn auf einheitliche Kriterien für alle Rechtsbereiche verzichtet wird, weil dann der konkrete Gesetzeszweck und Gesetzeszusammenhang zur Auslegung fruchtbar gemacht werden kann. Es ist durchaus ein Unterschied ob, es um Abwehr von Eingriffen in die Kunstfreiheit oder um die Rechtswohltat einer im Vergleich beispielsweise zur Handwerkerversicherung sehr günstigen sozialen Absicherung geht. Entsprechendes gilt für die Bereiche Steuerrecht, Urheberrecht, Ordnungsrecht und andere, wobei für das KSVG zu berücksichtigen ist, dass es Leistungs- und Abgabetatbestände regelt. 56 Außer des normativen Reizes einer einheitlichen Anwendung des Begriffs „Kunst" innerhalb der gesamten Rechtsordnung ist auch nicht recht ersichtlich, aus welchen Gründen es notwendig sein soll, auf der Basis der Rechtsprechung des BVerfG einen einheitlichen verfassungsrechtlichen Kunstbegriff beizubehalten und diesen in allen Rechtsbereichen durchzusetzen. 57 Die sozialgerichtliche Rechtsprechung hat jedenfalls für den Bereich des KSVG unter Fruchtbarmachung der Entstehungsgeschichte, des Regelungszusammenhangs und des Zwecks des Gesetzes einen durchaus brauchbaren Weg gefunden, § 2 Satz 1 KSVG im Hinblick auf die Künstlereigenschaft anzuwenden. Dies gilt auch in Ansehung der Fälle, die teilweise auf wenig Verständnis gestoßen sind 58 , bei denen es sich aber um die üblichen Grenzfälle handelt, die naturgemäß stets Widerspruch provozieren. 59 Wird für das Sozialversicherungsrecht ein solcher eigenständiger Begriff der künstlerischen Betätigung im Sinne von § 2 Satz 1 KSVG akzeptiert und auf eine für alle Rechtsbereiche einheitliche Definition verzichtet, folgt daraus allerdings, dass zwar grundsätzlich alle 55 So Schnapp, Anmerkung zu BSG 12.5.05 - В 3 KR 39/04 R, SGb 2006, 44, der von einem Typusbegriff ausgeht, der dadurch gekennzeichnet sei, dass wir eine mehr oder weniger klare Vorstellung von ihm haben, ein etwas unscharfes Bild. Seine Gewinnung geschehe nicht so sehr im Wege der Abstraktion als vielmehr durch Intuition, durch „anschauendes Denken". Er weise eine Reihe von Einzelmerkmalen auf, die in größerer oder geringerer Intensität zu ihm gehören; einige seien unverzichtbar, andere könnten fehlen. Deshalb lasse sich ein Typusbegriff wie „Kunst" nicht definieren, sondern nur umschreiben. 56 §§23 ff KSVG.
57 58 59
So aber Hufen, JuS 1997, 1129. Eichenhofer (Fn. 52). BSGE 77, 21 zur Damenunterwäschevorführung.
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selbständigen Künstler, die Musik, darstellende oder bildende Kunst schaffen, Künstler im Sinne des Künstlersozialversicherungsgesetzes sind, der Umkehrschluss allerdings unzulässig ist: Nicht jede Betätigung, die von der Versicherungs- oder Abgabepflicht des KSVG erfasst ist, ist notwendig eine künstlerische. Unter dieser Voraussetzung kann der weiteren Entwicklung der sozialgerichtlichen Rechtsprechung gelassen entgegengesehen werden. Hier sind noch interessante Entscheidungen zu erwarten. Denn wenn dem Vorführen von Damenunterwäsche ein „Mindestmaß an eigenschöpferischem Gehalt" 60 zugesprochen wird, muss dies auch für vergleichbare Darbietungen gelten.61 Ganze Berufsgruppen sind möglicherweise unter einem neuen Blickwinkel zu betrachten, wenn unter Berufung auf ein modern entwickeltes Kunstverständnis die Einrichtung von Kochhochschulen, vergleichbar den Musikhochschulen, mit wissenschaftlichen, pädagogischen und künstlerischen Laufbahnangeboten für Spitzenköche gefordert wird. 62
60
Fn. 59. So auch Wolber, Künstlersozialabgabe für Models bei Dessous-Shows und Striptease-Vorführungen, WzS 1996, 333. 62 Dollase, Die Wissenschaft vom Essen, F.A.Z. v. 11.2.06, S.38. 61
Persönliches Budget - Chance für mehr Teilhabe Von Hermann Plagemann
I. Sozialrechtsverhältnisse 1. Sozialrechtverhältnis - Begriffsbestimmung Auf der ersten Sozialrechtslehrertagung in Kassel im Jahr 1979 referierte der Jubilar zum Thema ,J)as Sozialrechtsverhältnis" ]. Damals ging es um die Abgrenzung des Rechtsverhältnisses vom besonderen Gewaltverhältnis. Krause hat dazu weitsichtig hervorgehoben, dass mit dieser Gegenüberstellung keineswegs alle Fragen gelöst sind. Das Sozialrechtverhältnis verknüpft verschiedene Berechtigungen miteinander, die sich dynamisch entwickeln, Ablaufstörungen unterliegen und zahlreichen Gestaltungsmöglichkeiten der Beteiligten unterworfen sind. Er analysiert Elemente von Synallagma sowie Kooperation und schließt seinen Beitrag mit dem Aufruf an die Sozialrechtswissenschaft „das Geflecht der Detailregelungen, das es überzieht, zu durchschauen, zu ordnen; wo es die lebende Entwicklung zu ersticken droht, zu durchtrennen und die übermäßige Komplexität durch Aufweis der wesentlichen Zusammenhänge zu reduzieren." 2
2. Neuakzentuierungen Seit dem Jahr 1979 hat sich nicht nur der gesamte Bereich des Sozialrechts weiter entwickelt 3 , sondern auch das kritische Bewusstsein dafür, dass das Verwaltungsverfahren durch eine hohe Dynamik ausgezeichnet ist und zugleich ganz neue und weitergehende Verantwortungen schafft. Pitschas fasst dies 1 Vgl. dazu Schriftenreihe des Deutschen Sozialgerichtsverbandes, Band XVIII, Das Sozialrechtsverhältnis, Erste Sozialrechtslehrertagung, Kassel 16. Mai 1979, ohne Jahr, S. 12 ff.; vgl. auch die beiden Koreferate von Tomandl, а. а. O., S. 50 ff. und von Häberle, Das Verwaltungsrechtsverhältnis, eine Problemskizze, а. а. O., S. 60 ff. 2 A.a.O., S. 42. Diesen grundsätzlichen Überlegungen vorangegangen waren sein Gutachten zum 52. Deutschen Juristentag, in dem es um die Frage ging, ob soziale Pflege- und Betreuungsverhältnisse gesetzlich zu regeln seien und ein Aufsatz zum Thema „Die Willenserklärungen des Bürgers im Bereich des öffentlichen Rechts", in: VerwArch 1970, S. 302. 3 Vgl. dazu nur den Sozialbericht 2005 BT-Drucks. 15/5955 v. 11.08.2005 mit seinem Überblick über den Stand und der Entwicklungstendenzen der Gesellschafts- und Sozialpolitik der Bundesregierung in der 15. Legislaturperiode.
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unter dem Begriff „staatliche Kooperation mit der solidarischen Bürgergesellschaft" zusammen4. Tettinger 5 listet gesetzliche Leitlinien auf, die Impulse für Neuakzentuierungen in der Sozial-Verwaltung sein könnten: Trägervielfalt und Kooperationen; Aktivierung der Bürger; Pluralität der Leistungserbringung Leitlinien, die „eine Kultur der Rechtsvereinfachung im schlanken Sozialstaat" begünstigen sollen. Rechtliche Strukturen können aber wesentlich differenzierter sein als es dem herkömmlichen Denken des Juristen eigen ist. Aktuelles Beispiel ist die Eingliederungsvereinbarung , z.B. nach §§ 6, 35 SGB III, 15 SGB I I 6 oder § 12 SGB X I I („Leistungsabsprache"). 3. Beispiel: Persönliches Budget Seit dem 1.7.2004 stellt § 17 Abs. 2 SGB IX als neues „Handlungsinstrument" das persönliche Budget zur Verfügung 7. Es wird „in der Regel" als Geldleistung ausgeführt, um „dem Leistungsberechtigten in eigener Verantwortung ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen" 8. Vergleichbar der „ICH-AG" zielt das persönliche Budget auf: - mehr Eigentinitiative : Auch hier will der Sozialstaat individuelle Planungsressourcen „aktivieren", - mehr Selbstbestimmung des behinderten Menschen, der sich vom „Konsumenten" weiterentwickelt zum „Experten in eigenen Angelegenheiten", wenn nicht sogar zum „Arbeitgeber" in Bezug auf die verschiedenen, der Art und dem Grad der Behinderung entsprechenden Dienstleister 9, - den noch stärker am Einzelfall orientierten Einsatz sozialer Dienste jeglicher Art 1 0 ,
4
Vgl. Pitschas , Das sozialrechtliche Verwaltungsverfahren im „aktivierenden" Sozialstaat, verfahrensrechtliche Konsequenzen der staatlichen Verantwortungspartnerschaft mit der Bürgergesellschaft, in: von Wuljfen/Krasney (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre BSG 2004, S. 765 ff. 5 In: VVDStRL 64 (2005), S. 220 ff. 6 Zur Nichtigkeit einer Eingliederungsvereinbarung: Lehmann-Franßen, NZS 2005, 519. 7 Vgl. dazu schon Krutzki , in: Plagemann (Hrsg.), Münchener AnwaltsHandbuch Sozialrecht, 2. Aufl. 2005, § 28 Rn. 96 ff. (Rehabilitation); von der Decken , a.a.O., § 31 Rn. 71 (Pflege); zur Wahl der Leistungsart und des Pflegearrangements vgl. auch Gutachten 2005 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, BT-Drucks. 15/5670 Rn. 551 ff., 645 ff. 8 So ausdrücklich der Gesetzeswortlaut in § 17 Abs. 2 Satz 1 SGB IX. 9 Wacker/Wannsing/Hölscher, in: Klie/Spermann (Hrsg.), Persönliche Budgets Aufbruch oder Irrweg? 2004, S. 133, titulieren: „Lebensqualität heißt Teilhabe und Wohlbefinden - vom angepassten Hilfeempfänger zum Nutzer von Dienstleistungen". 10 Der Sozialbericht 2005 BT-Drucks. 15/5955 S. 76, spricht von „Erbringung der verschiedenen dem behinderten Menschen zustehenden Leistungen aus einer Hand".
Persönliches Budget - Chance für mehr Teilhabe
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- mehr Verantwortung des behinderten Menschen (bis hin zu mehr Haftung) und damit dem passgenaueren Einsatz öffentlicher Gelder, was auch einen Einspareffekt haben kann, - enge Kooperation der jeweils involvierten Sozialleistungsträger, was u.U. auch zur Straffung des Verwaltungsverfahrens beitragen kann (und sollte). Das persönliche Budget bringt gleichsam „Leben in das Sozialrechtsverhältnis" zwischen Leistungsträgern und „Kunden". Die eher statische „Dreiecksbeziehung" zwischen Kostenträger, behindertem Mensch und Leistungserbringer wird durch ein Agieren „Hand in Hand" ersetzt. Dazu reicht als Handlungsinstrument der - einseitig anweisende - Bescheid nicht (mehr) aus; ihm an die Seite gestellt wird eine „Zielvereinbarung", die im Störfall wiederum durch Aufhebungsbescheide (gem. §§ 48, 50 SGB X) ihre Wirksamkeit entfalten soll. Bislang weitgehend ausgeblendet wird die Rolle des Betreuers, dem u.U. erhebliche Zusatzaufgaben entstehen.
I I . Leistungen in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) persönliches Budget? 1. „Budgetfähige Leistungen" § 17 Abs. 2 Satz 4 SGB IX i. d. F. des Verwaltungsverfahrensgesetzes vom 21.03.200511 bestimmt, was unter budgetfähigen Leistungen zu verstehen ist. Es heißt dort: „Budgetfähig sind auch die neben den Leistungen nach Satz 1 erforderlichen Leistungen der Krankenkassen und der Pflegekassen, Leistungen der Träger der Unfallversicherung bei Pflegebedürftigkeit sowie Hilfe zur Pflege der Sozialhilfe, die sich auf alltägliche und regelmäßig wiederkehrende Bedarfe beziehen und als Geldleistungen oder durch Gutscheine erbracht werden können."
Der dort in Bezug genommene § 17 Abs. 2 Satz 1 enthält hinsichtlich der „Leistungen zur Teilhabe" keine Einschränkung. Nach dem SGB IX gibt es Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (gem. § 33 ff. IX) und Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (dazu §§55 ff. SGB IX). In der ursprünglichen Fassung des § 17 Abs. 2 Satz 4 war dies nicht so eindeutig. § 17 Abs. 2 Satz 4 SGB IX a.F. lautete: „Budgetfähige Leistungen sind Leistungen, die sich auf alltägliche, regelmäßig wiederkehrende und regiefähige Bedarfe beziehen und als Geldleistungen oder durch Gutscheine erbracht werden können."
Dazu heißt es in der Kommentierung 12 , dass es sich um Leistungen handelt, die sich auf alltägliche, regelmäßig wiederkehrende und regiefähige (also planund gestaltbare) Bedarfe beziehen und als Geldleistungen oder durch Gutschei-
11 12
BGBl. I S . 818. Brodkorb, in: Hauck/Noftz, SGB IX К § 17 Rn. 14.
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ne erbracht werden können. In der Gesetzesbegründung13 werden als typisch budgetfähige Leistungen Hilfen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, Hilfen zur häuslichen Pflege und Krankenpflege, regelmäßig wiederkehrend benötigte Hilfs- und Heilmittel sowie Hilfen zum Erreichen des Ausbildungsoder Arbeitsplatzes (Fahrtkosten) bezeichnet. Die Leistungsgewährung in Budgetform dürfte damit vor allem für schwerst- und mehrfach Behinderte interessant sein, die in der Regel mehrere Teilleistungen von unterschiedlichen Sozialleistungsträgern erhalten und durch die Zusammenführung in einem Budget in die Lage versetzt werden, ihren Hilfebedarf zielgerechter einzukaufen. 14 Geht man davon aus, dass es sich bei der gesetzlichen Neuregelung durch das Verwaltungsverfahrensgesetz nur um eine redaktionelle Korrektur handelte und eine inhaltliche Änderung der gesetzlichen Definition damit nicht verbunden ist 15 , könnte man auch die Neufassung dahingehend verstehen, dass unter den „Leistungen zur Teilhabe" zunächst nur solche zu verstehen sind, die das Leben in der Gemeinschaft betreffen (§ 55 ff. SGB IX) und bezüglich der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu differenzieren ist 16 . Anders sieht es allerdings die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR). In ihren vorläufigen Handlungsempfehlungen mit Stand vom 29.03.200517 sind unter der Überschrift Sozialhilfe auch die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben mit dem „Besuch einer W f B M " aufgelistet. Da in § 17 Abs. 2 Satz 4 SGB IX als budgetfähig gleichsam vorausgesetzt werden die „Leistungen nach Satz 1" und da in § 17 Abs. 2 Satz 1 die Leistungen zur Teilhabe nicht mehr eingegrenzt sind, spricht unter systematischen Gesichtspunkten einiges für die Auffassung der BAR. Das Modellprojekt Rheinland-Pfalz, welches 1998 gestartet ist, erwähnt zwar auch den „teilstationären Besuch" einer WfbM, hat diese Leistung aber tatsächlich wohl nicht mit in das Budget mitaufgenommen 18. Tatsächlich ging es in der Diskussion um die Einführung persönlicher Budgets vor allen Dingen um Leistungen der Pflege, ggf. verbunden
13
BT-Drucks. 15/1514 S. 158. So Brodkorb (Fn. 12); ähnl. wohl auch die Empfehlungen der Spitzenverbände v. 28.06.2004 unter I I 5, wonach allenfalls „bestimmte Leistungen" zur Teilhabe am Arbeitsleben budgetfähig sind. Leistungen zur Rehabilitation nach §§ 40, 41 SGB V können auch im Rahmen des persönlichen Budgets nicht als Geldleistung erbracht werden. 15 So Gesetzesbegründung BT-Drucks. 15/1514 S. 72. 16 I.d.S. wohl auch Benz, Das persönliche Budget, Die BG 2005, 321, 323. 17 Abrufbar im Internet www.bar-Frankurt.de; ebenso schon Wendt, Einsatz des Persönlichen Budgets für Leistungen der Teilhabe am Arbeitsleben in WfbM, in: WfBHandbuch (10/2005) Nr. A3. 18 Dazu Hölscher/Wacker/Wansing (Fn. 9), S. 156; Klie, Persönliche Budgets als Herausforderung für die Betreuungsarbeit. Betreuungsmanagement, 1/2005 S. 4 . 14
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mit dem betreuten Wohnen, jeweils unter dem Aspekt „ambulant vor stationär" 19 . Das persönliche Budget „trägt dem Anspruch behinderter Menschen auf selbstbestimmte und eigenverantwortliche Gestaltung ihrer Lebensumstände Rechnung" 20 . Die Entscheidung darüber, welche Leistungen budgetfähig sind, hat sich auch am Sinn und Zweck der Norm zu orientieren. Der Gesetzgeber hat dafür in der ursprünglichen Fassung des § 17 Abs. 2 Satz 4 SGB IX die entscheidenden Stichworte gegeben: Es muss sich um alltägliche, regelmäßig wiederkehrende und regiefähige Bedarfe handeln. Das Gesetz definiert bezogen auf die Werkstätten für behinderte Menschen einen Leistungszweck, und zwar in § 39 SGB IX. Nur wenn der „Bedarf 4 des behinderten Menschen mit diesem Leistungszweck kongruent, also deckungsgleich ist, steht die WfbM dem behinderten Menschen „offen" (§ 136 Abs. 2 SGB IX). Die sich aus dieser Kongruenz von Bedarf und vorhandenem Leistungsangebot ergebenden Kosten sind abschließend definiert, und zwar in Vergütungsvereinbarungen, die der Einrichtungsträger mit der Bundesagentur für Arbeit, dem Rentenversicherungsträger und vor allem dem Sozialhilfeträger abgeschlossen hat. Ausdrücklich enthält nur § 5 Abs. 7 HeimG eine Bestimmung darüber, dass der Heimträger mit Bewohnern, die (ergänzende) Sozialhilfe erhalten oder „Selbstzahler" sind, keine unterschiedlichen Preise vereinbaren darf 21 . Unabhängig davon, ob der Werkstattträger in der Vergütungsvereinbarung eine entsprechende Verpflichtung eingegangen ist, dürfte es rechtlich höchst problematisch sein, wenn er mit einem behinderten Menschen im Rahmen des persönlichen Budgets für die gleiche Leistung einen niedrigeren oder höheren „Preis" vereinbart. Die Vereinbarung eines höheren Preises käme einem „Vertrag zu Lasten Dritter" gleich. Im Rahmen des persönliches Budgets müsste der Kostenträger nun einen höheren Preis zahlen als er es tatsächlich in den Verträgen gem. §§21 SGB IX und 75 ff. SGB X I I vereinbart hat. Verträge zu Lasten Dritten sind unwirksam. Vereinbart der behinderte Mensch mit dem Einrichtungsträger eine niedrigere Vergütung, signalisiert der Einrichtungsträger, dass die mit dem Kostenträger vereinbarte Vergütung im Übrigen zu hoch war. Jedenfalls hinsichtlich der Kosten eröffnet das Instrument des persönli-
19 Dazu u.a. Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. Bericht der Kommission 2003, S. 199 ff.; Bericht der Kommission „Soziale Sicherheit" zur Reform der sozialen Sicherungssysteme (Herzog-Kommission) Nr. 40; Statement anlässlich des GVGPressegesprächs zur Weiterentwicklung der Pflege Versicherung am 11.11.2003 in Berlin, abgedr. in: Klie/Spermann (Fn. 9), S. 412 ff.; Gutachten 2005 (Fn. 7) Rn. 645 ff. 20 Gesetzesbegründung BT-Drucks. 14/5074 zu § 17; dazu schon vorher Hajen , NDV
2001,66.
21 Ausführlich zum pflegeversicherungs- und heimrechtlichen Differenzierungsverbot: Renn, Pflegerecht 2005, 485.
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chen Budgets dem behinderten Menschen keine neuen oder weitergehenden Gestaltungsoptionen. Weder nach seinem Wortlaut noch nach der Entstehungsgeschichte noch nach dem Sinn und Zweck gehören m.E. die von einer WfbM zu erbringenden Leistungen der Teilhabe zu den „budgetfähigen Leistungen" i.S.v. § 17 Abs. 2 SGB IX 2 2 . Um nicht missverstanden zu werden: Der behinderte Mensch wird nicht gezwungen, in der WfbM zu arbeiten; er kann seine Tätigkeit einstellen. Er kann seine Tätigkeit gegebenenfalls auch reduzieren. Er kann der Werkstatt gegenüber geltend machen, er benötige bestimmte zusätzliche Leistungen der Betreuung, der „Fortbildung" oder Weiterbildung. Er kann auch durch Werkstatträte in Werkstattangelegenheiten gemäß § 139 SGB IX in Verbindung mit der Werkstätten-Mitwirkungsverordnung 23 in Werkstattangelegenheiten mitwirken. A l l das hat aber mit dem persönlichen Budget nichts zu tun! Der Sozialhilfeträger ist gem. § 56 SGB X I I befugt, einem behinderten Menschen, der einen dem Leistungszweck der WfBM entsprechenden Bedarf tatsächlich hat, Hilfe in einer „sonstigen Beschäftigungsstätte" zu gewähren. Das kann ein der WfbM vergleichbarer Einrichtungstyp sein. Der Sozialhilfeträger kann es m.E. aber dem behinderten Menschen nicht freistellen, das ihm für den Besuch einer WfbM zur Verfügung gestellte Geld auch anderweitig einzusetzen, z.B. um mit seinem Nachbarn einen Abenteuerspielplatz zu errichten, im Keller des eigenen Hauses eine Werkstatt einzurichten und so „auf eigene Rechnung" Waren zu produzieren, zu reparieren und sonstige Dienstleistungen zu erbringen. Leistungen, die der behinderte Mensch derart selbst gestalten kann, sind ein aliud gegenüber der anerkannten WfbM 2 4 . 2. Der „individuell festgestellte B e d a r f Bei der Ausführung des persönlichen Budgets sind „nach Maßgabe des Individuellen festgestellten Bedarfs " verschiedene Träger beteiligt. Die Budgetverordnung bestimmt in § 3 Abs. 3 2 5 , dass der Beauftragte und die beteiligten Leitungsträger einerseits gemeinsam mit dem Antragsteller andererseits „in einem 22 Anders z.B. Welti , Sozialrechtliche Fragen zur Werkstatt für behinderte Menschen, SGb 2005, 493 f.; Sabine Wendt , in: Neumann (Hrsg.), Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen. Handbuch SGB IX 2004, § 22; dies., in: WfB-Handbuch (hrsg. Lebenshilfe), Erg. 49, 10/2005, A3; Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger v. 1.7.2005; offengelassen: Klie (Fn. 18), S. 5. 23 V. 25.06.2001 BGBl I S. 1297. 24 Ein Beispiel bei Wendt, in: WfB-Handbuch A3, S. 2 f.: die WfbM beauftragt Dritte, die Ausbildung bzw. Beschäftigung durchzuführen unter Einschluss einer sonderpädagogischen Betreuung durch einen Integrationsfachdienst. 25 Budgetverordnung v. 27.5.2004 BGBl. I S. 1055.
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trägerübergreifenden Вedarfsfeststellungsverfahren" die Ergebnisse der von ihnen getroffenen Feststellungen „beraten" . Nach diesem Wortlaut geht es also zunächst und vor allem darum, dass der Beauftragte die von ihm getroffenen Feststellungen mit dem Antragsteller kommuniziert, wobei derjenige, der später die Leistungen zu erbringen soll („Leistungserbringer") außen vor bleibt. Zum Thema des individuell festzustellenden Bedarfs heißt es in der Kommentierung u.a.: „Qualifizierte Rehabilitation funktioniert nur, wenn der Patient vom Behandelten zum Handelnden und zum Experten in eigener Sache wird. Durch die Abstimmung auf die individuellen Bedürfnisse des Einzelnen können Ergebnisse erzielt werden, wie sie die Sachhilfe nicht leisten kann. Der behinderte Mensch soll mit professioneller Unterstützung auch für die Zielerreichung verantwortlich sein. Dadurch, dass er Schritt für Schritt Verantwortung übernimmt, ist er auch in der Lage, eigene Potentiale zu entwickeln, mit dem Ziel, seine Fähigkeiten zur Mitverantwortung festzustellen und zu stärken..." 26.
Mit dem Tatbestandsmerkmal „individueller Bedarf hat der Gesetzgeber nicht Neuland betreten, sondern nur wiederholt, dass Leistungen zur Teilhabe sich immer am individuellen Bedarf orientieren müssen - der übrigens durchaus Veränderungen unterworfen ist. Die Reha-Träger haben keine Definitionsmacht darüber, was der einzelne als individuellen Bedarf zu haben hat, sondern sie haben unter Einschaltung aller Erkenntnismöglichkeiten „festzustellen" (und nicht festzulegen!), worin der individuelle Bedarf besteht. Die RehaTräger bzw. der „Beauftragte" haben dazu nach der Budget Verordnung Stellungnahmen der beteiligten Leistungsträger einzuholen. Damit hat der Gesetzbzw. Verordnungsgeber aber den Kreis der Mitspracheberechtigten nicht auf die Leistungsträger begrenzt, sondern Ausgangspunkt ist der Antrag des behinderten Menschen und dessen Wünsche bzw. Wahlentscheidungen gemäß § 9 SGB IX. Die Summe der von den Leistungsträgern einerseits und dem behinderten Menschen andererseits geäußerten Meinungen reicht für die „Feststellung" des individuellen Bedarfs nicht aus. Da der individuelle Bedarf einen objektiven Tatbestand darstellt, bedarf es - je nach Leistungsart - der Einschaltung von Sachverständigen, sei es Medizinern, Psychologen, Sozialpädagogen oder auch des Fachausschusses. Aufgabe des Fachausschusses ist es, zum Abschluss des Eingangsverfahrens auf Vorschlag und nach Anhörung „unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalles, insbesondere der Persönlichkeit des behinderten Menschen und seines Verhaltens während des Eingangsverfahrens" eine Stellungnahme dazu abzugeben, ob die WfbM die geeignete Einrichtung zur Teilhabe ist und welche Bereiche der Werkstatt und welche Leistungen in Betracht kommen (dazu im Einzelnen § 3 Werkstätten VO). Der Verordnungstext ist eindeutig: Da der Fachausschuss eine „Stellungnahme" abzugeben hat, ist der 26
Brodkorb, (Fn. 12), § 17 Rn. 13.
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zuständige Reha-Träger nicht daran gebunden, hat bei seiner Entscheidung diese Stellungnahme aber zu berücksichtigen 27. 3. Leistungsrecht vor Leistungserbringerrecht? Das SGB V verspricht jedem Versicherten u. a. eine ärztliche Heilbehandlung soweit sie notwendig ist. Jahrelang wurde heftig darüber debattiert, wer (und ggf. wann) den Inhalt dieser Sachleistung definiert: der Arzt, der auf „seine" Therapiefreiheit pocht; der Patient, der das Recht der Selbstbestimmung für sich reklamiert; die Kasse, die als Solidargemeinschaft Beitragsgelder treuhänderisch verwaltet oder der Gesetzgeber oder die Gemeinsame Selbstverwaltung aus Ärzten und Kassen? BSG und Literatur sind der einhelligen Auffassung, dass sich der Leistungsanspruch des Versicherten auch nach Maßgabe der Richtlinien, Verträge, Verordnungen usw. richtet, die das Verhalten der Leistungserbringer bestimmen28. Das SGB IX hebt an verschiedenen Stellen die Selbstbestimmung von behinderten Menschen hervor und formuliert allgemein die Ziele, die mit den Leistungen zur Teilhabe verfolgt werden sollen. § 21 SGB IX regelt den Inhalt von Verträgen über die Ausführung von Leistungen durch Rehabilitationsdienste und -einrichtungen, die nicht in der Trägerschaft eines Reha-Trägers stehen. Das Rechtsverhältnis zwischen Reha-Träger einerseits und Werkstattträger andererseits hat - so scheint es jedenfalls - mit dem Sachleistungsanspruch des behinderten Menschen nichts zu tun und schon gar nicht mit seinem persönlichen Budget. § 75 Abs. 2 SGB X I I formuliert, dass Vereinbarungen zwischen Sozialhilfeträger und Einrichtungsträger abzuschließen sind „zur Erfüllung der Aufgaben der Sozialhilfe". § 137 SGB IX formuliert, dass anerkannte Werkstätten behinderte Menschen aufnehmen, die die Aufnahmevoraussetzungen erfüllen, „wenn Leistungen durch die Reha-Träger gewährleistet sind", sprich: eine Kostenzusage vorliegt. Der für das persönliche Budget konstitutive „individuelle Bedarf muss sich also auch am Inhalt der Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen orientieren.
27 Pohlen, in: Neumann u. a., SGB IX § 3 WVO Rn. 6; BSG Urt. v. 15.03.1994 - 7 RAr 22/93 - NZS 1994, 524; Horst Cramer, Werkstätten für behinderte Menschen, 4. Aufl. 2006 § 2 WVO Rn. 15 ff. 28 Dazu BSG Urt. v. 16.12.1993 - 4 RK 5/92 - Ε 73, 271 ff.: Der gesetzliche Anspruch auf Dienst- oder Sachleistungen stellt sich als „Rahmenrecht" dar, welches der Vertragsarzt zu konkretisieren hat, und zwar unter Beachtung der ihn bindenden Richtlinien etc; zur Problematik im Einzelnen u.a. Neumann, Anspruch auf Krankenbehandlung nach Maßgabe der Richtlinien des Bundesausschusses?, NZS 2001, 550; die Problematik wieder aufgreifend: Rolfs, in: Festschrift 50 Jahre BSG, 2004, S. 475 ff. insbesondere S. 489 ff.
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Die in den Vereinbarungen festgeschriebene Qualität stellt das „Angebot" dar, welches im Rahmen der Sachleistung oder als persönliches Budget gleichsam vorgegeben ist. Auch im Rehabilitationsrecht findet also eine Verknüpfung zwischen Anspruch des Betroffenen einerseits und dem Leistungserbringerrecht andererseits statt. Beide Rechtsansprüche existieren nicht nebeneinander und unabhängig voneinander, sondern sie bedingen sich gegenseitig. 4. Das trägerübergreifende Budget Für den Arbeitsbereich kommt nach § 57 SGB X I I in der Regel nur ein trägerübergreifendes persönliches Budget in Betracht. Das bedeutet, dass Werkstattleistungen, die vom Sozialhilfeträger finanziert werden, nur dann Gegenstand eines persönlichen Budgets sein können, wenn andere Leistungsträger mit betroffen sind, z. B. die Pflegekasse 29. Zu bestimmen ist nun ein Beauftragter. Dies ist der nach § 14 SGB IX erstangegangene Leistungsträger (§ 17 Abs. 4 SGB IX), hier die Pflegekasse. Sie koordiniert im Rahmen einer „Budgetkonferenz" mit dem Antragsteller und den anderen Leistungserbringern die „Feststellung" des individuellen Bedarfs. Staatsrechtlich mag dies problemlos sein: Jeder Sozialleistungsträger ist gleichermaßen an Recht und Gesetz gebunden und ist dementsprechend auch gemäß dem SGB X befugt und in der Lage, Maßnahmen der Sachverhaltsaufklärung zu ergreifen. Soweit „Fachdienste" beim einen oder anderen Träger existieren, sind deren Voten im Rahmen der Budgetkonferenz zu berücksichtigen. Dies gilt z.B. auch für die sog. „Landesärzte" i.S.d. § 62 SGB IX. Faktisch führt dies natürlich dazu, dass der Beauftragte nur dann entscheidet, wenn auch die definitive Zustimmung des anderen Leistungsträgers, der für die Kosten gerade zu stehen hat, vorliegt. 5. Die notwendigen Kosten Der finanzielle Rahmen des persönlichen Budgets ist so zu bemessen, „dass der individuell festgestellte Bedarf gedeckt wird und die erforderliche Beratung und Unterstützung erfolgen kann" - so § 17 Abs. 3 Satz 2 SGB IX. Der Gesetzeswortlaut suggeriert, dass der Beauftrage kurzerhand die Leistungen, wie sie dem festgestellten Bedarf entsprechen, aufaddiert und in einer Summe auszahlt. Tatsächlich hat der Gesetzgeber aber in § 17 Abs. 3 Satz 4 SGB IX die Höhe des persönlichen Budgets auf die „Kosten aller bisher individuell festgestellten,
29 Oder die Krankenkassen, z.B. betr. häusliche Krankenpflege, vgl. Empfehlungen der Spitzen verbände v. 28.06.2004, II 5; ausführlich auch BAR, Vorläufige Handlungsempfehlungen - Stand März 2005, Nr. 22.
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ohne das persönliche Budget zu erbringenden Leistungen" begrenzt. Bisweilen wird als Ziel der Neuregelung sogar formuliert, dass die Kosten insgesamt eher gesenkt werden sollen. Daraus folgt: Die Leistungen WfbM plus Pflege - so unser Beispiel - dürfen insgesamt nicht mehr kosten als sie zuvor als Einzelleistungen gekostet haben. Wo bleiben dann die Kosten für die „erforderliche Beratung und Unterstützung"? Sie müssen aus diesen Geldleistungen finanziert werden, was aber dann ausgeschlossen ist, wenn der behinderte Mensch den gleichen Leistungserbringer beauftragt wie bisher. Wechselt der behinderte Mensch nun die Werkstatt, um mit niedrigerer Vergütung die gleichen Leistungen erhalten zu können, nimmt er eine „Quersubventionierung" vor. Er finanziert „aus dem T o p f WfbM die Beratung und Unterstützung. Abgesehen davon, dass ein solches Jonglieren mit den Finanzen in den allerwenigsten Fällen wirklich geeignet ist, die Eigenverantwortung des behinderten Menschen zu fördern, dürften die Wahlmöglichkeiten in der Praxis extrem gering sein. Der behinderte Mensch wird also, um die Beratungsleistungen finanzieren zu können, gezwungen sein, die übrigen Leistungen nur zum Teil abzurufen, um so einen Überschuss zu erwirtschaften, der für andere Zwecke ausgegeben werden kann. Ein Konflikt mit der Ziel Vereinbarung ist vorprogrammiert! Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung des Gesundheitswesens30 stellt lapidar fest, dass die Kosten für so genannte Budget- oder Case-Manager, vom Budgetnehmer aufzubringen sind.
I I I . Verfahren 1. Antrag und Zustimmung Das persönliche Budget setzt nach § 17 Abs. 2 Satz 1 SGB IX einen Antrag voraus. Den Antrag kann der Leistungsberechtigte stellen. Es soll auch dem Wunsch- und Wahlrecht gem. § 9 SGB IX Rechnung getragen werden 31. Steht der behinderte Mensch unter Betreuung, kommt es zunächst darauf an, ob der Aufgabenkreis des Betreuers auch den Umgang mit Rehabilitationsträgern, Rehabilitationsdiensten und Einrichtungen umfasst. Dann ist der Betreuer an die Wünsche des behinderten Menschen gebunden (§ 1901 Abs. 3 BGB), soweit diese Wünsche seinem Wohl nicht zuwiderlaufen. Nach § 9 Abs. 4 SGB IX bedürfen die Leistungen zur Teilhabe „der Zustimmung des Leistungsberechtigten". Diese Zustimmung betrifft die Bereitschaft, an einer konkreten Maßnahme zur Rehabilitation teilzunehmen. Auch wenn Anträge regelmäßig vom Betreuer gestellt werden können, dürfte es für die Zustimmung nach § 9 Abs. 4 SGB IX zumindest auch auf den „natürlichen Willen" des Leistungsbe30 31
BT-Drucks. 15/5670 Rn. 646. Dazu Majerski-Pahlen, in: Neumann, SGB IX, 11. Aufl. 2005, § 17 Rn. 4.
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rechtigten ankommen. Da der Antrag auf persönliches Budget das selbstbestimmte Leben des Betreuten fördern soll, wird man hier für die wirksame Antragstellung eine entsprechende (Teil-) Einsichtsfähigkeit des Leistungsberechtigten voraussetzen müssen, zumal dieser - und zwar persönlich - die Verantwortung übernehmen soll, auch was die Zielerreichung anbelangt (arg. § 4 BudgetVO). Dies umso mehr, als der Leistungsberechtigte an den Antrag regelmäßig für die Dauer von 6 Monaten gebunden ist (§ 17 Abs. 2 Satz 6 SGB IX) 3 2 . 2. Beratung und Unterstützung Gem. § 17 Abs. 3 Satz 3 SGB IX werden persönliche Budgets so bemessen, dass „die erforderliche Beratung und Unterstützung erfolgen kann". Die Unterstützung bezieht sich vor allem auf den Verwaltungs-/Regiebedarf bei der Umsetzung des persönlichen Budgets (Budgetunterstützung) und den damit verbundenen Maßnahmen. Dazu gehören auch der Abschluss von Arbeits-, Dienstleistungs- und ВeschaffungsVerträgen zur Bedarfsdeckung, die Gestaltung von Dienstplänen für persönliche Assistenten bzw. Lohnabrechnungen im Arbeitgebermodell, die Unterstützung bei der Gestaltung von Aktivitäten in der Freizeit und bei der Organisation des eigenständigen Wohnens. Hier verweisen die vorläufigen Handlungsempfehlungen der BAR auf Angebote von Verbänden der Selbsthilfe. Die vorläufigen Handlungsempfehlungen der BAR bestätigen, dass die Kosten für solche Art Budgetberatung oder Budgetunterstützung aus dem persönlichen Budget zu finanzieren seien33. Je schwerer die Behinderung, desto umfangreicher der Beratungs- und Unterstützungsbedarf! Damit tritt neben die Leistungserbringer einerseits, die Rehabilitationsträger (einschließlich ihrer Servicestellen) andererseits und den Betreuer eine weitere Instanz. Wer die Beratung und Unterstützung ernst nimmt, übernimmt eine hohe Verantwortung. Verantwortung nicht nur in Bezug auf das Ziel einer maximalen Selbstbestimmung, sondern auch im Hinblick auf Zielerreichung bis hin zur Organisation des - aus der Pflege bekannten Arbeitgebermodells. Beratung und Unterstützung erschöpft sich nicht in der einseitigen Interessenwahrnehmung, sondern hat alle rechtlichen Anforderungen peinlich genau zu beachten; andernfalls können sich Haftungsfolgen oder gar strafrechtliche Folgen für denjenigen ergeben, der Aufgaben der Beratung
32
Darauf ausdrücklich hinweisend Majerski-Pahlen (Fn. 31), § 17 Rn. 5. BAR, Vorläufige Handlungsempfehlungen Nr. 7; vgl. dazu auch die ergänzende Stellungnahme verschiedener Verbände, S. 44 ff.; anders Gutachten BT-Drucks. 15/5670 Rn. 646. 33
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und Unterstützung wahrnimmt 34 ! Beratung und Unterstützung bedeutet auch Verantwortung gegenüber dem Kostenträger: Wer als Berater dem Kostenträger gegenüber falsche Angaben macht oder entscheidungserhebliche Erklärungen unterdrückt, schadet nicht nur „seinem Klienten", d.h. dem Leistungsberechtigten, sondern setzt sich selbst ins Unrecht. 3. Zielvereinbarung In § 17 SGB IX nicht erwähnt, jedoch nach §§ 3, 4 BudgetVO zwingende Voraussetzung, ist der Abschluss einer Zielvereinbarung. Diese schließt der Beauftragte mit dem Budgetnehmer ab, wobei der Inhalt mit den anderen Leistungsträgern abgestimmt ist. Der Beauftragte darf die Leistung erst durch Verwaltungsakt bewilligen, wenn die Zielvereinbarung abgeschlossen ist (§ 3 Abs. 5 BudgetVO). Die Zielvereinbarung enthält mindestens Regelungen über - die Ausrichtung der individuellen Förder- und Leistungsziele, - die Erforderlichkeit eines Nachweises für die Deckung des festgestellten individuellen Bedarfs sowie - die Qualitätssicherung. Rechtlich handelt es sich um einen öffentlich-rechtlichen Vertrag i.S.d. §§53 ff. SGB X. Dazu bedarf es aber, soweit es um die Leistungen einer WfbM geht, gem. § 57 SGB X deren Zustimmung. Die Spitzenverbände meinen, die Zielvereinbarung sei Bestandteil des Bescheides und damit Nebenstimmung des Verwaltungsaktes gem. § 32 SGB X. Für diese Auffassung spricht in der Tat die Verknüpfung zwischen Zielvereinbarung und Verwaltungsakt in § 4 Abs. 2 BudgetVO. Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit einer solchen Nebenbestimmung ist aber eine gesetzliche Grundlage, die insbesondere in § 17 SGB IX nicht vorhanden ist, so dass verschiedentlich nicht nur der Sinn und Zweck einer Ziel Vereinbarung, sondern auch die rechtliche Zulässigkeit in Zweifel gezogen wird 35 . Kostenträger und Einrichtung sind nach §§21 SGB IX und 75 ff. SGB X I I verpflichtet, Maßnahmen der Qualitätssicherung zu installieren. Sollen diese Pflichten - ganz oder zum Teil - nun auf den behinderten Menschen übertragen werden? In einem dreiseitigen „Muster-Gesamtbescheid" verweist die BAR hinsichtlich der „näheren Einzelheiten ... zur Qualitätssicherung ..." auf die
34
Plakatives Beispiel: Pflege durch ausländische Kräfte, die nicht gemäß den Bestimmungen des SGB I I I und des SGB IV ordnungsgemäß zur Sozialversicherung gemeldet sind; dazu Gutachten BT-Drucks. 15/5670 Rn. 506, 507. 35 Die Notwendigkeit verneint u.a. Benz (Fn. 16), S. 326; die fehlende Rechtsgrundlage reklamiert Pöld-Krämer, in: Klie/Spermann (Hrsg.), Persönliche Budgets, 2004, S. 184, 200 ff.
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abgeschlossene Zielvereinbarung, die verbindlicher Bestandteil des Gesamtbescheides sei. Nach Ansicht der BAR müsse die Zielvereinbarung: - spezifisch (d.h. auf den Einzelfall bezogen, keine Standardfloskeln), - messbar (d.h. keine unverbindlichen/unkonkreten Ziele beschreiben sondern quantitative bzw. nachweis- und nachprüfbare Parameter benennen), - anspruchsvoll (d.h. keine sich praktisch von selbst einstellenden Ergebnisse oder Selbstverständlichkeiten vereinbaren, sondern vielmehr angemessene fördernde und fordernde Entwicklungen/Ziele, die auch einen eigenen Einsatz des Budgetnehmers voraussetzen, anstreben und vereinbaren), - realistisch (d.h. die vereinbarten Entwicklungen/Ziele müssen zwar anspruchsvoll, aber unter Zugrundelegung der vorhandenen Rahmenbedingungen persönlicher und objektiver Art auch tatsächlich erreichbar sein) und - terminiert (d.h. feste Zeiträume/-punkte zur Zielerreichung/Überprüfung, auch i.S.v. Zwischenergebnissen, vereinbaren, so dass - i.V.m. der Messbarkeit - die gebotene Klarheit für alle Beteiligten hergestellt wird) sein. Als beispielhafte Formulierung führt die BAR auf: „Bis zum 31. März 2005 soll Herr S das Einkaufen von Grundnahrungsmitteln selbständig und ohne die zur Zeit notwendige Unterstützung erledigen können."
Zweifelsohne eine kurze befristete und klare Zielsetzung: Was gilt, wenn das Ziel nicht erreicht wird? Gilt dann der Bescheid weiter oder ist er befristet? Das macht angesichts der fortbestehenden Hilfebedürftigkeit keinen Sinn! Ist der Budgetnehmer verantwortlich dafür, dass das Ziel nicht erreicht wurde oder sind es die von ihm in Anspruch genommen Helfer? 36 4. Zielvereinbarung/Werkstattvertrag Jede Werkstatt schließt mit dem behinderten Menschen gem. § 138 Abs. 3 SGB IX einen Werkstattvertrag ab, der das arbeitnehmerähnliche Rechtsverhältnis zwischen behinderten Menschen und dem Rehabilitations-/Werkstattträger näher regelt. Der Vertrag hat das zwischen dem behinderten Menschen und dem Rehabilitationsträger bestehende Sozialleistungsverhältnis „zu berücksichtigen".
36 Das von Benz (Fn. 16), S. 327, vorgeschlagene Muster einer Zielvereinbarung besteht im wesentlichen aus der Wiederholung der gesetzlichen Regelungen einschließlich der BudgetVO und die Pflicht, das persönliche Budget für den in § 1 bezeichneten Zweck tatsächlich auch zu verwenden.
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Gilt dieser Vertrag nun nur nach Maßgabe der Zielvereinbarung oder umgekehrt? Das Gesetz regelt kein Rangverhältnis. Das Verhältnis beider Verträge zueinander kann auch mit Hilfe allgemeiner Prinzipien der Normenhierarchie (Gesetz vor Verordnung usw.) nicht gelöst werden. Das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel, den in der WfbM tätigen behinderten Menschen einem Arbeitnehmer möglichst gleichzustellen, spricht für den Vorrang des Werkstatt Vertrages. Das macht auch Sinn - wird doch die Teilhabe in der WfbM realisiert und nicht im Verhältnis zum Rehabilitationsträger! Die von Wendt 37 dem behinderten Menschen empfohlene Verpflichtungsklage zum Arbeitsgericht mit dem Ziel einer Anpassung des Werkstattvertrages an das persönliche Budget dürfte wenig praktikabel sein und in den allerwenigsten Fällen wirklich den Zielen des persönlichen Budgets dienen. 5. „Gesamtverwaltungsakt" Nach Abschluss der Zielvereinbarung erlässt der Beauftragte einen Verwaltungsakt (§ 3 Abs. 5 BudgetVO). Die BAR nennt dieses Produkt einen „Gesamtverwaltungsakt" und hat dazu auch ein Muster entwickelt, welches zahlreiche Einzelheiten hinsichtlich des Leistungsinhaltes, der Qualitätssicherung usw. umfasst. Adressat des Verwaltungsaktes ist der behinderte Mensch. Soweit es um „Mitwirkungsobliegenheiten" geht, die höchstpersönlicher Natur sind, stellt sich erneut die Frage, wieweit der behinderte Mensch durch einen Betreuer „vertreten" werden kann. Allgemein geht man davon aus, dass der Bescheid befristet ist. Eine Befristung der Leistung steht aber im Widerspruch zu dem Werkstattvertrag, der nur unter ganz engen Voraussetzungen kündbar ist. Zu fragen ist auch, ob der Inhalt des Verwaltungsaktes den Voraussetzungen des § 137 SGB IX entspricht, wonach die Werkstatt den behinderten Menschen nur dann aufnimmt, wenn die Kosten sichergestellt sind. Das BSG hat jüngst dem Heimbetreiber das Recht eingeräumt, bei der Pflegekasse eine Höherstufung zu verlangen, wenn die Pflegesituation des Heimbewohners sich entsprechend verschlechtert hat, unabhängig davon, ob und inwieweit dadurch die Kosten der Heimunterbringung für den Betroffenen tatsächlich steigen38. Gemäß der BudgetVO soll der Betrag monatlich im Voraus an den behinderten Menschen ausgezahlt werden. Meines Erachtens kann der Werkstattträger im Werkstattvertrag von dem behinderten Menschen verlangen, dass er die Vergütung für die Werkstatt gem. § 53 Abs. 2 SGB I an den Einrichtungsträger abtritt. Nur so kann der Einrichtungsträger gewährleisten, dass die Werkstatt auch weiterhin finanzierbar ist. Voraussetzung für die Abtretung ist, dass es 37 38
Wendt (Fn. 22), S. 6. BSG Urt. v. 31.8.2005 - В 3 Ρ 9/04 R - .
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sich tatsächlich um eine Geldleistung und nicht um eine Sachleistung i.S.d. § 53 Abs. 1 SGB I handelt. Dies ist bei Kostenerstattungsansprüchen, z.B. gem. § 15 SGB IX, durchaus streitig 39 . Da das persönliche Budget zwar dem behinderten Menschen Gestaltungsspielräume eröffnen soll, den im Gesetz geregelten Inhalt der Teilhabeleistung aber nicht ändert, könnte man den im Rahmen des persönlichen Budgets gezahlten Betrag auch als Surrogat für eine Sachleistung 40 ansehen mit der Folge, dass sie nicht abtretbar ist - ein geradezu unsinniges Ergebnis. 6. „Störfälle" Der behinderte Mensch ruft die in der Zielvereinbarung genannte Leistung nicht ab; er „verweigert" den Werkstattbesuch, ohne arbeitsunfähig zu sein und zahlt der WfbM nichts. Dann verletzt der behinderte Mensch den Werkstattvertrag. Die WfbM kündigt ggf. den Vertrag. Nach § 4 Abs. 2 BudgetVO ist der Beauftragte befugt, die Zielvereinbarung mit sofortiger Wirkung zu kündigen und den V A betreffend die Leistung aufzuheben. Kann der Beauftragte auch rückwirkend kündigen, wenn ja wie lange rückwirkend? Dauerschuldverhältnisse können grundsätzlich nur mit Wirkung für die Zukunft gekündigt werden. Dies bestätigt auch § 59 SGB X. § 48 SGB X knüpft dagegen bezüglich der Aufhebung des Verwaltungsaktes an den Zeitpunkt an, in dem die Verhältnisse sich tatsächlich verändert haben, nicht aber auf die Kenntnis. Der Leistungsempfänger hat unter dem Gesichtspunkt des § 48 SGB X keinen Vertrauensschutz. Er kann sich auch nicht darauf berufen, er habe die ihm zugeteilten Geldbeträge anderweitig „verbraucht". Zwar verknüpft § 3 Abs. 5 BudgetVO den Erlass des Verwaltungsaktes mit der Zielvereinbarung, das hat aber nicht zur Folge, dass in Bezug auf die Wirksamkeit des Leistungsbescheides § 48 SGB X außer Kraft gesetzt wird.
IV. Ergebnis 1. M. E. handelt es sich bei der Teilhabe-Leistung „Werkstatt für behinderte Menschen" i.S.d. §§ 41, 136 ff. SGB IX nicht um budgetfähige Leistungen i.S.d. § 17 Abs. 2 Satz 1 und 4 SGB IX, da sie nicht „regiefähig" sind. 2. Wenn überhaupt steigert das persönliche Budget bezogen auf die WfbM die Selbstverantwortung des behinderten Menschen nur insoweit, als dieser nun
39
Mrozynski, SGB I, 3. Aufl. 2003, § 53 Rn. 3. Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht am Beispiel des Leistungserbringerrechts der gesetzlichen Krankenversicherung, 2005, S. 146, spricht von der „Konvertierung in Geldleistungen", was aber nicht ihren Primärcharakter als Sachleistung verändere. 40
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zusätzlich noch für die Buchhaltung und den Zahlungsverkehr zuständig ist, verbunden mit erheblichen Haftungsrisiken, die nicht Autonomie fördern sondern Besorgnis. 3. Ein davon strikt zu trennendes Anliegen muss auf mehr Selbstverantwortung und Autonomie der behinderten Menschen gerichtet sein, z.B. auch in Bezug auf die „persönliche Zukunftsplanung" - als Alternative zur institutionsorientierten Hilfeplanung 41 . Sie zielt darauf ab, die Hilfen dadurch effektiver einzusetzen, dass sie sich mehr auf die Interessen und Stärken der einzelnen Person beziehen. Damit nicht genug! Immer wieder wird Klage darüber geführt, dass vorhandene Institutionen die Möglichkeiten einer aktiven Förderung keineswegs ausschöpfen. Teilhabe bleibt also Aufgabe der Gesellschaft. 4. Der moderne Sozialstaat setzt auf den aktiven „Nutzer", muss Wunschund Wahlrechte achten und Kooperationen in sozialen Netzwerken fördern 42. Dazu trägt das persönliche Budget bei - vorausgesetzt, alle Akteure ziehen an einem Strang.
41
Dazu Hinz, Persönliche Zukunftsplanung, Fachdienst der Lebenshilfe 3/2005, S. 1 ff. 42 Dazu nochmals Tettinger (Fn. 5), S. 222 ff.
Paradigmenwechsel in der sozialen Sicherung? Eine Nachlese zum Projekt „Hartz" Von Maximilian Wallerath
I. Einführung Seit langem kann in der Bundesrepublik Deutschland von „Vollbeschäftigung" keine Rede mehr sein. Das hat vielfach beschriebene Gründe: Globalisierung und Internationalisierung der Güter- und Faktormärkte haben zu einem früher so nicht gekannten Standortwettbewerb geführt. Automatisierung und Digitalisierung provozieren eine wachsende Substitution von Arbeit durch Kapital in den klassischen industriellen Produktionsbereichen und neue Produktionsweisen. Das geradezu dramatische Wegbrechen weiter Bereiche industrieller Produktion, das in der Öffentlichkeit eher marginal wahrgenommen wird, signalisiert einen Strukturwandel, mit dem die gesellschaftlichen Kräfte nur mühsam Schritt zu halten vermögen. Insuffiziente Arbeitsmärkte erzeugen eine persistente Arbeitslosigkeit 1 ; zugleich schwächt der Rückgang sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse die finanzielle Basis der sich traditionell auf diese stützenden Sozialversicherungssysteme. A l l dies stellt den Staat vor größte Herausforderungen an die gesellschaftliche Integration. Er muss auf verschiedenen Ebenen mit unterschiedlichem Instrumentarium agieren: Zum einen soll er durch geeignete Rahmenbedingungen dazu beitragen, dass sich ein möglichst (hoher) 2 Anteil von Er-
1
Der Jubilar hat sich immer wieder (auch) Fragestellungen der sozialen Integration zugewandt. Vgl. nur Peter Krause, Empfiehlt es sich, soziale Pflege- und Betreuungsverhältnisse gesetzlich zu regeln? - Gutachten Ε zum 52. Deutschen Juristentag, 1978; ders., Die Neukonzeption des Sozialhilferechts und die Situation blinder Menschen, Studien zum öffentlichen Recht und zur Verwaltungslehre, Bd. 20, 1978 (mit H. Scholler); ders., Sozialreform nach unten - Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung der Beseitigung der steuerlichen Kinderfreibeträge, Deutsches Ärzteblatt 1970, 2220 ff.; ders., Das Paradoxon der Mitwirkung von passiv Sozialbetreuten, Selbstverantwortung in der Solidargemeinschaft, 1981, S. 101 ff. 2 So ist ein Sockel ,friktioneller" Arbeitslosigkeit grundsätzlich nicht zu vermeiden. Dieser beruht auf den erforderlichen Such- und Ubergangszeiten infolge fehlender Elastizität der Nachfrage nach Arbeitskräften einerseits und fehlender Mobilität von Arbeitssuchenden andererseits.
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Maximilian Wallerath
werbstätigkeit einstellt. Soweit sich dies nicht erreichen lässt, stellt sich die Aufgabe der Vermittlung von Arbeitslosen in eine neue Arbeitsstelle, ggf. auch die ihrer (zusätzlichen) Qualifizierung. Bleibt auch dies ohne Erfolg, muss der Staat Arbeitslosigkeit möglichst gut „verwalten". Schließlich muss er die weiteren Subsysteme sozialer Sicherung, die angesichts demographischer Entwicklung und Ausdünnung versicherungspflichtiger Beschäftigung unterschiedlich schwächein, neu austarieren. Es ist nicht zu übersehen, dass sich auf diese Weise analytisch zu trennende Teilziele in der sozialpolitischen Wirklichkeit vielfach überschneiden und interdependente Wirkungen in Rechnung zu stellen haben. Die Komplexität des Problems zeigt sich namentlich an dem Referenzgebiet der Bekämpfung und Administration von Arbeitslosigkeit. Dieses bestimmt den Untersuchungsgegenstand der nachfolgenden Ausführungen. Vor allem die Administration von Arbeitslosigkeit war Inhalt des am weitesten ausgreifenden sozialpolitischen Reformprojekts der vergangenen Jahre: Mit vier Gesetzen „für moderne Dienstleitungen am Arbeitsmarkt" 3 („Hartz I - I V " ) wandte sich die Politik gezielt diesem Problembereich zu - der erste, mindestens ebenso bedeutsame Bereich der Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen zur Senkung der hohen Arbeitslosenquote durch die unmittelbare Beeinflussung von Arbeitsbedingungen wurde nur beiläufig erfasst 4. Den Schwerpunkt des Projekts bildeten eine weitreichende Neujustierung des Leistungsrechts und die Reorganisation der Arbeitsverwaltung. Das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene „Vierte Gesetz über moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" („Hartz IV") bildete den Schlussstein der Reform. Es zielt vorrangig auf eine Aktivierung der Langzeitarbeitslosen und kombiniert fordernde und fördernde Elemente. Die Gesetze stützen sich maßgeblich auf den Bericht der Kommission zum Abbau der Arbeitslosigkeit und zur Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit (sog. ,Jiartz-Kommission") aus dem Jahre 2002, den die seinerzeitige Bundesregierung initiiert hatte5. Der Auftrag an die Kommission lautete, Vorschläge zu unterbreiten, wie die Arbeitsmarktpolitik effizienter gestaltet und die Bundesanstalt für Arbeit reformiert werden kann. Ein Jahr nach dem Abschluss des Projekts erscheint eine erste Zwischenbilanz möglich 6 . Die Reform trug nicht zuletzt zur Offenlegung verdeckter Ar-
3
1. und 2. Ges. für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt v. 23.12.2002 BGBl. I S. 4607 ff., 4621 ff.; 3. Ges. v. 23.12.2003 - BGBl. I S. 2848; 4. Ges. v. 24.12.2003 - BGBl. I S. 2934 („Hartz I-IV"). 4 Siehe Münder, Das SGB I I - Die Grundsicherung für Arbeitssuchende, NJW 2004, 3209, 3210 m.w.N. 5 Bericht der Kommission zum Abbau der Arbeitslosigkeit und zur Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit: Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, Berlin 2002. 6 Vgl. auch den (Zwischen-)Bericht „Die Wirksamkeit moderner Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" zur Umsetzung der mit den Hartz-Gesetzen I - I I I getroffenen Regelungen, dessen Vorstellung in der Öffentlichkeit zwischen realistischer Einschätzung
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beitslosigkeit bei; auf diese Weise wurden zunächst zusätzliche Erwerbspersonen (und Empfänger von Arbeitslosengeld II) mobilisiert 7 . Das hatte den Effekt, dass mit der Einführung des Arbeitslosengelds I I zum 1. Januar 2005 die Zahl der amtlich erfassten Arbeitssuchenden um mehr als 500.000 von 4,464 auf 5,039 Millionen anstieg8. Rund die Hälfte des Anstiegs wird auf die Zusammenführung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zurückgeführt. In der Folge sank die Zahl der Erwerbslosen wieder leicht - namentlich infolge der Einrechnung von „Ein-Euro-Jobs". In der Öffentlichkeit erregte „Hartz I V " die größte Aufmerksamkeit, weil das Gesetz insbesondere für Empfänger von Arbeitslosenhilfe, die früher ein mittleres oder gehobenes Arbeitseinkommen hatten, Schlechterstellungen mit sich brachte (bei teilweiser Besserstellung von erwerbsfähigen Sozialhilfebeziehern). Auch entwickelten sich die Ausgaben des Bundes für das Arbeitslosengeld I I weit höher als erwartet. Die Gründe hierfür liegen in veralteten Statistiken, der schlechten Arbeitsmarktlage und dem Umstand, dass die Bedürftigkeit der Leistungsberechtigten falsch eingeschätzt wurde, die teilweise erst mit Verzögerung die Voraussetzungen zum Leistungsbezug erfüllten. Mittlerweile hat der Chor der Kritiker eine ansehnliche Stärke erreicht. Tatsächlich war die Enttäuschung vorprogrammiert. Schon die Etikettierung als „Arbeitslosengeld I I " anstelle der zuvor gängigen - und inhaltlich treffenderen - Bezeichnung „Arbeitslosenhilfe" suggerierte das Gegenteil dessen, was in der Sache vor sich ging. Auch war das gezielte „Marketing", das die Einführung begleitete, nicht frei von einer Semantik, die übertriebene Erwartungen provozierte - das reicht bis in die amtliche Begründung der Gesetze9.
I I . Das Reformpaket Während frühere Reformen im Bereich der Arbeitsförderung 10 sich eher als Maßnahmen der Nachsteuerung oder auch der finanziellen Konsolidierung
und Beschönigung oszilliert. Siehe Pressemitteilung des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom 1.2.2006; http://bmas.bund.de; hierzu auch nachfolg, zu Fn. 9. 7
Der Sachverständigenrat
zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen
lung, Staatsfinanzen konsolidieren - Steuersystem reformieren, Jahresgutachten 2003/2004, Tab. 25, 26, schätzte allein diese 1,61 Mill. Personen. Der Effekt ist inzwischen wieder aufgezehrt, s. Bundesagentur für Arbeit, Der Arbeits- und Ausbildungsmarkt in Deutschland, Monatsbericht Dezember und Jahr 2005, S. 7. 8 www.pub.arbeitsamt.de/hst/servies/Statistik/aktuell/iiia4/zr-alob.xls. Die Zahlen liegen deutlich über den vom Statistischen Bundesamt nach einer anderen Methode ermittelten Zahlen; näher Franz, Arbeitsmarktökonomik, 5. Aufl. 2003, S. 389 f. 9 Vgl. nur BT-Drucks. 15/1515, S. 71. 10 Z.B. das Haushaltsstrukturgesetz vom 18.12.1975 (BGBl. I 3091). Eine erste Annäherung an einen Perspektivenwechsel brachte das Gesetz zur Reform der arbeitsmarkt-politisehen Instrumente (Job-AQTIV-Gesetz) vom 14.12.2001 (BGBl. I 3443);
Entwick-
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verstanden, trat das Hartz-Projekt mit dem expliziten Anspruch einer schrittweisen, konzeptionellen Neuorientierung des Rechts der Arbeitsförderung an. Das erste Gesetz bezog private Vermittler stärker in die Arbeitsvermittlung ein und schuf mit sog. Personalservice-Agenturen (PSA) besondere Einrichtungen, die Arbeitslose anstellen und an Arbeitgeber mit dem Ziel einer möglichst schnellen Übernahme in ein DauerarbeitsVerhältnis verleihen. So genannte Vermittlungsgutscheine wurden zur Förderung des Wettbewerbs zwischen öffentlichen und privaten Arbeitsvermittlern und zur Beschleunigung des Vermittlungsverfahrens eingeführt 11. In der Praxis konnten die neuen Instrumente die Hoffnungen nicht erfüllen. So genannte „Creaming-Effekte" führten zu Selektionen, welche gerade die schwer vermittelbaren Bewerber ausgrenzten. Überdies kam es zu „Drehtüreffekten", die zwar den Vermittlern, nicht aber den Arbeitsuchenden zugute kamen. Es wurden zahlreiche Vermittlungsgutscheine ausgegeben, indes war die Zahl der eingelösten Gutscheine gering. Vor diesem Hintergrund ist der Einsatz beider Instrumente mit Recht wieder deutlich eingeschränkt worden. Das zweite Gesetz brachte 2003 die Regelung von sog. „Mini - und MidiJobsMit dieser weitete sich die geringfügig entlohnte Beschäftigung deutlich aus. Immerhin ermöglicht die Regelung eine - wenn auch eingeschränkte Partizipation am Arbeitsmarkt und (Zusatz-)Einkommen. Bedenkenswert ist, dass ein Großteil der Beschäftigten ausschließlich geringfügig beschäftigt ist; nur ein geringer Teil ist neben der geringfügigen Beschäftigung zusätzlich sozialversicherungspflichtig angestellt. Das Gros der Betroffenen kommt so kaum zu einer hinlänglichen sozialen Absicherung; auch kommt es zu Einnahmeausfällen in den Sozialversicherungen. Zu sehen ist überdies, dass für Arbeitgeber ein Anreiz bestehen kann, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung durch Zerlegung von Arbeitsplätzen zu umgehen. Der Übergang in eine Vollzeitbeschäftigung ist selten. Gleichzeitig wurde die sog Ich-AG, eine ergänzende Förderung des Übergangs von der Arbeitslosigkeit in die Selbständigkeit, eingeführt. Der Begriff umschreibt vormalige Bezieher von Arbeitslosengeld sowie Beschäftigte in Strukturanpassungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die - unter Aufgabe des Anspruchs auf laufende Lohnersatzleistungen - für maximal drei Jahre einen degressiven Existenzgründungszuschuss beantragen können, wenn sie eine selbständige Tätigkeit aufnehmen und ein Arbeitseinkommen von nicht mehr als 25.000 € im Jahr erzielen. Diese Fördermaßnahme soll bis Mitte 2006 fortgeführt und anschließend mit dem „Überbrückungsgeld" zusammengelegt näher Schmidt-de Caluwe, Gewährleistungen öffentlich-rechtlicher Organisation sozialer Sicherheit, in: Deutscher Sozialrechtsverband (Hrsg.), Soziale Sicherheit durch öffentliches und Privatrecht, 2004, S. 29, 33 f. 11 Siehe §§ 292 ff. SGB I I I (Vermittlungsvertrag) und § 421g SGB III (Vermittlungsgutschein).
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werden. Die Einführung der „Ich-AG" war in der Tat problematisch: Sie war anders als das Überbrückungsgeld nach § 57 SGB III - zunächst von keinerlei Maßnahme zu Überprüfung von persönlichen Voraussetzungen und konzeptionellem Profil des Vorhabens begleitet12. Nicht selten leitete der Wunsch, den Anspruch auf Transferleistungen zu verlängern, die Neugründung. Mit Recht wurde deshalb 2004 die Vorlage einer „Tragfähigkeitsbescheinigung" verbindlich gemacht; zugleich wurden die Empfänger von Arbeitslosengeld I I aus der Förderung heraus genommen. Tatsächlich haben derartige Gründungen 13 aus der Arbeitslosigkeit einen geringeren Beschäftigungseffekt als gewöhnliche Gründungen. Belastbare Ergebnisse zur Stabilität der Geschäftsgründungen liegen nicht vor; Strukturwandel und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft dürften hierdurch nur in geringem Maße befördert werden. Mit dem dritten Gesetz wurden - im Januar 2004 - die gesetzlichen Grundlagen zum Umbau der Bundesanstalt für Arbeit zu einer „Dienstleistungsagentur" mit einer stärkeren Kunden- und Leistungsorientierung geschaffen. Die reorganisierte Bundesagentur für Arbeit umfasst Regionaldirektionen anstelle der früheren Landesarbeitsämter, Agenturen für Arbeit mit „Job-Centern" (bisher Arbeitsämter), Personalservice-Agenturen (PSA) 14 sowie eine Konzentration auf die Aufgaben „Vermittlung und Beratung" sowie „Auszahlung von Lohnersatzleistungen". Die Umgestaltung ist noch nicht abgeschlossen. Das vierte Gesetz brachte eine Zusammenführung der früher im SGB I I I (mit)geregelten Arbeitslosenhilfe in Form des „Arbeitslosengeldes II" für Langzeitarbeitslose und der Sozialhilfe für alle erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und Personen, die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, als „Grundsicherung für Arbeitssuchende" im SGB II: Von der Neuregelung waren knapp drei Millionen erwerbsfähige Arbeitssuchende betroffen. Die neue Grundsicherung ist eine Transferleistung mit einer verschärften Bedürftigkeitsprüfung und weiter gefassten Zumutbarkeitsregelungen. Hinzu kommen eine verstärkte Förderung der Beschäftigungsaufnahme durch leicht verbesserte Möglichkeiten für Zusatzverdienste von Hilfeempfängern sowie zusätzliche Eingliederungsinstrumente wie das Einstiegsgeld und die so genannten „EinEuro-Jobs" (Arbeitsgelegenheiten).
12 § 421 1 SGB I I I i.d.F. des Gesetzes vom 23.12.2002 (BGBl. I S. 4621). Damit war eine Umgehung der zeitlichen Limitierung des Arbeitslosengeldes I gesetzlich programmiert. 13 Es handelt sich zum großen Teil um „Ein-Mann-Betriebe". 14 Diese sollen auf der Grundlage von Verträgen mit der Agentur für Arbeit Langzeitarbeitslose einstellen und zu gleichen Löhnen wie die Stammarbeitskräfte in den Entleihbetrieben an diese ausleihen.
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I I I . Hintergründe Das Hartz-Projekt bezog seine Reformimpulse - neben zuvor publik gewordenen Missständen in der Bundesanstalt für Arbeit - aus zwei Quellen. Zum einen und im Grundsätzlichen folgte es einem neuen Leitbild für die Gestaltung sozialer Aufgaben durch „staatliche" Institutionen (im weiteren Sinne). Zum anderen stützte es sich auf eine schon früher geäußerte Kritik an der unterschiedlichen Ausgestaltung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe. 1. Das neue Leitbild Das Projekt sucht dem Wandel der Verhältnisse mit einer neuen Handlungsorientierung beizukommen, die ihren entscheidenden Antrieb aus einer eigenartigen Mischung verschiedener theoriegestützter Ansätze bezieht. Diese beherrschen mittlerweile weithin - und vielfach unreflektiert - die Reformlandschaft des öffentlichen Sektors. Ein maßgeblicher Antrieb lässt sich in der Vorstellung des britischen Soziologen Antony Giddens15 von einem „dritten Weg" zwischen überbordender Wohlfahrtstaatlichkeit und marktliberalem Laisserfaire ausmachen. Diese zielt auf eine Stärkung der „Zivilgesellschaft" und eine „neue Architektur von Sozialstaatlichkeit", die mit dem Begriff des „aktivierenden Sozialstaat" u.ä. umschrieben wird 1 6 . Verschiedene Elemente des Konzepts finden ihrerseits eine Stütze in einem anderen Begründungsstrang, der auf die „Neue Institutionen Ökonomie" 17 zurückführt: Diese wurde in den 70er Jahren in den Vereinigten Staaten entwickelt 18 . Sie koppelt die Besonderheit der vom staatlichen Sektor zu produzie-
15
Siehe Giddens, Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie, 1999, dort insbes. S. 80 ff. Das Konzept lässt sich auch als europäische Übersetzung des amerikanischen Kommunitarismus-Modells deuten. Es fußt seinerseits auf der Theorie der „Strukturierung"; dieser geht es darum, eine bestimmte Wirklichkeit in ihrer Differenz zu „verstehen"; vgl. ders., Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, 3. Aufl. 1997, S. 203 f., 300 ff. 16 Kingreen, Rechtliche Gehalte sozialpolitischer Schlüsselbegriffe: Vom Daseinsvorsorgenden zum aktivierenden Sozialstaat, in: Deutscher Sozialrechtsverband, Aktivierung und Prävention - Chancen für Effizienzsteigerung in den Sozialleistungsbereichen, SDRV 52, 2004, S. 7, 8; s. a. Münder (Fn. 4), S. 3210. 17 In Gestalt der „Ökonomik" weist sie eine moderne, sozialwissenschaftliche Variante auf, die das ökonomische Paradigma auch in nicht-ökonomischen Zusammenhängen verwendet; hierzu namentlich Kirchner, Konferenzergebnisse, in: Engel/Morlok (Hrsg.), Öffentliches Recht als ein Gegenstand ökonomischer Forschung, 1998, S. 316, 319. 18 Siehe Vincent und Elinor Ostrom , Public Choise: A Different Approach to the Study of Public Administration, in: Public Administration Review, H. 2 1971, S. 203 ff.
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renden Güter mit der Theorie kollektiven Handelns zurück 19 und basiert - anders als der methodische Ansatz von Giddens - auf dem Konzept des „methodischen Individualismus", d.h. dem Theorem vom Nutzen maximierenden Verhalten des Individuums 20 . Damit entfernt sich dieses Konzept, deutlicher als dasjenige von Giddens, von den überkommenen wohlfahrtsstaatlichen Gesellschaftsmodellen. Es bezieht einerseits Private stärker in die Aufgabenerledigung ein oder substituiert diese durch private Erledigung. Andererseits stellt es betont auf die Anreizwirkungen der jeweiligen Institution - und damit auch: der jeweiligen gesetzlichen Regelung21 - für das betroffene Individuum ab und sucht so dessen zu erwartendes, reaktives Verhalten zu antizipieren. Aufgegriffen wurde das neue Leitbild in den 80er Jahren vor allem von Großbritannien und den Vereinigten Staaten, in denen es die Reform des Staatswesens auch außerhalb des Rechts sozialer Sicherung vorantrieb 22. Insbesondere in seiner Ausformung als „Ökonomische Theorie der Politik" weist der Ansatz eine deutliche Tendenz zu einem minimalistischen Staat auf. 23 2. Die Überwindung der Trennung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe a) Der Paradigmenwechsel Speziell die Überwindung der Trennung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe folgte einem weiteren - äußeren - Antrieb: Die mit dem vierten Gesetz (im Januar 2005) eingeführte Abschaffung der Arbeitslosenhilfe bei gleichzeitiger Einführung der Grundsicherung für Arbeitssuchende war bereits einige Zeit zuvor als erforderlich angesehen worden 24 . In der Tat war nicht einzusehen,
19 Siehe Wallerath , Verwaltungsreform in der Rationalitätenfalle?, in: ders. (Hrsg.), Verwaltungserneuerung - eine Zwischenbilanz der Modernisierung öffentlicher Verwaltungen, 2001, S. 41, 44 f. m.w.N. 20 Hierzu namentlich Kirsch, Neue Politische Ökonomie, 5. Aufl. 2004, S. 19 ff. 21 Der Institutionenbegriff umfasst traditionell zeit- und personenübergreifende soziale Regelsysteme zur Erfüllung bestimmter Zwecke. Heute findet er vor allem unter dem Aspekt der Wirkung von Normen und Verfügungsrechten Aufmerksamkeit; siehe Feldmann, Eine institutionalistische Revolution?, 1995, S. 45;. Wallerath , Zielverfehlungen im Recht der sozialen Sicherung, in: M. Rodi (Hrsg.), Recht und Wirkung, 2002, S. 9, 12 m.w.N. 22 Reichard , Verwaltungsmodernisierung in Deutschland in internationaler Perspektive, in: Wallerath (Fn. 19), S. 14 ff. m.w.N. 23 Vgl. insbes. Buchanan, Die Grenzen der Freiheit - Zwischen Anarchie und Leviathan, 1984, S. 1,9, 15; Friedman , Der ökonomische Code. Wie wirtschaftliches Denken unser Handeln bestimmt, 1999, S.151, 202. 24 Zur Diskussion im Vorfeld: Boecken , Verfassungsrechtliche Fragen im Zusammenhang mit Vorschlägen der Arbeitsgruppe „Arbeit und Soziales" der CDU/CSUBundestagsfraktion zur Reform von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe, SGb 2001, 525 ff.; Masing, Umbau des Doppelregimes von Sozial- und Arbeitslosenhilfe, DVB1. 2002, 7 ff.
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dass die - wie in der früheren Arbeitslosenhilfe angelegt - bloße Erfüllung der Anwartung für das Arbeitslosengeld (heute: Arbeitslosengeld I) auf Dauer zu einer leistungsrechtlichen Ungleichbehandlung zwischen erwerbsfähigen Sozialhilfeempfängern führte. Hiervon profitierten namentlich Arbeitslose, die früher ein mittleres oder höheres Einkommen erzielt hatten. Diese am früheren Status orientierte „Lebensstandardsicherung" wurde aus Steuermitteln finanziert - schon um eine „Fremdlast" der Arbeitslosenversicherung zu vermeiden. Angesichts des Finanzierungsmodus war der Wechsel von einem Leistungsmodell, das an der „Leistungsgerechtigkeit", nämlich dem früheren Einkommen, orientiert war, zu einem solchen, das sich an der „Bedarfsgerechtigkeit" orientiert 25 , überfällig 26 . Auch konnte nicht überzeugen, dass zwar die Bezieher von Arbeitslosengeld, nicht aber erwerbsfähige Bezieher von Hilfe zum Lebensunterhalt einen Zugang zu den arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen der Bundesanstalt (-agentur) für Arbeit hatten27. b) Organisatorische
Flankierungen
Die richtunggebende Änderung des Leistungsrechts war mit einer nicht minder grundlegenden Modifikation der organisatorischen Strukturen für die Betreuung von Langzeitarbeitslosen verbunden. Diese folgt einer ebenso „kreativen" wie wenig transparenten Gesetzgebungstechnik. Insofern spiegelt sie einen typischen Aushandlungsprozess (vor allem) zwischen Bund und Ländern wider. Im Ausgangspunkt besteht eine zweispurige Zuständigkeit, nach welcher die Bundesagentur Träger der Leistungen nach dem SGB I I ist 28 . Daneben werden die kreisfreien Städte und Kreise (oder andere landesrechtlich geregelte Träger) für bestimmte ergänzende Leistungen als Träger bestimmt 29 .
25 Grundlegend hierzu: Zacher, Das soziale Staatsziel, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd.l, 3. Aufl. 2004, § 28 Rz. 52. 26 Die Absenkung der Leistungen für frühere Arbeitslosenhilfeempfänger stößt nicht auf den Widerstand des Art. 14 GG, sondern stellt einen Fall (im Prinzip zulässiger) unechter Rückwirkung dar; näher O' Sullivan, Verfassungsrechtliche Fragen des Leistungsrechts der Grundsicherung für Arbeitssuchende, SGb 2005, 369, 375. Die reine Steuerfinanzierung schließt aus, sie mit dem Arbeitslosengeld (I) gleich zu setzen (so aber Gagel, Verfassungsfragen bei der Arbeitslosenhilfe, NZS 2000, S. 591, 594). Daran ändert nichts, dass die Arbeitslosenhilfe arbeitsförderungsrechtlich eng mit dem Arbeitslosengeld verknüpft war; siehe BVerfGE 9, 20, 22; BVerfG, 3. Kammer des 1. Senats, 1 BvR 1773/03 vom 26.9.2005, Absatz-Nr. 19 - http://www.bverfg.de . 27 Siehe BT-Drucks. 15/1516, S. 42; Münder (Fn. 4), S. 3210. 28 § 6 Abs. 1 SGB II. 29 Nach §§ 16 Abs. 2 Satz 1, 2 Nr. 1 bis 4, 22 und 23 Abs. 3 SGB II betrifft dies Unterkunft und Heizung, Kinderbetreuungsleistungen, Schuldner- und Suchtberatung, psychosoziale Betreuung sowie die Übernahme nicht von der Regelleistung umfasster einmaliger Bedarfe.
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Um (dennoch) dem Ziel der „.Betreuung aus einer Hand" näher zu kommen, hält das Gesetz zwei Möglichkeiten bereit: Auf der Grundlage der „Experimentierklausel" des § 6a SGB I I können einzelne Kreise oder Städte allgemein anstelle der Agenturen für Arbeit - für einen Zeitraum von sechs Jahren als Träger der Aufgaben nach dem SGB II zugelassen wurden. In diesem Fall besteht eine ausschließlich kommunale Zuständigkeit. Von der Option der Alleinträgerschaft haben 69 Kommunen Gebrauch gemacht. Kommunen, die keinen Gebrauch von der Option machen, „bilden" - so formuliert es § 44b SGB I I in einer wenig normativ gerechten Ausdrucksweise - „zur einheitlichen Wahrnehmung ihrer Aufgaben" Arbeitsgemeinschaften mit der zuständigen Agentur für Arbeit. In diesem (Regel-)Fall gehen die Aufgaben der Agentur auf die Arbeitsgemeinschaft über. Nach § 44b Abs. 3 SGB I I sollen die Kommunen ihrerseits die ihnen obliegenden Aufgaben auf die Arbeitsgemeinschaft übertragen. Insgesamt 356 Kommunen folgen dem Arbeitsgemeinschaftmodell. Immerhin praktizieren 27 Kommunen 30 nach wie vor das Trennsystem, was ein deutliches Indiz für die begrenzte Reichweite bundesrechtlicher Steuerung kommunaler Aufgabenwahrnehmung ist. Die unorthodoxe Konstruktion 31 - Münder 32 haftet ihr das Etikett einer „verfahrensrechtlichen Monstrosität" an - geht über frühere Formen der Kooperation hinaus33. Sie wurde, wie die Entstehungsgeschichte belegt, aus der Not geboren und ist verfassungsrechtlich heikel. Sie wirft sowohl im Hinblick auf die Regelungskompetenz des Bundes nach Art. 84 Abs. 1 GG 3 4 wie auch im Hinblick den schillernden Topos der „Mischverwaltung" 35 verfassungsrechtliche Bedenken auf, verbindet sie doch wechselseitige Einwirkungen auf organisatorische Strukturen und Entscheidungsprozesse mit Unklarheiten von Kontrolle und Verantwortung in einem Schnittfeld kommunaler und (bundes-) staatlicher Aufgabenwahrnehmung 36. Gewichtige Einwände lassen sich auch gegen die 30
Tapper, Die Arbeitsgemeinschaft i.S.v. § 44b SGB II als Nahtstelle zwischen dem Wirtschafts-, Personal- und Arbeitsförderungsrecht, SGb 2005, 383 (383). 31 Zur Ausgestaltung der Rechtsform im Einzelnen: Ruge/Vorholz, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Fragestellungen bei der Arbeitsgemeinschaft nach § 44 b SGB II, DVB1. 2005, 403, 408 f.; Strobel, Die Rechtsform der Arbeitsgemeinschaft nach § 44b SGB II, NVwZ 2004, 1195 ff. 32
Münder (Fn.4),S. 3213.
33
Hierzu Tapper (Fn. 30), S. 383 m.w.N. 34 Henneke, Aufgabenwahrnehmung und Finanzlastverteilung im SGB I I als Verfassungsproblem, DÖV 2005, 177, 183 ff.; Lühmann, Verfassungswidrige Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe im SGB II?, DÖV 2004, 677, 682 f.; Ruge/Vorholz (Fn. 31), S. 404 f.; abw. Quaas, Die Arbeitsgemeinschaft nach dem neuen SGB II: Ungelöste Rechtsfragen zur Rechtsnatur der Einrichtung, SGb 2004, 723, 725 f. 35 Vgl. BVerfGE 63, 1, 38 (Bezirksschornsteinfeger). 36
Lühmann (Fn. 34), S. 683; Ruge/Vorholz
(Fn. 31), S. 407 f.; s.a. Tapper (Fn.30),
S. 684; abw. Breitkreuz, Die Leistungsträger nach dem SGB II im System des Sozialverwaltungsrechts, SGb 2005, 141, 144 f.; Bieback, Kommunale Sozialpolitik und ihre
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Finanzierungstechnik erheben 37. Das Bundesverfassungsgericht dürfte in den anhängigen Verfassungsbeschwerden kaum darum herum kommen, Korsettstangen für einen mit dem Grundgesetz kompatiblen Umgang mit der neuen gesetzlichen Lage einzuziehen. Das betrifft namentlich die Ebene klarer Zurechenbarkeit und die jeweilige Verantwortlichkeit der beteiligten Träger. Das Prinzip der „Betreuung aus einer Hand" ist damit nur sehr begrenzt realisiert worden. Es hat - wie z. B. der Bereich der Rehabilitation seit längerem belegt - viel für sich. Dass der konkreten Ausformung darüber hinaus ein eher negatives Attest auszustellen ist, hat mehrere Gründe: Zum einen war die Reform nicht genügend vorbereitet. Dementsprechend gab es erhebliche Schwierigkeiten bei der administrativen Umsetzung. Die Koordination zwischen Bundesagentur und nunmehr allein zuständigen Optionsgemeinden war nicht immer so, wie man dies erwartet hatte. Die entsprechenden Kommunen hatten keinen Erfahrungsvorlauf im Hinblick auf die Vermittlung in überregionale Arbeitsmärkte - hierin könnte sich ein bleibendes Problem abzeichnen. In den Arbeitsgemeinschaften war die Phase des Übergangs vom Arbeitslosengeld I zum Arbeitslosengeld I I von einem Zusammentreffen unterschiedlicher Verwaltungskulturen gekennzeichnet - hier die eher zentralistisch denkende Bundesagentur für Arbeit, dort die dezentrale Strukturen betonenden Kommunen. Das schafft notwendig Abstimmungsprobleme und Reibungsverluste. Bei ungeklärter Führungsverantwortung lief die Besetzung und Qualifizierung der Fallmanager schleppend an und gestaltete sich schwierig. Dysfunktionalitäten waren die zwangsläufige Folge 38 . Dass ein beträchtlicher Koordinationsbedarf besteht, zeigt sich bei der konfliktbeladenen Abgrenzung zwischen Erwerbsfähigen und Nicht-Erwerbsfähigen 39. Sie verläuft quer zu der Scheidelinie zwischen „Marktkunden" und „Betreuungskunden". Zwar hat der Gesetzgeber diese Linie - wie § 44a SGB I I deutlich macht - erkannt. Dennoch wirft die Regelung ihrerseits eine Reihe von Fragen auf. Danach erfolgt nämlich die Feststellung der Erwerbsunfähigkeit und der Bedürftigkeit durch die Bundesagentur; diese befindet sich also insoweit in der Vorhand. Bei einem Dissens über diese Fragen entscheidet die Eini-
Koordination mit der Bundesagentur für Arbeit, in: Wallerath (Hrsg.), Perspektiven kommunaler Sozial- und Beschäftigungspolitik, 2006, S. 33 ff.. 37
Vgl. §§ 45 Abs. 5, 46 Abs. 4, 6, 10 SGB II, § 6a Satz 2 SGB II. Die Bedenken betreffen namentlich §§ 6a Satz 2 sowie 46 Abs. 4 SGB II. S. Oppermann, Verfassungsrechtliche Fragen zur Finanzierung der Grundsicherung für Arbeitssuchende, DVB1. 2005, 1008. Dass den Kommunen eine Last durch Bundesgesetz auferlegt wird, die nicht von den landesverfassungsrechtlichen Konnexitätsgeboten erfasst ist, macht diese noch nicht verfassungswidrig; s. aber auch Art. 104a Abs. 3 S. 2, 106 Abs. 8 GG. 38 Das war durchaus absehbar; vgl. Adamy, Bessere Zusammenarbeit vor Ort ist ein Schlüssel zum Erfolg, Soziale Sicherheit 2004, 124, 129 f. 39 §§ 8 SGB II, 43 Abs. 2 S.2 SGB VI, 41 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII.
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gungsstelle nach § 45 SGB II 4 0 . Das betrifft, schaut man genauer hin, zwei unterschiedliche Fälle: Bei einem Dissens zwischen Leistungsträgern nach dem SGB II, also zwischen Bundesagentur und Kommune, geht es um die jeweils ab-weichende sachliche Einschätzung von „Erwerbsfähigkeit" und/oder „Bedürftigkeit". Bei einem Streit zwischen einem Leistungsträger nach dem SGB I I und anderen Leistungsträgern (wie einem Sozialhilfe-, Rentenversicherungsoder Unfallversicherungsträger) kann es ausschließlich um die zutreffende Einschätzung der „Erwerbsfähigkeit" gehen. Insoweit liegt zugleich ein Kompetenzkonflikt vor. Generell ist die Entscheidung der Einigungsstelle kein Verwaltungsakt. Die Frage ihrer Rechtmäßigkeit unterliegt lediglich einer inzidenten Prüfung bei einer Anfechtung der Entscheidung des Trägers durch den Bürger. Im Übrigen leistet der kommunale Träger bis zur endgültigen Klärung („Nahtlosigkeitsprinzip").
IV. Grundsicherung für Erwerbsfähige Die Neuregelung der früher vom SGB I I I erfassten Arbeitslosenhilfe als „Grundsicherung für Arbeitssuchende" markiert eine entscheidende Umsteuerung der auf den Arbeitsmarkt bezogenen Sozialpolitik. Der Arbeitslose wird bei dem Bemühen um die Überwindung seiner Arbeitslosigkeit stärker als in der Vergangenheit begleitet und gefordert. Das äußert sich einerseits in der Stärkung des Gedankens größerer Eigenverantwortung des Stellensuchenden, die eine Entsprechung in zusätzlichen Vermittlungsanstrengungen und subsiduierenden Maßnahmen der zuständigen Stelle finden sollen, andererseits in einer neuen Ausgestaltung der Gewährung von Geldleistungen. Anspruchsberechtigt sind alle sich gewöhnlich im Inland aufhaltenden Personen nach Vollendung des 15. und vor Vollendung des 65. Lebensjahres, die erwerbsfähig und hilfsbedürftig sind 41 . Die Leistungen umfassen auf der einen Seite Maßnahmen zur arbeitsmarktlichen Eingliederung 42 , andererseits Leistungen zur Sicherung des Lebensunterunterhalts 43.
40 Näher hierzu Blüggel, Die „einheitliche Entscheidung" der Einigungsstelle nach § 44a SGB II, SGb 2005, 377 ff. 41 Im Einzelnen § 7 SGB II. 42 Hierzu gehören namentlich Beratung, Vermittlung, Weiterbildung, öffentlich geförderte Beschäftigung. Diese sind überwiegend als Ermessensleistungen ausgestaltet, siehe § 16 SGB I I sowie Adamy (Fn. 38), S. 124; Bieback, Das neue SGB II, NZS 2005, S. 337, 343. 43 Im Einzelnen §§ 19 SGB II.
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1. „Fördern und Fordern" Der als Kernelement der neuen Konzeption herausgestellte Grundsatz des „Förderns und Forderns" findet seinen prominenten Niederschlag in den §§14 und 15 SGB II. Danach hat der Träger den erwerbsfähigen Hilfsbedürftigen umfassend mit dem Ziel der Eingliederung in Arbeit zu unterstützen. Die Bundesagentur für Arbeit soll einen persönlichen Ansprechpartner („Fallmanager") für jeden erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und die mit ihm in Bedarfsgemeinschaft Lebenden benennen. Die Einführung einer ganzheitlichen Betreuung des Hilfebedürftigen bedeutet namentlich für jugendliche Arbeitslose, aber auch viele auf Familien-, Schuldner- oder Suchtberatung angewiesene Hilfebedürftige einen klaren Fortschritt. Sie lässt sich als Zusammenführung der Hilfsangebote aus den früher getrennten Bereichen von Arbeitsförderung und Sozialberatung verstehen. Allerdings bleibt die Umsetzung in der Praxis bislang weit hinter den Zielen des Gesetzgebers zurück. Das betrifft vor allem die angestrebten Relationen, aber auch die Qualifizierung der Fallmanager für das neue Aufgabenfeld 44. Hier liegt gewiss einer der Gründe dafür, weshalb das Gesetz bislang nicht die Effekte gezeigt hat, die sich seine Väter von ihm versprochen haben. Der normativen Idee nach umfasst das „Fördern" - noch vor den finanziellen Leistungen45 - den Prozess der Vermittlung des Arbeitslosen in eine freie Arbeitstelle. Das in der Vergangenheit normierte Vermittlungsmonopol der Bundesanstalt war bereits seit Jahren für Führungskräfte durch den Europäischen Gerichtshof 46 durch ein Marktzugangsrecht privater Anbieter relativiert. Trotz der Alleinzuständigkeit der Bundesanstalt erfolgte die Suche nach Arbeitskräften auch in der Vergangenheit in beträchtlichem Umfang außerhalb öffentlicher oder privater Arbeitsvermittlung 47 . Das Monopol ist mittlerweile bis auf einen geringen Restbestand völlig beseitigt48. Heute teilen sich - den Agenturen
44 Der Soll-Schlüssel im Bereich Vermittlung beträgt für über 25jährige 1:150; in der Realität lag er im September 2005 bei 1:228. Für unter 25jährige liegt der Schlüssel bei 1:75, tatsächlich lautete die Relation 1:83. S. Beyer, Steuerungsprobleme im Rahmen der ARGE aus dem Blickwinkel einer kreisfreien Stadt, in: Wallerath (Fn. 36), S. 61 ff. 45 §§3 Abs. 1,9 Abs. 1 SGB II. 46 EuGH NJW 1991, 2891; anders noch BVerfGE 21, 245 ff. 47 Spellbrink, Wandlungen im Recht der Arbeitsvermittlung etc., SGb 2004, S. 153, 159. 48 Im Einzelnen §§ 292 ff. SGB III; näher Wagner, Arbeitsförderung, in: Maydell/Ruland (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, 3. Aufl. 2003, Rn. 11, 21 ff.; Wallerath, Der öffentliche Sektor im Umbruch, in: A. Rauscher (Hrsg.), Die Arbeitswelt im Wandel, 2001, S. 77, 98 ff.
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für Arbeit angegliederte - Job Center mit privaten Arbeitsvermittlern die Aufgabe der Vermittlung 49 . Zentrales Instrument der stärkeren Einbeziehung des Arbeitslosen in den Vermittlungsprozess ist nunmehr die „Eingliederungsvereinbarung" zwischen dem Arbeitslosen und der Agentur für Arbeit (Optionskommune) nach § 15 SGB II. Sie findet ein Vorbild in der Eingliederungsvereinbarung nach § 35 Abs. 4 SGB III, die durch das Job-AQTIV-Gesetz Eingang in die Arbeitsförderung gefunden hatte50. Hierbei handelt es sich um eine Form „kooperativen Verwaltungshandelns" 51, die sich auf den „Tauschgedanken"52 im weiteren Sinne stützt. In ihr sollen die Vermittlungsbemühungen der Agentur, die Eigenbemühungen des Berechtigten sowie die Voraussetzungen für künftige Leistungen der aktiven Arbeitsförderung konzentriert festgehalten werden 53. Es handelt sich um einen speziell geregelten subordinationsrechtlichen Vertrag im Sinne des § 53 Abs.l S. 2 SGB X, der als „hinkender" Austauschvertrag 54 näher zu qualifizieren ist 55 . Das Schrifttum steht dem Instrument teilweise sehr kritisch gegenüber, vermische es doch hoheitlichem Eingriff und soziale Dienstleistung in einem „Formenmissbrauch" miteinander 56. Dahinter steht der richtige Gedanke, dass die Eingliederung in den Arbeitsmarkt auf Freiwilligkeit und Eigeninitiative setzt. Ein „Kontrahierungszwang", wie er sich aus der Reservebefugnis zum Erlass einer entsprechenden Regelung durch Verwaltungsakt (§ 16 Abs. 1 S. 6 SGB II) wie auch aus der Sanktionsmöglichkeit eines Leistungsentzugs nach § 31 SGB I I ergebe, stehe dem unvereinbar gegenüber 57. Dem kann nicht gefolgt werden. Die Eingliederungsvereinbarung bezieht sich auf die Hinführung zur Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt durch 49 Diese können auch durch die Agentur für Arbeit mit der Vermittlung beauftragt werden; nach 6 Monaten Arbeitslosigkeit hat der Betroffene einen Anspruch auf die Beauftragung Dritter mit der Vermittlung § 37 Abs. 4 SGB III. Näher Rixen, Das neue Sozialrecht der Arbeitsvermittlung nach der Reform der Bundesanstalt für Arbeit, NZS 2002, S. 466, 467 f. Bei wichtigem Grund hat der Stellensuchende ein Widerspruchsrecht, s. § 37 Abs. 1 S. 3 SGB III. 50 Näher Lehmann-Franßen, Unangemessene Eigenbemühungen und die Nichtigkeit der Eingliederungsvereinbarung nach § 15 SGB II, NZS 2005, S. 519, 520 (dort auch zu weiteren Formen). 51 Grundlegend Peter Krause, Rechtsformen des Verwaltungshandelns, 1974, hier insbes. S. 216 ff. 52 § 35 Abs. 4 SGB III; s.a. Höffe, Das Prinzip Gerechtigkeit, in: Maydell/Kannengießer (Hrsg.), Handbuch Sozialpolitik, 1988, S. 66, 73 f. 53 Im Einzelnen §§ 15 SGB II, 35 Abs. 2 SGB III. 54 BVerwGE 96, 326, 332; Engelhardt, in: v. Wulffen (Hrsg.), SGB X, 5. Aufl., 2005, §51 Rn. 11.
55
Zutreffend Lehmann-Franßen (Fn. 50), S. 522.
56
So Berlit, Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, info also 2003, S. 193, 205. 57
So namentlich O' Sullivan (Fn. 26), S. 373.
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Festlegung der jeweiligen prozeduralen Rechte und Pflichten. Sie konkretisiert insoweit das Sozialrechtsverhältnis 58 zwischen dem Arbeitslosen und der Agentur für Arbeit. Dessen nähere inhaltliche Ausformung ist auf einen interaktiven Prozess angelegt, damit auf die Mitwirkung des Betroffenen angewiesen. Eben diese sucht § 15 SGB I I zu aktivieren und rechtlich zu kanalisieren 59. Die Bestimmung konkretisiert damit die im Sozialstaatsprinzip als zweite Seite mit angelegte „Solidaritätsmaxime" 60 . Vor diesem Hintergrund erweist sich der „Vertrag" als grundsätzlich angemessenes Instrument zur Lösung des Problems - und zwar auch vor dem Hintergrund des „Drohpotentials" der §§ 15 Abs. 1 Satz 6 und 31 Abs. 1 Nr.l SGB II 6 1 . Verhandlungen „im Schatten der Macht" 62 sind nichts Ungewöhnliches63. Eine entsprechende Situation setzt § 53 Abs. 1 Satz 2 SGB X bei subordinationsrechtlichen Verträgen geradezu voraus. § 31 Abs. 1 Nr.l SGB I I stellt auf das Vorliegen eines „wichtigen Grundes" ab. Aufgabe der Vernunft ist es, hierbei die rechtlichen Maßstäbe zur Geltung zu bringen 64 und so den Schutz vor einer Überforderung des privaten Vertragspartners durch rechtliche Disziplinierung und Kontrolle der Verwaltung sicher zu stellen65, nicht aber diese vornherein als unmöglich zu verweigern 66. Der zulässige Vertragsinhalt ist auf Seiten der Agentur für Arbeit auf Leistungen zur Eingliederung beschränkt. Die §§ 15, 16 SGB I I gehen insofern über § 53 Abs. 2 SGB X hinaus, als sie die Vereinbarung von Leistungen, die im Ermessen der Arbeitsverwaltung stehen, zulassen. Die rechtsstaatliche Dis-
58
Hierzu Peter Krause, Das Sozialrechtsverhältnis, in: Das Sozialrechtsverhältnis, Schriftenreihe des Deutschen Sozialgerichtsverbandes Bd. X V I I I (1980), S. 12, 23 ff., ders., Rechtsverhältnisse in der Leistungsverwaltung, VVDStRL 45 (1987), S. 212 ff., insbes. S. 219 ff. 59 Siehe auch § 2 Abs. 1 S. 2 SGB II. 60 Hierzu BVerfGE 17, 38, 56. 61 Die 3. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat eine Verfassungsbeschwerde gegen den Zwang zum Abschluss einer Vereinbarung (angesichts deren Subsidiarität) nicht zur Entscheidung angenommen, siehe Beschluss vom 14.2.2005 - 1 BvR 199/05 http://www.bverfg.de . 62 63
So bildhaft Berlit (Fn. 56), S. 205.
Siehe Wallerath, Öffentliche Bedarfsdeckung und Verfassungsrecht, 1988, S. 81 ff., 315. 64 Auf der Ebene des Verfassungsrechts ist das im vorliegenden Zusammenhang Art. 2 Abs. 1 GG (siehe BVerfGE 95, 267, 303; BVerfGE 103, 197, 215 zur Vertragsfreiheit); siehe aber auch nachfolgend Fn. 74 zu Art. 12 GG. 65 Ansätze hierzu bei Rothkegel, Rechtliche Prinzipien der Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB II, SGB X I I und AsylbLG, ZfSH/SGB 2005, 391, 398. 66 Dass „die wegen der Beweislastumkehr riskante Berufung" auf einen entgegenstehenden wichtigen Grund „keinen wirksamen Schutz" biete, lässt sich so nicht nachvollziehen. Die Möglichkeit „unqualifizierte(r), überforderte(r) oder gar ,böswillige(r)' Fallmanager" (hierauf abstellend Berlit [Fn. 56], S. 205) kann das Institut nicht generell diskriminieren. Hier ist die Rechtsprechung, ggf. auch die Dienstaufsicht, gefordert.
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ziplinierung leistet hier § 55 SGB X, der auch bei einem unechten Austauschvertrag anwendbar ist 67 . Die dem Hilfebedürftigen abverlangten Bemühungen müssen den gesamten Umständen nach angemessen sein und in sachlichem Zusammenhang mit der vereinbarten Leistung der Behörde stehen. Ein Verstoß hiergegen führt zur Nichtigkeit der Vereinbarung (§ 58 Abs. 2 Nr. 4 SGB X). Der Hilfebedürftige ist verpflichtet, jede zumutbare Arbeit anzunehmen68. Die Zumutbarkeitskriterien sind insoweit enger gefasst als diejenigen bei Bezug von Arbeitslosengeld I. Das ist konsequent, geht es doch nicht um ein durch Beiträge finanziertes Risiko des Arbeitsplatzverlustes, sondern um eine „Grundsicherung für Arbeitssuchende". Das Gesetz nennt bestimmte typisierte Fälle der Unzumutbarkeit wie umgekehrt Fälle, in denen eine Arbeit nicht schon allein derentwegen unzumutbar ist. Der General vorbehält eines „sonstigen wichtigen Grundes" eröffnet im Übrigen die Möglichkeit einer Einzelfallbetrachtung 69. Das trägt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung und erlaubt auch die Einbringung des „Zeitfaktors" in die Abwägung: Sanktionen wie der Entzug von Sozialleistungen70 bei einer Weigerung, zumutbare Arbeit zu übernehmen, sind jedenfalls dann als Eingriff in ein spezielles Freiheitsrecht (hier: Berufsfreiheit) zu werten, wenn die Erfüllung der vorausgesetzten Pflicht die autonome Entscheidung für einen bestimmten Beruf beeinträchtigt. Ob dies auch bei der Zuweisung von gemeinnütziger Arbeit der Fall ist, ist insbesondere angesichts deren transitorischen Charakters durchaus zweifelhaft. Das gilt auch für die Bejahung eines Arbeitszwangs i. S. von Art. 12 Abs. 2 GG. Zwar weist die Bestimmung einen eigenen Schutzbereich („Arbeit") auf, zugleich setzt sie jedoch einen besonderen Eingriffsmodus voraus. Daran dürfte es fehlen, wenn das angesonnene Verhalten lediglich als Obliegenheit ausgestaltet ist, bei deren Nichterfüllung - dem Grundsatz der Subsidiarität folgend - die Leistungsvoraussetzungen entfallen 71 . Damit ist die verfassungsrechtliche Schranke in diesen Fällen aus Art. 2 Abs.l GG zu entwickeln.
67
BVerwGE 96, 326, 330; Lehmann-Franßen (Fn. 50), S. 522.
68
Übergangsregelung nach § 65 Abs. 4 SGB II für Berechtigte über 58 Jahre. 69 Vgl. § 10 Abs. 1 Nr. 5 SGB II. 70 Im Einzelnen § 31 SGB II. Bieback (Fn. 42), S. 340 hält die Regelung im Vergleich zu dem stärker abgestuften System des SGB III weder für erforderlich noch für zumutbar. Der Rückgriff auf das SGB III als Referenzsystem überzeugt indes angesichts der unterschiedlichen Finanzierungsmodi nicht. 71 Im Erg. ebenso BVerwGE 11, 252, 253; J. Ipsen, Staatsrecht II, Grundrechte, 5. Aufl., 2002, Rn. 648; Peters-Lange, Zumutbarkeit von Arbeit, 1992, S. 65, 175; Pit-
schas, Berufsfreiheit und Berufslenkung, 1983, S. 245; O'Sullivan (Fn. 26), S. 373; s. a. BVerfGE 83, 119, 125 f. Für eine Auflösung des Konflikts auf der Rechtfertigungsebene am Maßstab gleichwertiger Verfassungsgüter Wieland, in: Dreier, GG, 1. Bd., 1996, Art. 12 Rn. 62; s. a. Breuer, Berufsfreiheit, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Bd. VI, 2. Aufl. 2001, § 147 Rn. 83, 92.
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Grundsätzlich ist auch die Übernahme von im öffentlichen Interesse liegenden, zusätzlichen72 Arbeiten (sog. „Ein- oder Zwei-Euro-Jobs") zumutbar 73. Die Aufforderung zu entsprechenden Eigenbemühungen wurde in der Vergangenheit im Recht der Arbeitsförderung als - anders als im Sozialhilferecht 74 - nicht als eigenständig anfechtbarer Verwaltungsakt qualifiziert. Das dürfte heute anders sein 75 ; das Problem der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs ist inzwischen durch § 39 Abs. 2 SGB I I überholt. „Ein-Euro-Jobs" sind insbesondere im kommunalen Bereich wie auch bei der freien Wohlfahrtspflege verbreitet. Insoweit ist in Rechnung zu stellen, dass ein verstärkter Rückgriff auf das Instrument nicht ohne Auswirkungen auf die Qualität der zu erbringenden Dienstleistungen bleiben kann. Entsprechende Beschäftigungen fordern einen Solidarititätsbeitrag des Hilfeempfängers ab 76 . Zugleich dienen sie der Prüfung der Verfügbarkeit des Arbeitslosen. Dabei haben sie die Ziele des Erwerbs und Erhalts der Beschäftigungsfähigkeit sowie der Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt zu wahren 77. Allerdings ist der Eingliederungseffekt dieser Arbeitsgelegenheiten gering. Infolge des inzwischen ernster als in der Vergangenheit genommenen „Zusätzlichkeitskriteriums" werden eher marktferne Tätigkeiten ausgeübt, so dass der Erwerb marktgängiger Qualifikationen unwahrscheinlich ist. 2. Das Arbeitslosengeld I I Das heutige Arbeitslosengeld I I ersetzt die frühere Arbeitslosenhilfe und lehnt sich stärker an die Sozialhilfe an, setzt aber betonter als diese auf Anreizwirkungen und Sanktionen. Ihr vorgelagert ist die Regelung des Arbeitslosengeldes I. Arbeitslose unter 55 Jahren erhalten ein Jahr das - nach dem zuvor bezogenen Einkommen bemessene78 - Arbeitslosengeld I; für ältere Arbeitslose
72 Bieritz-Harder, „Ein-Euro-Jobs" - Die Arbeitsgelegenheiten des § 16 Abs. 3 S. 2 SGB II, ZfSH/SGB 2005, 259, 260 f. m.w.N. 73 Siehe § 16 Abs. 3 SGB II; die Bestimmung folgt dem Vorbild des § 19 Abs. 2 BSHG. Zur grundsätzlichen Zulässigkeit Bieback (Fn. 42), S. 340. 74 BVerwGE 67, 1, 5; 68, 97, 99. 75 Wie hier Bieback (Fn. 42), S. 340; vgl. demgegenüber LSG Berlin, info also 2004,
204, 206 f. sowie Lehmann-Franßen (Fn. 50), S. 520. 76
Zutreffend Enders, Sozialstaatlichkeit im Spannungsfeld zwischen Eigen Verantwortung und Fürsorge, in: Der Sozialstaat in Deutschland und Europa, VVDStRL 64 (2005), S. 21, 38. 77 Siehe §§ 14 Abs. 1, 16 Abs. 3 SGB II. Das hat Einfluss auf den zulässigen zeitlichen Umfang der Maßnahme; hierzu Bieback (Fn. 42), S. 342 m.w.N. 78 Nämlich 67 % des Nettoentgelts für Arbeitslose mit mind. 1 Kind, im Übrigen 60 %; siehe § 129 SGB III.
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beträgt die Bezugsdauer 18 Monate. Danach erhalten diese wie sonstige erwerbsfähige Hilfebedürftige das Arbeitslosengeld II 7 9 . Das Arbeitslosengeld I I ist weitgehend pauschaliert, insbesondere Alleinstehende80 erhalten so niedrigere Transferleistungen als in der Vergangenheit. Infolge der Einbeziehung der in der Sozialhilfe gesondert gezahlten „einmaligen Leistungen" in die Pauschale lag diese zunächst rd. 16 % über den Regelsätzen der Sozialhilfe 81. Diese ist inzwischen ihrerseits an das Modell des Arbeitslosengeldes II angeglichen worden 82. Mit der Pauschalierung wendet sich der Gesetzgeber bewusst von einer missbrauchsanfälligeren individuellen Lösung ab und schließt - bis auf wenige, ausdrücklich geregelte Ausnahmefälle - Ansprüche auf einmalige Leistungen aus. Insofern hat die Regelungstechnik eindeutig eine Gleichheit wahrende Funktion. Dennoch ist sie nicht unproblematisch, geht es doch um eine „Grundsicherung" für Erwerbsfähige. Diese ist von den Grundsätzen der Bedarfsdeckung und der Individualisierung nicht zu trennen. Zwar ist grundsätzlich eine Pauschalisierungsbefugnis des Gesetzgebers anzuerkennen, soweit sie typische Fälle erfasst und einer angemessenen Lösung zuführt. Ein entsprechendes Vorgehen war bei der Festsetzung von Regelsätzen in der Sozialhilfe grundsätzlich anerkannt. Es liegt nahe, auf die Maßstäbe zu verweisen, die das Bundesverwaltungsgericht 83 - vor der Folie der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zum Grundrechtsschutz durch Verfahren 84 - für die Festsetzung der Regelsätze in der Sozialhilfe entwickelt hat. Immerhin fußt die Pauschalierung bei einer nominal höheren Ebene auf den Regelsätzen der Sozialhilfe (ohne allerdings deren regionale Differenzierungen nachzuvollziehen). Dennoch bestehen Zweifel, ob die eher approximate Ermittlung der pauschalierten Kosten für einmalige Bedarfe, die letztlich die Höhe des Pauschal-
79 Nicht ausgeschlossen ist, dass Empfänger des Arbeitslosengeldes I oder Bezieher niedriger Einkommen einen Anspruch auf „aufstockendes" Arbeitslosengeld II haben, sofern nämlich das Arbeitslosengeld I unter dem Betrag liegt, der nach dem SGB II zu gewähren ist (s.a. Bieback [Fn. 42], S. 343). Dagegen schließt der Anspruch auf Arbeitslosengeld I I zur Sicherung des Lebensunterhalts entsprechende Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB X I I aus, siehe § 5 Abs. 2 SGB II. Das setzt voraus, dass die Regelungen des SGB I I ihrerseits „armutsfest" sind; siehe Münder (Fn. 4), S. 3210. 80 Zu nicht erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in Bedarfsgemeinschaft: § 28 SGB II. 81 Die Regelleistung beträgt z. Zt. (2006) 345 €. Hinzu kommen die (variablen) Kosten für Unterkunft und Heizung, etwaige Mehrbedarfszuschläge sowie ein befristeter, degressiver Zuschlag nach vorherigem Bezug des Arbeitslosengeldes I nach § 24 SGB II. 82 §§ 28, 31, 40 SGB X I I i.V.m. der RegelsatzVO vom 3.6.2004 (BGBl. I 2004, 1067) sowie den Landesverordnungen zur Festsetzung der Regelsätze (z.B. VO vom 20.9.2005 - GVB1. M - V S. 514). Unterschiede bestehen nach wie vor insbesondere im Hinblick auf die Anrechnung von Einkommen und Vermögen. 83 BVerwGE 94, 326, 331; 102, 366, 368 ff.; s. a. BVerfGE 52, 391, 407; 65, 76, 95. 84 BVerfGE 40, 121, 133; 87, 153, 170 f.; 100, 271,284; s. a. BVerwGE 102, 366, 368.
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betrages bestimmen, diesen Anforderungen genügt. Zwar spricht einiges dafür, dem Gesetzgeber insoweit eine begrenzte eigene Gestaltungsbefugnis einzuräumen, weil deren Festlegung zugleich ein steuerndes Element zugrunde liegt 85 . Dennoch darf sich der Gesetzgeber nicht rein dezisionistisch von der „Empirie" entfernen: Im Bereich der „Grundsicherung" sind seiner Gestaltungsfreiheit engere Grenzen gesetzt als bei sonstigen Leistungsgesetzen86. Unabhängig von der grundsätzlichen Angemessenheit kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch nach Berücksichtigung des § 21 SGB I I (Mehrbedarf) Sonderbedarfslagen verbleiben, die im Einzelfall nicht von den in § 23 SGB II geregelten einmaligen Leistungen hinreichend aufgefangen werden 87. Will man in diesen Fällen nicht mit einer durch § 44 SGB I I angeleiteten88 und in das „Vorfeld" verlagerten Reduktion des Entscheidungsspielraums im Hinblick auf die Bedingungen darlehensweiser Gewährung operieren, so bleibt nur der Rückgriff auf die „Hilfe in besonderen Lebenslagen" nach § 73 SGB XII. Generell setzt die Leistungsberechtigung - wie bei der Sozialhilfe - Hilfebedürftigkeit voraus. Der Arbeitslose hat zunächst die sich ihm bietenden Möglichkeiten der Sicherung des Lebensunterhalts auszuschöpfen. Deshalb ist er nicht nur verpflichtet, jede zumutbare Arbeit anzunehmen89, sondern es werden auch Einkommen und Vermögen angerechnet, soweit sie bestimmte Freigrenzen übersteigen 90. Diese Regelung stellt ein funktionales Äquivalent zu „Kombilohnmodellen" - etwa nach dem britischen Muster der „Tax credits" dar 91 . Zwar beherrschen diese wieder einmal die sozial-politische Diskussion. Auch tragen sie auf den ersten Blick den Charme einer Externalisierung der sozialen Frage, welche die Preisbildung auf dem Arbeitsmarkt nicht belastet. Indessen dürften gerade die mittelbaren Wirkungsmechanismen des „Kombi-
85
Vgl. O' Sullivan (Fn. 26), S. 370; Rothkegel (Fn. 65), S. 398; s. a. Luthe/Dittmar,
Das Existenzminimum der Gegenwart, SGb 2004, 272, 276 die mit Recht darauf hinweisen, dass nicht jedes einzelne Element der Ermittlung des soziokulturellen Existenzminimums oder gar des bisherigen Gesetzesvollzugs mit verfassungsrechtlicher Wertigkeit aufgeladen werden kann. 86 S. a. BVerfGE 99, 246, 259 f.; BVerwGE 94, 331. Krit. zum Verfahren der normativen Bestimmung der Höhe des Arbeitslosengeldes II: Bieback (Fn. 42), S. 338. 87 Näher Däubler, Das Verbot der Ausgrenzung einzelner Bevölkerungsgruppen Existenzminimum und Arbeitslosengeld II, NZS 2003, 225 ff. mit freilich zu weit gehender Kritik. 88 Die Bestimmung sieht die Möglichkeit eines Erlasses aus Billigkeitsgründen vor. 89 § 10 SGB I I mit Übergangsregelung nach § 65 Abs. 4 SGB I I für Leistungsberechtigte ab Vollendung des 58. Lebensjahres. 90 Im Einzelnen §§ 11 ff., 30 SGB II. 91 Ähnliches gilt für die sog. „Midi-Jobs".
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lohns" deutlich weniger berechenbar sein als nach geltendem Recht, mag dieses sich auch unter Anreizgesichtspunkten als überprüfungswürdig darstellen 92. 3. Die veränderte Rolle kommunaler Sozialpolitik Die neue Rolle, welche die kreisfreien Städte und Kreise in der Grundsicherung für Arbeitssuchende einnehmen, hat bedeutsame Auswirkungen auf die kommunale Sozialpolitik 93 . Durch das Hinzutreten der Grundsicherung für Erwerbsfähige als eigenständige Aufgabe sieht diese sich einem deutlich veränderten rechtlichen Umfeld ausgesetzt. Es ist einerseits durch eine gewandelte Rolle der Sozialhilfe, andererseits durch ihre Beteiligung an der Aufgabe der Beschäftigungsförderung geprägt. Zwar hatten sich einzelne Kommunen schon früher dieser Aufgabe zugewandt. Unübersehbar ist freilich, wie sich die Qualität dieser Aufgabe entscheidend verändert hat: Sie ist nunmehr mit in das Zentrum kommunaler Sozialpolitik getreten. Zugleich hat die Sozialhilfe durch die „Grundsicherung für Arbeitssuchende" eine merkliche „Verschlankung" erfahren. Bei möglicher Erwerbsfähigkeit der Hilfebedürftigen geht es nur noch um die Abgrenzung der Anwendbarkeit von SGB X I I und SGB II: Schon zuvor war durch die Integration der früher selbständig geregelten Grundsicherung für Erwerbsunfähige und Personen über 65 Jahren („Grundsicherungsgesetz") in die Sozialhilfe eine bedeutsame Modifikation der überkommenen Sozialhilfe erfolgt. Diese betrifft insbesondere das Verfahren sowie den begrenzten Rückgriff bei Unterhaltsansprüchen. Dennoch griffe der Schluss, die Sozialhilfe sei damit auf ihre frühere „Randständigkeit" zurück gefallen, zu kurz. Zwar hat die Hilfe zum Lebensunterhalt einen klaren Bedeutungsverlust erfahren. Dennoch bleibt ihre Maßstab bildende Funktion (z.B. bei der Bestimmung des steuerrechtlichen Existenzminimums, aber auch im Hinblick auf die Grundsicherung für Arbeitssuchende) erhalten. Auch ist eine weitere Zunahme der Hilfe in besonderen Lebenslagen zu erwarten; diese ist bekanntlich besonders aufwendig und damit kostenintensiv.
V. Zwischenbilanz Sieht man von der übertriebenen, falsche Erwartungen weckenden ReformRhetorik ab, so ist die neue Austarierung der früheren Arbeitslosenhilfe in Form des Arbeitslosengeldes I I richtig. Das gilt zunächst für die Loslösung der 92
Näher Christen, Arbeitsförderungsrecht und Arbeitsmarktökonomik, 2001, S. 156 f.; Eekhoff\ Beschäftigung und soziale Sicherung, 3. Aufl. 2002, S. 6, 42; eher ablehnend K. F. Zimmermann, ebda., S. 11 ff.; s. a. Siebert, Geht den Deutschen die Arbeit aus? Wege zu mehr Beschäftigung, 1994, S. 167 f. 93 Hierzu Welti , Felder kommunaler Sozial- und Beschäftigungspolitik, in: Wallerath (Fn. 36), S. 13 ff.
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Arbeitslosenhilfe von einer statusorientierten Sozialleistung hin zu einer (im Kern) pauschalierten Leistung. Es war in der Tat nicht einsichtig, dass der Bezug eines überdurchschnittlichen Einkommens für die Dauer eines Jahres bei anschließender Arbeitslosigkeit eine unbefristete Arbeitslosenhilfe auslöste. Die hiergegen gerichtete Kritik des Schrifttums im Vorfeld der Hartz-Gesetze war völlig berechtigt. Das schließt namentlich die Ablösung von der früheren Einkommensbezogenheit wie auch die Verschärfung der Pflicht zur Übernahme zumutbarer Arbeit mit ein. Diese entspricht der Betonung des Prinzips „fördern und fordern". An ihm wird deutlich, dass das Hartz-Projekt dem WorkfarePrinzip folgt. Es setzt maßgeblich auf den Gegenseitigkeitsgedanken und knüpft die Gewährung von Sozialleistungen bei Erwerbsfähigen an die Bereitschaft zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. Dahinter steht vor allem die Vorstellung, dass Lohnersatzleistungen die Opportunitätskosten der Arbeitslosen senken und die Suchdauer verlängern. Durch - im Vergleich zur früheren Rechtslage - regelmäßig verringerte Transferleistungen wird zugleich versucht, Einfluss auf Höhe und Dauer der Arbeitslosigkeit zu nehmen. Dennoch gibt es Anlass zu Kritik. Diese betrifft zum einen die Gesetzgebungstechnik, die zu einem Regelwerk führte, das nicht frei von Intransparenzen und Widersprüchlichkeiten ist 94 . Es betrifft - zum anderen und grundsätzlicher - die konzeptionelle Seite, die nicht nach der Höhe von Arbeitslosenquoten fragt: Wo Arbeit selbst zu ungünstigsten Bedingungen nicht nachgefragt wird, läuft das „Fordern" jedenfalls im Kern ins Leere. Das hätte eine regionalspezifische Unterscheidung je nach Arbeitslosendichte, also eine Differenzierung nach der Arbeitslosenquote im jeweiligen Arbeitsamtsbezirk nahe gelegt (etwa bei der Bestimmung der Übergangsfrist für die Gewährung des Zuschusses nach § 27 SGB II). Zum anderen lassen sich gegen verschiedene Elemente der Ausformung Bedenken anmelden. Die Neukonzeption der Vermittlung konnte zumindest bisher nicht überzeugen; in der verstärkten Einbeziehung Privater folgte sie einer Mode, ohne Vorkehrungen gegen kontraproduktive Auswüchse zu treffen - dafür ist „Arbeit" ein zu sensibles Gut. Tatsächlich stieß die Vermittlung durch die Bundesanstalt für Arbeit stets auf eine ambivalente Einschätzung95. Die stärkere Mobilisierung Privater für diese Aufgabe lag deshalb keineswegs fern. Indes musste sie bei einem „Massengeschäft" mit Fehlanreizen rechnen. Nicht ohne Grund wurde die anfänglich gewerbliche
94 Beispielhaft die diffusen Einzelregelungen zur inhaltlichen Bestimmung des Sozialrechtsverhältnisses „Grundsicherung", § 6 Abs. 2 S. 2 (unmittelbare Bundesfinanzierung), § 9 Abs. 2 (Beweislast) sowie § 22 (mit dem Anreiz zum Wohnungswechsel arbeitsloser Heranwachsender), §§ 31 Abs. 2, Abs. 5, Abs. 6 SGB II, § 16 Abs. 3 SGB I I i.V.m. § 129 SGB V I I (mit jeweils unzureichender Abstimmung). Mit dem Entwurf eines SGB II-Fortentwicklungsgesetzes (BT-Drs. 16/1410) hat der Gesetzgeber einen ersten Schritt zur Beseitigung der gröbsten Ungereimtheiten getan. 95 Vgl. oben Fn. 48.
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Vermittlung aufgrund negativer Erfahrungen in der Weimarer Republik vom Vermittlungsmonopol des Reichsamtes für Arbeitsvermittlung abgelöst96. Schließlich enthalten auch die erfolgten Organisationsreformen richtige Elemente („Entschlankung" der Bundesagentur), beruhen teilweise aber auch schlicht auf unbedachtem Aktionismus (Personal-Service-Agenturen), teils tragen sie experimentellen Charakter. Letzteres muss nicht falsch sein, hätte aber mehr Sorgfalt in der Ausgestaltung verdient gehabt. Schließlich bleibt ein grundsätzlicher Vorbehalt: Das Projekt „Hartz" kann nur dazu beitragen, den Mangel an Arbeitsplätzen effektiver zu verwalten, indem das Gesetz stärker die Bereitschaft fordert, vorhandene Arbeitsgelegenheiten zu nutzen. Zur deren - mindestens ebenso bedeutsamer - Schaffung ist damit nichts beigetragen. Deshalb ist der entscheidende Erfolgsparameter jeder auf den Arbeitsmarkt bezogenen Reform die Ausweitung von Nachfrage nach Arbeitskräften auf dem ersten Arbeitsmarkt. Hier ist bislang so gut wie nichts getan. Auch wenn der Mut, die politische Erstarrung in der Frage der Langzeitarbeitslosigkeit zu lösen, uneingeschränkt Anerkennung verdient, wurden die mit den Hartz-Gesetzen erzeugten hohen Erwartungen im Hinblick auf die Beschäftigungseffekte der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik in keiner Weise erfüllt. Das kann nicht überraschen, wandte sich das Projekt doch nahezu ausschließlich den Ebenen „Vermittlung" von Arbeitslosen und „Verwaltung" von Arbeitslosigkeit zu 97 . Die Wachstumsschwäche der deutschen Wirtschaft, die hohe Abgabenbelastung und die weitgehende Regulierung von Produkt- und Arbeitsmärkten sind die Haupthemmnisse für eine höhere Nachfrage nach Arbeitskräften. Tatsächlich ist die hohe Arbeitslosigkeit nicht in erster Linie ein Vermittlungs- und Anreizproblem, wie dies die Arbeitsmarktreformgesetze nahe legen. Ohne Arbeitsplatzangebot führt auch die bestmögliche Aktivierung zu keiner nachhaltigen Erweiterung der Beschäftigung. Es geht vor allem um die Bewältigung von Folgen struktureller Arbeitslosigkeit. Die klassischen Formen der Arbeitslosigkeit wie saisonale und konjunkturelle haben an Dominanz eingebüßt. Die heute im Vordergrund stehende strukturelle Arbeitslosigkeit 98 geht nicht zuletzt auf grundlegende Neuorientierungen der Gütermärkte und Produktionsabläufe zurück. Sie äußert sich in der Entkopplung von Wirtschafts- und Arbeitsmarktentwicklung („Hysterese"); dem entspricht die Nachhaltigkeit der Arbeitslosigkeit über verschiedene konjunkturelle Phasen hinweg. Diese ist mit einer Selbstbescheidung auf die Sozialpolitik - und seien die Reformen noch so gut (gemeint) - nicht zu erfassen. 96
Siehe Christen (Fn. 92), S. 179; Wagner (Fn. 48), S. 21 Rn. 3.
97
Siehe oben zu Fn. 4.
98 Rolle/v. Suntum, Langzeitarbeitslosigkeit im Ländervergleich, 1997, S. 19 ff.; Siebert (Fn. 92), S. 39.
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Ihre Bekämpfung ist in hohem Maße Aufgabe der Wirtschaftspolitik, aber auch der (Arbeits-)Rechtspolitik, welche die normativen Rahmenbedingungen für den Arbeitsmarkt zu bestimmen hat. Sie kommt dieser Aufgabe nur höchst zögerlich nach.
VI. Ausblick - ein notwendiger Paradigmenwechsel Die Hintergründe der Hartz-Reformen legen offen, dass der moderne Sozialstaat längst über die klassische Entgegensetzung von Bismarck- oder Beveridge-Modell hinweggegangen ist". Mittlerweile hat er zahlreiche Zwischenformen der Sicherung mit einem vielfältigen „Instrumentenmix" entwickelt. Diese folgen nicht selten dem Prinzip von „trial and error". Sie changieren zwischen dem pragmatischen Einsatz einzelner Reformelemente und der Orientierung an unterschiedlichen Grundvorstellungen über die nähere Ausgestaltung sozialer Sicherungssysteme im Hinblick auf die zu verfolgenden Sicherungsziele und die dabei einzusetzenden Mittel 1 0 0 . Deren Eckpunkte wurden traditionell durch den Gegensatz zwischen „marktzentriertem" Staat liberaler Prägung und dem allen Mitgliedern der Gesellschaft Wohlstand verheißenden Versorgungsstaat markiert. Nach der ersten Position erfolgt Sozialpolitik (am besten) durch den Markt selbst. Ihr entspricht eine minimalistische Staatsauffassung 101, die z.B. die Aufgabe der Arbeitsvermittlung gänzlich privaten Anbietern überlassen, die Versicherungspflicht mit risikoäquivalenten Beiträgen verbinden oder die Absicherung des Existenzminimums und einer Grundversorgung bei Krankheit über privatwirtschaftliche Organisationen abwickeln will. Die Position ist ungeschichtlich. Sie nimmt die Bestimmungsgründe für die Herausbildung eines Systems sozialer Integration nicht ernst. Tatsächlich hat sich dieses gerade als Korrektiv von gesellschaftlich unerwünschten Marktergebnissen herausgebildet. Es ist gewachsen aus der Vielzahl der „Korrekturen, die notwendig waren, den Markt vor seiner Entartung und vor den Folgen evidenter Unmenschlichkeit zu bewahren" 102 . Eine rein marktzentrierte Position ist zudem verkürzt, weil sie die Frage „gesamtgesellschaftlicher Rationalität" nicht beantworten kann: Der Markt ist nicht imstande, über den Wert nicht-monetärer gesamtgesellschaftlicher Güter zu entscheiden.
99
S. Liefmann-Keil, Ökonomische Theorie der Sozialpolitik, 1961, S. 138. Hierzu und zum folgenden: Homann, Perspektiven für die soziale Sicherung, Informationsdienst der GVG, Nr. 283, 12/2001, S. 2 f. 101 Vgl. als Hauptexponenten dieser Richtung Nozick, Anarchy, State and Utopia, 100
1990; s. a. Buchanan (Fn. 23), S. 1, 9. 102 Haverkate/Huster, Europäisches Sozialrecht, 1999, Rn. 521 f.
Paradigmenechsel in der sozialen Sicherung?
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Aber auch der konträre wohlfahrtsstaatliche Ansatz konnte und kann nicht überzeugen. Er verschüttet Eigeninitiative und -Verantwortung. Mit seiner egalitären Tendenz verzichtet er auf das produktive Potential individueller Anstrengung zur allgemeinen Wohlstandsteigerung. Die Paradoxie, dass er mit ausufernden Transfers ständig Antrieb für gesellschaftliche Konflikte liefert 103 , kommt ihm nicht in dem Sinn. Dass er auf klare Grenzen gestoßen ist, ist kein Zufall. Selbst die mittlere Position, welche die Sozialpolitik in der Bundesrepublik in unterschiedlichen Nuancierungen über Jahrzehnte bestimmte, vermag den gewandelten ökonomischen Verhältnissen nicht mehr stand zu halten. Sie verstand sich als verselbständigten Politikbereich, der sich als Korrektiv gegenüber der Gerechtigkeitsblindheit des Marktes zu bewähren hatte. Ihre Schwächen sind inzwischen unübersehbar: Zwar konnte sie sich in Zeiten wirtschaftlicher Expansion ziemlich ungehindert entfalten, jedoch stößt auch sie zunehmend auf Grenzen, die der Veränderung des ökonomischen Datenkranzes folgen. Die lange Zeit ungebrochene Dynamik des Sozialstaates blieb nicht ohne Folgen: Sie erschwert die Einsichtigkeit in den Sinn zahlreicher Regelungselemente und ihrer Kompatibilität mit den eigenen wirtschaftlichen Grundlagen 104 . Das mag eine besondere Pfadabhängigkeit von Reformen im Bereich sozialer Sicherung belegen. Diese kann freilich kein Verharren in den bisherigen Strukturen rechtfertigen, vielmehr verlangt sie die Herstellung von Anschlussfähigkeit 105 an die gebotenen Neuorientierungen. Vor dem so veränderten Hintergrund sehen sich die sozialen Sicherungssysteme denn auch gleich von zwei Seiten in die Zange genommen: Die Nutzer können sich nur schwer mit einem drohenden Rückbau abfinden; die Zahlenden sehen ihre Geduld überstrapaziert, wenn soziale Transfers wenig zielgerecht geleistet werden. Tatsächlich garantiert soziale Zweckbestimmung allein noch keinen Erfolg; im Gegenteil ist dieser erst unter Berücksichtigung möglicher Zielverfehlungen und gegenläufiger Nebenwirkungen wirklich bestimmbar. Heute wird sichtbar, dass die Allokationseffizienz des Marktes nicht beliebig überspielt werden darf, auch wenn der Markt selbst nicht imstande ist, das notwendige Korrektiv bei sozialen Verwerfungen mit zu liefern. Das verlangt nach ergänzenden Systemen, die möglichst wenig der Allokationseffizienz entgegenstehen. Dieses Ziel legt einen dritten Ansatz nahe, der sich als „ Sozialpolitik vor und mit dem Markt" bezeichnen lässt. Er setzt einerseits auf die Veränderung der Rahmenbedingungen des Marktes durch Ordnungspolitik, 103
Siehe Giddens, Der dritte Weg (Fn. 15), S. 28. Alle Erfahrung spricht dafür, dass angestrebte Änderungen innerhalb einer Institution „rekonstruiert" werden müssen. Erst die veränderte Kombination von Strukturelementen und Handlungsorientierung der Mitglieder schafft eine veränderte Lebenswirklichkeit. Hierzu Giddens, Konstitution (Fn. 15), S. 82, 266 ff.; 355 f. 104
105
Siehe Kingreen (Fn. 16), S. 46.
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wohl sehend, dass dessen Maßstäblichkeit, die Knappheit von Gütern, nicht mit individuellen Nützlichkeiten gleich zu setzen ist. Andererseits akzeptiert er die Grundgedanken, denen das System der sozialen Sicherung makroanalytisch folgt: Soziale Vorsorge durch Beitragzahlung sowie soziale Integration durch sozialen Ausgleich. Im Kern geht es darum, gesellschaftliche Integration durch Einbringung der jeweiligen Fähigkeiten sowie den notwendigen Ausgleich von Benachteiligungen herzustellen und so gesellschaftliche Verwerfungen zu vermeiden 106 . Das verweist auf die - schon lange vor Giddens - formulierten 107 Gestaltungsprinzipien sozialer Sicherung, nämlich die der Subsidiarität 108 und Solidarität. Der nunmehr (wieder) 109 herausgestellte Topos der „Wechselbezüglichkeit" schlägt eine Brücke zwischen den Teilprinzipien und hilft so, die Spannungslage zwischen diesen neu auszutarieren 110. Damit lässt sich eine größere Rationalität in der Sozialpolitik erreichen. Das muss freilich auf der instrumentellen Seite Ergänzung finden. Hierzu gehört, die Methoden und Entscheidungsregeln, die in neueren theoretischen Ansätzen entwickelt wurden 111 , in den Prozess des Austarierens mit einzubeziehen. Davon ist namentlich die Arbeitsmarktpolitik betroffen, die sich stärker um den Einsatz von mit dem Markt kompatiblen Anreizsystemen bemühen muss. Das betrifft aber auch unter anderen Vorzeichen - die übrigen sozialen Sicherungssysteme. So wird sich die Krankenversicherung längerfristig nicht der Problematik entziehen können, welche Risiken sie wirklich tragen soll, wenn nicht mehr das gesamte Leistungsspektrum durch eine gesetzliche Versicherung abgedeckt werden kann. Das gilt unabhängig von der Frage der Finanzierung, die durch die Aushöhlung abhängiger Beschäftigung einem zusätzlichen Handlungszwang unter-
106
Höffe (Fn. 52), S. 66, 73 f.
107
Sie beherrschte seit je das Sozialhilferecht. Zu ihren Wurzeln in der christlichen Sozialethik: Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2001, S. S. 16 ff., 128 f m.w.N. 108 In gleicher Richtung Kingreen (Fn. 16), S. 22 f.; Luthe , Der aktivierende Sozialstaat im Recht, NDV 2003, S. 167 ff. 109
Siehe Enders (Fn. 76), S. 37 f.
110
Dieser hat seine klassische Ausprägung im Versorgungsrecht erfahren. Im Sozialversicherungsrecht findet er sich in den unterschiedlichen Ausformungen von Äquivalenz wieder (vgl. insoweit Krause , Sozialrechtsverhältnis [Fn. 58], S. 31). Er ist zielgerichtet fortzuentwickeln. 111 Pitschas, Zielkonflikte der nationalen Reformaktivitäten. Ökonomisierung und Gemeinwohlmanagement als Gegensätze?, in: Verwaltung Organisation Personal (VOP) 2001, S. 9 ff.; ders ., Der „neue" soziale Rechtsstaat, in: Festschrift für H. Zacher, 1998, S. 755 ff.; ders ., Das sozialrechtliche Verwaltungsverfahren im „aktivierenden" Sozialstaat, in: Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 765 ff.; Holz тапп/ Jorgensen , Soziales Risikomanagement: Ein konzeptioneller Rahmen für Soziale Sicherheit, in: Schmähl, Soziale Sicherung zwischen Markt und Staat, 2000, S. 9 ff.;
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(Fn. 21), S. 9, 22 ff.
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worfen ist. Ähnliches gilt für die Pflegeversicherung, die vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung und der Festschreibung der Leistungen in einer unübersehbaren Rationalitätenfalle steckt. Angesichts der gewaltigen Schuldenlast der öffentlichen Haushalte 112 ist dies gewiss keine leichte Aufgabe, stößt doch der gern gewählte Ausweg einer ergänzenden Steuerfinanzierung auf Grenzen, die in Verantwortung gegenüber den nachkommenden Generationen nicht überschritten werden dürfen. Das Hartz-Projekt bildete einen Anfang. Es war nicht zuletzt von einem Wechsel des Paradigmas „statusorientierter" Transferleitung zu einer (in diesem Fall sachgerechten) bedarfsorientierten Sozialleistung geleitet. Ob es sich dabei lediglich um eine episodenhafte Reform handelte, wird die Zukunft zeigen. Im Interesse einer nachhaltigen Weiterentwicklung der Institutionen sozialer Sicherung ist zu wünschen, dass die Sozialpolitik nicht hierbei stehen bleibt oder gar - von notwendigen Einzelkorrekturen abgesehen - hinter den dadurch erzeugten Stand zurückfällt. Insbesondere eine isolierte Fortentwicklung des Rechts sozialer Sicherung, welche die gesamtwirtschaftlichen Folgen und externen Effekte ausblendet, kann auf Dauer nicht zielführend sein. Deshalb können Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik auch nicht mehr als je eigene „Policies" verstanden, sondern müssen in eine Gesamtbetrachtung hineingestellt werden, um ihrer unter Effizienzgesichtspunkten begrenzten Steuerungskraft Rechnung zu tragen und keine gegenläufigen Effekte auszulösen. Es spricht alles dafür, dass die Zukunftsaufgabe sozialer Sicherung nicht ohne nachhaltige Veränderung des am konsumtiven Sozialstaat113 orientierten Paradigmas zu bewältigen ist: Mit purem Inkrementalismus oder reiner Dezision ist den Problemen auf Dauer nicht mehr beizukommen - man braucht sich nur die Zahl der zwischenzeitlich erfolgten Änderungen des SGB I I I 1 1 4 vor Augen zu führen. Sich der ordnungspolitischen Gestaltungsaufgabe zu stellen, erfordert freilich - wie bereits das Hartz-Projekt zeigte - Mut. Zu stark sind die Gewohnheiten und Besitzstände, welche die Lösungsmöglichkeiten und Handlungsspielräume der Akteure zu begrenzen scheinen. Und dennoch: Schon auf mittlere Sicht wird sich der Staat unzureichende Reformen nicht mehr leisten können. Es ist an der Zeit, sich der Aufgabe der Zukunftsgestaltung auch in anderen Bereichen sozialer Sicherung anzunehmen. Desiderate gibt es zur Genüge.
112
Vgl. das Jahresgutachten 2003/04 des Sachverständigenrates (Fn. 8), S. 279, Rz. 449, das von einer impliziten Staatsschuld in Höhe von 270 % des Bruttoinlandsproduktes (bei 60% expliziter Staatsschuld) ausgeht. 113 Vgl. Pitschas, Die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme, in: Der Sozialstaat in Deutschland und Europa, VVDStRL 64 (2005), S. 109, 128; s. a. ebda. S. 130 m.w.N. zu einer „neuen Architektur der sozialen Sicherung". 114 Siehe Rixen (Fn. 49), S. 466 m.w.N.
Zweiter Teil: Europarecht, Staats- und Verwaltungsrecht
Überlegungen zu den Rechtsformen des Verwaltungshandelns im europäisierten Verwaltungsrecht Von Matthias Ruffert
I. Rechtsformen des Verwaltungshandelns In seiner 1974 erschienenen Saarbriicker Habilitationsschrift unternimmt Peter Krause nicht weniger als die typologisch-phänomenologische Erfassung des Systems bestehender Handlungsformen und seine Erweiterung zu einem offenen Handlungsformensystem, um die Engführung auf die Handlungsform Verwaltungsakt durch ein umfassendes, vollständiges Konzept zu ersetzen1. „Der Sinn der Zuordnung einer Verwaltungstätigkeit zu einer Handlungsform besteht darin, ...", so lesen wir, „... zur Lösung von wiederkehrenden Rechtsproblemen auf einen bestimmten Normfundus zurückzugreifen, der die Voraussetzungen und Folgen einheitlich regelt." 2 Dabei soll die Rechtsformenlehre anders als im Zivilrecht - nicht nur Tatbestand und Rechtsfolgen formbezogenbeschreibend einander zuordnen, sondern sie hat das Verwaltungshandeln disziplinierend „in den Griff zu nehmen", denn „,Die Form als geschworene Feindin der Willkür und Zwillingsschwester der Freiheit' kann ihre Kraft nur dann entfalten, wenn sie die Vornahme des Verwaltungshandelns beherrscht." 3 Kurzum: „Im sozialen Rechtsstaat des Grundgesetzes ist es die vordringliche Aufgabe des öffentlichen Rechts, ,das Wirken der staatlichen Gewalten in Form 4 zu bringen" 4 . Die Aktualität dieser Aufgabe der Rechtsformenlehre 5 ist heute ungebrochen, wenn auch das Gewicht der effektuierenden Funktion des Verwaltungs1
Peter Krause, Rechtsformen des Verwaltungshandelns. Überlegungen zu einem System der Handlungsformen der Verwaltung, mit Ausnahme der Rechtsetzung, Berlin 1974 (Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 229). 2 3 4
Krause (Fn. 1), S. 14. Krause (Fn. 1), S. 15 f., unter Rückgriff auf v. Ihering. Krause (Fn. 1), S. 380, unter Rückgriff auf Hesse.
5 Seit geraumer Zeit werden Rechts- und Handlungsformen der Verwaltung voneinander unterschieden, wobei das Konzept der Handlungsformen das weitere, weil die gesamte Realität des Verwaltungshandelns umfassende Konzept ist, das die Rechtsformen, d.h. die vom Recht zur Verfügung gestellten Handlungsformen einschließt. Für unsere Betrachtung ist die Unterscheidung nicht bedeutsam. Vgl. zu ihr statt aller Pauly,
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Matthias Ruffert
rechts i m Verhältnis zur disziplinierenden Funktion gewachsen ist 6 . Seit den frühen 1970er Jahren sieht sich die verwaltungsrechtliche Handlungsformenlehre einer Fülle von Herausforderungen ausgesetzt. Zu nennen ist vor allem die Kodifikation i m Verwaltungsverfahrensgesetz von 1976, das weiterhin auf den Verwaltungsakt konzentriert bleibt und dessen Regelung zum Verwaltungsvertrag gemeinhin als reformbedürftig angesehen wird 7 ; gerade jene verwaltungsaktsbezogenen Regelungen wurden von Peter Krause skeptisch beurteilt 8 . Auch die neuere Rechtsprechung bekommt einzelne Probleme wie das „schlichte" Verwaltungshandeln 9 , besonders im Bereich staatlicher Informationen 10 , oder Anordnungen i m Innenverhältnis der Verwaltung 1 1 nur mit Mühe in den Griff. Vor allem aber hat sich das B i l d des Verwaltungsrechts durch die Einflußnahme des Europarechts i m sich herausbildenden Europäischen Verwaltungsverbund 1 2 in den vergangenen gut dreißig Jahren nachhaltig verändert. Die
Grundlagen einer Handlungsformenlehre im Öffentlichen Recht, in: BeckerSchwarze/Köck/Kupka/v. Schwanenflügel (Hrsg.), Wandel der Handlungsformen im Öffentlichen Recht, 1991, S. 25 (31); Burmeister , Verträge und Absprachen zwischen der Verwaltung und Privaten, VVDStRL 52 (1993), S. 190 (206 m.w.N. in Fn. 29). 6 Zum Doppelauftrag des Verwaltungsrechts statt aller Schmidt-Aßmann , Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, 1/32. S. bereits die Tendenz bei Ossenbühl , Die Handlungsformen der Verwaltung, JuS 1979, S. 681, sowie wiederum Schmidt-Aßmann , Die Lehre von den Rechtsformen des Verwaltungshandelns, DVB1. 1989, S. 533. 7 S. statt aller Hans-Günter Henneke , in: Knack (Begr.), VwVfG, 8. Aufl. 2004, Vor §54, Rn. 1. 8 Dem Verfasser, seinerzeit Jurastudent in der Examensvorbereitung, ist die kraftvoll vorgetragene Kritik des Jubilars an § 35 VwVfG unvergessen: Die Vorschrift werfe mehr Probleme auf als sie löse. Diese Randnotiz ist willkommener Anlaß, den Dank darüber zum Ausdruck zu bringen, auch später als Assistent und Habilitand am „Nachbarlehrstuhl" von Meinhard Schröder an Peter Krauses Blick hinter das positive Recht, genährt durch einen unerschöpflichen Fundus geschichtlichen und philosophischen Wissens, partizipieren zu können. 9 Grundlegend Schulte , Schlichtes Verwaltungshandeln, 1995. 10 Paradigmatisch sind die - zu Recht - überwiegend kritisch aufgenommenen Entscheidungen BVerfGE 105, 252; 105, 279, in den Glykol- und Osho-Fällen. 11 Stellvertretend für die Rechtsprechung zum äußeren Erscheinungsbild von Beamten OVG Koblenz, NJW 2003, 3793. Die Verwaltungsaktsqualität der Anordnung, die Haar- oder Barttracht zu stutzen bzw. auf Schmuck zu verzichten, wird von der Rechtsprechung sehr unterschiedlich beurteilt, s. nur BVerwGE 84, 287; BVerfG, BayVBl. 1991, 271; VGH Kassel, NJW 1996, 1164; BVerwG, DVB1. 1999, 929; BayVGH, BayVBl. 2003, 212; insgesamt Jörn Ipsen, Ohrschmuck zur Dienstkleidung Variationen zum Thema „Grundrechte und Sonderstatusverhältnis, FS Knut Ipsen, 2000, S. 711. 12 Begriff: Schmidt-Aßmann , Einleitung: Der Europäische Verwaltungsverbund und die Rolle des Europäischen Verwaltungsrechts, in: ders./Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 1.
Rechtsformen des Verwaltungshandelns im europäisierten Verwaltungsrecht
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Rechtsformenlehre ist von dieser Veränderung nicht unberührt geblieben13. Im folgenden Beitrag sollen daher - nach einer kurzen Bestandsaufnahme der Europäisierung des Verwaltungsrechts - die Veränderungen durch das Recht der europäischen Integration in der Rechtsformenlehre beleuchtet werden.
I I . Europäisierung des Verwaltungsrechts Mit der Überschrift „Europäisierung des Verwaltungsrechts" lassen sich zwei Prozesse kennzeichnen: erstens die Einflußnahme des Gemeinschafts- und Unionsrechts 14 auf verwaltungsrechtliche Inhalte, Rechtsinstitute und Verfahren sowie zweitens den dadurch initiierten Umbruch in der Wissenschaft vom Verwaltungsrecht. Die durch das Europarecht ausgelösten Veränderungen im Verwaltungsrecht beginnen in größerem Umfang spätestens gegen Ende der 1970er Jahre und haben im weiteren Verlauf zu einer „Omnipräsenz" europarechtlicher Maßstäbe, Prozeduren und Regelungen im materiellen Verwaltungsrecht und Verwaltungsverfahrensrecht geführt 15 . Organisationsrechtlicher Ausgangspunkt ist die Trennung von EU-Eigenverwaltung und mitgliedstaatlicher Verwaltung, die sich in der zweigliedrigen und zweistufigen Abschichtung der Kategorien des europäischen Verwaltungsrechts niederschlägt. Zunächst wird - zweigliedrig zwischen direktem (durch Union bzw. Gemeinschaft selbst) und indirektem Vollzug (durch die Mitgliedstaaten) unterschieden 16. Dementsprechend kann innerhalb des europäischen Verwaltungsrechts nach dem Eigenverwaltungsrecht der EU (auf die Einrichtungen, Organe und sonstigen Stellen der EU anwendbares Verwaltungsrecht) und dem Unions- bzw. Gemeinschaftsverwal-
13 Bast, Handlungsformen, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 479 (491 ff.), sieht erheblichen Systematisierungsbedarf. 14 Bis die VerfEU (Vertrag über eine Verfassung für Europa, 29.10.2004, ABl. EU 2004 Nr. С 310/1) ratifiziert - was gegenwärtig unklar ist - und eine einheitliche Union mit Rechtspersönlichkeit gegründet wird (Art. 1-7 VerfEU), bleibt es bei den terminologischen Schwierigkeiten in der Differenzierung von Union und Gemeinschaft. Herrschend ist die „Tempelkonstruktion", die die Säulen der Gemeinschaft (erste Säule), der GASP (zweite Säule) und PJZS (dritte Säule) unter einem Dach vereinigt (zum Ganzen Wichard, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 3. Aufl. 2006, Art. 1 EGV, Rn. 15 ff. m.w.N. Das BVerfG (NJW 2005, 2289 (2291 f.) - Europäischer Haftbefehl) neigt einer starken Betonung des intergouvernementalen Charakters der beiden EUSäulen zu. 15 Schoch, Die Europäisierung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, JZ 1995, S. 109 (109). 16 Grundlegend Rengeling, Rechtsgrundsätze beim VerwaltungsVollzug des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1977, S. 9-11.
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Matthias Ruffert
tungsrecht differenziert werden 17. Auf einer zweiten Stufe wird der indirekte Vollzug als unmittelbar oder mittelbar indirekt weiter aufgeteilt, je nachdem, ob Unionsrecht unmittelbar oder über mitgliedstaatliche Legislativakte vermittelt vollzogen wird 18 . Auf dieser Grundlage wird das europäische vom mitgliedstaatlichen Verwaltungsrecht getrennt 19. Quer zu dieser Kategorisierung liegt das Verwaltungskooperationsrecht, das Elemente der beiden großen Kategorien vereinigt 20 und dementsprechend keine neue Kategorie des europäischen Verwaltungsrechts schafft 21. Schon die beschriebenen, fein ziselierten Differenzierungen lassen erkennen, daß die Erfassung der europarechtlichen Einwirkungen auf das Verwaltungsrecht für sich genommen als weitgehend abgeschlossen angesehen werden kann. Das Europarecht wird allgemein nicht mehr als illegitime Intervention in gewachsene Strukturen abgelehnt. Dieser Zustand ist das Ergebnis einer mehrphasigen Entwicklung 22 von einzelnen Pionierleistungen in den 1960er Jahren bis hin zur temporären thematischen Dominanz des Europäisierungsthemas im Verwaltungsrecht Mitte der 1990er Jahre. 23 Seitdem schreitet die 17 Schmidt-Aßmann (Fn. 6), 7/6-9; ders., Deutsches und Europäisches Verwaltungsrecht, DVB1. 1993, S. 924 (925 f.); v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und europäische Integration, 1996, S. 204 f. 18 S. wiederum Rengeling (Fn. 16). Aus späterer Zeit s. die Differenzierungen und Präzisierungen bei Hoffmann Riem, Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts Perspektiven der Systembildung, in: Schmidt-Aßmann/ders. (Hrsg.), Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, 1999, S. 317 (322 ff.); Kahl, Europäisches und nationales Verwaltungsorganisationsrecht. Von der Konfrontation zur Kooperation, Die Verwaltung 29 (1996), S. 341 (343 ff.); Hegels, EG-Eigenverwaltungsrecht und Gemeinschaftsverwaltungsrecht, 2001. 19 Innerhalb des mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechts wiederum stellt sich die Frage nach der Änderung des durch explizite gemeinschaftsrechtliche Vorgaben nicht berührten Verwaltungsrechts: Dafür Engel, Die Einwirkungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf das deutsche Verwaltungsrecht, Die Verwaltung 25 (1992), S. 437 (475 f.). Hoffmann-Riem (Fn. 18), S. 365, spricht insoweit von produktiver Überwirkung und „Overspill". 20 Grundlegend Schmidt-Aßmann , Verwaltungskooperation und Verwaltungskooperationsrecht in der Europäischen Gemeinschaft, EuR 1996, S. 270; s. auch ders. (Fn. 6), 7/18-19. Umfassend Sydow, Verwaltungskooperation in der EU, 2004.
21
Schmidt-Aßmann (Fn. 6), 7/18; Ruffert,
Rechtsquellen und Rechtsschichten des
Verwaltungsrechts, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, 2006, § 17, Rn. 29. 22 Zu dieser Schmidt-Aßmann, Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts: Einleitende Problemskizze, in: ders./Hoffmann-Riem (Fn. 18), S. 9 (10 ff.); Ruffert , Die Europäisierung der Verwaltungsrechtslehre, Die Verwaltung 36 (2003), S. 294 (293 ff). - Zum offenen Konflikt Anfang der 1990er Jahre illustrativ Zuleeg und Rengeling, Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht - wechselseitige Einwirkungen, VVDStRL 53 (1994), S. 154 ff. und 202 ff. (dort die These 31 von Zuleeg (S. 199) mit
den Reaktionen von Vogel (S. 241) und Starch (S. 245 f.)). 23 Schmidt-Aßmann (Fn. 22), S. 11 f.; Ruffert (Fn. 22), S. 297 ff. S. nur die Schriften von Brenner, Der Gestaltungsauftrag der Verwaltung in der Europäischen Union, 1996;
Rechtsformen des Verwaltungshandelns im europäisierten Verwaltungsrecht
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Strukturbildung voran und vollzieht sich primär in einer Reihe von Referenzgebieten (vor allem Umweltrecht, Telekommunikationsrecht, Vergaberecht) und ist partiell auf bestimmte Problemschwerpunkte (namentlich: Rücknahme und Vertrauensschutz, subjektives Recht und Klagebefugnis, Verfahrensorientierung und materielle Maßstäbe, Verwaltungsöffentlichkeit, Staatshaftung sowie generell Verwaltungsprozeßrecht 24) fokussiert. 25 Auch die Rechtsformenlehre steht unter „Europäisierungsdruck". Dieser betrifft zum einen die Handlungsformen der supranationalen Union selbst, als auch diejenigen des europarechtlich überformten mitgliedstaatlichen Rechts. Gesteigert wird die Komplexität der Europäisierung bei den rechtlichen Handlungsformen dadurch, daß sich das Europäische Verfassungsrecht in einem tiefgreifenden Wandlungsprozeß hin zur „nachholenden Konstitutionalisierung" befindet 26 , dessen Fortentwicklung allerdings infolge politischer Entwicklungen mit Unsicherheiten behaftet und verzögert wird. Daher ist ein jeweils ergänzender Blick auf den Vertrag über eine Verfassung für die Europäische Union (VerfEU) 27 mit Bezug auf die Rechtsformen des Unionshandelns bzw. Gemeinschaftshandelns notwendig und lohnend.
I I I . Rechtsformen des Verwaltungshandelns und Europäisches Verwaltungsrecht 1. Handlungsformen von Union und Gemeinschaft a) Normsetzung und Verwaltungshandeln Das verfassungsrechtliche Postulat der Gewaltenteilung legt es nahe, das Verwaltungshandeln von der Normsetzung abzuschichten28. Mit den Handlungsformen, die der EGV dem Eigenverwaltungsrecht der Gemeinschaft zur Verfügung stellt, scheint dies kaum vereinbar zu sein: Rechtsetzungsakte dominieren, und der als Katalog von Rechtsakten nach völkerrechtlichem Vorbild konzipierte Art. 249 EGV ist längst als Ermächtigung zur Setzung von Rechts-
V. Danwitz (Fn. 17); Hatje, Die gemeinschaftsrechtliche Steuerung der Wirtschaftsverwaltung, 1998; Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1999. 24 S. statt aller Dörr, Der europäisierte Rechtsschutzauftrag deutscher Gerichte, 2003. 25 Zu diesen „Einbruchstellen" der Europäisierung Ruffert (Fn. 22), S. 302 ff. 26 Fache, Eine Verfassung für Europa - Krönung oder Kollaps der europäischen Integration? EuR 2002, S. 767 (784). 27 Vertrag über eine Verfassung für Europa, 29.10.2004, ABl. EU 2004 Nr. С 310/1. 28 V. Bogdandy/Bast/Arndt, Handlungsformen im Unionsrecht, ZaöRV 62 (2002), S. 67 (82 f.). Bei Peter Krause geschieht dies schon im Untertitel seiner Habilitationsschrift (Fn. 1): „Überlegungen zu einem System der Handlungsformen der Verwaltung, mit Ausnahme der Rechtsetzung".
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normen zu verstehen. 29 Dementsprechend sind Verordnungen, Art. 249 Abs. 2 EGV, abstrakt-generelle Rechtssätze des sekundären Gemeinschaftsrechts, die in allen ihren Teilen und ohne mitgliedstaatlichen Umsetzungsakt für die gesamte Gemeinschaft verbindlich sind. 30 Der Vorteil der Verordnung für das Verwaltungsrecht liegt in der Möglichkeit europaweiter gleichförmiger Steuerung von Verwaltungsrechtsverhältnissen, erkauft mit dem Nachteil der fehlenden umsetzenden Einpassung in das mitgliedstaatliche Recht. Richtlinien, Art. 249 Abs. 3 EGV, sind ein Instrument kooperativer, zweistufiger Rechtsetzung, denn die verbindliche Normierung des Ziels durch das erlassende Organ bedarf der Umsetzung durch effektive Formen und Mittel der Rechtsetzung in den Mitgliedstaaten.31 Die unverbindlichen Empfehlungen, Art. 249 Abs. 5 EGV, dienen schließlich als Instrument der „weichen", influenzierenden Steuerung. Gemeinsam mit den ebenfalls unverbindlichen Stellungnahmen sind sie keinesfalls frei von Rechtswirkungen 32. Hinzu tritt eine Fülle ungekennzeichneter Rechtsakte: interinstitutionelle Vereinbarungen, Beschlüsse, Entschließungen, Mitteilungen, Erklärungen und ähnliche Akte. 33 Im Eigenverwaltungsrecht entwickelt sich überdies ein unsystematischer Korpus rechtlich unverbindlicher Mitteilungen und Verhaltenskodizes („soft law"). 3 4 Ungeachtet neuerer Systematisierungsleistungen 35 wird die nicht vollständig durchschaubare Vielfalt überwiegend als unbefriedigend empfunden. 36 Im Europarecht läßt sich die Ausgrenzung der Normsetzung aus der Typologie des Verwaltungshandelns kaum unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung begründen, zumal das Gewaltenteilungsprinzip auf der supranationalen Ebene durch den Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts modifiziert
29
Ruffert, in: Calliess/ders. (Fn. 14), Art. 249 EGV, Rn. 13. Näher statt vieler Schroeder, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 249, Rn. 54 ff. 30
31
Schroeder (Fn. 30), Rn. 67 f.; Ruffert
(Fn. 29), Rn. 43. Umfassend Prechal Direc-
tives in European Community Law, 2. Aufl. 2005. 32 Wichtigste Wirkungen: Auslegungsleitlinie für mitgliedstaatliches Recht (EuGH, Rs. 322/88, Slg. 1989, 4407, Rn. 18 (Grimaldi); Rs. C-188/91, Slg. 1993, 1-363, Rn. 18 (Deutsche Shell AG); Schroeder (Fn. 30), Rn. 139, 142; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 249 EGV (2002), Rn. 214); Voraussetzung für Erlaß eines Rechtsakts oder Prozeßvoraussetzung (Schroeder (Fn. 30), Rn. 139). 33
Ruffert
(Fn. 29), Rn. 126.
34
S. den „Kodex für gute Verwaltungspraxis in den Beziehungen der Bediensteten der Europäischen Kommission zur Öffentlichkeit", ABl. EG 2000 Nr. L 267/64; dazu Martinez Soria, Die Kodizes für gute Verwaltungspraxis, EuR 2001, S. 682. 35
S. vor allem v. Bogdandy/Bast/Arndt
(Fn. 28), S. 87 ff.; sowie Schroeder (Fn. 30),
Rn. 26 ff., und vorher Wuermeling, Kooperatives Gemeinschaftsrecht, 1988. 36 Art. 1-33 Abs. 2 VerfEU bestimmt daher, daß EP und Rat nicht vom (neuen) Formenkanon abweichen, wenn sie gesetzgeberisch tätig werden.
Rechtsformen des Verwaltungshandelns im europäisierten Verwaltungsrecht
221
wird 37 . Verordnungen und Richtlinien wie auch unverbindliche und ungekennzeichnete Rechtsakte können gleichermaßen von Rat und Parlament als auch von der Kommission erlassen werden, so daß die Abgrenzung zwischen legislativer und exekutiver Rechtsetzung allein anhand der Handlungsform nicht möglich ist. 38 Erst die VerfEU wird - im Fall ihrer Ratifikation - mit der Kategorie des Europäischen Gesetzes eine entsprechende Abschichtung ermöglichen 39. Es soll nunmehr einen europäischen Gesetzgeber (Europäisches Parlament und Rat gemeinsam) und ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren geben, das dem bisherigen Verfahren der Mitentscheidung entspricht (Art. 1-33 Abs. 1 VerfEU). Das Europäische Gesetz wird flankiert vom Europäischen Rahmengesetz, der alten Richtlinie (Art. 1-33 Abs. 1 UAbs. 3 VerfEU), unter Fortgeltung der differenzierten Dogmatik dieses Rechtsakts.40 Gleichzeitig wird als Durchführungsrechtsakt die Europäische Verordnung geschaffen (Art. 33 Abs. 1 UAbs. 4 VerfEU), wodurch lang andauernde Bemühungen um die Hierarchisierung des Europarechts zum Abschluß gebracht werden. 41 Die neue Europäische Verordnung ist ein Durchführungsrechtsakt mit allgemeiner Geltung ohne Gesetzescharakter, der für die Mitgliedstaaten entweder voll oder - ähnlich der überkommenen Richtlinie - nur hinsichtlich des Zieles verbindlich sein kann, Art. 1-33 Abs. 1 UAbs. 4 VerfEU. Eine solche Verordnung kann als echte delegierte Verordnung „zur Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften des betreffenden Gesetzes" kraft ausdrücklicher, nach Ziel, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer begrenzter Ermächtigung von der Kommission erlassen werden (Art. 1-36 Abs. 1 VerfEU). Ministerrat und Parlament können sich in diesem Fall den Widerruf vorbehalten bzw. das Inkrafttreten davon abhängig machen, daß sie keine Einwände erheben (Art. 1-36
37
S. nur Bieber/Epiney/Haag, Die Europäische Union, 6. Aufl. 2004, § 4, Rn. 6. Zur typologischen Zuordnung der Legislative Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S. 105 ff.; vgl. ferner Lenaerts/Desomer, Towards a Hierarchy of Legal Acts in the European Union? Simplification of Legal Instruments and Procedures, ELJ 11 (2005), S. 744 (750). 38 Vgl. Bast (Fn. 13), S. 503 ff.; Huber, Recht der Europäischen Integration, 2. Aufl. 2002, § 8, Rn. 117; Groß, Exekutive Vollzugsprogrammierung durch tertiäres Gemeinschaftsrecht?, DÖV 2004, S. 20, und Möllers, Tertiäre exekutive Rechtsetzung im Europarecht, in: Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold (Fn. 12), S. 293, versuchen dies mit dem Konzept des „Tertiärrechts". Ohne Wertung Nettesheim (Fn. 32), Rn. 13. 39 Zum folgenden Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), VerfEU, 2006, Art. 1-33, Rn. 8, 12 ff. 40 Classen , The Draft Treaty Establishing a Constitution for Europe: A Contribution to the Improvement of Transparencey, Proximity, and Efficiency of the European Union, GYIL 46 (2003), S. 323 (337 f.). 41
S. Ruffert
(Fn. 21), § 17, Rn. 83.
Matthias Ruffert
222
Abs. 2 VerfEU). Die Änderungsbefugnis der Kommission belegt die Eigenständigkeit delegierter Rechtsetzung im Unionsrecht 42. Die Betonung der Normsetzung als Handlungsform im Europarecht 43 korrespondiert mit dem Wandel des Verständnisses vom Verwaltungshandeln unter dem Steuerungspostulat in der deutschen Verwaltungsrechtslehre 44. Sie spiegelt die Doppelstellung der Verwaltung im Konzept der Steuerung wider: Einerseits ist sie Adressatin rechtlicher Bindungen und Aufträge aus den Rechtsquellen des Verwaltungsrechts, andererseits gestaltet sie selbst als Akteur im Steuerungsprozeß die normativen Grundlagen des Verwaltungshandelns mit 4 5 . Erfolgt die Steuerung durch exekutivisch selbstgesetztes Verwaltungsrecht, sind die beiden Funktionen eng miteinander verschränkt. 46 Rechtsetzung durch die Exekutive steht insoweit auf einer mittleren Ebene zwischen Gesetz und Einzelfallentscheidung. 47
b) Einzelfallentscheidungen
im Europarecht und Verwaltungsakt
Das System der Rechtsakte nach Art. 249 EGV enthält in Abs. 4 auch eine Handlungsform für Einzelakte: die Entscheidung. Allerdings kann sie als staatengerichtete Entscheidung, die der EuGH ähnlich behandelt wie Richtlinien,
42 Durchführungsverordnungen sind in der VerfEU aber auch als Rechtsakte zur Sicherstellung der einheitlichen Durchführung des Unionsrechts neben der vorrangigen mitgliedstaatlichen Durchführung vorgesehen (Art. 1-37, Abs. 2). In der Terminologie geht der Gewinn an Verantwortungsklarheit durch die Einführung des Europäischen Gesetzes und damit verbundene normhierarchische Elemente partiell wieder verloren. Auch das Abschlußdokument CONV 424/02 der Arbeitsgruppe IX „Vereinfachung" vom 29.11.2002 (insbesondere S. 9) schafft insoweit keine Klarheit. S. auch Ruffert, Perspektiven der europäischen Verfassungsgebung, ThürVBl. 2005, S. 49 (55), sowie zum Ganzen Hilf/Classen, Der Vorbehalt des Gesetzes im Recht der Europäischen Union, FS Selmer, 2004, S. 71 (87 ff.). 43 Damit zusammenhängend knüpft auch der Maßstab bei der Haftung für gemeinschaftsrechtswidriges Handeln nicht primär an die Dichotomie administratives/legislatives Unrecht an, sondern an den Handlungsspielraum des Gemeinschaftsoder mitgliedstaatlichen Organs: v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Fn. 32), Art. 288 EGV (2001), Rn. 75; Ruffert, in: Calliess/ders. (Fn. 14), Art. 288 EGV, Rn. 12. 44 Zusammenfassend statt vieler Reiner Schmidt, Die Reform von Verwaltung und Verwaltungsrecht, VerwArch91 (2000), S. 149 (151 f.); Voßkuhle, Die Reform des Verwaltungsrechts als Projekt der Wissenschaft, Die Verwaltung 32 (1999), S. 545 (547 ff.); ders., „Schlüsselbegriffe" der Verwaltungsrechtsreform, VerwArch 92 (2001), S. 184 (194 f.), sowie bereits früher Bauer, Verwaltungsrechtslehre im Umbruch?, Die Verwaltung 25 (1992), S. 301.
45
Ruffert
(Fn. 21), Rn. 24 f.
46
Zur Funktion dieser Selbststeuerung Trute, Methodik der Herstellung und Darstellung verwaltungsrechtlicher Entscheidungen, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 293 (305 f.). 47
Schmidt-Aßmann (Fn. 6), 6/82.
Rechtsformen des Verwaltungshandelns im europäisierten Verwaltungsrecht
223
normative, über den Einzelfall hinausreichende Wirkungen haben48. Individualgerichtete Entscheidungen sind hingegen Einzelakte.49 Hierdurch ist gerade das deutsche Schrifttum veranlaßt worden, den Vergleich zur Handlungsform Verwaltungsakt zu ziehen50. Die Parallelen sind jedoch auf den zweiten Blick weniger groß, als zunächst vermutet werden könnte. So ist die Entscheidung nicht allein verwaltungsrechtliche Handlungsform, sondern wird auch auf Verfassungsebene eingesetzt51, was der erwähnte Unterfall der staatengerichteten Entscheidung illustriert; in diesem Kontext treten Entscheidungen zwischen den supranationalen Verfassungsorganen hinzu. Ferner ist das - mindestens aus der Sicht einer an effizientem Handeln ausgerichteten Verwaltung - zentrale Charakteristikum des Verwaltungsakts, die grundsätzliche Unabhängigkeit seiner Rechts Wirksamkeit von der Rechtmäßigkeit 52 im Gemeinschaftsrecht nicht von der Rechtsform abhängig: Nach der Rechtsprechung des EuGH spricht für alle Rechtsakte der Unions-/Gemeinschaftsorgane grundsätzlich die Vermutung der Gültigkeit, so daß selbst rechtswidrige Rechtsakte mit allgemeiner Geltung Rechtswirkungen entfalten, solange sie nicht aufgehoben oder zurückgenommen werden 53. Ausgenommen
48 Näher Schroeder (Fn. 30), Rn. 132; Greaves , The Nature and Binding Effect of Decisions under Article 189 EC, ELRev. 21 (1996), S. 4 (11 ff.); Vogt, Die Rechtsform der Entscheidung als Mittel abstrakt-genereller Steuerung, in: SchmidtAßmann/Schöndorf-Haubold (Fn. 12), S. 213 (220 ff.). Zur Abgrenzung von der Richtlinie ausführlich Mager, Die staatengerichtete Entscheidung als supranationale Handlungsform, EuR 2001, S. 661 (662 ff.).
49
Schroeder (Fn. 30), Rn. 132; v. Bogdandy/Bast/Arndt
(Fn. 28), S. 94 f.
50
S. Stelkens, Die „Europäische Entscheidung" als Handlungsform des direkten Unionsrechtsvollzugs nach dem Vertrag über eine Verfassung für Europa, ZEuS 2005, S. 41 (68 m.w.N.); Bockey, Die Entscheidung der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 31. 51 52
S. Stelkens (Fn. 50), S. 69 ff.
S. Ruffert, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Aufl. 2006, Bedeutung, Funktion und Begriff des Verwaltzungsakts, Rn. 8. 53 EuGH, Rs. C-137/92 P, Slg. 1994, 1-2555, Rn. 48 (Kommission/BASF); Rs. C200/92, Slg. 1999, 1-4399, Rn. 69 (ICI); Rs. C-227/92 P, Slg. 1999, 1-4443, Rn. 69 (Hoechst); Rs. C-234/92 P, Slg. 1999,1-4501, Rn. 55 (Shell/Kommission); Rs. 235/92 P, Slg. 1999, 1-4539, Rn. 96 (Montecatini/Kommission); Rs. C-245/92 P, Slg. 1999, I4643, Rn. 93 (Chemie Linz/Kommission); Rs. C-475/01, Slg. 2004, 1-8923, Rn. 18 (Kommission/Großbritannien und Griechenland). Kritisch Arzoz, Rechtsfolgen der Rechtswidrigkeit von Verordnungen der Europäischen Gemeinschaften, JöR N.F. 49 (2001), S. 299; dagegen Busse, Das Schicksal rechtswidriger Verordnungen im EGRecht, JöR N.F. 50 (2002), S. 541. Ansätze zu einer Fehlerfolgenlehre bei Витке , § 19. Rechtsetzung in der Europäischen Gemeinschaft - Bausteine einer gemeinschaftsrechtlichen Handlungsformenlehre, in: Schuppert/Haltern/Pernice (Hrsg.), Europawissenschaft, 2005, S. 644 (684 ff.); Annacker, Der fehlerhafte Rechtsakt im Gemeinschaftsund Unionsrecht, 1998.
224
Matthias Ruffert
sind mit extrem schweren Fehlern behaftete Rechtsakte, die als rechtlich inexistent angesehen werden 54. Wesentliche Unterschiede zwischen Verwaltungsakt und Entscheidung werden unter dem Gesichtspunkt des Rechtsschutzes sichtbar. Die Rechtsform Verwaltungsakt hat ihre rechtsschutzeröffnende Funktion lange eingebüßt55. Für den Individualrechtsschutz gegen Handlungen der Gemeinschaftsorgane nach Art. 230 Abs. 4 EGV kommt der Charakterisierung einer Handlung als Entscheidung indes nach wie vor rechtsschutzeröffnende Funktion zu, denn natürliche und juristische Personen können Nichtigkeitsklage nur gegen Entscheidungen erheben, deren Adressaten sie sind, sowie gegen solche Entscheidungen, die - obwohl gegen einen anderen Adressaten oder im Gewand einer Verordnung ergangen sind (sog. „Scheinverordnungen") - sie unmittelbar und individuell betreffen. 56 Der EuGH stellt auf das Kriterium der allgemeinen Geltung ab; ist dieses erfüllt, liegt eine - von Privaten nicht angreifbare - Verordnung vor, wobei die allgemeine Geltung nicht aus der formalen Bezeichnung als „Verordnung", sondern aus Rechtsnatur und Rechtswirkungen eines Rechtsaktes folgt 57 , sich aus einer in dem Rechtsakt umschriebenen objektiven Rechts- oder Sachlage in Verbindung mit der Zielsetzung des Aktes ergeben muß und nicht durch die Bestimmbarkeit der Normadressaten nach Zahl oder Identität ausgeschlossen wird 58 . Etwas anderes gilt, wenn die Betroffenen abschließend feststehen und im Grunde ein Bündel von Entscheidungen vorliegt 59 . Tendenziell zielt diese - bisweilen uneinheitliche und nicht sauber zwi-
54 EuGH, Rs. C-137/92 P, Slg. 1994, 1-2555, Rn. 49 (Kommission/BASF); Rs. C199/92 P, Slg. 1999, 1-4287, Rn. 83 ff. (Hüls); Rs. C-200/92, Slg. 1999, 1-4399, Rn. 70 (ICI); Rs. C-227/92 P, Slg. 1999, 1-4443, Rn. 70 (Hoechst); Rs. C-234/92 P, Slg. 1999, 1-4501, Rn. 56 (Shell/Kommission); Rs. 235/92 P, Slg. 1999, 1-4539, Rn. 97 (Montecatini/Kommission); Rs. C-245/92 P, Slg. 1999, 1-4643, Rn. 94 (Chemie Linz/ Kommission); Rs. C-475/01, Slg. 2004, 1-8923, Rn. 19 f. (Kommission/Großbritannien und Griechenland). - Aus dem Schrifttum s. Pechstein/Kubicki, Gültigkeitskontrolle und Bestandskraft von EG-Rechtsakten, NJW 2005, S. 1825.
55 56 57
Instruktiv Krause (Fn. 1), S. 102 ff. Differenzierend Витке (Fn. 53), S. 663.
EuGH, Verb. Rs. 16 und 17/62, Slg. 1962, 961 (979; Confederation nationale). S. auch EuGH, Rs. 101/76, Slg. 1977, 797, Rn. 5/7 ff. (Koninklijke Schölten Honig/Rat und Kommission); Rs. 147/83, Slg. 1985, 257, Rn. 13 f. (Binderer/Kommission). 58 So EuGH, Rs. 242/81, Slg. 1982, 3213, Rn. 7 (Roquette Freres/Rat), sowie EuGH, Rs. 6/68, Slg. 1968, 611 (621; Zuckerfabrik Watenstedt); Verb. Rs. 789 und 790/79, Slg. 1980, 1949, Rn. 9 (Calpak/Kommission); Rs. 64/80, Slg. 1981, 693, Rn. 7 (Guiffrida und Campogrande/Rat); Rs. 45/81, Slg. 1982, 1129, Rn. 17 (Moksel/Kommission); Rs. 307/81, Slg. 1982, 3463, Rn. 11 (Alusuisse/Rat und Kommission); Verb. Rs. 97/86 u.a., Slg. 1988, 2200, Rn. 12 (Asteris/Kommission); Rs. C-298/89, Slg. 1993, 1-3605, Rn. 15 und 17 (Gibraltar/Rat); Rs. C-309/89, Slg. 1994, 1-1853, Rn. 18 (Codorniu/Rat). 59 EuGH, Verb. Rs. 41-44/70, Slg. 1971, 411, Rn. 16/22 (Fruit Company/ Commission); Rs. 113/77, Slg. 1979, 1185, Rn. 11 (NTN Toyo Bearing Company/Rat).
Rechtsformen des Verwaltungshandelns im europäisierten Verwaltungsrecht
225
sehen allgemeiner Geltung und individueller Betroffenheit differenzierende Rechtsprechung darauf ab, den Kreis der nichtprivilegierten Klagebefugten bei der Nichtigkeitsklage gering zu halten 60 . Auch nach den Vorstößen des Generalanwalts Francis Jacobs und des EuG zur Ausdehnung der Klagebefugnis gegen Gemeinschaftsrechtsakte nach Art. 230 Abs. 4 E G V 6 1 droht diese restriktive Ausrichtung eine offene Flanke des Individualrechtsschutzes (insbesondere des Grundrechtsschutzes) i m Gemeinschaftsrecht zu bleiben 6 2 , denn der EuGH hat auf den mitgliedstaatlichen Rechtsschutz verwiesen, und die ebenfalls von ihm angesprochene Vertragsrevision hat das Geflecht des restriktiven und inkohärenten Zugangs natürlicher und juristischer Personen zur europäischen Gerichtsbarkeit nicht vollständig aufgebrochen. Indem Art. III-365 Abs. 4 VerfE U die Klagebefugnis gegen abstrakt-generelle Rechtsakte ohne Gesetzge60 S. z.B. EuGH, Verb. Rs. 19 bis 22/62, Slg. 1962, 1003 (1020 f.; Federation nationale de la boucherie en gros); Rs. 30/67, Slg. 1968, 173 (183; Industria Molinaria Imolese); Rs. 63/69, Slg. 1970, 211, Rn. 9 ff. (Compagnie Fra^aise Commerciale/Kommission); Rs. 64/69, Slg. 1970, 226, Rn. 11/12 (Compagnie Fran£aise Commerciale/Kommission). S. dazu die unübertroffene Analyse bei Hartley , The Foundations of European Community Law, 5. Aufl. 2003, S. 355 ff., sowie auch Usher , Individual concern in general legislation - 10 years on, ELRev. 19 (1994), S. 636 (637). 61 EuG, Rs. T-177/01, Slg. 2002, 11-2365 Rn. 43 ff. (Jego-Quere) (dazu m.w.N. zum seinerzeitigen Streitstand Lübbig, Individuelle Betroffenheit durch EG-Verordnung, EuZW 2002, S. 415); EuGH Rs. C-50/00, Slg. 2002, 1-6677, Rn. 32 ff. (Union de Pequenos Agricultores), mit Schlußantr. GA Jacobs, Ziff. 59 ff.; bestätigt durch EuGH, Rs. C-491/01, Slg. 2002,1-11453, sowie EuG Rs. T-155/02R, Slg. 2002,11-3239, Rn. 22 ff. (VVG International/Kommission). 62 Vgl. Mayer, La Charte europeenne des droits fondamentaux et la Constitution europeenne, RTDE 39 (2003), S. 175 (193), sowie auch Magiern, Die Grundrechtecharta der Europäischen Union, DÖV 2000, S. 1017 (1024), sowie bereits Engel, The European Charter of Fundamental Rights, ELJ 7 (2001), S. 151 (169). S. auch die Überlegungen bei de Bürca, Fundamental Rights and Citizenship, in: Bruno de Witte (Hrsg.), Ten Reflections on the Constitutional Treaty for Europe, 2003 (= CONV 703/03), S. 11 (26); Alber, Die Aufnahme der Grundrechtecharta in die künftige Europäische Verfassung, ZSE 1 (2003), S. 178 (191 ff.), sowie bereits Rengeling, Brauchen wir die Verfassungsbeschwerde auf Gemeinschaftsebene?, FS Everling II, 1995, S. 1187; Reich, Zur Notwendigkeit einer Europäischen Grundrechtsbeschwerde, ZRP 2000, 375. Für den Ansatz des EuGH hingegen Nettesheim, Effektive Rechtsschutzgewährleistung im arbeitsteiligen System europäischen Rechtsschutzes, JZ 2002, S. 928 (932 f.); Gundel, Rechtsschutzlücken im Gemeinschaftsrecht?, VerwArch 92 (2001), S. 81; ders., Die Tabakprodukt-Richtlinie vor dem EuGH: Zur Zulässigkeit der Nutzung doppelter Rechtsgrundlagen im Rechtssetzungsverfahren der Gemeinschaft, EuR2003, S. 100 (101); Schwarze, Der Rechtsschutz Privater vor dem Europäischen Gerichtshof: Grundlagen Entwicklungen und Perspektiven des Individualrechtsschutzes im Gemeinschaftsrecht, DVB1. 2002, S. 1297 (1302) - s. aber zur Grundrechtsbeschwerde auch ders., Ein pragmatischer Verfassungsentwurf, EuR 2003, S. 535 (553); Nowak, Zentraler und dezentraler Individualrechtsschutz in der EG im Lichte des gemeinschaftsrechtlichen Rechtsgrundsatzes effektiven Rechtsschutzes, in: ders./Cremer, Individualrechtsschutz in der EG und der WTO, 2002, S. 47 (53 ff.). Differenzierend und weiterführend Calliess, Kohärenz und Konvergenz beim europäischen Individualrechtsschutz, NJW 2002, S. 3577.
Matthias Ruffert
226
bungscharakter eröffnen soll, die keine Durchführungsmaßnahmen erfordern 63, wird die Restriktion zwar gelockert, von Kohärenz kann jedoch eher noch weniger die Rede sein 64 . Stattdessen werden die Mitgliedstaaten verpflichtet, Rechtsbehelfe zum wirksamen Rechtsschutz auf dem Gebiet des Unionsrechts zu schaffen (Art. 1-28 Abs. 1 UAbs. 2 VerfEU), und das bislang übermäßig restriktiv interpretierte Merkmal der individuellen Betroffenheit bleibt erhalten. Immerhin soll sich die Regelung der VerfEU von der grundsätzlichen Abhängigkeit des Rechtsschutzes von der Zuordnung zu einer Handlungsform verabschieden, denn in Art. III-365 Abs. 4 VerfEU ist nur noch unspezifisch von „Handlungen" die Rede. Auch darüber hinausgehend brächte die Ratifikation der VerfEU eine Neuerung, denn im „Europäischen Beschluß" nach Art. I33 Abs. 1 UAbs. 5 würden zwei keinesfalls deckungsgleiche, teils nur schwer kompatible Handlungsformen des Gemeinschaftsrechts in einer neuen unionsrechtlichen Handlungsform vereinigt 65 : Zum einen soll der Europäische Beschluß die Entscheidung ablösen und nunmehr der verbindliche Rechtsakt des Gemeinschaftsrechts für Einzelfälle sein. Zum anderen integriert der Europäische Beschluß die bislang nicht im Kanon des Art. 249 EGV verzeichnete, gleichsam „heimlich" entstandene Rechtsform Beschluß. Dies geschieht mit der Intention, das flexible Instrument des Beschlusses im Verfassungstext zu verankern 66, und wird durch die Hinzufügung des S. 2 mit einer Zweiteilung in adressatenlose und adressierte Europäische Beschlüsse herbeigeführt. Die bisherige Entscheidung nach Art. 249 Abs. 5 EGV mußte demgegenüber stets an einen bestimmten Adressaten gerichtet sein 67 . Ohne die unterschiedlichen Beschlußarten hier näher zu entfalten 68, läßt sich jedenfalls feststellen, daß sich der Europäische Beschluß nach der VerfEU noch weiter vom Verwaltungsakt deutscher Prägung entfernt als die Entscheidung nach dem EGV.
c) Vertragliches
Handeln und Realakte
Geradezu stiefmütterlich behandelt das gegenwärtige und künftige Europarecht das vertragliche Handeln der Unions- bzw. Gemeinschaftsorgane. Privatund öffentlich-rechtliche Verträge werden nur am Rande erwähnt, indem die Zuständigkeit des EuGH für Schiedsklauseln in derartigen Verträgen eröffnet (Art. 238 EG V/Art. III-374 VerfEU) und für die vertragliche Haftung auf das 63 Zur Neuerung Köngeter , Die Ambivalenz effektiven Rechtsschutzes Einzelner gegen EG-Verordnungen, ZfRV 2003, S. 123 (130 ff). 64 Auch wenn die Neuerung (worauf Köngeter (Fn. 63), S. 131, hinweist) auf die Schlußanträge GA Jacobs' in EuGH, Rs. C-50/00 (Fn. 61), Ziff. 43, zurückgeht. 65 Als „Dreifaltigkeit" weiter differenziert bei Stelkens (Fn. 50), S. 85 ff. 66 Schlußbericht der Gruppe IX. Vereinfachung, Dok. CONV 424/02, S. 4, Fn. 1. 67 Dazu den Schlußbericht der Gruppe IX. Vereinfachung, Dok. CONV 424/02, S. 4.
68
S. Ruffert
(Fn. 39), Rn. 111 ff.
Rechtsformen des Verwaltungshandelns im europäisierten Verwaltungsrecht
227
Recht verwiesen wird, das auf den betreffenden Vertrag anwendbar ist (Art. 288 Abs. 1 EGV/Art. III-431 Abs. 1 VerfEU). Damit wird das gesamte Vertragswesen der EU-Eigenverwaltung letztlich auf das nationale Recht verwiesen und tritt somit aus dem Blickfeld der europarechtlichen Betrachtung. Für den Rückgriff der Eigenverwaltung der Union auf vertragliches Handeln in breitem Umfang spricht angesichts des flexiblen und „modernen" Verwaltungsstils eine starke Vermutung 69 . Daß Realakte („schlichtes Verwaltungshandeln") nicht eigens geregelt sind, ruft indes angesichts des nicht rechtsförmlichen Charakters dieses Handelns kein Erstaunen hervor.
d) Handlungsformen
und Kompetenzen
Zwar bestehen gewisse Verbindungslinien zwischen Handlungsformenlehre und Gemeinschaftskompetenzen 70, doch wird die enge Verbindung von Kompetenz und Handlungsform in dem Sinne, daß mit der Zuweisung einer bestimmten Befugnis zwingend die Zuordnung einer bestimmten Handlungsform verbunden wäre, heute abgelehnt; bei der Wahl der Handlungsform geht es um die Ausübung vorhandener Kompetenzen71. Diese Emanzipation von der Kompetenzfrage ermöglicht der Handlungsformenlehre die Herausbildung eigener und auch weniger mit politischer Brisanz behafteter - Strukturen. Eine Ausnahme hiervon betrifft den eigentümlichen Charakter der Rechtsakte nach EU-Recht, also im intergouvernementalen, nicht supranationalen Bereich nach dem geltenden EUV 7 2 . Besondere Probleme der Zuordnung und Qualifikation bereiten die Handlungsformen nach dem EUV. Im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und der Polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) erlassen die für die EU handelnden Gemeinschaftsorgane Gemeinsame Standpunkte (Art. 15, 34 Abs. 2 lit. a EUV), führen Gemeinsame Aktionen durch (Art. 14 Abs. 1 EUV), verabschieden Rahmenbeschlüsse sowie Beschlüsse (Art. 34 Abs. 2 lit b und с EUV) und schließen völkerrechtliche Übereinkommen untereinander (Art. 34 Abs. 2 lit. d EUV). Die Qualifikation dieser Rechtsakte knüpft an die Beantwortung der Kernfragen des gegenwärtigen EU-Rechts an, namentlich Rechtsnatur und Rechtssubjektivität der EU 7 3 . Zumeist werden die genannten Rechtsakte wegen der intergouvernementalen Struktur von GASP und PJZS in die Nähe völker-
69
Die Literatur verhält sich hierzu eher fragend, anstatt Antworten anzubieten; statt vieler Kokott, in: Streinz (Fn. 30), Art. 282, Rn. 9. 70 71
S. Витке (Fn. 53), S. 647 ff. V. Bogdandy/Bast/Arndt (Fn. 28), S. 80 f.
72
S. auch oben Fn. 14. S. statt vieler Streinz, Europarecht, 7. Aufl. 2005, Rn. 473; Pechstein/Koenig, EU, 3. Aufl. 2000, Rn. 223 ff. 73
Die
228
Matthias Ruffert
rechtlicher Akte (z.B. Verwaltungsabkommen) gerückt. 74 Die auch nur ansatzweise Übertragung von Rechtsinstituten aus der supranationalen EG auf den Bereich der intergouvernementalen EU durch den EuGH wird von Teilen des Schrifttums mit Argwohn beobachtet, zumal die Mitgliedstaaten bei Abschluß des EUV die für die supranationale Integration charakteristische unmittelbare Wirkung umsetzungsbedürftigen Rechts gerade ausschließen wollten (s. Art. 34 Abs. 2 UAbs. 1 lit. с S. 5 EUV). 7 5 Der Problematik sollte schon deswegen kein übermäßiges Gewicht beigemessen werden, weil es sich um ein klassisches Übergangsproblem handelt: Mit der Integration von GASP und PJZS in die einheitliche Verfassung nach dem Konventsentwurf soll es sich erledigen 76, und selbst wenn die Ratifikation der VerfEU scheitert, ist der Reformdruck mit Blick auf die Abschaffung der temporären Differenzierung von EUV und EGV besonders groß, was etwa die Vergemeinschaftung weiter Bereiche der seinerzeitigen Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (ZBIJ) durch den Vertrag von Nizza zeigt.
2. Rückwirkungen auf mitgliedstaatliche Handlungsformenlehre a) Bestandskraftprobleme
beim Verwaltungsakt
Auch bei den Handlungsformen im indirekten Vollzug des Unions- bzw. Gemeinschaftsrechts gibt es Anpassungen an den Europäisierungsprozeß. Fehlt es an einer ausdrücklichen supranationalen Regelung, so kommt hier grundsätzlich das mitgliedstaatliche Verwaltungsrecht zur Anwendung, wobei aus Art. 10 EGV bestimmte Anforderungen an die Gemeinschaftsrechtskonformität des administrativen Vollzugs von EG-Recht hergeleitet werden 77, deren normative Grundlage in Art. 1-5 Abs. 2 VerfEU aufgegriffen und für die Durchführung der Unionsrechtsakte in Art. 1-37 Abs. 1 VerfEU präzisiert werden soll: Mitgliedstaatliches Verwaltungsrecht darf zwischen unions- bzw. gemeinschaftsrechtlichen und nationalen Sachverhalten nicht zum Nachteil des Uni74
Streinz (Fn. 73), Rn. 476; Satzger, in: Streinz (Fn. 30), Art. 34 EUV, Rn. 2.
75
Zur Problematik der unmittelbaren Wirkung von Rahmenbeschlüssen bzw. der rahmenbeschlußkonformen Auslegung nationalen Rechts s. EuGH, Rs. C-105/03, JZ 2005, 838 (Pupino); sehr kritisch Hillgruber, Unmittelbare Wirkung von Rahmenbeschlüssen im Bereich polizeilicher und justizieller Zusammenarbeit in Strafsachen, JZ 2005, S. 841; differenzierend Adam, Die Wirkung von EU-Rahmenbeschlüssen im mitgliedstaatlichen Recht, EuZW 2005, S. 558; Egger, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte in der III. Säule, EuZW 2005, S. 652; Streinz, Anmerkung, JuS 2005, S. 1023; zustimmend Herrmann, Anmerkung, EuZW 2005, S. 436. 76 S. Art. 1-40 f. VerfEU, sowie den Schlußbericht der Gruppe IX „Vereinfachung" vom 29.11.2002, CONV 424/02, S. 4.
77
S. Kahl, in: Calliess/Ruffert (Fn. 14), Art. 10 EGV, Rn. 24; Schroeder, Nationale
Maßnahmen zur Durchführung von EG-Recht und das Gebot der einheitlichen Wirkung, AöR 129 (2004), S. 9 (14 ff.).
Rechtsformen des Verwaltungshandelns im europäisierten Verwaltungsrecht
229
ons-/Gemeinschaftsrechts unterscheiden (Diskriminierungsverbot bzw. Äquivalenzprinzip), und die Anwendung des mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechts darf die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsprinzip) 7 8 . Durch die Handhabung dieses offenen Maßstabs durch den EuGH schien das Institut der Bestandskraft als charakteristische Trennung der Rechtswirksamkeit von der Rechtmäßigkeit der Rechtsform Verwaltungsakt mehrfach in Gefahr. Infolge der Entscheidung Emmott (1991 ) 7 9 sahen manche das mitgliedstaatliche System von Rechtsbehelfsfristen und Bestandskraft in sich zusammenbrechen 80 . Dort stellte der E u G H unter Verweis auf die „besondere Natur der Richtlinien" 8 1 fest, daß ein Mitgliedstaat vor der ordnungsgemäßen Richtlinien-
78 St. Rspr.: EuGH, Rs. 33/76, Slg. 1976, 1989, Rn. 5 (Rewe/Landwirtschaftskammer Saarland); Rs. 45/76, Slg. 1976, 2043, Rn. 11/18 (Comet/Produktschap voor Siergewassen); Rs. 265/78, Slg. 1980, 617, Rn. 10 (Ferwerda/Produktschap voor vee en vlees); Rs. 68/79, Slg. 1980, 501, Rn. 25 (Just); Rs. 61/79, Slg. 1980, 1205, Rn. 25 (Denkavit italiana); Rs. 811/79, Slg. 1980, 2545, Rn. 12 (Ariele); Rs. 826/79, Slg. 1980, 2559, Rn. 13 (Mireco); Verb. Rs. 205-215/82, Slg. 1983, 2633, Rn. 19 (Deutsche Milchkontor); Rs. 199/82, Slg. 1983, 3595, Rn. 12 (San Giorgio); Rs. 240/87, Slg. 1988, 3513, Rn. 12 (Deville); Rs. 309/85, Slg. 1988, 355, Rn. 18 (Barra/Belgien); Rs. C-208/90, Slg. 1991, 1-4269, Rn. 16 (Emmott); Rs.C-338/91, Slg. 1993, 1-5475, Rn. 15 (Steenhorst-Neerings); Rs. C-410/92, Slg. 1994, 1-5483, Rn. 21 (Johnson II); Rs. C-62/93, Slg. 1995, 1-1883, Rn. 41 (BP Soupergaz); Rs. C-394/93, Slg. 1995, 1-4101, Rn. 28 (Alonso-Perez); Rs. C-312/93, Slg. 1995, 1-4615, Rn. 12 (Peterbroeck); Verb. Rs. C430/93 und C-431/93, Slg. 1995,1-4705, Rn. 17 (Van Schijndel und Van Veen); Rs. C212/94, Slg. 1996, 1-389, Rn. 52 (FMC); Rs. C-326/96, Slg. 1998, 1-7835, Rn. 18 (Levez); Rs. C-366/95, Slg. 1998, 1-2661, Rn. 15 (Steff-Houlberg Export u.a.); Rs. C231/96, Slg. 1998, 1-4951, Rn. 34 ff. (Edis); Rs. C-260/96, Slg. 1998,1-4997, Rn. 18 ff. (Spac); Verb. Rs. C-279/96, C-280/96 und C-281/96, Slg. 1998, 1-5025, Rn. 16 (Ansaldo Energia u.a.); Rs. C-228/96, Slg. 1998,1-7141, Rn. 18 (Aprile); Rs. C-120/97, Slg. 1999, 1-223, Rn. 32 (Upjohn); Rs. C-78/98, Slg. 2000, 1-3201, Rn. 31 (Preston und Fletcher); Verb. Rs. C-52/99 und C-53/99, Slg. 2001, 1-1395, Rn. 21 (Camarotto und Vignone); Rs. C-453/99, Slg. 2001, 1-6297, Rn. 29 (Courage und Crehan); Rs. C159/00, Slg. 2002, 1-5031, Rn. 52 (Sapod Adic); Rs. C-62/00, Slg. 2002, 1-6325, Rn. 34 (Marks & Spencer); Rs. C-255/00, Slg. 2002, 1-8003, Rn. 33 (Grundig Italiana); Rs. C467/01, Slg. 2003, 1-6471, Rn. 62 (Eribrand); Rs. C-125/01, Slg. 2003, 1-9375, Rn. 34 (Pflücke); Rs. C-13/01, Slg. 2003, 1-8679, Rn. 49 (Safalero); Rs. C-63/01, Slg. 2003, I14447, Rn. 45 (Evans). 79
EuGH, Rs. C-208/90, Slg. 1991,1-4269 (Emmott). Kritisch etwa Lohse, Europäische Lücken in der Bestandskraft von UmsatzssteuerBescheiden?, UR 1993, S. 288; Stadie, Unmittelbare Wirkung von EG-Richtlinien und Bestandskraft von Verwaltungsakten, NVwZ 1994, S. 435. Zustimmend hingegen Birkenfeld, Verwaltungsvorschriften im Umsatzsteuerrecht und Gemeinschaftsrecht, UR 1993, S. 271 (274); Friedl, Auswirkung nicht ordnungsgemäßer Umsetzung der 6. EG-Richtlinie auf Bestandskraft und Festsetzungsfrist bei der Umsatzsteuer, UR 1993, S. 114 (116); Seibert, Europarechtliche Frist- und Bestandskrafthemmungen im Steuerrecht, BB 1995, S. 543. S. auch Huthmacher, Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts bei indirekten Kollisionen, 1985. 81 EuGH, Rs. C-208/90, Slg. 1991,1-4269, Rn. 17 (Emmott). 80
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Matthias Ruffert
umsetzung einem Gemeinschaftsbürger nicht den Ablauf der Klagefrist entgegenhalten könne, wenn dieser sich auf eine unmittelbar wirkende Richtlinienbestimmung berufe 82, so daß die Rechtsbehelfsfrist erst mit der ordnungsgemäßen Umsetzung zu laufen beginne (sog. „Emmott'sche Fristenhemmung"). Schematisch gehandhabt würden die Grundsätze dieser Rechtsprechung zur Abhängigkeit der Bestandskraft von der ordnungsgemäßen Richtlinienumsetzung führen und damit punktuell von der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts abhängig gemacht83. Wenig später relativierte der EuGH jedoch diese Aufweichung der Bestandkraft in Fällen, in denen aufgrund unmittelbar wirkenden Richtlinienrechts rückwirkend Sozialleistungen für den Zeitraum zwischen Ablauf der Umsetzungsfrist und tatsächlicher Umsetzung beantragt wurden; die Rechtsausübung würde durch gesetzliche Bestimmungen, die Sozialleistungen für bestimmte Zeiträume in der Vergangenheit ausschlössen, nicht praktisch unmöglich gemacht84. Mittlerweile prüft er in ständiger Rechtsprechung nur noch die Angemessenheit der Frist im Sinne des Nichtdiskriminierungs- und Effektivitätsgebotes und hebt den Ausnahmecharakter der Entscheidung Emmott hervor 85. Wird die effektive Wirkung des Gemeinschaftsrechts durch die Fristbestimmung nach den besonderen Umständen des Sachverhalts beeinträchtigt, so kann die Fristbestimmung durch Gemeinschaftsrecht verdrängt werden 86 82
EuGH, Rs. C-208/90, Slg. 1991,1-4269, Rn. 23 (Emmott). In der deutschen Praxis hatte diese Rechtsprechung die Frage aufgeworfen, ob Steuerfestsetzungen ohne Rücksicht auf die Rechtsbehelfs fristen der AO und des FGG angefochten werden können, wenn die entsprechende Steuer bis zu einem EuGH-Urteil gemeinschaftsrechtswidrig erhoben und das nationale Recht erst nach dem Urteil dem Gemeinschaftsrecht in Gestalt der einschlägigen Richtlinie angepaßt wurde. Diese Frage nach dem Beginn der Rechtsbehelfsfristen hätte sich durch eine Vorlage an den EuGH aufklären lassen, doch hatte der BFH (BFHE 179, 563) eine Vorlage mit unzutreffenden Argumenten abgelehnt. 83
84 EuGH, Rs. C-338/91, Slg. 1993, 1-5475, Rn. 23 (Steenhorst-Neerings); Rs. C410/92, Slg. 1994, 1-5483, Rn. 21 (Johnson II); Rs. C-394/93, Slg. 1995, 1-4101, Rn. 30 (Alonso-Perez). 85 EuGH, Rs. C-90/94, Slg. 1997, 1-4085, Rn. 45 ff. (Haahr Petroleum); Verb. Rs. C114/95 und C - l 15/95, Slg. 1997, 1-4263, Rn. 44 ff. (Texaco); Rs. C-188/95, Slg. 1997, 1-6783, Rn. 45 ff. (Fantask); Rs. C-231/96, Slg. 1998, 1-4951, Rn. 45 ff. (Edis); Rs. C260/96, Slg. 1998, 1-4997, Rn. 27 ff. (Spac); Verb. Rs. C-10-22/97, Slg. 1998, 1-6307, Rn. 24 ff. (IN.CO.GE'90); Rs. C-391/95, Slg. 1998, 1-7141, Rn. 39 ff. (Aprile); Rs. C343/96, Slg. 1999, 1-579, Rn. 26 ff. (Dilexport); Rs. C-88/99, Slg. 2000, 1-10465, Rn. 20 ff. (Roquette Freres); Rs. C-62/00, Slg. 2002, 1-6325, Rn. 34 ff. (Marks & Spencer) - Mit gleicher Tendenz OVG Koblenz, NVwZ 1999, 198 (199); BVerwG, NVwZ2000, 193. Bisweilen überließ der EuGH die Entscheidung über die Frage der praktischen Möglichkeit der Rechtsausübung dem vorlegenden Gericht: EuGH, Rs. C-62/93, Slg. 1995,1-1883, Rn. 42 (BP Soupergaz). 86 EuGH, Rs. C-326/96, Slg. 1998, 1-7835, Rn. 32 (Levez); Rs. 78/98, Slg. 2000, I3201, Rn. 32 ff. (Preston und Fletcher); vorher (ohne Annahme eines Verstoßes gegen das Effektivitätsgebot) EuGH, Rs. C-128/93, Slg. 1994, 1-4583, Rn. 39 (Fisscher), Rs. C-435/93, Slg. 1996, 1-5223, Rn. 36 (Dietz); Rs. C-246/96, Slg. 1997, 1-7153, Rn. 36 ff. (Magorrian).
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231
- muß es aber nicht zwingend. Die Relativierung der Bestandskraft wird damit zum Ausnahmefall erklärt 87 . Gefahr schien der Bestandskraft von Verwaltungsakten auch im Gefolge der Entscheidung Ciola (1999) zu drohen 88. Hier erstreckte der EuGH seine ständige Rechtsprechung, wonach bei Kollisionen von Gemeinschaftsrecht und mitgliedstaatlichem Recht aufgrund des Anwendungsvorrangs jede entgegenstehende Bestimmung des staatlichen Rechts unanwendbar wird 89 , auf Einzelakte, so daß diese unwirksam werden, wenn sie gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen90. Angesichts der Regelungswirkung von Verwaltungsakten, die sich nicht von derjenigen von Rechtsnormen unterscheidet - weil sie nur einen auf den Einzelfall begrenzten Anwendungsbereich hat - , ist dies konsequent und folgt zwingend aus dem Anwendungsvorrang. Die Berücksichtigung der Bestandskraft mit ihrer Wurzel im Rechtssicherheitsprinzip sucht der EuGH in der neueren Rechtsprechung durch die Formulierung von Voraussetzungen für die Verpflichtung zur Rücknahme des betreffenden Verwaltungsakts zu erreichen 91. Die Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen92, doch läßt sich bereits jetzt feststellen, daß das Gemeinschaftsrecht die Bestandskraft nicht ignoriert und ihre Durchbrechung wiederum einen Ausnahmefall darstellt. Ein ähnlicher Befund ergibt sich auch für die Überwindung der Bestandskraft durch Rücknahme gemeinschaftsrechtswidriger Verwaltungsakte, die insbesondere wegen der Modifikation des durch mitgliedstaatliches Recht gewährten Vertrauensschutzes in Deutschland in der Fallkonstellation gemeinschaftsrechtswidriger Subventionsbescheide große - und teils ausgesprochen
87 Vgl. Dörr, in: Sodan/Ziekow (Hrsg.), Nomos-Kommentar zur VwGO, EVR (1998), Rn. 464 f.; Gundel, Keine Durchbrechung nationaler Verfahrensfristen zugunsten von Rechten aus nicht umgesetzten EG-Richtlinien, NVwZ 1998, S. 910. Kritisch zur Unvorhersehbarkeit der Kriterien nach dieser neueren Rechtsprechung Schock, Die Europäisierung des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, 2000, S. 45.
88
Vgl. Huber (Fn. 38), § 9, Rn. 8; Schoch (Fn. 87), S. 45; Schilling, Urteilsanmer-
kung, EuZW 1999, S. 407 (408); Gundel, Bootsliegeplatz-Privilegien für Einheimische: Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit und Durchbrechung der nationalen Bestandskraft-Regeln?, EuR 1999, S. 781 (786 ff.). Wie hier Niedobitek, Kollisionen zwischen EG-Recht und nationalem Recht, VerwArch 92 (2001), S. 58 (78 f.). 89 St. Rspr. seit EuGH, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629, Rn. 17/18 (Simmenthai II). Ferner EuGH, Rs. C-213/89, Slg. 1990,1-2433, Rn. 20 (Factortame). 90 EuGH, Rs. C-224/97, Slg. 1999,1-2517, Rn. 32 f. (Ciola). 91 EuGH, Rs. C-453/00, Slg. 2004, 1-858, Rn. 26 (Kühne & Heitz); dazu Britz/Richter, Die Aufhebung eines gemeinschaftsrechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakts, JuS 2005, S. 198; Frenz, Anmerkung, DVB1. 2004, S. 375; Ruffert, Anmerkung, JZ 2004, S. 620; Lenze, Die Bestandskraft von Verwaltungsakten nach der Rechtsprechung des EuGH, VerwArch 97 (2006), S. 49 ff. 92 Angesichts des notwendig einzelfallbezogenen Vorgehens des EuGH hängt sie noch sehr von Zufälligkeiten wie der Formulierung der konkreten Vorlagefrage ab
(s. Ruffert
(Fn. 91), S. 621).
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Matthias Ruffert
kritische - Aufmerksamkeit gefunden hat 9 3 . Zwar kommen hier die mitgliedstaatlichen Vertrauensschutzbestimmungen i m Grundsatz ebenfalls zur Anwendung, denn der Vertrauensschutz ist auch ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts 94 . Bei der Abwägung zwischen Vertrauensschutz und Rechtmäßigkeitsprinzip muß aber „ . . . d e m Interesse der Gemeinschaft i m vollen Umfang Rechnung getragen..." werden 9 5 , so daß sich die Gewichte in der Abwägung zu Lasten des Vertrauensschutzes verschieben 96 . In der Regel gebührt dem Rückforderungsinteresse der Gemeinschaft der Vorrang, auch damit sich der Mitgliedstaat nicht unter Berufung auf das Vertrauen des Subventionsempfängers der gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung entziehen kann 9 7 . Zudem kann schutzwürdiges Vertrauen nur dann entstehen, wenn die Beihilfe unter Beachtung des Verfahrens in Art. 88 Abs. 3 E G V gewährt, d.h. der Kommission angezeigt wurde; ein sorgfältiger Gewerbetreibender kann sich dessen regelmäßig bei Erhalt der Beihilfe vergewissern 98 . Außerdem muß ein Beihilfebescheid auch nach Ablauf der Frist des § 48 Abs. 4 S. 1 V w V f G
93 Skeptisch Classen , Anmerkung, JZ 1997, S. 724; ders., Die Europäisierung des Verwaltungsrechts, in: Kreuzer/Scheuing/Sieber (Hrsg.), Die Europäisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in der Europäischen Union, 1997, S. 107 (111 f.).; besonders kritisch Scholz, Zum Verhältnis von europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem Verwaltungsverfahrensrecht, DÖV 1998, S. 261 (gegen ihn zutreffend Winkler, Das „Alcan"-Urteil des EuGH - eine Katastrophe für den Rechtsstaat?, DÖV 1999, S. 148; Frowein, Kritische Bemerkungen zur Lage des deutschen Staatsrechts aus rechtsvergleichender Sicht, DÖV 1998, S. 806 (807 f.). 94 EuGH, Verb. Rs. 205-215/82, Slg. 1983, 2633, Rn. 30 (Deutsche Milchkontor); Rs. C-5/89, Slg. 1990, 1-3437, Rn. 13 f, 16 (BUG-Alutechnik). Dies ist eine Mindestgarantie: Streinz, Vertrauensschutz und Gemeinschaftsinteresse beim Vollzug von europäischem Gemeinschaftsrecht durch deutsche Behörden, Die Verwaltung 23 (1990), S. 153. 95 EuGH, Rs. Verb. Rs. 205-215/82, Slg. 1983, 2633, Rn. 32 ff. (Deutsche Milchkontor); Rs. 94/87, Slg. 1989, 175, Rn. 12 (Alcan I). 96 Kadelbach (Fn. 23), S. 476 f.; Blanke, Vertrauensschutz im deutschen und europäischen Verwaltungsrecht, 2000, S. 550 ff.; Triantafyllou, Zur „Europäisierung" des Vertrauensschutzes (insbesondere § 48 VwVfG) - am Beispiel der Rückforderung staatlicher Beihilfen, NVwZ 1992, S. 436 (438); Richter, Rückforderung gemeinschaftswidriger Subventionen nach § 48 VwVfG, DÖV 1995, S. 846 (851); Polley, Die Konkurrentenklage im Europäischen Beihilfenrecht, EuZW 1996, S. 300 (303). 97 EuGH, Rs. C-5/89, Slg. 1990, 1-3437, Rn. 17 f. (BUG-Alutechnik); Rs. C-169/95, Slg. 1997,1-135, Rn. 48 (Spanien/Kommission). 98 EuGH, Rs. C-5/89, Slg. 1990, 1-3437, Rn. 14 (BUG-Alutechnik); Rs. C-169/95, Slg. 1997, 1-135 Rn. 51 (Spanien/Kommission); Rs. C-24/95, Slg. 1997, 1-1591, Rn. 25 (Alcan II); BVerwGE 92, 81 (86); OVGNRW, JZ 1992, 1080 (1081); Sommermann, Europäisches Verwaltungsrecht oder Europäisierung des Verwaltungsrechts?, DVB1. 1996, S. 889 (894); zweifelnd Fache, Rechtsfragen der Aufhebung gemeinschaftsrechtswidriger nationaler Beihilfebescheide, NVwZ 1994, S. 318 (323). Seit der bereits 1983 (!) ergangenen Warnmitteilung der Kommission (ABl. EG 1983 Nr. С 318/3) und ihrer ständigen Verwaltungspraxis muß das Notifikationsverfahren des Art. 88 Abs. 3 EGV als allgemein bekannt angesehen werden, s. BVerwGE 106, 328; BVerfG, DVB1. 2000, 900 (901).
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233
zurückgenommen werden, wenn die Kommission in einer Entscheidung nach Art. 88 Abs. 2 EGV an den Mitgliedstaat Deutschland die Rückforderung der Beihilfe verlangt hat (s. Art. 14 BeihilfeverfahrensVO"), denn sonst würde die Geltung des Gemeinschaftsrechts ausgehebelt und der Mitgliedstaat Deutschland könnte durch Verzögerung der Rücknahme das Rückforderungsbegehren unterlaufen 100. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen dieses Ergebnis 101 sind unbegründet, weil der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts sich auch gegenüber Verfassungsrecht durchsetzt 102, sofern man den Schutz des Vertrauens in einen mangels Notifikation rechtswidrigen Subventionsbescheid überhaupt als verfassungsrechtlich abgeschirmt ansieht. Alles in allem bleiben aber die Grundkategorien der Rechtsformenlehre intakt und erfahren nur Veränderungen in ihrer konkreten Anwendung.
b) Der transnationale Verwaltungsakt Mit erheblicher Intensität vollziehen sich innerhalb der Gemeinschaft Prozesse der Verwaltungskooperation zwischen Gemeinschafts Verwaltung und mitgliedstaatlichen Verwaltungen (vertikale Verwaltungskooperation) und zwischen mitgliedstaatlichen Verwaltungen untereinander (horizontale Verwal-
99 Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22.3.1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 88 des EG-Vertrages, ABl. EG 1999 Nr. L 83/1. 100 EuGH, Rs. C-24/95, Slg. 1997, 1-1591, Rn. 37 (Alcan II), sowie bereits vorher EuGH, Rs. C-5/89, Slg. 1990, 1-3437, Rn. 18 f. (BUG-Alutechnik); BVerwGE 92, 81; BVerwG, NVwZ 1995, 703 (706). S. außerdem EuGH, Rs. C-209/00, Slg. 2002, I11695, Rn. 34 ff. (Kommission/Deutschland - WestLB). Zu Recht weist Hatje (Fn. 23), S. 283, auf das kollusive Zusammenwirken von Mitgliedstaat und Unternehmen hin. S. zum Ganzen Scheuing, Europäisierung des Verwaltungsrechts, Die Verwaltung 34 (2001), S. 107; Schwarz, Vertrauensschutz im Spannungsfeld von Europäischem Gerichtshof und Bundesverfassungsgericht, Die Verwaltung 34 (2001), S. 397; Richter, Rückforderung staatlicher Beihilfen nach §§ 48, 49 VwVfG bei Verstoß gegen Art. 92 ff. EGV, 1995.
101 102
Artikuliert bei v. Danwitz (Fn. 17), S. 281 ff; Scholz (Fn. 93), S. 266 f.
BVerfG, NJW 2000, 2015; BVerwGE 106, 328; im Ergebnis befürwortend (teilweise kritisch) Lindner, Rückforderung von nationalen Beihilfen, die gegen europäisches Gemeinschaftsrecht verstoßen, BayVBl. 2000, S. 656; Bausback, Rückforderung von nationalen Beihilfen, die gegen europäisches Gemeinschaftsrecht verstoßen, BayVBl. 2000, S. 658; Gündisch, Rückforderung von nationalen Beihilfen - kein Konflikt zwischen europäischem Gemeinschaftsrecht und deutschem Verfassungsrecht, NVwZ 2000, S. 1125; skeptisch hingegen Müller, Die Aufhebung von Verwaltungakten unter dem Einfluß des Europarechts, 2000, S. 284 ff.; Suerbaum, Die Europäisierung des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts am Beispiel der Rückabwicklung gemeinschaftsrechtswidriger staatlicher Beihilfen, VerwArch 91 (2000), S. 169 (201 ff.); teilweise kritisch auch Gromitsaris, Neue Entwicklungen des Vertrauensschutzes bei Rücknahme und Rückforderung europarechtsrelevanter Beihilfen, ThürVBl. 2000, S. 97.
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tungskooperation). 103 Das Verwaltungskooperationsrecht schafft eine neue Ebene komplexer Verwaltungsbeziehungen und verknüpft die Grundkategorien des direkten und indirekten Vollzuges. 104 Außenwirksames Handeln in diesem Behördengeflecht vollzieht sich häufig durch grenzüberschreitende rechtsverbindliche Einzelakte, für die sich der Begriff des transnationalen Verwaltungsakts herausgebildet hat, 105 der konzeptionell sogar über den EG-rechtlichen Rahmen hinausreicht. Die Transnationalität kann auf die Wirkungen der Einzelfallentscheidung bezogen sein (z.B. Europäischer Paß im Wirtschaftsaufsichtsrecht 106), sie kann sich als adressatenbezogene Transnationalität darstellen, wenn der Verwaltungsakt als Handlung gleichsam die Grenze überschreitet (z.B. grenzüberschreitende Abfallverbringungsgenehmigung 107), und in seltenen Fällen ist sie sogar behördenbezogen, begibt sich die Behörde selbst in den anderen Mitgliedstaat (z.B. polizeiliche Nacheile 108 ). 109 Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit transnationaler Verwaltungsakte ist nach dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung ausländischen Rechts im Rahmen der horizontalen Verwaltungskooperation allein das Recht des erlassenden Staates maßgeblich, so daß auch rechtswidrige transnationale Verwaltungsakte wirksam sind. 110
103
Begriffe: Schmidt-Aßmann (Fn. 20), S. 273; ders. (Fn. 6), 7/18.
104
Ruffert,
Der transnationale Verwaltungsakt, Die Verwaltung 34 (2001), S. 453
(480); ders. (Fn. 22), S. 309 f.
105 Wegweisend Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht (Fn. 17), S. 935 f. Ferner Neßler, Europäisches Richtlinienrecht wandelt deutsches Verwaltungsrecht, 1994, S. 5 ff.; ders., Der transnationale Verwaltungsakt - Zur Dogmatik eines neuen Rechtsinstituts, NVwZ 1995, S. 863; Fastenrath, Die veränderte Stellung der Verwaltung und ihr Verhältnis um Bürger unter dem Einfluß des Europäischen Gemeinschaftsrechts, Die Verwaltung 31 (1998), S. 277 (301 ff.). Im Vorfeld bereits Bleckmann, Zur Anerkennung ausländischer Verwaltungsakte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, JZ 1985, S. 1072. Die Kritik von Becker, Der transnationale Verwaltungsakt, DVB1. 2001, S. 855, ist vereinzelt geblieben. 106 S. nur Schlag, Grenzüberschreitende Verwaltungsbefugnisse im EG-Binnenmarkt, 1998, S. 46. 107 Schröder, Der Vollzug der Europäischen Abfallverbringungsverordnung als Rechtsproblem, FS Ritter, 1997, S. 957 (960 und 964); Engels, Grenzüberschreitende Abfallverbringung nach EG-Recht, 1999, S. 120 ff. 108 Sie ist im (verwaltungsrechtlich allein relevanten) präventiv-polizeilichen Bereich in der EU nur ansatzweise entwickelt; vgl. Satzger, in: Streinz (Fn. 30), Art. 32 EUV, Rn. 2 ff.; Brechmann, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl. 2002, Art. 32 EUV, Rn. la-3. 109 Zu diesen Formen Ruffert (Fn. 104), S. 457 ff. 110 Neßler, Europäisches Richtlinienrecht (Fn. 105), S. 30 f.; v. Danwitz, Systemgedanken eines Rechts der Verwaltungskooperation, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-
Riem (Fn. 18), S. 171 (187 f.); Fastenrath (Fn. 105), S. 302; Stelkens/Stelkens,
in: Stel-
kens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl. 2001, § 35, Rn. 256. Hiervon gibt es auch für nichtige Verwaltungsakte keine Ausnahme, weil Nichtigkeit nichts anderes als eine im Maß
gesteigerte Rechtswidrigkeit ist: Ruffert
(Fn. 104), S. All f.; a.A. die h.M.: Nessler,
Rechtsformen des Verwaltungshandelns im europäisierten Verwaltungsrecht
235
Hieraus erhellt, daß das Verwaltungskooperationsrecht auch mit Blick auf die Rechtsformen des Verwaltungshandelns keine neue Rechtsschicht hervorbringt, sondern auf die vorhandenen Handlungsformen des Gemeinschaftsrechts bzw. des nationalen Rechts zurückgreifen und sich daher in die Kategorisierung nach Eigen- und Gemeinschaftsverwaltungsrecht einfügen kann. 111 Der transnationale Verwaltungsakt ist eine dogmatische Figur des trans- und supranationalen Verwaltungskooperationsrechts, die durch das staatliche Verwaltungsrecht zu rezipieren ist, dieses jedoch nicht ablöst oder verdrängt. Allein für das Zollverwaltungsrecht, das aufgrund der den inneren Kern der Gemeinschaft bildenden Zollunion (Art. 23 Abs. 1 EGV) 1 1 2 auf eine hochgradige Integration des Verfahrens und Verfahrensrechts angewiesen ist, wurde mit der „Entscheidung" nach Art. 4 Nr. 5 Zollkodex 113 eine genuin transnationale Rechtsform kodifiziert, die vorrangig vor nationalen Verfahrensbestimmungen zur Anwendung kommt 114 .
c) Europäisches Verwaltungsrecht, Verwaltungsvertrag und schlichthoheitliches Verwaltungshandeln Eine interessante Parallele zur Entwicklung des nationalen Verwaltungsrechts wird bei der Rechtsform Verwaltungsvertrag offenbar. Ebenso wie diese Rechtsform sich erst spät im deutschen Verwaltungsrecht durchsetzen konnte und ihre Regelung noch heute als reformbedürftig angesehen wird 1 1 5 , nimmt sich auch das Gemeinschaftsrecht in der Modifikation des Verwaltungsvertrages in den Mitgliedstaaten zurück. Dies steht im Kontrast zum Bedeutungsanstieg vertraglichen Handelns, der gerade auch durch den Europäisierungsschub ausgelöst worden ist, beispielsweise im Rahmen umweltrechtlicher Kooperation oder bei der Verwaltungsmodernisierung im Wirtschaftsverwaltungsrecht. Bis die Gemeinschaftsorgane das Steuerungspotential von Verwaltungsverträgen entdecken, bleibt den mitgliedstaatlichen Verwaltungen die „Vertragsfreiheit" erhalten. Sie haben allerdings - vor allem im Umweltrecht - zu beachten, daß Vereinbarungen zwischen Hoheitsträgern und Privaten nur dann eine ordnungsgemäße Umsetzung von Richtlinienrecht darstellen, wenn sie hinreichend
Europäisches Richtlinienrecht (Fn. 105), S. 31 mit Fn. 120; ders., Dogmatik (Fn. 105), S. 865, Fn. 32. 111
Schmidt-Aßmann (Fn. 6), 7/18; Hoffmann-Riem
112
Ausführlich Waldhoff.,
(Fn. 18), S. 320.
in: Calliess/Ruffert (Fn. 14), Art. 23 EGV, Rn. 1 ff.
113 Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12.10.1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften, ABl. EG 1992 Nr. L 302/1 mit späteren Änderungen (zuletzt: durch Verordnung (EG) Nr. 648/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.4.2005, ABl. EU 2005 Nr. L 117/13). 114 Näher Stelkens/Stelkens (Fn. 110), § 35, Rn. 254b. 115 S.o. Fn. 7.
Matthias Ruffert
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verbindlich sind und durch das Richtlinienrecht zu schaffende subjektive Rechte im innerstaatlichen Bereich sicher gewährleisten 116. Vorgaben für das „schlichte" Verwaltungshandeln fehlen ganz.
IV. Die Zukunft der Rechtsformenlehre im Verwaltungsrecht Der am Ende dieser kurzen Überlegungen zur europarechtlich überformten verwaltungsrechtlichen Rechtsformenlehre stehende Befund ist zweigeteilt: Während sich auf der Ebene des Unions- bzw. Gemeinschaftsrechts eine eigenständige Handlungsformensystematik herausbildet, die überkommene Grundkategorisierungen des mitgliedstaatlichen Rechts in Frage stellt, bleibt die Rechtsformenlehre der Mitgliedstaaten im Kern - von Ausnahmesituationen abgesehen - unberührt. Angesichts der europarechtsinduzierten Umwälzungen im Verwaltungsrecht wäre es allerdings erstaunlich, warum gerade die Rechtsformen dem „Europäisierungsdruck" standhalten können sollten. Daher darf die Vorbildfunktion des unions- bzw. gemeinschaftsrechtlichen Formenspektrums und ihr Einflußpotential diesseits zwingender normativer Vorgaben nicht unterschätzt werden. Sie gewährleistet die notwendige Dynamik, die Offenheit für innovative Entwicklung in einem Rechtsformengefüge, dem eine statische Basis inhärent ist 117 .
116
Vgl. Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament über Umweltvereinbarungen, Dok. К О М (96) 561endg., Ziff. 31 ff., sowie Fluck/Schmitt, Selbstverpflichtungen und Umweltvereinbarungen - rechtlich gangbarer Königsweg deutscher und europäischer Umweltpolitik, VerwArch 88 (1998), S. 220 (247 ff.). Rengeling, Die Ausführung von Gemeinschaftsrecht, insbesondere Umsetzung von Richtlinien, in: ders. (Hrsg.), EUDUR, Band I, 2. Aufl. 2003, § 28, Rn. 84 f. Dagegen Bohne, Informales Verwaltungs- und Regierungshandeln als Instrument des Umweltschutzes, VerwArch 75 (1984), S. 343 (362 f.). 117 Zu Statik und Flexibilität der Formenlehre Schmidt-Aßmann (Fn. 6), 6/39.
Gedanken zu einer europäischen Auslegungslehre: grammatikalisches und historisches Element* Von Christian Baldus und Friederike
Vogel
Peter Krause ist ein skeptischer, ein unkonventioneller, ein aufgeklärter Konservativer, ein Mann, der seine Studenten stets gelehrt hat, nicht an der Oberfläche der Dinge und der Worte stehen zu bleiben. Sein Konservatismus bedeutet nie ein Festhalten an Leerformeln; er liest die neuen Urteile gegen den Strich der alten Gesetze, und er nennt die Aporien beim Namen. Das muss im Recht der Europäischen Gemeinschaft und Union ebenso geschehen wie in dem, was vom „nationalen" Recht verblieben ist; und die spezifisch privatrechtliche Perspektive mag diejenige des klassisch öffentlich-rechtlichen Europarechts sinnvoll ergänzen. Ad multos annos!
I. Europäische Integration und Methodenlehre Europa ist im Begriff, den Kern seines Vermögensrechts in systematischer Form niederzulegen. Anknüpfend an den Aktionsplan „Ein kohärenteres Europäisches Vertragsrecht" vom Februar 2002 hat die Europäische Kommission am 11. Oktober 2004 eine Mitteilung verabschiedet und darin unter anderem die Ausgestaltung des geplanten gemeinsamen Referenzrahmens weiter konkretisiert. 1 Der erste jährliche Fortschrittsbericht der Initiative „Europäisches Vertragsrecht" liegt bereits vor. 2 Einen weiteren wichtigen Schritt auf dem langen Weg zu einem europäischen Vertragsrecht stellt der Vorschlag der Kommission für eine EG-Verordnung über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuDer Beitrag stellt eine überarbeitete Version zweier in französischer und spanischer Sprache erschienener Aufsätze dar: Baldus/Vogel, Methodologie du droit prive communautaire: problemes et perspectives quant а Γ interpretation grammaticale et historique, in: Annuaire de droit europeen 2006 sowie dies., Metodologia del derecho privado comunitario: problemas у perspectivas en cuanto a la interpretation literal e historica, in: Anuario de la Facultade de Dereito da Universidade da Coruna 2006 (beide im Erscheinen). 1 11.10.2004, KOM(2004) 651 endg.; vgl. auch Schmidt-Kessel , Auf dem Weg zum Gemeinsamen Referenzrahmen: Anmerkungen zur Mitteilung der Kommission vom 11. Oktober 2004, GPR 2005, S. 2 (2 ff.). 2 23.09.2005, KOM(2005) 456 endg.
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Christian Вaldus/Friederike Vogel
wendende Recht3 (sog. „Rom-I-Verordnung") dar. 4 Selbst auf dem scheinbaren domaine reserve des Erbrechts stellen sich systematische Grundsatzfragen, und zwar aus der Praxis. 5 Diese breit gefächerten Aktivitäten zeigen exemplarisch das wachsende Bedürfnis nach Systematisierung und Kohärenz des geltenden wie künftigen Gemeinschaftsrechts. Neben dogmatischen stellen sich dabei in verstärktem Maße auch methodologische Grundsatzfragen. 6 Wie aber hat eine solche Methodik des Gemeinschaftsprivatrechts auszusehen? Einerseits dienen die mitgliedstaatlichen Traditionen als gedanklicher Ausgangspunkt für eine gemeineuropäische Methodenlehre. Andererseits hat sich eine solche Theorie zwangsläufig von den in den Mitgliedstaaten vorherrschenden Traditionen zu unterscheiden7 - schon deshalb, weil Gemeinschaftsrecht in allen Mitgliedstaaten einheitlich wirken muss. Ein unterschiedliches Vorgehen bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts zöge divergierende Ergebnisse nach sich und wirkte der im Binnenmarkt angestrebten Rechtseinheit entgegen.8 Die Traditionen der Mitgliedstaaten sind verwandt, aber in mancher Hinsicht verschieden, und sie gehen von einem Paradigma aus, das die Auslegungslehre des 19. Jahrhunderts prägte: vom Staat als umfassend tätigen Gesetzgeber, der den Rahmen für die Ausübung der Privatautonomie setzt, also von Gesetzespositivismus und Liberalismus. 9 Eine solche Prägung kann zu übermäßiger Orientierung am „Willen" des konkreten historischen Gesetzgebers führen. Im Gemeinschaftsrecht sieht die Lage vollkommen anders aus: Zwar orientiert sich das Gemeinschaftsprivatrecht - wie auch die mitgliedstaatlichen Privatrechtsordnungen - an der Privatautonomie. Es muss diese aber über die Binnengrenzen hinweg aktiv gegen unzulässige Marktabschottung schützen. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung sowie das Subsidiaritätsprinzip 3
15.12.2005, KOM(2005) 650 endg. Hierzu Schmidt-Kessel , Neues aus Brüssel, GPR 2006, S. 47 (49 f.); Schulte-Nölke , Editorial: Ein europäisches Vertragsrecht bis 2015?, ZGS 2006, S. 41 (41). 5 Dazu Baldus , Normqualität und Untermaß verbot: Für eine privatrechtliche Logik der Kompetenzbestimmung am Beispiel des Europäischen Erbscheins, GPR 2006 (im Erscheinen). 6 Zu dem hier zugrunde liegenden Begriffsverständnis von Dogmatik und Methodik vgl. Baldus , Grenzbestimmung und Methodenfindung: Grundlagenfächer und Aufgaben der juristischen Dogmengeschichte, StudZR 2005, S. 178 (183). 7 Grundlegend hierzu Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methoden lehre, 2006 - im Erscheinen. 8 So auch Colneric , Auslegung des Gemeinschaftsrechts und gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, ZEuP 2005, S. 225 (225). 9 Hierzu (im Erscheinen): Baldus, Historische und vergleichende Auslegung im Gemeinschaftsprivatrecht. Zur Konkretisierung der „geringfügigen Vertragswidrigkeit", in: ders./Müller-Graff (Hrsg.), Wege zur Konkretisierung von Generalklauseln: Was leistet die deutsche Wissenschaft vom Europäischen Privatrecht?, 2006. 4
Gedanken zu einer europäischen Auslegungslehre
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bedingen außerdem, dass die Gemeinschaft dem Grundsatz nach nicht in umfassender Weise rechtsetzend tätig wird. Als Zweckverband funktioneller Integration 10 gibt die Gemeinschaft ungleich dem Staat keinen Gesamtrahmen privaten Handelns vor, sondern hat den Unionsbürgern Raum für den legitimen Gebrauch ihrer Marktfreiheiten zu schaffen, so gut es geht in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten, im Konfliktfall aber auch gegen sie. Wie die Legitimität dieses Gebrauchs im Einzelfall zu bestimmen ist, wo also genau die Grenze zulässiger grundfreiheitlicher Beschränkungen verläuft, dies lässt sich nicht ein für alle Mal vom historischen Zeitpunkt des Normerlasses aus definieren. Gemeinschaftsrechtlich gesetztes Privatrecht soll überzeugen und gesellschaftliche Akzeptanz finden. Hierher rührt die Notwendigkeit, die Interessen Privater untereinander zu koordinieren. 11 Gemeinschaftsprivatrecht ist also in besonderer Weise von der europäischen Integration geprägt. Das Integrationsziel kann aber nur dann erreicht werden, wenn die praktischen Probleme der Privaten über Binnengrenzen hinweg sachlich überzeugend gelöst werden. Nur so ist zu erwarten, dass die Bürger auch tatsächlich von ihren Grundfreiheiten Gebrauch machen und dass damit die nationalstaatlichen Grenzen im erforderlichen Maße überwunden werden. Das hat Auswirkungen auch auf die Methodenlehre: Im Gemeinschaftsprivatrecht empfiehlt sich weder ein Umgang mit der Norm, wie er vom gesetzespositivistischen Nationalstaat des 19. Jahrhunderts geprägt ist, noch ein Rückgriff auf Vorstellungen, die aus dem klassischen Völkerrecht stammen, also Souveränitätsschutz im Außenverhältnis verfolgen. So ist noch weitaus schwieriger auszumachen als im nationalen Recht, was der „historische Gesetzgeber" einer privatrechtsgestaltenden Gemeinschaftsnorm subjektiv „wollte", und es kommt auch nicht darauf an, möglichst jede Auslegung zu vermeiden, die mitgliedstaatliche Gestaltungsspielräume beschneidet. Vielmehr sind Normen des Gemeinschaftsprivatrechts Ausdruck von Wertentscheidungen im Verhältnis der Privaten untereinander, die oftmals seit über 2000 Jahren in der europäischen Tradition praktiziert und diskutiert werden - Wertentscheidungen, deren Niederlegung in positivem Recht sich inhaltlich als Ergebnis langer Fachdebatten darstellt. Die Auslegung solcher Normen muss dem Integrationsziel dienen und darf die bekannten Eigenheiten des Norminhalts, die historisch erfahrenen Grenzen und Möglichkeiten bestimmter Regelungsinhalte und Regelungstechniken, nicht außer Acht lassen. Die Besonderheiten des europäischen Einigungsprozesses und ihre Auswirkungen auf die Methodenlehre zeigen sich am deutlichsten am Beispiel zweier
10 11
Hans Peter Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 196 ff.
Zum allseitigen Interessenausgleich als Funktionsbedingung von Gemeinschaftsprivatrecht: Baldus , Binnenkonkurrenz kaufrechtlicher Sachmängelansprüche nach Europarecht, 1999, S. 31 f.
Christian
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Interpretationskanones: der grammatischen und der historischen 12 Auslegung. Die folgenden Ausführungen beschränken sich daher auf diese beiden Problemfelder.
I I . Ausgewählte methodologische Probleme des Gemeinschaftsrechts 1. Textinterpretation und Mehrsprachenauthentizität Fundamentales Prinzip der gemeinschaftsrechtlichen Sprachenregelung ist der Grundsatz der Gleichberechtigung der nationalen Amtssprachen auf Gemeinschaftsebene. 13 So sind gemäß Art. 314 EG 14 , Art. 53 EU sowie Art. 225 EA die Amtssprachen der Mitgliedstaaten zugleich authentische Sprachen der Gründungsverträge. 15 Für sekundärrechtliche Normen folgt dieser Grundsatz aus der VO Nr. I 1 6 , die auf der Grundlage von Art. 290 EG ergangen ist. Nach Art. 1 dieser Verordnung sind die authentischen Vertragssprachen - derzeit noch mit Ausnahme des Gälischen17 - auch Amts- und Arbeitssprachen der Organe der Union. Dementsprechend werden alle Sekundärrechtsakte der Gemeinschaft in gegenwärtig 20 Sprachen veröffentlicht. Es liegt auf der Hand, dass dieser Vielsprachigkeit nicht in sämtlichen Verfahrensschritten des Rechtsetzungsverfahrens konsequent Rechnung getragen werden kann. 18 Vielmehr wird in der Praxis zunächst regelmäßig Englisch oder Französisch als faktische
12 Hier zunächst verstanden in der traditionellen, aus der innerdeutschen Begrifflichkeit bekannten Bedeutung. Zu Differenzierungen Baldus (Fn. 9). 13 Vgl. hierzu ausführlich Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, 2004, S. 52 ff., mit Besprechung Vogel, GPR 2005, S. 20 f.; Oppermann, Europarecht, 3. Auflage, 2005, S. 63 f. 14 Gefolgt wird der Zitierweise, die der EuGH und das EuG seit dem 1. Mai 1999 anwenden, um Verwechslungen zwischen den vor und nach dem 1. Mai 1999 geltenden Textfassungen auszuschließen, vgl. ABl. 1999 С 246/1. 15 Eine Ausnahme hierzu bildet der 2002 außer Kraft getretene EGKS-Vertrag, der gem. Art. 100 KS nur in einer (französischen) Urschrift geschlossen wurde. In dem Vertragstext über eine Europäische Verfassung ist die Allsprachlichkeit in Art. IV-448 Abs. I V V E geregelt. 16 Verordnung Nr. 1 des Rates zur Regelung der Sprachenfrage für die europäische Wirtschaftsgemeinschaft vom 15.04.1958, zuletzt geändert durch Verordnung (EG) Nr. 920/2005 des Rates vom 13. Juni 2005, vgl. ABl. 2005 L 156/3-4. 17 Mit Ratsbeschluss vom 13. Juni 2005 hat der Rat der irischen Sprache mit Wirkung ab 2007 einen vollwertigen Status im Rahmen der Sprachenregelung der Organe der Europäischen Union zuerkannt; vgl. Pressemitteilung der 2667. Tagung des Rates „Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen", Dok 9499/05 (Presse 131).
18
Schübel-Pfister
(Fn. 13), S. 100 ff.
Gedanken zu einer europäischen Auslegungslehre
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Originalsprache herangezogen. 19 Die Übersetzung in die restlichen Amtssprachen erfolgt in aller Regel erst nach Abschluss des eigentlichen Redaktionsprozesses, 20 meist unter erheblichem Zeitdruck. 2 1 Hierdurch sind Mehrdeutigkeiten sowie Fehler in den unterschiedlichen Sprachfassungen vorprogrammiert. 2 2 Solcherart entstehende Wortlautdifferenzen sind i m Wege der Auslegung zu bereinigen. Nach gefestigter Rechtsprechung des E u G H gilt das Gebot der einheitlichen Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts. 23 Danach erschließt sich der Norminhalt erst aufgrund einer Gesamtbetrachtung aller Sprachfassungen, da nicht eine Textfassung für sich allein, sondern erst die Gesamtheit aller Fassungen den Wortlaut des Gesetzes bildet. 2 4 Folgerichtig verbietet sich eine Auslegung nach der Mehrheit der Sprachfassungen. 25 In der Rechtsprechung des E u G H lässt sich indes weder nachweisen, dass der Gerichtshof eine europäische N o r m stets in allen verbindlichen Sprachfassungen liest, noch befolgt er konsequent die - dogmatisch angebrachte - Missbilligung der Mehrheitsregel. 2 6
19
Barents , Law and language in the European Union, EC Tax Review 1997/1, S. 49 (50); Martiny, Babylon in Brüssel? Das Recht und die europäische Sprachenvielfalt, ZEuP1998, S. 227 (237). 20 Um die Masse an zu übersetzenden Dokumenten zu bewältigen, teilen die Übersetzungsdienste die Dokumente in sog. „Qualitätsstufen" ein, was sich auf die zu investierende Zeit und Sorgfalt bei der Übersetzungsarbeit auswirkt, hierzu Schübel-Pfister (Fn. 13), S. 102 f. 21 Schütte, Zur Verständlichkeit von EG-Rechtstexten, Gesetzgebung heute 1992/2, S. 11 (33). 22 Neben dem Zeitdruck der Übersetzer führen zahlreiche weitere Faktoren wie schlechte Qualität der Ursprungstexte, die hohe Technizität des Gemeinschaftsrechts, aber auch die Systemgebundenheit des Rechts zu Mehrdeutigkeiten. Zu den Einzelheiten sowie zu Unterscheidung zwischen Begriffs- und Bedeutungsdivergenzen vgl. SchübelPfister {¥n. 13), S. 109 ff. 23 Vgl. u.a. EuGH, Rs. 19/67, van der Vecht, Slg. 1967, 461, 473; EuGH, Rs. 29/69, Stauder/Ulm, Slg. 1969, 419, 425; EuGH, Rs. 816/79, Meckel/HZA Bremen-Ost, Slg. 1980, 3029, 3040; EuGH, Rs. C-375/97, General Motors, Slg. 1999,1-5421, 5445. 24 Anw eiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 161 f.; Lutter, Die Auslegung angeglichenen Rechts, JZ 1992, S. 593 (599); Gebauer, in: Gebauer/Wiedmann (Hrsg.), Zivilrecht unter europäischem Einfluss, 2005, Kap. 3 Rn. 4; Dölle, Zur Problematik mehrsprachiger Gesetzes- und Vertragstexte, RabelsZ 1961, S. 4 (27). 25 EuGH, Rs. C-296/95, EMU Tabac u.a., Slg. 1998,1-1605, 1644 f.; anders, aber mit (auch insoweit) nicht nachvollziehbarer Begründung Buerstedde, Juristische Methodik des Europäischen Gemeinschaftsrechts: Ein Leitfaden, 2006, S. 118; vgl. die Besprechung von Baldus in GPR 2006 (im Erscheinen). 26 Schübel-Pfister (Fn. 13), konstatiert auf S. 172, dass sich der EuGH in seiner Rechtsprechung zum EWG-Vertrag bis zum Jahr 2000 in insgesamt 152 Urteilen sowie das EuG in 17 Fällen mit der sprachlichen Problematik von Rechtstexten befasst hat. In weiteren 190 Fällen hat der jeweilige Generalanwalt sprach vergleichende Ausführungen gemacht; zur genaueren Vorgehens weise vgl. auch Ausführungen auf S. 213 ff. m.w.N.
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Dem Gebot, Gemeinschaftsrecht einheitlich anzuwenden und auszulegen, unterliegen auch die nationalen Gerichte, soweit sie zur Auslegung von Gemeinschaftsrecht berufen sind. 27 In dem Bestreben, der Rechtseinheit im Binnenmarkt maximale Geltung zu verschaffen, haben innerstaatliche Rechtsanwender europäisches Recht ebenso auszulegen wie die europäischen Richter. Demzufolge ist das Gemeinschaftsrecht unter Berücksichtigung aller verbindlichen Sprachfassungen auszulegen. Nach der grundlegenden „C.I.L.F.I.T."Entscheidung28 des EuGH sind die nationalen Richter im Vorfeld eines möglichen Vorabentscheidungsverfahrens zu einem systematischen Vergleich aller Sprachfassungen einer Gemeinschaftsnorm angehalten, bevor sie bona fide zu dem Ergebnis gelangen können, dass kein vernünftiger Auslegungszweifel besteht. Dann sind sie ihrer im Falle des Art. 234 Abs. 3 EG bestehenden Vorlageverpflichtungen enthoben.29 Indes wird nur in den seltensten Fällen ein nationaler Richter über die erforderliche Sprachenkompetenz verfügen, um dem beschriebenen Gebot gerecht werden zu können. Was im Europa der Sechs noch sinnvoll gewesen sein mag, ist im Europa der Fünfundzwanzig (mit nach wie vor wachsender Tendenz) praktisch undurchführbar. Spätestens seit der jüngsten Osterweiterung ist die Pflicht zur methodengerechten Interpretation des Gemeinschaftsrechts endgültig nicht mehr mit dem Gebot, dass alle Amtssprachen gleichermaßen bei der Auslegung zu berücksichtigen sind, in Einklang zu bringen. 30 Es ist zu erwarten, dass der Leser nur einen statistisch nicht signifikanten Ausschnitt der auslegungsrelevanten Textfassungen erfassen kann. Die Folge in der Praxis ist häufig, dass sich die Auslegung einer Norm an der muttersprachlichen Textfassung orientiert. 31 Doch auch der „ideale" Rechtsanwender, der sämtliche Amtssprachen beherrscht und seiner Exegese alle Sprachfassungen zugrunde legt, fände wegen der in den verschiedenen Sprachfassungen eröffneten Auslegungsspielräume oftmals auch inhaltlich eine Vielfalt von Varianten vor, so dass die Normtexte ihm mehr Anregung als Schranke wären. Die Wortlautgrenze wird in mehrAllerdings belegt Verf. auf S. 206 ff., dass der EuGH selbst nur in einem Fünftel aller Fälle einen umfassenden Sprachvergleich durchführt. Zum Verstoß des EuGH gegen die von ihm selbst aufgestellte Mehrheitsregel siehe Ausführungen der Verf. auf S. 267 ff. m.w.N. 27 Vgl. hierzu auch die grundsätzlichen Ausführungen bei Schiib el-P fist er (Fn. 13), S. 324 ff. Aus der neueren Rspr. zur Verteilung der Prüfungskompetenz zwischen europäischen und mitgliedstaatlichen Gerichten etwa EuGH, Rs. C-234/03, Contse u.a./ Ingesa, Rn. 34 (noch nicht in der amtlichen Sammlung). 28 EuGH, Rs. 283/81, C.I.L.F.I.T./Mistero della Sanitä. 29 EuGH, Rs. 283/81, C.I.L.F.I.T./Mistero della Sanitä, Slg. 1982, 3415, 3430 f. 30 So bereits Baldus, Nach dem Beitritt: Auslegungspraxis und Kerneuropa, GPR 2004, S. 114(114). 31
Schübel-Pfister
(Fn. 13), S. 331 ff.
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sprachig verbindlichem Recht mit zunehmender Sprachenvielfalt bis hin zur Konturlosigkeit verwässert. Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass es im Europa der Fünfundzwanzig unmöglich geworden ist, einen Gemeinschaftsrechtsakt nach den Regeln auszulegen, die im Europa der Sechs noch funktionieren konnten. Dies ist angesichts der stetig wachsenden Bedeutung des Gemeinschaftsrechts umso bedauerlicher und wirft die Frage auf, welche methodologischen Konsequenzen aus dieser Feststellung für den künftigen Umgang mit der grammatikalischen Auslegung im Gemeinschaftsrecht zu ziehen sind. 32
2. Historische Auslegung des Gemeinschaftsrechts? So wie die grammatikalische Auslegung im Gemeinschaftsrecht durch die dort vorherrschende Mehrsprachenauthentizität ihre Besonderheiten erfährt, so spielt auch die historische Auslegung eine grundsätzlich andere Rolle im Gemeinschaftsrecht als zumeist in der innerstaatlichen Methodenlehre. Die Notwendigkeit historischer Auslegung resultiert in der - bis heute prägenden Optik des 19. Jahrhunderts aus der Hermeneutik der Epoche, aber auch aus dem Primat des Gesetzgebers.33 Es kann nicht unerheblich sein, was die am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Personen sich - subjektiv - unter der Norm vorstellten, an deren Erlass sie mitwirkten. Dennoch: Was das Parlament oder gar die Entwurfsverfasser dachten, kann freilich helfen, den damals intendierten Sinn einer Norm zu verstehen, aber die Norm selbst muss objektiv - philosophisch vorsichtiger formuliert: intersubjektiv - verstanden werden. 34 So ist die subjektiv-historische Auslegung nur ein Instrument für die Suche nach dem objektiven Normgehalt. In der deutschen Methodenlehre erlangt die historische Auslegung eine besondere Bedeutung als Verwerfungsargument: Hat der Gesetzgeber bestimmte Formulierungen erwogen und verworfen, dann spricht dieser Umstand gegen eine Deutung des am Ende beschlossenen Normtextes im Sinne der verworfenen Formulierung. 35 Man argumentiert: Wenn der Gesetzgeber dieses Verständnis gewollt hätte, dann hätte er eben jenen Ausdruck wählen können. Anders strukturiert, aber ebenfalls negativen Charakters ist das Argument, an eine bestimmte Bedeutung der Norm oder eine bestimmte Anwendungssituati-
32
Hierauf wird unten unter 3. a) näher eingegangen. Dazu Baldus, § 1 (Historische Grundlagen), in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2006; grundlegend zur Entwicklung: Schröder, Recht als Wissenschaft - Geschichte der juristischen Methode vom Humanismus bis zur historischen Schule, 1500-1850, 2001; Meder, Mißverstehen und Verstehen, 2004. 33
34
Vgl. auch Baldus (Fn. 9).
35
Ders. (Fn. 9).
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Christian Вaldus/Friederike Vogel
on sei nicht gedacht worden. Historische Auslegung dient mithin jedenfalls im innerdeutschen Rechtsraum insbesondere der Eliminierung solcher Ergebnisse, die zwar mit dem objektiven Normzweck vereinbar wären, im Gesetzgebungsverfahren aber geprüft und abgelehnt worden sind. Im Europarecht spielt die historische Auslegung indes traditionell nur eine untergeordnete Rolle. Während sie für das Primärrecht einhellig abgelehnt wird, 36 ist sie im Sekundärrecht von jedenfalls geringer Bedeutung.37 Für das Primärrecht folgt dies bereits daraus, dass der Großteil der Verhandlungsniederschriften zu den Gemeinschaftsverträgen nicht veröffentlicht wurde und über wesentliche Fragen nur mündlich verhandelt worden ist. 38 Die bewusste NichtVeröffentlichung der Materialien beruht auf der dem europäischen Einigungsprozess innewohnenden Besonderheit, dass die Verfassung der Gemeinschaft 39 auf dynamische Integration gerichtet ist. 40 Eine durch historische Auslegung erfolgende statische Rückbindung an eine bestimmte politische Kompromisssituation ist nicht gewollt. Das Gemeinschaftsrecht ist also im Lichte der bezweckten dynamischen Interpretation auszulegen. Im Zweifel greifen nicht Souveränitätsreserven durch, sondern Integrationsmechanismen, namentlich binnenmarktfinale. 41 Historisch auslegen im engeren Sinne würde indes bedeuten, eine regelungstechnische Konfiguration zu konservieren, die auf Weiterentwicklung angelegt ist. Die Dynamik der Integration darf aber keinesfalls durch eine Bindung an den Willen der Normgeber gefährdet werden. 42
36 Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl. 2002, Art. 220 EG Rn. 12; Schwarze , in: ders. (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 220 EG Rn. 28; Bieber/Epiney/Haag , Die Europäische Union, 6. Aufl. 2005, § 9 Rn. 21; Schroeder , Die Auslegung des EU-Rechts, JuS 2004, S. 180 (183); Meyer , Die Grundsätze der Auslegung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, Jura 1994, S. 455 (456); Zuleeg , Die Auslegung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, EuR 1969, S. 97 (102 ff.). 37 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. I, 2001, S. 400; Anweiler (Fn. 24), S. 252 ff.; Herdegen , Europarecht, 7. Aufl. 2005, § 9 Rn. 74; laut Meyer (Fn. 36), S. 456 greift der EuGH im Sekundärrecht neben dem Wortlaut, der Systematik und dem Ziel des Rechtsakts auch auf die Entstehungsgeschichte zurück, vgl. EuGH, Rs. 14/69, Markus&Walsh, Slg. 1969, 349, 356 f.; EuGH, Rs. 34/70, Syndicat national du commerce exterieur des cereales et autres, Slg. 1970, 1233, 1240 ff.; vgl. auch EuGH, Rs C-336/03, easyCar / OFT (Ausführungen hierzu im Text unter 2. b) a. E. 38 Kohler-Gehrig , Europarecht und nationales Recht - Auslegung und Rechtsfortbildung, JA 1998, S. 807 (809); Anweiler (Fn. 24), S. 248 f. 39 Die Römischen Verträge trugen schon früher Verfassungscharakter; vgl. EuGH, Rs. 294/83, Parti ecologiste « Les Verts »/ Parlament, Slg. 1986, 1339, 1365; EuGH, Rs. 2/88, Imm. Zwartveld, Slg. 1990,1-3365, 3372.
40 41
Schwarze (Fn. 36), Art. 220 EGV, Rn. 27 f.
Langenbucher , Europarechtliche Bezüge des Privatrechts, 2005, S. 30. 42 Gaitanides , in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der europäischen Gemeinschaft, Band 4, 6. Auflage, 2004, Art. 220 Rn. 57; Streinz , Europarecht, 7. Aufl. 2005, Rn. 570; Degan,
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Hinzu kommt die der historischen Auslegung innewohnende Schwierigkeit, in pluralistischen Entscheidungsstrukturen einen eindeutigen Gesetzgeberwillen zu identifizieren. Auf Gemeinschaftsebene gestaltet sich die Bestimmung dieses Gesetzgeberwillens angesichts der Vielzahl der beteiligten Organe und komplizierter Mehrheitsverhältnisse ungleich schwieriger. 43 Historische Auslegung im traditionellen Sinne erlangt daher im Gemeinschaftsrecht am ehesten dann Relevanz, wenn Gemeinschaftsorgane geschlossene Regelungskonzeptionen teilen oder aber gegeneinander setzen, und zwar möglichst ausdrücklich. Alle anderen Konstellationen sind zu unsicher, um den Erfordernissen eines praktikablen, also systematischen Binnenmarktprivatrechts zu genügen, und können daher auch Zweifelsentscheidungen nicht tragen. Aber selbst ein „eindeutiger" Gesetzgeberwille kann das Integrationsziel und den dynamischen Charakter der Gemeinschaft nicht dominieren. Sogar wenn bestimmte Beteiligte eine spezifische gemeinschaftsrechtliche Regelung nicht wollten und sich sodann auf eine unklare Formulierung geeinigt haben, kann das Verhandlungsergebnis dennoch im Sinne eben dieser abgelehnten Regelung ausgelegt werden. Denn das Integrationsziel kann nicht dadurch behindert werden, dass eine Mehrheit für einen bestimmten Gemeinschaftsrechtsakt typischerweise nur unter zahlreichen Einwänden und Formelkompromissen zustande kommt. Es bleibt somit festzuhalten, dass die historische Auslegung im Sinne eines Festhaltens an einem mehr oder minder eindeutigen Gesetzgeberwillen sowohl im Primär- wie im Sekundärrecht berechtigterweise nur einen untergeordneten Platz einnimmt. Es ist auch nicht anzunehmen, dass der EuGH in seiner jüngeren Rechtsprechung daran etwas ändern wollte. Zwar liest man in der deutschen Urteilsfassung der Rechtssache „easyCar/OFT" 44 von den für die Auslegung der Richtlinie „,maßgebenden Dokumente[n], wie etwa den vorbereitenden Arbeiten", 45 die romanischen Sprachfassungen verwenden allerdings anstelle des Begriffs „maßgebend" Ableitungen des lat. pertinere, und die englische Fassung spricht von „documents relevant for its interpretation". 46 Bereits diese Sprachfassungen bleiben damit hinter der deutschen Wendung „maßgebend" zurück und deuten an, dass das Urteil keine methodologische Kehrtwende hinsichtlich des Stellenwerts der historischen Auslegung einleiten wollte.
Precedes d'interpretation tires de la jurisprudence de la Cour de Justice des Communautes europeennes, Rev. trim. dr. eur. 1966, S. 189 (217 f.). 43 Wegener , in: Calliess/Ruffert (Fn. 36), a.a.O.; hierzu demnächst auch: Koväcs, Die Historische Auslegung im Gemeinschaftsrecht - Eine Analyse anhand von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2004, StudZR 2006 (im Erscheinen). 44 EuGH, Rs. C-336/03, easyCar/OFT, Rn. 18 ff. (noch nicht in der amtlichen Sammlung). 45 Ebenda (Rn. 20). 46 Hierzu im Einzelnen Urteilsanmerkung von Baldus, GPR 2005, S. 124 (124 f.).
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I I I . Anpassung des Methodenkanons 1. Bedeutungsverlust des Wortlautarguments? Im nationalen Recht ist der Wortlaut sowohl Ausgangspunkt als auch Grenze der Auslegung. 47 Über alle bekannten Unsicherheiten und grundsätzlichen Zweifel hinaus, die der Wortlaut bereits im einsprachigen Rechtsraum verursachen kann, 48 ist diese Kategorie im Gemeinschaftsrecht noch ungleich problematischer. Sicher kann er auch hier nicht völlig unbedeutend sein. Wie sonst sollten wir uns die Bedeutung einer Regelung erschließen, wenn wir nicht auf den Wortlaut als ersten Schlüssel zu Inhalt und Zweck dieser Regelung zurückgreifen würden? Andererseits kann eine Vorschrift des Gemeinschaftsprivatrechts nie isoliert in der Muttersprache des jeweiligen Rechtsanwenders gelesen werden. Dessen Aufgabe besteht vielmehr darin, durch die Heranziehung sämtlicher Sprachfassungen die für die Auslegung relevante einheitliche und damit notwendigerweise breitere Wortlautgrenze herauszufinden. Wie aber ist mit dem mehrsprachig authentischen Gemeinschaftsrecht bei der Auslegung zu verfahren? Fest steht, dass die Problemlösung nicht in der Bevorzugung irgendeiner Sprachfassung gesucht werden darf. Jedwedes Sprachenprivileg wäre mit dem Gebot der sprachlichen Gleichberechtigung im Gemeinschaftsrecht unvereinbar. Dies gilt insbesondere für die Außenkommunikation der Gemeinschaftsorgane mit den Unionsbürgern, deren Vertrauen auf die Beachtung der Sprachfassung ihres Landes zu schützen ist. 49 Überdies streitet das Integrationsziel der Gemeinschaft für die Beibehaltung der Mehrsprachigkeit. Dieses Ziel lässt sich nur dann erreichen, wenn die Union sich darum bemüht, von Bürgern und Mitgliedstaaten angenommen zu werden. 50 Der erwünschten Akzeptanz wäre es indes abträglich, würden die Bürger kleinerer Staaten in der Rechtswirklichkeit der Gemeinschaft der gleichberechtigten Stellung ihrer eigenen Sprache beraubt. Mit anderen Worten: Die Abschaffung
47 Für Ausgangspunkt: Schroeder (Fn. 36), S. 182; für Grenze: BVerfGE 73, 206 (235 f.) = NJW 1987, 43, 44: „Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation; wenn, wie gezeigt, Art. 103 I I GG Erkennbarkeit und Vorhersehbarkeit der Strafandrohung für den Normadressaten verlangt, so kann dies nur bedeuten, dass dieser Wortsinn aus der Sicht des Bürgers zu bestimmen ist." 48 Herzberg , Die ratio legis als Schlüssel zum Gesetzesverständnis? Eine Skizze und Kritik der überkommenen Auslegungsmethodik, JuS 2005, S. 1,(3 f.). 49 Überzeugend dargelegt in Schübel-Pfister (Fn. 13), S. 384 f.: Über die bereits genannten Gemeinschaftssprachenartikel der Art. 290 und 314 EG hinaus wird die sprachliche Vielfalt in zahlreichen weiteren Vorschriften gewährleistet: u. a. in Art. 149 I EG; 6 III EU; Art 21 III, 22 und 41 IV der Grundrechte-Charta; Art. 5 II und 6 III lit. a EMRK sowie Art. III-128, III-282 Abs. 1,11-81 Abs. 2,11-82,11-101 Abs. 4 VVE. 50 Labrie, La construction linguistique de la Communaute europeenne (Paris 1993), S. 141.
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der sprachlichen Parität aller Amtssprachen steht ungeachtet der hohen Kosten der Vielsprachigkeit nicht zur Diskussion.51 Mit Blick auf die gegenwärtige Situation drängt sich allerdings die Frage auf, welches Restgewicht dem Wortlaut beziehungsweise dem grammatikalischen Element bei der Auslegung noch zukommen sollte. Dreh- und Angelpunkt einer seriösen methodischen Exegese ist die Sprache. Insofern dient das Sprachenproblem als heilsame Erinnerung an die Schwierigkeiten juristischer Erkenntnisgewinnung. Die Situation scheint ausweglos. Einerseits ist die Sprache Schlüssel zu juristischer Erkenntnis, auf der anderen Seite scheint es aber, dass eine sichere Rechtsfindung auf der Grundlage einer Vielzahl von Sprachfassungen, die zu einem einheitlichen Wortlaut verschmelzen sollen, kaum zu erreichen ist. Niemandem ist geholfen, wenn der EuGH an einer methodologischen Prämisse festhält, der spätestens nach der jüngsten Erweiterungsrunde der Union niemand mehr gerecht werden kann. Schlimmer noch: Eine unerfüllbare Verpflichtung gefährdet die Rechtssicherheit und -einheit, da kein Bürger mehr das methodische Vorgehen und damit die Rechtsfindung der Gerichte zuverlässig prognostizieren kann. Rechtssicherheit und Rechtseinheit sind aber wesentliche Zwecke methodologischer Bestrebungen. 52 Die im Ansatz vollkommen gerechte Regel der Gleichberechtigung aller Sprachfassungen in der Gemeinschaft wandelt sich, sobald sich methodologische Beliebigkeit in Fragen der grammatikalischen Auslegung breit macht, möglicherweise in ihr Gegenteil, wenn nämlich am Ende nicht vorhersehbare, im Ergebnis ungleiche und bereits deshalb ungerechte Resultate stehen. Das Integrationsziel wäre in hohem Maße gefährdet. Es ist daher an der Zeit, die oft betonte Stellung der grammatikalischen Auslegung für die europäische Interpretationslehre zu revidieren, ihre Bedeutung als die einer bloßen Hilfsfunktion, die nicht mehr als einen ersten Zugang zum Inhalt der Norm verschafft, zu definieren. Der Wortlautinterpretation verbleibt dann die Funktion, zunächst als Ausgangspunkt für eine weiterführende Interpretation und umgekehrt als Absicherung eines mit Hilfe anderer Methoden gefundenen Ergebnisses zu dienen.53 Einzelheiten, insbesondere die genaue Bestimmung der Restbedeutung des Wortlautarguments, sind noch ungeklärt. Es lohnt eine intensivere wissenschaftliche Diskussion, die praxisbezogen, 51
Konkrete Zahlen, allerdings noch aus der Zeit vor der Osterweiterung, liefert
Schübel-Pfister 52
(Fn. 13), S. 89; Lahne (Fn. 50), S. 317 ff.
Bydlinski, Unentbehrlichkeit und Grenzen methodischen Rechtsdenkens, AcP 188 (1988), S. 447 (448 ff.); vgl. jetzt monographisch v. Arnauld, Rechtssicherheit. Perspektivische Annäherungen an eine idee directrice des Rechts (Tübingen 2006, non vidimus). 53 Köndgen, Editorial: Europäische Methodenlehre: zu wichtig, um sie nur den Europarechtlern zu überlassen, GPR 2005, S. 105 (105); zum Diskussionsstand vgl. auch Beiträge in: Riesenhuber (Hrsg.) (Fn. 33).
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nicht auf überzogen theoretischer oder gar metajuristischer Ebene geführt werden sollte. Festzuhalten bleibt, dass im Gemeinschaftsrecht auf den Wortlaut, als Auslegungsmaßstab oder -grenze, noch weniger Verlass ist als im innerstaatlichen Recht. Der Bedeutungsverlust des Wortlautarguments ist durch einen Bedeutungszuwachs vornehmlich des teleologischen Elements aufzufangen. 54 Insoweit sind die Ausführungen von Generalanwalt Leger in seinen Schlussanträgen zu der Rechtssache C-350/03 („Schulte") bemerkenswert, wenn er vorträgt, dass die teleologische Auslegung keine Anwendung finde, sofern der Wortlaut der fraglichen Vorschrift absolut klar und eindeutig sei. 55 Ob Generalanwalt Leger im Vorfeld seines Befunds, der Wortlaut sei absolut klar und eindeutig, einen umfassenden Sprachvergleich vorgenommen hat, geht aus seinen Ausführungen nicht hervor; fehlende Ausführungen hierzu indizieren das Gegenteil. Nach dem bisher Gesagten erscheint allerdings zweifelhaft, ob ein wirklich eindeutiger und klarer Wortlaut einer gemeinschaftsrechtlichen Norm zu erreichen ist.
2. Notwendigkeit einer „historischen Auslegung im weiteren Sinne" Zusätzlich zu der unbestrittenen Schlüsselrolle des telos bei der Interpretation des Gemeinschaftsrechts verspricht langfristig 56 noch ein weiteres Verfahren dort Abhilfe, wo die grammatikalische Auslegung an ihre Grenzen stößt: die so zu nennende „historische Auslegung im weiteren Sinne" 57 , die sogleich näher zu erläutern sein wird.
54
So Baldus (Fn. 30), S. 114; vgl. auch Buck , Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 158 ff.; Calliess, Grundlagen, Grenzen und Perspektiven europäischen Richterrechts, NJW 2005, S. 929 (929 ff.); Guigan, Les Methodes de la Cour de Justice des Communautes Europeennes, Tome 1,
1979, S. 417; Degan (Fn. 42), S. 195; Anweiler (Fn. 24), S. 168 ff., Bleckmann, Europa-
recht: Das Recht der Europäischen Gemeinschaft, 1997, Rn. 254 ff., Grundmann/Riesenhube r, Die Auslegung des europäischen Privat- und Schuldvertragsrechts, JuS 2001, S. 529 (534); Hommelhoff\ in: Schulze (Hrsg.): Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, 1999, S. 29, 32 ff.; Langenbucher (Fn. 41), S. 28; Schulte-Nölke, in: Reiner Schulze (Hrsg.): Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, 1999, S. 143, 152 ff. 55 GA Leger, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-350/03, Schulte, Rn. 88 (noch nicht in der amtlichen Sammlung). 56 Die historische Auslegung im weiteren Sinne stellt eine komplexe Vorgehensweise dar, die nicht von jedem Rechtsanwender spontan geleistet werden kann, sondern vielmehr zunächst als wissenschaftlich begleitende Arbeit die fortschreitende Systembildung des Gemeinschaftsprivatrechts unterstützen sollte. Sobald sukzessiv Untersuchungsergebnisse vorliegen, können diese sodann vom Rechtsanwender für seine Exegese genutzt werden, vgl. hierzu Erläuterungen unten im Text. 57 Zur Begrifflichkeit Baldus, in: ders. (Fn. 9), passim.
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Wie bereits erwähnt, strebt das Gemeinschaftsprivatrecht, weil es Privatrecht ist, nach allseitigem Interessenausgleich. Es ist bei aller politischen Finalität nicht mehr primär Verbraucherrecht oder Recht der grenzüberschreitend tätigen Unternehmen, sondern - in seinem Anwendungsbereich - eine nach Vollständigkeit strebende Ordnung potenziell sämtlicher Rechtsbeziehungen zwischen Privaten; es ist also in zunehmendem Maße System. Jedes Rechtssystem hat zur Aufgabe, Wertentscheidungen in eine möglichst technische (in deutscher Tradition formuliert: subsumtionsfähige) Struktur zu übersetzen. Die Auslegung des Gemeinschaftsprivatrechts strebt nach Systembildung im Lichte des Integrationszwecks. Dabei kann sie nicht allein den isolierten Intentionen des Gemeinschaftsgesetzgebers hinsichtlich einzelner Rechtsakte folgen. Vielmehr verlangt es die Funktion des Gemeinschaftsprivatrechts, alle in der jeweiligen Norm angelegten Auslegungsmöglichkeiten zu nutzen. Das kann bedeuten, auf ältere, etwa mitgliedstaatliche Auslegungen der Begriffe zurückzugreifen, die Gegenstand der europäischen Norm sind. Der europäische Rechtsraum bietet ein einzigartiges Labor für die Funktionsfähigkeit bestimmter Regelungstechniken und -inhalte: Aufgrund der geschichtlichen Entwicklung sind die dogmatischen Grundlinien zwar gemeinsam, gleichwohl aber vielfach unterschiedlich. So lässt sich studieren, welche Veränderungen im Detail es sind, die unter welchen Bedingungen zu unterschiedlichen Deutungen verwandter oder gleicher Begriffe geführt haben. Soweit in der Vergangenheit (gute wie schlechte) Erfahrungen mit bestimmten Formulierungen, Begriffen oder Deutungen gemacht worden sind, kann man versuchen, diese Erfahrungen auf höherer Integrationsebene zu nutzen. Begriffe und Konstruktionen reisen mit ihrem historischen Gepäck, mit traditionellen Inhalten, Problemen und Konnotationen, an denen man nicht ohne Effizienzoder Gerechtigkeitsverlust vorbeigehen kann. Eine zentrale Rolle spielt hierbei das römische Privatrecht, wie heute weithin anerkannt ist: 58 Sowohl die klassischen Grundlagen zivilrechtlichen Interessenausgleichs als auch die dogmatischen Ausprägungen dieser Regeln aus Mittelalter und Neuzeit erschließen jenes Potenzial von Argumenten, Wertungen und Lösungsmodellen, welches das europäische Privatrecht prägt. 59 Die Einbeziehung dieses gewachsenen Erfahrungswissens der unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Rechtstraditionen in die Auslegung charakterisiert die historische Auslegung im weiteren Sinne. Wie aber ist es nun möglich, wenn man eine historische Auslegung im weiteren Sinne zulässt, die in einer gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift zusam-
58 Vgl. statt aller Zimmermann, The Law of Obligations, 1996; ders., Das römischkanonische ius commune als Grundlage europäischer Rechtseinheit, JZ 1992, S. 8 ff. 59 Aus der umfangreichen Literatur vgl. zuletzt m.w.N. Santos, Was erwartet sich die Geschichte des Europäischen Privatrechts von der deutschen Rechtswissenschaft?, in: Baldus/Müller-Graff (Hrsg.) (Fn. 9).
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mengefügten Elemente aus verschiedenen Traditionen praktikabel aufeinander abzustimmen? Zunächst muss ein solcher Rückgriff auf mitgliedstaatliches Erfahrungswissen selbstverständlich methodenkonform geschehen, insbesondere ohne Verletzung des Grundsatzes, dass Begriffsbildung im Europarecht im Zweifel - im Interesse des Integrationszieles - autonom zu erfolgen hat. 60 Außerdem bedarf es einer Methode dafür, wie man sinnvolle Anregungen aus der gemeinsamen Regelungstradition aufnehmen kann, und zwar in einer Weise, die für den durchschnittlichen Rechtsanwender praktisch handhabbar ist. Hierfür sind die maßgeblichen Traditionsstränge der jeweiligen Rechtsinstitute primär rechtsvergleichend zu identifizieren, nicht institutionell bzw. verfassungsrechtlich. Es gibt beispielsweise keinerlei Vermutung dafür, dass die Bedeutung oder die Gefahren einer bestimmten im (deutschen) Bürgerlichen Gesetzbuch gewählten Lösung für das Verständnis einer europäischen Norm am besten der deutsche Vertreter im Rat bewerten kann. Hier kommt es im Gegenteil zunächst allein darauf an, wer imstande ist, das tatsächlich praktizierte Recht richtig einzuschätzen und Juristen anderer Rechtskulturen richtig zu erklären. Das aber kann ein beliebiger deutscher Jurist oder ein ausländischer Komparatist oder ein mit der Materie befasster Kommissionsbeamter möglicherweise besser als der Ratsvertreter; jedenfalls hat die Organfunktion und Organmitgliedschaft für diese Form historischer Auslegung keine Bedeutung. Rechtsvergleichung folgt der funktionellen Methode: 61 Sie sucht Problem und Lösungsmodell, anstatt sich an gesetzlichen Formulierungen festzuhalten; aber im Zusammenhang des Gemeinschaftsprivatrechts muss am Ende wieder eine subsumtionsfähige Formulierung stehen, damit künftige Entscheidungen möglichst weit vorhersehbar werden. Hier berühren sich Rechtsgeschichte, Rechtsvergleichung und Gesetzgebungslehre, alle drei im Dienst der Dogmatik: Was die europäische Norm zu leisten vermag, das lässt sich im Blick auf bekannte Ausprägungen des in der Norm niedergelegten Gedankens besser sagen als unter Ausblendung dieser Erfahrungen. Dagegen mag man zu Recht einwenden, dass ein solch hoch komplexes Prozedere für den durchschnittlichen Rechtsanwender praktisch kaum handhabbar ist. So ist zunächst die Wissenschaft aufgerufen, die maßgeblichen Traditionsstränge der jeweiligen Rechtsinstitute rechtsvergleichend zu identifizieren und auf ihren heutigen Erkenntnis wert zu prüfen. Auch die Kommission leistet hierzu ihren Beitrag, indem sie idealerweise ihre Entwürfe durch rechtsvergleichende Studien untermauert. Je gründlicher und kritischer sie alle Modelle 60
Zu der Frage, wann die Begriffsbildung autonom oder durch Verweis auf die nationalen Rechtsordnungen zu erfolgen hat, vgl. grundsätzlich Scheibeier , Begriffsbildung durch den Europäischen Gerichtshof, 2004. 61 Kötz, Rechtsvergleichung und gemeineuropäisches Privatrecht, in: Müller-Graff (Hrsg.), Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft, 2. Auflage 1999, S. 149(150).
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prüft, desto mehr Überzeugungskraft können ihre Vorschläge beanspruchen. Sobald Untersuchungsergebnisse vorliegen, können diese vom Rechtsanwender für seine Interpretationsarbeit fruchtbar gemacht werden. Im Ergebnis stellt sich die historische Auslegung im weiteren Sinne zugleich als historisch-vergleichende und als systembewusste Auslegung dar. Sie ist keine rein „rechtsvergleichende Auslegung", weil sie nicht einfach das „beste" Modell sucht, woher auch immer gewonnen, sondern das, das am besten in den rechtsgeschichtlichen Hintergrund der jeweiligen europäischen Norm passt. Gleichzeitig versteht sie das Gemeinschaftsprivatrecht als sich entwickelndes System, als Neukombination zumeist überkommener Elemente, von denen zu vermuten ist, dass es auch für ihr systematisches Zusammenspiel Vorbilder in der gemeinsamen Tradition gibt.
IV. Ausblick Europa befindet sich in einem Prozess voranschreitender Integration. Bislang freilich bestehen im europäischen Rechtsraum zumindest 62 fünfundzwanzig grundsätzlich unterschiedliche Methodenlehren nebeneinander fort. Trotz der Erkenntnis, dass bei der Auslegung angeglichenen Rechts auch in methodischer Hinsicht europäische Vorgaben zu beachten sind: Es verbleiben genügend Spielräume dafür, dass Wertungsunterschiede sich im Auslegungsergebnis niederschlagen können. Fehlende Ergebnisgleichheit gefährdet aber das Integrationsziel. Seiner Grundidee nach gibt das Gemeinschaftsrecht lediglich Ergebnisse vor. Es bestimmt das Ziel, etwa die Realisierung des Binnenmarktes, nicht hingegen in allen Details den Weg dorthin. Wie die Mitgliedstaaten gemeinschaftsrechtskonforme Ergebnisse erreichen, bleibt dem Grundsatz nach ihnen überlassen. Methodenfragen fallen daher nicht prinzipiell in die Zuständigkeit des europäischen Gesetzgebers. Wenn aber die nationalen Rechtssysteme beziehungsweise deren Protagonisten ihre Methodenfreiheit durch konsequentes Ignorieren der europarechtlich verlangten Ergebnisse missbrauchen, dann können Situationen entstehen, in denen dem geschädigten Bürger im Einzelfall nur die Staatshaftung hilft. 63 Langfristig wirft ein derart unbefriedigender Zustand die Grundsatzfrage auf, inwieweit in Europa auch die Methodik der Rechtsfindung vereinheitlicht werden sollte, um gemeinschaftsrechtskonforme Ergebnisse zu erzielen. Die weitere Frage lautete dann, welche Form eine solche Vereinheitlichung anneh62
Auf regionale Rechte und ihre Methodenlehren ist hier nicht näher einzugehen. Zu hieraus resultierenden Problemen Baldus/Becker, „Quasi-Beihilfe" statt horizontaler Direktwirkung? Zur Vereinbarkeit der Francovich-Rechtsprechung des EuGH mit dem Rechtsgedanken des Binnenmarktes, in: EuR 1999, S. 375-394. 63
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men könnte. Wie dem auch sei: Eine intensivere Debatte über diese Problematik ist dringend geboten. Sie mag den Weg zu dogmatisch wie politisch überzeugenden und vor allem praktikablen Lösungen zeigen: zu Lösungen, die mehr Rechtsgleichheit im Binnenmarkt schaffen.
Innovative Impulse für das deutsche Umweltrecht durch europäisches Gemeinschaftsrecht Von Reinhard Hendler
I. Einleitung Der politische Gedanke der europäischen Integration, der die Menschen in Deutschland und den Nachbarstaaten einst bewog, symbolisch Schlagbäume an den Staatsgrenzen einzureißen, hat derzeit keine Konjunktur. In Frankreich und in den Niederlanden ist der Europäische Verfassungsvertrag, der einen bedeutsamen Meilenstein auf dem beschwerlichen Weg zur Integration darstellen könnte, in Volksabstimmungen mit unterschiedlicher, aber jeweils deutlicher Mehrheit abgelehnt worden. Es spricht einiges dafür, dass auch das deutsche Volk, hätte es sich plebiszitärdemokratisch äußern können, dem Verfassungsvertrag - und zuvor schon der Einführung des Euro - widersprochen hätte. Dieses Risiko wollten die deutschen Politiker offenbar nicht eingehen. Das verbreitet vorgetragene Argument, zu derartigen Fragen seien im Grundgesetz keine Volksabstimmungen vorgesehen, ist zwar zutreffend, besitzt aber dennoch keine Überzeugungskraft. Wenn der politische Wille vorhanden gewesen wäre, das Volk über den Verfassungsvertrag und die Einführung des Euro entscheiden zu lassen, hätte das Grundgesetz mit den erforderlichen Zwei-DrittelMehrheiten in Bundestag und Bundesrat geändert werden können - so wie es bisher bereits durch mehr als 50 verfassungsändernde Gesetze in anderen, möglicherweise weniger bedeutsamen Angelegenheiten geschehen ist. Die Ursachen dafür, dass der europäische Integrationsgedanke mittlerweile viel von seinem früheren öffentlichen Ansehen verloren hat, sind - bei seriöser Betrachtung - nicht leicht zu ermitteln, noch schwerer zu verifizieren, in jedem Fall aber vielfältig. Dass eine politische Vision ihre faszinierende Kraft in dem Maße einbüßt wie sie zur Realität wird, dürfte als Ergebnis der Ursachenforschung nicht ausreichen. Im Übrigen wird über die Ursachen vielfach spekuliert und politisch lebhaft gestritten. Diese Kontroverse mag jedoch auf sich beruhen bleiben, da es im folgenden um das Umwelt recht geht, das auf europäischer Ebene weniger vom primären Vertragsrecht als vielmehr vom sekundären Richtlinien- und Verordnungsrecht geprägt ist. Insofern sind die hohen politischen Wogen, die den Verfassungsvertrag umspülen, für den hier zu erörternden Gegenstand nur von untergeordneter Bedeutung. Primärrecht vergeht, Se-
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kundärrecht besteht. Die bekannte Charakterisierung des Verhältnisses von nationalem Verfassungs- und Verwaltungsrecht durch Otto Mayer 1 vermag auch die Zusammenhänge im supranationalen Recht zu veranschaulichen. Wenngleich anzunehmen ist, dass sich die aktuellen politischen Vorgänge um den Verfassungsvertrag auf die Ausdehnung und Fortentwicklung des Sekundärrechts retardierend auswirken werden, so ist doch nicht zu übersehen, dass der mittlerweile geschaffene sekundärrechtliche Normenbestand - namentlich im Bereich des Umweltrechts - einen durchaus eindrucksvollen Umfang erreicht hat. An dem vorhandenen Umfang wird sich voraussichtlich auch nichts ändern, beschränkt wird allein der Zuwachs, was freilich bei vielen Menschen keine größere Beunruhigung auslösen dürfte. Ein gedrosseltes Tempo bei der künftigen umweltrechtlichen Normenproduktion auf der EU-Ebene während eines überschaubaren Zeitraums lässt sich in der Tat als Chance für Konsolidierung und praktische Erprobung begreifen. Allerdings ist auch schon der bisherige europäische Einfluss auf das deutsche Umweltrecht teilweise lebhaft beklagt und bedauert worden. Dies beginnt bereits bei der europäischen Rechtssprache, deren „fortgeschrittener Verfall" konstatiert und entsprechend kommentiert worden ist. 2 Es bleibt indes zu fragen, welcher sprachliche Qualitätsstandard im supranationalen Recht früher einmal vorhanden war, der gegenwärtig fortschreitend verfällt. Dass europäische Rechtstexte aus deutscher Sicht vielfach fremdartig und sperrig wirken, liegt daran, dass sie aus dem Bestreben hervorgegangen sind, mehrere inhaltlich differierende und zudem in verschiedenen Sprachen verfasste nationale Rechtsordnungen vor dem Hintergrund einer heterogenen politischen Interessenlage zu harmonisieren. Ein derartiges Vorhaben kann zur gelingen, wenn in erheblichem Maße Formelkompromisse gebildet werden, die sprachliche Präzisionsmängel, konzeptionelle Inkonsistenzen und systematische Defizite einschließen. A l l dies bedeutet, dass die entsprechenden Rechtstexte hohe Anforderungen an die Fachkompetenz der juristischen Interpreten, namentlich an deren Einfühlungsvermögen, Konstruktionsverständnis und Systematisierungsfähigkeiten stellen. Der Jurist steht insoweit vor einer schwierigen, aber gerade deshalb auch besonders reizvollen Aufgabe. Abgesehen hiervon sind im Zuge der Ausprägung einer supranationalen Rechtsordnung bereits zentrale Bestandteile juristischer Begriffs- und Systembildung in Deutschland durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes in Frage gestellt worden. Dies betrifft z.B. die in der deutschen öffentlichrechtlichen Dogmatik kunstvoll ausgestaltete Kategorie der Verwaltungsvorschriften. Bei den Verwaltungsvorschriften handelt es sich um verwaltungs-
1
Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. I, 3. Aufl. 1924, S. VI. Reinhardt, Europäische Rechtssprache. Verspätete Randbemerkungen über einen fortgeschrittenen Verfall, NJW 2003, 3349 ff. 2
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internes Recht, dem nach verbreiteter, wenngleich keineswegs unbestrittener Auffassung unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise unmittelbare Außenwirkung (d.h. bindende Kraft gegenüber Bürgern und Gerichten) zukommt. Einen derartigen Ausnahmefall bilden namentlich die sog. normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften, die im Bereich des Umweltrechts besonders verbreitet sind und hier vor allem Grenzwerte enthalten.3 Der Europäische Gerichtshof entschied, dass Verwaltungsvorschriften zur Umsetzung von EG-Rechtlinien weitgehend untauglich seien, weil sie nicht die erforderliche unbestreitbare Verbindlichkeit (im Sinne unmittelbarer Außenwirkung) hätten.4 Erst kürzlich hat der Europäische Gerichtshof zudem durch eine Präzisierung des gemeinschaftsrechtlichen Abfallbegriffs das deutsche Umweltrecht erneut in Verlegenheit gebracht. 5 Bereits im Abfallbeseitigungsgesetz des Bundes von 1972 wurden Abfälle als bewegliche Sachen definiert. 6 An diesem Beweglichkeitsmerkmal hat sich ungeachtet der zwischenzeitlich erfolgten Fortentwicklung des gesetzlichen Abfallrechts in Deutschland bis heute nichts geändert.7 Seit Jahrzehnten gilt daher hierzulande der allseits anerkannte Lehrsatz, dass kontaminiertes Erdreich vor der Auskofferung nicht als bewegliche Sache und dem zufolge auch nicht als Abfall zu qualifizieren ist. 8 Der Europäische Gerichtshof hat indes nunmehr erklärt, dass „mit Kraftstoffen verunreinigtes Erdreich, auch wenn es nicht ausgehoben worden ist", Abfall im Sinne der Abfallrahmenrichtlinie der EG darstellt. 9 Dies hat in Deutschland mit Rücksicht auf den Anwendungsvorrang des EG-Rechts gegenüber dem nationalen Recht
3
Vgl. dazu BVerwGE 72, 300 (320 f.); 107, 338 (340 ff.); 110, 216 (218 f.); 114, 342 (344 f.); Hill, Normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften, NVwZ 1989, 401 ff.; Jachmann, Die Bindungswirkung normkonkretisierender Verwaltungsvorschriften, DV 28 (1995), 17 ff.; Hendler, Verwaltungsvorschriften zur Konkretisierung technischer Standards im Umweltrecht, in: Marburger/Reinhardt/Schröder (Hrsg.), Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts 1997, 1997, S. 55 ff.; Uerpmann, Normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften im System staatlicher Handlungsformen, BayVBl. 2000, 705ff.; Faßbender, Neues zur Bindungswirkung normkonkretisierender Verwaltungsvorschriften, UPR 2002, 15 ff. 4 Vgl. z.B. EuGH, EuZW 1991, 761 (762); NVwZ 1991, 866 (867). Kritisch zu dieser Rechtsprechung Reinhardt, Abschied von der Verwaltungsvorschrift im Wasserrecht?, DÖV 1992, 102 ff. 5 EuGH, NVwZ 2004, 1341 ff. 6 § 1 Abs. 1 AbfG (1972). 7 § 3 Abs. 1 KrW-/AbfG. 8 Vgl. z. B. Altenmüller, Zum Begriff „Abfall" im Recht der Abfallbeseitigung, DÖV 1978, 27 (29); Schink, Abfallrechtliche Probleme der Sanierung von Altlasten, DVB1. 1985, 1149 (1151); Schwermer, in: Kunig/Schwermer/Versteyl, Abfallgesetz, 2. Aufl. 1992, § 1 Rn. 5; Kunig, in: Kunig/Paetow/Versteyl, Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz, 2. Aufl. 2003, § 3 Rn. 13 (m. w. N. aus der Rspr.). 9 EuGH, NVwZ 2004, 1341 (1341-Zitat-, 1342).
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eine lebhafte umweltrechtliche Diskussion ausgelöst,10 in der unter anderem auch die Frage aufgeworfen worden ist, ob der Eigentümer eines Altlastengrundstücks möglicherweise als Betreiber einer illegalen Abfalldeponie angesehen und dem entsprechend strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann. 11 Allerdings ist insoweit nach den ersten Diskussionsergebnissen nichts zu befürchten. Es scheint sich ohnehin der Standpunkt durchzusetzen, dass sich die neue Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum gemeinschaftsrechtlichen Abfallbegriff auf das deutsche Recht nur marginal auswirkt. Gleichwohl zeigt sich hier deutlich, dass selbst klassische Kategorien des nationalen Umweltrechts nicht vor Veränderungen durch die europäische Rechtsentwicklung geschützt sind. Verfehlt wäre es allerdings, das europäische Recht ausschließlich als Bedrohung vertrauter Rechtsstrukturen und damit als repressive Erscheinung zu begreifen. Denn eine derartige Einschätzung würde der von ihm entwickelten Innovations- und Schubkraft zugunsten einer Effektivierung des Umweltschutzes bei weitem nicht gerecht. Einige ausgewählte Beispiele umweltbedeutsamer EG-Richtlinien mögen dies verdeutlichen.
I I . Deutsches Umweltrecht unter europäischem Reformdruck Unterzieht man die Entwicklung des europäischen Umweltrechts einer näheren Betrachtung, so zeigt sich, dass sie während der beiden vergangenen Jahrzehnte eine erhöhte Dynamik gewonnen und für das deutsche Recht mannigfache Reformimpulse geliefert hat. In der Zeit davor war das Verhältnis zwischen europäischem und deutschem Umweltrecht weitgehend (wenn auch niemals vollständig) von einem inhaltlichen Gleichklang geprägt. 12 Der Grund hierfür
10
Vgl. neben anderen Versteyl , Altlast = Abfall - Vom Ende des „beweglichen" Abfallbegriffs?, NVwZ 2004, 1297 ff.; Dieckmann , Abfalleigenschaft von verunreinigtem Erdreich, AbfallR 2004, 280 ff.; Petersen/Lorenz , Das „Van de Walle"-Urteil des EuGH - Sanierung von Altlasten nach Abfallrecht?, NVwZ 2005, 257 ff.; Wrede , Kontaminierter Boden als Abfall, NuR 2005, 28 ff; Jochum , Neues zum europäischen Bodenschutzund Abfallrecht, NVwZ 2005, 140ff.; Leitzke/Schmitt , Das Ende des BundesBodenschutzgesetzes?, UPR 2005, 16 ff.; Mager , Verwirrung um den Abfallbegriff Zur Bedeutung der Texaco-Entscheidung des EuGH für das deutsche Abfall- und Bodenschutzrecht, VB1BW 2005, 289 ff.; Bichel , Die schädliche Boden Veränderung als Abfall, DÖV 2005, 994 ff. 11 12
Petersen/Lorenz
(Fn. 10), S. 257.
Breuer , Zunehmende Vielgestaltigkeit der Instrumente im deutschen und europäischen Umweltrecht - Probleme der Stimmigkeit und des Zusammenwirkens, NVwZ 1997, 833 (833); Kloepfer , Die europäische Herausforderung - Spannungslagen zwischen deutschem und europäischem Umweltrecht, NVwZ 2002, 645 (646); Schmalz , Die europäische Umweltrechtssetzung als Arbeitsfeld der Bundesländer?, NdsVBl. 2005, 89 (89); Knopp , Europarechtliche Dominanz und deutscher Konzeptwechsel an den Beispielen Emissionsrechtehandel und Umwelthaftung, UPR 2004, 379 ff.
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besteht vor allem darin, dass das deutsche Umweltrecht seinerzeit bereits verhältnismäßig weit entwickelt war und deshalb auf europäischer Ebene eine Vorreiterrolle auszuüben vermochte. Etwa seit Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts geht diese Rolle jedoch zunehmend verloren. Das deutsche Umweltrecht büßt seine Vorbildwirkung und beispielgebende Kraft sukzessiv ein und wird seinerseits verstärkt zur Anpassung an Regelungsmodelle und Rechtsstrukturen gezwungen, die ihm bis dahin fremd waren. Infolgedessen mehren sich hierzulande die Schwierigkeiten und Verspätungen bei der Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Richtlinien auf dem Gebiet des Umweltschutzes. Deutschland wandelt sich vom Vorreiter zum Nachläufer der europäischen Umweltrechtsentwicklung. Dieser Wandel wird nicht selten (auch) als Vernachlässigung nationaler Interessenvertretung auf der europäischen Bühne gedeutet und kritisiert. Danach sind etwa die vielfältigen Möglichkeiten, durch hinreichend qualifiziertes Fachpersonal am Willensbildungs- und Entscheidungsprozess innerhalb der EG mitzuwirken und dort Einfluss auszuüben, von deutscher Seite nur unzulänglich ausgeschöpft worden. 13 Ob es sich hierbei um eine zutreffende Analyse handelt, mag an dieser Stelle offenbleiben. Zumindest ebenso spannend und für den Rechtswissenschaftler ergiebiger dürfte die nachstehend näher zu betrachtende inhaltliche Frage sein, inwieweit sich das europäische Umweltrecht durch moderne Lösungsansätze und weiterführende Regelungskonzepte auszeichnet und deshalb möglicherweise eine besondere sachliche Überzeugungskraft besitzt.
1. Die Richtlinien zur Umweltverträglichkeitsprüfung und zur Strategischen Umweltprüfung Durch die Richtlinie zur Umweltverträglichkeitsprüfung aus dem Jahr 198514 wurde ein - aus deutscher Sicht - neues Instrument des Umweltrechts eingeführt. Zwar bestanden seinerzeit in Deutschland bereits einige Ansätze für eine Umweltverträglichkeitsprüfung, doch haben diese nicht das Stadium außenwirksamen Rechts erreicht. 15 Die Richtlinie ordnete an, dass sie innerhalb einer Frist von drei Jahren, die 1988 endete, durch die Mitgliedstaaten in nationales Recht umzusetzen war. 16 Das deutsche Umsetzungsgesetz wurde vom Bund
13 14
Vgl. z.B. Schmalz (Fn.12), S. 90; Kloepfer (Fn.12), S. 655.
Richtlinie des Rates über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (85/337/EWG) vom 27.6.1985 (ABl. EG Nr. L 175 S. 40), inzwischen geändert durch Richtlinie 97/11EG vom 3.3.1997 (ABl. EG Nr. L 73 S. 5) und durch Richtlinie 2003/35/EG vom 26.5.2003 (ABl. EU Nr. L 156 S. 17). 15 Vgl. dazu Erbguth/Schink , Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung, 2. Aufl. 1996, Einl. Rdnrn. 1 a, 2. 16 Art. 12 Abs. 1 UVP-RL (1985).
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jedoch erst im Jahr 1990, also mit deutlicher Verspätung erlassen. 17 Zur Erklärung der Verspätung hieß es in der Fachliteratur, dass in den mit der Umsetzung befassten Ministerien ursprünglich die Auffassung bestand, die deutsche Rechtsordnung genüge bereits weitgehend den Anforderungen der Richtlinie und bedürfe daher nur marginaler Änderungen. Als das wahre Ausmaß der gebotenen Rechtsanpassung erkannt wurde, habe die Zeit für eine fristgerechte Erledigung der erforderlichen Änderungsarbeiten nicht mehr ausgereicht. 18 Bei der Umweltverträglichkeitsprüfung geht es darum, im Zuge der Genehmigung von (größeren) Bauvorhaben, insbesondere Infrastrukturprojekten, nähere Untersuchungen zu den ökologischen Auswirkungen anzustellen, um die behördlichen Entscheidungsgrundlagen zu verbessern. Eine bedeutsame Frage besteht hierbei darin, ob Standortalternativen mit geringeren Umweltbeeinträchtigungen in Betracht kommen. Derartige Alternativenprüfungen stoßen jedoch insofern auf enge Grenzen, als über Standorte vielfach bereits auf vorgelagerten Planungsebenen, etwa auf der Ebene der Regionalplanung, verbindlich entschieden wird. Deshalb erweist es sich als folgerichtig, mit den ökologischen Untersuchungen bereits bei den Plänen zu beginnen, die rechtliche Vorgaben für Projektgenehmigungen enthalten. Dieses Ziel verfolgt die im Jahr 2001 ergangene Richtlinie zur Strategischen Umweltprüfung, 19 die auch als Plan-UVP-Richtlinie bezeichnet wird. 20 Die Umsetzungsgesetze des Bundes hierzu, das EAG Bau 21 und das SUPG, 22 sind in den Jahren 2004 bzw. 2005 erlassen worden.
17 Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie des Rates vom 27.6.1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (85/337/EWG) vom 12.2.1990 (BGBl. I S. 205). 18 Vgl. dazu Jarass, Die Umsetzung der EG-Richtlinie zur Umweltverträglichkeitsprüfung in nationales Recht, NuR 1991, 201 (201). 19 Richtlinie 2001/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme vom 27.6.2001 (ABl. EG Nr. L 197 S. 30). 20 Vgl. z. B. Ginzky, Die Richtlinie über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme, UPR 2002, 47 (47); Lambrecht, Die Erforderlichkeit einer FFH-Verträglichkeitsprüfung für den Bundesverkehrswegeplan und die Bedarfspläne - unter besonderer Berücksichtigung der Anforderungen der Richtlinie über die UVP-Pflicht von Plänen -,NuR 2002, 265 (275): Lell/Sangenstedt, Bezüge zwischen der Plan-UVP und der Projekt-UVP, UVP-report 2001, 123 (123). 21 Gesetz zur Anpassung des Baugesetzbuchs an EU-Richtlinien (Europarechtsanpassungsgesetz Bau - EAG Bau) vom 24.6.2004 (BGBl. I S. 1359). Vgl. dazu beispielsweise Söfker, Umsetzung der Plan-UP-Richtlinie im Baugesetzbuch, in : Hendler/Ibler/Martinez Soria (Hrsg.), „Für Sicherheit, für Europa", Festschrift für Volkmar Götz, 2005, S. 143 ff.; Schubert, Die bauplanungsrechtliche Umweltprüfung im Spannungsfeld EG-rechtlicher Vorgaben und kommunaler Praktikabilitäsansprüche, NuR 2005, 369 ff.; Finkelnburg, Die Änderungen des Baugesetzbuchs durch das Europarechtsanpassungsgesetz Bau, NVwZ 2004, 897 ff.; Krautzberger, Die Umweltprüfung im Bauleitplanverfahren nach dem EAG Bau 2004, UPR 2004, 401 ff.; Erbguth, EAG
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Wenngleich die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über die Umweltverträglichkeitsprüfung für Projekte und die Strategische Umweltprüfung für Pläne den nationalen Bestrebungen zur Vereinfachung und Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren zuwiderlaufen, so kann doch nicht übersehen werden, dass sie die ökologische Rationalität sowie die bürgerschaftliche Akzeptanz hoheitlicher Entscheidungen zu verbessern vermögen. Ob diese Verbesserungen den damit verbundenen Aufwand zu rechtfertigen vermögen, ist eine politische Bewertungsfrage, deren Beantwortung in hohem Maße von individuellen Präferenzen, vor allem der persönlichen Wertschätzung des Umweltschutzes abhängt. Dass jedenfalls die gemeinschaftsrechtliche Einführung der Strategischen Umweltprüfung angesichts der bereits etablierten Umweltverträglichkeitsprüfung einer inneren Logik entspricht, dürfte kaum in Abrede zu stellen sein. Gleichwohl ist die diesbezügliche Initiative aus „Brüssel" seinerzeit in Deutschland, namentlich beim Bundesrat, 23 auf erheblichen, wenngleich letztlich erfolglosen Widerstand gestoßen. Dem lässt sich entnehmen, dass die Strategische Umweltprüfung hierzulande auf absehbare Zeit nicht realisiert worden wäre, wenn das supranationale Recht keine entsprechenden Vorgaben enthielte.
2. Die Richtlinie über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung Zwar beruhte bereits die Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts erlassene Richtlinie zur Umweltverträglichkeitsprüfung 24 auf dem Konzept des integrierten Umweltschutzes, doch wurde dieses Konzept auf der europäischen Ebene erst später besonders betont und explizit in den Vordergrund gerückt. Von entscheidender Bedeutung ist insoweit die Richtlinie über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung aus dem Jahr 1996, BauE: Änderungen des Raumordnungsrechts, NuR 2004, 91 ff.; Schreiber, Die Umsetzung der Plan-UP-Richtlinie im Raumordnungsrecht - eine Zwischenbilanz, UPR 2004, 50 ff.; Jessel, Die Integration von Umweltbelangen in die Entscheidungsfindung in der Bauleitplanung, UPR 2004, 408 ff.; Pietzcker/Fiedler, Die Umsetzung der Plan-UPRichtlinie im Bauplanungsrecht, DVB1. 2002, 929 ff. 22 Gesetz zur Einführung einer Strategischen Umweltprüfung und zur Umsetzung der Richtlinie 2001/42/EG (SUPG) vom 25.6.2005 (BGBl. I S. 1746). Darstellung und Würdigung der Regelungen bei Erbguth/Schubert, Das Gesetz zur Einführung einer Strategischen Umweltprüfung und zur Umsetzung der Richtlinie 2001/42/EG (SUPG), ZUR 2005, 524 f f , Hendler, Das Gesetz zur Einführung einer Strategischen Umweltprüfung, NVwZ 2005, 977 ff.; Erbguth, Die strategische Umweltprüfung im Abfallrecht, L K V 2006, 1 ff. 23 Vgl. dazu die Stellungnahme des Bundesrates vom 6.6.1997 zum Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission, BR-Drucks. 277/97 (Beschluss), sowie ferner Fischer/Kogel, Die Europakammer des Bundesrates, DVB1. 2000, 1742 ff. 24 Vgl. oben Fn. 14.
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die sog. IVU-Richtlinie, 25 deren Gegenstand bestimmte industrielle Tätigkeiten mit einem erhöhten ökologischen Belastungspotential sind. In den amtlichen Erwägungsgründen zu dieser Richtlinie heißt es: „Getrennte Konzepte, die lediglich der isolierten Verminderung der Emissionen in Luft, Wasser oder Boden dienen, können dazu führen, dass die Verschmutzung von einem Umweltmedium auf ein anderes verlagert wird, anstatt die Umwelt insgesamt zu schützen."26 Ein Beispiel für die angesprochene Verlagerung der Umweltverschmutzung besteht darin, dass sich Schadstoffe, die durch Filter zur Vermeidung von Luftverunreinigungen aufgefangen worden sind, anschließend als Abfallbeseitigungsproblem erweisen können. Der Grundgedanke des integrierten Umweltschutzes geht dahin, die einzelnen Umweltfaktoren (Boden, Wasser, Luft, Tiere, Pflanzen, Klima etc.) nicht nur mehr oder minder isoliert in den Blick zu nehmen, sondern dezidiert als Einheit und in ihren wechselseitigen Beziehungen zu betrachten. Es liegt auf der Hand, dass die praktische Umsetzung eines derartigen Konzepts für einen föderativen Staat eine besondere Herausforderung darstellt. Was als Sacheinheit begriffen werden soll, unterliegt nach dem Grundgesetz der Regelungsbefugnis von Bund und Ländern mit der Folge, dass insgesamt siebzehn verschiedene Gesetzgeber zur näheren Ausgestaltung berufen sind. Ob sich hieran alsbald etwas ändert, hängt davon ab, inwieweit die derzeit im zweiten Anlauf befindliche Föderalismus-Reform, deren Zielsetzung nicht zuletzt die Neuordnung der umweltrechtlichen Gesetzgebungskompetenzen umfasst, erfolgreich abgeschlossen werden kann. Allerdings wird das Konzept des integrierten Umweltschutzes nicht dadurch diskreditiert, dass die gesetzgeberische Umsetzung in Deutschland besondere Schwierigkeiten bereitet. Die grundsätzliche sachliche Überlegenheit dieses Konzepts gegenüber einem vornehmlich sektoral bzw. medial verstandenen und praktizierten Umweltschutz bleibt hiervon unberührt. Es ist indes nicht zu übersehen, dass die Durchsetzungschancen des integrierten Umweltschutzes in Deutschland ohne das europäische Recht wesentlich geringer wären.
3. Die Wasserrahmenrichtlinie Das der Wasserrahmenrichtlinie 27 zugrunde liegende Konzept der administrativen Gewässerbewirtschaftung nach Flussgebietseinheiten und Bewirtschaf25 Richtlinie 96/61/EG des Rates vom 24.9.1996 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung (ABl. EG Nr. L 257 S. 26), geändert durch Richtlinie 2003/87/EG vom 13.10.2003 (ABl. EU Nr. L 275 S. 32). 26 Erwägungsgrund (7) IVU-RL. 27 Richtlinie 2000/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.10.2000 zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der Wasserpolitik (ABl. EG Nr. L 327 S. 1).
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tungszielen stellt einen föderativ organisierten Staat ebenfalls vor erhebliche Probleme. Denn eine Flussgebietseinheit macht nicht an Ländergrenzen, ja nicht einmal an Staatsgrenzen halt, sondern erstreckt sich häufig darüber hinaus. Dies zwingt die deutschen Länder zu enger Zusammenarbeit und Abstimmung, teilweise auch mit ausländischen Behörden. Ein entsprechender Koordinationsauftrag ist den Ländern inzwischen durch das der Wasserrahmenrichtlinie angepasste Wasserhaushaltsgesetz des Bundes28 erteilt worden, 29 das für Deutschland im Übrigen insgesamt zehn Flussgebietseinheiten vorsieht, zu denen unter anderem der Rhein, die Donau, die Elbe sowie die Oder gehören. 30 Durch die wasserhaushaltsgesetzlichen Neuregelungen ist das überkommene deutsche Konzept der Gewässerbewirtschaftung abgelöst worden. Gekennzeichnet war dieses Konzept dadurch, dass sich das einzelne Land jeweils auf den in seinem Hoheitsgebiet liegenden Teil eines Gewässers konzentrierte und grundsätzlich frei darüber entschied, inwieweit eine Kooperation mit anderen Ländern und ausländischen Staatsorganen erfolgte. Der Wasserrahmenrichtlinie liegt demgegenüber die Zielsetzung zugrunde, ein Gewässer jeweils in einem größeren wasserwirtschaftlichen Zusammenhang zu betrachten, der von natürlichen Gegebenheiten und nicht von administrativen Zuständigkeitsgrenzen geprägt ist. Dass sich ein solches Organisations- und Steuerungsmodell - wie in der Fachliteratur geltend gemacht wird - mit der deutschen Staats- und Verwaltungsstruktur des Bundesstaates und der Selbstverwaltung nur schwer vereinbaren lässt,31 mag zutreffen. Zumindest setzt es eine erhöhte Flexibilität und Kooperationsbereitschaft der bestehenden Verwaltungseinheiten voraus. Dass das ganzheitliche Modell der Wasserrahmenrichtlinie der fragmentierenden Betrachtungsweise in der deutschen Gewässerbewirtschaftung sachlich unterlegen sein könnte, ist dagegen kaum anzunehmen und - soweit ersichtlich - bisher auch noch nicht behauptet worden. Für unser Land lässt sich über den konkreten Fall der Wasserrahmenrichtlinie hinaus ohnehin feststellen, dass die öffentliche Diskussion der entscheidenden Frage, inwieweit das europäische Recht zu Verbesserungen in der ökologischen Sache führt, zum großen Teil von der Klage über die normtextliche Gestaltung und die föderativen Schwierigkeiten der Umsetzung dieses Rechts überlagert wird.
28 Siebtes Gesetz zur Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes vom 18.6.2002 (BGBl. I S. 1914, ber. S. 2711). Vgl. dazu Kotulla, Das Wasserhaushaltsgesetz und dessen 7. Änderungsgesetz, NVwZ 2002, 1409 ff.; G.-M. Knopp, Die Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie im deutschen Wasserrecht, ZUR 2001, 368 ff.; Ruchay, Die Wasserrahmenrichtlinie der EG und ihre Konsequenzen für das deutsche Wasserrecht, ZUR 2001, 115 ff. 29 § 1 b Abs. 2 WHG. 30 § 1 b Abs. 1 Satz 1 WHG. 31 Breuer, Pflicht und Kür bei der Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie, ZfW 2005, 1 (8).
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4. Die Emissionshandelsrichtlinie Eine fast schon spektakuläre Neuerung des deutschen Umweltrechts stellt das in der Emissionshandelsrichtlinie 32 vorgesehene, durch den nationalen Gesetzgeber inzwischen umgesetzte Modell der Umweltzertifikate 33 dar. 34 Der Grundgedanke des Zertifikatmodells besteht darin, dass der Staat im Hinblick auf eine bestimmte Art der Umweltbeeinträchtigung ein begrenztes Kontingent an einzelnen Zertifikaten austeilt, die jeweils zu einer quantitativ festgelegten Beeinträchtigung berechtigen und unter den betreffenden Wirtschaftssubjekten gehandelt werden können. Aufgrund der Handelsvorgänge bildet sich ein Marktpreis. Ökonomische Anreize zum Verkauf von Zertifikaten entstehen insbesondere dann, wenn der Marktpreis über den Investitionskosten liegt, welche für die Vermeidung bzw. Verringerung der von den Zertifikaten abgedeckten Umweltbeeinträchtigung aufzubringen sind. Auf diese Weise wird erreicht, dass Umweltschutzmaßnahmen von den Wirtschaftssubjekten dort durchgeführt werden, wo die Verbesserung der ökologischen Verhältnisse am kostengünstigsten ist. In Deutschland hat eine jahrzehntelange, breit angelegte Diskussion stattgefunden, in der es darum ging, das aus Grenzwertfestsetzungen, Abgabenerhebungen, Selbstverpflichtungen der Wirtschaft etc. bestehende Instrumentarium 32 Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.10.2003 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft und zur Änderung der Richtlinie 96/61/EG des Rates (ABl. EU Nr. L 275 S. 32), geändert durch Richtlinie 2004/101/EG vom 27.10.2004 (ABl. EU Nr. L 338 S. 18). 33
Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2003/87/EG über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft vom 8.7.2004 (BGBl. I S. 1578), geändert durch Gesetz vom 21.7.2004 (BGBl. I S. 1756) und durch Gesetz vom 22.9.2005 (BGBl. I S. 2826); Gesetz über den nationalen Zuteilungsplan für Treibhausgas-Emissionsberechtigungen in der Zuteilungsperiode 2005 bis 2007 (Zuteilungsgesetz 2007 - ZuG 2007) vom 26.8.2004 (BGBl. I S. 2211); Gesetz zur Einführung der projektbezogenen Mechanismen nach dem Protokoll von Kyoto zum Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen vom 11. Dezember 1997, zur Umsetzung der Richtlinie 2004/101/EG und zur Änderung des Kraft-WärmeKopplungsgesetzes vom 22.9.2005 (BGBl. I S. 2826). 34 Zur Umsetzungsgesetzgebung vgl. z. B. BVerwG, NVwZ 2005, 1178 ff.; Weinrich/Marr, Handel gegen Klimawandel - Überblick und ausgewählte Rechtsfragen zum neuen Emissionshandelssystem, NJW 2005, 1078 ff; Hendler , Zur Umsetzung der EGEmissionshandelsrichtlinie in deutsches Recht, in: Hendler/Ibler/Martinez Soria (Fn. 21), S. 157 ff.; Kobes, Grundzüge des Emissionshandels in Deutschland, NVwZ 2004, 513 ff.; ders., Das Zuteilungsgesetz 2007, NVwZ 2004, 1153 ff.; Sudmann/Fisahn, Die Umsetzung des Emissionshandels in Deutschland, UPR 2004, 414 ff.; Burgi, Grundprobleme des deutschen Emissionshandelssystems: Zuteilungskonzept und Rechtsschutz, NVwZ 2004, 1162 f f ; Michaelis/Holtwisch , Die deutsche Umsetzung der Emissionshandelsrichtlinie, NJW 2004, 2127 ff.; Schweer/Ludwig , Verfahren und Form der Umsetzung der EU-Richtlinie über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten, ZNER 2004, 148 ff.
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des Umweltschutzes um das Modell der Umweltzertifikate zu ergänzen. 35 Zwar passt das Zertifikatmodell überhaupt nicht in die traditionellen Strukturen des deutschen Verwaltungsrechts. Gleichwohl hat es auch hierzulande zahlreiche Befürworter, namentlich unter den Wirtschaftswissenschaftlern gefunden. Soweit Bedenken erhoben worden sind, galten diese weniger dem Wirkmechanismus des Modells als vielmehr einigen praktischen Fragen sowie der Sorge, dass der deutschen Wirtschaft ungeachtet der Kosten, die sie ohnehin schon aufgrund des Einsatzes der herkömmlichen, insbesondere ordnungsrechtlichen Umweltschutzinstrumente zu tragen hat, eine zusätzliche ökonomische Belastung aufgebürdet werden könnte. Es darf ohne weiteres angenommen werden, dass in Deutschland immer noch über das Zertifikatmodell diskutiert und die mit dem Modell verbundene Chance einer besseren Allokation von Umweltschutzinvestitionen nach wie vor nur vermessen, untersucht und begutachtet, aber nicht genutzt würde, wenn auf der europäischen Ebene nicht tatkräftig gehandelt worden wäre.
5. Die Umwelthaftungsrichtlinie Neue Ansätze enthält vor allem auch die im April 2004 erlassene Umwelthaftungsrichtlinie, 36 an deren Umsetzung in deutsches Recht derzeit gearbeitet 35 Vgl. z. B. Bonus, Emissionsrechte als Mittel der Privatisierung öffentlicher Ressourcen aus der Umwelt, in: Wegehenkel (Hrsg.), Marktwirtschaft und Umwelt, 1981, S. 54 ff.; ders. (Hrsg.), Umweltzertifikate. Der steinige Weg zur Marktwirtschaft, 1998; Endres, Umweltzertifikate - die marktwirtschaftliche Lösung?, und Blankenagel, Umweltzertifikate - Die rechtliche Problematik, jeweils in: Wenz/Issing/Hofmann (Hrsg.), Ökologie, Ökonomie und Jurisprudenz, 1987, S. 58 ff. bzw. S. 71 ff.; Becker-Neetz, Rechtliche Probleme der Umweltzertifikatmodelle in der Luftreinhaltepolitik, 1988; Heister/Michaelis, Umweltpolitik mit handelbaren Emissionsrechten, 1991; Wasmeier, Marktfähige Emissionslizenzen - Das Zertifikatsmodell und seine Umsetzung in den USA, NuR 1992, 219 ff.; Huckestein, Umweltlizenzen - Anwendungsbedingungen einer ökonomisch effizienten Umweltpolitik durch Mengensteuerung, ZfU 1993, 1 ff.; Wiedmer, Handelbare C02-Emissionszertifikate: eine kritische Anmerkung, ZAU 1993, 556 ff.; Endres/Rehbinder/Schwarze, Umweltzertifikate und Kompensationslösungen aus ökonomischer und juristischer Sicht, 1994; Bothe, Rechtliche Voraussetzungen für den Einsatz von handelbaren Emissionszertifikaten am Beispiel von S0 2 , NVwZ 1995, 937 ff.; Koenig, Möglichkeiten und Grenzen von Zertifikatmärkten als Steuerungsmedien im Umweltrecht, DÖV 1996, 943 ff.; Koch/Wieneke, Klimaschutz durch Emissionshandel - Das europäische und deutsche Anlagengenehmigungsrecht, DVB1. 2001, 1085 ff.; Hösch, Zur rechtlichen Beurteilung von Emissionszertifikaten als Instrument der Vorsorge im Umweltrecht, in: Hendler/Marburger/Reinhardt/Schröder (Hrsg.), Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts 2001, 2001, S. 127 ff.; Voßkuhle, Rechtsfragen der Einführung von Emissionszertifikaten, in: Hendler/Marburger/Reinhardt/ Schröder (Hrsg.), Energierecht zwischen Umweltschutz und Wettbewerb, 2002, S. 159 ff. 36 Richtlinie 2004/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21.4.2004 über Umwelthaftung zur Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden (ABl. EU Nr. L 143 S. 56). Vgl. dazu Hendler et al. (Hrsg.), Umwelthaftung nach neuem EG-Recht,
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wird. Die Richtlinie dient dem Ziel, auf der Grundlage des Verursacherprinzips einen Rahmen für die Umwelthaftung zur Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden zu schaffen. Zwar besitzt das Wort „Umwelthaftung" für deutsche Juristen einen wohlvertrauten Klang, da bereits im Jahr 1990 das Umwelthaftungsgesetz erlassen worden ist. 37 Doch eröffnet die hier in Rede stehende Richtlinie eine neue Dimension des Umwelthaftungsrechts. Denn sie betrifft nicht die zivilrechtlichen Beziehungen zwischen den Schädigern von Umweltgütern einerseits sowie den dadurch wirtschaftlich beeinträchtigten Dritten andererseits. Schadensersatzansprüche von Privatpersonen werden vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausdrücklich ausgenommen.38 Vielmehr geht es darum, den Verursachern eines Umweltschadens oder der unmittelbaren Gefahr eines solchen Schadens behördlich überwachte und durchsetzbare Pflichten des Inhalts aufzuerlegen, Sanierungs- bzw. Vermeidungsmaßnahmen zu ergreifen oder jedenfalls die Kosten dafür zu tragen. Der Richtlinie liegt hiernach ein öffentlich-rechtliches (verwaltungsrechtliches) Regulierungskonzept zugrunde, das zur Bewältigung des Problems der sog. reinen Umweltschäden (Ökoschäden) beitragen soll. Unter dem für die Richtlinie zentralen Begriff des Umweltschadens sind des Näheren Schädigungen des Bodens, der Gewässer sowie geschützter Arten und Lebensräume zu verstehen. Bemerkenswert hieran ist, dass zu den Schutzgütern der Richtlinie auch die biologische Vielfalt gehört. Luftverunreinigungen werden dagegen nicht erfasst, solange sie sich nicht in Schädigungen der von der Richtlinie geschützten Güter (Boden, Gewässer, Biodiversität) niederschlagen. Die Umwelthaftung besteht bei eingetretenen Umweltschäden insbesondere darin, dass Sanierungsmaßnahmen durchzuführen sind. Ist der Umweltschaden noch nicht eingetreten, besteht aber die unmittelbare Gefahr eines solchen Schadens, sind vor allem Vermeidungsmaßnahmen zu ergreifen.
2005; Oldiges (Hrsg.), Umwelthaftung vor der Neugestaltung - Erwartungen und Anforderungen aufgrund des künftigen Europäischen Umwelthaftungsrechts, 2004; L Knopp (Hrsg.), Neues Europäisches Umwelthaftungsrecht und seine Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft, 2003; Becker , Einführung in die Richtlinie über Umwelthaftung zur Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden, NVwZ 2005, 371 ff.; Schink, Die EU-Richtlinie über Umwelthaftung - Auswirkungen auf das deutsche Umweltrecht, EurUP 2005, 67 ff.; Palme et al., Die europäische Umwelthaftungsrichtlinie, EurUP 2004, 204 ff.; Beyer , Eine neue Dimension der Umwelthaftung in Europa?, ZUR 2004, 257 ff.; Fischer/Fluck, Öffentlich-rechtliche Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden statt privatrechtlicher Umwelthaftung?, RIW 2002, 814 ff.; Spindler/Härtel, Der Richtlinien Vorschlag über Umwelthaftung, UPR 2002, 741 ff.; Hager , Der Vorschlag einer europäischen Richtlinie zur Umwelthaftung, JZ 2002, 901 ff.; ders ., Haftung für reine Umweltschäden, NuR 2003, 581 ff.; Leifer, Der Richtlinienentwurf zur Umwelthaftung: internationaler Kontext, Entstehung und öffentlich-rechtliche Dimension, NuR 2003, 598 ff. 37 38
Umwelthaftungsgesetz (UmweltHG) vom 10.10.1990 (BGBl. I S. 2634). Art. 3 Abs. 3 UmwH-RL.
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Im Weiteren ist zwischen verschuldensunabhängiger und verschuldensabhängiger Umwelthaftung zu unterscheiden. Die verschuldensunabhängige Haftung (Gefährdungshaftung) greift ein, wenn Umweltschäden oder die unmittelbare Gefahr solcher Schäden durch bestimmte, in Anhang I I I der Richtlinie näher aufgeführte berufliche Tätigkeiten verursacht worden sind. Es geht hierbei vor allem um solche Tätigkeiten, die einer behördlichen Genehmigung bedürfen. Erfasst werden z.B. der Betrieb industrieller Anlagen, die Verwertung, Beseitigung und grenzüberschreitende Verbringung von Abfällen, die Ableitung oder Einleitung von Stoffen in Oberflächengewässer bzw. in das Grundwasser, die Herstellung, Verwendung und Lagerung von Pflanzenschutzmitteln, Biozid-Produkten, gefährlichen Stoffen und Zubereitungen, die Beförderung gefährlicher oder umweltschädlicher Güter auf Straßen, Schienen und Binnengewässern, auf See oder in der Luft, die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt etc. Was die verschuldensabhängige Haftung angeht, so beschränkt sich diese auf das Schutzgut der biologischen Vielfalt. Sie greift nur dann ein, wenn durch die Ausübung anderer als der in Anhang I I I der Richtlinie aufgeführten beruflichen Tätigkeiten vorsätzlich oder fahrlässig die Schädigung geschützter Arten und Lebensräume oder die unmittelbare Gefahr einer solchen Schädigung verursacht wird. Zu den Haftungsvoraussetzungen gehört, dass zwischen dem Umweltschaden bzw. der unmittelbaren Gefahr eines solchen Schadens einerseits sowie der jeweiligen beruflichen Tätigkeit andererseits ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Auf den Kausalitätsnachweis wird mithin nicht verzichtet. Ausdrücklich heißt es in der Richtlinie, dass die Haftung kein geeignetes Instrument sei, um einer breit gestreuten, nicht klar abgegrenzten Umweltverschmutzung zu begegnen, bei der es unmöglich ist, die nachteiligen Umweltauswirkungen mit Handlungen oder Unterlassungen bestimmter einzelner Akteure in Zusammenhang zu bringen. 39 Dem lässt sich entnehmen, dass beispielsweise die neuartigen, durch sauren Regen verursachten Waldschäden kein Haftungsfall im Sinne der Richtlinie sind. Bei der wichtigen Frage der Versicherbarkeit der mit der neuen Umwelthaftung verbundenen Risiken bietet die Umwelthaftungsrichtlinie ein klassisches Beispiel für Problemabwälzung. In der Richtlinie wird zur Versicherungsfrage unter dem Stichwort Deckungsvorsorge ausgeführt: „Die Mitgliedstaaten ergreifen Maßnahmen, mit denen den entsprechenden wirtschaftlichen und finanziellen Akteuren Anreize zur Schaffung von Instrumenten und Märkten der Deckungsvorsorge, einschließlich finanzieller Mechanismen im Falle von Insolvenz, geboten werden, damit die Betreiber Finanzsicherheiten in Anspruch nehmen können, um ihre Haftung im Rahmen dieser Richtlinie zu decken". 40 39 40
Erwägungsgrund (13) Satz 3 UmwH-RL. Art. 14 Abs. 1 UmwH-RL.
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Auch der vorliegende, im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit erstellte Referentenentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Umwelthaftungsrichtlinie (Stand: 4. März 2005), der den Erlass eines eigenständigen Umweltschadensgesetzes vorsieht, 41 trägt zur Lösung der Versicherungsfrage sachlich wenig bei. Er beschränkt sich insoweit auf die Ermächtigung der Bundesregierung zum Erlass einer Rechtsverordnung (Art. 1, § 12).
I I I . Schlussbetrachtung Wie auf der Grundlage des vorstehend Dargelegten resümierend festgehalten werden kann, hat das deutsche Umweltrecht von der europäischen Ebene in den vergangenen zwanzig Jahren einen kräftigen Innovations- und Modernisierungsschub erhalten. Wer dies anders beurteilt und Emissionszertifikathandel, integrierten Umweltschutz, Strategische Umweltprüfung, neues Umwelthaftungsrecht etc. vornehmlich als Systembrüche oder Fremdkörper in der nationalen Rechtsordnung begreift, trägt die Beweislast dafür, dass sich die Herausforderungen des Umweltschutzes zumindest ebenso wirksam mit einer bloßen Fortbildung überkommener Rechtsstrukturen bewältigen lassen. Berücksichtigt werden sollte bei alledem nicht zuletzt die aus der derzeitigen Organisation des deutschen Föderalismus resultierende Schwerfälligkeit des politischen Entscheidungsprozesses, die sich umso nachteiliger bemerkbar macht, je dynamischer die Problemverschärfung - nicht nur auf dem Gebiet des Umweltschutzes - voranschreitet. Anhaltspunkte dafür, dass es ohne die von „Brüssel" ausgehenden umweltrechtlichen Regelungszwänge zu Stagnation und Reformstau auch im ökologischen Bereich gekommen wäre, sind jedenfalls in hohem Maße vorhanden. Zwar soll nicht in Abrede gestellt werden, dass das europäische Recht auch dazu beiträgt, administrative Entscheidungen prozedural aufzuladen und dadurch einem Verzögerungsrisiko auszusetzen. Dies gilt namentlich für Infrastrukturprojekte (wie z. B. Flughäfen, Eisenbahnstrecken und Straßen), die aufgrund des europäischen Rechts nicht selten eine FFH-Verträglichkeitsprüfung, eine Strategische Umweltprüfung sowie eine Umweltverträglichkeitsprüfung zu durchlaufen haben, wenngleich insoweit Abschichtung und Koordination möglich sind. Entscheidendes Kriterium für die hier interessierende Frage ist jedoch, wo das deutsche Umweltrecht heute stünde, wenn die „Brüsseler" Initiativen und Impulse ausgeblieben wären. Es spricht einiges dafür, dass die Antwort auf diese Frage wenig schmeichelhaft ausfällt. 41 Vgl. dazu L. Knopp, EG-Umwelthaftungsrichtlinie und densgesetz, UPR 2005, 361 ff.; Muth/Heinze, Umwelthaftung Neue Aufgaben für die Unternehmen, UPR 2005, 367 ff., wobei Äußerung, das Umweltschadensgesetz werde das bisherige „ablösen" (S. 367), zumindest missverständlich ist.
deutsches Umweltschaund Risikomanagement: angemerkt sei, dass die Umwelthaftungsgesetz
Die Geltung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Beamte Von Maximilian Fuchs und Alexandra Rutz
I. Der Hintergrund der Vorbehaltsklausel Gemäß Art. 39 Abs. 4 EG finden die Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitskräfte keine Anwendung auf Beschäftigungen in der öffentlichen Verwaltung. Diese Beschränkung des Zugangs zu öffentlichen Ämtern auf eigene Staatsangehörige war in der Gründungsphase der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft den Rechtsordnungen aller beteiligten Staaten immanent. Meist genoss der Staatsangehörigkeitsvorbehalt Verfassungsrang, jedenfalls aber fand er in einfachgesetzlichen nationalen Vorschriften 1 Ausdruck. Diese Homogenität mag ob der Tatsache, dass gerade das Recht des öffentlichen Dienstes in besonderem Maße durch nationale Besonderheiten geprägt ist 2 , verblüffen. Unterstrichen wird dieser Effekt noch, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass zwischen den Gründerstaaten erhebliche Unterschiede bereits hinsichtlich der Definition der „öffentlichen Verwaltung" und der Ausgestaltung der Verwaltungstätigkeit bestehen3. Allein die Parallelität der Rechtsordnungen vermag daher die Aufnahme der Bereichsausnahme in Art. 39 Abs. 4 EG (früher Art. 48 Abs. 4 EWG-Vertrag) nicht zu rechtfertigen, denn bedenkt man die enorme Bedeutung des EWG-Vertrages, erscheint die Übernahme des Staatsangehörigkeitserfordernisses als bloßer Ausdruck der Homogenität der Rechtsordnungen nicht wahrscheinlich. Vielmehr haben es die Gründerstaaten für notwendig erachtet, diesen grundlegenden Gedanken auch im Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft aufrechtzuerhalten, ja sogar positiv festzuschrei-
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Vgl. dazu ausführlich Fabis, Die Auswirkungen der Freizügigkeit gemäß Art. 48 EG-Vertrag auf Beschäftigungsverhältnisse im nationalen Recht, 1995, S. 239, Fn. 1, der in diesem Zusammenhang unter anderem aufführt: Art. 33 Abs. 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 23.05.1949, Art. 23 Abs. 2 i.V.m. Art. 13 Abs. 2 der spanischen Verfassung vom 29.12.1978, Art. 51 der italienischen Verfassung vom 27.12.1947, Art. 6 Abs. 2 der belgischen Verfassung vom 07.02.1831. 2 So auch Hailbronner, Öffentlicher Dienst und EG-Freizügigkeit, VB1BW 2000, S. 129 ff., 129. 3 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, § 11 II 2; Friedrich, Europäisches Arbeitsrecht und Privatisierung, 2002, S. 28; Hailbronner (Fn. 2), S. 129.
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ben. Angesichts der Zielsetzung des EWG-Vertrages, einen engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen, erscheint dieser nationale Ansatz beinahe systemwidrig. Deshalb ist es notwendig, nach dem Ursprung dieses Vorgehens und damit gleichzeitig der ratio des Art. 39 Abs. 4 EG zu fragen. Das Berufsbeamtentum, so wie wir es heute kennen, hat seine Wurzeln in der Zeit des Absolutismus4. Damals wird es auf Grund der zunehmenden Machtstellung des Staates erforderlich, einen Beamten- und Soldatenapparat zu unterhalten, der den bereits von Ludwig XIV. beschriebenen „gleichmäßigen Lauf der Staatsmaschinerie5" gewährleistet. Die Aufnahme in den öffentlichen Dienst können all diejenigen erreichen, die den Vorstellungen ihres Dienstherren entsprechen. Dies bedeutet zwar, dass der öffentliche Dienst in der Regel dem Adel vorbehalten ist 6 , allgemeingültige Regeln, die den Zugang zum öffentlichen Dienst einschränken, oder gar Vorbehalte auf Grund der Volkszugehörigkeit des Bewerbers bestehen hingegen nicht. Dies entspricht der Vorstellung von der „Allmacht" des Herrschenden, die in dem Ludwig XIV. zugeschriebenen Ausspruch „l'Etat c'est moi" unzweideutig zum Ausdruck kommt 7 . Ähnlich verläuft der Aufbau des modernen öffentlichen Dienstes auch im Preußen des aufgeklärten Absolutismus. Hier errichtet Friedrich Wilhelm I., der sich als „der erste Diener des Staates" versteht, das bekannte preußische Generaldirektorium 8. Entscheidend für die Fortentwicklung des Berufsbeamtentums sind in der Folgezeit die Auswirkungen der französischen Revolution9. Bedingt durch ständig schwelende Konflikte zwischen den Staaten, entwickelt sich im aufkommenden Nationalismus des 19. Jahrhunderts eine Atmosphäre des Misstrauens gegenüber Ausländern. Dieses kennzeichnet auch die Beamtenschaft, denn nur derjenige Beamte wird als hinreichend staatstreu erachtet, der auch die jeweilige Staatsangehörigkeit besitzt. Ausländern hingegen wird auf Grund der politisch gespannten und wechselhaften Lage Illoyalität gegenüber dem Staat oder gar dem Dienstherren unterstellt 10. Dies hat zur Folge, dass die Zugehörigkeit des Beamten zum Staatsvolk zumindest stillschweigend vorausgesetzt wird. Ausländer haben daher kaum die Möglichkeit, in eine verbeamtete Stelle einzutreten. Damit ist das Staatsangehörigkeitserfordernis im öffentlichen Dienst geboren und auch heute noch wird dieses mit auf nationalstaatli-
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Stern (Fn. 3), § 11 IV 2; Wesel, Geschichte des Rechts, 1997, S. 353 ff.
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Wesel (Fn. 4), S. 356. Stern (Fn. 3), § 11 IV 2. Wesel (Fn. 4), S. 356. Wesel (Fn. 4), S. 356; Stern (Fn. 3), § 11 IV 2. Hailbronner (Fn. 2), S. 129.
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Vgl. dazu ausführlich Fabis (Fn. 1), S. 240 m. w. N.
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chem Denken beruhendem Misstrauen gegenüber Fremden erklärt 11 . So vertrat die Bundesrepublik Deutschland in der Rechtssache Kommission./.Belgien noch Ende der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts in ihrer Stellungnahme zum Anwendungsbereich des Art. 39 Abs. 4 EG die These, „mit dem Vorbehalt solle [...] besonderen Loyalitätsanforderungen entsprochen werden [...] 12 ". Fraglich ist jedoch, ob dies die Aufnahme der Vorbehaltsklausel in Art. 48 Abs. 4 EWG-Vertrag und später in Art. 39 Abs. 4 EG zu rechtfertigen vermag. Hinsichtlich der nationalen Rechtsordnungen, die, wie etwa die Verfassung Belgiens von 183113, zum Teil von dieser Zeit des Umbruchs geprägt waren, vermag der Ansatz, dass der Staatsangehörigkeitsvorbehalt im Beamtenrecht auf überkommenen nationalstaatlichem Denken beruht, zu überzeugen. Bezüglich der Normen des EG-Vertrages gelingt dies jedoch nicht 14 . Denn gerade mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und ihrer stetigen Fortentwicklung haben die Gründer-, wie auch die Mitgliedstaaten gezeigt, dass sie bereit sind, ihr bisheriges nationalstaatliches Denken zu hinterfragen und in stetig fortschreitendem Maße aufzugeben. Insbesondere Fabis15 verweist deshalb bezüglich des Hintergrundes der Vorbehaltsklausel des Art. 39 Abs. 4 EG auf das Erfordernis demokratischer Legitimation für die Ausübung staatlicher Gewalt und führt dazu aus, dass das Prinzip der Volkssouveränität als Grundprinzip der modernen Demokratie in den repräsentativen Demokratien der Staaten der Europäischen Gemeinschaft uneingeschränkt Geltung beansprucht. Denn die Idee der Volkssouveränität geht zurück auf die Zeit der Französischen Revolution und ist eng verbunden mit den gesellschaftlichen und politischen Besonderheiten dieser Epoche. So lebt diese Zeit von der Idealvorstellung, dass, anders als in der vorangegangenen Monarchie, es nur dann eine gerechte politische Führung geben kann, wenn diejenigen, die an der Ausübung staatlicher Gewalt beteiligt sind, selbst Teil des regierten Volkes sind. Bis heute folgt daraus der Grundsatz, dass die Vertreter staatlicher Macht individuell ernannt sein müssen, also ihre Stellung „entweder unmittelbar vom Volk durch Wahlen erhalten oder sich zumindest in einer ununterbrochenen Legitimationskette auf das Volk berufen können". Dies setzt aber auch voraus, dass die Amtswalter Teil des Staatsvolkes sind und dies mit Hilfe ihrer Volks- bzw. Staatsangehörigkeit belegen können. Auch der mittelbare Charakter der repräsentativen 11 Wölker/Grill, in: von der Groeben/Schwarze (Hg.), Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Aufl. 2003, Art. 39 EG, Rn. 155; Hillgruber, Die Entwicklung des deutschen Beamtenrechts, ZBR 1997, S. 1 ff., 1. 12 EuGH Rs. 149/79 (Kommission./.Belgien), Slg. 1980, 3881 ff., 3896. 13 Die stark veränderte und erweiterte Verfassung des Königreichs Belgien in der Fassung vom 14. Juli 1993 wurde am 17. Februar 1994 im Staatsblatt des Königreichs Belgien als „koordinierte Verfassung Belgiens" verkündet.
14 15
So im Ergebnis auch Wölker/Grill Fabis (Fn. 10), S. 243-248.
(Fn. 11), Rn. 155; Fabis (Fn. 1), S. 242.
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Demokratie vermag dies nicht zu ändern. Denn die Vermittlung der staatlichen Gewaltausübung durch besondere Organe hat in den heutigen dicht bevölkerten Staaten „praktische und organisatorische Gründe", kann also die demokratischen Grundprinzipien, insbesondere das Prinzip der Volkssouveränität nicht negieren. Das Erfordernis der Staatsangehörigkeit im öffentlichen Dienst lässt sich dieser Auffassung folgend also aus dem Grundsatz der Volkssouveränität ableiten. Mit der Aufnahme der Vorbehaltsklausel in den EWG-Vertrag haben die Gründerstaaten diesem Anspruch, der auch in einem Zusammenschluss demokratischer Staaten uneingeschränkte Geltung entfaltet, Rechnung getragen. Ob die Bereichsausnahme des Art. 39 Abs. 4 EG zukünftig in dieser Form Bestand haben kann, erscheint fraglich 16 . Denn die mit dem Vertrag von Amsterdam in Art. 17 EG eingeführte Unionsbürgerschaft könnte das nationale Staatsangehörigkeitserfordernis im öffentlichen Dienst ersetzen. Bereits Ende der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts wurde diese These von der Regierung der Bundesrepublik Deutschland in deren Stellungnahme zur Rechtssache Kommission./.Belgien 17 vertreten; damals allerdings noch mit dem Ziel, die mitgliedstaatliche Bestimmung des Anwendungsbereichs des Art. 39 Abs. 4 EG zu untermauern. Hierzu führte sie aus, dass die Zuständigkeit, den Bereich der öffentlichen Verwaltung in den Mitgliedstaaten zu bestimmen, diesen selbst vorbehalten sei. Dies ergebe sich bereits aus dem Zweck der Vorschrift, der deutlich werde, „wenn man die Rechtslage, die in Bezug auf die Behandlung von Ausländern vor Errichtung der Europäischen Gemeinschaft bestanden habe, mit derjenigen vergleiche, die hinsichtlich der Behandlung von Angehörigen der Mitgliedstaaten der EWG bestehe, denen in den übrigen Mitgliedstaaten Freizügigkeit zum Zwecke der beruflichen Betätigung eingeräumt sei. Dieser Vergleich zeige, dass das Fremdenrecht für EWG-Ausländer nur insoweit verändert worden sei, als man ihnen Freizügigkeit eingeräumt habe; dagegen sei weder eine Gemeinschaftsbürgerschaft geschaffen worden noch seien die Staatsbürger der Mitgliedstaaten einander in jeder Hinsicht gleichgestellt worden." Schon damals vertrat die Bundesrepublik Deutschland also die Auffassung, dass mit der Einführung einer Unions- bzw. Gemeinschaftsbürgerschaft ein umfassend geltender Gleichbehandlungsanspruch für die Angehörigen der Mitgliedstaaten entstehen kann, der geeignet ist, die Zwecksetzung des Art. 39 Abs. 4 EG in Frage zu stellen. Zwar gewährleistet auch die Unionsbürgerschaft des Art. 17 EG in ihrer heutigen Ausgestaltung diese vollständige Gleichstel-
16 Alber, Das europäische Recht und seine Auswirkungen auf den öffentlichen Dienst, ZBR 2002, S. 225 ff., 229; Franzen, in: Streinz/Burgi (Hg.), EUV, EGVKommentar, 2003, Art. 39 Rn. 148; Hailbronner (Fn. 2), S. 129. 17 EuGH Rs. 149/79 (Fn. 12), 3895.
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lung (noch) nicht 18 , sie garantiert aber jedem Unionsbürger sowohl das aktive als auch das passive kommunale Wahlrecht an seinem Wohnsitz (Art. 19 EG). Damit entspricht jedenfalls die Ausübung kommunaler Ämter durch Unionsbürger vollumfänglich dem Prinzip der Volkssouveränität und untergräbt somit die ratio des Art. 39 Abs. 4 EG zumindest für diesen Bereich 19 . Ob und wann die Unionsbürgerschaft also das nationale Staatsangehörigkeitserfordernis als Zugangsvoraussetzung auch für den Bereich des Bundes und der Länder verdrängen kann, hängt damit lediglich von der politischen Weiterentwicklung der Europäischen Union und der Konzeption der Unionsbürgerschaft ab 20 .
II. Die Einbeziehung der Beamten in die Freizügigkeitsregelung des Art. 39 EG Art. 39 Abs. 1 EG betont die Gewährleistung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Grundlegend für die Auslegung dieser Vorschrift ist zunächst die Beantwortung der Frage, wie der Arbeitnehmerbegriff zu bestimmen ist, insbesondere ob das nationale Recht die begriffliche Festlegung trifft oder ob dies dem Gemeinschaftsrecht vorbehalten bleibt. Weitreichende Bedeutung kommt diesem Aspekt gerade im Hinblick auf die ca. 1.884.60021 verbeamteten Beschäftigten im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik Deutschland zu. Denn nach deutschem Recht unterliegen diese Beschäftigungsverhältnisse nicht dem Arbeitnehmerbegriff im engeren Sinne, so dass auf sie nicht das nationale Arbeitsrecht, sondern ausschließlich die dienstrechtlichen Vorschriften des Beamtenrechts Anwendung finden 22 . Bestimmt sich der Arbeitnehmerbegriff des Art. 39 EG also nach nationalem Recht, folgt daraus notwendig, dass die Freizügigkeitsregel des Art. 39 Abs. 1 EG auf Beamte - jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland - keine Anwendung findet. Art. 39 Abs. 4 EG hätte in diesem Fall lediglich deklaratorischen Charakter 23. Erstmals in diesem Zusammenhang mit der Frage nach der Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs befasst war der Gerichtshof im Jahr 1986 in der Rechtssache Lawrie-Blum 24 . Die in Deutschland lebende Engländerin Deborah Law18
Zu den durch die Unionsbürgerschaft verliehenen Rechten siehe im Einzelnen Streinz, Europarecht, 7. Aufl. 2005, Rn. 953. 19 20 21
Fabis (Fn. 1), S. 249. Hailbronner (Fn. 2), S. 129.
Statistisches Bundesamt Deutschland, Beschäftigte im öffentlichen Dienst nach Dienstverhältnissen, Stand: 30.06.2004. Insgesamt waren im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik Deutschland zu diesem Zeitpunkt 4.669.900 Personen beschäftigt. 22 Isensee, in: Bender/Maihofer/Vogel (Hg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, S. 1529. 23 So auch Fabis (Fn. 1),S.252. 24 EuGH Rs. 66/85 (Lawrie-Blum./.Baden-Württemberg), Slg. 1986, 2121 ff.
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rie-Blum beantragte, nachdem sie an der Universität Freiburg das Erste Staatsexamen für das Lehramt abgelegt hatte, die Zulassung zum Vorbereitungsdienst für Lehramtsreferendare. Diese wurde ihr vom Oberschulamt Stuttgart mit Verweis auf die geltenden Landesbeamtengesetze25, wonach in der Regel nur Deutsche im Sinne des Art. 116 GG in das Beamtenverhältnis berufen werden konnten, wegen ihrer Staatsangehörigkeit verwehrt. Frau LawrieBlum vertrat in dem darauf folgenden Rechtsstreit die Auffassung, diese Entscheidung stelle eine ungerechtfertigte Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit und damit einen Verstoß gegen Art. 39 EG dar. Das Bundesverwaltungsgericht führte dazu in seinem Vorlagebeschluss aus, dass die unter die Bildungspolitik fallende Tätigkeit des Studienreferendars nicht zum Wirtschaftsleben im Sinne des Art. 2 EWG-Vertrag gehöre, denn unter „Arbeitnehmer" im Sinne des Art. 48 EWG-Vertrag [...] seien nur Personen zu verstehen, die zu ihrem Arbeitgeber in einem privatrechtlichen Vertragsverhältnis stünden, nicht aber solche, die auf öffentlich-rechtlicher Grundlage eingestellt worden seien26. Dieser Auffassung trat jedoch der Gerichtshof entgegen: „Da die Freizügigkeit der Arbeitnehmer eines der Grundprinzipien der Gemeinschaft ist, kann der Begriff des Arbeitnehmers im Sinne von Art. 48 [EWG-Vertrag] nicht je nach dem nationalen Recht unterschiedlich ausgelegt werden, sondern er hat eine gemeinschaftsrechtliche Bedeutung. Der gemeinschaftsrechtliche Begriff des Arbeitnehmers ist, da er den Anwendungsbereich dieser Grundfreiheit festlegt, weit auszulegen. Dieser Begriff ist anhand objektiver Kriterien zu definieren, die das Arbeitsverhältnis im Hinblick auf die Rechte und Pflichten der betroffenen Personen kennzeichnen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht aber darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. [...] Es lässt sich auch nicht einwenden, die im Rahmen des Schulwesens erbrachten Leistungen fielen nicht in den Geltungsbereich des EWG-Vertrags, da sie nicht wirtschaftlicher Natur seien. Für die Anwendung des Artikels 48 ist es nämlich nur erforderlich, dass die Tätigkeit den Charakter einer entgeltlichen Arbeitsleistung hat, unabhängig davon, in welchem Bereich sie erbracht wird. Die wirtschaftliche Natur dieser Tätigkeiten kann auch nicht deshalb verneint werden, weil sie in einem öffentlich-rechtlichen Status ausgeübt werden; denn wie der Gerichtshof [...] ausgeführt hat, ist die Art des Rechtsverhältnisses zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber - öffentlich-rechtlicher Status oder privatrechtlicher Vertrag - für die Anwendung des Artikels 48 unerheblich." 2 7
Damit stellte der Gerichtshof klar, dass der Arbeitnehmerbegriff des Art. 39 EG „autonom aus dem Gemeinschaftsrecht heraus" 28 auszulegen ist. Dieser „anhand objektiver Kriterien zu bestimmende" gemeinschaftsrechtliche Begriff 25 26 27 28
§ 6 des Landesbeamtengesetzes für Baden-Württemberg i. d. F. vom 08.08.1979. EuGH Rs. 66/85 (Fn. 24), 2121 ff., Rn. 13. EuGH Rs. 66/86 (Fn. 24), 2121 ff., Rn. 16 ff. Scheuer, in: Lenz/Borchardt (Hg.), EU- und EG-Vertrag, 3. Aufl. 2003, Art. 39
Rn. 84; Franzen (Fn. 16), Rn. 148.
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rechtfertigt es nicht, Beamte aus dem Anwendungsbereich der Freizügigkeitsregeln vollständig auszunehmen, da sie ebenso wie auf Grund privatrechtlicher Verträge beschäftigte Arbeitnehmer Tätigkeiten wirtschaftlicher Natur verrichten. Mit dieser Rechtsprechung legte der Gerichtshof den Grundstein für die Einbeziehung der Beamten in die europäischen Freizügigkeitsregeln. Daneben beinhaltet dieses Urteil aber auch einen wertvollen Hinweis zur systematischen Auslegung des Art. 39 EG, denn mit dieser Einbeziehung der Beamten in den Arbeitnehmerbegriff der Freizügigkeitsregeln ist der konstitutive Charakter des Art. 39 Abs. 4 EG vorgegeben, so dass es hinsichtlich der Tragweite der Vorbehaltsklausel letztlich entscheidend auf die Auslegung des Begriffs der „Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung" ankommt.
I I I . Die Bereichsausnahme des Art. 39 Abs. 4 EG in der Rechtsprechung des EuGH In seiner Rechtsprechung zur Bereichsausnahme des Art. 39 Abs. 4 EG betonte der Gerichtshof stets die grundlegende Bedeutung, die die Grundsätze der Freizügigkeit und der Gleichbehandlung der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft im Rahmen des Vertrages haben. Deshalb - so der EuGH - „können die in Art. 39 Abs. 4 EG zugelassenen Ausnahmen nicht weiter reichen, als der Zweck es erfordert, um dessentwillen sie vorgesehen sind 29 ". Gegen den Widerstand vieler Mitgliedstaaten begrenzte der Gerichtshof die Tragweite des Art. 39 Abs. 4 EG, indem er entschied, dass auch der Begriff der „öffentlichen Verwaltung" im Sinne des Art. 39 Abs. 4 EG in der gesamten Gemeinschaft einheitlich auszulegen sei, so dass seine Bestimmung nicht in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt werden könne30 . Anders sah dies noch Anfang der 80er Jahre die belgische Regierung in ihrer Stellungnahme zu einem Vertragsverletzungsverfahren 31, in dem der Gerichtshof über die Praxis Belgiens zu befinden hatte, die belgische Staatsangehörigkeit generell zur Zugangsvoraussetzung zu Stellen bei belgischen Einrichtungen oder Körperschaften des öffentlichen Rechts zu machen, ohne dabei nach der mit der jeweiligen Stelle konkret auszuübenden Tätigkeit zu differenzieren. Streitig war hier insbesondere der Staatsangehörigkeitsvorbehalt für ungelernte und gelernte Arbeiter, Krankenschwestern, Nachtwächter, Architekten und ähnliche Berufe bei der Stadt Brüssel und der Gemeinde Auderghem. Die belgische Regierung vertrat damals die
29 EuGH Rs. 152/73 (Sotgiu), Slg. 1974, 153 ff., Rn. 4; EuGH Rs. 66/85 (Fn. 24) 2121 ff., Rn. 26. EuGH Rs. 225/85 (Kommission./.Italienische Republik), Slg. 1987, 2625 ff., Rn. 7; EuGH Rs. C-405/01 (Marina Mercante Espanola), Slg. 2003, 1-10391 ff., Rn. 41. EuGH Rs. C-47/02 (Anker), Slg. 2003,1-10447 ff., Rn. 60. 30 Beispielhaft hierfür EuGH Rs. C-405/01 (Fn. 29) 1-10391 ff., Rn. 38. EuGH Rs. C47/02 (Fn. 29), 1-10447 ff., Rn. 57. 31 EuGH, Rs. 149/79 (Fn. 12), 3881 ff.
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Auffassung, der Anwendungsbereich des Art. 39 Abs. 4 EG erstrecke sich auf alle Beschäftigungen, die in dem jeweiligen Mitgliedstaat der öffentlichen Verwaltung zugeordnet sind, so dass die Reichweite der Vorbehaltsklausel letztlich von den Mitgliedstaaten zu bestimmen sei. Dies ergäbe die historische Auslegung der Bereichsausnahme, denn „es sei offenkundig, dass die Staaten den Zwang zur Einstellung von Personal mit ausländischer Staatsangehörigkeit abgelehnt hätten und dass diese Ablehnung in dem in Art. 48 Abs. 4 EWG enthaltenen Vorbehalt ihren Niederschlag gefunden habe 32 ". Indem sie all diejenigen Arbeitsverhältnisse der „Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung" zuordnete, die in den Mitgliedstaaten formal dem öffentlichen Dienst zugehörig sind, vertrat die belgische Regierung die sog. institutionelle Sichtweise. Unterstützung erhielt sie darin von der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, die erklärte, dass es sich bei dem Vorbehalt des Art. 48 Abs. 4 EWG-Vertrag „um eine aus der Souveränität der Mitgliedstaaten folgende Befugnis, die inhaltlich nicht durch den EWG-Vertrag determiniert sei 33 ", handle. Der Gerichtshof lehnte die Auslegung des Begriffs der „Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung" nach der institutionellen Sichtweise ab, denn: „Diese Bestimmung [Art. 39 Abs. 4 EG] nimmt diejenigen Stellen vom Anwendungsbereich der ersten drei Absätze dieses Artikels aus, die eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse mit sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind. Die Beschäftigung auf derartigen Stellen setzt nämlich ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des jeweiligen Stelleninhabers zum Staat sowie die Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten voraus, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen. [...] Die Erstreckung des Vorbehalts des Art. 48 Abs. 4 [EWG-Vertrag] auf Stellen, die zwar dem Staat oder anderen öffentlich-rechtlichen Einrichtungen zuzuordnen sind, jedoch keine Mitwirkung bei der Erfüllung von Aufgaben mit sich bringen, die zur öffentlichen Verwaltung im eigentlichen Sinne gehören, hätte unter diesen Umständen zur Folge, dass eine beträchtliche Zahl von Stellen der Anwendung der Grundsätze des Vertrages entzogen und je nach den Unterschieden in der jeweiligen Organisation des Staates und bestimmter Bereiche des Wirtschaftslebens Ungleichheiten zwischen Mitgliedstaaten geschaffen würden. [...] Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Einordnung davon abhängt, ob die betreffende Stelle typisch für die spezifischen Tätigkeiten der öffentlichen Verwaltung insoweit ist, als diese mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und mit der Verantwortung für die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates betraut ist." 3 4
Damit hat sich der EuGH für eine funktionale Auslegung des Begriffs der „öffentlichen Verwaltung" entschieden. Anders als bei der institutionellen Betrachtung, bei der es lediglich auf die tatsächliche Zuordnung der Stellen zur öffentlichen Verwaltung in den Mitgliedstaaten ankommt, legt die funktionale Sichtweise den Schwerpunkt ihrer Betrachtung auf die vom Stelleninhaber
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EuGH Rs. 149/79 (Fn. 12), 3887. EuGH Rs. 149/79 (Fn. 12), 3896. EuGH Rs. 149/79 (Fn. 12) 3881 ff., Rn. 10 ff.
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konkret ausgeübten Tätigkeiten. Inzident gewährleistet der Gerichtshof damit die Beibehaltung des von i h m aufgestellten Erfordernisses der gemeinschaftseinheitlichen Auslegung des Begriffs der öffentlichen Verwaltung, denn die Auslegung nach der institutionellen Sichtweise käme einer Aufgabe desselben gleich, da diese nur dazu führen würde, dass jeder Mitgliedstaat durch die formale Zuordnung einer Stelle zum öffentlichen Dienst den Anwendungsbereich des Art. 39 Abs. 4 E G letztlich doch eigenständig bestimmen könnte 3 5 . Entscheidendes Kriterium für die Zuordnung einer Stelle zur öffentlichen Verwaltung ist also, dass gerade die Ausübung dieser Tätigkeit mit der Ausübung staatlicher Macht verbunden ist und deshalb eine besondere Verbundenheit zur Staatsgewalt voraussetzt. Diese Rechtsprechung des Gerichtshofs erfordert damit i m Ergebnis eine konkrete Einzelfallbetrachtung immer dann, wenn es u m die Zuordnung einer Stelle zur öffentlichen Verwaltung i m Sinne des Art. 39 Abs. 4 EG geht. I m Rahmen dessen sind dann die oben dargestellten Grundsätze wieder zu beachten. Insbesondere ist es hier auch unerheblich, welches Rechtsverhältnis dem BeschäftigungsVerhältnis zu Grunde liegt, denn: „Für die Entscheidung dieser Frage ist darauf hinzuweisen, dass Art. 39 Abs. 4 als Ausnahme vom Grundprinzip der Freizügigkeit und der Nichtdiskriminierung der Arbeitnehmer in der Gemeinschaft so auszulegen ist, dass sich seine Tragweite auf das beschränkt, was zur Wahrung der Interessen, die diese Bestimmung den Mitgliedstaaten zu schützen erlaubt, unbedingt erforderlich ist. Wie der Gerichtshof [...] ausgeführt hat, kann der Zugang zu einigen Stellen nicht deshalb eingeschränkt werden, weil in einem bestimmten Mitgliedstaat die Personen, die diese Stelle annehmen können, in das Beamtenverhältnis berufen würden. Würde man nämlich die Anwendung des Art. 39 Abs. 4 von der Rechtsnatur des Verhältnisses zwischen dem Arbeitnehmer und der Verwaltung abhängig machen, so gäbe man damit den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, nach Belieben die Stellen zu bestimmen, die unter diese Ausnahmebestimmung fallen. Wie der Gerichtshof bereits in seinen Urteilen [...] ausgeführt hat, sind unter der Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung im Sinne von Art. 39 Abs. 4, die vom Geltungsbereich der Abs. 1 bis 3 dieses Artikels ausgenommen ist, diejenigen Stellen zu verstehen, die eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung solcher Aufgaben mit sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind und die deshalb ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des jeweiligen Stelleninhabers zum Staat sowie die Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten voraussetzen, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen. Ausgenommen sind nur die Stellen, die in Anbetracht der mit ihnen verbundenen Aufgaben und Verantwortlichkeiten die Merkmale der spezifischen Tätigkeiten der Verwaltung auf den genannten Gebieten aufweisen können." 36
35 Wölker/Grill (Fn. 11), Rn. 157; so auch Fabis (Fn. 1), S. 259 ff., der insoweit von einem Rückverweis auf die nationalen Rechtsordnungen spricht. 36 EuGH Rs. 66/85 (Fn. 24), 2121 ff., Rn. 26.
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IV. Die Tragweite der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 39 Abs. 4 EG In der Folgezeit war diese Rechtsprechung des Gerichtshofs zunehmender Kritik ausgesetzt. Vor allem wurde auch unter dem Aspekt der Funktionsfähigkeit der Verwaltung bemängelt, dass die nach der Rechtsprechung erforderliche Einzelfallbetrachtung zu erheblicher Rechtsunsicherheit führte, da es den Trägern der öffentlichen Verwaltung beinahe unmöglich sei, vorherzusagen, welche Stelle nun der „öffentlichen Verwaltung" im Sinne des Art. 39 Abs. 4 EG zuzurechnen sei. Aus diesem Grund wurde vorgetragen, eine Lösung, mit deren Hilfe kategorisierte Verwaltungsbereiche der Vorbehaltsklausel des Art. 39 Abs. 4 EG zugerechnet werden können, sei im Interesse der Rechtsklarheit zu bevorzugen 37. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass die Einzelfallbetrachtung dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts und der sich aus Art. 10 EG ergebenden Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Gemeinschaftstreue besser gerecht wird 38 . Zudem verhindert auch die Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht gänzlich die Zuordnung ganzer Bereiche der öffentlichen Verwaltung zur Vorbehaltsklausel des Art. 39 Abs. 4 EG.
1. Die Einteilung in Verwaltungsbereiche Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich zweifelsohne die Anwendbarkeit des Art. 39 Abs. 4 EG auf Beschäftigungen in der klassischen Eingriffs Verwaltung 39, wie z.B. den Streitkräften, der Polizei oder der Steuerverwaltung, da diese überwiegend mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse gegenüber den Bürgern und der Wahrnehmung der allgemeinen Belange des Staates betraut sind. Hinsichtlich der Beschäftigungen innerhalb der Leistungsverwaltung allerdings erweist sich eine eindeutige Zuordnung tatsächlich als schwierig. Denn gerade hier sind die Mittel staatlichen Handelns, also die Ausübung hoheitlicher Befugnisse, und die Zielsetzung der Verwaltungshandlung nicht derart eindeutig definiert. Dies folgt aus der Dualität der Aufgabenstellungen, die sowohl gewährender Natur sein können, z.B. die Bewilligung einer Leistung, aber auch den Charakter eines Eingriffs in Rechtspositionen haben können, wie etwa die Rückforderung überzahlter Leistungen. Darüber hinaus ergibt sich aus der Aufgabenstellung der Leistungsverwaltung auch, dass diese nicht ausschließlich die Wahrnehmung der allgemeinen Belange des Staates zum Gegenstand hat, sondern primär der Verbesserung und Förderung der
37 Vgl. dazu auch Hailbronner (Fn. 2), S. 131, der eine solche Regelung als gemeinschaftsrechtswidrig ablehnt; Wölker/Grill (Fn. 11), Rn. 160.
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Hailbronner (Fn. 2), S. 131. Friedrich (Fn. 3), S. 26; Wölker/Grill
(Fn. 11), Rn. 161.
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Lebensbedingungen der Bevölkerung dient 40 . Zwar wird in der Bundesrepublik Deutschland gerade im Hinblick auf das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG damit auch den Belangen des Staates Rechnung getragen. Gerade in diesem Bereich ist es aber denkbar, die Aufgaben auch privatwirtschaftlich durchzuführen 41, da es einer besonderen staatlichen Machtstellung in der Regel nicht bedarf. Deshalb wird vielfach vertreten, dass eine Zuordnung der Beschäftigungsverhältnisse in der Leistungsverwaltung zur „Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung" im Sinne des Art. 39 Abs. 4 EG nicht in Betracht kommt, sondern ausschließlich die Eingriffsverwaltung „öffentliche Verwaltung" in diesem Sinne ist, da alle Tätigkeiten, die sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich durchgeführt werden können, nicht unter Art. 39 Abs. 4 EG fallen 42 . Ähnlich äußerte sich dazu der Gerichtshof, indem er ausführte: „[...] gilt die Ausnahme in Art. 39 Abs. 4 nicht für Stellen, die zwar dem Staat oder anderen öffentlich-rechtlichen Einrichtungen zuzuordnen sind, jedoch keine Mitwirkung bei der Erfüllung von Aufgaben mit sich bringen, die zur öffentlichen Verwaltung im eigentlichen Sinne gehören und erst recht nicht für Stellen im Dienst einer natürlichen oder juristischen Person des Privatrechts, unabhängig von den Aufgaben, die der Beschäftigte zu erfüllen hat." 43
Jedenfalls seit dem Urteil in der Rechtssache Marina Mercante Espanola44 ergibt sich jedoch schon bereits dann keine eindeutige Zuordnung mehr, wenn die Beschäftigung im privaten Bereich ausgeübt wird. In diesem Vorabentscheidungsverfahren hatte der Gerichtshof darüber zu entscheiden, ob Kapitäne und Erste Offiziere von Handelsschiffen der Bereichsausnahme des Art. 39 Abs. 4 EG unterliegen, da ihnen, um die Sicherheit auf Schiffen zu gewährleisten, häufig die Ausübung hoheitlicher (polizeilicher) Befugnisse verliehen ist. In seiner Urteilsbegründung führte er aus, dass „Der Umstand, dass die Kapitäne von einer natürlichen oder juristischen Person des Privatrechts beschäftigt werden, für sich genommen nicht geeignet ist, die Anwendbarkeit des Art. 39 Abs. 4 EG auszuschließen, da feststeht, dass die Kapitäne bei der Erfüllung der ihnen übertragenen öffentlichen Aufgaben als Vertreter der öffentlichen Gewalt im Dienst der allgemeinen Belange des Flaggenstaates tätig werden. Der Rückgriff auf die in Art. 39 Art. 4 vorgesehene Ausnahme von der Freizügigkeit der Arbeitnehmer kann jedoch nicht allein damit gerechtfertigt werden, dass nach dem nationalen Recht den Inhabern der fraglichen Stelle hoheitliche Befugnisse zugewiesen sind. Hinzu kommen muss, dass diese Befugnisse von den Stelleninhabern tat-
A0
Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2004, S. 16; Fabis (Fn. 1),
S. 303. So auch Friedrich 41
Wölker/Grill
42
Wölker/Grill
(Fn. 3), S. 26.
(Fn. 11), Rn. 162. (Fn. 11), Rn. 161 f.; Vgl. dazu auch HiUgruber (Fn. 11), S. 2; Fabis
(Fn. 1), S. 299. 43 EuGH Rs. 149/79 (Fn. 12), 3881 ff., Rn. 11; EuGH Rs. 225/85 (Fn. 29), 2625 ff., Rn. 7; EuGH Rs. 147/86 (Kommission./.Griechenland), Slg. 1988, 1637 ff., Rn. 2. 44 E u G H Rs. C-405/01 (Fn. 29), 1-10391 ff.; vgl. dazu auch die wortgleiche Urteilsbegründung in der Rs. C-47/02 (Fn. 29), 1-10447 ff.
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sächlich regelmäßig ausgeübt werden und nicht nur einen sehr geringen Teil ihrer Tätigkeit ausmachen. Wie [...] erwähnt ist nämlich die Tragweite dieser Ausnahme auf das zu beschränken, was zur Wahrung der allgemeinen Belange des betreffenden Mitgliedstaates unbedingt erforderlich ist; diese würden nicht gefährdet, wenn hoheitliche Befugnisse nur sporadisch oder ausnahmsweise von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten ausgeübt würden." 45 Aus dieser Rechtssprechung ergibt sich, dass die bloße Zuordnung einer Beschäftigung zur Leistungsverwaltung die Anwendbarkeit des Art. 39 Abs. 4 E G nicht gänzlich negiert, da diese insbesondere davon unabhängig ist, ob die Beschäftigung bei einer juristischen Person des öffentlichen Rechts oder einer Person des Privatrechts ausgeübt w i r d 4 6 . Vielmehr ist auch hier entscheidend, dass regelmäßig hoheitliche Befugnisse ausgeübt werden, denn: „Der Rückgriff auf die in Art. 39 Abs. 4 EG vorgesehene Ausnahme von der Freizügigkeit der Arbeitnehmer kann jedoch nicht allein damit gerechtfertigt werden, dass nach dem nationalen Recht den Inhabern der fraglichen Stellen hoheitliche Befugnisse zugewiesen sind. Hinzu kommen muss, dass diese Befugnisse von den Stelleninhabern tatsächlich regelmäßig ausgeübt werden und nicht nur einen sehr geringen Teil ihrer Tätigkeit ausmachen."47
2. Die Auswirkungen des A r t . 39 Abs. 4 E G auf das konkrete Beschäftigungsverhältnis Die Zuordnung einer Beschäftigung zur „öffentlichen Verwaltung" i m Sinne des Art. 39 Abs. 4 E G schließt nur den Zugang zur Beschäftigung aus. Dabei ist die W i r k u n g auf diejenigen Beschäftigungsverhältnisse begrenzt, die der Vorbehaltsklausel des Art. 39 Abs. 4 E G unterliegen. A u c h kann der Mitgliedstaat den Bewerbern mit der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaates den Zugang zur öffentlichen Verwaltung allgemein nicht mit dem Hinweis darauf verweigern, dass sie i m Zuge der laufbahnmäßigen Beförderung zukünftig eine „Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung" i m Sinne des Art. 39 Abs. 4 E G ausüben werden, denn dazu hat der Gerichtshof in der Rechtssache K o m mission./.Italien ausgeführt, „[...] dass das Gemeinschaftsrecht es einem Mitgliedstaat nicht verbietet, seinen eigenen Staatsangehörigen innerhalb einer Laufbahn diejenigen Aufgaben vorzubehalten, die Teil der Ausübung hoheitlicher Befugnisse oder der Wahrung der allgemeinen Belange des Staates sind. Wie der Gerichtshof bereits [...] ausgeführt hat, darf die Möglichkeit eines Ausschlusses der Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten von bestimmten Beförderungen oder Versetzungen nicht zur Folge haben, dass all-
45 EuGH Rs. C-405/01 (Fn. 29), 1-10391 ff., Rn. 43 f.; vgl. dazu auch die wortgleiche Urteilsbegründung in der Rs. C-47/02 (Fn. 29), 1-10447 ff., Rn. 63 f. 46 So bereits Schneider/Wunderlich , in: Schwarze (Hg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 39 Rn. 137. 47 EuGH Rs. C-405/01 (Fn. 29), 1-10391 ff., Rn. 44; vgl. dazu auch die wortgleiche Urteilsbegründung in der Rs. C-47/02 (Fn. 29), 1-10447 ff., Rn. 64.
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Beamte
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gemein der Zugang zu Beschäftigungen verwehrt wird, die nicht zur öffentlichen Verwaltung im Sinne von Artikel 48 Abs. 4 EWG-Vertrag gehören." 48
Ergibt die Einzelfallbetrachtung dagegen, dass die Ausnahmebestimmung des Art. 39 Abs. 4 EG nicht einschlägig ist, folgt daraus für den Mitgliedstaat die Pflicht, den Zugang zu dieser Stelle auch für Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten zu öffnen. In diesem Fall gilt das Gleichbehandlungsgebot des Art. 39 Abs. 1 EG uneingeschränkt 49. Dieses gilt auch dann, wenn ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaates bereits eine Beschäftigung im öffentlichen Dienst eines anderen Mitgliedstaates ausübt, denn mit seiner Einstellung hat die Anstellungsbehörde zu erkennen gegeben, dass es für die Ausübung dieser konkreten Stelle der besonderen Bindung, die das Staatsangehörigkeitserfordernis gerade ausdrücken soll, nicht bedarf. Der ausländische Beamte ist in diesem Fall hinsichtlich Entlohnung und sonstiger Arbeitsbedingungen ebenso zu behandeln wie seine inländischen Kollegen 50 . Allerdings soll eine vollständige Gleichwertigkeit dabei nicht Voraussetzung sein. Vielmehr soll es genügen, dass den EG-Arbeitnehmern im Ergebnis dieselben Vergünstigungen und Garantien zuteil werden wie den Inländern 51. Daraus ergibt sich auch, dass das Gleichbehandlungsgebot des Art. 39 Abs. 1 EG nicht so weitreichend ist, dass es die Mitgliedstaaten verpflichtet, den betreffenden Arbeitnehmer zu verbeamten. Vielmehr ist es grundsätzlich ausreichend, ihn als Arbeiter bzw. Angestellten zu beschäftigen 52, wenn diese Beschäftigungsverhältnisse denen der Beamten hinsichtlich Entlohnung und Arbeitsbedingungen gleichwertig sind 53 . Diese Grundsätze finden jedoch ausschließlich auf das konkrete Beschäftigungsverhältnis in der öffentlichen Verwaltung Anwendung. Steht etwa im Zuge einer Beförderung oder Versetzung die Ausübung einer anderen Stelle durch den ausländischen Beamten zur Debatte, so kann die Vorbehaltsklausel des Art. 39 Abs. 4 EG wieder eingreifen 54. In diesem Fall ist der Mitgliedstaat nicht verpflichtet, dem EG-Arbeitnehmer diese Stelle anzubieten, auch wenn dies zu einer Durchbrechung des Laufbahnprinzips bzw. zu Ungleichbehandlungen gegenüber inländischen Kollegen führt 55 .
48
EuGH Rs. 225/85 (Fn. 29), 2625 ff., Rn. 10.
49
Franzen (Fn. 16), Rn. 155. Scheuer (Fn. 28), Rn. 87.
50
51 So auch Brechmann, in: Callies/Ruffert (Hg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EGVertrag, 2. Aufl. 2002, Art. 39 Rn. 100; Franzen (Fn. 16), Rn. 155.
52
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53
Hinsichtlich der Gleichwertigkeit ablehnend äußern sich Alber (Fn. 16), S. 231;
(Fn. 11), Art. 39, Rn. 168.
Η ill g ruber (Fn. 11), S. 5. 54 Wölker/Grill (Fn. 11), Rn. 166. 55
Vgl. dazu oben, Urteil des EuGH Rs. 225/85 (Fn. 29), 2625 ff., Rn. 10.
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V. Die Umsetzung in Deutschland Nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 BBG 5 6 und § 4 Abs. 1 Nr. 1 BRRG 57 in der bis einschließlich 1993 maßgeblichen Fassung durfte in das Bundesbeamtenverhältnis nur berufen werden, wer Deutscher im Sinne des Art. 116 GG ist. Entsprechend sahen die jeweiligen Landesbeamtengesetze das Erfordernis der deutschen Staatsangehörigkeit vor. Fehlte einem Bewerber die deutsche Staatsangehörigkeit, konnte dieser nach § 7 Abs. 2 BBG a.F. bzw. § 4 Abs. 2 BRRG a.F. eine Ausnahmengenehmigung vom Staatsangehörigkeitserfordernis im Einzelfall beim Bundesminister des Inneren beantragen. Diesem Begehren konnte stattgegeben werden, wenn hierfür ein dringendes dienstliches Bedürfnis bestand. Ein solches lag vor, wenn der Bewerber über besondere Fachkenntnisse verfügte, die die ordnungsgemäße Erfüllung der mit der Stelle verbundenen Aufgaben zwingend erfordern und geeignete deutsche Bewerber nicht zur Verfügung standen58. Eine allgemeine Befreiung vom Staatsangehörigkeitserfordernis existierte über § 4 Abs. 2 BRRG a.F. 59 nur im Hochschulbereich. Damit war ausländischen Mitbürgern der Zugang zu verbeamteten Stellen im deutschen öffentlichen Dienst, außer im Hochschulbereich, praktisch versperrt 60, mit der Folge, dass eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit erfolgte, die mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 39 EG nicht vereinbar war und sich im Laufe der Jahre als nicht mehr tragbar erwies. Ausweislich der Gesetzesbegründung61 sah sich die Bundesregierung im Jahr 1993, insbesondere anlässlich der oben skizzierten Rechtsprechung des Gerichtshofes, dazu veranlasst, die Bundesbeamtengesetze62 zu ändern. Sicherlich trug nicht zuletzt auch die „systematische Aktion" auf dem Gebiet der Anwendung des Art. 39 Abs. 4 EG aus dem Jahr 198863, in der die europäische Kommission kategorisierend Bereiche 64 festlegte, die dem Anwendungsbereich des Art. 39 Abs. 4 EG zuzu-
56 57
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In der Fassung vom 14.07.1953, BGBl. I 1953, 551 ff. In der Fassung vom 01.07.1957, BGBl. I 1957, 667 ff.
Fabis (Fn. 1), S. 344.
In der Fassung vom 01.07.1957, BGBl. I 1957, 667 ff. 60 Im Ergebnis so auch Fabis (Fn. 1), S. 344. 61 BR-Drucksache 555/92, 11 ff. 62 Die Landesbeamtengesetze wurden diesen geänderten Vorschriften im Laufe der Zeit angepasst. So lautet z. B. Art. 9 Abs. 1 Nr. 1 BayBG: „In das Beamtenverhältnis darf nur berufen werden, wer Deutscher im Sinne des Art. 116 des Grundgesetzes ist oder die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union besitzt." Art. 9 Abs. 2 BayBG sieht entsprechend den Bundesgesetzen darüber hinaus vor: „Wenn die Aufgaben es erfordern, darf nur ein Deutscher im Sinn des Art. 116 des Grundgesetzes in ein Beamtenverhältnis berufen werden (Art. 39 Abs. 4 EG-Vertrag)." 63 Kommissionsbeschluss 88/C 72/02, AB1EG 1988 Nr. С 72. 64 Dies sollten nach Auffassung der europäischen Kommission die Streitkräfte, die Polizei- und sonstige Ordnungskräfte, die Rechtspflege, die Steuerverwaltung, die Diplomatie, die Bundes- und Landesministerien sowie die Regionalregierungen, die Gebietskörper-
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rechnen seien, und die Mitgliedstaaten unter Androhung der Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren aufforderte, ihre nationalen Rechtsordnungen den Zielen des EG-Vertrages anzupassen, und die im Zuge dessen folgenden Vertragsverletzungsverfahren nicht unerheblich zur Entschließung des Bundesgesetzgebers bei. Durch das Zehnte Gesetz zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften vom 20.12.199365 wurden die maßgeblichen Vorschriften des § 4 BRRG und des § 7 BBG dahingehend geändert, dass in das Beamtenverhältnis nun auch berufen werden kann, wer die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft besitzt. Ein Inländervorbehalt besteht seitdem nur noch in Ausnahmefällen, wenn die wahrzunehmenden Aufgaben die Zugehörigkeit zum nationalen Staatsvolk erfordern 66. Dieser Schritt des Bundesgesetzgebers blieb jedoch insbesondere aus zwei Gründen nicht frei von Kritik. So wurde zunächst die Erforderlichkeit der Begründung des Beamtenstatus für Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten in Frage gestellt 67 . Hatte doch der Gerichtshof bereits in der Rechtssache Sotgiu./.Deutsche Bundespost68 entschieden, dass es für die Rechtfertigung einer Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit nach Art. 39 Abs. 4 EG unerheblich sei, „ob ein Arbeitnehmer als Arbeiter, Angestellter oder Beamter beschäftigt wird, oder ob sein Beschäftigungsverhältnis öffentlichem oder privatem Recht unterliegt". Maßgeblich sei allein, ob „eine unterschiedliche Behandlung in Bezug auf Entlohnung oder sonstige Arbeitsbedingungen" 69 vorliege. Aus dieser Rechtsprechung wurde gefolgert, dass die Öffnung des Beamtenverhältnisses für Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten nicht notwendig gewesen wäre 70 . Zwar wurde in der Regel anerkannt, dass die Beschäftigung im Angestelltenverhältnis derjenigen im Beamtenverhältnis nicht vollständig gleichwertig ist und so den Anforderungen des EG-Vertrages nicht genügt71. Jedoch wurden zum Schutz des bestehenden Beamtensystems verschiedenste Lösungsmöglichkeiten angeboten, wie etwa die Herauslösung der von der Bereichsausnahme des Art. 39 Abs. 4 EG erfassten Verwaltungsbereiche aus dem Beamtensystem72 oder die Gründung eines Sonderstatus für EG-Staats-
schaften, die Zentralbanken und die Aufsichtsbehörden im Bereich der Versicherungen, des Umweltschutzes, der Arbeitsverwaltung und des Verbraucherschutzes sein. 65 BGBl. 12136. 66 Vgl. § 4 Abs. 3 BRRG, § 7 Abs. 3 BBG. 67 Vgl. dazu ausführlich Hillgruber (Fn. 11), S. 5; Battis, Entwicklung des Beamtenrechts im Jahre 1993, NJW 1994, S. 1039 ff., 1039 m. w. N. 68 EuGH Rs. 152/73, (Fn. 29), 153, Rn. 5. 69 EuGH Rs. 152/73, (Fn.29), 153, Rn. 4. 70 71 72
Vgl. dazu Wölker/Grill (Fn. 11), Rn. 168 m. w. N. Alber (Fn. 16), S. 231; Hillgruber (Fn. 11), S. 5. Wölker/Grill (Fn. 11), Rn. 168; Hillgruber (Fn. 11), S. 5; ausführlich dazu Fabis
(Fn. 1),S. 331 ff.
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angehörige, ähnlich dem der DO-Angestellten 73 in der Sozialversicherung, der dem Beamtenverhältnis weitgehend entspricht. Zudem wurde vielfach die Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung der Bundesbeamtengesetze angezweifelt 74. Denn Art. 33 Abs. 5 GG bestimmt, dass das Recht des öffentlichen Dienstes unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln ist. Da das Staatsangehörigkeitserfordernis zu diesen hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums zähle, hätte es zur Öffnung des Beamtentums für Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten einer Verfassungsänderung bedurft. Die Zuordnung des Staatsangehörigkeitserfordernisses zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums ergäbe sich bereits daraus, dass jedenfalls seit der Zeit der Weimarer Republik die deutsche Staatsangehörigkeit stillschweigendes Erfordernis für die Beamtenernennung gewesen sei 75 . Inzwischen aber haben sich die Wogen geglättet und es ist um die Öffnung des Beamtenverhältnisses für Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten ruhig geworden. Dies liegt sicherlich daran, dass zum einen ein Gewöhnungseffekt eingetreten ist, zum anderen aber auch daran, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit gerade im Bereich der öffentlichen Verwaltung - mit Ausnahme des Schuldienstes - von den Unionsbürgern nur in sehr geringem Umfang in Anspruch genommen wird 76 .
73
Fabis (Fn. 1), S. 356 m. w. N.
74
Summerer, Auswirkungen des Europarechts auf das Beamtenrecht, in: Bottke/Möllers/Schmidt, Recht in Europa - Festgabe zum 30-jährigen Bestehen der Juristischen Fakultät Augsburg, 2003, S. 281 ff., 285. 75 Zwar enthielt das Gesetz betreffend die Rechtsverhältnisse der Reichsbeamten vom 31.03.1873 keine Regelung, welche die Reichsangehörigkeit des Bewerbers um eine Beamtenstelle voraussetzt, allerdings war in § 15 des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 22.07.1913 vorgesehen, dass die Anstellung eines Ausländers im Reichsdienst als Einbürgerung in den Bundesstaat gilt, sofern dieser seinen Wohnsitz im Reich nimmt und in der Anstellungsurkunde kein Vorbehalt enthalten ist. Regelmäßig wurde damals dem stillschweigend vorausgesetzten Erfordernis der deutschen Staatsangehörigkeit also dadurch Genüge getan, dass, sollte einem Bewerber für das Beamtenverhältnis die deutsche Staatsangehörigkeit gefehlt haben, ihm diese mit der Ernennung verliehen wurde. Hierfür wohl bekanntestes Beispiel ist die Ernennung Hitlers zum Regierungsrat im Landeskultur- und Vermessungsamt von Braunschweig, kraft der er die deutsche Staatsangehörigkeit und damit die Wählbarkeit im Deutschen Reich erlangte. Die Folgeregelung des § 25 Abs. 1 des Deutschen Beamtengesetzes vom 26.01.1937 sah dagegen vor, dass Beamte „deutschen oder artverwandten Blutes" sein müssen und enthielt damit zwar rassische Merkmale, nicht hingegen ein Staatsangehörigkeitserfordernis. Dies änderte sich gegen den Widerstand der Alliierten, die das deutsche Beamtentum nach dem Krieg zunächst abschafften, erst wieder durch die Beamtengesetze von 1950. Nach § 26 Abs. 1 Nr. 1 des Deutschen Beamtengesetzes konnte grds. nur derjenige Bewerber zum Beamten ernannt werden, der auch die deutsche Staatsangehörigkeit besaß, vgl. dazu ausführlich Fabis (Fn. 1), S. 345 ff.; Summerer (Fn. 74), S. 285 f. 76
Vgl. dazu Hailbronner (Fn. 2), S. 129.
Die Richtlinie 2000/78/EG und das kirchliche Arbeitsrecht in Deutschland Von Wolfgang Riifner
I. Einführung Die Europäische Union (früher Europäische Gemeinschaft) hat sich seit ihren Anfängen um die Beseitigung von Diskriminierungen im Allgemeinen und von beruflichen Diskriminierungen im Besonderen gekümmert. War ursprünglich die Gleichberechtigung der Geschlechter das vorrangige Ziel, steht neuerdings der Kampf gegen Diskriminierungen aller Art auf dem Programm. In Art. 13 EG, durch den Vertrag von Amsterdam neu eingefügt, wird der Rat ermächtigt, auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Parlamentes allgemein Vorkehrungen gegen Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu treffen. Auf der Grundlage dieses Art. 13 hat der Rat am 27.11.2000 die Richtlinie 2000/78/ EG zur Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf erlassen. Sie wendet sich gegen Diskriminierungen wegen der Religion oder Weltanschauung, wegen einer Behinderung, wegen des Alters oder der sexuellen Ausrichtung. Die Umsetzung dieser Richtlinie in Deutschland steht derzeit (Anfang 2006) noch aus, obwohl die Frist am 2.12.2003 abgelaufen ist. Die frühere Regierungskoalition hatte den Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetze (ADG) 1 eingebracht, der außer der Richtlinie 2000/78/EG auch die Richtlinien 2000/43/ EG (Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse und der ethnischen Herkunft), 2002/73/EG (Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Beruf) und 2004/113/EG (Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen) umsetzen sollte. Über diese Richtlinien hinaus sollte der Entwurf alle nach Art. 13 EG zulässigen Diskriminierungsverbote innerstaatlich allgemein verbindlich machen und
1 Gesetzentwurf BTDrucks. 15/4583 vom 16.12.2004, eingebracht von der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, in der veränderten Ausschussfassung BTDrucks. 15/5717 am 17.06.2005 vom Bundestag angenommen.
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Wolfgang Riifner
ihnen damit eine sehr weit reichende Drittwirkung verschaffen 2 . Das vom Bundestag verabschiedete Gesetz wurde vom Bundesrat kurz vor Ende der Legislaturperiode durch Anrufung des Vermittlungsausschusses, der nicht mehr zusammentreten konnte, zu Fall gebracht 3 .
I I . Grundsätzliches zur Richtlinie 1. Entstehungsgeschichte Bestimmungen für das kirchliche Arbeitsrecht finden sich in Art. 4 Abs. 2 R L 2000/78/EG (nachstehend RL). Sie sind erst nach vielen Diskussionen zustande gekommen. I m Entwurf der Kommission vom 27.11.1999 4 waren die Besonderheiten des kirchlichen Dienstes noch nicht erfasst. Der Vorschlag, dem schon andere Formulierungsversuche vorausgegangen waren 5 , enthielt in 2 Mit Recht weist Link, Antidiskriminierung und kirchliches Arbeitsrecht, ZevKR 50 (2005), S. 403, 404 f., auf die Ambivalenz der Drittwirkung für den Grundrechtsstandard hin. 3 Dazu und zu den Folgen der nicht rechtzeitigen Umsetzung Klumpp, Diskontinuität und ihre Folgen für das Antidiskriminierungsrecht, NZA 2005, S. 848 ff. 4 Wortlaut in der Fassung des Vorschlags der EU-Kommission vom 25.11.1999 К О М (1999) 565 endg., abgedruckt in ABl. Nr. С 177 Ε vom 27.6.2000, S. 42 ff.: „Art. 4 Wesentliche Berufliche Anforderungen 1. Abweichend von den Bestimmungen des Artikels 2 Absätze 1 und 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass eine Ungleichbehandlung aufgrund eines Umstandes, der im Zusammenhang mit einem der in Artikel 1 genannten Diskriminierungsgründe steht, keine Diskriminierung darstellt, wenn aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung, dieser eine wesentliche berufliche Anforderung darstellt. 2. Mitgliedsstaaten können in Bezug auf öffentliche oder private Organisationen, die in den Bereichen der Religion oder des Glaubens im Hinblick auf Erziehung, Berichterstattung und Meinungsäußerung unmittelbar und überwiegend eine bestimmte weltanschauliche Tendenz verfolgen und innerhalb dieser Organisationen hinsichtlich spezieller beruflicher Tätigkeiten, die unmittelbar und überwiegend diesem Zweck dienen, vorsehen, dass eine unterschiedliche Behandlung dann keine Diskriminierung darstellt, wenn sie durch ein bestimmtes Merkmal begründet ist, das mit der Religion oder dem Glauben zusammenhängt und wenn auf Grund der Eigenschaft dieser Tätigkeiten, dieses bestimmte Merkmal eine wesentliche berufliche Anforderung darstellt." Zu dieser sehr einengenden Fassung krit. Winter, Das Verhältnis von Staat und Kirche als Ausdruck der kulturellen Identität der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, in: Verfassung - Philosophie - Kirche, FS Hollerbach, 2001, S. 893, 896 ff.; Hanau/Thüsing, Europarecht und kirchliches Arbeitsrecht, 2001, S. 29; Thüsing, Religion und Kirche im neuen Anti-Diskriminierungsrecht, JZ 2004, S. 172, 176; Kehlen, Europäische Antidiskriminierung und kirchliches Selbstbestimmungsrecht, 2003, S. 181. 5 Zu weiteren Einzelheiten der Entstehungsgeschichte Heinig, Art. 13 EGV und die korporative Religionsfreiheit nach dem Grundgesetz, in: Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, 2001, S. 215, 237 ff.; Kehlen (Fn. 4), S. 181 ff.; Triebel, Das europäische Religionsrecht am Beispiel der arbeitsrechtlichen Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG, 2005, S. 81 ff.; Reichegger, Die Auswirkungen der Richtlinie 2000/78/EG
Die Richtlinie 2000/78/EG
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Art. 4 Abs. 2 nur eine allgemeine Klausel, die über einen Tendenzschutz für Glauben und Religion nicht hinausging. Besondere kirchliche Interessen wurden, wie bei der „staatskirchenrechtsblinden" E U nicht selten 6 , zunächst nicht bemerkt und deshalb übergangen. Wäre es dabei geblieben, wäre das kirchliche Arbeitsrecht mit seinen Loyalitätsanforderungen an die Mitarbeiter in einen ernsten K o n f l i k t mit dem Europarecht gekommen 7 . Aufgrund kirchlicher Initiativen wurde Art. 4 Abs. 2 geändert, allerdings zunächst noch mit einem unbefriedigenden Wortlaut, der sehr stark auf bestimmte berufliche Tätigkeiten in der Kirche abstellte und nur insoweit eine unterschiedliche Behandlung erlaubte 8 . Der schließlich approbierte Text des Art. 4 R L 9 verweist auf das i m jeweiligen Mitgliedstaat bestehende Recht, das grundauf das kirchliche Arbeitsrecht unter Berücksichtigung von Gemeinschaftsgrundrechten, 2005, S. 192 ff.; vgl. ferner den ursprünglichen Vorschlag und den geänderten Vorschlag der Kommission im ABl. С 62 E/152 ff. vom 27.2.2001. 6 Robbers, Europarecht und Kirchen, in: HdbStKirchR I, S. 315, 318; Link (Fn. 2), S. 410. 7 Joussen, Die Folgen der europäischen Diskriminierungsverbote für das kirchliche Arbeitsrecht, RdA 2003, S. 32, 35; unter Berufung auf Reichold, Europa und das deutsche kirchliche Arbeitsrecht, NZA 2001, S. 1054, 1055; de Wall, Europäisches Staatskirchenrecht, ZevKR 45 (2000), S. 157, 162 (der sich nicht zu der Richtlinie, sondern zu Art. 13 EG äußert); Winter (Fn. 4), S. 896 ff. 8 Dazu Hanau/Thüsing (Fn. 4), S. 30. 9 Artikel 4 RL 2000/78/EG: „Berufliche Anforderungen (1) Ungeachtet des Artikels 2 Absätze 1 und 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass eine Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit einem der in Artikel 1 genannten Diskriminierungsgründe steht, keine Diskriminierung darstellt, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt. (2) Die Mitgliedstaaten können in Bezug auf berufliche Tätigkeiten innerhalb von Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, Bestimmungen in ihren zum Zeitpunkt der Annahme dieser Richtlinie geltenden Rechtsvorschriften beibehalten oder in künftigen Rechtsvorschriften Bestimmungen vorsehen, die zum Zeitpunkt der Annahme dieser Richtlinie bestehende einzelstaatliche Gepflogenheiten widerspiegeln und wonach eine Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung einer Person keine Diskriminierung darstellt, wenn die Religion oder die Weltanschauung dieser Person nach der Art dieser Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt. Eine solche Ungleichbehandlung muss die verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Grundsätze der Mitgliedstaaten sowie die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts beachten und rechtfertigt keine Diskriminierung aus einem anderen Grund. Sofern die Bestimmungen dieser Richtlinie im übrigen eingehalten werden, können die Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, im Einklang mit den einzelstaatlichen verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Rechtsvorschriften von
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sätzlich aufrechterhalten werden darf. Er mildert die Anforderungen an die berufliche Tätigkeit ab, für die Differenzierungen nach der Religion erlaubt sind, und lässt in einem neuen zusätzlichen Satz besondere Loyalitätsanforderungen zu. Diese kirchenfreundlichere Fassung10 beruht auf Bemühungen der deutschen Regierung und wurde schließlich mit maßgeblicher Hilfe der irischen Regierung 11 durchgesetzt. Die Entstehungsgeschichte zeigt große Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten, die anscheinend sehr unterschiedliche Ziele verfolgten 12.
2. Bedeutung der Merkmale für die Kirchen Die Richtlinie hat erhebliche Auswirkungen auf das kirchliche Arbeitsrecht, denn ihre scharfen Diskriminierungsverbote stehen zum Teil in einem deutlichen Spannungsverhältnis zum kirchlichen Selbstbestimmungsrecht 13. Unproblematisch für die Kirchen sind die verpönten Merkmale des Alters oder einer Behinderung. Diskriminierungen wegen des Alters oder wegen einer Behinderung widersprechen ohnehin dem kirchlichen Ethos 14 . Dies gilt umso mehr, als in Art. 4 Abs. 1 RL und in Art. 5 und 6 RL die notwendigen allgemeinen Ausnahmen verfügt sind. Spezifisch betroffen sind die Kirchen von den Diskriminierungsverboten wegen der Religion oder Weltanschauung und wegen der sexuellen Ausrichtung. Mit dem letztgenannten Diskriminierungsmerkmal haben zwar nicht alle christlichen Kirchen gleich große Schwierigkeiten, für die Katholische Kirche, die größte Religionsgemeinschaft in der EU, ist praktizierte Homosexualität15 als legitime Lebensform aber nicht annehmbar.
den für sie arbeitenden Personen verlangen, dass sie sich loyal und aufrichtig im Sinne des Ethos der Organisation verhalten." 10 De Wall, Neuere Entwicklungen im Europäischen Staatskirchenrecht, ZevKR 47 (2002), S. 205, 210, spricht von einem ermutigenden Erfolg für die Kirchen. 11 Erst das drohende Veto Irlands sorgte für die kirchenfreundliche Fassung des Absatzes 2, Reichold (Fn. 7), S. 1055; nach Hanau/Thiising (Fn. 4), S. 27, machte sich insbesondere Irland zum Anwalt der Kirchen. 12 Kehlen (Fn. 4), S. 184, spricht von einer subjektiven Sichtweise der Mitgliedstaaten, will aber gleichwohl (S. 183) entgegen der hier vertretenen Auffassung eine Auslegung im Sinne des in Deutschland anerkannten Selbstbestimmungsrechts der Kirchen ausschließen. 13 Grabenwarter, Die Kirchen in der Europäischen Union - am Beispiel von Diskriminierungsverboten in Beschäftigung und Beruf, in: Standpunkte im Kirchen- und Staatskirchenrecht, 2002, S. 60, 68. 14 15
In diesem Sinne Hanau/Thüsing
(Fn. 4), S. 27 f.; Link (Fn. 2), S. 412.
Wäre, wie Hanau/Thüsing (Fn. 4), S. 35, und Mohr, Schutz vor Diskriminierungen im Europäischen Arbeitsrecht, 2004, S. 199, meinen, mit dem Verbot der Diskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung nur diese, nicht das auf der sexuellen Orientie-
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3. Auslegungsmaximen von Art. 4 Abs. 2 RL Die Bestimmungen des Art. 4 Abs. 2 RL, die den kirchlichen Interessen gerecht zu werden versuchen, stellen auf den jeweiligen nationalen Rechtszustand ab und lassen zu, „die im Zeitpunkt der Annahme dieser Richtlinien geltenden Rechtsvorschriften" beizubehalten und sogar künftig Rechtsvorschriften zu erlassen, welche „bestehende einzelstaatliche Gepflogenheiten widerspiegeln". Sie sind also bestrebt, den bestehenden Rechtszustand zu erhalten 16. Schon deshalb verbietet sich eine Auslegung, nach der für die Kirchen ein neuer gleichheitsrechtlicher Mindeststandard vorgeschrieben wird 17 . Die Auslegung hat sich an den Grundsätzen der EU zu orientieren, zu denen die individuelle und die korporative Religionsfreiheit und auch das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften gehören 18. Bei der Auslegung von Art. 4 Abs. 2 RL hilft ein Blick auf die Erwägungen, welche der Richtlinie - wie üblich - vorangestellt sind 19 . In Nr. 24 verweist der Rat auf die Kirchenerklärung zur Schlussakte von Amsterdam (Erklärung Nr. 11), in der die Europäische Union erklärt, dass sie den Status der Kirchen und religiösen Vereinigungen oder Gemeinschaften ausdrücklich anerkennt und den Status der Kirchen und religiösen Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten achtet und ihn nicht beeinträchtigt. Diese Erklärung ist zwar bislang nicht Bestandteil der Verträge, sondern nur eine von den Mitgliedstaaten angenommene Erklärung, deren Verbindlichkeit geringer ist. Sie ist derzeit u.a. gedacht als Auslegungsrichtlinie für das gesamte Recht der EU 2 0 und wird, rung beruhende sexuelle Verhalten gemeint, wäre das Diskriminierungsverbot auch für die katholische Kirche weitgehend entschärft. Mit Recht bemerken Hanau/Thüsing nur wegen homosexueller Orientierung habe die Kirche schon bisher nicht kündigen dürfen. Gegen diese enge Interpretation der „sexuellen Ausrichtung" wohl zutreffend Reichegger (Fn. 5), S. 217. 16
So zutreffend Kehlen (Fn. 4), S. 177; Grabenwarter
(Fn. 13), S. 76, weist auf die
bemerkenswerte Regelungstechnik durch Verweis auf nationales Recht hin. 17 Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 473, erkennt zwar an, dass kein eigener europarechtlicher Standard gesetzt wird, meint aber, ein Mindeststandard werde festgelegt; ähnlich schon Weber, Geltungsbereiche des primären und sekundären Europarechts für die Kirchen, ZevKR 47 (2002), S. 221, 240, der davon spricht, dass in Deutschland tolerierte Übersteigerungen bei den Loyalitätsanforderungen auf ein gesamteuropäisch vertretbares Niveau abgeschliffen werden könnten. Gegen solche Auffassungen mit Recht Waldhoff, Kirchliche Selbstbestimmung und Europarecht, JZ 2003, S. 978, 986. 18 Germann/de Wall, Kirchliche Dienstgemeinschaft und Europarecht, in: Recht der Wirtschaft und der Arbeit in Europa, GS W. Blomeyer, 2004, S. 549, 575. 19 Zur Bedeutung der Erwägungsgründe von Richtlinien allgemein Jestaedt, Diskriminierungsschutz und Privatautonomie, VVDStRL 64, S. 298, 319 m.w.N. 20 In diesem Sinne Grabenwarter (Fn. 13), S. 63; Heinig, Religionsgesellschaften (Fn. 17), S. 418 f. m.w.N.; Kehlen (Fn. 4), S. 186 f.; grundsätzlich zu der Erklärung Heintzen, Die Kirchen im Recht der Europäischen Union, in: Dem Staate, was des Staates - der Kirche, was der Kirche ist, FS J. Listl, 1999, S. 29 ff.; Schliemann, Europa und
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indem in der Erwägung Nr. 24 auf sie verwiesen wird, in eben diesem Sinne in die Richtlinie eingeführt 21, und zwar mit der ausdrücklichen Bemerkung, die Mitgliedstaaten könnten in dieser Hinsicht spezifische Bestimmungen über die wesentlichen, rechtmäßigen und gerechtfertigten beruflichen Anforderungen beibehalten oder vorsehen, die Voraussetzung für die Ausübung einer diesbezüglichen beruflichen Tätigkeit sein können. Daraus folgt: Die Richtlinie ist so auszulegen, dass sie den Status der Kirchen nach deutschem Recht möglichst nicht beeinträchtigt. Ob dieses Ergebnis auch ohne die Bezugnahme auf die Erklärung Nr. 11 in den Erwägungsgründen gelten müsste22, muss an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden. Wenn eine Richtlinie ausdrücklich die Erklärung Nr. 11 in ihre Erwägungsgründe aufnimmt, gibt sie ihr damit - ohne Rücksicht auf den Grad ihrer allgemeinen Verbindlichkeit für das Recht der EU -jedenfalls Verbindlichkeit für die Auslegung des jeweiligen Textes23.
I I I . Unterschiedliche Behandlung wegen der Religion 1. Religion und Zugang zur beruflichen Tätigkeit Art. 4 Abs. 2 S. 1 RL erlaubt für Kirchen und andere öffentliche und private Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, Bestimmungen, nach denen eine Ungleichbehandlung einer Person wegen der Religion oder Weltanschauung keine Diskriminierung darstellt, wenn die Religion oder die Weltanschauung dieser Person nach der Art dieser Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos dieser Organisation darstellt.
das deutsche kirchliche Arbeitsrecht, NZA 2003, S. 407, 410; Vachek, Das Religionsrecht der Europäischen Union im Spannungsfeld zwischen mitgliedstaatlichen Kompetenzreservaten und Art. 9 EMRK, 2000, S. 125 ff. 21 Wortlaut der Erwägung 24: Die Europäische Union hat in ihrer der Schlussakte zum Vertrag von Amsterdam beigefügten Erklärung Nr. 11 zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften ausdrücklich anerkannt, dass sie den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, achtet und ihn nicht beeinträchtigt und dass dies in gleicher Weise für den Status von weltanschaulichen Gemeinschaften gilt. Die Mitgliedstaaten können in dieser Hinsicht spezifische Bestimmungen über die wesentlichen, rechtmäßigen und gerechtfertigten beruflichen Anforderungen beibehalten oder vorsehen, die Voraussetzung für die Ausübung einer diesbezüglichen beruflichen Tätigkeit sein können. 22 In diesem Sinne Waldhoff (Fn. 17), S. 984 f. 23 Dill, Die Antidiskriminierungs-Richtlinien der EU und das deutsche Staatskirchenrecht, ZRP 2003, S. 318, 320; Kehlen (Fn. 4), S. 186 ff., beachtet die Bedeutung der ausdrücklichen Erwähnung der Kirchenerklärung im Text der Richtlinie zu wenig.
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Danach darf den Kirchen und den kirchlichen Organisationen 24 erlaubt werden, ihre eigenen Mitglieder bei der Einstellung in ihren Dienst zu bevorzugen 25 . Allerdings muss die Religion oder die Weltanschauung nach der Art der Tätigkeit oder der Umstände ihrer Ausübung „eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte Anforderung angesichts des Ethos der Organisation" sein. Der Wortlaut scheint zunächst für eine Auslegung zu sprechen, dass es nach Europarecht - und dementsprechend künftig nach dem nationalen Recht, welches die Richtlinie umgesetzt hat - Tätigkeiten bei der Kirche gibt, für welche das Diskriminierungsverbot wegen der Religion gilt 2 6 . Dies ist für das deutsche Staatskirchenrecht an sich nicht neu. Bei rein kommerziellen kirchlichen Unternehmungen, insbesondere solchen, die nur der Vermögensanlage und Vermögensmehrung dienen, ist, wie allgemein anerkannt wird, das kirchliche Arbeitsrecht nicht anwendbar. Insoweit gibt es auch nach bisherigem deutschem Recht Arbeitsverhältnisse im kirchlichen Dienst, die nicht vom Ethos der Kirche getragen sind 27 . Bei kirchlichen Einrichtungen, die religiöse Ziele haben, stellt sich dagegen die Frage, wann die Religion eine „wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung ist" und vor allem, wer darüber bestimmt. Theoretisch lassen sich die Positionen, welche die Religionszugehörigkeit voraussetzen, sehr eng umschreiben. Sieht man von liturgischen Funktionen ab, können die meisten Tätigkeiten im kirchlichen Dienst auch von Nichtangehörigen der Kirche, ja selbst von Nichtchristen verrichtet werden. Das gilt auch in Bereichen, die, wie Caritas und Diakonie, der Religionsausübung zuzurechnen sind 28 . Nur bei Personen, welche wie Geistliche oder Religionslehrer (im weitesten Sinne) und vielleicht noch Küster am Gottesdienst oder an der Glaubensverkündigung unmittelbar mitwirken, ist die Kirchenzugehörigkeit unbedingt 24
Mit den „anderen öffentlichen oder privaten Organisationen", welche in Art. 4 Abs. 2 RL erwähnt sind, sind die der Kirche zugeordneten Einrichtungen erfasst. Dies dürfte allgemein anerkannt sein: Grabenwarter (Fn. 13), S. 74 f.; Heinig, Religionsge-
sellschaften (Fn. 17), S. 473; Kehlen (Fn. 4), S. 171 ff.; Miickl,
Europäisierung des
Staatskirchenrechts, 2005, S. 510, der mangels anderer Kriterien hier auf die Zuordnung nach nationalem Recht abstellen will. 25 Mohr (Fn. 15), S. 202, bemerkt mit Recht, dass Art. 4 Abs. 2 S. 1 RL vor allem bei der Einstellung Bedeutung habe, während Satz 3 vor allem bei der Durchführung des Arbeitsverhältnisses Anwendung finde (S. 202 f.). 26 27
Joussen (Fn. 7),S. 32.
Richtig bemerkt Schliemann (Fn. 20), S. 411, die Richtlinie gehe von der Vorstellung aus, es müsse auch nicht vom Ethos geprägte Dienste der Kirche geben; Reichegger (Fn. 5), S. 204, vermisst solche Dienstverhältnisse zu Unrecht bei den Vertretern der Auffassung, die Abgrenzung der vom Sonderrecht betroffenen Arbeitsverhältnisse sei Sache der Kirche. 28 BVerfGE 24, 236, 246 ff.; dazu aus kirchlicher Sicht eindringlich Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Enzyklika DEUS CARITAS EST, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 171, 2006, Nr. 28 ff.
290
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erforderlich. Außerhalb dieses Bereichs wird sich keine Tätigkeit finden lassen, die nicht bereits in Einzelfällen einem Nichtkirchenangehörigen oder sogar einem Nichtchristen anvertraut wurde. Insbesondere wird sich bei fast keinem einzelnen Dienstposten in Caritas und Diakonie, wo die meisten kirchlichen Arbeitnehmer beschäftigt sind 29 , nachweisen lassen, dass die Zugehörigkeit zur Kirche eine unverzichtbare Anforderung ist. Der für Nichtkirchenangehörige absolut unzugängliche kirchliche Dienst existiert nur im engsten Rahmen. Er kann angesichts der Bevölkerungsstruktur in Deutschland nicht weit sein, und es ist sogar zweifelhaft, ob es aus kirchlicher Sicht wünschenswert wäre, Nichtkirchenangehörige vom kirchlichen Dienst schlechthin auszuschließen. Der Gegenschluss liegt nahe, Religionszugehörigkeit dürfe nur bei Dienstposten gefordert und zum Kriterium bevorzugter Einstellung gemacht werden, wenn die Zugehörigkeit zur eigenen Kirche im Einzelfall unverzichtbar sei 30 . Ein so enger Anwendungsbereich des Art. 4 Abs. 2 RL wird den kirchlichen Bedürfnissen nicht gerecht. Aus kirchlicher Sicht notwendig ist eine klare Ausrichtung des Personals auf das kirchliche Wirken, die nach außen spürbare Kirchlichkeit kirchlicher Einrichtungen, und zwar nicht nur in den verfassten Kirchen, sondern auch in den juristisch verselbständigten Organisationen, welche ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform der Kirche zugeordnet sind und nach kirchlichem Selbstverständnis ihrem Zweck oder ihrer Aufgabe entsprechend berufen sind, ein Stück des Auftrags der Kirche wahrnehmen und zu erfüllen 31 . Dies gilt insbesondere für die kirchlichen Einrichtungen im Bereich von Bildung und Caritas. Dazu bedarf es eines maßgebenden Anteils von Dienstnehmern der eigenen Religionsgemeinschaft, und zwar umso mehr, je mehr es um die leitenden Positionen geht. Die gesamte Dienstgemeinschaft 32 muss im Sinne der Kirche wirken. Wenn irgend möglich, sollte die Zahl der Kirchenangehörigen in allen Positionen so groß sein, dass dieses Wirken glaubwürdig und für jedermann erkennbar wird 33 .
29
Reichold (Fn. 7), S. 1056.
30
In diesem Sinne Budde, Kirchenaustritt als Kündigungsgrund?, AuR 2005, S. 353, 358, die ausdrücklich sagt, wenn immer Mitarbeiter anderer Konfession beschäftigt würden, dürfe die Mitgliedschaft bei gleicher Funktion nicht zur Voraussetzung der Beschäftigung gemacht werden. Ähnlich die bei Kehlen (Fn. 4), S. 183 f., erwähnte Äußerung der EU-Kommissarin Anna Diamantopoulou, nach der ein Mathematiklehrer in einer katholischen Schule zwar die Religion seines Arbeitgebers respektieren, ihr aber nicht persönlich angehören müsse. 31 BVerfGE 70, 138, 162 m.w.N.; die Formulierung der Richtlinie deckt dies mit der Wendung „innerhalb von Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen ... beruht", dazu o. Fn. 24.
32 33
Dazu Germann/de Wall (Fn. 18), S. 549 ff.
Dazu Fey, Richtlinie über Anforderungen der beruflichen Mitarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihrer Diakonie, AuR 2005, S. 349, 351, der darlegt,
Die Richtlinie 2000/78/EG
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Die Kirchen brauchen die Befugnis, ihre Angehörigen bei der Besetzung von Stellen im kirchlichen Dienst bevorzugen zu dürfen, und zwar für ihre religiösen, pädagogischen und karitativen Einrichtungen in allen Positionen. Sie können sich nicht darauf einlassen, dass Kirchlichkeit nur noch für bestimmte eng begrenzte Positionen verlangt werden darf und die Dienstgemeinschaft nur noch als „Disziplinargemeinschaft", d.h. bei der Verletzung von dienstlichen Pflichten zur Geltung kommt 34 . Kein besonderes Interesse an der konfessionellen Ausrichtung des Dienstes besteht lediglich dort, wo Kirchen oder von ihr abhängige juristische Personen rein kommerziell tätig sind. Die Frage ist, ob die Richtlinie dem entgegensteht. Sie fordert, dass die Religion für die Tätigkeit, bei der differenziert werden soll, nach ihrer Art und nach den Umständen ihrer Ausübung „eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt". Anders als der Entwurf der Kommission vom 25.1 1.199935 verlangt der Text als Grundlage der Differenzierung nicht mehr spezielle berufliche Tätigkeiten, die unmittelbar und überwiegend dem religiösen Zweck dienen, sondern begnügt sich mit einer wesentlichen, rechtmäßigen und gerechtfertigten beruflichen Anforderung angesichts des Ethos der Organisation. Das Ethos der Kirche kann und darf nicht von außen bestimmt werden 36. Es ist vielmehr Ausdruck des Selbstverständnisses37 und damit auch des Selbstbestimmungsrechts der Kirchen. Nach dem deutschen Verfassungsrecht, wie es in der Rechtsprechung des BVerfG ausgeprägt wurde, gehört die kirchliche Dienstgemeinschaft zu den Wesensmerkmalen des kirchlichen Dienstes38. Die Dienstgemeinschaft ist als eine Einheit zu sehen, welche vom kirchlichen Geist geprägt ist und in die sich auch der Nichtkirchenangehörige einfügen muss, wenn er bei der Kirche arbeiten will. Daraus folgt, dass die Kirchen ihre eigenen Angehörigen grundsätzlich bevorzugen dürfen und dies um der Erhaltung der Dienstgemeinschaft willen auch tun müssen. Die Notwendigkeit, Angehörige der eigenen Kirche einzustellen, folgt nicht (nur) aus der Art einer bestimmten Tätigkeit, sondern daraus, das in der evangelischen Kirche grundsätzlich Kirchenmitgliedschaft verlangt wird, aber für Funktionen, die nicht der Verkündigung, Seelsorge oder Unterweisung zuzuordnen sind, Ausnahmen ermöglicht werden. Er hält aber die Bevorzugung der Kirchenmitglieder für eine wesentliche Voraussetzung, um den kirchlichen Charakter der Einrichtungen zu wahren. 34 Dazu die plastischen Formulierungen bei Germann/de Wall (Fn. 18), S. 574. 35 S. o. Fn. 4. 36 Im Ansatz zutreffend Triebet (Fn. 5), S. 162; auch Reichegger (Fn. 5), S. 198, die erkennt, dass mit dem Ethos auf das Selbstverständnis der Kirchen verwiesen wird, aber die Konsequenzen daraus in den folgenden Ausführungen (S. 202 ff.) nicht zieht. 37 Germann/de Wall (Fn. 18), S. 575, bemerken mit Recht, das Ethos stelle den Bezug zum Selbstverständnis der Kirchen her. 38 BVerfGE 70, 138, 171.
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dass die Kirchen ihren Dienst mit ihrem Geist erfüllen müssen. Alle kirchlich Beschäftigten bilden eine arbeitsteilige Dienstgemeinschaft, in der prinzipiell jeder Zeugnis für die Kirche ablegen soll 39 . Die Anerkennung der Dienstgemeinschaft geht deutlich über einen Tendenzschutz hinaus. Wenn die Richtlinie die Stellung der Kirchen nicht beeinträchtigen soll, darf das kirchliche Arbeitsrecht in Deutschland nicht auf Tendenzschutz reduziert werden 40. Die Kirchen werden bestrebt sein, Stellen in ihrem Bereich möglichst mit ihren Mitgliedern zu besetzen. Sie stellen Nichtkirchenangehörige, in Ausnahmefällen und vor allem für nachgeordnete Funktionen auch Nichtchristen ein, wenn sie unter ihren Mitgliedern keine hinreichende Zahl von Bewerbern haben. Dies im Einzelnen zu regeln, muss Sache der Kirchen bleiben, wenn die Idee der Dienstgemeinschaft aufrechterhalten werden soll. Die Richtlinie, welche entsprechend der zitierten Erklärung Nr. 11 den Status der Kirchen in den Mitgliedstaaten achten und nicht beeinträchtigen soll, ist in diesem Sinne Vertrags- und verfassungskonform 41 auszulegen. Zum Status der Kirchen in Deutschland gehört, dass sie nicht nur für bestimmte eng begrenzte Dienstposten ihre Angehörigen bevorzugen dürfen, sondern auch, dass sie das Leitbild einer christlichen Dienstgemeinschaft aller ihrer Mitarbeiter zugrunde legen dürfen 42. Daraus ergibt sich, dass die Religion im kirchlichen Dienst regelmäßig eine gerechtfertigte berufliche Anforderung sein darf. Die Wesentlichkeit der Zugehörigkeit zur Kirche für die einzelnen Posten muss von den Kirchen bestimmt werden 43. Die Richtlinie, den oben skizzierten Auslegungsmaximen entsprechend ausgelegt, erlaubt den Kirchen danach grundsätzlich die Bevorzugung ihrer eigenen Angehörigen ohne Rücksicht auf die Funktion des jeweiligen Arbeitnehmers, soweit nicht ein Arbeitsverhältnis überhaupt nur kommerziellen Interessen der Kirche dient und vom kirchlichen Arbeitsrecht nicht erfasst wird. Das Kriterium der „funktionellen Nähe", das in Art. 4 Abs. 2 S. der RL mit der Erwähnung der „gerechtfertigten beruflichen Anforderung" angesprochen zu sein scheint, ist nicht auf einzelne Dienstposten bezogen, denn das würde den
39
Waldhoff
(Fn. 17), S. 983.
40
Für eine solche Reduktion aber Reichegger (Fn. 5), S. 190, 233, 242, die - konsequent - dann auch den staatlichen Gerichten in vollem Umfang die Entscheidung über die Anforderungen zuspricht; auch Schliemann (Fn. 27), S. 411, sieht die Kirchen europarechtlich auf einen weit gefassten Tendenzschutz begrenzt. 41 Joussen (Fn. 7), S. 37; Waldhoff Auslegung.
42 43
{ Fn. 17), S. 986, spricht von einer korrigierenden
Anders Kehlen (Fn. 4), S. 191; Budde (Fn. 30), S. 357 f.
So schon Dill (Fn. 23), S. 320; Thüsing (Fn. 4), S. 178. Fex , Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes, Z M V 2005, S. 61, 63; Mückl (Fn. 24), S. 511, der meint, die Frage werde systemübergreifend in allen Rechtsordnungen dem Ethos der betr. Einrichtung überlassen und nur einer gerichtlichen Missbrauchskontrolle unterzogen.
Die Richtlinie 2000/78/EG
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Grundsätzen des deutschen kirchlichen Arbeitsrechts klar widersprechen und dieses Recht weithin aushebeln. Die Interpretation der Richtlinie muss dem Bestreben Rechnung tragen, die nationalen Grundsätze beizubehalten, wie es im Text von Art. 4 Abs. 2 RL und in der Bezugnahme auf die Erklärung Nr. 11 in der Erwägung 24 zum Ausdruck kommt. Es darf daher in Deutschland - von den erwähnten Ausnahmen rein kommerzieller Tätigkeiten - bis zur Grenze des Missbrauchs Sache der Kirchen bleiben, zu bestimmen, welche Anforderungen an religiös bestimmte Tätigkeiten gestellt werden dürfen, insbesondere für welche Tätigkeiten die Mitgliedschaft verlangt werden darf 44 . Die Sonderstellung der Kirchen in Deutschland muss nach der Richtlinie nicht auf bloßen Tendenzschutz reduziert werden 45. Wenn die Kirchen konsequent nach diesen Grundsätzen verfahren 46, kann ihnen auch nicht der Vorwurf gemacht werden, sie verstießen gegen das allgemeine Gleichheitsgebot dadurch, dass sie einzelne Posten mit Nichtkirchenangehörigen besetzen. In jedem selbständigen Bereich müssen sie allerdings, wollen sie nicht einen Gleichheitsverstoß riskieren, konsequent bleiben47. Es kann ihnen aber nicht vorgehalten werden, dass sie in einem anderen selbständigen Bereich, etwa in einer katholischen Diözese in den neuen Ländern, weniger streng verfahren, denn der Gleichheitssatz bindet immer nur innerhalb eines selbständigen Trägers. Die danach zulässige Ungleichbehandlung, d.h. eine gewisse Zurücksetzung der Nichtkirchenangehörigen, erstreckt sich nicht nur auf die Einstellung, sondern auch auf die weitere Ausgestaltung eines Arbeitsverhältnisses, also auf Beförderungen und auch auf die Auswahl bei Entlassungen; letzteres allerdings nur im Rahmen der sonst verbindlichen Auswahlregeln, d.h. grundsätzlich erst nachrangig.
2. Verhaltensanforderungen Art. 4 Abs. 2 S. 3 der Richtlinie erlaubt, dass die Kirchen im Einklang mit den einzelstaatlichen Vorschriften von ihren Mitarbeitern verlangen, dass sie
44 45
Hanau/Thiising
(Fn. 4), S. 33.
Waldhoff (Fn. 17), S. 983, bemerkt mit Recht, das kirchliche Arbeitsrecht gehe über den Tendenzschutz hinaus. 46 Schliemann (Fn. 27), S. 413, meint, die Rechtfertigungsanforderungen bei Auswahlentscheidungen würden erhöht. Das dürfte zutreffen, auch wenn hier seiner Auffassung, die Kirche müsse sich mit Tendenzschutz begnügen, nicht gefolgt wird. 47 Darauf weisen Germann/de Wall (Fn. 18), S. 576 f., mit Recht hin. Die Anforderung muss für die Tätigkeit, um die es geht, plausibel sein. Wenn für bestimmte Tätigkeiten „wahllos" Religions- und Konfessionsfremde neben Konfessionsangehörigen eingestellt werden, ist nicht mehr darstellbar, dass die Religionszugehörigkeit im Hinblick auf das Ethos wesentlich ist.
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sich loyal und aufrichtig im Sinne des Ethos der Organisation verhalten. Diese Klausel ist allgemein gefasst und nicht mit einem einschränkenden Hinweis auf bestimmte Tätigkeiten verbunden 48. Damit werden besondere Loyalitätsobliegenheiten kirchlicher Arbeitnehmer abgedeckt, wie sie sich z. Zt. in der katholischen Grundordnung für den kirchlichen Dienst und entsprechenden evangelischen Vorschriften 49 finden. Auch insoweit versucht die Richtlinie dem einzelstaatlichen Recht, insbesondere dem einzelstaatlichen Verfassungs- und Staatskirchenrecht, gerecht zu werden. In Deutschland ist vom BVerfG anerkannt worden, dass die Kirchen und die der Kirche zugeordneten und an der Verwirklichung ihres Auftrags arbeitenden Organisationen von ihren Mitarbeitern ein dienstliches und außerdienstliches Verhalten verlangen, das den Grundsätzen der Kirche entspricht. Bei groben Verstößen gegen schwerwiegende Pflichten ist den Kirchen eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses möglich. Praktische Bedeutung hat insoweit nur die Frage der Kündigung und nur zu ihr gibt es gerichtliche Entscheidungen. Die Kirchen bestimmen autonom bis zur Grenze des Missbrauchs 50 die besonderen Pflichten ihrer Mitarbeiter und das Gewicht, das sie diesen Pflichten zumessen51. Es gibt zwar keine absoluten Kündigungsgründe, jedoch wiegen einige Verstöße gegen die Loyalitätspflichten (z.B. der Austritt eines katholischen Arbeitnehmers im katholisch-kirchlichen Dienst aus der katholischen Kirche) so schwer, dass eine Kündigung in aller Regel gerechtfertigt ist. Art. 4 Abs. 2 S. 3 RL wird somit grundsätzlich dem deutschen Verfassungsrecht gerecht. Die Kirchen dürfen Anforderungen für das dienstliche und das außerdienstliche Verhalten stellen, die anderen Arbeitgebern versagt sind. Letztere können sich allenfalls auf besondere Treupflichten eines Arbeitnehmers in einem Tendenzbetrieb berufen.
48 Darauf weisen Joussen (Fn. 7), S. 38, und Reichegger (Fn. 5), S. 221 f., mit Recht hin. Während Joussen von einem Freibrief für die Kirchen spricht, hält Reichegger die Befugnis der Kirchen durch die Grundrechte als gemeinschaftsimmanente Schranken für begrenzt. 49
Richtlinien des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland nach Art. 9 Buchst. В der Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Diakonischen Werkes der EKD vom 1.7.2005, Amtsbl. EKD 2005, S. 413 f.; dazu Fey (Fn. 33), S. 349 ff. 50 Wo diese Grenze liegt, ist freilich nicht immer klar, dazu BVerfGE 70, 138, 166. 51 Grabenwarter (Fn. 13), S. 77, bemerkt mit Recht, eine funktionelle Differenzierung für die verschiedenen Gruppen der Beschäftigten sei europarechtlich nicht zwingend, sondern nur geboten, wenn die nationalen Gepflogenheiten dies vorsähen.
Die Richtlinie 2000/78/EG
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3. Rückwirkungen von Verhaltensanforderungen auf Einstellungen und auf die Entwicklung von Dienstverhältnissen Die zulässigen Verhaltensanforderungen wirken sich auch auf Einstellung, Beförderung und eventuelle Entlassung aus. Ein Arbeitnehmer, der die Verhaltensanforderungen nicht erfüllt, kann bei Einstellungen, Beförderung und eventuellen Entlassungen schlechter behandelt werden als ein Arbeitnehmer, der den Loyalitätsobliegenheiten gerecht wird 52 . Es ist daher z.B. der Katholischen Kirche erlaubt, einen Bewerber, der geschieden und wieder verheiratet ist, bei Einstellungen zu übergehen, und zwar selbst dann, wenn, um Härten zu vermeiden, nicht alle geschiedenen und wiederverheirateten Mitarbeiter aus dem Dienst entfernt wurden. Ein damit zusammenhängendes Problem, über das freilich bislang kaum diskutiert wurde, soll nicht übergangen werden: Die Kirchen sehen bei der Einstellung von Bewerbern nicht nur auf die nominelle Kirchenzugehörigkeit, sondern je nach zu besetzender Stelle auch auf das kirchliche Engagement des Bewerbers. Dies gilt insbesondere für leitende Stellen und für Stellen im Verkündigungsdienst i.w.S., also bei Lehrkräften für den Religionsunterricht und überhaupt bei Personen mit Aufgaben in Erziehung und Ausbildung in Kindergärten, Schulen und Hochschulen. Es ist dringend erwünscht, dass ein Lehrer (auch ein Mathematiklehrer) an einer katholischen Schule in seinem kirchlichen Engagement seinen Schülern ein Beispiel gibt, z.B. möglichst am Schulgottesdienst und am Sonntagsgottesdienst in seiner Gemeinde teilnimmt. Nicht selten wird vor Einstellungen ein Gutachten des Heimatpfarrers verlangt. Es ist gängige Praxis, dass die tatsächliche Erfüllung religiöser Pflichten ein (keineswegs das einzige!) Kriterium bei Einstellungen und auch bei Beförderungen ist. Dieses Kriterium gehört eher zu den „weichen" Faktoren. Eine Kündigung wegen Nichterfüllung religiöser Pflichten kommt nicht in Frage, zumal eine Überprüfung der Arbeitnehmer in dieser Hinsicht zu einer unerträglichen Kontrolle des persönlichen Lebens führen müsste. Das schließt aber nicht aus, grundsätzlich (insbesondere im erzieherischen Bereich) bei Einstellungen und auch bei Beförderungen auf die Erfüllung religiöser Pflichten zu achten und insoweit die allgemeinen Pflichten der Kirchenangehörigen auch zum Differenzierungskriterium für dienstliche Entscheidungen zu machen. Es handelt sich um eine erlaubte Ungleichbehandlung wegen der Religion, die nicht nur als formale Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft verstanden werden darf.
52
Triebet (Fn. 5), S. 175, spricht insoweit von mittelbarer Diskriminierung. Das mag der begrifflichen Unterscheidung dienen, nicht überzeugend ist aber die These (S. 176 f.), die mittelbare Ungleichbehandlung sei an schärfere Voraussetzungen gebunden. Das ist widersprüchlich, wenn und soweit die Verpflichtung des Arbeitnehmers auf das Ethos anzuerkennen ist.
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IV. Andere Diskriminierungsgründe Die Vorschriften zugunsten der kirchlichen Personalauswahl und zugunsten besonderer Loyalitätsanforderungen werden durch zwei verschieden lautende, aber in ihrer Wirkung ähnliche Klauseln eingeschränkt: Nach Art. 4 Abs. 1 S. 2 RL muss die nach S. 1 zulässige Ungleichbehandlung nicht nur verfassungsrechtliche Grundsätze der Mitgliedsstaaten sowie das allgemeine Gemeinschaftsrecht beachten. Sie rechtfertigt auch keine Diskriminierung aus einem anderen Grund. Die besonderen Loyalitätsanforderungen nach Art. 4 Abs. 2 S. 3 der RL sollen davon abhängig sein, dass die Bestimmungen der Richtlinie im Übrigen eingehalten werden. Die Auslegung dieser etwas dunklen Klauseln bereitet Schwierigkeiten.
1. Verschiedenbehandlung wegen der Religion und andere Diskriminierungsgründe Grundsätzlich ist klar, dass die zulässige Verschiedenbehandlung wegen der Religion nicht Diskriminierung aus anderen Gründen rechtfertigt. Eine Person, welche nicht der Kirche angehört, darf im Rahmen der Grenzen des Art. 4 Abs. 2 RL wegen ihrer Religion anders behandelt werden als kirchenangehörige Arbeitnehmer. Sie darf aber nicht zusätzlich wegen ihres Geschlechts oder Alters diskriminiert werden. Wenn z.B. bei der Einstellung eine Unterscheidung wegen des Geschlechts gemacht werden soll, muss diese selbständig gerechtfertigt werden 53. Mit einer solchen selbständigen Rechtfertigung lässt sich etwa der Ausschluss von Frauen vom katholischen (und orthodoxen) Priesteramt begründen. Die Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, wird zwar in der Richtlinie 76/207/EWG, geändert durch die Richtlinie 2002/73/EG, sehr eindeutig vorgeschrieben, gleichwohl kann die EU die Zulassung von Frauen zum Priesteramt der katholischen (oder orthodoxen) Kirche nicht erzwingen. Nach Art. 2 Abs. 6 der Richtlinie 76/207/EWG n.F. dürfen die Mitgliedstaaten vorsehen, dass eine Ungleichbehandlung wegen eines geschlechtsbezogenen Merkmals keine Diskriminierung darstellt, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung
53
Eine solche selbständige Rechtfertigung ist zulässig, Hanau/Thüsing
(Fn. 4), S. 35.
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darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt. Diese allgemeine Vorschrift dürfte ausreichen, um die Beschränkung des katholischen (und orthodoxen) Priesteramts auf Männer zu rechtfertigen. Priester können nach katholischer Lehre nur Männer sein. Der Katholischen Kirche „Priesterinnen" aufzuzwingen, würde nicht nur gegen die Religionsfreiheit und das kirchliche Selbstbestimmungsrecht verstoßen, sondern auch Personen ins Priesteramt bringen, die nach katholischer Lehre nicht gültig geweiht werden können und deshalb ihr Amt nicht in einer den Bedürfnissen der Seelsorge entsprechenden Weise ausüben könnten 54 .
2. Verhaltensanforderungen und andere Diskriminierungsgründe Nach Art. 4 Abs. 2 S. 3 RL darf vom kirchlichen Arbeitnehmer eine Ausrichtung am Ethos der Kirche verlangt werden. Diese Bestimmung wirkt sich, wie ausgeführt, auch auf die Einstellung und die sonstige Behandlung von Arbeitnehmern aus. Die Ausnahme nach Art. 4 Abs. 2 S. 3 RL setzt allerdings voraus, dass „die Bestimmungen dieser Richtlinie im Übrigen eingehalten werden". Worauf sich die Wendung „im Übrigen" bezieht, stellt der Text nicht klar. Sie kann bedeuten, dass zwar ein Verhalten nach dem Ethos der Kirche gefordert werden darf, aber nur, soweit Diskriminierungsverbote der Richtlinie beachtet werden. Sie kann auch den Inhalt haben, dass Diskriminierungsverbote der Richtlinie „im Übrigen" beachtet werden müssen, soweit das Ethos der Religionsgemeinschaft nicht berührt ist. Die Folge der ersten Auffassung wäre, dass z.B. von katholischen Arbeitnehmern ein ethisches Verhalten nach den Regeln der Kirche verlangt werden könnte, aber die Diskriminierungsverbote wegen einer Behinderung, wegen Alters oder sexueller Ausrichtung unberührt bleiben müssten. Praktisch würde das heißen, dass katholische Arbeitnehmer gleichgeschlechtliche Verhältnisse pflegen, u.U. auch eine Lebenspartnerschaft eingehen dürften, ohne dass daraus arbeitsrechtlich nachteilige Konsequenzen gezogen werden dürften. Das EUweit vorgegebene Ethos, dass gleichgeschlechtliche Praxis nicht zu beanstanden ist, hätte danach Vorrang vor dem Ethos der Katholischen Kirche 55 , und zwar in einer wesentlichen Frage.
54
Dazu ausführlich Waldhoff
(Fn. 17), S. 978 ff.; Link (Fn. 2), S. 411; Joussen
(Fn. 7), S. 38; Heinig, Religionsgesellschaften (Fn. 17), S. All f.; Schüller, Europa und seine Folgen. Das Antidiskriminierungsgesetz fordert die Kirchen heraus, Herder Korrespondenz 2005, S. 616, 619. 55 In diesem Sinne Weber (Fn. 17), S. 240 (mit Vorbehalten für das geistliche Amt); Kehlen (Fn. 4), S. 195, der aber (S. 200 f.) für Mitarbeiter mit einem besonderen ideolo-
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Die Gegenposition gestattet ebenfalls eine Ausrichtung am Ethos der Kirche, lässt aber einen umfassenden Vorrang vor dem Ethos der Richtlinie zu. Die Kirche könnte also von ihren Arbeitnehmern ein Verhalten nach dem kirchlichen Ethos verlangen, ohne durch die Wertungen der Richtlinie gehindert zu sein. Insbesondere dürfte sie gleichgeschlechtlicher Praxis ihrer Arbeitnehmer entgegentreten56. Bei der Entscheidung zwischen den beiden nach dem Wortlaut der Richtlinie möglichen Positionen57 ist zu fragen, ob die Richtlinie den in ihr enthaltenen Diskriminierungsverboten durchgehend einen höheren Rang einräumen will als anderen Diskriminierungsverboten, für die ein Vorrang vor dem kirchlichen Ethos nicht festgelegt wurde. Zudem ist wiederum an die Amsterdamer Kirchenerklärung zu erinnern, welche in der Richtlinie in der Erwägung Nr. 24 zitiert wird und damit für diese Richtlinie eine verbindliche Auslegungsregel wird. Die Amsterdamer Erklärung spricht für eine Auslegung, welche das nationale Staatskirchenrecht unberührt lässt und die derzeit herrschenden Moralauffassungen der öffentlichen Meinung nicht den Kirchen aufzwingt. Gegen eine solche aus dem Wortlaut denkbare gegenteilige Argumentation spricht auch ihr groteskes Ergebnis: Die Kirchen stellen an die Lebensführung ihrer Mitglieder viele Anforderungen, die auch nach den eigenen Regeln der Kirchen durchaus unterschiedliches Gewicht haben und zu einem erheblichen Teil in kirchlichen Arbeitsverhältnissen nicht relevant sind. Praktizierte Homosexualität ist jedoch nach der Auffassung der Katholischen Kirche eine sehr ernste Verfehlung, die mit dem Ethos der Kirche schlechthin unverträglich ist. Die Katholische Kirche würde in allen Anforderungen an eine kirchenorientierte
gischen Näheverhältnis, z.B. Geistliche und Kirchenbeamte, eine Ausnahme zugesteht;
ähnlich Triebet (Fn. 5), S. 175 ff.; Budde (Fn. 30), S. 359; tendenziell auch Heinig, Art.
13 EGV (Fn. 5), S. 241; deutlicher ders., Religionsgesellschaften (Fn. 17), S. 474 f., wo er sich klar dafür ausspricht, Art. 4 Abs. 2 RL in Fragen der sexuellen Orientierung nicht anzuwenden. 56
Hanau/Thüsing
(Fn. 4), S. 35; Mückl (Fn. 24). S. 511 f., der Religion nicht zu eng
verstehen und das Verbot der Diskriminierung aus anderen Gründen im Wege einer teleologischen Reduktion eng verstehen will. 57 Auch die englische und die französische Fassung bringen keine Klärung: Provided that its provisions are otherwise complied with, this Directive shall thus not prejudice the right of churches and other public or private organisations, the ethos of which is based on religion or belief, acting in conformity with national constitutions and laws, to require individuals working for them to act in good faith and with loyalty to the organisation's ethos. Pourvu que ses dispositions soient par ailleurs respectees, lapresente directive est done sans prejudice du droit des eglises et des autres organisations publiques ou privees dont l'ethique est fondee sur la religion ou les convictions, agissant en conformite avec les dispositions constitutionnelles et legislativesnationales, de requerir des personnes travaillant pour elles une attitude de bonne foi et de loyaute envers l'ethique de l'organisation.
Die Richtlinie 2000/78/EG
299
Lebensführung unglaubwürdig, wenn sie homosexuelle Praktiken bei ihren Arbeitnehmern duldete. Das Selbstbestimmungsrecht der Kirche über ihr Ethos und dessen Durchsetzung im kirchlichen Dienst würde entscheidend getroffen, müsste sie insoweit weltlich verordneten Moralvorstellungen folgen. Nach dem Gesamtduktus der RL 2000/78/EG welche den Status der Kirchen wahren will, kann nicht angenommen werden, dass sie in einer sehr wichtigen ethischen Frage über die Auffassungen der Kirchen hinweggehen und damit kirchliche Dienste gefährden will. Religiös bestimmte Verhaltensanforderungen haben danach grundsätzlich Vorrang vor anderen Diskriminierungsverboten, auch solchen, welche gerade in der RL 2000/78/EG vorgesehen sind 58 . Die Ausnahme von der allgemeinen Pflicht zur Gleichbehandlung von Homosexuellen ergibt sich nicht aus einem Rückgriff auf Art. 4 Abs. 1 RL, der für andere Arbeitgeber in Frage kommen mag, sondern aus Art. 4 Abs. 2 S. 3 RL selbst, der dem Ethos der Religionsgemeinschaft Vorrang gibt 59 .
V. Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht Die Richtlinie ist - vorbehaltlich sehr grundsätzlicher Einwendungen - für die Bundesrepublik verbindlich und muss trotz politischer und sogar verfassungsrechtlicher Bedenken umgesetzt werden 60. Solange die EU, insbesondere durch die Rechsprechung des EuGH, einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der EU generell gewährleistet, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt, übt das BVerfG seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht nicht mehr aus und überprüft dieses Recht nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes. Entsprechende Vorlagen nach Art. 100 GG hält das BVerfG für unzulässig61. Wie alle Richtlinien lässt die RL 2000/78/EG Spielraum für den nationalen Gesetzgeber und muss nicht wörtlich in deutsches Recht übernommen werden. Gleichwohl besteht eine im Prinzip verständliche Neigung des deutschen Ge-
58 59
Joussen (Fn. 7), S. 38.
Mohr (Fn. 15), S. 203; ähnlich Thiising (Fn. 4), S. 179, der bemerkt, eine religiös motivierte Handlung könne auch Unterscheidungen rechtfertigen, die eine Nähe zu anderen Diskriminierungsmerkmalen hätten. 60 BVerGE 37, 271, 280 ff.; 73, 339, 376 ff.; bestätigt durch BVerfGE 89, 155, 174 f.; grundsätzlich zutreffend bemerkt Heinig, Religionsgesellschaften (Fn. 17), S. 477, selbst verfassungsrechtliche Hindernisse entbänden den Mitgliedsstaat nicht von der Umsetzungspflicht. 61 BVerfGE 73, 339, 387; das Gericht meint (S. 378), mittlerweile sei im Hoheitsbereich der EU ein Maß an Grundrechtsschutz erwachsen, das dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes im Wesentlichen gleich zu achten sei.
300
Wolfgang R f n e r
setzgebers, Formulierungen aus Richtlinien in ein deutsches Umsetzungsgesetz zu übernehmen, um dem Vorwurf vorzubeugen, eine Richtlinie werde nicht europarechtskonform umgesetzt. Manchmal ist ein solches Verfahren bedenklich, denn der deutsche Gesetzgeber hat außer den europarechtlichen Vorgaben auch das deutsche Verfassungsrecht zu beachten. Das nationale Verfassungsrecht bleibt jedenfalls überall dort verbindlich, wo die europarechtliche Vorgabe nicht zwingend ist, sondern Spielraum lässt62 und noch mehr überall dort, wo der deutsche Gesetzgeber über europarechtliche Anforderungen hinausgehen will. Daraus folgt, dass eine das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen achtende Auslegung der Richtlinie das Handeln des deutschen Gesetzgebers bestimmen muss. Der deutsche Gesetzgeber darf die verfassungsrechtlich verbürgten Rechte der Kirche in einem Umsetzungsgesetz zur RL 2000/78/EG nicht stärker beschneiden, als die Richtlinie das vorschreibt. In dem erwähnten Entwurfs eines ADG (ADG-E) 63 war dem noch nicht voll Rechnung getragen. § 9 Abs. 1 ADG-E ließ eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder Weltanschauung bei der Beschäftigung durch Religionsgesellschaften bzw. Weltanschauungsgemeinschaften zu, wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung angesichts des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung nach der Art der bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellte. Die vom Bundestag angenommene Fassung des Gesetzes64 trug den Bedürfnissen der Kirchen weitergehend Rechnung: Es wurde jetzt nicht mehr formuliert „angesichts des Selbstverständnisses4', sondern „unter Beachtung des Selbstverständnisses". Außerdem hieß es nur noch: „nach der Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung" 65 . Dem folgt § 9 Abs. 1 des neuen Entwurfs eines Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG-Ε), der im Mai 2006 eingebracht wurde und dem am Ende der letzten Legislaturperiode gescheiterten ADG-E im Wesentlichen enspricht 66. Zusätzlich wird in § 9 Abs. 1 AGG-Ε ausdrücklich die Beachtung des Selbstverständnisses der Religionsgemeinschaften vorgeschrieben. § 9 Abs. 1 AGG-Ε erlaubt eine verfassungskonforme Auslegung, wie sie oben zur Richtlinie selbst postuliert wurde. Für § 9 Abs. 2 AGG-Ε (aus § 9 Abs. 2 ADG-E unverändert übernommen), der Art. 4 Abs. 2 S. 2 der RL 2000/78/EG ausführen soll, gilt Ähnliches. Der Entwurf
62
Dazu, allerdings zu einem Rahmenbeschluss, BVerfG, DVB1. 2005, 1119, 1122. BTDrucks. 15/4583. 64 BTDrucks. 15/5717. 65 Zu diesen Änderungen und auch zur ausdrücklichen (der Richtlinie entsprechenden) Erstreckung auf kirchliche Organisationen Schüller (Fn. 54), S. 619. 66 BRDrucks. 329/06. 63
Die Richtlinie 2000/78/EG
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wiederholt weitgehend den Wortlaut der Richtlinie. Die verfassungskonforme Auslegung wird ggf. auch hier dazu führen, dass die ethischen Anforderungen der Kirche den Diskriminierungsverboten des Gesetzes vorgehen.
VI. Schlussbemerkung Die RL 2000/78/EG enthält Gefahrenpotential für das kirchliche Arbeitsrecht in Deutschland, lässt es aber bei richtigem Verständnis und hinreichender Berücksichtigung der Erwägung Nr. 24 mit ihrer Rezeption der Amsterdamer Kirchenerklärung bestehen. Sie will den Status der Kirchen in den besonders wichtigen Fragen des Rechts der kirchlichen Bediensteten wahren und bedeutet für die Kirchen keine Belastung, die sie zum Überdenken ihres sozialen Engagements zwingen müsste. Unabhängig von den Einzelfragen des kirchlichen Arbeitsrechts, die in diesem Beitrag Thema waren, zeigt die Richtlinie aber, dass sich die Moralvorstellungen der öffentlichen Meinung, welche in die Rechtssetzung der EU und der Mitgliedstaaten einfließen 67, von kirchlichen Vorstellungen, insbesondere von den Vorstellungen der Katholischen Kirche entfernen. Nach der öffentlichen Meinung in Rundfunk, Fernsehen und Presse gilt jede sexuelle Betätigung, wenn sie nur die Freiheit des (menschlichen) Partners achtet und nicht gegen den (recht großzügig gewordenen) Jugendschutz verstößt, als erlaubt und billigenswert. Ob die öffentliche Meinung in diesen Fragen die allgemeinen Moralvorstellungen wiedergibt, mag schon zweifelhaft erscheinen. Wenig sinnvoll ist jedenfalls eine von EU und Mitgliedstaaten betriebene Gesetzgebung zur Volkserziehung mit dem Ziel der allgemeinen Billigung homosexueller Praxis.
67
Zu den Gefahren einer Verrechtlichung der Moral und einer Moralisierung des
Rechts Jestaedt (Fn. 19), S. 350.
Verfahrensfragen der Volksgesetzgebung Überlegungen zum Landesverfassungsrecht* Von Josef Isensee
I. „... vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ..." 1. Verfassungsvorbehält für das Plebiszit Die Formulierung des Grundgesetzes, daß die Staatsgewalt vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt wird, verleitet immer wieder unbefangene, aber auch befangene Leser zu der Annahme, daß die Verfassung beide Verfahren gleichwertig nebeneinanderstelle und zwischen repräsentativer und plebiszitärer Demokratie Parität herrsche. Sie inspiriert zu der Maxime „soviel Plebiszit wie möglich, soviel Repräsentation wie nötig". 1 Die Staatspraxis folgt dieser Verfassungsinterpretation freilich nicht. Der enttäuschte Interpret konstatiert einen Widerspruch zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit, deutet auf ein „plebiszitäres Defizit unseres Grundgesetzes" hin und lamentiert über die „Beleidigung unseres Volkes" und über das „traurige Zeichen geschichtlichen Undanks gegenüber dem Teil unseres Volkes in den neuen Bundesländern, dem wir die demokratische Revolution gegen ein totalitäres Regime verdanken". 2 Demokratisches Pathos und gutmenschenhaftes Bekennertum bringen jedoch keine Erkenntnis darüber, was von Verfassungs wegen gilt. Juristische Erkenntnis entspringt auch nicht rousseauischer Identitätsphilosophie und nicht einer vor-rechtlichen Idee von Volkssouveränität. 3 Sie ergibt sich allein aus positivem Verfassungsrecht. Das souveräne Volk hat sich selbst an seine Verfassung gebunden, so daß es seinerseits nur noch in ihren Bahnen * Peter Krause gewidmet in Erinnerung an die gemeinsame Tätigkeit zusammen mit Wolfgang Knies als Sachverständige in der Enquete-Kommission für Verfassungsfragen des Saarländischen Landtages 1979, in der die heute geltenden Verfassungsregelungen über die Volksgesetzgebung (Art. 99 und 100 SaarlVerf) entworfen wurden. 1 Parole von Werner Maihof er (Abschließende Äußerungen, in: Benda/Maihofer/Vogel [Hg.], Handbuch des Verfassungsrechts, 2 1994, S. 1699 [1714]). 2 So repräsentativ für die heutige „Mehr Demokratie"-Bewegung Maihof er (Fn. 1), S. 1713 f. (ohne die Hervorhebungen im Text). Kritik: Peter Krause, Verfassungsrechtliche Möglichkeiten unmittelbarer Demokratie, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR) Bd. III, 3 2005, § 35 Rn. 1 ff. 3 Zum Streit der Theorien Krause (Fn. 2), § 35 Rn. 3 ff., 45 ff.
304
Josef Isensee
als verfaßte Größe agiert und seinen Willen nur noch nach Maßgabe der Verfassung äußert. Das Grundgesetz weist dem Plebiszit auf Bundesebene nur schmalen Raum zu, und zwar im Verfahren der Neugliederung des Bundesgebietes (Art. 29, 118 GG). Vermeintlich plebiszitäres Potential steckt in der Schlußbestimmung des Art. 146 als Ermächtigung zur Ablösung des Grundgesetzes über ein Verfassungsreferendum. Doch diese Bestimmung ist seit der Wiedervereinigung praktisch funktionslos geworden, weil sich der Endgültigkeitsanspruch des Grundgesetzes nunmehr verfestigt hat.4 Wenn das Grundgesetz ansonsten zur Frage des Plebiszits schweigt, bedeutet das nicht, daß es dieses Verfahren freigibt. Denn die Maxime, daß alles erlaubt ist, was nicht ausdrücklich verboten ist, gilt nicht für das Gesetzgebungsverfahren. Vielmehr steht dieses unter striktem Verfassungsvorbehalt: zulässig sind nur die Formen der Staatswillensbildung, die das Grundgesetz ausdrücklich vorsieht. 5 Es bedarf also nicht des Verbotes durch die Verfassung, um das Plebiszit auszuschließen, sondern, umgekehrt, deren besonderer Ermächtigung, um es zuzulassen.6 Der Umstand, daß das Grundgesetz Abstimmungen als eine Form der Äußerung des Volkswillens nennt, ergibt noch keine Ermächtigung, ebensowenig wie die Nennung der Wahlen in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG ausreicht, Wahlen für beliebige Gremien anzuberaumen. Gleichwohl macht die Erwähnung der Abstimmungen deutlich, daß das Grundgesetz sich den Formen unmittelbarer Demokratie nicht von vornherein verschließt, sondern sich ihnen offenhält, sofern dem Verfassungsvorbehalt Genüge getan und der Text förmlich ergänzt wird. 7
2. Prävalenz der parlamentarischen Gesetzgebung Eine Erweiterung plebiszitärer Elemente darf nicht an dem revisionsfesten Verfassungskern rühren, wie ihn Art. 79 Abs. 3 GG umschreibt. Zu diesem gehört das demokratische Prinzip. Diesem genügt das rein repräsentative System, wie es das Grundgesetz in seiner geltenden Verfassung vorsieht. Das heißt nicht, daß jedwede Anreicherung mit plebiszitären Elementen unzulässig wäre. 4
Zu den Widersprüchen um Art. 146 GG Josef Isensee, Schlußbestimmung des
Grundgesetzes, in: HStR Bd. VII, 1992, § 166 Rn. 23 ff., 48 ff., 62 ff. (Nachw.). - Zur Debatte über eine Volksabstimmung zum EU-Verfassungsvertrag Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: HStR Bd. III, 3 2005, § 34 Rn. 22; Sven Hölscheidt/Iris Putz., Referenden in Europa, in: DÖV 2003, S. 737 ff.; Michael Elicker, Verbietet das Grundgesetz ein Referendum über die EUVerfassung?, in: ZRP 2004, S. 225 ff.; Stefan Kadelbach (Hg.), Europäische Verfassung und direkte Demokratie, 2006. 5
So Krause (Fn. 2), § 35 Rn. 6, 7. Allgemein zum Verfassungsvorbehalt: Josef Isensee,
Vorbehalt der Verfassung, in: Festschrift für Walter Leisner, 1999, S. 359 ff. (395 ff.). 6 7
Krause (Fn. 2), § 35 Rn. 6. Krause (Fn. 2), § 35 Rn. 6, 18, 22 ff.
Verfahrensfragen der Volksgesetzgebung
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Doch stößt deren Möglichkeit auf Grenzen.8 Unantastbar vorgegeben ist das Prinzip der parlamentarischen, gewaltenteiligen Demokratie im Sinne des Art. 20 GG. In ihr verkörpert sich die Grundentscheidung des Verfassungsgebers. Sie bildet die notwendige Verwirklichung des demokratischen Prinzips, indes das Plebiszit nur ihre virtuelle Zugabe darstellt. Dieses kann sich zu ihrem Ansporn, ihrem Stachel und ihrem Korrektiv entwickeln.9 Doch zu ersetzen vermag es sie nicht. Die unmittelbare Demokratie ist keine potentielle Alternative zur repräsentativen Demokratie, noch nicht einmal eine gleichgewichtige Konkurrenz. Der parlamentarischen Demokratie kommt der Primat zu. Dieser steht nicht zur Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers.10 Die inhaltlichen Grenzen, die das Grundgesetz dem verfassungsändernden Gesetzgeber in Art. 79 Abs. 3 zieht, gelten nicht unmittelbar für die Länder. Kraft ihrer Eigenstaatlichkeit kommt ihnen Verfassungshoheit zu. Sie entscheiden autonom darüber, ob und wieweit sie direktdemokratische Elemente in ihre Verfassungen aufnehmen. Im Gegensatz zum Bund haben sie sich alle für eine solche Lösung entschieden. Freilich fallen die Regelungen von Land zu Land unterschiedlich aus.11 Während sich die Bayerische Verfassung weit der unmittelbaren Demokratie öffnet, hält sich die des Saarlandes zurück. Dennoch bleibt das Grundgesetz in dieser Frage nicht indifferent. Es verlangt, daß die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern den Standards des Grundgesetzes entspricht, um die Verfassungshomogenität beider Ebenen des Bundesstaates sicherzustellen. Über die Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 GG erlangen die identitätsbildenden Prinzipien des Art. 79 Abs. 3 GG mittelbare Bedeutung für die Landesverfassungen. Diese müssen in ihren Grundstrukturen mit dem Grundgesetz übereinstimmen. Die Frage nach den Grenzen der Möglichkeiten
8 An diese Grenzen rührte der (an der Hürde der qualifizierten Mehrheit gescheiterte) Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid in das Grundgesetz vom 13.3.2002 (BT-Drs. 14/8503). Dazu ein vorschnelles Unbedenklichkeitstestat von Christoph Degenhart (Direkte Demokratie auf Bundesebene nach dem Grundgesetz, in: Gedächtnisschrift für Joachim Burmeister, 2005, S. 87 ff.). - Repräsentativ für die verfassungspolitische Diskussion der Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, in: BT-Drs. 12/6000, S. 83 ff. 9 Vgl. BayVerfGHE 53, 3 (63); SaarlVerfGH, Urt. v. 23.1.2006, Lv 3/05, Umdruck, S. 21; ThürVerfGH, in: LVerfGE 12, 405 (440); Böckenförde (Fn. 4), § 34 Rn. 23 ff.;
Krause (Fn. 2), § 35 Rn. 20 („Zweitrangigkeit der Abstimmungen"); Josef Isensee, Volksgesetzgebung - Vitalisierung oder Störung der parlamentarischen Demokratie?, in: DVB1. 2001, S. 1161 (1167 f.). 10 Der revisionsfeste Verfassungskern der Thüringer Verfassung wird - verallgemeinerungsfähig für alle deutschen Verfassungen - herausgearbeitet vom ThürVerfGH
(Fn. 9), S. 424 ff. Zu Art. 79 Abs. 3 GG: Walter Schmitt Glaeser , Die Antwort gibt das Volk, in: Festschrift für Peter Lerche, 1993, S. 315 (328); Josef Isensee, Der antiplebiszitäre Zug des Grundgesetzes, in: Akyürek u. a. (Hg.), Verfassung in Zeiten des Wandels, Symposion für Heinz Schäffer, 2002, S. 53 (81 f.). 11
Übersicht Krause (Fn. 2), § 35 Rn. 29 ff.
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Josef Isensee
direkter Demokratie, auf Bundesebene derzeit nur von akademischer Relevanz, hat für die Länder aktuelle, rechtspraktische Bedeutung. Hier reibt sich plebiszitärer Elan gerade an der Prävalenz des Parlamentarismus. Der Sächsische Verfassungsgerichtshof erhebt prinzipiellen Widerspruch gegen einen Legitimationsvorrang des Parlaments im Freistaat Sachsen. Die Landesverfassung weist die Gesetzgebung „dem Landtag oder unmittelbar dem Volke" zu (Art. 3 Abs. 2 S. 1 SächsVerf). Daher stehe der Volksgesetzgeber unmittelbar und gleichberechtigt neben dem Landtag. Beide Verfahren der Gesetzgebung seien gleichwertig. Das repräsentative parlamentarische Regierungssystem, wie es etwa die grundgesetzliche Ordnung kennzeichne, sei „plebiszitär modifiziert". Der Verfassungsgeber habe bewußt ein Spannungsverhältnis zwischen parlamentarischer und Volksgesetzgebung institutionalisiert, das nicht durch den Vorrang des einen oder anderen interpretatorisch beseitigt werden könne. „Etwaige Reibungsverluste, die sich aus diesem Spannungsverhältnis ergeben mögen, sind von der Verfassung gewollt und damit auch hinzunehmen. Sie können nicht Anlaß sein, das Volksgesetzgebungsverfahren interpretatorisch zurückzuschneiden im Interesse der ungestörten Funktion des parlamentarischen Regierungssystems. Dieses ist durch das Volksgesetzgebungsverfahren mit dem Ziel seiner Beeinflussung gerade modifiziert worden. Insofern kann das parlamentarische Regierungssystem für den Bereich der Gesetzgebung nicht den unveränderten Gravitationspunkt der Verfassungsinterpretation bilden, auf den hin das Institut des Volksgesetzgebungsverfahrens gleichsam abzustimmen ist." 12 Der Sächsische Verfassungsgerichtshof steht mit dieser Position allein unter den Landes Verfassungsgerichten. 13 Repräsentativ für die meisten geht der Thüringer Verfassungsgerichtshof von dem „Vorrang der indirekten, parlamentarischen Gesetzgebung und dem damit verbundenen Nachrang der direkten Volksgesetzgebung" aus und stellt ein „RegelAusnahme-Verhältnis" fest: im Regelfall müsse die Gesetzgebungskompetenz beim parlamentarischen Gesetzgeber verbleiben. 14 Gemäß dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof gehört es zu den änderungsfesten „demokratischen Grundgedanken" der Bayerischen Verfassung, daß die Funktions- und Handlungsfähigkeit der Repräsentativorgane während der ganzen Wahlperiode gewährleistet bleiben. Verfassungsänderungen, welche die unverzichtbare Funktionsfähigkeit maßgeblich beeinträchtigten oder die Gefahr einer solchen Be-
12
SächsVerfGH, in: LVerfGE 13, 315 (328, 329). Beifällig: Peter Neumann, Durchbruch bei der Ausgestaltung der Volksgesetzgebung, in: SächsVBl 2002, S. 229 f f ; Jessica Kertels/ Stefan Brink , Quod licet jovi - Volksgesetzgebung und Budgetrecht, in: NVwZ 2003, S. 435 ff. Kritisch Diana Zschoch, Volksgesetzgebung und Haushaltsvorbehalt, in: NVwZ 2003, S. 438 ff. 13 Übersicht über die Verfassungsjudikatur von 2000 bis 2002 Fabian Wittreck , Direkte Demokratie und Verfassungsgerichtsbarkeit, in: JöR n.F. 53 (2005), S. 111 ff. 14 So ThürVerfGH (Fn. 9), S. 439, 441. Ähnlich SaarlVerfGH (Fn. 9), S. 21, 23.
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einträchtigung mit sich brächten, tasteten den Verfassungskern an und seien unzulässig.15 Im Saarland herrschte bei der Einführung eines echten plebiszitären Konzepts in die Verfassung Übereinstimmung bei allen Beteiligten, daß die Volksgesetzgebung keine gleichwertige Alternative zur parlamentarischen Gesetzgebung bildet, sondern ein außerordentliches Korrektiv. Formelle und materielle Vorkehrungen der Verfassung wirken darauf hin, daß der Vorrang der parlamentarischen Entscheidung durchgehend erhalten und Mißbrauch plebiszitärer Verfahren ausgeschaltet bleiben.16 Gemäß Verfassungsgerichtshof des Saarlandes soll die Volksgesetzgebung die repräsentative Demokratie nicht ersetzen, sondern durch bürgerschaftliche Initiativen und Abstimmungen über Sachregelungen ergänzen. 17 Plebiszitäre Gesetzgebung ist daher nur die Ausnahme, parlamentarische die Regel. Dafür, daß jene eine numerische Ausnahme bleibt, sorgt schon die Schwerfälligkeit des Verfahrens. 18 Sie eignet sich nur für Materien, die Massen mobilisieren können, und versagt vor technisch anspruchsvollen Gegenständen wie der Aufstellung eines Haushaltsplans.19 Ausnahme ist sie aber auch nach ihrer Bedeutung. Sie leistet nicht die alltägliche Gesetzgebungsarbeit und will sie auch nicht abnehmen. Vielmehr interveniert sie bei besonderen Anlässen, in bestimmten Konflikten zwischen Parlamentsmehrheit und Mehrheit der Aktivbürgerschaft. Kurz: sie bildet ein „außerordentliches Korrektiv". 20 Daß das Plebiszit diese Funktion erfüllen kann, daß es aber auch die Grenzen seiner Legitimität nicht überschreitet, wird durch seine rechtlichen Voraussetzungen gewährleistet, die in der jeweiligen Verfassung und dem korrespondierenden Verfahrensgesetz geregelt werden.
15
BayVerfGHE 53, 3 (63) - zu Art. 75 Abs. 1 S. 2 BayVerf. So der Erste Teilbericht der Enquetekommission für Verfassungsfragen vom 14.9.1978, in: LT-Drs. 7/1260 (7/288), S. 38. Ähnlich die anschließende Landtagsdebatte (LT-Drs. 7/3413). In diesem Sinn auch SaarlVerfGH (Fn. 9), S. 21. 17 SaarlVerfGH (Fn. 9), S. 23. 18 Jedenfalls in seiner herkömmlichen, dem Wahl verfahren entsprechenden Form. Es könnte neuartige Beweglichkeit erhalten, wenn es sich der modernen Kommunikationstechnik bediente. 19 Dazu BremStGH, in: NVwZ 1998, S. 388 (389); BVerfGE 102, 176 (187); Thür16
VerfGH (Fn. 9), S. 447; SächsVerfGH (Fn. 12), S. 335; Sebastian Müller-Franken , Plebiszitäre Demokratie und Haushaltsgewalt, in: Der Staat 44 (2005), S. 19 (24). - Die Budgetinitiative entzieht sich sogar dem Parlament. Sie ist von Verfassungs wegen der Regierung vorbehalten. Dazu mit Nachw. Josef Isensee, Plebiszit unter Finanzvorbehalt, in: Festschrift für Reinhard Mußgnug, 2005, S. 101 (107 f.). 20 Enquetekommission für Verfassungsfragen des Saarländischen Landtags (Fn. 16), S. 38.
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Josef Isensee
3. Prüfstein: der Finanzvorbehalt Der Prüfstein der unterschiedlichen Prämissen ist die Auslegung des Finanzvorbehalts. In den Bahnen einer Tradition, die auf die Weimarer Verfassungsära zurückgeht, schließen alle Landesverfassungen Volksabstimmungen über das Haushaltsgesetz (einschließlich des Haushaltsplans) aus in Respekt vor der Budgethoheit als einer Kernkompetenz des Parlaments und im Hinblick darauf, daß diese Materie, in direktdemokratische Hände gegeben, besonders mißbrauchsanfällig wäre und die größere Gruppe der Gesellschaft sich leicht auf Kosten der kleineren Vorteile verschaffen könnte.21 Entsprechend einer von Carl Schmitt begründeten Lehre 22 wird der Haushaltsvorbehalt von den meisten Landesverfassungsgerichten auch auf finanzwirksame Gesetze erstreckt, solche nämlich, die gewichtige staatliche Einnahmen und Ausgaben unmittelbar auslösen und somit den Haushaltsausgleich wesentlich beeinflussen. 23 Die extensive Interpretation soll verhindern, daß Volksbegehren und Volksentscheide den finanzpolitischen Handlungsspielraum des Parlaments unangemessen einschränken und es zu nachhaltigen Korrekturen des geltenden Rechts zwingen. 24 Eben das ist für den Sächsischen Verfassungsgerichtshof kein Argument. Bei der Auslegung der analogen Textpassage nimmt er in Kauf, daß der Handlungsspielraum aufgehoben und die Budgethoheit auf die formelle Restkompetenz heruntergefahren wird, die finanzpolitischen Folgen der Volksgesetze in den Etat einzusetzen und für den Ausgleich zu sorgen, notfalls durch Kreditaufnahmen. Der Volksgesetzgeber darf den parlamentarischen Haushaltsgesetzgeber nur nicht derart in die Enge treiben, daß er, um den Etatausgleich zu erzielen, unausweichlich gegen die Haushaltsvorschriften der Landesverfassung oder gegen bundes- oder europarechtliche Vorgaben verstößt, 25 wobei die Frage offenbleibt, ob bundes- oder europarechtliche Grenzen noch Hindernisse bilden, wenn der Bund sie seinerseits nachhaltig verletzt und auf seine Weise die lutherische Maxime anwendet: „pecca fortiter". Jedenfalls darf aus sächsischer Sicht die Kernkompetenz des Parlaments lahmgelegt und die Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie durch plebiszitäre Aktivität gestört werden, ohne daß die Landesverfassung Einhalt geböte. Mit dieser Rechtsauffassung isoliert sich allerdings Sachsen innerhalb der Bundesländer. Es kollidiert auch mit den Homogenitätsvorgaben des Grundgesetzes, die auf den Vorrang der repräsentativen vor der Volksgesetzgebung und die Funktionsfähigkeit 21
Vgl. ThürVerfGH (Fn. 9), S. 447; Isensee, (Fn. 19), S. 104 ff. mit weit. Nachw. Carl Schmitt, Volksentscheid und Volksbegehren, 1927, S. 22 f. Gegenposition Heinrich Triepel, Der Weg der Gesetzgebung nach der neuen Reichsverfassung, in: AöR 39 (1920), S. 456 (507). 23 BVerfGE 102, 176 (188) - zu Art. 41 Abs. 2 SchlHVerf; ThürVerfGH (N 9), S. 448; VerfGBbg, in: DVB1. 2001, S. 1777, Ls. 1. 24 ThürVerfGH (Fn. 9), S. 448 f. Vgl. auch BayVerfGHE 53, 3 (64). 25 SächsVerfGH (Fn. 12), S. 338. 22
Verfahrensfragen der Volksgesetzgebung
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des parlamentarischen Regierungssystems abzielen. Die sächsische Judikatur widerspricht also allgemeinem deutschen und gemeindeutschem Verfassungsrecht. 26 Die härteste Gegenposition markiert der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes in seiner Interpretation des Finanzvorbehalts der Landesverfassung. 27 Seiner tatbestandlichen Fassung nach stellt dieser ein Unikat dar: „Über finanzwirksame Gesetze, insbesondere Gesetze über Abgaben, Besoldung, Staatsleistungen und den Staatshaushalt, finden Volksgesetze nicht statt" (Art. 99 Abs. 1 S. 3 SaarlVerf). Der Ausschlußtatbestand des finanzwirksamen Gesetzes, der in anderen Verfassungsgesetzen durch prekäre Interpretation zu erschließen ist, wird hier im Wortlaut vorgegeben und durch handfeste Beispiele veranschaulicht. Gesetze über Staatsleistungen, Besoldung oder Abgaben werden schon der Art nach ausgeschlossen, gleich, wie hoch oder wie gering ihr Einfluß auf die staatlichen Einnahmen oder Ausgaben ist, und gleich, ob sie für das Budget Vor- oder Nachteile bringen. Mithin erfaßt der Oberbegriff der finanzwirksamen Gesetze alle Gesetze, deren materielle Umsetzung den Haushalt, wie minimal auch immer, be- oder entlasten kann. 28 Damit entfällt das vage, ungeschriebene Kriterium der Wesentlichkeit der Etatrelevanz, das, von anderen Landesverfassungsgerichten entwickelt, ein Grund ständiger Rechtsunsicherheit ist. 29 Vollends erübrigt es sich für das saarländische Gericht, die Zulassung von finanzwirksamen Volksbegehren nach richterlich gegriffenen Prozentsätzen des Gesamthaushalts zu dosieren, mit der möglichen Folge des Dilemmas, daß mehrere Volksbegehren gleichzeitig zur Entscheidung anstehen, die zwar nicht einzeln, aber in ihrer Gesamtheit die Schwelle der quotierten Erheblichkeit überschreiten. 30 Das Saarland kennt auch keinen В agateil vorbehält, der Abgrenzungsschwierigkeiten auslösen könnte. Doch das bedeutet nicht, daß ein Volksbegehren an der Portokasse scheitern könnte. Finanzielle Auswirkungen, die sich im Rahmen des bestehenden Haushaltsplans verarbeiten lassen, sind unschädlich und rühren nicht an dem Sinn des saarländischen Finanz Vorbehalts; dieser will verhindern, daß das Budgetrecht des Parlaments
26 Zu den autonomen Grenzen plebiszitärer Möglichkeiten im unantastbaren Kern der Landesverfassungen und den heterogenen Grenzen der gesamtstaatlichen Homogenitätsvorgaben aus Art. 28 Abs. 1 GG: BremStGH, in : LVerfGE 11, S. 179 (189 ff.); BayVerfGHE 53, 3 (61 ff.); ThürVerfGH (Fn. 9), S. 424 ff.; Isensee (Fn. 10), S. 77 ff.;
ders. (Fn. 9), S. 1161 ff. 27
SaarlVerfGH (Fn. 9), S. 16 ff. SaarlVerfGH (Fn. 9), S. 20 f., 26. - Fundierte Exegese des saarländischen Finanzvorbehalts bereits Roland Rixecker (Schriftsatz des Ständigen Vertreters des Ministers der Justiz vom 13.8.1986 im Verfahren AZ 6120-17- vor dem SaarlVerfGH). 29 SaarlVerfGH (Fn. 9), S. 17 f., 20 f. 30 SaarlVerfGH (Fn. 9), S. 22 f. Kritik am Wesenlichkeitskriterium und an der Festlegung von Quoten auch SächsVerfGH (Fn. 12), S. 337 f. 28
310
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durch Plebiszite unterlaufen wird und Verteilungskämpfe im Wege der Volksgesetzgebung entschieden werden. 31
4. Gleicher Rang von Parlaments- und Volksgesetz Obwohl die beiden Verfahren der Gesetzgebung nicht gleichgewichtig sind, sind deren Resultate gleichwertig. Die Gesetze, auf welchem Wege auch zustande gekommen, haben gleichen Rang und gleiche Normqualität. Die unmittelbare Demokratie verleiht nicht höhere Legitimation als die mittelbare. Das parlamentarische Gesetz hat nicht mindere Verbindlichkeit und mindere Bestandskraft als das plebiszitäre. Wie das Volk das Parlamentsgesetz ändern, aufheben und ersetzen kann, vermag das auch umgekehrt die Volksvertretung. Einem Gesetz kommt nicht höhere rechtliche Dignität zu, weil es unmittelbar vom Volk und nicht „nur" durch seine Repräsentanten beschlossen worden ist. Freilich kann ihm ein besonderer politischer Nimbus zukommen, der es über normale Gesetze erhebt. Juristisch ist er aber irrelevant. Falls ein Parlamentsgesetz und ein Volksgesetz einander widersprechen, setzt sich das jüngere Gesetz (lex posterior) gegenüber dem älteren (lex prior) durch, ohne Rücksicht darauf, in welchem Verfahren das eine wie das andere zustande gekommen ist. Es gibt keinen rechtlichen Vorrang des Volksgesetzes, sondern nur den Vorrang der lex posterior. 32 Von Verfassungs wegen kann das Parlament das Volksgesetz jederzeit unter den gleichen Bedingungen ändern wie eigene Gesetze. Es gibt auch keine Karenzzeit für die parlamentsgesetzliche Änderung plebiszitär beschlossener Gesetze. Freilich könnte eine nachträgliche Korrektur auf schwer überwindliche politische Schwierigkeiten stoßen. Der politische Konflikt zwischen der Volksvertretung und dem unmittelbar manifestierten Volkswillen (bzw. den politischen Gruppen, die sich auf ihn berufen) ist geradezu programmiert, mit ihm die Gefahr für die Funktionsfähigkeit des Parlamentarismus, wenn das Volksgesetz finanzielle Vorteile verspricht, etwa besondere staatliche Leistungen. Denn einem finanzpolitisch noch so unsinnigen und schädlichen Volksgesetz könnte, jenseits aller juristischen Wertungen, ein politischer Nimbus von „Volkes Wille" zukommen, der den Landtag hinderte, sachgebotene Änderungen zu treffen, „insbesondere dann, wenn der Parlamentsgesetzgeber nicht mehr die
31 Zur Ratio des Finanzvorbehalts SaarlVerfGH (Fn. 9), S. 21, 23 - unter Berufung auf die Entstehungsgeschichte. 32 Allgemeine Rechtsauffassung. Vgl. SaarlVerfGH AS 21, 249 (277); Hans Schneider, Gesetzgebung, 3 2002, S. 136; SaarlVerfGH, in: NVwZ 1988, S. 245 (249); Hans Nawiasky/Claus Leusser, Die Verfassung des Freistaates Bayern, 11948, S. 154; Udo
Steiner, Verfassunggebung und verfassunggebende Gewalt, 1966, S. 194 ff.; Josef Isen-
see, Verfassungsreferendum mit einfacher Mehrheit, 1999, S. 38 f.; Martin Borowski, Parlamentsgesetzliche Änderungen volksbeschlossener Gesetze, in: DÖV 2000, S. 481 ff.
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politische Kraft aufbringt, solche Betriebsunfälle' zu korrigieren, weil er im Hinblick auf herannahende Wahlen nicht seine Mehrheitsfähigkeit im Volk gefährden will. In der Staatspraxis dürfte daher der Beschluß eines Volksentscheid-Aufhebungsgesetzes eher selten sein. Denn es ist sehr fraglich, ob das Parlament angesichts einer zahlenmäßig beträchtlichen Zustimmung zum haushaltsrechtlichen Volksgesetz, mag dieses Gesetz auch unausgewogen sein und den Landtag zu Gegensteuerungsmaßnahmen nötigen, sich entschließt, den Volksgesetzgeber zu desavouieren. Daher ist es zumindest nicht unwahrscheinlich, daß erhebliche Nachteile für die Stabilität der Finanzen des Staates erhalten bleiben." 33
II. Typologie der Zulässigkeitsvoraussetzungen 1. Allgemeine Voraussetzungen Die gesetzgebende Gewalt, die das (Landes-)Volk unmittelbar wahrnimmt, unterliegt denselben Bindungen wie die parlamentarische Gesetzgebung: der Landesverfassung, aber auch dem Bundesrecht sowie dem Europarecht. Sie hat die Grundrechte zu achten und den Erfordernissen des Rechtsstaats, unter ihnen dem Vertrauensschutz, Rechnung zu tragen. 34 Das Volk, das hier in Aktion tritt, übt keine originäre verfassungsgebende Gewalt aus. Vielmehr handelt es als verfaßte Gewalt: pouvoir constitue, nicht aber pouvoir constituant. Die verfassungsrechtlichen Bindungen werden weder gelöst noch gelockert. 35 Das Volk kann nur über solche Gesetze entscheiden, die auch das Parlament beschließen könnte. Deren Gegenstände müssen von der Verbandskompetenz des Landes abgedeckt sein, 36 dürfen also nicht in die des Bundes übergreifen. Ferner muß es sich um Regelungen aus dem Funktionskreis der Legislative handeln. Der Volksgesetzgeber darf ebensowenig wie der parlamentarische Gesetzgeber auf die Vorbehaltsbereiche der Exekutive oder der Judikative übergreifen. Soweit die Landesverfassung dem Volk Anteil an der Gesetzgebung bietet, beziehen sich Abstimmungen ausschließlich auf Gesetzesvorlagen. Bloße Meinungsbekundungen und politische Postulate sind ausgeschlossen.37 33
ThürVerfGH (Fn. 9), S. 455. Ähnlich SaarlVerfGH AS 21, 249 (277); BayVerfG-
HE 43, 35 (55 f.); 50, 181 (207) - zum kommunalen Bürgerentscheid; Horst Fichte, Die Volksgesetzgebung als Gegenstand verfassungsrechtlicher Verfahren, in: Festschrift zum fünzigjährigen Bestehen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, 1997, S. 275
(289, 290, 293 ff.); Borowski (Fn. 32), S. 489, 491. 34
Zu den Schranken der Rückwirkung SaarlVerfGH (Fn. 9), S. 14. BremStGHE 4, 96 (105). Vgl. auch Isensee (Fn. 32), S. 37 f. (Nachw.); SaarlVerfGH (Fn. 9), S. 14. 36 Ausdrücklich Art. 99 Abs. 1 S. 2 SaarlVerf. 37 Dagegen haben nach Art. 41 Abs. 1 S. 1 SchlHVerf die Bürger das Recht, den Landtag im Rahmen seiner Entscheidungszuständigkeit mit „bestimmten Gegenständen 35
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Keine zulässigen Themen sind Kompetenzen des Landtages außerhalb der Gesetzgebung, etwa Wahl und Abwahl des Ministerpräsidenten, Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, Aufhebung der Immunität eines Abgeordneten, Auflösung des Parlaments. Entscheidungen über derartige Themen sind nur statthaft, wenn sie von der Verfassung ausdrücklich vorgesehen sind, so der Antrag auf Auflösung des Landtags in Art. 109 Abs. 1 Nr. 2 RhPfVerf, Art. 54 Abs. 2 BerlVerf und Art. 76 bis 77 BbgVerf.
2. Spezifische Voraussetzungen Es bestehen auch spezifische formellrechtliche Hürden für das Plebiszit, die in der Eigenart dieses Verfahrens begründet sind, das sich von der parlamentarischen Gesetzgebung unterscheidet. Zu diesen Hürden gehört das Erfordernis, daß die Landesregierung das Volksbegehren nach Prüfung seiner Vereinbarkeit mit Gesetz und Verfassung zuläßt, desgleichen die Normenentwurfskontrolle durch das Landesverfassungsgericht. Hier ist zu unterscheiden zwischen Voraussetzungen, welche die Möglichkeit der Volksgesetzgebung herstellen, und solchen, die sie einschränken. Das Parlament ist von vornherein als handlungsfähige Einheit organisiert, versehen mit der Blankovollmacht zur Gesetzgebung für die Dauer einer Legislaturperiode. Das Volk aber muß sich für jedes einzelne Gesetzgebungsvorhaben eigens formieren. Es agiert nicht spontan und anarchisch. Vielmehr bedarf es eines aufwendigen, mehrstufigen Verfahrens, vom Antrag auf Zulassung des Volksbegehrens bis zum Volksentscheid, damit es Handlungsfähigkeit erlangt. Die Verfahrensregelungen schaffen die Grundlage dafür, daß eine Volksabstimmung praktisch möglich wird, daß sie den Anforderungen der Fairneß genügt, daß alle Stimmberechtigten zutreffend und hinlänglich über den Gegenstand informiert, und Vorkehrungen gegen Mißbrauch getroffen werden. Es geht darum, die Grundsätze der Allgemeinheit, Gleichheit, Freiheit und Geheimheit der Abstimmung zu wahren. Es geht aber auch darum, dem Volksgesetz Dignität zu ermöglichen und zu verhindern, daß es als Werk der Manipulation und des Zufalls erscheint. Die Gruppe von Bürgern, die ein Volksbegehren betreibt, ist nicht „das Volk". Ob die Summe der Abstimmenden, die in der Realität mehr oder weniger weit hinter der Gesamtheit der Stimmberechtigten zurückbleibt, als „das Volk" gelten darf, hängt wesentlich von dem Verfahren ab. Daher ergibt sich die demokratische Legitimation des Volksgesetzes nicht schon aus dem Umstand, daß es direkt-demokratisch zustande gekommen ist. Das Erfordernis von Quoren baut daher das Fundament für die demokratische Legitimation für das Gesetzesvorhaben auf. Darüber
der politischen Willensbildung" zu befassen. Ähnlich die Volksinitiative nach Art. 80 Abs. 1 S. 1 SaAnhVerf, Art. 76 Abs. 1 S. 1 BbgVerf.
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hinaus sorgt es dafür, den Ausnahmecharakter der Volksgesetzgebung zu wahren und das parlamentarische Regierungssystem vor Störungen zu schützen. Echte Schranken des Plebiszits sind die Verfassungsvorbehalte, die bestimmte Materien dem Plebiszit entziehen, insbesondere Abgaben-, Besoldungs- und sonstige finanzwirksame Gesetze. Die Vorbehalte sichern die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Regierungssystems. Sie wehren der Selbstbedienung gesellschaftlicher Gruppen und sie wirken hin auf Transparenz und auf gemeinwohlverträglichen Interessenausgleich.
I I I . Präventivkontrolle des Volksbegehrens durch die Regierung Das Verfahrensrecht für die Volksgesetzgebung ist darauf angelegt, plebiszitäre Bewegungen von Anfang an in geordnete, verfassungsstaatliche Bahnen zu lenken und sicherzustellen, daß die Volksgesetzgebung schon in der ersten Phase demokratischen Verfahrensanforderungen genügt. Aus diesem Grunde wird die plebiszitäre Initiative einem Zulassungszwang und damit bereits in einem frühen Stadium rechtlicher Kontrolle unterworfen. Das Zulassungsverfahren soll sicherstellen, daß der mit der Durchführung eines Volksbegehrens verbundene Aufwand und die damit regelmäßig einhergehende Mobilisierung und Emotionalisierung der Bevölkerung tunlichst von vornherein unterbleiben, wenn das Vorhaben mit nicht (mehr) behebbaren Mängeln behaftet ist: der Bürger soll nicht zu gesetzgeberischen Bemühungen angehalten werden, die erkennbar letztlich ins Leere gehen.38 Exemplarisch sei die saarländische Rechtslage betrachtet. Die Landesregierung entscheidet über die Zulässigkeit des Volksbegehrens (Art. 99 Abs. 3 S. 1 SaarlVerf). Laut Gesetz ist ein Volksbegehren insbesondere unzulässig, wenn bestimmte Bedingungen nicht erfüllt sind. 39 Jedoch sagt das Gesetz nicht expressis verbis, ob die Landesregierung das Volksbegehren auf seine Zulässigkeit prüfen muß und, falls sie zu dem Ergebnis kommt, daß es unzulässig ist, von Rechts wegen gezwungen ist, den Antrag abzulehnen. Als Alternative ist denkbar, daß die Landesregierung dem Antrag auf jeden Fall stattgeben könnte, sei es, daß sie überhaupt von der rechtlichen Prüfung absähe und die Zulässigkeit dahinstehen ließe, sei es, daß sie zwar rechtliche Bedenken geltend machte, jedoch keine praktischen Konsequenzen zöge. Unter dieser Prämisse gewänne sie die Freiheit, der plebiszitären Entwicklung (jedenfalls zunächst) Raum zu geben und abzuwarten, ob das Volksbegehren das relativ hohe Quorum von einem Fünftel der Stimmberechtigten (Art. 99 Abs. 2 S. 3 SaarlVerf) 40 über-
38
SaarlVerfGH AS 21, 249 (265). § 3 Abs. 1 saarl. VAbstG (= Volksabstimmungsgesetz). 40 Kritik an dem im Vergleich deutscher Verfassung besonders hohen Quorum Rudolf Brosig , Die Verfassung des Saarlandes, 2001, S. 270. 39
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windet. Scheiterte das Begehren an dieser Hürde, so erledigte sich das juristische Problem der Zulässigkeit von selbst, ohne Intervention der Landesregierung. Sollte es aber zustande kommen, so könnte sie sich mit dem Gedanken beruhigen, daß immer noch Gelegenheit wäre, die rechtlichen Bedenken zur Geltung zu bringen. Das Gesetz, das die Durchführung des Volksbegehrens abhängig von der Zulassung durch die Landesregierung macht, unterwirft es einem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt. Die Betreiber des Begehrens müssen einen förmlichen Antrag auf Zulassung an den Minister für Inneres und Sport richten. 41 Dieser Antrag muß bestimmten formellen Bedingungen genügen, zumal einen ausgearbeiteten und mit Gründen versehenen Gesetzentwurf enthalten.42 Der Minister prüft vorab den Antrag auf Mängel. Dem Kontext nach bezieht sich die Prüfung auf die formellen Erfordernisse des Antrags, also auf das Vorliegen eines ausgearbeiteten und begründeten Gesetzentwurfs, auf den Nachweis des Unterstützungsquorums von mindestens 5.000 Stimmberechtigten usw. Enthält der Antrag Mängel, so fordert der Minister den Vertrauensmann auf, sie innerhalb der Präklusionsfrist von einem Monat zu beheben. Das Gesetz beläßt keinen Raum für Opportunitätserwägungen. Der Minister hat die Pflicht, den Antrag zu prüfen und, falls er Mängel feststellt, entsprechend dem Gesetz zu entscheiden. Die außenwirksame Entscheidung über den Zulassungsantrag liegt aber nicht bei dem einzelnen Minister, sondern bei der Regierung als Kollegium; 43 sie entscheidet innerhalb einer Frist von drei Monaten nach Eingang des Antrags über die Zulassung. Das Entscheidungsthema der Landesregierung reicht weiter als das des Ministers bei der Vorprüfung des Antrags. Es umfaßt sämtliche rechtlichen Mängel des Antrags, die formellen wie die materiellen. Unter der gesetzesamtlichen Überschrift „Entscheidung über den Zulassungsantrag" führt das Gesetz Tatbestände auf, bei deren Erfüllung der Antrag unzulässig, also die Zulassung zu versagen ist. 44 Dazu gehören formelle Mängel des Antrags, aber auch das Fehlen der Gesetzgebungskompetenz des Landes, die Finanzwirksamkeit des Gesetzentwurfs, der Verbrauch des Antragsrechts durch ein Volksbegehren in den letzten zwei Jahren. 45 Die Landesregierung darf in der Prüfung der rechtlichen Zulässigkeit des Volksbegehrens nicht juristische Kulanz walten und „Fünfe gerade" sein lassen. Ebenso gewährt das Landesverfassungsgericht bei der präventiven Normenkontrolle (Normenentwurfskontrolle) keinen rechtsstaatlichen Rabatt. Die materiellrechtlichen Anforderungen an den Gesetzentwurf dürfen nicht deshalb
41 42 43 44 45
§ 2 Abs. 1 VAbstG. § 2 Abs. 2 VAbstG. § 3 Abs. 2 S. 1 VAbstG. § 3 VAbstG. § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 1-3 VAbstG.
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abgesenkt oder laxer gehandhabt werden, weil es sich um das Verfahren der Volksgesetzgebung handelt und hier nicht jene Professionalität vorausgesetzt werden kann, wie sie für die Gesetzesinitiativen im parlamentarischen Verfahren gewährleistet ist. Denn das Volksgesetz hat den gleichen normativen Rang wie das parlamentarische Gesetz und die gleiche Bestandskraft. 46 Die Volksgesetzgebung will und muß ernstgenommen werden. Daher hat die Regierung den Antrag sorgfältig zu prüfen und die einschlägigen rechtlichen Maßstäbe strikt anzuwenden. Initiativen für parlamentarische Gesetze werden keiner entsprechenden Vorab-Kontrolle unterzogen. Doch daraus ergibt sich kein Argument gegen diese Kontrolle überhaupt und kein Argument für deren Lockerung oder eine Aufweichung der Kontrollmaßstäbe. 47 Denn das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren bewegt sich innerhalb der staatlichen Ämterorganisation. Es besteht keine Gefahr, daß es „außer Kontrolle" gerät und daß etwaige rechtliche Mängel im Laufe des Verfahrens nicht zu beheben wären. Ein Gesetzentwurf kann während der Beratungen noch geändert werden. Unverrückbar ist erst der Gesetzesbeschluß des Landtags. Dagegen tritt im Verfahren der Volksgesetzgebung die Unverrückbarkeit bereits mit dem Eingang des Antrags auf Zulassung des Volksbegehrens ein. Daher trifft die Verfassung nicht die entsprechenden präventiven Kontrollvorkehrungen für parlamentarische Initiativen wie für die plebiszitären. Diese unterliegen dem Zulassungsverfahren der Landesregierung wie der „Normenentwurfskontrolle" durch den Verfassungsgerichtshof, ehe sie in das Volksbegehren und den Volksentscheid gelangen. Der Vertrauensmann kann den Gesetzentwurf des Volksbegehrens nicht mehr nachträglich ändern oder (außer bei erkennbarem Redaktionsversehen) korrigieren. 48 Für die Zulassungsentscheidung der Landesregierung gilt, was der Verfassungsgerichtshof für die präventive Normenkontrolle nach Art. 99 Abs. 3 S. 2 SaarlVerf festhielt: daß „gerade kein großzügiger, sondern eher sogar ein strenger Maßstab anzulegen ist, um auszuschließen, daß die betreffenden Unregelmäßigkeiten erst in einem späteren Stadium des Gesetzgebungsverfahrens durchschlagen'". 49 Für den „strengeren Maßstab" der präventiven Normenkontrolle als der nachträglichen spricht, daß im ersten Fall die Normen noch nicht in der Rechtsgemeinschaft wirksam geworden, sie insoweit noch offen sind, indes sie im zweiten Fall in der Regel schon Wirkungen entfaltet haben.50 Die Landesregierung muß über den Antrag entscheiden. Sie kann sich nicht aus dem Verfahren heraushalten; denn der Fortgang des Verfahrens hängt ab
46 47 48 49 50
S.o. 1,4. Zutreffend SaarlVerfGH AS 21, 249 (266); vgl. auch BremStGHE 4, 96 (106). SaarlVerfGH AS 21, 249 (267 ff.). Ähnlich BayVerfGHE 29, 244 (260); 31, 77 (96). SaarlVerfGH AS 21, 249 (266). BremStGHE 4, 96 (105 f.). Vgl. auch ThürVerfGH (Fn. 9), S. 461.
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von ihrer Entscheidung. Sie hat dem Antrag stattzugeben, wenn keine rechtlichen Bedenken bestehen. Ist das aber der Fall, so muß sie den Antrag ablehnen. Tertium non datur. Das ist die Logik des Verbotes mit Erlaubnisvorbehalt. Die Regierung hat den Antrag unter allen relevanten rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen. Freilich kann sie, wie jede Behörde und jedes Gericht, einzelne rechtliche Bedenken offenlassen, falls die rechtliche Unzulässigkeit schon anderweitig begründet ist. 51 Die Entscheidung aber, ob der Antrag als solcher zulässig oder unzulässig ist, darf nicht offenbleiben. Das Gesetz legt der Regierung die Verantwortung dafür auf, daß der Gesetzentwurf, über den das Volk zu entscheiden hat, den Vorgaben der Verfassung, und daß das bisherige Verfahren den Vorgaben des Gesetzes entspricht. Die Zulassung des Antrags ist ein rechtliches Unbedenklichkeitsattest. Für die Ablehnung, die der Begründung bedarf, hat sich die Landesregierung vor dem Verfassungsgerichtshof zu rechtfertigen. 52 Sie kann nicht darauf bauen, daß ein Mangel des Gesetzentwurfs sich im Lauf des Verfahrens abbauen läßt. Der Gesetzentwurf, der dem Antrag zugrunde liegt, ist unverrückbar. 53 Das Verfahren der Volksgesetzgebung steht nicht zur Disposition der Beteiligten. 54 Diesbezügliche Regelwidrigkeiten werden „grundsätzlich weder durch ihre irrtümliche Verkennung noch durch Verschweigen geheilt". 55 Die Landesregierung gibt die Kontrollkompetenz aus der Hand, wenn sie das Volksbegehren zuläßt. Ist es durchgeführt, so bleibt ihr nur noch die Entscheidung darüber, „ob es zustande gekommen ist", 56 d.h. also, ob es, ein ordnungsmäßiges Verfahren vorausgesetzt, von mindestens einem Fünftel der Stimmberechtigten unterstützt wird. 57 Es geht nunmehr nicht um den Inhalt des Gesetzentwurfs, sondern nur noch um das Quorum. Kommt es am Ende zum Volksentscheid, so prüft der Landtag die Gültigkeit der Abstimmung und entscheidet darüber. 58 Das Verfahren bildet ein Seitenstück zur Wahlprüfung, die ebenfalls dem Landtag zukommt. Thema ist nur noch das Verfahren des Volksentscheids, nicht mehr sein Gegenstand, der Gesetzentwurf. Die Abstufung kehrt wieder in der Kontrollkompetenz des Verfassungsgerichtshofs. Wird in der ersten Phase des Plebiszits die Entscheidung der Lan-
51 Der Saarländische Verfassungsgerichtshof beansprucht jedoch die Kontrollkompetenz auch in jenen Rechtsfragen, welche die Landesregierung in ihrer Entscheidung nach § 3 Abs. 2 VAbstG offengelassen hat (AS 21, 249 [265]). 52 § 12 VAbstG. 53 S. u . V . 54 SaarlVerfGH AS 21, 249 (265). 55 SaarlVerfGH AS 21, 249 (265, 268 ff.). 56 § 11 Abs. 2 S. 2 VAbstG. 57 Art. 99 Abs. 2 S. 3 SaarlVerf. 58 § 19 Abs. 1 VAbstG.
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desregierung, das Volksbegehren nicht zuzulassen, angefochten, 59 so prüft das Gericht, soweit es darauf ankommt, auch den Inhalt des Gesetzentwurfs. Hat die Regierung in der zweiten Phase über das Zustandekommen des Volksbegehrens entschieden, so reduziert sich die Kontrolle des Verfassungsgerichtshofs auf dieses formelle Thema, und auch das unter dem Vorbehalt, daß der Ausgang des Volksbegehrens durch einen Verstoß gegen gesetzliche Bestimmungen entscheidend hätte beeinflußt werden können.60 Entsprechend prüft es nach der Entscheidung des Landtags, ob ein Gesetzentwurf durch Volksentscheid beschlossen worden ist, die Gültigkeit der Abstimmung, also ergebnisrelevante Verfahrensfehler. 61 Man mag darüber diskutieren, ob in der zweiten wie der dritten Stufe die materiellen Rügen präkludiert werden oder ob dem Gericht weiterhin die Möglichkeit verbleibt, den Entwurf eines Volksgesetzes bzw. das Gesetz selbst auch inhaltlich zu prüfen. Für letztere Möglichkeit spricht, daß das Volksgesetz nach Verkündung und Inkrafttreten der regulären Normenkontrolle unterliegt. Gleichwohl läßt das Gesetz eine bestimmte Abfolge der Entscheidungsthemen erkennen. Bei der Zulassung des Volksbegehrens muß über dessen Rechtmäßigkeit entschieden werden. Die rechtlichen Vorkehrungen, von Anfang an einen juristischen Filter einzubauen, der unzulässige Anträge auffängt, sind weise. Wenn nämlich ein unzulässiges Volksbegehren die hohe Hürde des Quorums überwände, hätte es sich als Ausdruck des „Volkswillens" verfestigt und zur politischen Mächtigkeit erhoben, an der juristische Bedenken faktisch abprallten. Das direktdemokratische Feuer, einmal entfacht, ließe sich, wenn überhaupt, nur unter Inkaufnahme großer Schäden löschen. Wenn die Landesregierung erst jetzt juristischen Widerstand übte, zöge sie sich den zumindest politisch erheblichen Vorwurf der Verwirkung zu, ganz abgesehen davon, daß sich die Frage stellte, ob sie auf dieser Verfahrensstufe überhaupt noch zuständig wäre, über die Zulässigkeit des Gesetzentwurfs zu entscheiden. Es ist ein Gebot der Redlichkeit und der Klugheit, daß die Landesregierung sogleich ihre Rechtsansicht aufdeckt, sich zu ihr bekennt, für sie in der Öffentlichkeit einsteht und sich gegebenenfalls für sie vor dem Verfassungsgerichtshof rechtfertigt. Sie ermöglicht damit in einer frühen Phase eine verbindliche Klärung, die den Rechtsfrieden schont, bevor die politischen Aggressionen voll aufgeflammt sind. Wenn die Landesregierung erst nach der erfolgreichen Durchführung eines Volksbegehrens entschiede, daß der zugrunde liegende Gesetzentwurf mit der Verfassung nicht zu
59 Art. 99 Abs. 3 S. 2 SaarlVerf, § 12 S. 1 VAbstG. Dem Klagetypus nach handelt es sich nicht um eine Anfechtungsklage, sondern um ein verfassungsprozessuales Pendant zur verwaltungsgerichtlichen Verpflichtungsklage, genauer: der Versagungsgegenklage, die auf Erteilung eines günstigen Bescheids unter Kassation seiner zuvor erfolgten Ablehnung gerichtet ist. 60 § 12 S. 2 VAbstG. 61 § 19 Abs. 1 VAbstG.
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vereinbaren sei, löste sie gefährliche Enttäuschungen aus, weil die Anhänger des Begehrens sich um ihren Sieg geprellt fühlten. Sie hätte mit erheblichem politischem Widerstand zu rechnen und zöge sich den Vorwurf zu, sie mißachte das Volk. Die frühzeitige, somit auch rechtzeitige Entscheidung ist auch ein Gebot der Fairneß gegenüber den Betreibern des Volksbegehrens. Sie verhindert Glaubwürdigkeitsverluste der repräsentativen Demokratie, die heute wie eh und je von antiparlamentarischen Affekten bedroht wird.
IV. Abstimmungsfähigkeit des Gesetzentwurfs 1. Ausgearbeiteter Entwurf „Dem Volksbegehren muß ein ausgearbeiteter Entwurf zugrunde liegen", verlangt Art. 74 Abs. 2 BayVerf, repräsentativ auch für andere Landesverfassungen.62 Für jeden Bürger, der zur Teilnahme am Volksentscheid aufgerufen ist, muß der Gehalt des Gesetzentwurfs „eindeutig und klar erkennbar" sein.63 Jeder Abstimmungsberechtigte muß aus dem mit Gründen versehenen Gesetzentwurf eindeutig erkennen können, „was seine Stimmabgabe oder deren Unterlassung bedeutet". Eben deshalb werden die Betreiber des Volksbegehrens gezwungen, Inhalt und Tragweite der angestrebten Regelung eindeutig und dem Nichteingeweihten verständlich in der vorgeschriebenen Form offenzulegen. 64 „Wird nämlich das von den Betreibern eines Volksbegehrens wirklich Gewollte erst aus Umständen ersichtlich, die sich aus dem Entwurfstext und der ihm beigefügten Begründung nicht erschließen, so vermag der in der Abstimmung zum Ausdruck gelangte gesetzgeberische Wille jenen wirklich gewollten Regelungsgehalt nicht zu umfassen und kann ihm folglich auch keine Gesetzeskraft verleihen." 65 Es reicht nicht aus, daß die Betreiber des Volksbegehrens und die interessierten Bevölkerungskreise sich über den Gegenstand der Abstimmung ein Bild machen können. „Volksbegehren dienen nicht der Durchsetzung von Interessen einer Minderheit, sondern der Herbeiführung einer Entscheidung des Volkes über gesetzgeberische Vorhaben unter Berücksichtigung der Belange
62 Art. 99 Abs. 2 S. 1 SaarlVerf; Art. 59 Abs. 2 S. 1 Bad-WürttVerf; Art. 60 Abs. 1 S. 2 M-VVerf; Art. 68 Abs. 1 S. 2 NWVerf; Art. 49 Abs. 1 S. 2 NdsVerf; Art. 71 Abs. 1 S. 3 SächsVerf; Art. 81 Abs. 1 S. 2 SaAnhVerf. Andere Landesverfassungen verlangen nur einen ausgearbeiteten Entwurf, nicht auch die Begründung: so Art. 82 Abs. 1 ThürVerf, Art. 109 Abs. 2 S. 1 RhPfVerf. 63 SaarlVerfGH AS 21, 249 (267). 64 SaarlVerfGH AS 21, 249 (273, 274). Ebenso BayVerfGHE 31, 77 (91). 65 SaarlVerfGH AS 21, 249 (267 f.).
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der Allgemeinheit." 66 Daher muß die Vorlage die notwendigen Informationen exakt und zutreffend präsentieren. Soweit die Landesverfassung die Volksgesetzgebung vorsieht, können Volksbegehren nur darauf gerichtet sein, Gesetze zu erlassen, zu ändern oder aufzuheben. Politische Forderungen, Appelle an Parlament und Regierung, gesetzgeberisch tätig zu werden, oder bloße Proklamationen bilden kein taugliches Thema. Der Gesetzentwurf muß deshalb „ausgearbeitet", also beschlußreif sein. Die Teilnehmer am Volksentscheid wie auch am Volksbegehren müssen aus der Fassung des Gesetzentwurfs oder dessen Begründung die Abstimmungsfrage und deren Bedeutung und Tragweite entnehmen können.67 Das Erfordernis des abstimmungsfähigen Inhalts folgt aus dem Wesen der Volksgesetzgebung, in der sich die Abstimmenden durch Willensakt für oder wider einen Gesetzentwurf entscheiden, wobei der Abstimmende nur in der Lage ist, zu akklamieren oder zu negieren, ohne - wie das Mitglied des Parlaments - auf Änderung, Korrektur oder Teilannahme hinwirken zu können. „Die Vielheit der Bürger kann keine neuen Inhalte schaffen, sie kann vielmehr nur auf ihr gestellte Fragen mit Ja oder Nein antworten." 68 Für die Zulassung des Volksbegehrens kommt es allein auf den „ausgearbeiteten und mit Gründen versehenen Gesetzentwurf" an. Dieser muß in sich vollständig und aus sich heraus für die Abstimmungsberechtigten verständlich sein, nicht angewiesen auf externe Ergänzungen, Verständnishilfen und Interpretationsdirektiven, damit der Stimmberechtigte aus dem Text entnehmen kann, für oder wider welche Sache er entscheidet. Die Vorlage ist beim Wort zu nehmen. Der politische Hintergrund des Volksbegehrens taugt nicht dazu, eine Unrichtigkeit der Vorlage zu korrigieren oder eine Lücke zu füllen. Auch wenn dem Volksbegehren eine breite öffentliche Diskussion in den Medien vorausgeht, werden die formellen Anforderungen an den Text der Vorlage nicht gemindert. Er muß, ergänzt durch die Begründung, aus sich heraus verständlich sein.
2. Die Begründung des Entwurfs Das in den Landesverfassungen vorgegebene Erfordernis einer Begründung hat den Sinn, zu verhindern, daß „nicht etwa nur über ein kurzes Schlagwort, über eine einfache Idee, für die ja vielleicht viele Stimmen zu gewinnen sein würden, abgestimmt wird", sondern zu gewährleisten, daß „wirklich von Grund
66 BayVerfGHE 29, 244 (259 f.). Ebenso BremStGHE 4, 96 (106); SaarlVerfGH AS 21,249 (274). 67 Zu dem Erfordernis des abstimmungsfähigen Inhalts: BayVerfGHE 29, 244 (244 Ls. 5, 254); 31, 77 (78 Ls. 3, 93 ff.). 68 BayVerfGHE 29, 244 (254).
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auf erkannt werden kann, wohin der Wille des Antragstellers geht". 69 Die Begründungspflicht bildet ein Hindernis gegen „nicht genügend durchdachte" Volksbegehren 70 sowie gegen demagogischen Mißbrauch der plebiszitären Einrichtungen. 71 Das Recht kennt freilich nur formale Kriterien. So darf die Begründung sich nicht darin erschöpfen, den Wortlaut oder Inhalt des Entwurfstextes zu wiederholen. 72 Sie muß in sich verständlich sein und das angegebene Ziel deutlich machen.73 Die Gründe sollen Ziel und Inhalt der vorgeschlagenen Regelung in wesentlichen Zügen erläutern, und das in einer Form, daß die Stimmbürger in die Lage versetzt werden, sich mit den Anliegen auseinanderzusetzen und sich eine Meinung zu bilden. 74 Die Begründung erklärt, was sich im Entwurf nicht von selbst versteht. Je schwieriger der Entwurf, desto höher die Anforderungen an die Begründung. In gewissem Maße kann sie Dunkelheiten aufhellen und Unklarheiten ausgleichen. Jedenfalls muß der abstimmende Bürger aus dem Gesetzentwurf in Verbindung mit seiner Begründung „Bedeutung und Tragweite" der Abstimmungsfrage erkennen können.75 Soweit der Gesetzentwurf aus redaktionstechnischen Gründen unvermeidliche Verständnisschwierigkeiten bereitet, müssen Inhalt und Tragweite der Fragestellung des Volksbegehrens mindestens aus der Begründung erkennbar werden. 76 Heikel ist der Fall, daß der Gesetzentwurf ein relativ nahes Datum für sein Inkrafttreten nennt und damit riskiert, daß der Volksentscheid sowie die Verkündung erst später erfolgen, so daß sich das (an sich materiellrechtliche) Problem der Rückwirkung stellt. Unter dieser Voraussetzung ist die Erklärung geboten, daß eine Rückwirkung angestrebt oder wenigstens in Kauf genommen wird. 77 Die Anforderungen an die Begründung dürfen aber nicht überspannt werden. Die Begründung braucht nicht jedermann inhaltlich einzuleuchten. Sie muß auch nicht umfangreich und dicht wie ein Kommentar sein. Sie bedarf keiner wissenschaftlichen Fundierung. Ihr politischer Inhalt entzieht sich von vornher-
69 So der Abg. Koch in den Beratungen zu Art. 73 Abs. 3 S. 2 WRV, zitiert nach Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14 1933, Art. 73 Anm. 8
(S. 389). Ähnlich zu Art. 68 Abs. 1 S. 2 NWVerf: Alfred
Dickersbach,
in: Gel-
ler/Kleinrahm, Die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, 3 1977, Art. 68 Anm. 2c. 70 BayVerfGHE 18, 85 (93); 29, 244 (253 f.); 31, 77 (91). 71 72
Dickersbach (Fn. 69), Art. 68 Anm. 2c.
NWVerfGH B. v. 23.11.1974, Az. VerfGH 28/74, Umdruck, S. 3; SaarlVerfGH (Fn. 9), S. 10. 73 Vgl. BayVerfGHE 31, 77 (92). 74 SaarlVerfGH (Fn. 9), S. 10. Vgl. auch BayVerfGHE 31, 77 (92 ff.). 75 BayVerfGHE 31, 77 (92 ff.). 76 BayVerfGHE 29, 244 (254). 77 Anders SaarlVerfGH (Fn. 9), S. 10.
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ein der rechtlichen Kontrolle. Überzeugungskraft wird der Begründung nicht abverlangt. 78
V. Unverrückbarkeit des Gesetzentwurfs Der Gesetzentwurf, der einem Volksbegehren zugrunde liegt, wird mit der Einreichung des Antrags auf Zulassung unverrückbar, in einem früheren Stadium also als der Entwurf eines parlamentarischen Gesetzes. Ein solcher findet erst mit dem Gesetzgebungsbeschluß seine endgültige Gestalt. Im Zuge der parlamentarischen Beratungen sind Änderungen zulässig.79 Das eben ist nicht möglich im plebiszitären Verfahren. Der Entwurf ist in allen Stufen des Verfahrens, von der Zulassung bis zur Verkündung, textidentisch. Dem Volksbegehren liegt kein anderer Text zugrunde als dem Zulassungsbescheid, dem Volksentscheid kein anderer als dem Volksbegehren. Da eine Stufe auf der anderen aufbaut, darf der Wortlaut nicht verändert werden. Die Initiatoren verlieren die Dispositionsmacht über den Inhalt und die Formulierung ab dem Zeitpunkt, in dem sie den Entwurf der Regierung zur Zulassung einreichen. Statthaft ist dagegen die Berichtigung des Gesetzentwurfs. 80 Freilich sind dieser enge Grenzen gezogen, ähnlich wie der Berichtigung des parlamentarischen Gesetzes, nachdem der Gesetzgebungsbeschluß erfolgt ist. 81 Die ausnahmsweise Berichtigung eines Gesetzbeschlusses setzt dessen offenbare Unrichtigkeit voraus. Offenbare Unrichtigkeiten sind Fehler, die aus dem Text heraus jedermann erkennbar sind wie Rechtschreibfehler, das Vertauschen von Buchstaben oder ganzen Zeilen, falsche Wiedergaben von Zahlen oder Satzzeichen, Rechenfehler, kurz: Redaktions versehen. 82 Es muß sich um Textelemente
78
SaarlVerfGH (Fn. 9), S. 10.
79
Dazu Hans Schneider , Gesetzgebung, 32002, S. 84, 91 f., 93 ff.; Fritz Ossenbühl ,
Verfahren der Gesetzgebung, in: HStR Bd. III, 21996 ( ] 1988), § 63 Rn. 33, 34, 38; Klaus Stern , Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 624 ff.; Helmut Schulze-Fieliz , Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, S. 305 ff., 568 f. 80 Nach saarländischem Recht fordert der Minister für Inneres und Sport, der den Antrag auf Zulassung entgegengenommen hat, den Vertrauensmann auf, die Mängel, die der Antrag enthält, innerhalb eines Monats zu beheben. Nach Ablauf der Frist ist die Behebung nicht mehr möglich (§ 3 Volksabstimmungsgesetz). 81 BVerfGE 105, 313 (335). Vgl. auch BVerfGE 48, 1 (18); Schneider (Fn. 79), S. 295 ff.; Michael Kirn , Die „Berichtigung" von beschlossenen noch nicht ausgefertigten und verkündeten Gesetzen, in: ZRP 1973, S. 49 (51); Johann-Friedrich Staats , Zur Berichtigung von Gesetzesbeschlüssen des Bundestages wegen Redaktionsversehen, in: ZRP 1974, S. 183 (185); Rüdiger Sannwald , in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum Grundgesetz, 102004, Art. 77 Rn. 11; Stern (Fn. 79), S. 638 f. - Rechtliche Regelungen: § 61 GGO, § 122 Abs. 3 GOBT. 82
Schneider (Fn. 79), S. 297 ff.; Sannwald (Fn. 81), Art. 77 Rn. 11. Zu den analogen
Regelungen einer Berichtigung von Verwaltungsakten nach § 42 S. 1 VwVfG bzw.
322
Josef Isensee
handeln, die der Gesetzgeber vernünftigerweise nicht hätte wollen können. Zugleich muß klar sein, was er anstelle der fehlerhaften Elemente tatsächlich gewollt hat. 83 Der materielle Normgehalt darf aber durch die Berichtigung keinesfalls angetastet werden. 84 Der Betreiber des Volksbegehrens (Vertrauensmann) ist nicht befugt, ändernd und berichtigend auf den Gegenstand des Volksbegehrens einzuwirken. Nachträgliche Verdeutlichungen im Sinne einer authentischen Interpretation stehen ihm nicht zu. Anderenfalls hätte er es in der Hand, den Willen der Unterzeichner des Gesetzentwurfs umzugestalten und auf diese Weise das Unterschriftenquorum zu umgehen.85 Er kann auch im Verfahren der Normentwurfskontrolle vor dem Landesverfassungsgericht nicht korrigieren und nicht kompensieren, was dem Gesetzentwurf und seiner Begründung mangelt. Forensischen Äußerungen kommt auch nicht eine Bedeutung zu, wie sie Gesetzesmaterialien im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren erlangen können. Diese sind Bestandteil der parlamentarischen Willensbildung; als solche können sie den Gesetzesbeschluß unmittelbar beeinflussen. Erklärungen der Betreiber vor Gericht vermögen das jedoch nicht. Sie sind insoweit irrelevant für die Auslegung des Entwurfs. 86 Es ist auch nicht Sache des Verfassungsgerichtshofs, im Zuge der präventiven Normenkontrolle den Text des Entwurfs von sich aus zu ändern und den veränderten Gegebenheiten anzupassen oder das Manko des Textes durch Interpretation auszugleichen.87 Vollends kann die Stellungnahme, mit der die Landesregierung den Gesetzentwurf im Volksentscheid zu begleiten hat, 88 den Entwurf nicht ergänzen oder verdeutlichen. Der Gegenstand des Volksentscheids muß sich „aus dem dem Volksbegehren beigegebenen Gesetzentwurf oder dessen Begründung selbst ergeben und von dem Willen der Unterzeichner des Volksbegehrens gedeckt sein". 89 Der unstimmige Wortlaut kann nur durch einen neuen Antrag auf Zulassung eines weiteren Volksbegehrens korrigiert werden. Die Unverrückbarkeit bezieht sich beim Entwurf eines Änderungsgesetzes auch auf die Angabe des zu ändernden Gesetzes in der Eingangsformel. Diese Angabe kann nachträglich unrichtig werden, wenn nach Einreichung des Zulas§ 129 S. 1 AO BVerwG, in: NVwZ 1986, S. 198; Ferdinand Kopp/Ulrich
Ramsauer ,
VwVfG, 92005, § 42 Rn. 5 ff.; Hans-Joachim Knack , VwVfG, 82004, § 42 Rn. 3 ff. 83 Vgl. Kirn (Fn. 81), S. 51. Vgl. auch BVerfGE 105, 313 (335 f.). 84 BVerfGE 48, 1 (19); 105, 313 (335); Sannwald (Fn. 81), Art. 77 Rn. 11. 85 SaarlVerfGH AS 21, 249 (271) im Anschluß an BayVerfGHE 29, 244 (260); 31, 77 (96). 86 Vgl. BremStGHE 4, 96 (106). 87 Vgl. BayVerfGHE 29, 244 (260). 88 Vgl. Art. 74 Abs. 3 BayVerf, Art. 49 Abs. 3 S. 2 NdsVerf, Art. 100 Abs. 1 S. 1 SaarlVerf, Art. 81 Abs. 2 S. 2 SaAnhVerf, Art. 109 Abs. 2 S. 1 RhPfVerf. 89 BayVerfGHE 29, 244 (255); BremStGHE 4, 96 (106).
Verfahrensfragen der Volksgesetzgebung
323
sungsantrags das Parlament seinerseits die Ausgangs- und Bezugsnorm ändert und so dem Plebiszit zuvorkommt. Der plebiszitäre Entwurf bezieht sich dann auf eine Gesetzeslage, die sich erledigt hat, mit der Folge, daß der Text nicht mehr klar zu erkennen gibt, ob das Volksbegehren darauf gerichtet ist, eine frühere Gesetzesfassung erst wieder in Kraft zu setzen und dann zu ändern, oder darauf, das inzwischen neu gefaßte Gesetz zu korrigieren mit der möglichen Folge, daß Vorschriften in einen völlig neuen Regelungszusammenhang treten. Der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes sah im Jahre 1987 daher in der obsoleten Bezugnahme keinen Fall, der wie ein redaktionelles Versehen hätte berichtigt werden können; vielmehr hielt er das Volksbegehren für unzulässig.90 Dagegen schränkt dasselbe Gericht im Jahre 2006 diese rigide Auffassung ein und läßt die nachträgliche Korrektur der Eingangsformel für den Fall zu, daß sich an Ziel, Wortlaut und Inhalt der vom plebiszitären Gesetzentwurf beabsichtigten Regelung dadurch nichts ändern würde, daß die zwischenzeitliche Gesetzesänderung den Zweck des Volksbegehrens nicht erledigt hat und daß der Text eines neuen Volksbegehrens, von der Änderung der Eingangsformel abgesehen, gleichbleiben könnte.91 Die Modifikation der Judikatur ist sachgerecht. Sie entlastet das Plebiszit von einem rechtlichen Risiko, das seine Betreiber nicht abwenden könnten, und sie schränkt die Beweglichkeit des Parlaments nicht ein.
90 91
SaarlVerfGH AS 21, 249 (267). SaarlVerfGH (Fn. 9), S. 13 f.
Gemeinschaftsaufgaben und Mischfinanzierung eine Crux des Bundesstaates Von Rüdiger Breuer
I. Grundfragen der föderalistischen Finanzverfassung 1. Die historische und politische Lage des deutschen Bundesstaates Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes steht seit ihrer Etablierung in einem historischen und politischen Zwiespalt. Einerseits ist sie aus einer Reaktion auf den Zentralismus und die Machtkonzentration des nationalsozialistischen Staates sowie die schleichende Aushöhlung der Länderstaatlichkeit infolge der reichslastigen Kompetenz- und Finanzordnung der Weimarer Reichsverfassung erwachsen. Die Forderung nach dezentraler, föderativer Gliederung der Staatsgewalt wurde nach 1945 nicht nur von den Besatzungsmächten erhoben und durchgesetzt, sondern auch von einem breiten Konsens der deutschen Politiker getragen. Auch heute findet das Bundesstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG, dessen Kern durch Art. 79 Abs. 3 GG rechtlich perpetuiert wird, aus verfassungspolitischer Sicht bekenntnishafte Zustimmung. Andererseits hat Werner Weber bereits 1951 den Föderalismus des Grundgesetzes und die Staatlichkeit der heutigen Bundesländer als Fiktion bezeichnet1. Seine Polemik gipfelt in dem Vorwurf, daß es im Grunde einen Atavismus bedeute, das klein gewordene Deutschland als einen Bund von Staaten zu begreifen; den Ländern komme nur noch die Rolle autonomer Selbstverwaltungskörperschaften zu, die darüber hinausreichenden föderativen Elemente des Grundgesetzes hätten lediglich formale, keine reale zwischenstaatliche Bedeutung. Schon damals sah Werner Weber die föderalistische Verfassung nicht mehr als deutsche, sondern als europäische Aufgabe an2. Die Entwicklung, die sich seither vollzogen hat, scheint die Kritik Werner Webers zu bestätigen. Dies gilt nicht nur für den Aufbau der Europäischen Gemeinschaften, die Züge eines entstehenden Bundesstaates aufweisen. Den Strukturwandel der Bundesrepublik Deutschland zum unitarischen Bundesstaat
1
Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 1951, später in 3. Aufl. 1970, S. 57 ff. 2 Weber (Fn. 1), S. 82 f.
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Rüdiger Breuer
hat Konrad Hesse 1962 eindrucksvoll analysiert 3. Als unitarisierende Tendenzen hat er die zunehmende Konzentration staatlicher Aufgaben beim Bund, die weitgehende Selbstkoordinierung von Bund und Ländern in Staatsverträgen, Verwaltungsabkommen, gemeinsamen Beschlüssen von Ressortministerkonferenzen und gemeinsamen Einrichtungen sowie die Mehrung des Gewichts des Bundesrates herausgestellt 4. Diese Tendenzen haben sich in den letzten Jahrzehnten noch verstärkt. Die Ursachen liegen auf der Hand5. Einmal entbehren die nach 1945 unter der Regie der Besatzungsmächte gebildeten Bundesländer - abgesehen von Bayern und den Hansestädten Bremen und Hamburg - der historischen Tradition und damit einer überzeugenden Grundlage im Bewußtsein der Bürger. Zum anderen drängt der moderne Sozial Staat mit seinen Planungs-, Lenkungs- und Vorsorgeaktivitäten ebenso wie die fortschreitende Integrierung der hochdifferenzierten Wirtschaft zu einheitlichen Strategien und Lösungen der staatlichen Gesetzgebung und Verwaltung. Die Gefahr, daß die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes unterlaufen und die Staatlichkeit der Länder ausgehöhlt wird, gibt Anlaß zu verfassungspolitischer und verfassungsrechtlicher Sorge.
2. Langfristige Entwicklungstendenzen der bundesstaatlichen Finanzverfassung Die unitarisierenden Tendenzen und die hiermit verbundenen Friktionen der bundesstaatlichen Ordnung sind vor allem in der Finanzverfassung des Grundgesetzes virulent geworden - ein Vorgang, der keineswegs überraschend erscheint. Nach der treffenden Formulierung von Hettlage ist die Finanzverfassung „der Schwurpunkt des ganzen Verfassungswerkes, was den Rechtsstaat, Gewaltenteilung und vor allem die bundesstaatliche Ordnung angeht"6. Dieser Einsicht entspricht nicht nur das in der ursprünglichen Fassung und mehrfachen Änderungen des Grundgesetzes zum Ausdruck gekommene Ringen um eine ausgewogene Verteilung der Finanzkompetenzen und des Abgabenaufkommens auf Bund und Länder (Art. 104a-108 GG), sondern auch die finanzwirtschaftliche Ingerenz des Bundes in die Sachkompetenzen der Länder durch zweckgebundene Zuweisungen im Rahmen des Fondswesens. Mit derartigen Zuweisungen übte bereits das Deutsche Reich unter der Verfassung von 1871 und vor allem unter der Weimarer Verfassung einen steuernden Einfluß gegenüber den Ländern auf deren Kompetenzgebieten aus. Diese Praxis war schon
3
Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962. Hesse (Fn. 3), S. 12 ff. 5 Vgl. in neuerer Zeit statt vieler: Volkmann , DÖV 1998, 613 ff.; Schwanengel , DÖV 2004, 553 ff.; Kloepfer , DÖV 2004, 566 ff. 6 Hettlage , VVDStRL 14 (1956), 2 (6). 4
Gemeinschaftsaufgaben und Mischfinanzierung
327
damals Gegenstand einer lebhaften Kontroverse 7 und begegnete auch unter der Geltung des Grundgesetzes schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Bedenken8. Bis zur Finanzreform von 1969 konnte der Bund seine erweiterten und intensivierten Finanzierungsaktivitäten auf Gebieten, die zumindest grundsätzlich in die Landeskompetenzen fallen, allenfalls auf ungeschriebene Zuständigkeiten kraft Natur der Sache oder kraft Sachzusammenhangs stützen - ein Rechtfertigungsversuch, der angesichts der engen Voraussetzungen ungeschriebener Bundeskompetenzen im allgemeinen scheitern mußte und die Aushöhlung der geschriebenen Kompetenzordnung durch eine unübersichtliche, die Verantwortlichkeiten der Länder paralysierende Mischfinanzierung nicht zu begründen vermochte. Der Finanzreform von 1969 kam mithin die Aufgabe einer „Flurbereinigung" zu 9 . Einen Fortschritt in diesem Sinne stellte die Positivierung des sogenannten Konnexitätsgrundsatzes durch Art. 104a Abs. 1 GG dar, wonach der Bund und die Länder gesondert die Ausgaben tragen, die sich aus der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergeben, soweit das Grundgesetz nichts anderes bestimmt. Den sachlichen Zwängen und den politischen Kräften des Unitarismus gab das Reformwerk von 1969 dadurch nach, daß die enumerativ aufgeführten, dem ursprünglich alleinigen Aufgabenbereich der Länder entstammenden Gemeinschaftsaufgaben der Art. 91a und 91b GG Mitplanungsund Mitfinanzierungskompetenzen des Bundes unterworfen wurden. Der gleichen Tendenz entsprach die Gestaltung von Investitionshilfen des Bundes zu den in Art. 104a Abs. 4 GG genannten Zwecken. Verfassung und Staatspraxis sollten hiermit wieder in Einklang gebracht werden. Der Begriff der Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern war schon vorher als vage Umschreibung der Verfassungs Wirklichkeit gebraucht worden. Er steht in enger Beziehung zur Modellvorstellung des „kooperativen Föderalismus" 10 , die auch der Finanzreform von 1969 zugrunde lag. Hierin schlägt sich das Bestreben nieder, den unitarisierenden Tendenzen Raum zu geben und die Eigenstaatlichkeit der Länder durch ein allgemeines Gebot gesamtstaatlichen Zusammenwirkens zu domestizieren, ohne in einen verfassungswidrigen Zentralismus zu verfallen. Dabei geht es trotz gegenteiliger Beteuerungen nicht nur um die bereits von Paul Laband ausgesprochene Einsicht, daß die starke Interdependenz aller Staatstätigkeit im Bundesstaat es nicht erlaube, zwischen Bund und Ländern eine starre Kompetenzgrenze „wie eine chinesische Mauer"
7 Vgl. statt vieler Vogel/Waldhoff., BK zum GG, Vorbem. zu Art. 104a-l 15 Rn. 134 ff., 143 ff. m.w.N. 8 Kommission ßr die Finanzreform, Gutachten über die Finanzreform in der Bundesrepublik Deutschland (sog. Troeger-Gutachten), 1966; zusammenfassend aus heutiger
Sicht Vogel/Waldhoff (Fn. 7), Rn. 199 ff. 9 Vgl. Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 104 a Rn. 16.
10 Vgl. dazu statt vieler: Hesse, in: Festschrift für Gebhard Müller, 1970, S. 141 ff.; kritisch: Kisker, Kooperation im Bundesstaat, 1971.
Rüdiger Breuer
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zu errichten 11. Vielmehr schließt das traditionelle Bundesstaatsprinzip eigenständige Gesetzgebungs- und Verwaltungsaktivitäten der Gliedstaaten auf ihren Kompetenzgebieten ein. Demgegenüber bedeutet es eine folgenschwere Umbildung der Verfassung, wenn die Länder grundsätzlich angehalten werden sollen, untereinander und mit dem Bund in koordinierten Aktionen zusammenzuwirken. Konrad Hesse hat in der Selbstkoordinierung von Bund und Ländern zu Recht eine maßgebliche Erscheinungsform der Unitarisierung gesehen12. Die Frage, inwieweit ein Bestand an eigenständigen, selbständig wahrzunehmenden Aufgaben der Länder zum Bundesstaatsprinzip der Art. 20 Abs. 1 und 79 Abs. 3 GG gehört und die Vergemeinschaftung von Länderaufgaben auf verfassungsrechtliche Schranken stößt13, muß offen gestellt werden. Die Vorstellung eines extremen Kooperationsmodells läßt die verfassungsrechtlichen Konsequenzen unübersehbar hervortreten. Werden die Entscheidungs- und die Vollzugskompetenzen von Bund und Ländern auf breiter Front miteinander vermischt, die Verantwortlichkeiten der Bundes- und Länderorgane für bestimmte Maßnahmen verdunkelt, vertragliche oder vertragsähnliche Koordinationen als Regelfall des staatlichen Entscheidungsprozesses vorausgesetzt oder institutionalisiert, in den Koordinationsgremien entweder gesamtstaatlich motivierte Vorzugsstellungen der Bundes Vertreter oder Pattstellungen mit dem faktischen Zwang zur Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geschaffen und die Parlamente in eine „Ratifizierungslage" gegenüber den erzielten Verhandlungskompromissen der Exekutive versetzt, so wird nicht nur die bundesstaatliche, sondern auch die rechtsstaatliche gewaltenteilende und die demokratische Verfassungsstruktur deformiert. Damit soll die Kooperation im Bundesstaat nicht geächtet werden; im Gegenteil, der vom BVerfG reaktivierte und allseits anerkannte Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens 14 ist nichts anderes als eine Generalklausel für die sachnotwendige Kooperation und Koordination im Bund-LänderVerhältnis. Ebenso soll nicht von vornherein und abstrakt über das Konzept der Gemeinschaftsaufgaben der Stab gebrochen werden. Jedoch gilt es, den „kooperativen Föderalismus" nicht als Patentformel zur Wahrung der bundesstaatlichen Ordnung, sondern als schillernde Variante der unitarisierenden Tendenzen zu begreifen. Entscheidend ist die Art seiner Verwirklichung. Jedenfalls die breit angelegte Institutionalisierung einer kooperativen Mischverwaltung von Bund und Ländern sowie einer entsprechenden Mischfinanzierung ist geeignet, 11 Vgl. zum Ganzen Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, 5. Aufl. 1911, Neudr. 1964, S. 60 ff.
12 13
Hesse (Fn. 3), S. 12 ff.
Dazu bereits Frowein , VVDStRL 31 (1973), 13 (38 ff.); Kisker (Fn. 10), S. 298 ff. 14 BVerfGE 4, 115 (140); 6, 309 (328, 361 f.); 8, 122 (138 ff.); 12, 203 (249 f., 254 ff.); 34, 9 (44); st. Rspr.; vgl. auch Hans-Jochen Vogel , in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HdbVerfR, 2. Aufl. 1995, Teil 2, § 22 Rn. 45 ff.
Gemeinschaftsaufgaben und Mischfinanzierung
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die bundesstaatliche Ordnung, die rechtsstaatliche Gewaltenteilung und die parlamentarische Demokratie zu unterlaufen. Umbildungen des Grundgesetzes, die in diese Richtung weisen, begegnen zumindest verfassungspolitischen Bedenken. Bei extremer Gestaltung bedürfen sie auch einer verfassungsrechtlichen Überprüfung im Hinblick auf die „Ewigkeitsgarantie' 4 der bundesstaatlichen, rechtsstaatlichen und demokratischen Grundprinzipien in Art. 79 Abs. 3 GG. Auf Seiten der Länder haben die Gemeinschaftsaufgaben und die Investitionshilfen gemäß Art. 91a, 91b und 104a Abs. 4 GG bald ein kritisches Echo gefunden. Die Kritik zielte in die angedeutete Richtung und bestätigte die von Anfang an unübersehbare Strukturschwäche der neuen finanzverfassungsrechtlichen Institute 15 . Einen Anstoß zu Überlegungen über eine abermalige Reform der bundesstaatlichen Finanzverfassung hat schon in den 1970er Jahren die EnqueteKommission „Verfassungsreform" gegeben. In ihrem Schlußbericht vom 9.12.197616 bekennt sich die Enquete-Kommission zu der Zielsetzung der Finanzreform von 1969, das Dotationssystem der vorangegangenen Zeit durch eine verfassungsrechtlich einwandfreie Lösung zu ersetzen und dabei den für nötig gehaltenen Einfluß des Bundes zur gesamtstaatlichen Steuerung in konjunktur- und strukturpolitischer Hinsicht sicherzustellen. Jedoch hat die Enquete-Kommission den Verfassungskompromiß des Jahres 1969 insofern für unausgewogen erachtet, als in den drei Bereichen gemeinsamer Verantwortung von Bund und Ländern nach den Art. 91a, 91b und 104a Abs. 4 GG die normative, institutionelle, prozedurale und instrumentale Ausgestaltung des Zusammenwirkens unterschiedlich ist. Die Kommission hat vorgeschlagen, diese Unterschiede zu beseitigen und das Zusammenwirken von Bund und Ländern einheitlich zu regeln. An die Stelle der gegenwärtigen Gemeinschaftsaufgaben und Investitionshilfen sollten hiernach eine gemeinsame Rahmenplanung und Finanzbeiträge neuer Art treten. Die gemeinsame Rahmenplanung sollte nach dem vorgeschlagenen Art. 28a GG von der Mischverwaltung und Mischfinanzierung einzelner Aufgabengebiete abgesetzt werden und alle für die Entwicklung des Bundesgebietes bedeutsamen Sachbereiche erfassen können. Allerdings sollte die neue Verfassungsbestimmung lediglich eine Ermächtigung zur Planungskooperation von Bund und Ländern bereitstellen und auf eine Mindestregelung des Verfahrens beschränkt werden. Damit hat die Kommission das ehrgeizige planungsrechtliche Modell ihres Zwischenberichts 17 zwar nicht zurückgenommen, aber doch erheblich abge15 Vgl. die Nachweise bei Frowein, VVDStRL 31 (1973), 13 (19); v. Münch, ebda., S. 54 ff. 16 BT-Drucks. 7/5924, S. 7, 148 ff. 17 BT-Drucks. 6/3289.
330
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schwächt. Die Finanzbeiträge neuer Art sollten die Mitfinanzierungskompetenzen des Bundes nach den Art. 91a, 91b und 104a Abs. 4 GG vereinheitlichen. Nach dem damals vorgeschlagenen Art. 104b GG sollte der Bund auf den unverändert übernommenen Gebieten der gegenwärtigen Mitfinanzierungskompetenzen verpflichtet und berechtigt sein, Finanzbeiträge an die Länder zu leisten. Die Kommission hat seinerzeit offen ausgesprochen, daß damit der bestehende Sacheinfluß des Bundes im Investitionsbereich erhalten werden sollte. Darüber hinaus wollte die Kommission dem Bund auf den Gebieten der gegenwärtigen Investitionshilfen nach Art. 104a Abs. 4 GG einen vermehrten Sacheinfluß eröffnen; der Bund sollte befugt sein, nicht nur die Art der Investitionsvorhaben, sondern in besonderen Fällen auch das Verfahren der Auswahl einzelner Vorhaben zu regeln. Die Kommission hat damit das Ziel eines begrenzten und kontrollierten Unitarismus weiterverfolgt und versucht, den kooperativen Föderalismus der Finanzreform von 1969 übersichtlicher zu gestalten. Im übrigen hat die Enquete-Kommission 1976 empfohlen, am vorgefundenen System der Finanzverfassung festzuhalten. Diese Empfehlung bezieht sich insbesondere auf den - durch die gemeinsame Rahmenplanung und die Finanzbeiträge durchbrochenen - Grundsatz, daß Bund und Länder ihre Aufgaben getrennt wahrnehmen und finanzieren, auf den weitgehenden Steuerverbund zwischen Bund und Ländern und auf den bundesstaatlichen Finanzausgleich.
3. Aktuelle Reformbestrebungen Im Jahre 2004 hat die öffentlich-rechtliche Abteilung des 65. Deutschen Juristentages unter dem weiter gesteckten Thema „Klarere Verantwortung von Bund, Ländern und Kommunen?" die Problematik der Gemeinschaftsaufgaben und der Mischfinanzierung erneut aufgegriffen. Dort hat Stefan Korioth die entschiedenste Kritik vorgetragen und die Abschaffung der Mischfinanzierungstatbestände gefordert 18. Nach seinem Verdikt sollten Bund-LänderMischfinanzierungen, wie sie gegenwärtig in den Art. 91a Abs. 4, 91b Satz 2, Art. 104a Abs. 4 und Art. 106a GG geregelt sind, beendet werden. Das mit der Finanzreform von 1969 erstrebte Ziel, die intransparente vorherige Fonds Wirtschaft der goldenen Zügel des Bundes zu kanalisieren, ist nach Korioths überzeugender Analyse nur zum Teil erreicht worden. Darüber hinaus hat Korioth unerwünschte Nebenfolgen - nämlich ausgabensteigernde Effekte durch hohen Koordinierungs- und Verwaltungsaufwand sowie Mitnahmeeffekte bei bereitstehenden Bundesmitteln, die landeseigene Präferenzen verzerren - festgestellt und als offenbar unausweichliche Konsequenz der Mischfinanzierung ausgemacht. Die bei einer Streichung der Mischfinanzierungen freiwerdenden Bun-
18
Korioth, in: Verh. des 65. DJT, Bd. I I / l , 2004, Ρ 104 ff., 125 (These 6).
Gemeinschaftsaufgaben und Mischfinanzierung
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desmittel müßten - so Korioth - den Ländern über die Ertragsverteilung zugute kommen. Demgegenüber hat Peter M. Huber als Gutachter des 65. Deutschen Juristentages eine differenzierende, zwiespältig anmutende Haltung eingenommen. Einerseits hat auch er die Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91a und Art. 91b GG als „systemsprengende Mischverwaltung" kritisiert 19 . Ihre Ausgestaltung verhindere Transparenz und politische Verantwortungszurechnung. Da auch Verfahren und Ertrag dieses Instrumentariums (einschließlich der gemeinsamen Rahmenplanung) nicht zu überzeugen vermöchten, sollten die Gemeinschaftsaufgaben - so Huber - zu einem bestimmten Stichtag (z. B. 1.1.2009) auslaufen. Andererseits hat Huber eine verstärkte Investitionshilfekompetenz des Bundes befürwortet. Dieses Votum bezieht sich nicht allein auf das Zusammenwirken bei der überregionalen Forschung, sondern auf den gesamten Anwendungsbereich der finanzverfassungsrechtlichen Investitionshilfen: Ein Verzicht auf zweckgebundene vertikale Finanzzuweisungen des Bundes an die Länder sei zwar theoretisch wünschenswert, müsse aber an den Erfordernissen der Praxis und der „Anziehungskraft des größeren Etats" scheitern 20. Deshalb hält Huber die Beibehaltung der Finanzhilfen nach Art. 104a Abs. 4 GG gerade bei einer Streichung der Gemeinschaftsaufgaben nach den Art. 91a, 91b GG für unvermeidbar. Er hat daher „zur endgültigen Bereinigung verfassungswidriger Mischfinanzierungstatbestände" folgende Neufassung des Art. 104a Abs. 4 GG vorgeschlagen 21: „Der Bund kann den Ländern Finanzhilfen für besonders bedeutsame Investitionen
der Länder und Gemeinden (Gemeindeverbände) sowie für die Erfüllung von Aufgaben von überregionaler Bedeutung gewähren. Das Nähere, insbesondere die Arten der zu fördernden Investitionen wird durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, geregelt."
Der am 7.3.2006 beim Deutschen Bundestag eingebrachte Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD zur Änderung des Grundgesetzes 22, d.h. zur Föderalismusreform, vertieft den Zwiespalt. Nach dem Entwurf sollen entgegen der Reformrhetorik - weder die Gemeinschaftsaufgaben noch die Investitionshilfen abgeschafft werden. Die Regelung der Gemeinschaftsaufgaben in Art. 91a GG soll danach in der Weise geändert werden, daß Abs. 1 Nr. 1 (Ausbau und Neubau von Hochschulen einschließlich der Hochschulkliniken) aufgehoben und das Instrumentarium der verbleibenden Gemeinschaftsaufgaben vereinfacht werden soll; dabei soll insbesondere Abs. 3 gestrichen werden, die gemeinsame Rahmenplanung also nicht mehr zwingend vorgeschrieben
19
Huber, Gutachten D für den 65. DJT, 2004, D 86 f., 144 f. (These 21).
20
Huber (Fn. 19), D 97 ff., 146 (These 27). Huber (Fn. 19), D 146 (These 27).
21 22
BT-Drucks. 16/813.
332
Rüdiger Breuer
sein23. Auch die Möglichkeit des Zusammenwirkens von Bund und Ländern bei der Förderung überregional bedeutsamer wissenschaftlicher Forschung nach Art. 91b GG soll beibehalten und im einzelnen „differenziert und präzisiert" werden 24. Ein neuer Art. 104b soll nach dem Entwurf den bisherigen Art. 104a Abs. 4 GG ersetzen. Der Begründung zufolge soll der Bund sich auch weiterhin unter bestimmten Voraussetzungen an der Finanzierung von Investitionen in Aufgabengebieten der Länder und Gemeinden durch die Gewährung von Finanzhilfen an die Länder beteiligen können. Die angestrebte Neuregelung des Art. 104b soll folgenden Wortlaut haben25: „(1) Der Bund kann den Ländern Finanzhilfen für besonders bedeutsame Investitionen der Länder und der Gemeinden (Gemeindeverbände) gewähren, die 1. zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts oder 2. zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft im Bundesgebiet oder 3. zur Förderung des wirtschaftlichen Wachstums erforderlich sind. Satz 1 gilt nicht für Gegenstände der ausschließlichen Gesetzgebung der Länder. (2) Das Nähere, insbesondere die Arten der zu fördernden Investitionen, wird durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, oder auf Grund des Bundeshaushaltsgesetzes durch Verwaltungsvereinbarung geregelt. Die Mittel sind befristet zu gewähren und hinsichtlich ihrer Verwendung in regelmäßigen Zeitabständen zu überprüfen. Die Finanzhilfen sind im Zeitablauf mit fallenden Jahresbeträgen zu gestalten. (3) Bundestag, Bundesregierung und Bundesrat sind auf Verlangen über die Durchführung der Maßnahmen und die erzielten Verbesserungen zu unterrichten."
Insgesamt versprechen diese aktuellen, gegenwärtig dem Bundestag vorliegenden Vorschläge zur Änderung der Art. 91a, 91b und 104a Abs. 4 GG keinen Durchbruch zu neuen föderalistischen Ufern. Sie zielen auf Modifizierungen sektoraler und instrumenteller Einzelheiten, lassen jedoch die prinzipiellen Strukturprobleme der Gemeinschaftsaufgaben mit der Mischfinanzierung bestehen26.
I I . Die formalisierten Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91a GG Die verfassungsrechtliche Institutionalisierung der Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern durch die Finanzreform von 1969 beruhte einerseits auf dem politischen, vor allem auf Seiten der Länder artikulierten Bestreben, die verfassungswidrige Fonds- und Dotationswirtschaft des Bundes durch eine 23
BT-Drucks. 16/813, Art. 1 Nr. 12, Begründung: Teil В (zu Art. 1 Nr. 12). BT-Drucks. 16/813, Art. 1 Nr. 13, Begründung: Teil В (zu Art. 1 Nr. 13). 25 BT-Drucks. 16/813, Art. 1 Nr. 17, Begründung: Teil В (zu Art. 1 Nr. 17). 26 Vgl. zur Vorgeschichte der aktuellen Föderalismusreform: Deutscher Bundestag/Bundesrat, Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), Zur Sache 1/2005; auch Henneke , DVB1. 2003, 845 ff.; Möstl, ZG 2003, 297 ff.; F. Kirchhof. \ ZG 2004, 209 ff.; kritisch Stock, ZUR 2006, 113 ff. 24
Gemeinschaftsaufgaben und Mischfinanzierung
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klare Regelung abzulösen. Andererseits hat das im Jahre 1966 vorgelegte Sachverständigengutachten der Troeger-Kommission 27 der Finanzreform von 1969 entscheidende Impulse gegeben. Ausgehend von der Idee des kooperativen Föderalismus und von der Notwendigkeit einer „Flurbereinigung" im Bereich der Finanzierungszuständigkeiten von Bund und Ländern, schlug die TroegerKommission zur verfassungsrechtlichen Regelung der Gemeinschaftsaufgaben die Einfügung eines Art. 85a in das Grundgesetz vor. Hierin sollte im Wege einer Generalklausel bestimmt werden, daß bei der Erfüllung staatlicher Aufgaben, deren Ausführung Sache der Länder ist, Bund und Länder zusammenwirken, wenn die Aufgaben für die Gesamtheit bedeutsam sind und einer langfristigen gemeinsamen Planung bedürfen. Welche Aufgaben als Gemeinschaftsaufgaben wahrgenommen werden sollten, wollte die Kommission der Bestimmung durch einfaches, der Zustimmung des Bundesrates bedürftiges Bundesgesetz überlassen. Die Verwirklichung dieses Konzeptes hätte die Möglichkeit geboten, die bundesstaatliche Kompetenzordnung weithin aufzuweichen. Die Ergänzung des Grundgesetzes durch einen Abschnitt V i l l a über „Gemeinschaftsaufgaben" (Art. 91a, 91b) war erstmals im Finanzreformprogramm der Bundesregierung vom 19.7.196728 vorgesehen. Dort waren die Gemeinschaftsaufgaben bereits enumerativ aufgeführt; der Katalog von neun aufgeführten Aufgabengebieten war jedoch immer noch sehr weit gesteckt. Die Eingrenzung auf die drei Aufgabengebiete und die sachlichen Voraussetzungen des Art. 91a Abs. 1 GG ist Teil des Verhandlungskompromisses, auf den sich Bund und Länder in den Jahren 1967 bis 1969 einigten 29 . Ergebnis dieser Verhandlungen sind auch das Verfahren und die Einrichtungen der gemeinsamen Rahmenplanung, die ihre Regelung in Art. 91a Abs. 3 GG und den drei Ausführungsgesetzen30 gefunden haben, sowie die in Art. 91a Abs. 4 GG geregelten Grundzüge der gemeinsamen Finanzierung. Wurde die Einführung sowie die positiv-rechtliche Ausgestaltung der Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91 a GG zunächst fast einhellig begrüßt, so überwogen bald danach Stimmen herber Kritik, und zwar nicht nur im politischen, sondern auch im rechtswissenschaft27
Vgl. oben in und bei Fn. 8. Abgedruckt in: Finanzbericht 1968, S. 209 ff.; vgl. dazu Tiemann, Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern in verfassungsrechtlicher Sicht, 1970, S. 216 ff. 29 Näher dazu Tiemann (Fn. 28), S. 219 ff.; Heinzen, in: Hrbek (Hrsg.), Miterlebt Mitgestalter, 1989, S. 187 ff. 30 Gesetz über die Gemeinschaftsaufgabe „Ausbau und Neubau von Hochschulen" (Hochschulbauförderungsgesetz) v. 1.9.1969 (BGBl. I S. 1556) zuletzt geändert durch VO v. 29.3.2004 (BGBl. I S. 497); Gesetz über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" i.d.F. der Век. ν. 21.7.1988 (BGBl. I S. 1055), zuletzt geändert durch Gesetz v. 2.5.2002 (BGBl. I S. 1527); Gesetz über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" v. 6.10.1969 (BGBl. I S. 1861), zuletzt geändert durch VO v. 5.4.2002 (BGBl. I S. 1250). 28
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liehen Bereich 31 . Demgegenüber konnte anfänglich noch darauf verwiesen werden, daß dem neuen verfassungsrechtlichen Institut eine angemessene Zeit zur praktischen Bewährung zugestanden werden müsse. Nunmehr ist jedoch der Zeitpunkt für ein kritisches Fazit gekommen. Dabei muß es darauf ankommen, ob das Zusammenwirken von Bund und Ländern so ausgestaltet ist, daß die Länder eine eigene, nicht austauschbare Rolle im Rahmen der Zusammenarbeit spielen können und dadurch ihre Vorstellungen insbesondere in Bezug auf ihren territorialen Bereich und ihren Anteil in der gemeinsamen Aufgabengestaltung eigenverantwortlich wahrnehmen können 32 . Jedenfalls galt und gilt es zu verhindern, daß an die Stelle eines ausgewogenen partnerschaftlichen Zusammenwirkens die Entscheidung eines überlegenen Beteiligten in Gestalt des Bundes treten kann. In der Theorie ist anerkannt, daß die Position der Länder verfahrensrechtlich abgesichert sein muß und die Mitwirkungsrechte des Bundes sowohl in sachlicher als auch in finanzieller Hinsicht auf das für die überregionale Koordinierung erforderliche Maß reduziert sein müssen. Die Wahrnehmung der Gemeinschaftsaufgaben vollzieht sich in zwei Stufen, der Entscheidungs- und der Durchführungsphase 33. Die maßgeblichen Grundsatzbeschlüsse über Art und Umfang der als Gemeinschaftsaufgaben durchzuführenden Maßnahmen werden in der Entscheidungsphase gefaßt. Hier konzentriert sich die politische Dezision der gemeinsamen Aufgabenwahrnehmung. Wie hier die Gewichte der Mitwirkungsbefugnisse auf Bund und Länder verteilt sind, gibt mithin den Ausschlag dafür, ob es zu einem ausgewogenen Zusammenwirken oder zu einem verkappten Diktat einer Seite kommt. Der Bund wirkt vor allem an den Beschlüssen in der Entscheidungsphase mit. Diese unitarisierende Kooperation entspricht durchaus dem Sinn und Zweck der Gemeinschaftsaufgaben. Dagegen gehört die Durchführungsphase, die insbesondere die Detailplanung, die Baudurchführung, die Ausschüttung der finanziellen Mittel an die Beteiligten und die Schlußabrechnung umfaßt, grundsätzlich zum Kompetenzbereich der Länder. Der Bund ist insoweit darauf beschränkt, die Einhaltung der gemeinsamen, in der Entscheidungsphase gefaßten Beschlüsse zu überwachen. Zu einer eigenständigen Mitentscheidung über die Durchführungsmaßnahmen ist er nicht befugt.
31 Vgl. die Nachw. in Fn. 15; ferner Kisker (Fn. 10), S. 282 ff.; Soell, in: Festschrift für Ernst Forsthoff, 1972, S. 397 ff. 32 Vgl. zu diesen Grundpostulaten des Bundesstaates BVerfGE 39, 96 (107 ff.) mit Blick auf Art. 104 a Abs. 4 GG; allgemein Anschütz und Bilfingen VVDStRL 1 (1924),
11 ff., 35 ff.; Bülck und Lerche , VVDStRL 21 (1964), 1 ff, 66 ff.; Hain, Die Grundsätze
des Grundgesetzes, 1999, S. 393 ff. 33 Vgl. statt vieler Tiemann (Fn. 28), S. 231 ff., 242 ff.; auch Frowein , VVDStRL 31 (1973), S. 13 (27); Krüger/Siekmann, in: Sachs (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2003, Art. 91a Rn. 32.
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Die Entscheidungsphase ist durch den Dualismus der Sachplanung und der Finanzplanung gekennzeichnet. Der Sachplanung, nämlich der gemeinsamen Rahmenplanung, soll der rechtliche Primat zukommen. Sie gilt als „Kernstück" der gesamten Regelung der Gemeinschaftsaufgaben 34. Die gemeinsame Finanzierung, insbesondere die finanzielle Beteiligung des Bundes, soll eine bloße Folge der gemeinsamen Sachentscheidung sein. Theoretisch liegt hierin eine Abkehr von der Fonds- und Dotationswirtschaft des Bundes, bei der die gemeinsame, im Aufgabenbereich der Länder praktizierte Finanzierung nicht Folge, sondern auslösender Hebel eines apokryphen Sacheinflusses des Bundes war. Indessen braucht die theoretische Umkehr keinen praktischen Wandel zu bedeuten. Die Gefährdung der gliedstaatlichen Eigenständigkeit und der bundesstaatlichen Kompetenzordnung geht von der Verknüpfung zwischen der Sachentscheidung und einer gemeinsamen Finanzierung aus. Eben diese Verknüpfung ist bei der Regelung der Gemeinschaftsaufgaben durch Art. 91a GG beibehalten worden. Hat einer der Beteiligten die größere Finanzkraft und sind seine Partner auf seine Mitfinanzierung zur Ausführung wichtiger Vorhaben angewiesen, so kann er mühelos einen übermächtigen Einfluß auf die Sachentscheidung ausüben. Seine Überlegenheit und die korrespondierende Zwangslage seiner Partner werden verstärkt, wenn er durch institutionelle oder prozedurale Regelungen eine Vorzugsstellung bei der gemeinsamen Beschlußfassung erhält. Die Sachentscheidung gerät dann zwangsläufig unter seine „Angebotsdiktatur" 35 , nämlich in den Miachtsog seiner Mitfinanzierung, die er von der Anpassung an seine politischen Optionen für die Rahmenplanung abhängig machen kann. Wenn eine solche „Vorwirkung" der Finanzierungsmacht eintritt, erweist sich der rechtliche Primat der Sachplanung als ineffektiv und wertlos. Ob dieser Primat praktisch zum Tragen kommt, hängt ausschließlich von der Balance der Finanzkraft und den institutionellen und prozeduralen Modalitäten der Sachplanung ab. Zwar stellt es einen Fortschritt dar, wenn die unitarische Kooperation nicht mehr durch informelle Dotationsauflagen und -absprachen, sondern durch die förmliche und rechtlich primäre Rahmenplanung gesichert wird. Jede Mitfinanzierung von gliedstaatlichen Aufgaben durch den Oberstaat (Bund) kann jedoch zum Einfallstor für eine zentralistische Gleichschaltung werden, wenn der Oberstaat das beschriebene Übergewicht gewinnt. Auf der Grundlage dieser Erkenntnis muß aus heutiger Sicht überprüft werden, ob die Institutionalisierung der Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91a GG eher ein ausgewogenes partnerschaftliches Zusammenwirken von Bund und Ländern oder ein einseitiges Diktat bewirkt.
34
Soell (Fn. 31), S. 408 m.w.N.; vgl. auch Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 91a
Rn. 48 ff.; Krüger!Siekmann 35
(Fn. 33), Art. 91a Rn. 30 ff.
Vgl. Seeger, DÖV 1968, 781 (782); v. Münch, VVDStRL 31 (1973), 51 (75).
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1. Institutionelle und prozedurale Regelungen für die gemeinsame Rahmenplanung Die Ausführungsgesetze zu Art. 91a GG 3 6 haben die gemeinsame Rahmenplanung in die Hand besonderer Planungsausschüsse gelegt. Für die Einschätzung der Gemeinschaftsaufgaben erscheint daher wesentlich, wie die Zusammensetzung und das Verfahren der Planungsausschüsse gestaltet sind. Auf den ersten Blick mag es scheinen, als sicherten die paritätische Besetzung der Planungsausschüsse mit je elf Bundes- und Ländervertretern und das Erfordernis einer Dreiviertelmehrheit für die Beschlußfassung das Gleichgewicht und die Eigenständigkeit der Partner. Überdies mag man zunächst geneigt sein, die Ablösung des Einstimmigkeitsprinzips durch das Prinzip einer qualifizierten Mehrheit als begrenztes Opfer der Länder im Interesse der notwendigen Unitarisierung und Kooperation zu akzeptieren. Nähere Betrachtung zeigt jedoch, daß von einem Gleichgewicht der Bundesund Länderstimmen in den Planungsausschüssen nicht die Rede sein kann 37 . Während die einheitliche Stimmabgabe durch die Bundes Vertreter zwar nicht zwingend vorgeschrieben ist, jedoch jederzeit durch regierungsinterne Anordnungen sichergestellt werden kann und ständig praktiziert wird, sind die Ländervertreter durch parteipolitische und interessenbedingte Differenzen gespalten. Der Bund kann nicht nur in den Planungsausschüssen nicht überstimmt werden, sondern im allgemeinen auch die einfache Mehrheit der Ländervertreter auf seine Seite ziehen, um die erforderliche Dreiviertelmehrheit zu erreichen. Er kann Länder mit divergierenden Standpunkten gegeneinander ausspielen. Umgekehrt haben die Länder keine Aussicht, ein eigenes Konzept gegen die politischen Optionen des Bundes durchzusetzen. Hinzu kommt, daß der jeweils zuständige Ressortminister des Bundes stets den Vorsitz im Planungsausschuß innehat. Diese Regelung wird mit den Vorteilen einer kontinuierlichen Verhandlungs- und Geschäftsführung begründet und gelegentlich mit dem Hinweis heruntergespielt, daß der Vorsitz im Planungsausschuß weder zusätzliche Entscheidungsbefugnisse eröffne noch eine verfahrensrechtliche „Disziplinierung" des Ausschusses ermögliche. Diese Betrachtungsweise dürfte jedoch das tatsächliche, durch die Dauerhaftigkeit noch vermehrte Gewicht des Vorsitzes und der hiermit verbundenen Geschäftsführung verkennen. Im übrigen ist zu Recht hervorgehoben worden, daß der Vorsitzende nach den Geschäftsordnungen der Planungsausschüsse das Recht hat, einen von ihm entworfenen Entscheidungsvorschlag den Ausschußmitgliedern im Umlaufverfahren zuzustellen, wenn die Angelegenheit besonders eilbedürftig ist oder nach der Auffassung des Vorsitzenden einer mündlichen Beratung nicht bedarf.
36
37
Oben Fn. 30.
Vgl. zum Ganzen Soell (Fn. 31), S. 415 ff.
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Hiernach verfügt der Bund über ein formellrechtlich bedingtes Übergewicht in den Planungsausschüssen. Die Kritik führt zu der Frage, ob solche institutionellen und prozeduralen Vorkehrungen notwendig sind, damit die aus konjunktur- und strukturpolitischen Gründen gebotene gesamtstaatliche Koordinierung erreicht wird. In der Tat würde die Rückkehr zum Einstimmigkeitsprinzip oder zu einem ähnlich rigiden Einigungszwang bewirken, daß bei politischen Divergenzen durchweg der „kleinste gemeinsame Nenner" gesucht werden müßte und konsequente Planungsentscheidungen unmöglich würden. Allerdings ist eine Koordinierung nach dem Mehrheitsprinzip nur vertretbar, soweit es sich wirklich um gesamtstaatlich wesentliche Grundsatz- oder Rahmenentscheidungen im (bisher ausschließlichen) Kompetenzbereich der Länder handelt. Wiederum eine andere Frage ist es, ob der Bund neben seiner institutionellen und prozeduralen Vorzugsstellung in den Planungsausschüssen ein finanzwirtschaftliches Übergewicht hat. Durch eine Kumulation des formellrechtlichen und eines finanzwirtschaftlichen Übergewichts würde die bereits beschriebene Gefahr heraufbeschworen, daß der Bund den Ländern gegenüber die befürchtete „Angebotsdiktatur" ausüben kann.
2. Der Inhalt der gemeinsamen Rahmenpläne Das Konzept der Gemeinschaftsaufgaben verlangt eine inhaltliche Abschichtung der gemeinsamen Rahmenplanung von der Detailplanung, die der ausschließlichen Länderkompetenz überlassen bleibt 38 . Wieviel Gestaltungsspielraum den Ländern auf den drei Gebieten des Art. 91a Abs. 1 GG verbleibt, wird in sachlicher Hinsicht durch den Inhalt der gemeinsamen Rahmenpläne abgesteckt. Daher verdient es kritische Aufmerksamkeit, daß die Rahmenpläne nach den Ausführungsgesetzen zu Art. 91a GG nicht nur strukturpolitische Ziele, die Arten sowie den maximalen oder minimalen Gesamtumfang der durchzuführenden Vorhaben und einen entsprechenden finanziellen Rahmen, sondern die einzelnen Vorhaben und Maßnahmen angeben müssen. Besonders konkrete Festsetzungen muß der gemeinsame Rahmenplan für die Erfüllung der Gemeinschaftsaufgabe „Ausbau und Neubau von wissenschaftlichen Hochschulen" enthalten. Zum obligatorischen Inhalt dieses Rahmenplans gehören Angaben über Bauvorhaben und Beschaffungsvorhaben, jeweils nebst Kosten (§ 6 Nr. 2 HBFG). Umfaßt sind hiervon oberhalb bestimmter Kostengrenzen insbesondere der Erwerb der für die einzelnen Bauvorhaben erforderlichen Grundstücke (§ 3 Nr. 2 HBFG), Bauten sowie Erschließung und Entschädigung an Dritte in dem für die Baumaßnahmen erforderlichen Umfang, Ersteinrichtung, Außenanlagen, Baunebenleistungen, besondere Betriebseinrichtungen
38
Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 91a Rn. 52; Krüger/Siekmann
Rn. 31.
(Fn. 33), Art. 91a
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und Zubehör (§ 3 Nr. 3 HBFG) und die Beschaffung von Großgeräten (§ 3 Nr. 4 HBFG). Eine solche Rahmenplanung verdient ihren Namen kaum noch. In Wirklichkeit handelt es sich um eine sektorale Vollplanung, die nur technische Details, nicht hingegen substantielle Sachfragen von politischem Gewicht offenläßt. Damit ist das Maß dessen überschritten, was als gesamtstaatlich wesentliche Grundsatzentscheidung angesprochen und sinnvollerweise aus der Alleinkompetenz der Länder in eine Gemeinschaftskompetenz überführt werden kann 39 .
3. Unterlegenheit der Länder durch finanzwirtschaftliche Zwänge Die institutionelle, prozedurale und materielle Regelung der gemeinsamen Rahmenplanung beläßt den Ländern immerhin rechtliche Möglichkeiten zu eigenen Initiativen. Aufgabe der Länder bleibt die Vorplanung, die der Anmeldung von Vorhaben zum Rahmenplan zugrunde liegt. Ferner bedarf die Aufnahme eines Vorhabens in die Rahmenplanung der Zustimmung des Landes, in dessen Gebiet es durchgeführt wird (sog. Sitzlandvorbehalt, Art. 91a Abs. 3 Satz 2 GG). Überdies stellt Art. 91a Abs. 4 Satz 4 GG klar, daß die Bereitstellung der Mittel der Feststellung in den Haushaltsplänen des Bundes und der Länder vorbehalten bleibt. Die Aufnahme eines Vorhabens in den gemeinsamen Rahmenplan begründet somit keine AusführungsVerpflichtung des betreffenden Landes. Schließlich hat sich zu Recht die Auffassung durchgesetzt, daß der gemeinsame Rahmenplan keine rechtliche Sperrwirkung zu Lasten der Länder erzeugt 40. Die Länder können vielmehr auf den Gebieten der Gemeinschaftsaufgaben des Art. 91a Abs. 1 GG außerhalb des gemeinsamen Rahmenplans selbständig von ihnen allein finanzierte Vorhaben durchführen, sofern sie dem Kurs des gemeinsamen Rahmenplans nicht „geradewegs entgegensteuern". Der praktische Wert dieser Initiative der Länder hängt freilich davon ab, ob die finanzwirtschaftlichen Fakten den Ländern einen hinreichenden Bewegungsspielraum lassen. Geht man dieser Fragestellung nach, so zeigt sich, daß die Länder dem Bund durch eine Reihe finanzwirtschaftlicher Zwänge in bedenklicher Weise unterlegen sind. Die oft beschriebene „Anziehungskraft des größeren Etats" 41 zwingt die Länder zur Anpassung ihrer Vorplanungen und Anmeldungen an die politischen Optionen des Bundes, damit ihre Vorhaben in die gemeinsamen Rahmenpläne aufgenommen werden und an der Mitfinanzierung durch den Bund 39 Vgl. im einzelnen die Kritik bei v. Münch, VVDStRL 31 (1973), 64 ff.; Soell (Fn. 31), S. 404 ff.
40
Krüger/Siekmann
(Fn. 33), Art. 91a Rn. 37 m.w.N.; auch Kisker (Fn. 10), S. 287
ff.; v. Münch, VVDStRL 31 (1973), S. 73. 41 Grundlegend Popitz, Der künftige Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und Gemeinden, 1932; vgl. auch die Angaben bei Soell (Fn. 31), S. 408.
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teilhaben. Dabei verschärft das allgemeine Mißverhältnis zwischen der Knappheit der öffentlichen Finanzen und den wachsenden sozialen Bedürfnissen und Wünschen den Wettlauf der Länder mit dem Ziel, die begehrte Mitfinanzierung durch den Bund zu erlangen. Die planerischen Sachentscheidungen der Länder geraten dadurch in einen übermächtigen Zug- und Anpassungszwang. Dies gilt nicht nur für die „armen", sondern auch für die „reichen" Länder. Einen Verzicht auf die Bundesmittel und damit auf mögliche Infrastrukturentwicklungen in den Bereichen des Art. 91a Abs. 1 GG kann sich kein Bundesland leisten. Die Alleinfinanzierung eigener Vorhaben der Länder außerhalb des gemeinsamen Rahmenplans ist aufgrund der finanzwirtschaftlichen Zwänge nur eine theoretische Alternative. Richtet man den Blick auf die laufende und die künftige Entwicklung, so nimmt die finanzwirtschaftliche Bedrängnis der Länder noch zu, da nach Art. 91a GG nur die dort genannten Investitionen vom Bund mitfinanziert werden, die (überproportional steigenden) Folgekosten des Personal- und Sachbestandes hingegen alleine den Ländern zur Last fallen 42 . Der Bewegungsspielraum der Länder für eigene Initiativen und Dispositionen schrumpft daher immer mehr.
4. Funktionsverlust der Parlamente Gegenstand besonders heftiger und eingehender Kritik ist der mit der Institutionalisierung der Gemeinschaftsaufgaben verbundene Funktionsverlust der Parlamente, insbesondere der Landtage43. Art. 91a GG spricht die Parlamente nur in Abs. 4 Satz 4 an, wo klarstellend darauf hingewiesen wird, daß das Haushaltsbewilligungsrecht der Parlamente im Bund und in den Ländern unberührt bleibt. Dadurch wird jedoch nicht verhindert, daß die gemeinsame Rahmenplanung eine reine Regierungsplanung ist. Für die Beratung und Beschlußfassung bei dem gemeinsamen Rahmenplan ist der jeweilige Planungsausschuß zuständig, der ausschließlich mit Regierungsvertretern besetzt ist; die Vorplanung und Anmeldung von Vorhaben oder Maßnahmen zum Rahmenplan obliegt den Landesregierungen. Bei der Entscheidung über den Haushaltsplan sehen sich die Parlamente dem faktisch kaum widerstehlichen Zwang ausgesetzt, die Mittel für die Durchführung des Rahmenplans zu bewilligen. Es besteht eine typische „Ratifikationslage". Die Alternative, daß eines der beteiligten Parlamente aufgrund abweichender politischer Optionen andere Haushaltsansätze beschließen könnte, ist nur theoretisch gegeben, da der gemeinsame Rahmenplan bereits divergierende Wunschvorstellungen von Bund und Ländern koordiniert und das Ergebnis langwieriger Verhandlungen ist. Die abwei42 Vgl. zum Ganzen Soell (Fn. 31), S. 408 ff.; auch v. Münch, VVDStRL 31 (1973), S. 75 f.
43
Soell (Fn. 31), S. 419 ff.; Friedrich
Klein, Der Staat 11 (1972), 289 (311 f.); vgl.
auch die Nachw. bei v. Münch, VVDStRL 31 (1973), 54 ff.
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chende Entscheidung eines Parlaments bei der Haushaltsbewilligung würde eine erneute Beratung und Beschlußfassung im Planungsausschuß notwendig machen. Die Kompliziertheit und die regelmäßige Aussichtslosigkeit eines solchen Verfahrens müssen jedoch abschreckend wirken. Zur Milderung dieser Situation schreiben die Haushaltsordnungen der Länder vor, daß die Landesregierung den Landtag über die Entwürfe ihrer Anmeldungen für die gemeinsamen Rahmenpläne und über wesentliche Abweichungen von den eingereichten Anmeldungen, die sich bei den Beratungen in den Planungsausschüssen ergeben, rechtzeitig zu unterrichten hat. Entsprechend, allerdings ohne gesetzliche Grundlage, werden die zuständigen Ausschüsse des Bundestages von der Bundesregierung über die Anmeldungen der Länder und die Vorschläge der Bundesregierung unterrichtet. Kritisch bleibt anzumerken, daß der Funktionsverlust der Parlamente in ihrem tradierten Entscheidungsbereich, nämlich bei der Haushaltsbewilligung, durch bloße Unterrichtungspflichten der Regierungen nicht ausgeglichen wird. Daß die Parlamente, insbesondere die Landtage, hierbei durch die gemeinsame Rahmenplanung praktisch vor vollendete Tatsachen gestellt werden, bleibt ein schwerwiegender Stein des verfassungspolitischen Anstoßes.
5. Fazit im Hinblick auf die Funktionen des Bundesstaatsprinzips Die Institution der Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91a GG wirkt nachhaltig auf die Funktionen des Bundesstaatsprinzips ein. Die Dezentralisierung der staatlichen Aufgaben wird ausgehöhlt, da die Länder eigene Entscheidungen von politischer Bedeutung und „substantiellem Gewicht" auf den Gebieten der Gemeinschaftsaufgaben kaum noch treffen können. Mögen die institutionellen und prozeduralen Regelungen für die Planungsausschüsse, in denen einzelne Länder mit Dreiviertelmehrheit überstimmt werden können und der Bund eine Vorzugsstellung einnimmt, noch sachgerecht erscheinen, so bilden die inhaltliche Perfektionierung der gemeinsamen Rahmenpläne und die Unterlegenheit der Länder infolge finanzwirtschaftlicher Zwänge das Vehikel sachlich nicht begründeter zentralistischer Tendenzen. Jedenfalls setzt die Kumulation des rechtlich bedingten und des finanzwirtschaftlichen Übergewichts des Bundes eine unausweichliche Zentralisierung in Gang. Besonders stark wird die demokratische Funktion des Bundesstaatsprinzips in Mitleidenschaft gezogen, und zwar einmal durch den politischen Substanzverlust der Mitgliedstaaten und zum anderen durch den Funktionsverlust der gliedstaatlichen Parlamente. Daß das Übergewicht des Bundes auch die vertikale Gewaltenteilung und damit die rechtsstaatliche Funktion des Bundesstaatsprinzips beeinträchtigt, bedarf keiner näheren Begründung. Schließlich wird hierdurch die sozialstaatlich relevante Funktion des Bundesstaatsprinzips, innerhalb eines vom Bund vorgegebenen Rahmens einen strukturpolitischen Wettbewerb der Länder mit Alternativen und Experimenten zu ermöglichen, weithin ausgeschaltet. Lediglich die hori-
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zontale, durch den Bundesrat bewirkte Gewaltenteilung kommt zu angemessener Geltung, da die Ausführungsgesetze zu Art. 91a GG der Zustimmung des Bundesrates bedürfen (Art. 91a Abs. 2 Satz 1 GG) und der Bundesrat auf Verlangen über die Durchführung der Gemeinschaftsaufgaben zu unterrichten ist (Art. 91a Abs. 5 GG). Dadurch wird jedoch die Beeinträchtigung der übrigen Funktionen des Bundesstaatsprinzips nicht ausgeglichen. Auch wenn man die „Ewigkeitsgarantie" der bundesstaatlichen Kernelemente (Art. 79 Abs. 3 GG) noch nicht für berührt hält 44 , gelangt man zu dem Befund, daß die bundesstaatliche Ordnung durch die Institutionalisierung der Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91a GG in ein bundeslastiges Ungleichgewicht gerät.
I I I . Die fakultativen Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91b GG Art. 91b GG begnügt sich mit der Ermächtigung, daß Bund und Länder aufgrund von Vereinbarungen bei der Bildungsplanung und bei der Förderung von Einrichtungen und Vorhaben der wissenschaftlichen Forschung von überregionaler Bedeutung zusammenwirken können. Die institutionelle und prozedurale Regelung der Aufgabenwahrnehmung ist ebenso wie die Kostenverteilung (Art. 91b Satz 2 GG) den Verwaltungsvereinbarungen überlassen. Die hier behandelte Problematik der bundesstaatlichen Ordnung und der Finanzverfassung kommt weder bei der Bildungsplanung noch bei der Förderung der wissenschaftlichen Forschung in voller Schärfe zum Durchbruch. Auf dem Gebiet der Bildungsplanung wurde aufgrund einer Verwaltungsvereinbarung gemäß Art. 91b GG am 1.7.1970 die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung eingesetzt. Diese Kommission verfügt im Gegensatz zu den Planungsausschüssen auf dem Gebiet des Art. 91a GG nicht über Entscheidungskompetenzen. Sie hat den Bildungsgesamtplan erarbeitet, der im Jahre 1973 von den Regierungschefs des Bundes und der Länder beschlossen worden ist 45 . Das gleiche gilt für die mittelfristigen Stufenpläne, die Bund und Länder zur Ausführung des Bildungsgesamtplans als gemeinsame Basis für die rechtlich konstitutiven Sach- und Finanzierungsentscheidungen aufstellen. Daneben ist wesentlich, daß die finanziellen Zuwendungen des Bundes an die Länder auf dem Gebiet der Bildungsplanung sich in den sachlichen Grenzen dieser Materie halten müssen. Sie dürfen somit nur zur Durchführung von schulischen Modellversuchen und ähnlichen Planungsmaßnahmen, nicht aber zur realen Gestaltung des Bildungswesens, d.h. zur Ausführung der Bildungsplanung durch die Schaffung und Unterhaltung von Schulen und ähnlichen Einrichtungen, geleistet werden. Die Mitfinanzierung der Bildungsplanung durch den Bund ist
44 45
Vgl. die Nachw. oben in Fn. 13; kritischer Soell (Fn. 31), S. 428 ff. BT-Drucks. 7/1474; dazu Krüger/Siekmann (Fn. 33), Art. 91b Rn. 17.
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daher nicht geeignet, die Länder bei ihren bildungspolitischen Entscheidungen finanzwirtschaftlichen Zwängen zu unterwerfen 46.
IV. Die Investitionshilfekompetenz des Bundes nach Art. 104a Abs. 4 GG Während die Gemeinschaftsaufgaben nach den Art. 91a, 91b GG primär durch eine gemeinsame S ach Verantwortung von Bund und Ländern und durch eine konnexe Mitfinanzierungskompetenz des Bundes gekennzeichnet sind, regelt der gleichfalls durch die Finanzreform von 1969 eingefügte Art. 104a Abs. 4 GG eine bloße Investitionshilfekompetenz des Bundes im Bereich ausschließlicher Sachkompetenzen der Länder 47 . Hiernach kann der Bund den Ländern Finanzhilfen für besonders bedeutsame Investitionen der Länder und Gemeinden (Gemeindeverbände) gewähren, die zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts oder zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft im Bundesgebiet oder zur Förderung des wirtschaftlichen Wachstums erforderlich sind. Diese Investitionshilfekompetenz durchbricht den Grundsatz der Konnexität zwischen Aufgabenwahrnehmung und Ausgabenlast (Art. 104a Abs. 1 GG) und knüpft an die Fonds- und Dotationswirtschaft des Bundes in den 1950er und 1960er Jahren an. Zugleich begrenzt Art. 104a Abs. 4 GG jedoch die Zulässigkeit von Finanzhilfen des Bundes an die Länder. Dahinter steht das von der Finanzreform von 1969 verfolgte Ziel, den Wildwuchs ungeregelter Mischfinanzierung durch eine „Flurbereinigung" zu beseitigen48.
1. Ausgangsprobleme der Investitionshilfekompetenz des Bundes Die Einfügung der Investitionshilfekompetenz des Bundes in Art. 104a Abs. 4 GG steht im Zusammenhang mit der Beschränkung der Gemeinschaftsaufgaben auf die in den Art. 91a, 91b GG aufgeführten Gebiete49. Offenbar ging es dem Bund darum, mit der Investitionshilfekompetenz einen zusätzlichen Sacheinfluß im Kompetenzbereich der Länder und einen Ausgleich für die Zugeständnisse zu erhalten, die er den Ländern durch die Beschränkung des Katalogs echter Gemeinschaftsaufgaben gemacht hatte. Andererseits fanden die 46
Vgl. jedoch die Kritik bei Krüger/Siekmann
(Fn. 33), Art. 91b Rn. 15 ff.; Huber
(Fn. 19), D 86 f. 47 Allgemein dazu Müller-Volbehr , Die Fonds- und Investitionshilfekompetenz des Bundes, 1975; Siekmann , in: Sachs (Hrsg.), 3. Aufl. 2003, Art. 104a Rn. 35 f f ; Pro-
kisch , in: BK z. GG, Art. 104a Rn. 224 ff. 48
Vgl. oben in und bei Fn. 9. Näher dazu Marnitz , Die Gemeinschaftsaufgaben des Art. 91a GG als Versuch einer verfassungsrechtlichen Institutionalisierung der bundesstaatlichen Kooperation, 1974, S. 49 ff., 162 ff. 49
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Länder sich eher zur Einführung der eingeschränkten Investitionshilfekompetenz des Bundes als zur Ausdehnung der Gemeinschaftsaufgaben bereit, da sie eine Beteiligung des Bundes an der Sachplanung vermeiden wollten. Die unterschiedlichen Ausgangspositionen des Bundes und der Länder und der insoweit „offene" Verfassungstext ließen von vornherein die Tragweite der Investitionshilfekompetenz des Bundes zweifelhaft erscheinen. Schon über die Sachgebiete, die unter der zweckorientierten Generalklausel des Art. 104a Abs. 4 GG als Feld von Investitionshilfen des Bundes in Betracht kommen sollten, war von vornherein keine harmonisierende Verständigung zu erreichen. Die später teils durch Gesetz, teils durch Verwaltungsvereinbarungen bestimmten Anwendungsfelder der Investitionshilfen nach Art. 104a Abs. 4 GG sind vielfältig und höchst unterschiedlich. Ihre lange und im Laufe der Zeit variierende Liste 50 spiegelt den politischen und wirtschaftlichen Wandel wider. Ihre diffuse Verbreitung bestätigt die von Anfang an bestehenden Befürchtungen. Wie die Entstehungsgeschichte und die bisherige Anwendung der Investitionshilfekompetenz des Bundes nach Art. 104a Abs. 4 GG zeigen, enthält dieses verfassungsrechtliche Institut nicht weniger Sprengkraft für die bundesstaatliche Ordnung als die Gemeinschaftsaufgaben nach den Art. 91a, 91b GG. Daß die Investitionshilfekompetenz im Gegensatz zu den Gemeinschaftsaufgaben keine gemeinsame Sachverantwortung von Bund und Ländern umschließt, braucht in der Praxis keinen wesentlichen Unterschied zu bedeuten. Die Geschichte der Fonds- und Dotations Wirtschaft des Bundes wie schon des Deutschen Reiches belegt, wie wirkungsvoll Finanzhilfen des Oberstaates ohne Rücksicht auf die Sachkompetenzen als Einfallstor für eine zentralistische Gleichschaltung der Gliedstaaten benutzt werden können 51 . Auch die bisherigen Investitionshilfen des Bundes sind von einem zähen Ringen zwischen Bund und Ländern um die maßgeblichen Sachentscheidungen über die gemeinsam finanzierten Maßnahmen geprägt.
2. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Investitionshilfekompetenz Das BVerfG hat in seinen beiden Grundsatzentscheidungen zur Investitionshilfekompetenz 52 nicht einmal den Versuch unternommen, die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 104a Abs. 4 GG zu präzisieren - ein Vorgehen, das zu Recht kritisiert worden ist 53 . Indessen versucht das Gericht, die Tragweite der Investitionshilfekompetenz des Bundes dadurch zu begrenzen, daß es beim 50
Vgl. Siekmann (Fn. 47), Art. 104a Rn. 60 f.
51
Vgl. oben in und bei Fn. 11, 41, 42. BVerfGE 39, 96 ff. (StBauFG); 41, 291 (Sonderprogramm zur Strukturförderung). So Starck, JZ 1975, 363 (364); Selmer, AöR 101 (1976), 238 (245 f.).
52 53
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Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 104a Abs. 4 GG die Ingerenzrechte des Bundes im Kompetenzbereich der Länder beschneidet. Das Gericht will so nicht die Voraussetzungen, sondern die Folgen der Investitionshilfekompetenz eingrenzen. Es geht von der zutreffenden Erkenntnis aus, daß zweckgebundene Mittel, die der Bund den Ländern für die Wahrnehmung von Landesaufgaben zuweist, die Länder in Abhängigkeit vom Bund bringen und damit an die Eigenständigkeit der Länder rühren. Daraus leitet das Gericht das Postulat ab, daß Finanzhilfen aus dem Bundeshaushalt an die Länder die Ausnahme bleiben und ihre Gewährung rechtlich so geregelt werden müsse, daß sie nicht zum Mittel der Einflußnahme auf die Entscheidungsfreiheit der Gliedstaaten bei der Erfüllung der ihnen obliegenden Aufgaben würden 54. Während der Ausnahmecharakter der Finanzhilfen nach Art. 104a Abs. 4 GG in den Entscheidungsgründen nicht aktualisiert wird, konkretisiert das Gericht das Prinzip, daß sich die Zuständigkeit des Bundes in der Gewährung der Finanzhilfen erschöpft und die Sachzuständigkeit und -Verantwortung der Länder unberührt bleibt. So gelangt das Gericht zu der zentralen These, daß die Befugnis aus Art. 104a Abs. 4 Satz 1 GG kein Instrument direkter oder indirekter Investitionssteuerung zur Durchsetzung allgemeiner wirtschafts-, währungs-, raumordnungs- oder strukturpolitischer Ziele des Bundes in den Ländern sei 55 . Außerhalb der Förderungsziele des Art. 104a Abs. 4 Satz 1 GG ließen die Bundeszuschüsse eine Einflußnahme aus bundespolitischer Sicht auf die Aufgabenerfüllung durch die Länder nicht zu. Den Ländern stehen hiernach die ungeschmälerte Planungsfreiheit und die alleinige Entscheidung zu, ob in ihrem Aufgabenbereich ein Investitionsvorhaben durchgeführt und vom Bund mitfinanziert werden soll. Mitplanungs-, Mitverwaltungs- und Mitentscheidungsbefugnisse gleich welcher Art im Aufgabenbereich der Länder verstoßen demnach gegen das grundgesetzliche Verbot einer sogenannten Mischverwaltung, soweit die Verfassung dem Bund keine entsprechenden Sachkompetenzen übertragen hat. Nicht möglich sind daher Bedingungen (Einvernehmens-, Zustimmungs- und Genehmigungsvorbehalte sowie Einspruchsrechte) und Dotationsauflagen seitens des Bundes bei dem Einsatz der Finanzhilfen, sofern diese unmittelbar oder mittelbar darauf abzielen, die Planungs- und Gestaltungsfreiheit der Länder außerhalb der Grenzen des Art. 104a Abs. 4 GG und der dort zugelassenen Ausführungsregelung an bundespolitische Interessen und Absichten zu binden 56 . Die Bundesexekutive kann nach dieser Rechtsprechung des BVerfG nur dann einzelne Projekte von der Förderung ausschließen, wenn sie ihrer Art nach nicht der im Bundesgesetz oder in der VerwaltungsVereinbarung nach Art. 54 55 56
BVerfGE 39, 96(107). BVerfGE 39, 96(111). BVerfGE 39, 96 (120 f.).
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104a Abs. 4 Satz 2 GG festgelegten Zweckbindung der Finanzhilfen entsprechen oder gänzlich ungeeignet sind, zur Verwirklichung der mit den Bundeszuschüssen angestrebten Ziele des Art. 104a Abs. 4 Satz 1 GG beizutragen. Zur Sicherung der Sachkompetenzen und der Eigenständigkeit der Länder fordert das BVerfG, daß das der Zustimmung des Bundesrates bedürftige Bundesgesetz oder die Verwaltungsvereinbarung nach Art. 104a Abs. 4 Satz 2 GG alles Wesentliche enthalten müsse und insoweit die Regelungen weder Verwaltungsvorschriften noch Ermessensentscheidungen eines Bundesministeriums noch gar einer bloßen Verwaltungspraxis überlassen dürfe 57 . Die restriktive Tendenz und die grundsätzlichen Aussagen des BVerfG haben durchweg Zustimmung gefunden. Bezweifeln muß man jedoch, ob der Eingrenzungsversuch des BVerfG geeignet ist, die Eigenständigkeit der Länder in der Praxis zu sichern 58. Solche Zweifel sind durchaus begründet. Faktisch bleibt auf Seiten des Bundes die Anziehungskraft des größeren Etats erhalten. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Programme und Pläne der Länder regelmäßig einen größeren Finanzbedarf ausweisen, als Investitionshilfemittel des Bundes zur Verfügung stehen. Dadurch wird eine koordinierende, gesamtstaatlich orientierte Auswahl unter den förderungsfähigen, von den Ländern geplanten Vorhaben und Aufwendungen notwendig. Ebenso wie bei den Gemeinschaftsaufgaben treten die Länder in einen Wettlauf um die Investitionshilfen des Bundes ein. Ihre Sachplanung gerät somit auch hier in einen finanzwirtschaftlich bedingten Anpassungszwang gegenüber dem vom Bund vertretenen Koordinations- und Prioritätenkonzept. Das BVerfG konstruiert für diese Situation einen „in der Verfassungspflicht zu bundesfreundlichem Verhalten liegenden Zwang zur Verständigung" und verlangt, daß Bund und Länder über eine notwendige Kürzung der Landesprogramme mit dem Ziel verhandeln, sich zu einigen 59 . Bund und Länder müßten sich ernsthaft bemühen, die notwendigen Entscheidungen gemeinsam herbeizuführen. Diese Verständigung könne durch den Widerspruch eines oder mehrerer Länder nicht in Frage gestellt werden, wenn der Bund in der Regelung nach Art. 104a Abs. 4 Satz. 2 GG einen notfalls groben, jedoch für alle Länder in gleicher Weise geltenden allgemeinen und sachgerechten Maßstab offenlege, nach dem überhöhte Investitionsprogramme der Länder „gleichmäßig" auf den Haushaltsansatz des Bundes zurückgeführt werden könnten. Damit wird der gegenüber den Ländern ausgeübte, primär finanzwirtschaftlich bedingte Anpassungszwang rechtlich anerkannt und letztlich verstärkt. Die Postulate des Gerichts, die auf die Wahrung der Sachkompetenzen und der Eigenständigkeit der Länder zielen, können in der
57
BVerfGE 39, 96(116).
58
So Starck, JZ 1975, 363 (364); Selmer, AöR 101 (1976), 238 (246).
59
BVerfGE 39, 96(119).
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Praxis leicht unterlaufen werden 60. Das Gericht hat selbst den Weg hierzu aufgezeigt.
3. Zusammenfassende Bewertung der Investitionshilfekompetenz im Hinblick auf das Bundesstaatsprinzip Die Diskussion über die verfassungsrechtliche Tragweite der Investitionshilfekompetenz des Bundes nach Art. 104a Abs. 4 GG dreht sich im Kreise. Alle Versuche einer Eingrenzung der Investitionshilfekompetenz durch die Annahme ihrer Subsidiarität, einer Präzisierung ihrer tatbestandlichen Voraussetzungen und einer Restriktion der Ingerenzrechte des Bundes sind gescheitert. Die juristische Konsequenz verlangt, daß das gewonnene Ergebnis weder manipuliert noch verharmlost wird: Art. 104a Abs. 4 GG ist eine mißglückte Norm, die der Rechtsanwendung unlösbare Probleme bereitet. Dieser Befund deckt erhebliche Gefahren für die bundesstaatliche Ordnung auf. Weder kann der Anwendungsbereich der Investitionshilfekompetenz auf dem weiten Feld der Wirtschaftsstrukturpolitik im Wege der Auslegung überzeugend und praktikabel begrenzt werden, noch kann die typische, von Finanzhilfen des Bundes ausgehende Ingerenz im Kompetenzbereich der Länder auf dem vom BVerfG 61 beschrittenen Weg effektiv eingedämmt werden. Damit erhält der Bund auf breiter Front einen kaum kontrollierbaren Sacheinfluß auf die Wahrnehmung ausschließlicher Sachkompetenzen der Länder. Ebenso wie bei den Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91a GG geraten die Sachentscheidungen der Länder auch hier in einen finanzwirtschaftlichen Zug- und Anpassungszwang gegenüber den vom Bund vertretenen Koordinations- und Prioritätenkonzepten. Während Investitionshilfen des Bundes und der hiervon ausgehende Steuerungseffekt im Falle der konjunkturpolitisch begründeten Alternative des Art. 104a Abs. 4 GG gesamtstaatlich notwendig und an faßbare tatbestandliche Voraussetzungen gebunden sind, ist eine entsprechende Konkretisierung im Falle der Investitionshilfen des Bundes aufgrund der beiden wirtschaftsstrukturpolitisch ausgerichteten Tatbestände praktisch nicht möglich. Dadurch wird die Eigenständigkeit der Länder bei der Wahrnehmung ihrer Sachkompetenzen durch finanzwirtschaftlichen Druck korrumpiert. Eine Beschränkung auf Grundsatzentscheidungen einer notwendig gesamtstaatlichen Koordination ist weder bei Investitionshilfen „zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft im Bundesgebiet" noch bei Investitionshilfen „zur Förderung des wirtschaftlichen Wachstums" erkennbar.
60 Zutreffend in diesem Sinne Starck, JZ 1975, 363 (364); Selmer , AöR 101 (1976), 238 (246); vgl. auch Maunz , in: Maunz/Dürig, GG, Art. 104a Rn. 58; Korioth (Fn. 18), Ρ 105, 125. 61 Oben in und bei Fn. 52-59.
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Die Investitionshilfekompetenz des Art. 104a Abs. 4 GG erweist sich mithin als das zu Recht gefürchtete Einfallstor einer unnötigen und kaum kontrollierbaren Zentralisierung. Die primäre Funktion des Bundesstaatsprinzips, die Dezentralisierung, wird dadurch an ihrer finanzwirtschaftlichen Basis getroffen. Mit der Einbuße der Länder an freien und eigenständigen Sachentscheidungen wird auch die demokratische Funktion des Bundesstaatsprinzips beeinträchtigt, da hierdurch das Interesse sowie die aktive Teilnahme der Bürger und der Parteien an der Landespolitik noch stärker abnehmen muß, als dies im Zeichen der sachnotwendigen Unitarisierung ohnehin geschieht. Zudem ist die Koordination der Programme und Pläne auf allen Gebieten der praktizierten Investitionshilfen Sache der Exekutive, wodurch abermals die Rolle der Länderparlamente und die demokratische Funktion des Bundesstaatsprinzips geschwächt werden. Ferner wird die vertikale Gewaltenteilung und damit die rechtsstaatliche Funktion des Bundesstaatsprinzips durch die finanzwirtschaftlich bedingte und rechtlich nicht behebbare Ingerenz des Bundes im Kompetenzbereich der Länder gestört. Schließlich wird hierdurch die sozialstaatlich relevante Funktion des Bundesstaatsprinzips, die Ermöglichung eines strukturpolitischen Wettbewerbs der Länder mit Alternativen und Experimenten innerhalb eines vom Bund vorgegebenen Rahmens, empfindlich gelähmt. Daß Bundesgesetze nach Art. 104a Abs. 4 Satz 2 GG der Zustimmung des Bundesrates bedürfen und insoweit die horizontale Gewaltenteilung auf Bundesebene zum Tragen kommt, gleicht die negativen Auswirkungen auf die Funktionen des Bundesstaatsprinzips nicht aus. Die hervorgehobenen Funktionsstörungen werden auch nicht dadurch behoben, daß die Länder am Abschluß von Verwaltungsvereinbarungen nach Art. 104a Abs. 4 GG beteiligt sind. Die finanzwirtschaftlichen Zwänge wirken sich nämlich in erster Linie bei der Ausführung von Verwaltungsvorschriften wie auch von Bundesgesetzen nach Art. 104a Abs. 4 Satz 2 GG durch die rechtlich nicht auflösbare Verknüpfung der Sachentscheidungen der Länder mit den Investitionshilfen des Bundes aus; überdies kann eine Vorwirkung dieser finanzwirtschaftlichen Zwänge bereits den Abschluß einer Verwaltungsvereinbarung oder die Zustimmung des Bundesrates zu einem alternativ vorausgesetzten Gesetz beeinflussen, wenn das Interesse der Länder an bestimmten Investitionshilfen des Bundes besonders stark ist.
V. Fazit Die bedenklichen Tendenzen der Investitionshilfekompetenz des Bundes decken sich weithin mit den Gefährdungen, denen die Funktionen des Bundesstaatsprinzips durch die rechtliche Ausgestaltung und den Vollzug der Gemeinschaftsaufgaben insbesondere nach Art. 91 a GG ausgesetzt sind. Die Kumulierung beider Rechtsinstitute läßt befürchten, daß der Bund auf die Dauer einen erdrückenden Zangengriff auf die Kompetenzen sowie die planerischen und gestalterischen Sachentscheidungen der Länder ausübt. Zwar wird man einen
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Verstoß gegen die „Ewigkeitsgarantie" der bundesstaatlichen Kernelemente (Art. 79 Abs. 3 GG) auch im Falle der Investitionshilfekompetenz des Bundes noch verneinen müssen, solange die Sachgebiete der gewährten Investitionshilfen überschaubar sind und der Bund seinen Sacheinfluß auf die Länder nicht überspannt 62. Eine extensive Praxis der Gemeinschaftsaufgaben und der Investitionshilfen des Bundes träfe jedoch die bundesstaatlichen Kernelemente vernichtend und wäre deshalb verfassungswidrig. Umso entschiedener muß man vor der Absicht warnen, diese kumulierten und ausgeuferten Rechtsinstitute bei der gegenwärtig initiierten Föderalismusreform beizubehalten und lediglich in Einzelheiten zu modifizieren 63. Was not tut, ist und bleibt eine entschlossene Flurbereinigung der bundesstaatlichen Aufgaben- und Finanzierungsverantwortung.
62
Vgl. oben in und bei Fn. 13,44. So jedoch der Gesetzentwurf in BT-Drucks. 16/813, dazu oben in und bei Fn. 2226; zutreffend demgegenüber Korioth (Fn. 18). 63
Die Verantwortung der Verfassungsorgane bei der auf Auflösung des Bundestages gerichteten Vertrauensfrage Zum Urteil des BVerfG vom 25.08.2005 Von Meinhard Schröder
I. Der Sachverhalt 1. Die Ankündigung der Vertrauensfrage Unmittelbar nach dem sich abzeichnenden Verlust der rot-grünen Mehrheit in NRW teilte der SPD-Vorsitzende Müntefering am 22.05.2005 über Fernsehen mit: „Der Bundeskanzler und ich haben uns vorgenommen, morgen früh im Präsidium und am Dienstag im Partei vorstand vorzuschlagen, dass wir in diesem Herbst Bundestagswahlen anstreben. Wir wollen das strukturelle Patt zwischen Bundesregierung und Bundesrat vom Wähler entscheiden lassen. Wir suchen die Entscheidung. Es ist Zeit, dass in Deutschland die Verhältnisse geklärt werden. Die Menschen sollen sagen, von wem sie regiert werden wollen" 1 . Die allenthalben überraschende, offenbar ohne verfassungsrechtliche Prüfung vorgenommene Ankündigung des Neuwahlziels - auch der Bundespräsident erfuhr zunächst davon im Fernsehen2 - erschien als Coup des Bundeskanzlers3 und „Neuwahlsolo" 4 , der erforderliche Weg über die Vertrauensfrage nach Art. 68 GG von Anfang an „inszeniert" 5 . Als Indizien für die Insze-
1 Zitiert bei Hefty , Wieder aktuell. 1982 hat die Vereinigung für Parlamentsfragen die Bundestagsauflösung gründlich erörtert, F.A.Z. Nr. 131 vom 09.06.2005, S. 12. 2 S. Schröders Legenden, in: Der Spiegel Nr. 23 vom 06.06.2005, S. 25 f.; Lohse/Schmiese, Wie wird Schröder den Kanzler los?, F.A.S. vom 12.06.2005, S. 3. 3 Schenke/Baumeister, Vorgezogene Bundestagswahlen. Überraschungscoup ohne Verfassungsbruch?, NJW 2005, 1884 ff.; Bahners, Kanzler seines Vertrauens. Schröders Coups. Legalität und Legitimität nach dem GG, F.A.Z. Nr. 118 vom 24.05.2005, S. 43; Wie wird Schröder den Kanzler los (Fn. 2). 4 Schröders Legenden (Fn. 2), S. 26. 5 Vgl. Hillgruber, Interview mit dem Trierischen Volksfreund vom 02./ 03.07.2005, S. 3; Epping, Schenke, zitiert nach Trierischem Volksfreund vom 23./24.07.2005, S. 3 (von „solide" bis „inszeniert"); Löwer, Das inszenierte Misstrauen, DVB1. 2005, 1102 (1110). Kritisch zum Inszenierungsargument Ipsen, Die Auflösung des 15. Deutschen Bundestages - eine Nachlese, NVwZ 2005, 1147 (1150).
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nierung galten das anfänglich in den Raum gestellte Plebiszit zur Klärung der Machtverhältnisse zwischen Bundestag und Bundesrat 6, außerdem dass die Bundesregierung Abstimmungen von wesentlicher Bedeutung nicht verloren und deshalb nicht mit unsicheren Mehrheitsverhältnissen zu rechnen gehabt habe7. Merkwürdig mutete auch die in der Kabinettsrunde diskutierte Empfehlung an, sich bei der Abstimmung über die Vertrauensfrage der Stimme zu enthalten. Sie wurde auch gegenüber der SPD-Fraktion ausgesprochen. Dahinter stand die Ansicht, man könne das Vertrauen auch dadurch aussprechen, dass man sich der Stimme enthalte8.
2. Begründung und Abstimmung des Antrags nach Art. 68 GG im Bundestag Zur Begründung des Antrages, ihm das Vertrauen auszusprechen9, führte der Bundeskanzler am 01.07.2005 im Bundestag aus: Der Antrag habe das einzige, ganz unmissverständliche Ziel der Auflösung des Bundestages. Zwingende verfassungsrechtliche Bedenken stünden ihm nach der vom BVerfG bestätigten Staatspraxis nicht entgegen. Nach der verlorenen Wahl in NRW sei eindeutig sichtbar geworden, dass er, der Bundeskanzler, ohne eine neue Legitimation durch den Souverän, das deutsche Volk, seine Politik nicht erfolgreich fortsetzen könne. Das Reformprogramm der Agenda 2010 habe zu Streit zwischen und in den Parteien, in den regierenden Parteien und Fraktionen zu Spannungen um die richtige Richtung geführt. Gegen die Außen- und Sicherheitspolitik seien vermehrt abweichende, jedenfalls die ohnehin knappe Mehrheit gefährdende Stimmen laut geworden. Eine Bewertung der politischen Kräfteverhältnisse vor und nach der Entscheidung vom 22.05.2005, Neuwahlen anzustreben, müsse dazu führen, dass unter den aktuellen Bedingungen nicht mit dem notwendigen stetigen und verlässlichen Vertrauen gerechnet werden könne. Dabei müsse auch die Zusammenarbeit mit dem Bundesrat berücksichtigt werden. Eine klare und neuerlich legitimierte Regierungspolitik werde bei der Mehrheit
ь Ritter, Kanzlerlist, F.A.Z. Nr. 183 vom 09.08.2005, S. 29; Schenke/Baumeister (Fn. 3),S. 1846. 7 Grimm, Der Präsident darf nicht mitspielen, F.A.Z. Nr. 130 vom 08.06.2005, S. 39;
Schenke/Baumeister 8
(Fn. 3), S. 1845.
Vgl. Hofmann, Der Himmel über Berlin, Die Zeit Nr. 27 vom 30.06.2005, S. 3; „Bundestags-DrS 15/5825", F.A.Z. Nr. 147 vom 28.06.2005, S. 4; Abweichler in der SPD-Fraktion wollen Schröder das Vertrauen aussprechen, F.A.Z. Nr. 148 vom 29.06.2005, S. 1; Schröder will sich der Stimme enthalten „Nicht mehr handlungsfähig", F.A.Z. Nr. 149 vom 30.06.2005, S. 1. 9 Bundestags-DrS 15/5825.
Die Verantwortung der Verfassungsorgane
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des Bundesrates zu einem Umdenken der Haltung und, wenn auch nicht kurzfristig, zu einem Überdenken der Mehrheit führen 10. In der Aussprache unterstrich der SPD-Fraktionsvorsitzende, dass man sich in dem Bewusstsein einig sei, dass Gerhard Schröder als Bundeskanzler das Vertrauen der Fraktion habe und dass man ihn weiter als Bundeskanzler haben wolle. Ein Misstrauensantrag der Opposition werde ergeben, dass diese in der Minderheit sei 11 . Bei der Abstimmung über den Antrag votierten von den 595 anwesenden Abgeordneten aus den Reihen von SPD und Grünen 151 mit Ja und 148 mit Enthaltung. Die CDU/CSU- und FDP-Abgeordneten stimmten mit Nein 12 . 3. Die Entscheidung des Bundespräsidenten zur Auflösung des Bundestages In seiner Entscheidung vom 21.07.2005, den Bundestag aufzulösen und Neuwahlen für den 18.09.2005 anzuordnen, übernahm Bundespräsident Köhler Argumente aus derjenigen seines Amtsvorgängers Carstens von 198313 und orientierte sich in rechtlicher Hinsicht an den Vorgaben des BVerfG zur Vertrauensfrage von 198314. Im Wesentlichen führte er aus: In dieser ernsten Situation braucht es eine Regierung, die ihre Ziele mit Stetigkeit und Nachdruck verfolgen kann. Der Bundeskanzler habe deutlich gemacht, dass er mit Blick auf die knappen Mehrheitsverhältnisse keine stetige und verlässliche Basis für seine Politik mehr sehe. Loyalitätsbekundungen aus den eigenen Reihen halte er nicht für tragfähig. Er, der Bundespräsident, wisse um das Unbehagen an dem eingeschlagenen Verfahren zu Neuwahlen. Aber das Grundgesetz ermögliche es, wenn die Vorgaben der Entscheidung des BVerfG von 1983 beachtet würden. Dementsprechend habe er die Beurteilung der politischen Kräfteverhältnisse, die der Bundeskanzler vorgenommen habe, sorgfältig geprüft. Dessen Einschätzung müsse beachtet werden, es sei denn, eine andere Einschätzung sei eindeutig vorzuziehen. Eine Lagebeurteilung, die der Entscheidung des Bundeskanzlers eindeutig vorzuziehen sei, gebe es nicht. In einer Gesamtabwägung komme er zum Ergebnis, dass dem Wohl des Volkes mit Neuwahlen am besten gedient sei 15 .
10
BT Plen Prot. 15/185, S. 17467. BT Plen Prot. 15/185, S. 17474 f. 12 BT Plen Prot. 15/185, S. 17483 ff. 13 Abdruck der Entscheidung von Carstens in: Heyde/Wöhrmann (Hrsg.), Auflösung und Neuwahl des Bundestages 1983 vor dem BVerfG (1984), S. 132 f. 14 BVerfGE 62, 1 (insbes. 49 ff.). 15 Abdruck in F.A.Z. Nr. 169 vom 23.07.2005, S. 2; inhaltliche kritische Würdigung bei Löwer (Fn. 5), S. 1109 f. und Starck, Urteilsanm. JZ 2005, 1053 (1056). 11
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Die Orientierung der Auflösungsentscheidung an den vom BVerfG 1983 aufgestellten Vorgaben vermochte Kundige nicht zu überraschen. Zwar ist die in § 31 Abs. 1 BVerfGG festgelegte Bindung an verfassungsgerichtliche Entscheidungen in ihrem Umfang in der Literatur streitig 16 . Als Verfassungsorgan konnte der Bundespräsident nicht anders, als die vom BVerfG in Anspruch genommene Bindung an die tragenden Gründe des Urteils zu beachten17. Ohne sichtbare Resonanz blieb auch die Mahnung, das Amt des Bundespräsidenten sei das letzte „Reduit" gegen den übermächtigen, sich demokratisch spreizenden Parteienstaat. Der Bundespräsident müsse an die Folgen denken, die eine Auflösung des Bundestages nach einem getürkten Vertrauens Verlust für die weitere Entwicklung des GG haben werde 18 .
I I . Die verfassungsgerichtliche Bestätigung der Bundestagsauflösung Organklagen zweier Abgeordneter gegenüber dem Bundespräsidenten blieben erfolglos - entgegen mancher Erwartung, die eine verfassungsgerichtliche Bestätigung der Bundestagsauflösung für zweifelhaft 19 oder offen 20 und die Maßstabswirkungen der verfassungsgerichtlichen Entscheidung von 1983 für korrekturbedürftig 21 gehalten hatten. Das BVerfG hält daran fest, dass die auflösungsgerichtete Vertrauensfrage nach Art. 68 GG an die Instabilität zwischen Bundesregierung und Bundestag geknüpft und deshalb nur gerechtfertigt ist, wenn der Bundeskanzler der stetigen mehrheitlichen Unterstützung im Bundestag nicht mehr sicher sein kann 22 .
16 Dazu Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl. 2002, Rdn. 1323 ff.; Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 31, Rdn. 96 ff.; Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 94, Rdn. 32; Maurer, Staatsrecht, 4. Aufl. 2005, § 20, Rdn. 32. 17 So explizit: Wieland als Prozessvertreter des Bundespräsidenten in der mündlichen Verhandlung, zit. nach Müller, Das Urteil von 1983 ist kein Maßstab „eins zu eins", F.A.Z. Nr. 184 vom 10.08.2005, S. 2; verkannt von Bahners, Der Hüter der Verfassung. Horst Köhler kann auch anders: Das Karlsruher Urteil von 1983 verkennt das Amt des Bundespräsidenten, F.A.Z. Nr. 149 vom 30.06.2005, S. 37 (39). 18 Hennis, Seien Sie politisch! Was wir vom Bundespräsidenten erwarten, F.A.Z. Nr. 146 vom 27.06.2005, S. 37. 19 In diese Richtung die ehemaligen Verfassungsrichter Graßhoff und Kruis nach dem Bericht der F.A.S. vom 03.07.2005, S. 1 („Alle erwarten Köhlers Ja-Wort"). 20 So Gröschner/Lembcke, Zwei Hüter einer Verfassung, F.A.Z. Nr. 196 vom 24.08.2005, S. 8. 21 So Hennis, Der Staat der Parteien. Ein Karlsruher Holzweg, F.A.Z. Nr. 190 vom 17.08.2005, S. 31. 22 NJW 2005, 2669 (2671) im Anschluss an BVerfGE 62, 1 (42 f.); ablehnend zuletzt: Sondervotum Lübbe-Wolff, NJW 2005, 2669 (2680 f.); G. Roellecke, Wer die Zahl
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Es präzisiert dabei, dass der Kanzler die Vertrauensfrage schon dann stellen darf, wenn ihm Niederlagen erst bei künftigen Abstimmungen im Parlament drohen: Die Handlungsfähigkeit gehe auch dann verloren, wenn der Kanzler zur Vermeidung offener Zustimmungsverluste im Bundestag gezwungen sei, von wesentlichen Inhalten seines politischen Konzepts abzurücken und eine andere Politik zu verfolgen 23. Der Kanzler verfehle auch nicht den Zweck des Art. 68 GG, wenn er im Hinblick auf seine künftige politische Rolle in Fraktion und Partei einen Zeitpunkt für die Vertrauensfrage wähle, der ein Zerwürfnis noch nicht als irreparabel erscheinen lasse24. Hieran gemessen war die am 01.07.2005 gestellte Vertrauensfrage nach mehrheitlicher Auffassung des BVerfG nicht „inszeniert", die Einschätzung des Bundeskanzlers, er könne sich zur Verfolgung seiner Politik nicht mehr auf eine hinreichend stabile Mehrheit im Parlament verlassen, plausibel. Durch entgegenstehende Tatsachen ist sie zu keiner Zeit widerlegt worden. Anhaltspunkte, dass der Bundespräsident mit seiner Auflösungsentscheidung die Grenzen des ihm eingeräumten Ermessens überschritten haben könnte, fand das Gericht gleichfalls nicht 25 . Drei Gesichtspunkten sollte im Anschluss an das Urteil besondere Aufmerksamkeit gelten: der Verteilung der Verantwortung zwischen den Verfassungsorganen Bundeskanzler, Bundestag, Bundespräsident und dem sich daraus ergebenden Rahmen für die verfassungsrechtliche und -gerichtliche Kontrolle bei der auflösungsgerichteten Vertrauensfrage (unten III.); etwaigen Veränderungen im parlamentarischen System als Folge des vom BVerfG zu Grunde gelegten ,,anspruchsvolle[n] Mechanismus der Gewaltenteilung" 26 (unten IV.) und schließlich der Art und Weise des Umgangs mit der Verfassung (unten V.).
I I I . Verantwortung und Kontrolle bei der auflösungsgerichteten Vertrauensfrage 1. Die Verteilung der Verantwortung auf Bundeskanzler, Bundestag und Bundespräsident Die Aussage im Urteil vom 25.08.2005, das GG habe in Artikel 68 die Entscheidung über die Auflösung des Bundestages auf drei Verfassungsorgane
hat. Karlsruhe verkennt: Die Machtfrage ist kein Rechtsproblem, F.A.Z. Nr. 199 vom 27.08.2005, S. 39. 23 NJW 2005, 2269 (2271 f.). Weniger deutlich noch BVerfGE 62, 1 (52) im Gegen-
satz zum Sondervotum Rottmann, ebenda S. 110. 24 25 26
NJW 2005, 2669 (2672). Im Einzelnen: NJW 2005, 2669 (2674 ff.). NJW 2005, 2669 (2673).
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verteilt und diesen dabei jeweils eigene Verantwortungsbereiche zugewiesen27, ist nicht neu. Sie findet sich schon im ersten Auflösungsurteil 28 . Jetzt wird sie präzisiert, vertieft und als „anspruchsvolle[r] Mechanismus der Gewaltenteilung" präsentiert. a) Dem Bundeskanzler wird anders als 198329 keine Pflicht zur Prüfung der Voraussetzungen des Art. 68 GG auferlegt. Seine Entscheidung, die auf Auflösung gerichtete Vertrauensfrage zu stellen, erscheint so als eine wesentlich politische. Dem entspricht, dass sie lediglich auf plausible Umstände und Tatsachen gerichtet sein muss und, weil auf höchstpersönlichen Wahrnehmungen und Lagebeurteilungen beruhend, nur dann zu beanstanden ist, wenn eine andere Einschätzung der politischen Lage eindeutig vorzuziehen ist 30 .
b) Der Bundestag kann gewiss nicht rechtlich gezwungen werden, an seiner eigenen Auflösung mitzuwirken. Anweisungen etwa an die Minister, die zugleich Abgeordnete sind, das Vertrauen zu entziehen, wären verfassungswidrig, wie das Urteil, vielleicht im Blick auf manche Vorgänge nach Ankündigung der Vertrauensfrage (oben I. 1.), ausdrücklich festhält. Insofern ist der Bundestag auch kein „willenloses Anhängsel, Instrument und Opfer des Bundeskanzlers" und „unfähig die Verfassung einzuhalten", wie Lübbe-Wolff in ihrem Sondervotum meint 31 . Gleichwohl darf die parlamentarische Hürde der Auflösung in ihrer Wirksamkeit nicht überbewertet werden: Besteht der mehrheitliche Wunsch nach Neuwahlen, wie dies in der bisherigen Praxis der auflösungsgerichteten Vertrauensfrage der Fall war, wird sich der Bundestag der Entscheidung des Bundeskanzlers kaum entgegenstellen, selbst wenn im Vorfeld, wie auch diesmal, verfassungsrechtliche Bedenken geäußert worden sind 32 .
c) Den Bundespräsidenten qualifiziert das BVerfG als eigens vorgesehenes und unabhängiges Verfassungsorgan, das zur Rechtsprüfung befugt und sodann zu einer politischen Leitentscheidung über die Auflösung des Bundestages
27
NJW 2005, 2669 (2673). BVerfGE 62, 1 (49,51). 29 BVerfGE 62, 1 (50). 30 NJW 2005, 2669 (2674). 31 NJW 2005, 2669 (2679). 32 Vgl. dazu auch die Bemerkungen von Pestalozza , Art. 68 GG light oder Die Wildhüter der Verfassung, NJW 2005, 2817 (2818 f.); Epping in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 68, Rdn. 25a. 28
Die Verantwortung der Verfassungsorgane
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berufen ist 33 . Dem ist im Ansatz ebenso zuzustimmen wie der weiteren Aussage, dass der Bundespräsident über eigene Möglichkeiten verfüge, um sich ein Bild davon zu machen, ob die Handlungsfähigkeit der Regierung bereits gefährdet oder verloren gegangen ist 34 . Anzumerken ist aber, dass das Gericht den Prüfungsumfang und die Prüfungspflicht von der übrigen eingehenden Beschreibung des ,,anspruchsvolle[n] Mechanismus der Gewaltenteilung" ausspart. Mit der Feststellung, dass das Wort des Bundespräsidenten, auch wenn er sich nur auf eine Evidenzkontrolle im Hinblick auf einen möglichen Missbrauch durch Bundeskanzler oder Bundestag beschränke, als pouvoir neutre Gewicht für den Umfang der gerichtlichen Kontrolle habe35, ist weder der Prüfungsumfang geklärt, noch eine Prüfungspflicht begründet. Von letzterer geht das Gericht zwar an anderer Stelle aus, lässt aber dabei offen, ob der Bundespräsident mehr als eine Evidenzkontrolle vornehmen muss36. Was diese anlangt, so ist sie schon in der Entscheidung von 1983 angelegt und folgt aus der Prämisse, die Einschätzung der politischen Lage durch den Bundeskanzler müsse „eindeutig" widerlegbar sein 37 . Eine substantielle Prüfung der Einhaltung der Voraussetzungen des Art. 68 GG durch Bundeskanzler und Bundestag ermöglicht sie nicht 38 , wie sich jetzt wieder an der Auflösungsentscheidung des Bundespräsidenten vom 21.07.2005 gezeigt hat: Sie übernimmt die (politische) Entscheidung des Bundeskanzlers (oben I., 3.). Die an die Einschätzung des Bundeskanzlers und Bundestages nicht gebundene Beurteilung, ob dem Auflösungsbegehren des Bundeskanzlers zu folgen ist, gleicht das Kontrolldefizit schon wegen des dem Bundespräsidenten zugestandenen und nicht weiter eingegrenzten Ermessens39 nicht aus.
2. Gegenseitige politische Kontrolle und politischer Ausgleich als Angelpunkt der Verteilung a) Schon 1983 hatte das BVerfG das in Art. 68 GG angelegte System als ein solches beschrieben, in dem das GG in erster Linie auf gegenseitige politische Kontrolle und politischen Ausgleich vertraue 40. Jetzt wird diese Einschätzung
33 34 35 36 37
38
NJW 2005, 2669 (2673). NJW 2005, 2669 (2673). NJW 2005, 2669 (2673). NJW 2005, 2669 (2670). BVerfGE 62, 1 (51).
Kritisiert deshalb von Epping (Fn. 32), Rdn. 34 und im Sondervotum Lübbe-Wolff
(Fn. 22), S. 2680. 39 BVerfGE 62, 1 (51), jetzt wieder NJW 2005, 2669 (2276). Eingrenzung des Rechtsfolgeermessens auf das Stabilitätsziel bei Nettesheim, Die Aufgaben des Bundespräsidenten, in: HStR III, 3 2005, § 62, Rdn. 14. 40 BVerfGE 62, 1 (51).
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zum eigentlichen Angelpunkt der Gewaltenteilung, weil eingebettet in eine grundsätzliche Aussage über die Kontrolle politischer Herrschaft, die nicht zur Verrechtlichung des politischen Prozesses werden dürfe: Dem GG gehe es um eine angemessene Teilung der Verantwortung. Jedes Verfassungsorgan übernehme eine eigene Aufgabe, die Verfassung mit Leben zu erfüllen und fortzuentwickeln. Das BVerfG müsse den anderen Verfassungsorganen den vom GG garantierten freien Raum politischer Gestaltung und Verantwortung offen halten. Der dreistufige Entscheidungsprozess des Art. 68 GG reduziere seine Überprüfungsmöglichkeiten. Nur wo verfassungsrechtliche Maßstäbe für politisches Handeln bestünden, könne das BVerfG ihrer Verletzung entgegentreten41. Aus dem betonten Vorrang des politischen Prozesses und dem Fehlen rechtlicher Maßstäbe erklärt sich die weitgehend politisch determinierte Entscheidung des Bundeskanzlers (oben 1. a)), die Aussage, dass von außen nur teilweise beurteilt werden könne, ob der Bundeskanzler noch über eine politische Unterstützung verfüge 42, sowie die undiskutierte Hinnahme der Evidenzprüfung des Bundespräsidenten (oben 1. c)). Nicht zuletzt hat die weitgehende Konzentration der verfassungsgerichtlichen Kontrolle auf die politische Konstellation zwischen Bundeskanzler und Bundestag, obschon die Auflösungsentscheidung des Bundespräsidenten den Verfahrensgegenstand bildet, hier ihren eigentlichen Grund. In der Sicht des BVerfG liegt das „Anspruchsvolle des Gewaltenteilungsmechanismus" in Art. 68 GG, nicht im Rechtlichen, denn rechtlich und verfassungsgerichtlich belangvoll bleibt allein der Missbrauch in Extremfällen 43. Es liegt in der zentralen und vorrangigen Rolle, die der politischen Verantwortung der drei Verfassungsorgane für den korrekten Umgang mit der Verfassung zugemessen wird.
b) Kritische Stimmen haben der Senatsmehrheit eine Lockerung oder gar Preisgabe der Maßstäbe der Entscheidung von 1983 vorgehalten 44. Es werde überhaupt nicht mehr geprüft. Das Kriterium der Instabilität (oben II.) führe nur noch eine Scheinexistenz45. Indessen beschränken sich die Aussagen von 1983 zur Kontrolle im Rahmen von Art. 68 GG im Wesentlichen auf die Unentbehrlichkeit einschlägiger verfassungsrechtlicher Maßstäbe, die Eindeutigkeitsfor-
41 42 43
44
NJW 2005, 2669 (2673). NJW 2005,2669 (2671). Vgl. dazu auch Ipsen, Zur Regierung verurteilt?, NJW 2005, 2201 (2203 f.).
Im ersteren Sinne Sondervotum Liibbe-Woljf
(Fn. 22), S. 2680 und Pestalozza (Fn.
32), S. 2819 f.; im zweiten Sinne Sondervotum Jentsch (Fn. 22), S. 2677. 45
Sondervotum Lübbe-Wolff
(wie vor), Starck (Fn. 15), S. 1054; Epping (Fn. 32),
Rdn. 25a und Prantl, Ein Gericht steht Spalier, SZ Nr. 196 vom 26.08.2005, S. 4; Müller, Attrappe, F.A.Z. Nr. 198 vom 26.08.2005, S. 1.
Die Verantwortung der Verfassungsorgane
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mel und das weite präsidiale Auflösungsermessen 46. Wie locker der sich daraus ergebende Kontrollumfang sein kann, ist erst jetzt sichtbar geworden, vor allem aber, dass das BVerfG der politischen Gestaltung und Verantwortung den Vorrang vor einer Verrechtlichung des Staatsorganisationsrechts, soweit dieses den politischen Prozess betrifft, geben wilt 1. Darüber muss prinzipiell diskutiert werden. Darauf zielt die gewiss übertriebene Befürchtung, dass sich der allmähliche Abschied vom Verfassungsstreit als Rechtsstreit ankündigen könnte, aber auch die spezielle Einschätzung der künftigen Bedeutung des Art. 68 GG: In der vom BVerfG für richtig befundenen Leichtversion sei eine Umgehung kaum noch möglich und nötig 48 .
IV. Folgewirkungen für das parlamentarische System 1. Folgenreflexion als Element der Auslegung des Art. 68 GG Zu den Maximen der Verfassungsauslegung gehört die Rücksichtnahme auf ihre Folgen. Das gilt besonders, wenn sie Auswirkungen auf Verfassungsvoraussetzungen, auf die Funktionsfähigkeit der Verfassungsinstitutionen oder das in der Verfassung angelegte politische System haben kann 49 . Zu den Grundgesetznormen, die in diesem Sinne eine Folgenreflexion fordern, rechnet Art. 68 GG. Je nachdem, wie die Voraussetzungen der auflösungsgerichteten Vertrauensfrage bestimmt werden, kann das Verfassungsziel der Regierungsstabilität gefährdet und grundgesetzfremdes Nachsuchen nach plebiszitärer Legitimation zu Lasten des Bundestages eröffnet sein 50 . Nicht zufällig sind deshalb „verfassungsstrukturelle Folgewirkungen" bei der Beurteilung der auflösungsgerichteten Vertrauensfrage von 198351 und erneut 2005 thematisiert worden 52 . Im Mittelpunkt steht aktuell das parlamentarische System des GG.
46
BVerfGE 62, 1 (51). Betont in diesem Sinne auch Schoch, Verfassungsrecht im politikfreien Raum, F.A.Z. Nr. 182 vom 08.08.2005, S. 8 und nach dem Urteil Ipsen (Fn. 5), S. 1149, 1150; Kritik wegen der Konsequenzen für die verfassungsgerichtliche Kontrolle bei Mahrenholz, Die Vertrauensfrage des Kanzlers nach Art. 68 GG kann entfallen, ZRP 2005 (245 f.). 47
48
49
Pestalozza (Fn. 32), S. 20; Prantl (Fn. 45).
Grundlegend Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht", HStR Bd. V I I (1992), § 162 Rdn. 80 ff. 50 Dazu Schröder, Bildung, Bestand und parlamentarische Verantwortung der Bundesregierung, in: HStR Bd. III, 32005, § 65, Rdn. 35, 41. 51 Vgl. Schenke, Antragsschrift vom 18.01.1983, in: Heyde/Wöhrmann (Fn. 13), S. 67 ff. 52 Urteil vom 25.08.2005, Α II. 1 und Müller, „Das Unglück hat 1983 begonnen". Das Bundesverfassungsgericht vor der Entscheidung über die Vertrauensfrage und Neuwahl des Bundestages, F.A.Z. Nr. 182 vom 08.08.2005, S. 3.
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2. Einschätzungen und Erwartungen a) Das BVerfG betrachtet Art. 68 GG als Ausdruck der herausgehobenen Stellung des Bundeskanzlers im parlamentarischen System des GG, weil nur der Bundeskanzler die Vertrauensfrage stellen könne 53 . Diese Einschätzung ist problematisch. Herausgehoben ist der Bundeskanzler zunächst nur innerhalb der Bundesregierung 54. Ob Gleiches generell im parlamentarischen System, insbesondere im Verhältnis zum Bundestag gilt, ist durchaus zweifelhaft und kann allein durch eine Aussage zu Art. 68 GG nicht gestützt werden.
b) Aus anderen Gründen anfechtbar sind Befürchtungen einer Schwächung des Bundestages. Sie knüpfen an die Rolle des Bundeskanzlers an. So soll, weil dieser die Auflösung des Bundestages nach seinem kaum überprüfbaren „Ermessen" betreiben könne, das Regierungssystem auf der Skala, auf deren einer Seite die Parlamentsdemokratie, auf der anderen die Kanzlerdemokratie stehe, ein großes Stück hin zu Letzterer gerückt sein 55 . Nicht nur, dass die hier verwendete Kategorie der Kanzlerdemokratie verfassungsrechtlich nicht taugt 56 . Auch in der Sache überzeugt der Standpunkt nicht. Es hängt von den politischen Konstellationen ab, ob der Bundeskanzler Bundestag und Bundespräsident davon überzeugen kann, dass der Realisierung der Regierungspolitik eine Situation der Instabilität entgegensteht, die nur durch Neuwahlen beseitigt werden kann. Die wie immer interpretierte Kompetenzverteilung in Art. 68 GG erlaubt daher keine generalisierenden Aussagen über Gewaltverschiebungen im parlamentarischen System 57 . Ebenso wenig können angeblich schwerwiegende Auswirkungen der Kanzlerzuständigkeit auf die innerparteiliche Demokratie, auf die parlamentarische Diskussion oder das freie Mandat 58 allgemein mit Art. 68 GG in Verbindung gebracht werden. 53 NJW 2005; zustimmend: Mahrenholz (Fn. 47), S. 245; ähnlich zuvor Epping (Fn. 32), Rdn. 4. 54 Dazu Schröder, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 5. Aufl., Art. 63, Rdn. 13; DetterbeckInnere Ordnung der Bundesregierung, in HStR Bd. III, 32005, § 66, Rdn. 5 und Huber, Regierung und Opposition, ebenda § 47, Rdn. 10 (Das Parlament als Mitte der grundsätzlichen Demokratie). 55 So Prantl (Fn. 45); B. Kohler, Schrödersieg, F.A.Z. Nr. 198 vom 26.08.2005, S. 1; siehe auch Epping (Fn. 53).
56 57
Dazu Schröder (Fn. 54).
Übereinstimmend: Klein, Die Auflösung des Deutschen Bundestages nach Art. 68 GG. Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 16.02.1983, ZParl 14 (1983), 402 (419); insofern zutreffend auch der Hinweis des BVerfG, der Bundestag könne die Auflösung verhindern: NJW 2005, 2669 (2673); verkannt und überzogen in der Kritik von Müller (Fn. 45): lehrbuchhaft weltfremd. - Auf die Freiheit des Abgeordneten abstellend: Mager, in: von Münch/Kunig, GG, 5. Aufl., Bd. II (2001), Art. 68, Rdn. 15; siehe aber auch die kritischen Bemerkungen zur Rolle des Bundestages bei Ipsen (Fn. 5). 58 So der Vortrag der Antragsteller im Verfahren Urteil Α II 1.
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c) Plebiszitäre Schwächungen des repräsentativ angelegten parlamentarischen Systems sind ernst zu nehmen, worauf auch der Jubilar hingewiesen hat 59 . Im Kontext des Art. 68 GG werden sie seit dem ersten Auflösungsurteil diskutiert 60 . Das Sondervotum Jentsch thematisiert sie wiederum 61 . In ihm verbinden sich einzelfallbezogene Gesichtspunkte mit prinzipiellen Befürchtungen. Zutreffend ist der Ausgangspunkt, dass die Instrumentalisierung der Vertrauensfrage ausschließlich zur Legitimationsverstärkung durch das Volk auf einen grundgesetzwidrigen, das parlamentarische System beschädigenden Einsatz hinausläuft. Die Senatsmehrheit verwirft eine derartige Instrumentalisierung denn auch ausdrücklich 62. Möglich bleibt ein Dissens darüber, ob die Vertrauensfrage statt zur Klärung einer instabilen Lage nicht in Wahrheit mit „plebiszitärer" Zielsetzung gestellt wurde. Davon geht das Sondervotum Jentsch in Anknüpfung an Umstände und Erklärungen bei Ankündigung und Begründung der Vertrauensfrage vom 01.07.2005 (oben Ι., 1./2.) aus. Unterschiedliche Einschätzungen darüber, ob im Einzelfall die Voraussetzungen des Art. 68 GG vorlagen, bewirken jedoch noch keine generalisierbare Veränderung des parlamentarischen Systems. Dass andererseits künftig eine Vielzahl von „plebiszitär" motivierten Bundestagsauflösungen zu befürchten ist, erscheint unrealistisch. Erneut ist auf die unterschiedlichen politischen Konstellationen hinzuweisen, in denen ein Bundeskanzler die auflösungsgerichtete Vertrauensfrage stellt und in denen er die anderen Verfassungsorgane von der Instabilität seiner Regierung überzeugen muss. Der Vorrang der politischen Gestaltung und Verantwortung mit der daraus folgenden beschränkten (gerichtlichen) Kontrolle, von dem die Senatsmehrheit ausgeht, kann für plebiszitäre Verformungen des parlamentarischen Systems nicht verantwortlich gemacht werden. Insofern trifft auch der Vorwurf im Sondervotum Lübbe-Wolff nicht zu, die Senatsmehrheit habe einer „für Inszenierung und Inszenierungsverdacht anfälligen Auslegung des Art. 68 GG" Vorschub geleistet63.
V. Abschließende Bemerkungen zum Umgang mit der Verfassung Die Umstände der Vertrauensfrage vom 01.07.2005 sind ein eindrücklicher Beleg dafür, dass die „taktische Operationalisierung institutioneller Sicherungen" „im Wesen des politischen Prozesses" liegt 64 . Das BVerfG kann dem, ohne 59 Krause, Möglichkeiten unmittelbarer Demokratie, in: HStR Bd. III, 3 2005, § 35, Rdn. 49.
60 61
Nachweise bei Mager (Fn. 57), Rdn. 35.
NJW 2005, 2669 (2678). 62 NJW 2005, 2669 (2672) im Anschluss an BVerfGE 62, 1 (46). 63 NJW 2005, 2669 (2682), s. auch Epping (Fn. 32), Rdn. 25a. 64 Isensee, „Ein schmieriger Umweg", im Interview mit der F.A.Z. Nr. 118, vom 24.05.2005, S. 5.
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den politischen Prozess unangemessen einzuschnüren, von Verfassungs wegen nur bedingt entgegentreten. Die den Vorrang politischer Gestaltung und Verantwortung respektierende Auslegung des Art. 68 GG bringt dies zum Ausdruck. Die damit angesprochene Verantwortung der beteiligten Verfassungsorgane verlangt nach einem „behutsamen, struktur gerechten Umgang mit der Verfassung " 65 auch und gerade dann, wenn von Karlsruhe keine oder nur eine begrenzte Kontrolle zu erwarten ist. Die verfassungspädagogische Seite hat Bundespräsident Köhler in einem Spiegelgespräch treffend beschrieben: „Die Menschen müssen darauf vertrauen können, dass mit der Verfassung sachgemäß umgegangen wird. Alle Verfassungsorgane müssen an ihr Tun auch den Maßstab der Nachvollziehbarkeit gegenüber dem Bürger anlegen"66.
65 Formulierung von Isensee, Diskussionsbeitrag zur Bundestagsauflösung über die Vertrauensfrage, ZParl 14 (1983), S. 139. 66 „Ich plädiere für Ehrlichkeit", Spiegel Nr. 24 vom 13.06.2005, S. 33 (34).
Der Hochschullehrer als Richter Anmerkungen zu einer parallelen Tätigkeit in Exekutive und Judikative1 Von Michael Reinhardt
I. Einführung Lange Jahre hat der Jubilar neben seiner Tätigkeit als Ordinarius für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Trier auch als Mitglied hoher Gerichte des Landes Rheinland-Pfalz gewirkt. Er folgte damit einer in der Bundesrepublik nicht nur tatsächlich weit verbreiteten, sondern auch gesetzlich verankerten Tradition, Lehrer des Rechts an einer deutschen Hochschule2 als Richter in Spruchkörper verschiedener Gerichtsbarkeiten zu berufen. Um eine solche parallele hoheitliche Tätigkeit beamteter Rechtsprofessoren an einer staatlichen Universität auf der einen Seite und einem staatlichen Gericht auf der anderen Seite und damit um den Spagat zwischen zweiter und dritter Gewalt wird in rechtlicher Hinsicht üblicherweise wenig Aufhebens gemacht. Das im wesentlichen reibungslose Funktionieren der Doppelung wie die immer wieder konstatierte gegenseitige Befruchtung beider Bereiche 3 haben stets ausgereicht, eine intensivere staatsrechtliche Diskussion etwaiger untun-licher Interessenskollisionen für entbehrlich zu halten. Der einst in ideologisch stürmischeren Zeiten unternommene Versuch, Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts auch eine Tätigkeit als Hochschullehrer zu untersagen4, ist gescheitert und später nicht mehr ernsthaft aufgegriffen worden. Nur aus Gründen der hohen Arbeitsbelastung ist in jüngerer Zeit die Privilegierung der Hochschullehrer erneut in Frage gestellt worden 5. Ein Schelm im übrigen, wer
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Manuskriptstand: Januar 2006. So die exemplarische Formulierung in § 3 Abs. 4 Satz 1 BVerfGG. BTags-Drucks III/516, S. 33 zum Entwurf des Deutschen Richtergesetzes. BTags-Drucks. VI/1471, S. 3.
5 Mahrenholz, Zur Funktionsfähigkeit des BVerfG, ZRP 1997, S. 129, 133 f. ohne jegliche Bezugnahme auf etwaige Erfordernisse des Gewaltenteilungsgrundsatzes; ebenso Voßkuhle, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Band III, 5. Auflage 2005, Art. 94, Rn. 16, Fußn. 48; siehe auch Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GG III, 2000, Art. 94, Rn. 17.
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in diesem Zusammenhang dem Umstand tiefere Bedeutung beimißt, daß gerade aus Hochschullehrerkreisen unter Bezugnahme auf die Arbeitsbelastung im Senat die Preisgabe der Privilegierung des § 3 Abs. 4 BVerfGG vorgeschlagen wird. Von einer intensiveren rechtswissenschaftlichen Durchdringung dieses Phänomens kann also derzeit keine Rede sein. Einschlägige Kommentierungen beschränken sich - wenn überhaupt - auf wenige die jeweilige Norm eher paraphrasierende denn erläuternde Worte, und die bekannte pauschale Formulierung des Bundesverfassungsgerichts, das Gewaltenteilungsprinzip sei „nirgends rein verwirklicht" 6 , zerstreut mögliche verfassungsrechtliche Bedenken schon im Ansatz. Die praktische Übung endlich genießt allgemeinen Konsens; die Berufung selbst gilt vielen als Ehre, einigen als Zierde und manchem als Herausforderung. Auf der anderen Seite weckt ein derart überraschend harmonischer Zustand in der im übrigen ja nachgerade notorisch streitgeneigten Jurisprudenz auch leicht den Verdacht, als vermeide man bewußt eine nähere Auseinandersetzung, um sich nicht plötzlich mit eigentlich von vornherein ungewollten Erkenntnissen und Ergebnissen konfrontiert zu sehen. Im folgenden soll daher versucht werden, die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen von Hochschullehreramt und Richteramt am Beispiel der Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundes als Beitrag zu einer bislang nicht ernstlich geführten Diskussion zu sichten. Dies nun just im Rahmen einer Festschrift zu unternehmen, mit der eine solche zwiefach ausgewiesene Juristenpersönlichkeit geehrt werden soll, erscheint dabei nicht schon deswegen statthaft, weil der Jubilar mittlerweile nicht mehr richterlich tätig ist und damit gewissermaßen Erledigung kraft Zeitablauf eingetreten ist, sondern weil Peter Krause selbst die rechtswissenschaftliche Debatte stets allein um der Sache willen gesucht und geführt hat und deshalb davon ausgegangen werden darf, daß er auch die nachstehenden Gedanken in diesem Geiste aufnehmen und nicht als unziemliche Trübung des solennen Anlasses schroff zurückweisen wird.
II. Die positiv-rechtliche Regelung Das Grundgesetz selbst beschränkt, soweit es sich explizit äußert, die Regelung von Inkompatibilitäten für die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts auf die Ebene der Verfassungsorgane. Nach Art. 94 Abs. 1 Satz 3 GG dürfen sie „weder dem Bundestage, dem Bundesrate, der Bundesregierung noch entsprechenden Organen eines Landes angehören". Hierdurch sucht es Neutralität und Unabhängigkeit der Richter zu sichern und konkretisiert zugleich das Ge-
6 BVerfGE 3, 225, 247; 30, 1, 28; 34, 52, 59; mit Blick auf die Unvereinbarkeit von Ämtern siehe Stern , Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Auflage 1984, S. 359.
Der Hochschullehrer als Richter
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waltenteilungsprinzip des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG 7 . Wie jeder Fachrichter soll auch der Verfassungsrichter frei von rechtlichen, politischen, wirtschaftlichen oder sonstigen Einflußnahmen jenseits seiner rechtlichen Bindungen entscheiden können. Auffallend ist freilich, daß nach verbreiteter Ansicht das Verbot anderweitiger Tätigkeit zugleich und offenbar keineswegs nur nachrangig oder gar reflexartig 8 die Arbeitsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts und dessen Ansehen zu schützen beabsichtigt9. Richtig ist wenigstens, daß die Grenzen zwischen den denkbaren Zielsetzungen fließend verlaufen. Auf der konkretisierenden Ebene des einfachgesetzlichen Bundesrechts wird der Umfang der Inkompatibilitäten sodann scheinbar erheblich erweitert. § 3 Abs. 4 Satz 1 BVerfGG bestimmt, daß mit der richterlichen Tätigkeit jede andere berufliche Tätigkeit mit Ausnahme der eines Lehrers des Rechts an einer deutschen10 Hochschule unvereinbar ist. Diese Regelung, die den Richter von beeinflussenden Faktoren einer anderweitigen beruflichen Beschäftigung freihält, wird als mit dem engeren Art. 94 Abs. 1 Satz 3 GG allgemein für vereinbar betrachtet 11. Dem wird man bereits unter nur pauschalem Hinweis auf Gewaltenteilung und Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit ohne weitere Begründung zustimmen können, soweit das grundsätzliche Verbot betroffen ist. Im Kern nämlich erweist sich § 3 Abs. 4 Satz 1 BVerfGG nicht als Ausdehnung des Art. 94 Abs. 1 Satz 3 GG, sondern als Konkretisierung unter anderem der Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 97 Abs. 1 GG 12 . Trennung der Gewalten und richterliche Unabhängigkeit stehen einer Befassung des Richters mit nicht judikativen Aufgaben mindestens grundsätzlich entgegen. Die einfachgesetzlich ausgesprochene Sonderstellung der Hochschullehrer hingegen läßt sich nicht ohne weiteres verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen entnehmen und bedarf also als Ausnahme von der Regel der methodischen Erläuterung und Rechtfertigung. Soweit sich verfassungsprozeßrechtliche Darstellungen dieses Phänomens überhaupt annehmen und nicht bloß den Gesetzestext hinnehmend 7 Kischel, Unbefangenheit und Wahl der Bundesverfassungsrichter, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (HStR), Band III, 3. Auflage 2005, § 69, Rn. 84; Voßkuhle, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 94, Rn. 16; ders., Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 54 ff. 8 Voßkuhle, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 94, Rn. 16: „vor allem". 9 Kischel, HStR III, § 69, Rn. 84; Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GG III, Art. 94, Rn. 17; Schmidt-Bleibtreu/Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Grundgesetz, 10. Auflage 2004, Art. 94, Rn. 16. 10 Am Rande: Soweit ein Verfassungsrichter die mit dem ordre public zu rechtfertigenden dienstrechtlichen Voraussetzungen des deutschen Rechts im übrigen mitbringt, dürfte es gemeinschaftsrechtlich nicht leicht zu begründen sein, weshalb er nicht neben dem Richteramt an einer Hochschule im europäischen Ausland lehren dürfen soll. 11 Siehe nur Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 7. Auflage 2004, Art. 94, Rn. 1; Wieland, in; Dreier (Hrsg.), GG III, Art. 94, Rn. 17; jeweils mit weiteren Nachweisen. 12 Dazu näher unten III.
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referieren 13, beschränken sie sich auf die Benennung einer nur schwer faßlichen ratio legis, „die fortwährende Verbindung mit dem aktiven Hochschulleben und der Entwicklung der Wissenschaft für die Rechtsprechung des Gerichts zu erhalten" 14. Doch der schlichte Hinweis auf ein bewährtes Herkommen allein vermag die Gewaltenteilung kaum zu durchbrechen, solange nicht eine verfassungsrechtlich tragfähige Rechtfertigung für ein Abweichen von der Trennung vorgetragen ist. Immerhin wirkt der Hochschullehrer als Verfassungsrichter beispielsweise bei der Entscheidung über hochschul- oder wissenschaftsrechtliche Fragen an der judikativen Ausgestaltung seines außergerichtlichen Status maßgeblich mit und gerät damit in die Gefahr eines klassischen Interessenkonflikts. Es erklärt und versteht sich schließlich ebenfalls nicht von selbst, daß wie gerne vorgetragen wird - der Verfassungsrichter, der nach § 3 Abs. 2 BVerfGG über die Befähigung zum Richteramt im Sinne des § 5 Abs. 1 DRiG verfügt, auf die mitgliedschaftliche Präsenz eines oder gar mehrerer Hochschullehrer im Senat angewiesen sein soll, um aktuelle Erkenntnisse der Rechtswissenschaft in seine Spruchtätigkeit einfließen zu lassen. Ergänzt wird § 3 Abs. 4 Satz 1 BVerfGG freilich durch die Kollisionsregel des darauffolgenden Satzes, der schlicht anordnet, daß die Tätigkeit als Richter des Bundesverfassungsgerichts der Tätigkeit als Hochschullehrer vorgeht; in dieselbe Richtung weist auch § 101 Abs. 3 BVerfGG 15 . Die Vorschrift enthält jedoch nur auf den ersten Blick eine zureichend präzise und praktisch praktikable Abgrenzung zwischen den beiden Tätigkeitsfeldern. Typischerweise nämlich ist schon in materieller Hinsicht eine klare Trennung zwischen genuin wissenschaftlicher und rein judikativer Teilhabe an der Fortgestaltung der Rechtsordnung unmöglich. Die in einem weiteren Kontext vorgebrachten formalen Abgrenzungskriterien 16 helfen nicht, drohende Interessenkonflikte deutlich genug zu identifizieren oder gar aufzulösen. Die geäußerte Erwartung, „daß ein Bundesverfassungsrichter seine Tätigkeit als beamteter Hochschul13
Siehe z. B. Lechner/Zuck , Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 5. Auflage 2006, § 3,
Rn. 9; Leibholz/Rupprecht , Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1968, § 3, Rn. 3; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 3. Auflage 1991, S. 43; Schlaich/Korioth , Das Bundesverfassungsgericht, 6. Auflage 2004, Rn. 41 f.; zur Landesverfassungsgerichtsbarkeit Starck y Der verfassungsrechtliche Status der Landesverfassungsgerichte, in: Starck/Stern (Hrsg.) Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Teilband I, Geschichte, Organisation, Rechtsvergleichung, 1983, S. 155, 175, der auf die Weisungsunabhängigkeit der Hochschullehrer hinweist. 14
So ausdrücklich Heinrichsmeier , in: Umbach/Clemens (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Auflage 2005, § 3, Rn. 21; siehe ferner Wieland , in: Dreier (Hrsg.), GG III, Art. 94, Rn. 17. 15 Dazu Heyde , in: Umbach/Clemens (Hrsg.), BVerfGG, § 101, Rn. 7. 16 Siehe z. B. Mahrenholz , ZRP 1997, S. 129, 133, der auf die Abhaltung von Lehrveranstaltungen, Teilnahme an Prüfungen, literarisches Schaffen und Teilnahme an Fachtagungen als die richterliche Arbeitszeit konsumierende Beschäftigungen eines Hochschullehrers auflistet.
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lehrer insoweit ausüben wird, als dies mit den vorrangigen Richterpflichten vereinbar ist" 17 , tönt zwar angenehm hehr, ist im Ernstfall aber alles andere als operationabel. Sie vermag erst recht nicht den im nicht revisiblen Verfahren unterlegenen Rechtssuchenden zu befriedigen. Denn die überragende Bedeutung einer unabhängigen Gerichtsbarkeit im gewaltenteilenden Staat verbietet, diese einer schlichten persönlichen Erwartung und Hoffnung - in wen auch immer - anheimzustellen. Damit gerät die Regelung des § 3 Abs. 4 Satz 2 BVerfGG ambivalent: Sie ist von durchaus berechtigter Motivation getragen, taugt aber nicht zur zuverlässigen Erreichung des selbst gesteckten Regelungsziels und erschöpft sich somit letztlich nur in dem augenfälligen Beleg, daß die einfachgesetzlich zugelassene Doppelfunktion von Hochschullehrer und Richter einen Konflikt verursacht, der einer verfassungsrechtlichen Bewältigung bedarf.
I I I . Determinanten der verfassungsrechtlichen Bewertung 1. Der Grundsatz der Gewaltenteilung
Staatliche Universitäten, die regelmäßig als Körperschaften des öffentlichen Rechts verfaßt sind, führen als Teil der mittelbaren Staatsverwaltung hoheitliche Aufgaben der vollziehenden Gewalt aus18. Die hier beschäftigten beamteten Hochschullehrer genießen zwar auf Grund der universitären Selbstverwaltungsgarantie und der grundrechtlich gewährleisteten Freiheit von Forschung und Lehre in gleich mehrfacher Hinsicht eine rechtliche Sonderstellung, sind jedoch Amtswalter der Exekutive 19 . Die Existenz nichtstaatlicher juristischer Hochschulen und die seit langem immer wieder geführte Diskussion um eine Entbehrlichkeit des Beamtenstatus für Hochschullehrer mögen auf insoweit vielleicht allmählich erodierende Strukturen deuten, dürfen aber für den hier interessierenden Zusammenhang zur Zeit noch außer Betracht gelassen werden. Mit der gleichzeitigen Ausübung eines richterlichen Amts durch den Beamten stellt sich damit unweigerlich die bereits eingangs formulierte Frage nach der Vereinbarkeit der doppelten Aufgabenwahrnehmung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gewaltenteilung. Besonders augenfällig wird dies, wie gesehen, insbesondere in allen Fragen der gerichtlichen Überprüfung von Forschung und Lehre. Hier ist die Gefahr, daß der richtende Hochschullehrer in einen persönlichen Interessenkonflikt gerät, nur allzu offenkundig.
17 So Geck, Wahl und Status der Bundesverfassungsrichter, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR II, 1987, § 55, Rn. 25. 18 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Auflage 2004, Rn. 34; Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 3. Auflage 2004, S. 125 ff. 19 Kunig, Das Recht des öffentlichen Dienstes, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 13. Auflage 2005, 6. Kap, Rn. 34.
366
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Nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG wird die Staatsgewalt durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. Die hierin ausdrücklich angelegte organisatorische Trennung findet ihre Ergänzung durch die funktionale und die hier im Vordergrund stehende personelle Gewaltenteilung20. Diese Ausprägung des übergeordneten Teilungsprinzips 21 verbietet grundsätzlich die Amtsträgerschaft in mehr als nur einer Staatsgewalt. Allerdings offenbaren Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit gerade hier ein uneinheitliches bis disparates Bild: Ist auch die personelle Gewaltenteilung in der Grundbestimmung des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG nicht ausdrücklich erwähnt, enthalten doch die Artt. 55 Abs. 1, 66 GG und der bereits genannte Art. 94 Abs. 1 Satz 3 GG bereichsspezifische Inkompatibilitätsregelungen. Offener ist dagegen Art. 137 Abs. 1 GG, der die Anordnung von Unvereinbarkeiten öffentlicher Ämter mit dem Abgeordnetenmandat dem parlamentarischen Gesetzgeber in Bund und Ländern überträgt 22; er soll „Verfilzungen" 23 und „unziemliches Kollaborieren" 24 der Form verhindern, daß ^öffentlich Bedienstete' derjenigen Vertretungskörperschaft angehören, der eine Kontrolle über ihre Behörde obliegt" 25 . Jenseits dieser ausdrücklich vorgesehenen Unvereinbarkeiten ist dagegen ein teilweise durchaus großzügiger Umgang mit dem Phänomen zu beobachten. So ist in der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik das Mitglied der Bundesregierung, das nicht zugleich auch Abgeordneter des Deutschen Bundestags ist, immer die praktische Ausnahme gewesen26. Als Grund und Rechtfertigung wird hierfür gern der „parteienstaatliche Charakter des heutigen demokratischen Systems, in dem die Frontlinien einer funktional verstandenen Gewaltenteilung weniger zwischen Parlament und Regierung als zwischen Regierungslager und Opposition verlau-
20
Badura, Staatsrecht, 3. Auflage 2003, S. 315; Herzog , in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Loseblatt, Stand: 45. Ergänzungslieferung 2005, Art. 20, Rn. V. 13 ff.; Maurer , Staatsrecht I, 2005, S. 379; Sachs, in Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Auflage 2002, Art. 20, Rn. 91; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG II, 1998, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 64; Stern , Staatsrecht I, S. 795. 21 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auflage 1995, S. 212. 22 Lübbe-Wolff, in: Dreier (Hrsg.), GG III, Art. 137, Rn. 7 ff.; Magiern, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 137, Rn. 1 ff.; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 137, Rn. 1. 23 So Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 137, Rn. 4. 24
So Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, Rn. V. 17.
25
So BVerfGE 48, 64, 82; siehe auch BVerfGE 12, 73, 77; 38, 326, 338 f. 26 Siehe zum juristischen Streitstand etwa Epping, Die Trennung von Amt und Mandat, in: DÖV 1999, S. 529 ff.; ders., in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 5. Auflage
2005, Art. 66, Rn. 17 ff.; Herzog , in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, Rn. V. 44 ff; Oldiges, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 66, Rn. 25 ff.
Der Hochschullehrer als Richter
367
fen" 27 , ins Feld geführt. Die wohl mittlerweile unabweislich gewordene Kapitulation des theoretischen Verfassungsrechts vor der (partei-)politischen Wirklichkeit, deren Argumente beim Wort genommen letztlich mindestens die personelle Gewaltenteilung in weiten Teilen aufgeben, trägt nur dem Befund Rechnung, daß sich die parlamentarische Kontrolle der Regierung faktisch von den dem Text des Grundgesetzes zu Grunde liegenden überkommenen staatstheoretischen Vorstellungen endgültig gelöst hat 28 . Das bedeutet indes nicht, daß damit automatisch die personelle Trennung jenseits der verfassungsrechtlich ausdrücklich angeordneten Inkompatibilitäten 29 auch im Verhältnis zur dritten Gewalt zur freien Disposition gestellt ist. Denn für das Verhältnis von Bundesregierung und Bundestag lassen sich jenseits der Parteienstruktur vielleicht durchaus nachvollziehbare praktische Bedürfnisse der Funktionsfähigkeit und Effektivität der Organe ausmachen30, die letztlich auch zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der beschriebenen Durchbrechung des Gewaltenteilungsgrundsatzes angeführt werden können. Eine abschließende Bewertung der Problematik kann an dieser Stelle allerdings dahinstehen, da derartige Begründungen, selbst wenn man sie dem Grunde nach anerkennt, jedenfalls nicht auf die Behandlung der Gerichte übertragbar sind. Denn die Kontrollfunktion der Gerichte weist diesen im dreigeteilten Gefüge des Staatsaufbaus naturgemäß eine Sonderstellung zu, die von den beiden anderen Gewalten deutlicher und strenger getrennt ist als es diese untereinander sind 31 . Die der Rechtsprechung inhärente klassische und letztendlich nicht befriedigend zu beantwortende Frage „Quis custodiet ipsos custodes?" 32 wird bei personeller Identität von Kontrollierendem und Kontrolliertem nur noch auswegloser. Auch wenn der zuvor zitierte parteienstaatliche Charakter des modernen demokratischen Systems schon seit langem auch von den mehr oder weniger höheren Ebenen der Judikative Besitz ergriffen hat 33 und es zugleich der verfassungswirklichen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten gefallen hat, nur noch solche Hochschullehrer mit der parallelen Wahrnehmung eines Karlsruher Richteramts zu betrauen, die sich in der einen oder anderen Weise einer vorschlags-
27
So Oldiges, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 66, Rn. 25 b; ebenso Hermes, in: Dreier
(Hrsg.), GG II, Art. 66, Rn. 18 mit weiteren Nachweisen zu dieser als herrschend charakterisierten Ansicht. 28
Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, Rn. V. 46.
29
Art. 94 Abs. 1 Satz 3 GG.
30
Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, Rn. V. 45 ff.; Sachs, in: Sachs (Hrsg.), GG,
Art. 20, Rn. 90, 92. 31
Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, Rn. V. 36, 49; Hesse, Grundzüge des Ver-
fassungsrechts, S. 212, 234; Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, 1997, S. 20 f., 46 f.; Sachs, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 20, Rn. 92; siehe auch BVerfGE 7, 183, 188 zu Art. 92 GG. 32
D. Iunius Iuvenalis, Lib. II satira VI, 347.
33
Statt anderer Stern, Staatsrecht II, 1980, S. 357 mit weiteren Nachweisen.
368
Michael Reinhardt
berechtigten Partei empfehlen konnten 34 , läßt sich damit nicht gleich jeder Fall der gewaltenüberschreitenden Ämterhäufung auch verfassungsrechtlich durchwinken. Die Ignorierung des Parteienstaats unter Hinweis auf ideale staatstheoretische Modelle ist verfassungsrechtlich ebenso unangebracht wie die pauschale resignierte Preisgabe grundgesetzlicher Positionen in Ansehung gegenläufiger praktischer Üblichkeiten. So hat insbesondere die Kontrolle der Regierung durch das Parlament mit der ausschließlich rechtlichen Kontrolle der Exekutive durch die Gerichtsbarkeit schon in ihrer rechtstheoretischen und grundgesetzlichen Anlage wenig gemein. Daher ist danach zu fragen, ob andere Gründe vorgetragen werden können, um die Durchbrechung des in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG verankerten Grundprinzips der personellen Gewaltenteilung35 auch vor dem Grundgesetz zu rechtfertigen.
2. Die richterliche Unabhängigkeit Die personelle Funktionentrennung des Gewaltenteilungssatzes wird mit Blick auf die Judikative durch die verfassungsrechtliche Gewährleistung der richterlichen Unabhängigkeit fortgeführt und spezifiziert 36. Materielles Kernstück der Gewährleistung ist dabei die sachliche Unabhängigkeit nach Art. 97 Abs. 1 GG, die durch die Bestimmungen über die persönliche Unabhängigkeit nach Art. 97 Abs. 2 GG, namentlich durch die Garantie der Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit des Richters, ergänzend gesichert wird 37 . Mit der ausschließlichen Bindung an das Gesetz verbürgt Art. 97 Abs. 1 GG auf der sachlichen Ebene die allgemeine Freiheit der Richter, bei ihrer Entscheidungstätigkeit nicht an die Weisungen Dritter gebunden zu sein 38 . Dem entspricht im übrigen der auch normativ widergespiegelte Gedanke, daß die Wahrnehmung rechtsprechender Aufgaben mit solchen der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt nach den Art. 137 Abs. 1 GG, § 4 Abs. 1 DRiG jedenfalls grundsätzlich nicht vereinbar ist, um gewaltenübergreifende Interessenkolli-
34 Allgemein zum Parteienstaat Ipsen, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 21, Rn. 14; Kunig , Parteien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 40; jeweils mit weiteren Nachweisen. 35 Herzog , in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, Rn. V. 17, 51; unter Hinweis auf die zulässigen Ausnahmen abschwächend formuliert von Stern , Staatsrecht I, S. 359. 36 Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 97, Rn. 1; Herzog , in: Maunz/Dürig, GG, Art. 97, Rn. 2; Reinhardt , Konsistente Jurisdiktion, S. 98 f.; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG II, Art. 97, Rn. 14. 37 BVerfGE 14, 56, 70; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 237 f.; näher zur persönlichen Unabhängigkeit z. B. Herzog in: Maunz/Dürig, GG, Art. 97, Anm. 45 ff.; siehe ferner die §§30 ff. DRiG. 38 BVerfGE 3, 213, 224; 26, 186, 198; 27, 312, 322; 31, 137, 140 (st. Rspr.); Badura , Staatsrecht, S. 662 f.; Barbey , Der Status des Richters, in: Isensee/Kirchhof, HStR III, § 74, Rn. 30 f.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 237; Stern , Staatsrecht II, S. 912.
Der Hochschullehrer als Richter
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sionen zu verhindern 39. Flankierend wirkt der Grundsatz der persönlichen Unabhängigkeit, der dem hauptamtlichen und planmäßig endgültig angestellten40 Richter weitreichende Inamovibilität 41 gewährleistet. Beide Ausprägungen erscheinen in dem hier interessierenden Zusammenhang bei erstem Hinsehen ohne Belang: Positiv-rechtliche Inkompatibilitätsregelungen bestehen nicht; vielmehr ist wie gesehen umgekehrt die Kompatibilität in Vorschriften wie § 3 Abs. 4 BVerfGG gerade ausdrücklich festgeschrieben. Der Hochschullehrer ist sodann bei Ausübung der richterlichen Tätigkeit Weisungen seines hochschulrechtlichen Dienstherrn nicht unterworfen, und bei einer planmäßigen und endgültigen Betrauung als Richter im zweiten Hauptamt wird auch das in Art. 97 Abs. 2 GG enthaltene Verbot von Versetzung und Entlassung gegen den Willen des Betroffenen zureichend beachtet. Hochschullehrer, die nur nebenamtlich mit richterlichen Aufgaben betraut sind, werden dem gegenüber von vornherein nicht von Art. 97 Abs. 2 GG erfaßt und genießen lediglich einen durch Art. 33 Abs. 5 GG vermittelten Mindestschutz42. Schwierigkeiten treten allerdings auf, wendet man sich der schwer faßlichen, doch gleichfalls dem Grunde nach von Art. 97 GG umschlossenen sog. inneren Unabhängigkeit des Richters 43 zu. So liegt wie schon angemerkt 44 auf der Hand, daß der zur richterlichen Entscheidung über beispielsweise hochschulrechtliche Fragen oder über die grundgesetzliche Gewährleistung der Freiheit von Forschung und Lehre nach Art. 5 Abs. 3 GG berufene Hochschullehrer typischerweise in die Gefahr gerät, die inneren Determinanten der beiden Ämter nicht mehr zureichend auseinanderhalten zu können. Gesetzliche Vorschriften wie etwa § 3 Abs. 4 Satz 2 BVerfGG belegen nur die Existenz des auch inneren Konflikts, vermögen ihn aber nicht effektiv zu lösen, sondern verschieben ihn im Ergebnis bloß in die nichtjustitiable Verantwortung des jeweiligen Richters. Treffend hat das Bundesverfassungsgericht selbst für den hier interessierenden Zusammenhang ausdrücklich auf die Binsenweisheit aufmerksam gemacht, daß Angehörige von
39
Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, S. 103; siehe auch schon oben III. 1. Dazu Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG II, Art. 97, Rn. 46 ff., 56. 41 Dazu unlängst auch Gröschner, Iudex inamovibilis - wie unversetzbar ist der deutsche Richter?, in: NJW 2005, S. 3691 ff.; Wittreck, Iudex amovibilis? Kritische Anmerkungen zum „Thüringer Modell" eines flexiblen Einsatzes von Richtern, in: ThürVBl. 2005, S. 245 ff. 42 Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 97, Rn. 31 ff.; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 97, Rn. 6; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG II, Art. 97, Rn. 56 f. 43 Dazu z. B. Barbey, HStR III, § 74, Rn. 40; Faller, Die richterliche Unabhängigkeit im Spannungsfeld von Politik, Weltanschauung und öffentlicher Meinung, in: Fürst/Herzog/Umbach (Hrsg.), Festschrift für Zeidler, 1987, S. 81, 83 ff.; Pfeiffer, Die innere Unabhängigkeit des Richters, in: FS Zeidler, S. 67 ff., 72 ff.; Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, S. 118 ff.; Schulze-Fielitz, in Dreier (Hrsg.), GG II, Art. 97, Rn. 38; Stern, Staatsrecht II, S. 910; jeweils mit weiteren Nachweisen. 44 Oben II. 40
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Legislative und Exekutive nicht dadurch zu Unbeteiligten werden, daß ihnen gesetzlich persönliche und sachliche Unabhängigkeit gewährleistet wird 45 . Zwar zeugt es von ungenügend ausgeprägtem Bewußtsein für die praktische Umsetzung eines theoretisch festgestellten Problems, wollte man Herkommen, Prägung und Vorverständnis eines Richters nun einfach aus dessen judikativer Tätigkeit völlig ausblenden oder sich mit dem Vertrauen beruhigen, die Richterpersönlichkeit werde den Konflikt schon befriedigend bewältigen 46 ; auf der anderen Seite aber greift auch die voreilige Fügung in das Schicksal einer normativ nicht auflöslichen und damit eben hinzunehmenden systembedingten Regelungsschwäche zu kurz. Indessen sind Ignorieren und Resignieren durchaus nicht die einzigen Möglichkeiten, sich der Problematik zu entledigen. Vielmehr ist im einzelnen zu unterscheiden: In der Tat schon denknotwendig nicht auszuschließen und damit faktisch wie rechtlich hinzunehmen sind Interessenskonflikte bei richterlicher Spruchtätigkeit, die sich auf Rechtsfragen des Richterstatus im weitesten Sinne beziehen. Auslegung und Anwendung des Art. 97 GG, das Richterdienstrecht, das Spruchrichterprivileg des § 839 Abs. 2 BGB und die Handhabung der Rechtsbeugung nach § 339 StGB mögen insoweit als Beispiele hinreichen. Hingegen sind solche Interessenskonflikte, die aus der exzeptionellen Doppelstellung des Hochschullehrers als Richter resultieren, ausschließlich unter der Prämisse unabweislich, daß man die einfachgesetzliche Zulassung der parallelen Tätigkeit verfassungsrechtlich akzeptiert. Die nicht auf einen tatsächlichen Zwang, sondern auf gewillkürte Entscheidung des einfachen Gesetzgebers zurückzuführende Zulässigkeit der Doppelberufung und die hiermit einhergehende formell verursachte Gefährdung oder gar Einschränkung der inneren richterlichen Unabhängigkeit bedürfen damit der Erklärung im Lichte des Art. 97 GG.
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Einschränkung von Gewaltenteilung und richterlicher Unabhängigkeit a) Ein einleitender Beispielsfall Nicht Hochschullehrer als Richter des Bundesverfassungsgerichts, aber doch Kommunalbeamte als Richter eines Landesverfassungsgerichts beschäftigten im Jahre 2003 den rheinland-pfälzischen Verfassungsgerichtshof 47. Der verfas45
BVerfGE 18, 241,256. Prägnant Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, 1975, S. 26: „Der einfachste Weg, das Problem aus der Welt zu lügen, besteht in der Beschwörung der Charakterfestigkeit', des Selbstbewußtseins', der ,Persönlichkeit' der Richter - gerade so, als ob Richter andere Menschen als Straßenbahnschaffner, Fabrikanten oder Professoren seien, mit der Folge, daß bei ihnen jene Eigenschaften die Regel und nicht wie sonst die seltene Ausnahme wären". 47 VerfGH Rh.-Pf., NVwZ-RR 2004, S. 233 ff. 46
Der Hochschullehrer als Richter
371
sungsrechtliche Grundkonflikt ist allerdings vergleichbar, da bei Kommunen wie bei staatlichen Universitäten die Vereinbarkeit der Tätigkeit als Beamter einer sich selbst verwaltenden Körperschaft des öffentlichen Rechts mit dem Amt als Verfassungsrichter in Rede steht. Der Antragsteller wandte sich gegen einen Beschluß des Verfassungsgerichtshofs über die Rechtmäßigkeit der Versagung von Prozeßkostenhilfe durch die ordentliche Gerichtsbarkeit mit der Begründung, die Mitwirkung einer Landrätin als nichtberufsrichterliches Mitglied des Verfassungsgerichts verstoße gegen § 4 Abs. 1 DRiG und den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gewaltenteilung. Der Gerichtshof hat im Ergebnis - im übrigen nach Annahme der Selbstablehnung unter anderem der betroffenen Richterin in diesem, nicht jedoch schon in dem vorangegangenen streitgegenständlichen Verfahren - die Mitgliedschaft von Beamten der Gemeinden und Gemeindeverbände im Verfassungsgerichtshof für mit der Landesverfassung und dem Grundgesetz vereinbar erkannt. Zur Begründung stützte er sich zunächst auf die positive Regelung des Art. 134 Abs. 4 Satz 2 LVerf Rh.-Pf., nach der - strukturell ähnlich wie nach Art. 94 Abs. 1 Satz 3 GG - Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs weder dem Landtag noch der Landesregierung angehören dürfen. Positivistisch wird darauf hingewiesen, daß der Normtext eindeutig sei und insbesondere über die Mitgliedschaft von Angehörigen der Verwaltung nichts ausgesagt werde 48 . Die weitere Begründung, mit der Vorschrift solle vermieden werden, daß „Verfassungsrichter über die Verfassungsmäßigkeit von Rechtsakten oder Handlungen entscheiden, an deren Entstehung oder Vornahme sie als Mitglieder des gesetzgebenden Organs oder der obersten vollziehenden Gewalt mitgewirkt haben" 49 , trifft wohl zu, steuert aber dennoch an der zentralen verfassungsrechtlichen Problematik der gewaltenüberschreitenden Doppelfunktion vorbei. Hierzu weist der Gerichtshof nur eher lapidar darauf hin, daß man bei Schaffung der Bestimmung allgemein an der Mitwirkung von im öffentlichen Leben erfahrenen Personen interessiert war, ohne dabei besondere Berufsgruppen ausschließen zu wollen. Der Wille, den bei den Angehörigen des öffentlichen Diensts vorfindlichen hohen „administrativen und politischen" Erfahrungsschatz auszuschöpfen, führe eben nur zwangsläufig zu einer Doppelfunktion der betreffenden Personen. Interessanterweise wird obiter dictu auch darauf hingewiesen, daß dieses Bedürfnis in der Landesverfassungsgerichtsbarkeit um so höher sei, als anders als im hauptamtlich besetzten Bundesverfassungsgericht eine Einbeziehung dieses Sachverstands anders nicht zu erreichen
48
VerfGH Rh.-Pf., NVwZ-RR 2004, S. 233, 234. So VerfGH Rh.-Pf., NVwZ-RR 2004, S. 233, 234 (Hervorhebung nur hier) unter Bezugnahme auf die amtliche Begründung zum Entwurf des VerfGHG Rh.-Pf., LTagsDrucks. 1/916, S. 1443, 1453; Süsterhenn/Schäfer, Kommentar der Verfassung für Rheinland-Pfalz, 1950, Art. 135, Rn. 3 b; Hensgen, Organisation, Zuständigkeiten und Verfahren des Verfassungsgerichtshofs von Rheinland-Pfalz, 1986, S. 30. 49
372
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sei. Dort nämlich könne man ohne weiteres auf Richter aus Regierung oder Verwaltung des Bundes oder der Länder zurückgreifen, die dann gemäß §§ 3 Abs. 3 und 4, 101 Abs. 1 BVerfGG aus ihren exekutiven Ämtern ausschieden50. Die Argumentation erscheint in zweifacher Hinsicht bemerkenswert: In materieller Hinsicht wird auf die zentrale, aber letztlich bloß diffuse Motivation der Einbeziehung außerjudikativer Erfahrungen in den Rechtsprechungsprozeß rekurriert, die man zudem in hohem Maße im öffentlichen Dienst vermutet. Diese Zielsetzung ist überdies ein Spezifikum der Einbeziehung von Laienrichtern in die Rechtsprechung und sollte jedenfalls im Kontext der Auswahl von juristisch ausgebildeten Berufsrichtern wie etwa im Bundesverfassungsgericht suspekt sein. In formeller Hinsicht wird im Kern nachvollziehbar die Doppelfunktion mit der Nebenamtlichkeit der Besetzungen im Landesverfassungsgericht im Vergleich zum Bundesverfassungsgericht gerechtfertigt, wodurch allerdings ihrerseits die Rechtfertigung kumulativer Ämterwahrnehmung durch Hochschullehrer im Bundesverfassungsgericht nach § 3 Abs. 4 Satz 1 BVerfGG argumentativ auf schmalerem Grat zu wandeln gezwungen wird. Darüber hinaus erkennt der Gerichtshof in der Mitwirkung von Angehörigen der Kommunalverwaltung auch keine Verletzung der allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsätze der Gewaltenteilung und der richterlichen Neutralität. Ohne sich mit der grundsätzlichen und umstrittenen Frage nach der Notwendigkeit eines generellen Ausschlusses sämtlicher Angehöriger des öffentlichen Diensts vom Verfassungsrichteramt auseinanderzusetzen51, wird jedenfalls für Kommunalbeamte eine Vereinbarkeit ihrer Tätigkeit mit dem Richteramt anerkannt. Dazu wird zunächst Geläufiges vorgetragen, indem darauf aufmerksam gemacht wird, daß der Grundsatz der Gewaltenteilung nach der bekannten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nirgends rein verwirklicht ist und außerdem die Verfassungsgerichtsbarkeit in Rheinland-Pfalz eine ausdrückliche konstitutionelle Sonderstellung genießt, die sie aus der Regelung der rechtsprechenden Gewalt herauslösen und von einer zu strengen personellen Trennung der Gewalten befreien soll. Beruhigenderweise wird nur wenig später dann aber doch noch explizit konzediert, daß der rheinland-pfälzische Verfassungsgerichtshof „dennoch den Grundanforderungen, die die Verfassung an die Rechtsprechung stellt (, unterliegt)" 52 . Einen entscheidenden weiteren sachlichen Grund für die Anerkennung einer Vereinbarkeit beider Ämter sieht der
50
VerfGH Rh.-Pf., NVwZ-RR 2004, S. 233, 234. Für einen solchen Ausschluß weisungsabhängiger Exekutivbeamter Starck , in: Starck/Stern (Hrsg.), Landesverfassungsgerichtsbarkeit I, S. 155, 175; dagegen BayVerfGHE 46, 1, 11; Knoepfle , Richterbestellung und Richterbank bei den Landesverfassungsgerichten, in: Starck/Stern (Hrsg.), Landesverfassungsgerichtsbarkeit I, S. 231, 246; zurückhaltend Meyer , in: Grimm/Caesar (Hrsg.), Verfassung für Rheinland-Pfalz, 2001, Art. 134, Rn. 19. 52 Zum ganzen VerfGH Rh.-Pf., NVwZ 2004, S. 233, 235. 51
Der Hochschullehrer als Richter
373
Gerichtshof sodann in der hinreichenden Distanz der Beamten der mittelbaren Staatsverwaltung insbesondere zu den obersten Verfassungsorganen, „so daß eine zu enge Verzahnung der rechtsprechenden Tätigkeit mit dem von ihr kontrollierten Bereich nicht zu besorgen" sei 53 , mithin ein auf Beamte staatlicher Hochschulen verführerisch bequem übertragbares Argument. Dieses überzeugt allerdings nur solange, als man - wie offenbar der Verfassungsgerichtshof in dieser Entscheidung - die Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit auf die Kontrolle von Verfassungsorganen beschränkt. In Wirklichkeit indes reicht die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit in Bund und Ländern weit über die reine Organkontrolle hinaus54. Daß Beamte kommunaler Selbstverwaltungskörperschaften über eine hinreichende Staatsferne bei der Kontrolle von Verfassungsorganen verfügen, mag strukturell-abstrakt gesehen möglicherweise zutreffen; daß sie bei der Entscheidung über Fragen der Tragweite des Gesetzesvorbehalts nach Art. 28 Abs. 2 GG oder der finanzverfassungsrechtlichen Ausstattung der Städte und Gemeinden gleichfalls noch über zureichende Distanz zum Streitgegenstand verfügen, läßt sich schon ungleich schwerer vermitteln. Hierzu äußerte sich der Gerichtshof freilich nicht, gab doch der zivilprozeßrechtliche Ausgangsfall hierzu auch keinen unmittelbaren tatsächlichen Anlaß. Verfassungsrechtlich wäre allerdings eine entsprechende Auseinandersetzung notwendig und aufschlußreich gewesen. Die Entscheidung des rheinland-pfälzischen Verfassungsgerichtshofs fügt sich damit unauffällig in den bereits zuvor festgestellten Befund der juristischen Behandlung der Doppelfunktion in Ämtern der zweiten und dritten Gewalt ein: Sie betont die allgemeine Offenheit des Gewaltenteilungssatzes, preist den praktischen Nutzen einer Einbeziehung letztlich freilich unspezifizierter außergerichtlicher Erfahrungen in den Rechtsprechungsprozeß und bleibt eine befriedigende verfassungsrechtliche Auseinandersetzung mit den möglichen Interessenkonflikten schuldig.
b) Zur „ reinen " Verwirklichung
des Gewaltenteilungsgrundsatzes
Die immer wieder zitierte Erkenntnis des Bundesverfassungsgerichts, die Gewaltenteilung sei nirgends rein verwirklicht 55 , beschreibt den Zustand des Grundsatzes gut zweieinhalb Jahrhunderte nach seiner erstmaligen Formulie53
VerfGH Rh.-Pf., NVwZ 2004, S. 233, 235. Siehe schon die sog. Status-Denkschrift des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juni 1952, JöR 6 (1957), S. 110 ff.; siehe ferner zur Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Grundgesetz statt anderer Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 3 ff.; Roellecke, Aufgaben und Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 67, Rn. 11 ff.; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 4 ff. 55 BVerfGE 3, 225, 247; 30, 1, 28; 34, 52, 59. 54
374
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rung durch Montesquieu. Die ursprünglich erheblich strikter gehandhabte Teilung ist im Laufe ihrer Entwicklung 56 von der Verfassungswirklichkeit in einem Ausmaß überholt worden, das ihr sogar den Vorwurf eingetragen hat, sie sei in der Praxis des 20. Jahrhunderts unzeitgemäß, überholt und wirklichkeitsfremd geworden 57; ihre Lehre der Trennung sei nichts anderes als eine Lehre der Durchbrechungen 58. Nur konsequent ist es vor diesem Hintergrund unternommen worden, dem Prinzip neue Beweggründe und Aufgaben zuzuweisen, unter denen insbesondere der Gedanke der Funktionengerechtigkeit im Vordergrund steht59. Der aus der Geschichte der Gewaltenteilung nicht belegbare 60 Gedanke, daß staatliche Entscheidungen möglichst richtig, das heißt, von denjenigen Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen 61, steht symptomatisch für einen längst vollzogenen Abschied vom Prinzipiellen, der die Steuerungs- und Schrankenfunktion des Verfassungsprinzips aufgegeben hat. Die Konturenlosigkeit 62 der Kernbereichslehre 63 zeigt, daß sich das Bundesverfassungsgericht in eine argumentative Stellung zurückgezogen hat, aus der das normative Prinzip nicht gehalten werden kann. Es ist im übrigen die in der Rechtswissenschaft höchst geläufige Beobachtung, daß mit der Rückführung einer rechtlichen Schutzposition auf einen nicht hinreichend faßbaren Kernbereich die regelmäßig in der Praxis wesentlich relevantere Peripherie weidlich zur Disposition gestellt wird, so daß im Einzelfall gar nicht mehr hinreichend klar erkennbar ist, wann das geschützte Rechtsgut tatsächlich verfassungsrechtlichen Schaden genommen hat. Wer den letzten Stein geworfen hat, ist jedenfalls frei von Sünde. Es kann hier nicht der Ort sein und es besteht im Rahmen der Themenstellung auch nicht Anlaß genug, dem filigran gewobenen System der Gewaltenverschränkungen und Gewaltenbalancierungen und dessen Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit mit dem übergeordneten Prinzip samt dessen denkbaren Moti56
22 ff. 57
Zur Entwicklung der Gewaltenteilung siehe Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, S.
So Loewenstein, Verfassungslehre, 2. Auflage 1969, S. 31 f., 422 f. So Leisner, Die quantitative Gewaltenteilung - für ein neues Verständnis der Trennung der Gewalten, in: DÖV 1969, S. 405, 406. 59 BVerfGE 68, 1; siehe auch Heun, Staatshaushalt und Staatsleitung, 1989, S. 97 f.; Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR II, § 26, Rn. 50; zur Handhabung der Gewaltenteilung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts siehe Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, S. 44 ff. 60 Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, S. 48. 61 BVerfGE 68, 1,86. 62 Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, 1970, S. 191 ff., 230; Herzog in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, Anm. V. 121; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 208; Leisner, DÖV 1969, S. 405. 407 ff.; Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, S. 53. 63 Siehe dazu die Nachweise bei Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, S. 44 f. 58
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vationen nachzuspüren. Vielmehr erscheint es ausreichend, sich einer Grundidee der Gewaltenteilung zu besinnen, die schon vor Montesquieu formuliert worden ist und bis heute auch von den neueren Auffassungen nicht ernstlich in Frage gestellt wird. John Locke hat auf die Schwachheit des Menschen hingewiesen, der regelmäßig der Versuchung erliegen wird, eine ihm nicht zureichend und effektiv begrenzte Macht wenigstens in einer unzuträglichen Weise zu gebrauchen 64. Pointierter noch diagnostizierte Montesquieu eine ewige menschliche Krankheit, die die Menschen die Macht und das Recht mißbrauchen und Verfassungen entarten läßt 65 . Die aus dem historischen Kontext erklärlich drastischen Formulierungen weisen auf eine jeglichem Interessenkonflikt inhärenten Gefahr, die auch im Verfassungsstaat des 20. und 21. Jahrhunderts - wenngleich freilich in ungleich moderaterem Umfang - fortbesteht 66. Die faktisch fraglos zutreffende Feststellung, daß die Gewaltenteilung nirgends rein verwirklicht ist, trägt zur Operationalisierung des Gewaltenteilungsgrundsatzes nichts bei und vermag insbesondere ausgemachte Interessenkollisionen nicht verfassungsrechtlich zu rechtfertigen. Sie ersetzt damit insbesondere nicht den im Einzelfall zu führenden Nachweis, daß eine personelle Durchbrechung des Grundsatzes ausnahmsweise zulässig sein kann, so wie dies gemeinhin im Verhältnis von Bundesregierung und Bundestag angenommen wird.
c) Die Funktion des Hochschullehrers
im Gericht
Es bleibt nach alledem, den immer wieder als zentral vorgetragenen Grund der wissenschaftlichen Befruchtung für eine Einbeziehung von Hochschullehrern in die Rechtsprechung auf seine Tragfähigkeit als Rechtfertigung einer Durchbrechung der Gewaltenteilung hin zu untersuchen. Genauer gesprochen geht es dabei nicht in erster Linie um die Frage, ob der Erfahrungsschatz eines Hochschullehrers für die Verfassungsrechtsprechung überhaupt von Wert ist. Gegen eine solche Einschätzung ist immerhin nichts Substantielles zu erinnern. Zwar liegt der juristischen Qualifikation der Befähigung zum Richteramt nach § 5 DRiG nach wie vor noch das Ideal des rechtsgelehrten Richters 67 zugrunde, der auf Grund seiner materiellen Kenntnisse und wissenschaftlichen Fertigkeiten ohne weiteres in der Lage ist, sich rasch in alle juristischen Sachverhalte
64
Locke, 2nd Treatise of Government, 1681, neu hrsg. von Wootton, 1993, Ch. XII, No. 143 (S. 335): „... it may be too great a temptation to human frailty, apt to grasp at power, for the same persons who have the power of making laws to have also in their hands the power to execute them ...". 65 Nachweis nach Forsthoff (Hrsg.), Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Band 1, 1951, Einf., S. XXVII. 66 Dazu ausführlich Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, S. 39 f., 73 ff. und passim. 67
Herzog in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, Anm. IV. 81 ff.; Reinhardt, Konsistente Ju-
risdiktion, S. 510; Stern, Staatsrecht II, S. 903 f.
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einzuarbeiten und die an ihn herangetragenen Fälle durch methodengerechte Auslegung und Anwendung der Gesetze eigenständig befriedigend zu entscheiden. In diesem anspruchsvollen Konzept des „Volljuristen", das sich trotz ungezählter und jüngst immer einschneidender werdender Reformbestrebungen bis heute im Kern erhalten hat, liegt die Absage an einen nur grob geschulten Richter, der allenfalls sektoral begrenzte Routinesachverhalte zu bewältigen in der Lage ist und im übrigen auf fachliche Unterstützung angewiesen ist. Gleichwohl ist, was aus der subjektiven Perspektive des Verfassers freilich nur mit der gebotenen Zurückhaltung formuliert werden darf, zu konzedieren, daß der einer wissenschaftlichen Beschäftigung eigene Umgang mit dem Recht durchaus auch für die praktische Rechtsprechung von Nutzen sein kann. Entscheidend ist vielmehr, ob es zur Nutzung dieses Erfahrungsschatzes in der Tat auch einer parallelen Beschäftigung als Amtswalter der zweiten und der dritten Gewalt bedarf, um eine „fortwährende Verbindung mit dem aktiven Hochschulleben und der Entwicklung der Wissenschaft für die Rechtsprechung des Gerichts zu erhalten" 68 , oder ob es zur Erreichung dieses Zwecks nicht auch ausreichend wäre, den Hochschullehrer wie den Verwaltungsbeamten oder Minister zu behandeln, der sein früheres Amt mit Eintritt in das Gericht (einstweilen) verliert. Denn die Gefahr einer Interessenkollision ist erheblich geringer, wenn der hinreichend früh berufene Richter erst nach Ablauf der Amtszeit vom Gericht an die Universität zurückkehrt und sich erst dann mit den konkreten Folgen seiner Rechtsprechung aus der anderen Perspektive auseinanderzusetzen hat, oder ob er sich beispielsweise schon zum Zeitpunkt seiner Entscheidung fragen darf, ob er am nächsten Tag im eigenen Fakultätsalltag lieber mit habilitierenden wissenschaftlichen Assistenten oder mit Juniorprofessoren zu schaffen haben möchte69. Den tatsächlichen Wert dieser gleichzeitigen Beschäftigung für die Verfassungsrechtsprechung zu ermessen, ist auf wissenschaftlichem Wege kaum möglich: Man hört viel Gutes, mitunter macht sich auch ein eher kritisches Raunen vernehmlich. Beides führt hier nicht weiter. Der verkündeten Entscheidung aber läßt sich die wirkliche Relevanz der parallelen Tätigkeit der Senatsmitglieder an einer Rechtsfakultät nicht entnehmen, und eine belastbare empirische Untersuchung, wenn sie überhaupt möglich wäre, steht noch aus. Unausgeräumt bleibt mithin der böse Schein einer möglichen Verquickung von Interessen, ungeachtet des Umstands, daß Hochschullehrer anders als andere Beamte der Exekutive einer formellen Weisungsabhängigkeit nicht unterliegen 70.
68 69
70
175.
So Heinrichsmeier, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), BVerfGG, § 3, Rn. 21. BVerfGE 111,226. Dazu Starck, in: Starck/Stern (Hrsg.), Landesverfassungsgerichtsbarkeit I, S. 155,
Der Hochschullehrer als Richter
377
d) Schlußfolgerungen Der Befund bleibt damit im Ganzen unbefriedigend: Auf der einen Seite ist die Gefahr von Interessenkollisionen zwischen den gleichzeitig bekleideten Ämtern in Exekutive und Judikative und deren Auswirkungen auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kaum von der Hand zu weisen. Sie bedingt einen Konflikt mit dem personellen Moment des Grundsatzes der Gewaltenteilung und der inneren Unabhängigkeit des Richters. Dieser Konflikt ist jedoch, da er in der Person des Hochschullehrers und Richters auszutragen ist, weder konkret greifbar noch gar im Einzelfall quantifizierbar und in seinen Auswirkungen auf die rechtsprechende Tätigkeit nachweisbar. Dem gegenüber steht eine langjährige praktische Übung, die von breiter Zustimmung getragen ist und damit fast gewohnheitsrechtliche Züge 71 offenbart. Diese leidet allerdings in nicht geringem Umfang unter dem Umstand, daß sie einer substantiellen materiellen Begründbarkeit entbehrt. Der schlichte Rekurs auf eine fortwährende Verbindung mit dem aktiven Hochschulleben und der Entwicklung der Rechtswissenschaft bleibt viel zu diffus und erklärt insbesondere nicht die Privilegierung der Hochschullehrer im Vergleich zu anderen juristischen Tätigkeitsfeldern. Er offenbart einen zu sorglosen Umgang mit den Resten des Gewaltenteilungsgrundsatzes. Für die Durchbrechung selbst eines nirgends rein verwirklichten Gewaltenteilungsgrundsatzes reichen die vorgetragenen Argumente nicht hin. § 3 Abs. 4 BVerfGG ist damit insoweit mit dem Gewaltenteilungssatz unvereinbar, als er dem Verfassungsrichter die gleichzeitige Tätigkeit als Lehrer des Rechts an einer deutschen Hochschule gestattet. Nicht aus Gründen der vielleicht beklagenswerten doppelten Arbeitsbelastung 72, sondern auf Grund ihrer Kollision mit dem Verfassungsrecht ist die Privilegierungsregelung aufzugeben. Allenfalls könnte in Erwägung gezogen werden, durch eine Ausweitung der Ausschließungsregel des § 18 BVerfGG eine Interessenkollision zu umgehen zu suchen. Die dann zu erwartenden erheblichen Abgrenzungsschwierigkeiten legen ein solches Vorgehen jedoch nicht gerade nahe.
I V . Schlußbetrachtung Die gleichzeitige Tätigkeit eines Hochschullehrers als Richter des Bundesverfassungsgerichts erweist sich als weitere Durchbrechung des im Laufe seiner Entwicklung und insbesondere unter dem Grundgesetz reichlich erodierten Grundsatzes der Gewaltenteilung. Freilich lassen sich für das Gros der Abwei-
71
Zur bis heute nicht abschließend geklärten Problematik verfassungsgewohnheitsrechtlicher Rechtssätze siehe insbesondere Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, 1972. 72
So Mahrenholz, ZRP 1997, S. 129, 133 f.
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chungen von einer zu streng verstandenen Funktionentrennung überwiegend konsensfähige Rechtfertigungen vortragen, doch wird man, um das übergeordnete Prinzip nicht, wie schon jetzt gelegentlich zu hören, als heute überholtes Relikt im verfassungsgeschichtlichen Archiv zu asservieren, eine zureichende, das heißt insbesondere verfassungsrechtlich tragfähige Begründung für ein Abgehen von der Trennung im einzelnen Fall fordern müssen. Für den Spagat zwischen zweiter und dritter Gewalt durch die gleichzeitige Tätigkeit als Lehrer des Rechts an einer deutschen Hochschule und Richter des Bundesverfassungsgerichts sind solche zureichenden Gründe nicht ersichtlich. Die in § 3 Abs. 4 BVerfGG einfachgesetzlich vorgesehene Privilegierung kann daher vor dem Gewaltenteilungsgrundsatz des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG keinen Bestand behalten. Die bislang nur sehr kursorisch geführte Diskussion um ein tatsächlich verbreitetes und wie gesehen rechtlich nicht unbedenkliches Phänomen dürfte im übrigen auch jenseits des Bundesverfassungsgerichts intensiver zu führen sein. Denn die Gefahr einer Interessenkollision ist keineswegs nur auf die Tätigkeit eines Hochschullehrers in einem Senat des Bundesverfassungsgerichts beschränkt. Einstweilen allerdings wird man sich weiter mit der Erwartung begnügen müssen, daß die betroffenen Personen selbst bei Übernahme und Ausübung des Richteramts die gebotene Zurückhaltung obwalten lassen. Doch auch der Richter ist, wie Peter Krause vor über dreißig Jahren in einem gänzlich anderen Zusammenhang treffend geschrieben hat, nur ein Mensch, der gelegentlich auch schlicht voll Zorn über die Ungerechtigkeit der Welt handelt - „es ist nur eine Frage des Stils" 73 .
73
Krause , Richter oder Vollstrecker?, JZ 1972, S. 413.
Die Untersuchung von Vorwürfen wissenschaftlichen Fehlverhaltens Von Hans-Werner
Laubinger
I . E i n f ü h r u n g i n die T h e m a t i k In seiner wegweisenden Habilitationsschrift 1 hat der Jubilar eindrucksvoll gezeigt, wie vielfältig die Handlungsformen sind, deren sich die öffentliche Verwaltung bedient. A n die Handlungsform, von der i m folgenden die Rede sein soll, nämlich die Feststellung wissenschaftlichen Fehlverhaltens durch universitäre Organe (Ombudsmänner, Untersuchungskommissionen), hat damals - zumindest in Deutschland - noch niemand gedacht. Erst i m Verlaufe der letzten Jahre sind in den Wissenschaftsorganisationen und den Hochschulen Institutionen geschaffen worden, denen es obliegt, Vorwürfen wissenschaftlichen Fehlverhaltens nachzugehen. Das juristische Schrifttum 2 hat sich mit die-
1 Peter Krause, Rechtsformen des Verwaltungshandelns - Überlegungen zu einem System der Handlungsformen der Verwaltung, mit Ausnahme der Rechtsetzung, Berlin 1974. 2 Detmer, in: Hochschulrecht, hrsg. von Hartmann/Detmer, Heidelberg 2004, S. 9092 (Rn. II 166-172); Deutsch, Das Verfahren vor den Ombudsgremien der Wissenschaft, VersR 2003, 1197 ff.; Eser, Die Sicherung von „Good Scientific Practice" - mit Erläuterungen zur Freiburger „Selbstkontrolle in der Wissenschaft", in: Lippert/Eisenmenger (Hrsg.), Forschung am Menschen - Der Schutz des Menschen - Die Freiheit der Forschung, 1999, S. 123 ff.; Grunwald, Gute wissenschaftliche Praxis: Mehr als die Kehrseite wissenschaftlichen Fehlverhaltens, in: Gedächtnisschrift für Hartmut Krüger, 2001, S. 127 ff.; Ηartmann/Fuchs, Standards guter wissenschaftlicher Praxis und wissenschaftliches Fehlverhalten vor dem Hintergrund der Wissenschaftsfreiheit, WissR 36 (2003), 204 ff.; Hartmann, Grundsätze guter wissenschaftlicher Praxis unter qualitätssicherungs- und rechtsfolgenbezogenem Blickwinkel - Gleichzeitig eine wissenschaftstheoretische und verfassungsrechtliche Betrachtung, 2005; Lippert, Die Fälschung von Forschungsdaten ahnden - ein mühsames Unterfangen, WissR 33 (2000), 210 ff.; Löwer, Normen zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis - Die Freiburger Leitlinien, WissR 33 (2000), 219 ff.; Mucket, Der Ombudsmann zur Anhörung von Vorwürfen wissenschaftlichen Fehlverhaltens, in: Gedächtnisschrift für Hartmut Krüger, 2001, S. 275 ff.; Rupp, Wissenschaftsethik - Verfassungsprobleme der Regeln guter wissenschaftlicher Praxis, in: Festschrift für D. Leuze, 2003, 437 ff.; Schmidt-Aßmann, Fehlverhalten in der Forschung - Reaktionen des Rechts, NVwZ 1998, 1225 ff.; SchulzeFielitz, Rechtliche Rahmenbedingungen von Ombuds- und Untersuchungsverfahren zur Aufklärung wissenschaftlichen Fehl Verhaltens, WissR 37 (2004), 100 ff.
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Hans-Werner Laubinger
ser neuen Verfahrensart bisher nur sporadisch, die Rechtsprechung3 so gut wie gar nicht beschäftigt, so daß noch viele Probleme der näheren Erörterung harren. Ausgelöst wurden diese Aktivitäten durch eine Reihe von Skandalen, die sowohl in der wissenschaftlichen als auch in der allgemeinen Öffentlichkeit großes Aufsehen erregten. Den Vorreiter machten die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und die Max-Planck-Gesellschaft. Erstere berief eine internationale Kommission ein, die am 9. 12. 1997 umfangreiche Empfehlungen in Gestalt eines Ehrenkodex' verabschiedete4. Dessen Nr. 16 postulierte, die DFG solle „eine unabhängige Instanz - etwa in Gestalt eines Ombudsmans5 oder auch eines Gremiums von wenigen Personen - berufen und mit den nötigen Arbeitsmitteln ausstatten, die allen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zur Beratung und Unterstützung in Fragen guter wissenschaftlicher Praxis und ihrer Verletzung durch wissenschaftliche Unredlichkeit zur Verfügung steht und jährlich darüber öffentlich berichtet". Dieser Aufforderung kam die DFG nach, indem sie „Verfahrensgrundsätze des Ombudsmans der DFG" 6 erließ und einen aus drei Wissenschaftlern bestehenden Ombudsmann7 einsetzte, der jährlich einen Jahresbericht erstattet8. Damit gab sich die DFG jedoch nicht zufrieden, sondern sie nötigte die Hochschulen, es ihr gleichzutun: Die Mitgliederversammlung der DFG beschloß am 4. 7. 2001, „daß Fördermittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft nicht mehr an Hochschulen und Forschungseinrichtungen vergeben werden, wenn sie die Empfehlungen 1 bis 8 zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis nicht bis zum 1. Juli 2002 umgesetzt haben". Die Empfehlung 8 lautet: „Hochschulen und Forschungseinrichtungen müssen Verfahren zum Umgang mit Vorwürfen wissenschaftlichen Fehlverhaltens vorsehen. Diese müssen von dem dafür
3 Unmittelbar einschlägig ist nur der nicht veröffentlichte Beschluß des VG Frankfurt a.M. vom 14. 1. 2005 - Az.: 12 G 157/05(V) i.S. Protsch von Zieten gegen die Universität Frankfurt und deren Kommission zum Umgang mit wissenschaftlichem Fehlverhalten. Das LG Bonn (NJW 2002, 3260 ff.) hatte sich mit dem Widerrufsbegehren einer Wissenschaftlerin gegen die DFG wegen einer Äußerung von deren Ombudsmann zu befassen. Mit der Überprüfung der Forschungstätigkeit eines Gießener Hochschullehrers durch Universitätsorgane beschäftigten sich nacheinander der HessVGH (DVB1. 1995, 1362 ff.), das BVerwG (E 102, 304 ff.) und das BVerfG (NJW 2000, 3635). 4 Eine Zusammenfassung dieser Empfehlungen ist abgedruckt in NJW 1998, 1764 f. 5 Der Ausdruck stammt aus dem Schwedischen, dort wird er mit einem η geschrieben. In Deutschland hat sich inzwischen weitgehend die Schreibweise Ombudsman/i durchgesetzt; sie wird - außer bei wörtlichen Zitaten - auch hier verwendet. 6 Diese Verfahrensgrundsätze können abgerufen werden unter http://www.rrz.unihamburg. de/dfg_ombud. 7 Das ist eine sprachliche Groteske der DFG. Wie kann ein Ombudsmann aus drei Personen bestehen? 8 Auch diese Jahresberichte - der erste betrifft 1999/2000 - können unter der in Fn. 6 genannten Adresse abgerufen werden.
Die Untersuchung von Vorwürfen wissenschaftlichen Fehlerhaltens
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legitimierten Organ beschlossen sein und unter Berücksichtigung einschlägiger rechtlicher Regelungen einschließlich des Disziplinarrechts folgendes umfassen: - eine Definition von Tatbeständen, die in Abgrenzung zu guter wissenschaftlicher Praxis (Empfehlung 1) als wissenschaftliches Fehlverhalten gelten, beispielsweise Erfindung und Fälschung von Daten, Plagiat, Vertrauensbruch als Gutachter und Vorgesetzter, - Zuständigkeit, Verfahren (einschließlich Beweislastregeln) und Fristen für Ermittlungen zur Feststellung des Sachverhalts, - Regeln zur Anhörung Beteiligter oder Betroffener, zur Wahrung der Vertraulichkeit und zum Ausschluß von Befangenheit, - Sanktionen in Abhängigkeit vom Schweregrad nachgewiesenen Fehlverhaltens."
Da es sich keine Hochschule leisten kann, von vornherein auf DFG-Mittel zu verzichten, löste dieser Beschluß mehr oder weniger hektische Aktivitäten an den Hochschulen aus und führte dazu, daß sie einschlägige Regelungen erließen9 und Institutionen - im Regelfall einen Ombudsmann und eine Kommission - einsetzten, soweit sie das nicht schon zuvor getan hatten. Die universitären Regelungen unterscheiden sich in - zum Teil nicht unwesentlichen - Details, stimmen jedoch in den Grundzügen überein. Dies beruht darauf, daß die Universitäten die Empfehlungen des 185. Plenums der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) vom 6. 7. 1998 „Zum Umgang mit wissenschaftlichem Fehlverhalten in den Hochschulen" (im folgenden: HRKEmpfehlungen), die ihrerseits auf der vom Senat der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) am 14. 11. 1997 beschlossenen und am 24. 11. 2000 geänderten „Verfahrensordnung bei Verdacht auf wissenschaftliches Fehlverhalten" fußen, weitgehend - z.T. wörtlich, z.T. mit Modifikationen - rezipiert haben. Es ist schon aus Platzgründen nicht möglich, hier auf all diese Regelungen einzugehen. Die folgenden Ausführungen gehen in erster Linie aus von den HRK-Empfehlungen und den Regelungen der Johannes Gutenberg-Universität Mainz 10 , an deren praktischem Vollzug der Verfasser als Vorsitzender der zuständigen Senatskommission von Beginn an mitgewirkt hat 11 . Der Ombudsmann der Universität Mainz mußte sich in der Zeit von seiner Bestellung im Jahre 1999 bis Ende 2005 mit 46 Vorgängen befassen. An die Kommission leitete er vier Fälle weiter, von denen sich drei als in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht außer-
9
Umfangreiche Nachweise zu den universitären Regelungen enthält die Dissertation
von Hartmann (Fn. 2), S. 256 f. in Fn. 755 und 756. 10
Die im folgenden als „VerfO Uni Mainz" bezeichnete Verfahrensordnung ist am 15. 12. 2000 in der derzeit geltenden Verfassung vom Senat beschlossen worden und trägt den Titel „Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis - Verfahren an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz". 11 Ich nutze diese Gelegenheit, um dem „Ombudsmann für Fragen des Umgangs mit wissenschaftlichem Fehlverhalten der Johannes Gutenberg-Universität Mainz", Herrn Prof. Beckmann, auf das herzlichste für die ganz ausgezeichnete jahrelange Zusammenarbeit zu danken. Dank schulde ich ihm ferner für einige wertvolle Hinweise zu dem Entwurf dieses Beitrages.
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ordentlich schwierig erwiesen und demzufolge den Ombudsmann und den Kommissionsvorsitzenden monatelang sehr intensiv beschäftigten. Die übrigen Vorgänge erledigten sich durch Vermittlungen und Vergleiche, durch Information über die richtige Einordnung der Anliegen oder durch die Tätigkeit anderer Universitätsorgane.
I I . Wissenschaftliches Fehlverhalten 1. Der Begriff des wissenschaftlichen Fehl Verhaltens In den Empfehlungen der H R K findet sich sub В 1 folgende Umschreibung: „Wissenschaftliches Fehlverhalten liegt vor, wenn in einem wissenschaftserheblichen Zusammenhang bewußt oder grob fahrlässig Falschangaben gemacht werden, geistiges Eigentum anderer verletzt oder sonstwie deren Forschungstätigkeit beeinträchtigt wird. Entscheidend sind jeweils die Umstände des Einzelfalles. Als möglicherweise schwerwiegendes Fehlverhalten kommt insbesondere in Betracht:" Es folgt alsdann eine Zusammenstellung mit den Hauptkategorien: a) Falschangaben, b) Verletzung geistigen Eigentums, c) Inanspruchnahme der (Mit-)Autorenschaft eines anderen ohne dessen Einverständnis, d) Sabotage von Forschungstätigkeit (einschließlich dem Beschädigen, Zerstören oder Manipulieren von Versuchsanordnungen, Geräten, Unterlagen, Hardware, Software, Chemikalien oder sonstiger Sachen, die ein anderer zur Durchführung eines Experiments benötigt), e) Beseitigung von Primärdaten, insofern damit gegen gesetzliche Bestimmungen oder disziplinbezogen anerkannte Grundsätze wissenschaftlicher Arbeit verstoßen wird. Diese Formulierung, die ihrerseits auf der Anlage 1 („Katalog von Verhaltensweisen, die als wissenschaftliches Fehlverhalten anzusehen sind") zu den von der Max-Planck-Gesellschaft beschlossenen „Regeln zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis" beruht, ist von den Hochschulen teilweise wörtlich, teilweise mit Modifikationen übernommen worden. Sie leidet unter erheblichen Defiziten. Z u m einen ist die Paarung von bewußten Falschangaben und grob fahrlässigen Falschangaben verfehlt. Denn aus dem Strafrecht ist uns die bewußte Fahrlässigkeit geläufig, die i m Gegensatz zur unbewußten Fahrlässigkeit steht. Den Gegensatz zur Fahrlässigkeit bildet i m juristischen Sprachgebrauch der Vorsatz. In Kenntnis dessen verlangen einige der universitären Verfahrensordnungen „vorsätzliche oder grob fahrlässige" Falschangaben 12 oder - strenger „vorsätzliche oder fahrlässige" Falschangaben 13 .
12
So beispielsweise § 7 Abs. 1 Grundsätze zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis an der Universität Bielefeld, § 4 Abs. 1 der Satzung der Universität Leipzig zur
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Andere Verfahrensordnungen 14 beschränken wissenschaftliches Fehl verhalten auf bewußte Falschangaben, womit vorsätzliche und bewußt fahrlässige Falschangaben gemeint sein dürften. Man kann darüber streiten, ob es sich empfiehlt, den Tatbestand des wissenschaftlichen Fehlverhaltens mit subjektiven Elementen (Vorsatz, Fahrlässigkeit, Schuld o.ä.), die ihren Sitz im Zivil- oder Strafrecht haben, zu befrachten. Im Verwaltungsrecht spielen derartige Tatbestandselemente ganz überwiegend keine Rolle. Da das wissenschaftliche Fehlverhalten dem Verwaltungsrecht näher steht als dem Zivil- und dem Strafrecht, empfiehlt es sich, bei der Definition des wissenschaftlichen Fehlverhaltens auf subjektive Elemente zu verzichten. Das hätte ferner den Vorteil, daß der stigmatisierende Effekt einer Feststellung wissenschaftlichen Fehlverhaltens geringer ist, wenn mit ihr nicht der Vorwurf verbunden ist, der Betroffene habe vorsätzlich, fahrlässig oder schuldhaft gehandelt. Akzeptiert man diesen Lösungsvorschlag, kommen subjektive Elemente erst bei der Verhängung von Sanktionen durch die Hochschulleitung oder andere Instanzen (z.B. Straf-, Zivil- oder Arbeitsgericht) ins Spiel, und dabei können die Anforderungen durchaus unterschiedlich sein. Der Hauptmangel der zitierten Umschreibung besteht darin, daß sie keine echte Definition des wissenschaftlichen Fehlverhaltens darstellt, sondern lediglich eine Aneinanderreihung von Beispielen. Sie versagt, wenn ein Fall auftritt, der sich unter keines jener Beispiele subsumieren läßt, aber von der scientific Community als wissenschaftliches Fehlverhalten qualifiziert wird; daß es keine derartigen Fälle gibt, wird man schwerlich behaupten können. Daher ist es erforderlich, eine juristischen Ansprüchen genügende echte Definition zu entwickeln. Als wissenschaftliches Fehlverhalten ist es sicherlich zu werten, wenn jemand bei wissenschaftlicher Tätigkeit gegen Rechtsvorschriften, insbesondere gegen Strafvorschriften oder gegen das Urheberrecht, verstößt. Hierin kann sich wissenschaftliches Fehlverhalten nicht erschöpfen. Die-
Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis, Nr. 5 Abs. 1 Satzung der Universität Ulm zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis. 13 § 2 der Regeln guter wissenschaftlicher Praxis der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. 14 So beispielsweise В 1 VerfO Uni Mainz und В 1 der im Juli 2001/Juni 2002 vom Senat der Universität Trier verabschiedeten Grundsätze zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis/Verfahrensrichtlinie für den Umgang mit Verstößen gegen die gute wissenschaftliche Praxis. Die Übereinstimmung der Mainzer und der Trierer Regelungen erklärt sich daraus, daß beide Verfahrensordnungen auf der Vorlage „Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis an der Universität Trier - Verfahren an rheinlandpfälzischen Hochschulen" fußen, die von der Task Force „Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis" der rheinland-pfälzischen Hochschulen erarbeitet worden war.
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ses liegt vielmehr auch dann vor, wenn jemand gegen die (ungeschriebenen15) Regeln verstößt, deren Einhaltung die scientific community - sei es die Gemeinde der Wissenschaftler insgesamt, seien es die Angehörigen eines wissenschaftlichen Faches - als unabdingbar ansieht. Dieser zweite Aspekt verweist auf gesellschaftliche Vorstellungen, die sich im Laufe der Zeit ändern und fortentwickeln können. Diese Eigenschaft teilt der Begriff des wissenschaftlichen Fehlverhaltens mit Begriffen wie gute Sitten, öffentliche Ordnung oder Handelsbräuche, deren sich unsere Rechtsordnung immer wieder bedient. Nach der ständigen Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs verstößt gegen die guten Sitten ein Verhalten, das „gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt". In Übereinstimmung mit der einhelligen Rechtsprechung und Lehre definiert das Bundesverfassungsgericht in seinem Brokdorf-Beschluß 16 die öffentliche Ordnung als „die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerläßliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen wird". Es drängt sich auf, in Anlehnung an diese Vorschriften wissenschaftliches Fehlverhalten zu definieren als ein Verhalten bei wissenschaftlicher Betätigung, das (vorsätzlich oder grob fahrlässig) gegen Rechtsvorschriften oder gegen solche ungeschriebenen Regeln verstößt, deren Einhaltung die scientific community - sei es die Gemeinde der Wissenschaftler insgesamt, seien es die Angehörigen eines bestimmten wissenschaftlichen Faches oder einer wissenschaftlichen Fachrichtung - als unabdingbar ansieht 11. Diese ungeschriebenen Regeln sind „von Hause aus" keine Rechtsvorschrift, sondern ethische Normen 18 . Ob sie dadurch zu Rechtsnormen werden, daß ihre Einhaltung durch Rechtsvorschriften angeordnet wird, soll hier nicht erörtert werden 19.
15 Gemeint ist damit, daß es sich um Regeln handelt, die nicht von staatlichen Organen gesetzt worden sind, sondern sich in der Gesellschaft entwickelt haben, ohne zu Gewohnheitsrecht erstarkt zu sein. 16 BVerfGE 69, 315 ff., 352. 17 Zum Begriff des wissenschaftlichen Fehlverhaltens siehe auch Muckel (Fn. 2), S. 283 ff. 18 § 2 Abs. 1 der Richtlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis an der Friedrich-Schiller-Universität Jena bringt dies treffend zum Ausdruck, wenn er bestimmt, daß wissenschaftliches Fehlverhalten dann vorliegt, „wenn in einem wissenschaftserheblichen Zusammenhang bewusst oder grob fahrlässig ethische Normen verletzt werden, Falschangaben gemacht werden, geistiges Eigentum anderer verletzt oder sonst deren Forschungstätigkeit beeinträchtigt wird.". 19 Hierfür könnte sprechen, daß eine bundesrechtliche Vorschrift (z.B. das Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes) in den Rang von Landesrecht transponiert wird,
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2. Das Verhältnis des wissenschaftlichen Fehlverhaltens zur guten wissenschaftlichen Praxis Ungeklärt ist bisher das Verhältnis von wissenschaftlichem Fehlverhalten und „guter wissenschaftlicher Praxis". Der Senat der MPG hat in seiner Sitzung am 24. 11. 2000 „Regeln zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis" beschlossen, die Empfehlungen der DFG vom Januar 1998 aufgenommen und den Forschungsbedingungen der MPG angepaßt haben. Sie statuieren „allgemeine Prinzipien wissenschaftlicher Arbeit" und regeln die Zusammenarbeit und die Leitungsverantwortung in Arbeitsgruppen, die Betreuung des wissenschaftlichen Nachwuchses, die Sicherung und Aufbewahrung von Primärdaten sowie Anforderungen an wissenschaftliche Veröffentlichungen. Diese Regeln sind von den Hochschulen weitgehend wörtlich übernommen worden. Es stellt sich die Frage, ob jeder Verstoß gegen diese Regeln ohne weiteres wissenschaftliches Fehlverhalten darstellt 20. Das kann hier nicht weiter diskutiert werden, dürfte aber zu verneinen 21 sein, wie folgendes Beispiel nahelegt: Nach in den Naturwissenschaften einhelliger Ansicht gehört die Aufbewahrung der bei Experimenten gewonnenen Primärdaten zur guten wissenschaftlichen Praxis; fehlen sie, ist eine Überprüfung der Experimente nicht möglich. Man kann wohl sogar sagen, daß ohne die Primärdaten die Wissenschaftlichkeit der Ergebnisse fragwürdig ist, da ihnen eine wesentliche Basis fehlt. Gleichwohl wird man schwerlich annehmen können, daß die Nichtaufbewahrung von Primärdaten wissenschaftliches Fehlverhalten darstellt.
I I I . Die das Untersuchungsverfahren durchführenden Institutionen Die universitären Regelungen sehen in Anschluß an die HRK-Empfehlungen in aller Regel zwei Institutionen vor, denen es obliegt, dem Verdacht wissenschaftlichen Fehlverhaltens nachzugehen: einen Ombudsmann und eine Kommission22.
wenn eine landesrechtliche Vorschrift (z.B. das Landesverwaltungsverfahrensgesetz Rheinland-Pfalz) ihre Anwendung anordnet. 20 Löwer (Fn. 2), WissR 33 (2000), 219 ff., 225, schreibt, ohne dies zu vertiefen, die „gute Praxis" sei „die Grenze zum Fehlverhalten, weil die Standardeinhaltung nunmehr geschuldet wird". Daraus könnte man schließen, daß seiner Meinung nach der Verstoß gegen die gute wissenschaftliche Praxis automatisch wissenschaftliches Fehlverhalten darstellt. 21 So ist wohl auch Hartmann (Fn. 2), S. 109, zu verstehen, wenn sie schreibt, der Fehlverhaltenstatbestand stelle „nicht die Kehrseite guter wissenschaftlicher Praxis dar, sondern vielmehr eine Bewertung dahingehend, welcher Verstoß gegen diese gravierend genug ist, um zur Einleitung eines bestimmten Verfahrens, mit dessen Abschluß gegebenenfalls bestimmte Sanktionen verhängt zu werden drohen, berechtigt [muß heißen:
zu berechtigen/".
22 Eine eigenwillige Konstruktion hat die Universität Duisburg gewählt: Ihr Rektor beruft 4 Professoren zu Mitgliedern der „Kommission zur Aufklärung wissenschaftlichen Fehlverhaltens". Die Kommissionsmitglieder „wirken als Ombudsleute" (Nr. 3
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Hans-Werner Laubinger 1. Der Ombudsmann
Die HRK-Empfehlungen schlagen sub С I I den Universitäten folgende Regelung vor: „Die Hochschule bestellt einen oder mehrere erfahrene Wissenschaftler mit nationalen und internationalen Kontakten als Ansprechpartner für Angehörige der Hochschule, die Vorwürfe wissenschaftlichen Fehlverhaltens vorzubringen haben (Ombudsmann). Der Ombudsmann berät als Vertrauensperson diejenigen, die ihn über ein vermutetes wissenschaftliches Fehlverhalten informieren, und greift von sich aus einschlägige Hinweise auf, von denen er (ggf. über Dritte) Kenntnis erhält. Er prüft die Vorwürfe unter Plausibilitätsgesichtspunkten auf Konkretheit und Bedeutung, auf mögliche Motive und im Hinblick auf Möglichkeiten der Ausräumung der Vorwürfe. Zu Ombudsleuten sollten nur Persönlichkeiten gewählt werden, die aufgrund der ihnen möglicherweise zugehenden Informationen nicht selbst zu einschlägigem Handeln, beispielsweise als Prorektor oder Dekan oder als Dienstvorgesetzte gezwungen sind. Es kann jedoch naheliegen, den oder die Vertrauensdozenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit dieser Funktion zu betrauen. Der Ombudsmann hat für den Fall der Befangenheit oder der Verhinderung einen oder mehrere Stellvertreter. Jedes Mitglied der Hochschule hat Anspruch darauf, den - im Vorlesungsverzeichnis genannten - Ombudsmann innerhalb kurzer Frist persönlich zu sprechen." Dieser Empfehlung sind die Universitäten zumeist gefolgt. Überwiegend w i r d v o m Senat der Hochschule eine Person zum Ombudsmann (auch Ombudsperson oder Vertrauensmann genannt) bestellt, der für den gesamten Bereich der Hochschule zuständig ist. In seltenen Fällen werden mehrere Personen für die gesamte Hochschule berufen oder werden Ombudsleute oder Kommissionen (zusätzlich) auf Ebene der Fakultäten (Fachbereiche) 23 eingesetzt.
2. Die Kommission Die HRK-Empfehlungen sehen unter С I I I vor, daß die Hochschulleitung 2 4 eine „Kommission zur Untersuchung von Vorwürfen wissenschaftlichen Fehl-
Abs. 3 Satz 1 der vom Rektorat beschlossenen Verfahrensregeln zum Umgang mit Vorwürfen von wissenschaftlichem Fehlverhalten). 23 Gemäß В 1.1 der Satzung der FU Berlin zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis (Ehrenkodex) wählt jeder Fachbereichsrat auf Vorschlag des Dekans einen erfahrenen Wissenschaftler und einen Stellvertreter aus dem Kreis der aktiven, emeritierten oder pensionierten Hochschullehrer als Vertrauensperson (Fachbereichs-Vertrauensperson). § 6 Abs. 1 Satz 1 der Satzung der Universität Freiburg zur Sicherung der Selbstverantwortung in der Forschung und zum Umgang mit wissenschaftlichem Fehlverhalten ermächtigt die Fakultäten, im Rahmen des Vorverfahrens eine eigene Untersuchungskommission zu bilden. 24 Die Einsetzung von Ombudsmann und Kommission durch die Hochschulleitung ist nicht ganz unproblematisch angesichts des Umstandes, daß das BVerwG (E 102, 304, 310) erklärt hat, die Durchführung der Prüfung, ob ein Hochschullehrer seine Forschungsfreiheit möglicherweise mißbraucht hat, obliege in Hessen dem jeweiligen Fachbereich, repräsentiert durch seine Organe, dem Fachbereichsrat und dem Fachbe-
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Verhaltens" bestellt, in der die Hochschullehrer die Mehrheit haben. Sie soll aus etwa drei bis fünf erfahrenen Professoren der eigenen Hochschule oder aus drei Professoren und zwei externen Mitgliedern, von denen eines die Befähigung zum Richteramt oder Erfahrungen mit außergerichtlichen Schlichtungen hat, bestehen. Die Amtszeit soll drei Jahre mit der Möglichkeit einmaliger Wiederbestellung betragen. Die Kommission soll aus ihrer M i t t e einen Vorsitzenden wählen und mit Stimmenmehrheit der Mitglieder entscheiden. Der Ombudsmann und sein Stellvertreter sollen der Kommission als Gäste mit beratender Stimme angehören. Diese Vorgaben haben die Hochschulen teilweise erheblich modifiziert. Die Kommissionen setzen sich zwar mehrheitlich aus Professoren der betreffenden Hochschule, in den meisten Fällen darüber hinaus aber auch aus wissenschaftlichen - gelegentlich auch nichtwissenschaftlichen 25 - Mitarbeitern und Studenten zusammen 2 6 . Hochschulfremde Personen gehören den Kommissionen sehr selten an 2 7 .
reichsvorstand. Die universitären Regelungen (z.B. С 3 Satz 1 VerfO Uni Mainz) sehen großenteils vor, daß die Kommissionsmitglieder vom Senat gewählt werden. 25 Der „Kommission Selbstkontrolle in der Wissenschaft" der Tierärztlichen Hochschule Hannover gehören neben dem Vizepräsidenten oder dem Vizepräsidenten für Forschung zwei weitere Professoren sowie je ein wissenschaftlicher Mitarbeiter, ein Studierender und ein Mitarbeiter im technischen oder Verwaltungsdienst an (§ 8 Nr. 1 Satz 2 der Regeln zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis und Verfahren bei Verdacht auf wissenschaftliches Fehl verhalten). Die Kommission der Universität Bremen besteht aus vier Professoren, je einem wissenschaftlichem und einem sonstigen Mitarbeiter sowie einem Studierenden (§ 4 des Beschlusses zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis - Teil 1: Verfahren bei Verdacht auf wissenschaftliches Fehlverhalten - Verfahrensordnung). Die Kommission „Verantwortung in der Wissenschaft" der Universität Ulm setzt sich aus 5 Professoren, einem Mitglied des wissenschaftlichen Dienstes, einem Doktoranden und einem Mitglied des nichtwissenschaftlichen Dienstes zusammen (Nr. 6 Abs. 1 Satz 2 der Satzung [Fn. 12]). 26 Gemäß С 3 Satz 3 VerfO Uni Mainz besteht die Kommission aus 5 Mitgliedern, von denen neben dem Ombudsmann je eines aus den Naturwissenschaften, den Geisteswissenschaften, den Rechtswissenschaften und der Medizin gewählt werden. Hierüber hinausgehend wählt der Senat zusätzlich je einen Vertreter der wissenschaftlichen Mitarbeiter und der Studierenden in das Gremium. Der Untersuchungskommission der TU Chemnitz gehören drei Professoren sowie je ein wissenschaftlicher Mitarbeiter und ein Studierender an (§ 12 Abs. 2 der Grundsätze zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis und über das Verhalten bei Verdacht auf wissenschaftliches Fehl verhalten). Der Senat der Universität (TH) Karlsruhe bestellt aus seinen Reihen einen Vertreter der Studierenden oder der VT-Mitarbeiter dann, wenn im konkreten Fall ein Studierender oder ein VT-Mitarbeiter betroffen ist (a.a.O. [Fn. 28]). In Leipzig wird zwar ein Studierender zum ständigen Mitglied der Kommission gewählt; er nimmt sein Amt jedoch nur dann wahr, wenn ein studentisches Mitglied der Universität betroffen ist (§ 8 Abs. 2 der Satzung [Fn. 12]). 27 Die Kommission der Universität Erfurt besteht aus 3 Professoren und einem weiteren promovierten Mitglied der Universität sowie „einer Person mit Befähigung zum Richteramt, die nicht Mitglied oder Angehöriger der Universität Erfurt sein muß" (§ 3
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Der Ombudsmann hat in der Kommission zumeist nur eine beratende Stimme 28 . Es gibt aber auch Fälle, in denen der Ombudsmann der Kommission überhaupt nicht oder aber mit vollem Stimmrecht angehört. Man kann darüber streiten, welche dieser drei Varianten den Vorzug verdient. Ist der Ombudsmann - beratendes oder gar stimmberechtigtes - Mitglied, besteht die Möglichkeit, daß er kraft seines in dem voraufgehenden Verfahren gewonnenen Wissens die Kommission dominiert. Andererseits wird die Kommission u.U. von wichtigen Informationen abgeschnitten, wenn der Ombudsmann „vor der Tür" bleiben muß. Bei Abwägung der Vor- und Nachteile spricht wohl am meisten für die von der HRK vorgeschlagenen Lösung. Die Kommissionsmitglieder werden überwiegend nicht von der Hochschulleitung (Präsident, Rektor), sondern von dem höchstrangigen Beschlußgremium (Senat) bestellt. Die Kommissionsmitglieder sollten in keinem Fall der Hochschulleitung angehören, weil diese ggf. über Sanktionen zu entscheiden hat, wenn die Kommission (oder der Ombudsmann) Fehlverhalten feststellt. Die Kommissionsmitglieder müssen sachlich unabhängig sein. Ihnen dürfen also von keiner Seite Weisungen erteilt werden. Ihnen dürfen weder aus der Zugehörigkeit zu der Kommission noch aus ihrem Abstimmungsverhalten Voroder Nachteile entstehen. Eine Abwahl vor Ablauf der Wahlperiode ist nur aus wichtigem Grund zulässig.
Abs. 2 Buchst, a Satz 2 des Ethikkodex der Universität Erfurt zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis). Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 der Satzung der Universität Freiburg (Fn. 23) besteht der Untersuchungsausschuß der Universität aus 5 Mitgliedern, „von denen mindestens zwei von außerhalb der Universität Freiburg kommen müssen". Eines dieser externen Mitglieder, der die Befähigung zum Richteramt haben muß, führt den Vorsitz (§ 7 Abs. 1 Satz 3). 28 So beispielsweise § 8 Nr. 2 der Regeln der Tierärztlichen Hochschule Hannover (Fn. 25); § 8 Abs. 2 der Regeln zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis und Verfahren bei Verdacht auf wissenschaftliches Fehlverhalten für die TU Clausthal; § 9 Abs. 3 Satz 1 der Grundsätze der Universität Bielefeld (Fn. 12); § 3 Abs. 2 Buchst, a Satz 3 des Ehrenkodex' der Universität Erfurt (Fn. 27); § 6 Abs. 4 Satz 2 der Richtlinien der Universität Erlangen-Nürnberg zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis; Richtlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis und zum Umgang mit wissenschaftlichem Fehlverhalten an der Universität Karlsruhe (TH) unter „Organisatorische Strukturen"; Nr. 8 der Richtlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis und zum Umgang mit wissenschaftlichem Fehlverhalten an der Universität Konstanz; § 8 Abs. 2 Satz 1 der Leipziger Satzung (Fn. 12); I I I der Richtlinien zum Verfahren im Umgang mit wissenschaftlichem Fehlverhalten an der Universität Mannheim; Einzelregelung 8 der Richtlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis und zum Umgang mit wissenschaftlichem Fehlverhalten an der Universität Osnabrück; Abschnitt I I Nr. 2.3 Abs. 1 Satz 6 der Regeln zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis an der Universität Potsdam; Nr. 7 Abs. 3 der Ulmer Satzung (Fn. 12).
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IV. Das Untersuchungsverfahren Das Untersuchungsverfahren besteht aus zwei Abschnitten: Zunächst ist der Ombudsmann mit der Frage, ob wissenschaftliches Fehlverhalten vorliegt, befaßt. Erst danach und längst nicht in allen Fällen setzt sich das Verfahren vor der Kommission fort 29 . Bevor hierauf des Näheren eingegangen wird, bedarf es der Klärung, welche Rechtsnatur das Untersuchungsverfahren aufweist, insbesondere ob es ein Verwaltungsverfahren im Sinne des § 9 VwVfG ist. Denn nur wenn das der Fall ist, sind viele Vorschriften des Verwaltungsverfahrensgesetzes unmittelbar anwendbar. Ob das Untersuchungsverfahren als Verwaltungsverfahren qualifiziert werden kann, ist wiederum davon abhängig, ob es auf den Erlaß eines Verwaltungsaktes abzielt, d.h. ob die Feststellung des Ombudsmanns oder der Kommission, der Beschuldigte habe sich eines wissenschaftlichen Fehlverhaltens schuldig gemacht, ein Verwaltungsakt ist.
1. Rechtsnatur des UntersuchungsVerfahrens und der Feststellung wissenschaftlichen Fehlverhaltens, Anwendbarkeit des VwVfG § 9 Satz 1 VwVfG definiert das Verwaltungsverfahren als die nach außen wirkende Tätigkeit der Behörden, die auf die Prüfung der Voraussetzungen, die Vorbereitung und den Erlaß eines Verwaltungsaktes oder auf den Abschluß eines öffentlich-rechtlichen Vertrages gerichtet ist. Das wirft zunächst die Frage auf, ob der Ombudsmann und die Kommission Behörden sind. Behörden im Sinne des Verwaltungsverfahrensgesetzes sind Stellen, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehmen (§ 1 Abs. 4 VwVfG). Unter einer Stelle versteht man eine vom Wechsel der in ihr tätigen Personen unabhängige, organisatorisch selbständige Einrichtung, der Zuständigkeiten zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung übertragen worden sind 30 .
29
Hartmann (Fn. 2), S. 124, stellt die Behauptung auf, die Zweistufigkeit sei verfassungsrechtlich geboten. So fordere das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zunächst einmal die Zuständigkeit einer Einzelperson (Ombudsmann). Denn das Verhältnismäßigkeitsprinzip verlange, den Eingriff in die Rechte der Betroffenen so gering wie zur Erreichung des Zwecks nötig zu halten. Erforderlich sei aber nur das Tätigwerden durch eine Einzelperson, welche darüber hinaus zur Geheimhaltung zu verpflichten sei. Da die Wissenschaftsfreiheit jedoch verlange, daß alle wissenschaftsrelevanten Entscheidungen einem Gremium mit entsprechendem Sachverstand überlassen werden, sei auf der zweiten Verfahrensstufe ggf. eine Kommission mit der entsprechenden Fragestellung zu betrauen. Das ist schlicht abwegig. 30 Laubinger, in Ule/Laubinger, Verwaltungsverfahrensrecht, 4. Aufl., 1995 (mit Nachtrag 1998), S. 72 (§ 9 Rn. 5).
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Herkömmlicherweise sind die staatlichen Hochschulen Körperschaften des öffentlichen Rechts und zugleich staatliche Einrichtungen 31. Sie sind keine Behörden, aber sie haben Behörden, nämlich die Hochschulverwaltung. Diese ist - ähnlich wie die Gemeindeverwaltung - kein Konglomerat von Behörden, sondern eine einzige Verwaltungsbehörde, die unter der Leitung des Präsidenten, des Rektors oder des Kanzlers steht32. Der Ombudsmann und die Kommission sind lediglich Teile dieser Einheitsverwaltung. Daran ändert nichts der Umstand, daß sie von Weisungen freigestellt sind. Als eigenständige Behörden wären sie erst dann anzusehen, wenn sie durch förmliches Gesetz konstituiert und mit eigenen Zuständigkeiten ausgestattet würden, was bisher nicht geschehen ist. Wenngleich Ombudsmann und Kommission keine eigenständigen Behörden sind, partizipieren sie jedoch an der Behördeneigenschaft der Hochschulverwaltung. Die Frage, ob das Ombudsmann- und das Kommissionsverfahren Verwaltungsverfahren im Sinne von § 9 VwVfG sind, ist nur dann zu bejahen, wenn diese Verfahren auf den Erlaß eines Verwaltungsakts abzielen. Die Kommission stellt das Verfahren ein, wenn sie ein Fehlverhalten für nicht erwiesen hält. Hält sie hingegen ein Fehlverhalten für erwiesen, legt sie das Ergebnis ihrer Untersuchung der Hochschulleitung mit einem Vorschlag zum weiteren Verfahren vor (С IV 2 e der HRK-Empfehlung). Damit stellt sich die Frage, ob die Feststellung wissenschaftlichen Fehlverhaltens einer Person ein (feststellender) Verwaltungsakt im Sinne von § 35 VwVfG ist. Eine behördliche Feststellung hat nur dann die Qualität eines Verwaltungsaktes33, wenn sie andere Behörden bindet, denn anderenfalls fehlt ihr die von § 35 Satz 1 VwVfG verlangte Regelung, die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet sein muß. Daran aber mangelt es hier 34 : Die Feststellung des Ombudsmanns oder der Kommission bindet rechtlich weder die Hochschulleitung, der gegenüber die Feststellung getroffen wird, noch andere universitäre oder staatliche Organe, z.B. den Dekan des Fachbereichs, in dem der Betroffene tätig ist, die Staatsanwaltschaft oder die Straf- und die Zivilgerichte 35 . Gleiches gilt für die Empfehlung für das weitere Verfahren, die die Kommission der Hochschulleitung gegenüber abgeben soll; auch sie ist - wie schon die Benen31
So z.B. § 6 Abs. 1 Satz 1 HochSchG Rheinland-Pfalz. Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 3. Aufl., 2004, S. 410 (Rn. 556-558). Nach dem HochSchG Rheinland-Pfalz leitet der Präsident die Hochschule (§ 79 Abs. 1 Satz 1), der Kanzler die Hochschulverwaltung (§ 83 Abs. 1 Satz 1). 33 BVerwGE 46, 356 ff., 357; BVerwGE 14, 323 ff. 34 Dies verkennt Hartmann (Fn. 2), S. 252 ff. 35 In diesem Sinne auch BVerwG (E 102, 304, 307): Die Feststellungen und Beschlüsse der vom Dekan eingesetzten „ad-hoc-Kommission" seien keine Verwaltungsakte, „denn nach dem erklärten Willen der Kommission sollte ihnen keine verbindliche Rechtswirkung (§ 35 HVwVfG) zukommen". 32
Die Untersuchung von Vorwürfen wissenschaftlichen Fehlerhaltens
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nung indiziert - nicht bindend. Maßnahmen mit Regelungscharakter treffen wenn überhaupt - erst die Hochschulleitung und andere universitäre oder staatliche Organe. Das wiederum hat zur Konsequenz, daß diejenigen Vorschriften des Verwaltungsverfahrensgesetzes, die auf Verwaltungsakte zugeschnitten sind, auf das Ombudsmann- und das Kommissionsverfahren nicht unmittelbar, sondern allenfalls entsprechend anwendbar sind. Der Rückgriff auf das Verwaltungsverfahrensgesetz liegt um so näher, als das Untersuchungsverfahren gewisse Parallelen zum Disziplinarverfahren 36 aufweist und die in den letzten Jahren erlassenen Disziplinargesetze des Bundes und der Länder zur Auffüllung von Lücken auf die Verwaltungsverfahrensgesetze (und nicht mehr wie zuvor auf die Strafprozeßordnung) verweisen 37. Dabei darf man freilich nicht außer acht lassen, daß die Vorschriften der Verwaltungsverfahrensgesetze des Bundes und der Länder nur subsidiär gelten, d.h. von Spezialvorschriften verdrängt werden (§ 1 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1, jeweils letzter Satzteil, und die entsprechenden Bestimmungen der Landesverwaltungsverfahrensgesetze) 38. Verdrängende Kraft haben aber nur Rechtsvorschriften, also förmliche Gesetze, Rechtsverordnungen und Satzungen39, nicht dagegen auch bloße Verwaltungsvorschriften, zu denen die meisten der von den Hochschulen beschlossenen Bestimmungen zur Regelung des Untersuchungsverfahrens zu rechnen sind. Vorschriften, die auch für das Kommissionsverfahren gelten, können die universitären Grundordnungen enthalten, die als Satzungen erlassen werden 40.
36 Das BVerwG (E 102, 304, 308) hebt einerseits hervor, bei der Prüfung, ob ein Hochschullehrer seine Forschungsfreiheit möglicherweise mißbraucht hat, gehe es nicht um Disziplinarmaßnahmen, andererseits verlangt es, die Anforderungen an ein solches Verfahren sollten sich an denen eines förmlichen Disziplinarverfahrens orientieren (a.a.O. S. 315). 37 Siehe etwa § 3 Bundesdisziplinargesetz vom 9. 7. 2001 (BGBl. I S. 1510), § 21 Landesdisziplinargesetz Rheinland-Pfalz vom 2. 3. 1998 (GVB1. S. 29). 38 Zur Subsidiarität der Verwaltungsverfahrensgesetze siehe Ule, in: Ule/Laubinger (Fn. 30), S. 50 ff. (§ 8 Rn. 4). 39 Das Untersuchungsverfahren haben durch Satzung geregelt die FU Berlin (Fn. 23) sowie die Universitäten Freiburg (Fn. 23), Leipzig (Fn. 12), Potsdam (Fn. 28), Regensburg und Ulm (Fn. 12). Siehe auch Fn. 40. 40 Die Grundordnung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz vom 8. 9. 2004 enthält Vorschriften über das Erfordernis qualifizierter Mehrheiten (§ 4) sowie den Ausschluß von Verfahrenshandlungen wegen Besorgnis der Befangenheit (§ 5). § 8 Abs. 2 Nr. 2 regelt die Amtszeit des studentischen Vertreters in der Kommission. Und § 61 enthält Bestimmungen zur „Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis in Forschung und Lehre gemäß § 4 Abs. 2 HochSchG". Durch § 61 Abs. 1 hat sich die Universität verpflichtet, (1.) Vorkehrungen gegen wissenschaftliches Fehlverhalten zu treffen, (2.) Regelungen für eine zügige Aufklärung von Verdachtsfällen zu schaffen und (3.) die ihr angehörenden Wissenschaftler zu verpflichten, die vom Senat verabschiedeten Leitlinien
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2. Das Ombudsmann-Verfahren Das vom Ombudsmann durchzuführende Untersuchungsverfahren kann hier nur gestreift werden. Es gelten weitgehend dieselben Grundsätze, wie sie nachfolgend für das Kommissionsverfahren dargestellt werden. Der Ombudsmann wird allenfalls in seltenen Ausnahmefällen aus eigenem Antrieb tätig, wozu er durchaus befugt ist. Fast stets geht die Initiative von einer anderen Person aus, die wissenschaftliches Fehlverhalten beobachtet zu haben glaubt; sie wird üblicherweise als Informant bezeichnet. Wird der Verdacht wissenschaftlichen Fehlverhaltens an den Ombudsmann herangetragen, ist er verpflichtet, dem nachzugehen; es gilt nicht das Opportunitäts-, sondern das Legalitätsprinzip 41. Der Ombudsmann hat mehrere Funktionen: Zum einen soll er Ansprechpartner (Anlaufstelle) sein für Personen, die meinen, wissenschaftliches Fehlverhalten beobachtet zu haben oder gar selbst davon betroffen zu sein. Diese Personen soll der Ombudsmann darüber aufklären, ob das beobachtete Verhalten als Fehlverhalten zu qualifizieren ist, und sie bezüglich ihres weiteren Verhaltens beraten. Zum anderen soll der Ombudsmann zwar prüfen, ob tatsächlich ein Fehlverhalten vorliegt, sich dabei jedoch auf eine „Plausibilitätsprüfung" beschränken (C I I der HRK-Empfehlungen). Was damit gemeint ist, ist unklar. Möglicherweise soll diese der juristischen Terminologie fremde Ausdrucksweise besagen, daß der Ombudsmann eine Schlüssigkeitsprüfung anstellen, d.h. ohne eigene Sachverhaltsermittlung entscheiden soll, ob der Sachvortrag des Informanten - als wahr unterstellt - den Schluß zuläßt, daß wissenschaftliches Fehlverhalten vorliegt. Das würde bedeuten, daß dem Ombudsmann eigene Tatsachenerhebungen verwehrt sind 42 . Darauf, daß diese Interpretation zutrifft, deutet С IV 1 b der HRK-Empfehlungen hin: „Der Ombudsmann übermittelt Anschuldigungen wissenschaftlichen Fehlverhaltens unter Wahrung der Vertraulichkeit zum Schutz des Informanten und der Betroffenen
zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis zu beachten. § 61 Abs. 3 sieht die Bestellung eines Ombudsmanns vor. „Das Nähere, insbesondere die Stellvertretung der Ombudsperson, deren konkrete Aufgabenstellung sowie ihre Unterstützung durch eine vom Senat zu bestellende Kommission regelt der Senat" (Abs. 3 Satz 3). 41 42
Muckel (Fn. 2), S. 279 f.
So Muckel (Fn. 2), S. 280: Die Erhebung von Beweismitteln und deren Würdigung sei Aufgabe der Kommission. Die Tätigkeit des Ombudsmannes müsse sich daher darauf beschränken, die Verdachtsmomente und Vorwürfe kritisch zu hinterfragen, nötigenfalls zu konkretisieren und potentielle Beweismittel auszumachen. Er habe keine vollständige Sachverhaltsaufklärung zu leisten, insbesondere in der Regel keine Anhörung des von den Vorwürfen Betroffenen durchzuführen, da auch diese Aufgabe der Kommission zugewiesen sei. Muckel schränkt dies dann allerdings ein für die Fälle, daß den Vorwürfen persönliche Differenzen zugrundeliegen oder „die Schwelle zur Untersuchungskompetenz der Kommission nicht erreicht wird".
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der von der Hochschulleitung bestellten Kommission, die die Angelegenheit unter-
sucht." Man wird schwerlich behaupten können, daß eine solche den Ombudsmann knebelnde Regelung sinnvoll ist. Gleiches gilt für die sich unmittelbar anschließende Regelung (С IV 1 с Satz 1), wonach dem vom Verdacht des Fehlverhaltens Betroffenen „unverzüglich von der Kommission (sie!) unter Nennung der belastenden Tatsachen und Beweismittel Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben" werden muß. Diese Regelung geht offenkundig davon aus, daß der Beschuldigte erstmals von der Kommission von den Anschuldigungen erfährt. Damit wird dem Ombudsmann die Möglichkeit genommen, auf eine Aufklärung etwaiger Mißverständnisse und eine gütliche Einigung der Kontrahenten, des Informanten und des von ihm Beschuldigten, hinzuwirken 43 . Die Praxis sieht denn auch anders aus: Der Ombudsmann versucht, den Sachverhalt soweit wie möglich aufzuklären, Mißverständnisse auszuräumen und die Kontrahenten miteinander zu versöhnen, indem der Angeschuldigte etwa dazu bewogen wird, sich zu seinem Fehlverhalten zu bekennen und den Schaden, den er dem Informanten zugefügt hat, wiedergutzumachen. Dabei darf allerdings wissenschaftliches Fehlverhalten nicht „unter den Teppich gekehrt" werden. Eine gütliche Beilegung ist dann ausgeschlossen, wenn das Fehlverhalten nicht nur dem Informanten, sondern (auch) anderen Personen (z.B. Patienten) oder der Allgemeinheit Schaden zugefügt hat oder zuzufügen droht. Aus der geschilderten Konzeption der HRK-Empfehlungen ergibt sich ferner, daß der Ombudsmann weder feststellen darf, daß dem Beschuldigten wissenschaftliches Fehlverhalten vorzuwerfen ist, noch daß dies nicht der Fall ist 44 . Plakativ formuliert: der Ombudsmann darf weder verurteilen noch freisprechen45. Auch das ist - jedenfalls in dieser Rigorosität - wenig sinnvoll. Warum soll der Ombudsmann nicht befugt sein, die Feststellung zu treffen, daß dem Ange-
43 D 1 der VerfO Uni Mainz legt ihrem Ombudsmann glücklicherweise keine derartigen Fesseln an. Er hat bei seiner Entscheidung über den Fortgang des Verfahrens nicht nur die Stellungnahme des Betroffenen, sondern auch „gegebenenfalls eingeholte gutachterliche Aussagen" zu berücksichtigen, ist also zu Beweiserhebungen befugt.
44 45
So auch Muckel (Fn. 2), S. 281.
Anders - aber wenig klar - D 1 VerfO Uni Mainz: Nach Eingang der Stellungnahme des Betroffenen bzw. nach fruchtlosem Ablauf der ihm gesetzten Frist solle der Ombudsmann „nach Konkretheit und Plausibilität der Vorwürfe innerhalb von zwei Wochen die Entscheidung darüber treffen, ob das Vorprüfungsverfahren zu beenden ist, weil sich der Verdacht nicht hinreichend bestätigt hat bzw. ein vermeintliches Fehlverhalten vollständig aufgeklärt ist. ... Im anderen Fall leitet er den Vorgang für das förmliche Untersuchungsverfahren an die Kommission weiter."
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schuldigten nichts vorzuwerfen ist? Für diesen Fall muß dem Informanten allerdings die Möglichkeit offenstehen, die Kommission anzurufen, falls er der Meinung ist, dieser „Freispruch" sei verfehlt. Andererseits: Warum soll der Ombudsmann gehindert sein, wissenschaftliches Fehlverhalten festzustellen, wenn der Angeschuldigte dieses unumwunden einräumt? Welchen Sinn macht in derartigen Fällen die Einschaltung der Kommission? Auch sie kann nichts anderes tun, als das Fehlverhalten feststellen und eine Empfehlung für oder gegen die Verhängung von Sanktionen durch die Hochschulleitung aussprechen, und dazu ist auch der Ombudsmann imstande. Unterschiedlicher Meinung kann man hingegen darüber sein, ob der Ombudsmann Fehlverhalten auch dann soll feststellen können, wenn der Angeschuldigte es bestreitet, oder ob der Ombudsmann die Sache in derartigen Fällen stets soll an die Kommission abgeben müssen. Ich neige der erstgenannten Alternative zu mit der Maßgabe, daß der vom Ombudsmann „Verurteilte" das Recht haben muß, die Kommission anzurufen. Außerdem sollte der Ombudsmann berechtigt sein, eine Sache wegen der besonderen Schwere der Verfehlung oder wegen der besonderen Schwierigkeit der Rechts- oder Sachlage an die Kommission zu überweisen.
3. Das Verfahren der Kommission a) Der Ablauf des Kommissions verfahrens
nach den HRK-Empfehlungen
Das Verfahren der Kommission zerfällt nach der von den meisten Hochschulen rezipierten Konzeption der HRK in zwei Abschnitte: die Vorprüfung (С IV 1) und die förmliche Untersuchung (С IV 2).
aa) Unklar ist, ob schon die Anrufung des Ombudsmanns durch den Informanten zur Vorprüfung zählt 46 . Das Vorprüfungsverfahren der Kommission wird dadurch in Gang gesetzt, daß der Ombudsmann die „Anschuldigungen" der Kommission übermittelt (С IV 1 b). Diese gibt dem Betroffenen unverzüglich Gelegenheit zur Stellungnahme, wobei die belastenden Tatsachen und Beweismittel mitzuteilen sind (С IV 1 с Satz 1). Der Name des Informanten
46 Nach der VerfO Uni Mainz obliegt die Voruntersuchung ausschließlich dem Ombudsmann (D 1), während die förmliche Untersuchung ausschließlich von der Kommission durchzuführen ist (D 2). Auch die Zweiteilung des Kommissionsverfahrens in Vorprüfung und förmliche Untersuchung hat die Mainzer Regelung nicht übernommen. Beide Abweichungen von der HRK-Empfehlung sind zu begrüßen. Siehe dazu auch weiter unten sub IV 3 b aa.
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darf ohne dessen Einverständnis in dieser Phase dem Betroffenen jedoch nicht offenbart werden (С IV 1 с Satz 4) 47 . Nach Eingang der Stellungnahme des Betroffenen bzw. nach Ablauf der ihm gesetzten Einlassungsfrist, die zwei Wochen beträgt (С IV 1 с Satz 3 4 8 ), trifft die Kommission innerhalb von ebenfalls zwei Wochen die Entscheidung darüber, ob - das Vorprüfungsverfahren zu beenden ist, „weil sich der Verdacht nicht hinreichend bestätigt bzw. ein vermeintliches Fehlverhalten vollständig aufgeklärt hat", oder ob - „eine Überleitung in das förmliche Untersuchungsverfahren zu erfolgen hat" (С IV 1 d). Dem Betroffenen und dem Informanten sind die Gründe für die Entscheidung der Kommission mitzuteilen. Ist der Informant mit der Einstellung des Prüfungsverfahrens nicht einverstanden, „hat er innerhalb von zwei Wochen das Recht auf Vorsprache in der Kommission, die ihre Entscheidung noch einmal prüft" (С IV 1 e). Was mit „Vorsprache" - ebenfalls ein der Rechtssprache fremder Terminus - gemeint ist, bleibt im Dunkeln.
bb) Ebenso wie die Vorprüfung ist auch die förmliche Untersuchung nur lückenhaft ausgestaltet (С IV 2): Der Kommissionsvorsitzende hat der Hochschulleitung die Eröffnung des förmlichen Untersuchungsverfahrens mitzuteilen (С IV 2 a). Die Kommission kann Fachgutachter und Experten als weitere Mitglieder mit beratender Stimme hinzuziehen (С IV 2 b). Die Kommission berät in nichtöffentlicher mündlicher Verhandlung (С IV 2 с Satz 1). Sie prüft in freier Beweiswürdigung, ob wissenschaftliches Fehlverhalten vorliegt (С IV 2 с Satz 2). Dem Beschuldigten ist in geeigneter Weise Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Auf seinen Wunsch ist er mündlich anzuhören; dazu kann er eine Person seines Vertrauens als Beistand hinzuziehen (С IV 2 с Sätze 3 und 4). „Dies gilt auch für sonstige anzuhörende Personen." (С IV 2 с Satz 5). Ob dieser Satz nur den zweiten Teil des Satzes 4 (Hinzuziehung eines Beistandes) oder alle voraufgehenden Regelungen des Buchst, с in Bezug nimmt, ist unklar.
47 Diese Regelung geht davon aus, daß der Beschuldigte nicht weiß, wer ihn eines wissenschaftlichen Fehlverhaltens verdächtigt. Das entspricht jedenfalls nach den Erfahrungen des Ombudsmanns der Universität Mainz nicht der Wirklichkeit: In praktisch allen Fällen - abgesehen von anonymen Anzeigen - wußte der Verdächtigte schon bei der ersten Kontaktaufnahme durch den Ombudsmann, wer den Verdacht geäußert hatte. 48
Diese Frist ist nach den Erfahrungen des Ombudsmanns der Universität Mainz aus unterschiedlichen Gründen häufig zu kurz.
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Die Identität des Informanten soll auch in dieser Phase des Verfahrens nach Möglichkeit geheimgehalten werden. Jedoch: „Den Namen des Informierenden offenzulegen kann erforderlich werden, wenn der Betroffene sich andernfalls nicht sachgerecht verteidigen kann, weil beispielsweise die Glaubwürdigkeit und Motive des Informierenden im Hinblick auf den Vorwurf möglichen Fehlverhaltens zu prüfen sind." (С IV 2 d) Mit der Anonymität ist es jedenfalls dann vorbei, wenn das förmliche Untersuchungsverfahren abgeschlossen ist. Denn alsdann hat der Ombudsmann (nicht die Kommission) „alle diejenigen Personen, die in den Fall involviert sind (waren)", zu „identifizieren" 49 . Darüber hinaus hat der Ombudsmann „diejenigen Personen, insbesondere die Nachwuchswissenschaftler und Studierenden, die unverschuldet in Vorgänge wissenschaftlichen Fehlverhaltens verwickelt wurden, in bezug auf eine Absicherung ihrer persönlichen und wissenschaftlichen Integrität" zu beraten (С IV 2
h). Die Entscheidung der Kommission regelt С IV 2 e wie folgt: - „Hält die Kommission ein Fehlverhalten für nicht erwiesen, wird das Verfahren eingestellt." - „Hält die Kommission ein Fehlverhalten für erwiesen, legt sie das Ergebnis ihrer Untersuchung der Hochschulleitung mit einem Vorschlag zum weiteren Verfahren, auch in bezug auf die Wahrung der Rechte anderer, zur Entscheidung und weiteren Veranlassung vor. Andernfalls wird das Verfahren eingestellt." In allen Fällen muß die Kommission die wesentlichen Gründe für ihre Entscheidung sowohl dem Betroffenen als auch dem Informanten unverzüglich schriftlich mitteilen. С IV 2 g betont, daß ein „internes Besch werde verfahren" gegen die Entscheidung der Kommission nicht gegeben ist. Das „weitere Verfahren" liegt in den Händen der Hochschulleitung: Hat die Kommission wissenschaftliches Fehlverhalten festgestellt, obliegt es der Hochschulleitung zu prüfen, ob „zur Wahrung der wissenschaftlichen Standards der Hochschule" weitere Maßnahmen erforderlich sind. Die vom Senat der MPG am 14.11.1997 beschlossene „Verfahrensordnung bei Verdacht auf wissenschaftliches Fehlverhalten" enthält als Anlage 2 einen mehrseitigen Katalog von arbeitsrechtlichen, akademischen, zivilrechtlichen und strafrechtlichen „Konsequenzen", die als Sanktionen für wissenschaftliches Fehlverhalten eingesetzt werden können. Diese Zusammenstellungen sind von den universitären Regelwerken zumeist wörtlich übernommen worden 50. Sie sind bloße Hinweise auf die Rechtslage und haben keinerlei rechtliche Bedeutung. 49
Siehe dazu auch Muckel (Fn. 2) S. 281. In der ursprünglichen Fassung der HRK-Empfehlungen (Schreiben vom 1.1. 1998 an die Rektoren und Präsidenten der Hochschulen) findet sich als Fn. 9 nur eine „abgespeckte" Zusammenstellung arbeits-, zivil- und strafrechtlicher Konsequenzen. 50
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b) Rekonstruktion des Untersuchungsverfahrens im Lichte der Rechtsdogmatik
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der Kommission
Im Folgenden wird dargestellt werden, daß die von der HRK vorgeschlagenen Verfahrensregeln in mannigfaltiger Hinsicht nicht zu befriedigen vermögen, weil sie unpraktikabel und lückenhaft sind. Außerdem soll gezeigt werden, welche Vorschriften des Allgemeinen Verwaltungsrechts für das Untersuchungsverfahren maßgebend sind.
aa) Verwaltungsverfahren jeder Art sollen so einfach, zweckmäßig und zügig wie möglich durchgeführt werden (§ 10 VwVfG). Gegen dieses Gebot verstößt die Unterscheidung zwischen Vorprüfung und förmlicher Untersuchung, für die ein sachlicher Grund nicht ersichtlich ist. Das Kommissionsverfahren bildet eine Einheit 51 .
bb) Beteiligt am Untersuchungsverfahren ist sicherlich der Beschuldigte, und zwar in entsprechender Anwendung von § 13 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG. Ob auch der Informant Beteiligter ist, erscheint hingegen sehr zweifelhaft. In Betracht kommt die analoge Anwendung der Nrn. 1 und 4 des § 13 Abs. 1 VwVfG. Nach Nr. 1 ist der Antragsteller Beteiligter. Antragsteller gibt es nur in Antragsverfahren 52. Ein solches ist das Untersuchungsverfahren nicht: Der Informant regt das Verfahren lediglich an. Er ist demzufolge kein Antragsteller und infolgedessen auch nicht Beteiligter im Sinne von § 13 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG. Der Informant wäre Beteiligter im Sinne von § 13 Abs. 1 Nr. 4 VwVfG, wenn er gemäß § 13 Abs. 2 VwVfG zum Untersuchungsverfahren hinzugezogen würde. Die Zulässigkeit der Hinzuziehung setzt - mindestens - voraus, daß die rechtlichen Interessen des Betreffenden durch den Ausgang des Verfahrens berührt werden können. Das jedoch dürfte zu verneinen sein. Der Informant mag zwar ein ideelles oder ein wirtschaftliches Interesse am Ausgang des Untersuchungsverfahrens haben (z.B. wenn er geltend macht, der Beschuldigte habe sein Urheberrecht verletzt), aber dieses Interesse ist nicht rechtlich geschützt und deshalb kein rechtliches Interesse im Sinne der genannten Vor-
51
Zu der vorzugswürdigen Regelung der Universität Mainz siehe Fn. 46. Die Behauptung von Deutsch (Fn. 2), VersR 2003, 1197 ff., 1198 sub III 2 a, jedes Verfahren bedürfe eines Antragstellers, trifft nicht zu. Ebenfalls unrichtig ist seine Annahme, als Antragsgegner im Untersuchungsverfahren komme die Person oder Institution in Betracht, der wissenschaftliches Fehlverhalten vorgeworfen wird (a.a.O. S. 1200 sub I I I 2 am Ende). Als „natürliche Verfahrensbeteiligte" bezeichnet er den Präsidenten oder den Rektor, den Dekan und die Vorstände von Institutionen; ihre Stellungnahme sei einzuholen (a.a.O. S. 1200 sub I I I 2 b); davon kann nicht die Rede sein. 52
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schrift; denn das Untersuchungsverfahren dient nicht der Durchsetzung seiner Interessen, sondern der Wahrung des öffentlichen Interesses, nämlich der Feststellung, ob wissenschaftliches Fehlverhalten vorliegt. Angesichts dessen erscheint es zweifelhaft, ob der Informant in entsprechender Anwendung des § 13 Abs. 2 Satz 1 VwVfG zum Verfahren hinzugezogen werden kann. Der Beschuldigte kann sich in dem Verfahren in entsprechender Anwendung von § 14 VwVfG von einem Bevollmächtigten vertreten lassen sowie zu Verhandlungen und Besprechungen mit einem Beistand erscheinen 53.
cc) Sowohl der Ombudsmann als auch die Kommission haben den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln; es gilt also der Untersuchungsgrundsatz (§ 24 VwVfG) 5 4 . Beide bestimmen Art und Umfang der Ermittlungen und sind an Beweisanträge nicht gebunden. Sie bedienen sich der Beweismittel, die sie nach pflichtgemäßem Ermessen zur Ermittlung des Sachverhalts für erforderlich halten (§ 26 VwVfG analog)55. Probleme kann die Vernehmung von Zeugen und die Erlangung von Sachverständigengutachten bereiten. Denn gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 VwVfG besteht eine Verpflichtung zur Aussage und zur Erstattung von Gutachten nur dann, wenn sie durch Rechtsvorschrift vorgeschrieben ist. Da eine solche Rechtsvorschrift nicht existiert, können Ombudsmann und Kommission Zeugen nur dann einvernehmen, wenn diese sich aus freien Stücken damit einverstanden erklären, und Gutachten von Sachverständigen nur dann anfordern, wenn diese zur Erstattung bereit sind 56 . Dies gilt zumindest für Hochschulfremde. Erwägenswert, aber nicht unproblematisch ist der Gedanke, daß Angehörige der betreffenden Hochschule kraft ihrer beamten- oder arbeitsrechtlichen Treuepflicht zur Zeugenaussage bzw. zur Gutachtenerstattung verpflichtet sind. Anders als im gerichtlichen und im förmlichen Verwaltungsverfahren im Sinne der § 63 ff. VwVfG (§ 66 Abs. 2) gilt im einfachen Verwaltungsverfahren der Grundsatz der Parteiöffentlichkeit der Beweisaufnahme nicht 57 . Der Beschuldigte hat demzufolge keinen Anspruch darauf, bei Beweiserhebungen, etwa bei der Einvernahme von Zeugen, zugegen zu sein und Fragen zu stellen 58 . Es steht also im pflichtgemäßen Ermessen (des Ombudsmanns bzw.) der Kommission, ob und in welchem Umfang (er) sie dem Beschuldigten Gelegen53 54 55
So auch Deutsch, a.a.O. (Fn. 52), S. 1200 sub III 2 d. Zutreffend Deutsch, a.a.O. (Fn. 52), S. 1201 sub III 4 c. Siehe dazu auch Muckel (Fn. 2), S. 280 und 294, sowie Deutsch, a.a.O. (Fn. 52), S.
1201 sub 6. 56
Das betont auch Muckel (Fn. 2), S. 294.
57
Kopp/Ramsauer,
VwVfG, 8. Aufl., München 2003, § 26 Rn. 8. A.M.: ohne Be-
gründung Schulze-Fielitz (Fn. 2). S. 116. 58 So auch Muckel (Fn. 2), S. 294.
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heit geben will, an der Beweisaufnahme teilzunehmen und Zeugen sachdienliche Fragen zu stellen. Damit er sich angemessen verteidigen kann, ist ihm das Ergebnis von Beweisaufnahmen mitzuteilen und Gelegenheit zu geben, dazu Stellung zu nehmen. Eine große Hilfe bei der Ermittlung des Sachverhalts kann die Amtshilfe bieten. Ein Anspruch auf Amtshilfe steht dem Ombudsmann und der Kommission allerdings nur im Außenverhältnis zu, d.h. gegen die Behörden anderer Rechtsträger, nicht aber auch gegen andere Stellen der „eigenen" Hochschule, etwa gegen die Hochschulleitung, die Dekanate oder Institute. Es versteht sich jedoch von selbst, daß die Organe eines Rechtsträgers einander Hilfe leisten müssen, auch wenn die §§ 4 bis 8 VwVfG insoweit nicht anwendbar sind.
dd) Eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips stellt § 28 VwVfG dar, der die Anhörung Beteiligter vorschreibt. Sowohl der Ombudsmann als auch die Kommission müssen demzufolge dem Beschuldigten Gelegenheit geben, sich zu den Vorwürfen zu äußern, bevor sie eine ihn beschwerende Feststellung treffen. Ob der Beschuldigte von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, ist grundsätzlich seine Sache. Von Hochschulangehörigen muß man jedoch erwarten dürfen, daß sie zur Aufklärung des Sachverhalts beitragen, sofern sie sich dadurch nicht selbst belasten. Das Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs umschließt grundsätzlich das Recht auf Information über die Vorwürfe und deren tatsächliche Grundlagen: Dem Beschuldigten muß mitgeteilt werden, was ihm vorgeworfen wird und auf welche Tatsachen sich die Vorwürfe stützen, z.B. welche Personen welche Aussagen gemacht haben. Es stellt sich die Frage, ob diese Grundsätze auch im Ombudsmann- und Kommissionsverfahren Geltung beanspruchen. Hat der Beschuldigte einen Anspruch darauf, daß ihm vor Abgabe seiner Stellungnahme mitgeteilt wird, welche Personen ihn „angezeigt" und ihn belastende Angaben gemacht haben? Zugunsten einer Offenbarungspflicht spricht, daß der Beschuldigte sich möglicherweise nicht angemessen verteidigen kann, ohne die Identität des Informanten oder der Auskunftspersonen zu kennen. Andererseits besteht die Gefahr, daß Hochschulangehörige, die wissenschaftliches Fehlverhalten beobachten, sich nicht getrauen, sich - sei es als Informant, sei es als Zeuge - dem Ombudsmann oder der Kommission zu offenbaren, weil sie Repressalien befürchten; dies gilt in besonderem Maße, wenn wissenschaftliche Mitarbeiter den Verdacht haben, daß ihr „Chef" sich nicht so verhält, wie gute wissenschaftliche Praxis es verlangt. Da an der Aufdeckung und Aufklärung wissenschaftlichen Fehlverhaltens ein eminentes öffentliches Interesse besteht, wird es sich nicht vermeiden lassen, den Informationsanspruch des Beschuldigten einzuschränken.
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ее) Das gleiche Problem erhebt sich in Hinblick auf das Recht auf Akteneinsicht. § 29 Abs. 1 Satz 1 VwVfG gewährt den Verfahrensbeteiligten grundsätzlich einen Anspruch auf Einsichtnahme in die das Verfahren betreffenden Akten, soweit (nicht wenn!) deren Kenntnis zur Geltendmachung oder Verteidigung ihrer rechtlichen Interessen erforderlich ist. Kann der Beschuldigte59 in entsprechender Anwendung dieser Vorschrift verlangen, daß der Ombudsmann bzw. der Ausschuß ihm Einblick in die Akten gestattet?60 Dem könnte der Abs. 2 des § 29 entgegenstehen. Danach kann die Behörde die Gewährung der Akteneinsicht u.a. dann ablehnen, wenn durch sie die ordnungsgemäße Erfüllung der behördlichen Aufgaben beeinträchtigt würde. Ob diese Gefahr besteht, erscheint fraglich. Ebenfalls zweifelhaft ist, ob die Akten von vornherein und vollen Umfangs ihrem Wesen nach geheimhaltungsbedürftig sind. Die völlige oder teilweise Versagung der Akteneinsicht kann jedoch gerechtfertigt sein, um die Identität des Informanten oder von Zeugen zu schützen. Dazu bedarf es einer Prüfung im konkreten Fall.
ff) Keine Bedenken bestehen gegen die entsprechende Anwendung der §§88 bis 93 VwVfG auf die Kommission, sofern nicht spezielle Rechtsvorschriften jene Bestimmungen verdrängen. Die Verfahrensordnungen bezeichnen die Kommissionssitzung als „mündliche Verhandlung". Das ist ein sprachlicher Mißgriff, denn eine mündliche Verhandlung ist dadurch gekennzeichnet, daß sich zwei oder mehr Parteien gegenüberstehen und Anträge stellen, über die alsdann ein unbeteiligter Dritter (in der Regel ist dies ein gerichtlicher Spruchkörper) entscheidet. So verhält es sich bei den hier in Rede stehenden Kommissionssitzungen jedoch nicht: Weder der Beschuldigte noch jemand anderer (etwa der Informant oder der Ombudsmann) stellt Anträge. Vielmehr wird dem Beschuldigten lediglich Gelegenheit gegeben, sich gegen die erhobenen Vorwürfe wissenschaftlichen Fehlverhaltens zur Wehr zu setzen. Außerdem kann der Ausschuß in der Sitzung Beweis erheben, beispielsweise durch die Einvernahme von Zeugen, zu denen auch der Informant gehören kann.
59 Ein Akteneinsichtsrecht des Informanten scheidet von vornherein aus, weil er nicht Beteiligter ist (s.o. IV 3 b cc). 60 Schmidt-Aßmann (Fn. 2), NVwZ 1998, 1225 ff., 1234, bejaht diese Frage, allerdings mit dem Vorbehalt: sofern nicht zwingende Gründe des Informationsschutzes entgegenstehen. Schulze-Fielitz (Fn. 2), S. 116 f., schreibt, die Akteneinsicht könne unmittelbar oder analog nach § 29 VwVfG - erzwungen werden; dabei wird allerdings nicht deutlich, ob er ein Akteneinsichtsrecht erst nach Abschluß des Verfahrens oder schon während dessen Anhängigkeit befürworten will. Die Verfahrensgrundsätze des Ombudsmans der DFG bestimmen unter IV 2: „Akteneinsicht wird aus Gründen des Vertrauensschutzes nicht gewährt. Der Ombudsman kann von diesem Grundsatz abweichen, wenn alle Beteiligten der Gewährung einer Akteneinsicht zustimmen."
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Die Beweiserhebung durch Kollegialorgane ist eine aufwendige Angelegenheit. Deshalb bestimmt § 96 Abs. 2 VwGO, daß das Gericht in geeigneten Fällen schon vor der mündlichen Verhandlung durch eines seiner Mitglieder als beauftragten Richter Beweis erheben kann. § 87 Abs. 3 VwGO ermächtigt den Vorsitzenden und den Berichterstatter, einzelne Beweise zu erheben, sofern dies zur Vereinfachung der Verhandlung vor dem Gericht sachdienlich und von vornherein anzunehmen ist, daß das Gericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag. § 87 Abs. 1 VwGO verpflichtet den Vorsitzenden des Gerichts oder den Berichterstatter ferner, schon vor der mündlichen Verhandlung alle Anordnungen zu treffen, die notwendig sind, um den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen. Anders als im Verwaltungsprozeß gilt der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweiserhebung im Verwaltungsverfahren nicht 61 . Um so weniger Bedenken bestehen deshalb dagegen, die soeben für das verwaltungsgerichtliche Verfahren skizzierten Durchbrechungen des Unmittelbarkeitsprinzips auf das Verwaltungsverfahren zu übertragen. Sofern nichts anderes vorgeschrieben ist, ist der Kommissionsvorsitzende deshalb befugt, schon vor der Kommissionssitzung Beweise zu erheben oder durch ein anderes Mitglied der Kommission erheben zu lassen62. Es steht ferner nichts entgegen, wenn die Kommission vom Ombudsmann erhobene Beweise verwertet 63. Das hindert die Kommission nicht daran zu beschließen, in der Sitzung eine derartige Beweiserhebung zu wiederholen.
gg) Die mündliche Verhandlung schließt in der Regel ab mit der Entscheidung darüber, ob sich der Beschuldigte eines wissenschaftlichen Fehlverhaltens schuldig gemacht hat oder nicht. Letzterenfalls wird das Untersuchungsverfahren eingestellt. In der Praxis hat sich gezeigt, daß es wünschenswert ist, wenn die Kommission die Möglichkeit hat, zwischen mehreren Graden des Fehlverhaltens zu differenzieren, etwa zwischen „einfachem" Fehlverhalten, „Fehlverhalten in einem minderschweren Fall" und „besonders schwerwiegendem Fehlverhalten". Stellt die Kommission Fehlverhalten fest, soll sie der Hochschulleitung eine Sanktion oder deren mehrere vorschlagen, wenn sie dies für angebracht hält. An diesen Vorschlag ist die Hochschulleitung ebensowenig rechtlich gebunden
61
Ule, in: Ule/Laubinger (Fn. 30), S. 230 (§ 23 Rn. 3-5). Ebenso für das Untersu-
chungsverfahren Muckel (Fn. 2), S. 294. 62 So auch Muckel (Fn. 2), S. 294. 63
Ebenso Muckel, a.a.O. (Fn. 62).
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wie an die Feststellung wissenschaftlichen Fehl Verhaltens; sie sollte sich jedoch nur aus besonders schwerwiegenden Gründen über sie hinwegsetzen.
hh) Verwaltungsakte bedürfen gemäß §§ 41, 43 VwVfG zu ihrer Wirksamkeit der Bekanntgabe an den Betroffenen. Da die Feststellung wissenschaftlichen Fehl Verhaltens kein Verwaltungsakt ist, sind diese Vorschriften hier jedenfalls nicht unmittelbar anwendbar. Zumindest Art. 19 Abs. 4 GG fordert, daß die Feststellung dem Betroffenen von dem Ombudsmann bzw. von der Kommission mitgeteilt wird; denn anderenfalls ist er nicht in der Lage, gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen. § 37 Abs. 2 Satz 2 VwVfG räumt dem durch einen mündlichen Verwaltungsakt Betroffenen das Recht ein, unverzüglich eine schriftliche Bestätigung zu verlangen, falls er hieran ein berechtigtes Interesse hat. Diese Vorschrift dürfte analog anwendbar sein. Das bedeutet: Teilt der Kommissionsvorsitzende dem Beschuldigte nach der „mündlichen Verhandlung" mit, die Kommission habe festgestellt, daß er sich fehlverhalten habe, kann er verlangen, daß ihm dies auch schriftlich und mit einer Begründung versehen (§ 39 VwVfG analog) attestiert wird; denn ein berechtigtes Interesse daran wird man ihm - insbesondere mit Blick auf den gerichtlichen Rechtsschutz - nicht absprechen können. Hingegen steht dem Informanten nach Allgemeinem Verwaltungsrecht weder ein Anspruch auf Bekanntgabe der Feststellung noch auf schriftliche Bestätigung zu; denn er ist weder Adressat der Feststellung noch Beteiligter des Untersuchungsverfahrens 64. Gleichwohl sehen die Verfahrensordnungen zulässigerweise - vor, daß die Entscheidung der Kommission nebst den wesentlichen Gründen nicht nur dem Betroffenen, sondern auch dem Informanten mitzuteilen sind (С IV 2 f HRK-Empfehlungen, D 2 Abs. 6 Satz 1 VerfO Uni Mainz).
ii) Gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 VwVfG muß ein schriftlicher oder ein schriftlich bestätigter Verwaltungsakt schriftlich begründet werden, sofern nicht die Voraussetzungen des Abs. 2 vorliegen. Auch diese Vorschrift ist so sehr Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips, der das gesamte Verwaltungshandeln determiniert, daß sie hier analog anwendbar ist 65 .
64
Anderer Meinung ist möglicherweise Deutsch (Fn. 2), VersR 2003, 1197 ff., 1198 sub I I 2, der fordert, der Verfahrensabschluß nebst einer Begründung müsse „den Parteien" mitgeteilt werden. 65 Die Mitteilung einer Begründung verlangt auch Deutsch, a.a.O. (Fn. 64).
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c) Zuständigkeit von Ombudsmann und Kommission aa) Die Personalhoheit jeder Hochschule beschränkt sich auf ihre eigenen Angehörigen 66. Nur deren wissenschaftliches Fehlverhalten können der Ombudsmann und die Kommission feststellen 67. Probleme werfen die Fälle auf, in denen der Verdächtige aus dem Dienst der Hochschule ausgeschieden und möglicherweise nun in einer anderen Hochschule tätig ist. Hier stellt sich zum einen die Frage, ob die Hochschule, in deren Dienst der Verdächtige sich möglicherweise fehlverhalten hat, die Zuständigkeit einbüßt, sobald er aus deren Dienst ausscheidet. Wegen der bereits früher erwähnten Nähe des Untersuchungs- zum Disziplinarverfahren bietet es sich an, einen Blick auf die einschlägigen Regelungen des Disziplinarrechts zu werfen. Danach erlischt die Disziplinarbefugnis des Dienstherrn mit dem Ausscheiden des Beamten aus dem Beamtenverhältnis, es sei denn er träte in den Ruhestand68. Tritt er in den Dienst eines anderen Dienstherrn, geht die Disziplinargewalt auf diesen über, und zwar auch in Hinblick auf Dienstpflichtverletzungen, die der Beamte bei seinem früheren Dienstherrn begangen hat; d.h. der neue Dienstherr ist auch für die Ahndung solcher Dienstvergehen zuständig, die der Beamte im Dienste seines früheren Dienstherrn begangen hat (siehe etwa § 2 Abs. 2 BDG 6 9 ). Überträgt man dies auf die hier erörterte Problematik, so ergibt sich: Scheidet ein Hochschulangehöriger aus dem Dienst der Hochschule, in deren Dienst er sich fehlverhalten hat, verliert diese die Befugnis, das Fehlverhalten festzustellen. Tritt der Betreffende in den Dienst einer anderen Hochschule, kann diese jenes Fehlverhalten feststellen und sanktionieren. Probleme wirft ferner der Fall auf, daß an einem Fehlverhalten mehrere Personen beteiligt sind, die an verschiedenen Hochschulen beschäftigt sind 70 . In diesem Falle sind die Ombudsmänner und Kommissionen aller betreffenden Hochschulen zuständig (positiver Kompetenzkonflikt). Da das Tätig werden mehrerer Institutionen nicht nur vermeidbare Kosten verursacht, sondern auch zu unterschiedlichen Ergebnissen führen kann, was beides tunlichst vermieden
66
Was im folgenden in Bezug auf Bedienstete der Hochschule ausgeführt wird, gilt sinngemäß auch für andere Personen, die in oder an der Hochschule tätig sind, wie z.B. Studierende, Doktoranden, Privatdozenten und Lehrbeauftragte. 67 So auch Deutsch (Fn. 4), ZRP 2003, 159 ff., 163 sub 10., und VersR 2003, 1197
ff., 1198 sub II 1 a; Schulze-Fielitz (Fn. 4), S. 118.
68 Weiß, Disziplinarrecht des Bundes und der Länder - Kommentar, Berlin 2005 (Losebl.), § 1 Rn. 43. 69 Siehe dazu Weiß (Fn. 68), § 2 Rn. 33; Köhler/Ratz, BDG - Bundesdisziplinargesetz und materielles Disziplinarrecht, 3. Aufl., Frankfurt am Main 2003, § 2 Rn. 4 und 5. 70 Keine wirkliche Lösung dieses Problems bietet Hartmann (Fn. 2), S. 121 f.
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werden sollte, empfiehlt sich ein Rückgriff auf § 3 Abs. 2 Satz 1 V w V f G . Danach entscheidet die Behörde, die zuerst mit der Sache befaßt worden ist 7 1 .
bb) Eine allumfassende Kompetenz zur Untersuchung von Vorwürfen wissenschaftlichen Fehlverhaltens nimmt die D F G für sich in Anspruch. Unter I 3 und 4 der „Verfahrensgrundsätze des Ombudsmans der D F G " heißt es: „3. Der Ombudsman der DFG steht allen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unabhängig davon zur Verfügung, ob in der Angelegenheit ein Bezug zur DFG besteht oder nicht. Er versteht sich als neutraler Ansprechpartner. Um seinen Aufgaben nachgehen zu können, prüft und bewertet der Ombudsman das Vorgetragene, ist aber keine Ermittlungsinstanz zur Feststellung von wissenschaftlichem Fehl verhalten. 4. Bei begründetem Anfangsverdacht wissenschaftlichen Fehlverhaltens gibt der Ombudsman der DFG eine ihm vorgetragene Angelegenheit mit DFG-Bezug an den Unterausschuß für Fehlverhaltensangelegenheiten der DFG ab. Ebenso und auch, wenn kein Bezug zur DFG besteht, kann der Ombudsman bei begründetem Anfangsverdacht wissenschaftlichen Fehlverhaltens die Durchführung eines förmlichen Untersuchungsverfahrens bei anderen betroffenen Institutionen der Wissenschaft anregen." Woher die D F G ihre Legitimation hierfür bezieht, sagt sie nicht. I n ihrer Abhandlung, die aus einem von der D F G finanzieren Forschungsprojekt hervorgegangen ist, stellen Hartmann
und Fuchs die schon fast ehrenrührige Be-
hauptung auf, die „lokal ansässigen Einrichtungen" bürgten „nicht unbedingt für eine unparteiische, interessenneutrale Streitschlichtung und einen fairen Umgang mit den Fehlverhaltensvorwürfen" 7 2 , und schlagen vor: „Um der Willkür nicht Tür und Tor zu öffnen, sollte für alle Forschungseinrichtungen dieselbe Institution zuständig sein. Diesbezüglich könnte beispielsweise auf die DFG als die zentrale Selbstverwaltungsorganisation der Wissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland und ihre Gremien zurückgegriffen werden. Insofern sind die Forschungseinrichtungen aufgefordert, ihre Verfahrensordnungen zu ändern." Nach Auffassung von Schulze-Fielitz 7 3 ist das Angebot des DFGOmbudsmanns, auch jenseits von Anträgen und Mittelvergaben durch die D F G als neutraler Ansprechpartner zu Verfügung zu stehen, „schon als Begleit- oder Vorfeldbetreuung der Forschungsförderung, aber auch aus der allgemeinen Aufgabe der Wissenschaftsförderung zu rechtfertigen". Deutsch 7 4 hingegen
71
Dagegen meint Schulze-Fielitz (Fn. 2), S. 118, falls die unterschiedlichen Gremien sich nicht einigen könnten, solle das sachnähere oder ortskundigere Gremium entscheiden, obwohl nach aller Erfahrung gerade diese Nähe zu Distanzverlusten führen und damit zu Zweifeln an der Selbstreinigungskraft Anlaß geben könne. Sonderlich überzeugend ist das nicht. 72 Hartmann/Fuchs (Fn. 2), WissR 36 (2003), 204 ff., 208; fast wortgleich Hartmann (Fn. 2), S. 122 f. 73 Schulze-Fielitz (Fn. 2), S. 118. 74 Deutsch (Fn. 2), VersR 2003, 1197 ff., 1198 sub I I 1 a.
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meint, die Kommission der DFG dürfe nur tätig werden, soweit die DFG betroffen ist. Das sei im Wesentlichen der Fall, soweit es sich um Anträge an die DFG handelt bzw. sie Mittel gewährt hat. Das erscheint sachgerecht. Daß sich die DFG aus eigener Machtvollkommenheit als Gralshüterin guter wissenschaftlicher Praxis und Oberzensorin wissenschaftlichen Fehlverhaltens aufspielt, wirkt anmaßend.
V. Rechtsschutz Da die Feststellung wissenschaftlichen Fehlverhaltens kein Verwaltungsakt ist, kann der Betroffene weder mit dem Widerspruch (§§ 68 ff. VwGO) noch mittels Anfechtungsklage (§§ 42, 113 VwGO) ihre Aufhebung begehren. In Betracht kommen jedoch eine allgemeine Leistungs- oder eine Feststellungsklage75 zum Verwaltungsgericht. Eine allgemeine Leistungsklage könnte gerichtet werden auf die Verurteilung der Hochschule (oder des Ombudsmanns bzw. der Kommission), die Feststellung wieder aufzuheben 76. Ein dahingehender Anspruch des zu Unrecht Beschuldigten kann sich aus dem allgemeinen Folgenbeseitigungsanspruch ergeben. Dem Informanten hingegen stehen keine verwaltungsrechtlichen Rechtsbehelfe zu Gebote, falls der Ombudsmann oder die Kommission feststellen, daß dem Beschuldigten wissenschaftliches Fehlverhalten nicht nachgewiesen werden kann. Denn durch diese Feststellung wird der Informant nicht in seinen Rechten, sondern allenfalls in nicht rechtlich geschützten (ideellen, wirtschaftlichen oder sonstigen) Interessen verletzt. Wenn er meint, er sei von dem Beschuldigten in seinen Rechten (z.B. seinen Urheberrechten) verletzt worden, kann er sich an die dafür zuständigen ordentlichen Gerichten wenden.
VI. Das Erfordernis einer gesetzlichen Regelung des Untersuchungsverfahrens Das Untersuchungsverfahren universitärer Organe ist bisher, soweit ersichtlich, fast ausschließlich durch Beschlüsse akademischer Gremien (insbesondere der Senate) geregelt, die nur in Ausnahmefällen den Charakter von Satzungen („Ordnungen") haben. Deshalb drängt sich die Frage auf, ob das dem Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes gerecht wird. Das ist dann zu verneinen, wenn die Feststellung wissenschaftlichen Fehlverhaltens einen Grundrechtseingriff darstellt.
75
So auch das BVerwG (E 14, 323 ff., 327). In diesem Sinne auch BVerwG, Urteil vom 11. 12. 1996 (Fn. 3), BVerwGE 102, 304 ff., 306 f. 76
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In Betracht kommt ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht 77 (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. A r t 1 Abs. 1 G G ) 7 8 , die Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) und die Berufsfreiheit (Art 12 GG) des Betroffenen. Die Feststellung wissenschaftlichen Fehlverhaltens übt - auch ohne daß von der Hochschulleitung oder anderen Stellen Sanktionen verhängt werden - Druck auf den Betroffenen aus, sich bei wissenschaftlicher Betätigung künftig anders zu verhalten. Das Bekanntwerden der Feststellung kann schwerwiegende Konsequenzen für den Betroffenen haben, bis hin zur Beendigung der wissenschaftlichen Karriere. Sie kann seinen akademischen und gesellschaftlichen Ruf ruinieren. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, welche Folgen für den Betroffenen (und möglicherweise auch für seine Familienangehörigen) es hat, wenn - wie dies i m Juli 2005 geschehen ist - durch Presse und Internet folgendes bekanntgegeben wird (alle hier abgekürzten und verfremdeten Namen und Ortsbezeichnungen sind i m Original i m Klartext angegeben!): „Hauptausschuss der DFG erteilt Rüge an Professor X Wissenschaftliches Fehlverhalten nachgewiesen Nr. 37 5. Juli 2005 Der Hauptausschuss der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) hat im Rahmen seiner heutigen Sitzung dem Leiter der Abteilung Y des Ζ Universitätsklinikums, Herrn Professor X, wegen der festgestellten Verstöße gegen die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis eine Rüge erteilt. Darüber hinaus wird Herr X für die Dauer von acht Jahren von der Antragsberechtigung bei der DFG, während dieser Zeit auch von einer Tätigkeit als Gutachter der DFG ausgeschlossen. Außerdem wird ihm für dieselbe Zeitdauer das aktive wie passive Wahlrecht für die Organe und Gremien der DFG aberkannt. In den Jahren ab 1996 wurde in der Abteilung Y des Ζ Universitätsklinikums eine Studie zur Behandlung von N durchgeführt. Direktor dieser Abteilung war und ist Professor X, der von 1995 bis in das Jahr 2003 auch als gewählter Fachgutachter für die DFG tätig war. Die Behandlung von 17 Patienten wurde einer Veröffentlichung der Forschungsergebnisse in der Zeitschrift N zugrunde gelegt. Die Publikation litt, wie sich in der Folgezeit herausstellte, an einer Reihe erheblicher Mängel und wurde deshalb im September 2003 von den Autoren zurückgezogen. Der Ausschuss der DFG zur Untersuchung von Vorwürfen wissenschaftlichen Fehlverhaltens hat sich auf der Grundlage der Ergebnisse der Ζ Untersuchungen mit den gegenüber Herrn X erhobenen Vorwürfen wissenschaftlichen Fehl Verhaltens befasst. Er kommt danach zu dem Ergebnis, dass hinsichtlich der genannten Publikation in N von schwerwiegendem wissenschaftlichen Fehlverhalten auszugehen ist. Nach Auf-
77
Das durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht umfaßt u.a. das Recht auf Ehre (BVerwGE 82, 76 ff., 78 m.w.N. auch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts). 78 Muckel (Fn. 2), S. 292, meint, der Schutz der wissenschaftlichen Reputation werde von Art. 5 Abs. 3 GG mitumfaßt, so daß daneben für Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG kein Raum bleibe.
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fassung des Ausschusses sind die aufgeführten Mängel als Falschangaben zu bewerten. Für diese Mängel ist Herr X sowohl als Senior-Autor der Arbeit und Leiter dieser klinischen Studie als auch als Direktor der Y Abteilung, an der die Studie durchgeführt wurde, verantwortlich. Als gewählter Fachgutachter wirkte Herr X in besonders wichtiger Funktion an der Verwirklichung des Satzungszwecks der DFG - Auswahl der besten wissenschaftlichen Projekte im Wettbewerb - mit." Damit stellt sich die Frage, ob die Feststellung wissenschaftlichen Fehlverhaltens und/oder deren öffentliche Bekanntmachung in die oben genannten Grundrechte des Betroffenen eingreift. Diese Frage ist deshalb schwer verläßlich zu beantworten, weil erhebliche Unsicherheit darüber herrscht, welche Anforderungen an einen Grundrechtseingriff zu stellen sind 7 9 . Nach „klassischem" Verständnis liegt ein Grundrechtseingriff nur dann vor, wenn kumulativ vier Voraussetzungen erfüllt sind: (1)Finalität: Die Maßnahme muß die Beeinträchtigung des grundrechtlichen Schutzbereichs bezwecken. Ausgeschieden werden dadurch unbeabsichtigte Einwirkungen. (2) Unmittelbarkeit: Die Maßnahme muß die Beeinträchtigung des grundgesetzlichen Schutzbereichs bewirken, ohne daß eine Handlung des Betroffenen oder eines Dritten dazwischentritt. (3)Imperativität: Die Maßnahme muß auf eine verbindliche Anordnung gerichtet sein und ggf. zwangsweise durchgesetzt werden können. (4) Rechtsakt: Die Maßnahme muß - anders als eine Tathandlung (Realakt, schlichter Hoheitsakt) - nicht auf einen (nur) tatsächlichen Erfolg, sondern auf einen Rechtserfolg gerichtet sein, wie dies bei einem Gesetz (im materiellen Sinne), einem Richterspruch oder einem Verwaltungsakt der Fall ist 80 .
79 Die Literatur dazu ist nahezu unüberschaubar. Eingehende Äußerungen dazu finden sich u.a. bei Bethge, Der Grundrechtseingriff, VVDStRL 57 (1998), 7 ff., 37 ff.; Eckhoff\ Der Grundrechtseingriff, Köln/Berlin/Bonn/München 1992; Roth, Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum, Berlin 1994; Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2 - Allgemeine Lehren der Grundrechte, München 1994, S. 75 ff. (§ 78 Grundrechtseingriff und Grundrechtsbetroffenheit); Weber-Dürler, Der Grundrechtseingriff, VVDStRL 57 (1998), 57 ff. Siehe ferner Dreier, in: Dreier (Hrsg), GG, 2. Aufl., Tübingen 2004, Vorb. Rn. 123 ff.; Epping, Grundrechte, 2. Aufl., Berlin/Heidelberg 2004, S. 141 ff. (Rn. 345 ff.); Herdegen, in:Maunz/Dürig, GG, München, Losebl., Stand: 45. ErgLfg./Aug. 2005, Art. 1 Abs. 3 Rn. 39 f.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 6. Aufl., München 2002, Vorb. vor Art. 1 Rn. 24 ff.; von Münch, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., München 2000, Vorb. Art 1-19, Rn. 51 a; Pieroth/Schlink, Grundrechte - Staatsrecht II, 19. Aufl., Heidelberg 2004; Sachs, Verfassungsrecht II - Grundrechte, Berlin/Heidelberg 2000, S. 104 ff. (A 8); ders., in: Sachs (Hrsg.), GG, 3. Aufl., München 2003, Vor Art. 1 Rn. 78 ff.; Schmidt, Grundrechte, 8. Aufl., Grasberg bei Bremen 2006, S. 58 ff. (Rn. 143 ff.); Starck, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, Bonner Grundgesetz, 4. Aufl., München 1999, Art. 1 Abs. 3Rn. 231. 80
Das BVerfG (E 105, 279 ff., 300 - Osho-Bewegung) drückt dies so aus: Unter einem Grundrechtseingriff werde herkömmlicherweise „ein rechtsförmiger Vorgang verstanden, der unmittelbar und gezielt (final) durch ein vom Staat verfügtes, erforderlichenfalls zwangsweise durchzusetzendes Ge- oder Verbot, also imperativ, zu einer Verkürzung grundrechtlicher Freiheiten führt".
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Geht man - wie es hier geschieht81 - davon aus, daß die Feststellung die Stellen, die für die Verhängung von Sanktionen zuständig sind, nicht bindet und demzufolge kein Verwaltungsakt ist, so ist sie kein Rechtsakt, sondern ein Realakt. Außerdem fehlt der Feststellung die Imperativität, weil sie nicht zwangsweise durchgesetzt werden kann. Die Feststellung wissenschaftlichen Fehl Verhaltens und deren öffentliche Bekanntgabe sind mithin keine Eingriffe im Sinne des klassischen Eingriffsbegriffs. Nach heute wohl einhelliger Auffassung sind, um einen wirksamen Grundrechtsschutz zu gewährleisten, über den klassischen Eingriff hinaus auch andere Einwirkungen auf Grundrechte als Eingriffe anzusehen (sog. erweiterter 2 Eingriffsbegriff ). Dies gilt insbesondere für die sog. faktischen Grundrechtseingriffe, bei denen gerade nicht durch einen Rechtsakt, sondern durch einen Realakt auf die grundrechtlich geschützte Sphäre des Bürgers eingewirkt wird 83 . Einen derartigen faktischen Grundrechtseingriff wird man jedenfalls dann annehmen müssen, wenn die Feststellung wissenschaftlichen Fehlverhaltens öffentlich bekanntgemacht wird, wie es die DFG getan hat. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung steht seit langem fest, daß eine öffentliche negative Äußerung (z.B. Warnungen vor Personen, Organisationen oder Produkten) staatlicher Stellen einen Grundrechtseingriff darstellen kann 84 . Diese Voraus-
81
Siehe oben IV 1 b. Über dessen genaue Konturen herrscht in der Judikatur Konfusion, in der Literatur Uneinigkeit, wie Dreier (Fn. 79) konstatiert. Ähnlich Starck (Fn. 79); Sachs, in: Sachs (Hrsg.), GG (Fn. 79), Rn. 83. 83 So führt das BVerfG in seinem Osho-Beschluß (Fn. 80) aus, unter der Geltung des Grundgesetzes sei der Grundrechtsschutz nicht auf Eingriffe im herkömmlichen Sinne begrenzt, sondern auf faktische und mittelbare Beeinträchtigungen ausgedehnt worden; zugleich sei der Gesetzesvorbehalt ausgedehnt worden. Schon zuvor hat das Gericht mehrfach reine Realakte als Grundrechtseingriffe qualifiziert, so z.B. das Lesen von Briefen sowie das Abhören und Mitschneiden von Ferngesprächen der Bürger durch staatliche Stellen als Eingriffe in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, Art. 10 GG (BVerfGE 67, 157 ff., 179; BVerfGE 85, 386 ff., 398 f.; BVerfGE 100, 313 ff., 366), den Einsatz einer Trennscheibe zur Verhinderung körperlicher Kontakte bei Besuchen von Ehepartnern in der JVA als Eingriff in den Schutz der Ehe, Art. 6 Abs. 1 GG (BVerfGE 89, 315 ff., 324). 84 Grundlegend die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE 82, 76 ff.: Warnung der Bundesregierung vor Jugendsekten; BVerwGE 87, 37 ff.: Veröffentlichung einer Liste aller in Deutschland festgestellten mit Diethylenglykol kontaminierten Weine durch das Bundesgesundheitsministerium; BVerwGE 90, 112 ff.: finanzielle Förderung einer Vereinigung, die öffentlich vor der Osho-Bewegung warnt, durch die Bundesregierung). Eingehend Heintzen, Staatliche Warnungen als Grundrechtsproblem, VerwArch. 81 (1990), 532 ff. Auf derselben Linie liegt die neueste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Dieses führt in Ls. 1 zu seinem Beschluß vom 24. 5. 2005 (Fn. 83) aus, der Hinweis im Verfassungsschutzbericht eines Landes auf den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen eines Presseverlages komme einem Eingriff in die 82
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Setzung liegt auch dann vor, wenn der Ombudsmann oder die Untersuchungskommission bekanntgibt, jemand habe sich wissenschaftlich fehlverhalten. Problematischer ist, ob auch schon die bloße Feststellung wissenschaftlichen Fehlverhaltens als Grundrechtseingriff zu werten ist. Hierfür spricht, daß nach höchstrichterlicher Rechtsprechung mißbilligende Äußerungen als Grundrechtseingriffe anzusehen sind. So hat das Bundesverfassungsgericht 85 die „mißbilligende Belehrung" eines Rechtsanwalts durch die Rechtsanwaltskammer als Eingriff in das durch Art. 12 GG geschützte Recht auf freie Advokatur angesehen. Dabei ließ es der Senat als irrelevant dahinstehen, ob das Rügeschreiben die Merkmale eines Verwaltungsakts erfülle 86 , und führte aus, das Schreiben sei unvereinbar mit Art. 12 GG u.a. dann, wenn für mißbilligende Äußerungen die erforderliche gesetzliche Grundlage fehle 87. Anders formuliert: mißbilligende Äußerungen der Rechtsanwaltskammer gegenüber einem Kammermitglied bedürfen einer gesetzlichen Grundlage; fehlt diese, ist die mißbilligende Äußerung rechtswidrig, mag sie auch sachlich gerechtfertigt sein. Unter Berufung auf diesen Beschluß entschied das Bundesverwaltungsgericht 88 , die einem Rechtsbeistand durch den Amtsgerichtspräsidenten erteilte Rüge, er habe durch überhöhte Gebührenberechnung seine Pflichten verletzt, sei „geeignet, ihn in seinem Recht auf freie Berufsausübung und in seiner Berufsehre zu beeinträchtigen" 89. Es liegt nahe, die in diesen Entscheidungen entwickelten Gedanken auf die hier erörterte Konstellation zu übertragen: Auch die Feststellung wissenschaftlichen Fehlverhaltens ist eine mißbilligende Äußerung, eine Rüge, und sie ist je nach der konkreten Fallgestaltung - geeignet, in die Wissenschaftsfreiheit, in die Berufsehre und/oder die Berufsausübungsfreiheit des Betroffenen einzugreifen. Denn sie zielt darauf ab, den Betroffenen zu veranlassen, das mißbilligte Verhalten künftig zu unterlassen. Das Ansehen des Betroffenen kann dadurch erheblichen Schaden nehmen, daß die Feststellung nicht nur dem Betroffenen, sondern auch dem Informanten bekanntgegeben wird, der nicht selten ein Interesse daran hat, die Nachricht weiterzuverbreiten. Soll eine an die Grundrechte gebundene Institution - wie die staatlichen Hochschulen - zu einer derartigen Feststellung ermächtigt werden, so bedarf es dazu eines förmlichen Gesetzes, das zumindest die grundlegenden Fragen regelt. Eine Orientierungshilfe für die Beantwortung der Frage, in welchem Maße Pressefreiheit gleich und bedürfe deshalb der Rechtfertigung durch ein allgemeines Gesetz im Sinne von Art. 5 Abs. 2 GG. 85 BVerfGE 50, 16 ff. Zustimmend Roth (Fn. 79), S. 282 f. 86 A.a.O. (Fn. 85), S. 31. 87 A.a.O. (Fn. 85), S. 29. 88 Urteil vom 13. 1. 1983, Buchholz 355 Nr. 36 = DÖV 1983, 730 f. 89 A.a.O. (Fn. 88), S. 4.
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der parlamentarische Gesetzgeber selbst die Regelungen treffen muß, bietet die Facharzt-Entscheidung des BVerfG 90 . In ihr führte das Gericht aus, im Bereich des Facharztwesens müßten jedenfalls die „statusbildenden" Normen 91 in den Grundzügen durch ein förmliches Gesetz festgelegt werden, während die weitere Ausgestaltung dem Satzungsgeber92 überlassen werden könne. Überträgt man die in der Entscheidung entwickelten Überlegungen auf die hier in Rede stehende Problematik, so wird es erforderlich sein, daß die Länder in den Grundzügen gesetzlich festlegen, - unter welchen Voraussetzungen die Hochschulen befugt sein sollen, wissenschaftliches Fehlverhalten festzustellen und diese Feststellung öffentlich bekanntzumachen; das impliziert eine Definition des Begriffs wissenschaftliches Fehl verhalten; - welche Organe die Hochschulen zur Untersuchung von Vorwürfen wissenschaftlichen Fehlverhaltens einsetzen sollen und wie sich diese Organe zusammensetzen sollen, - wie das Untersuchungsverfahren ablaufen soll, - daß die Hochschulen das Nähere durch Satzung (Ordnung) bestimmen. Es bietet sich an, diese Vorschriften in die Hochschulgesetze einzustellen. Gewisse Ansätze dazu sind bereits vorhanden. So bestimmt § 4 Abs. 2 HochSchG Rheinland-Pfalz: „Die Hochschulen fördern eine auf Ethik und Redlichkeit verpflichtete wissenschaftliche Praxis in Forschung und Lehre durch ihre Mitglieder und stellen die notwendigen Mittel zur Verfügung. Die Hochschulen formulieren hierzu Regeln, die in die Lehre und die Ausbildung und Betreuung des wissenschaftlichen Nachwuchses einbezogen werden. Unbeschadet der Bestimmungen des Strafrechts und des Disziplinarrechts entwickeln sie Verfahren zum Umgang mit Vorwürfen wissenschaftlichen Fehlverhaltens."
Das wird den rechtsstaatlichen Anforderungen jedoch bei weitem nicht gerecht 93. Es bleibt also noch eine Menge zu tun.
90
BVerfGE 33, 125 ff. Zu ihnen zählte das Gericht diejenigen Regeln, welche die Voraussetzung der Facharztanerkennung, die zugelassenen Facharztrichtungen, die Mindestdauer der Ausbildung, das Verfahren der Anerkennung sowie die allgemeine Stellung der Fachärzte innerhalb des gesamten Gesundheitswesens betreffen. 92 In casu: den Ärztekammern. 93 Das Fehlen einer hinreichenden Rechtsgrundlage hat auch schon Deutsch (Fn. 2), ZRP 2003, 159 ff., 163 sub VI, gerügt. Im selben Jahr hat Rupp (Fn. 2), S. 444 f. eine satzungsrechtliche Verankerung des Untersuchungsverfahrens und eine gesetzliche Grundlage dafür angemahnt. Für eine Festlegung der Regeln guter wissenschaftlicher Praxis (sie) durch universitäre Satzungen plädiert Schmidt-Aßmann (Fn. 2), NVwZ 1998, 1225 ff., 1232. 91
Bemerkungen zum Religionsunterricht in Berlin Von Gerhard Robb ers
Die Debatte um den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen in Deutschland ist wieder neu entflammt. Hierzu trägt die muslimisch geprägte Einwanderung bei, aber auch eine neu gewachsene Aufmerksamkeit, die religiösen Fragen in der Öffentlichkeit entgegengebracht wird. Schon wegen seiner herausgehobenen Rolle als Bundeshauptstadt kommt Berlin dabei eine besondere Funktion zu. Der am 20. Februar 2006 abgeschlossene Vertrag des Landes Berlin mit der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (Evangelischer Kirchenvertrag Berlin) 1 gewährleistet evangelischen Religionsunterricht als Bestandteil der Berliner Schule in allen Bildungsgängen und Jahrgangsstufen. Das Land sichert die Erteilung des Religionsunterrichts zu. Der evangelische Religionsunterricht wird erteilt in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Evangelischen Kirche. Die Erteilung setzt die Bevollmächtigung (Vokation) voraus. Die Evangelische Kirche leistet mit dem Religionsunterricht einen Beitrag zur Erziehung und Bildung in der Berliner Schule. Land und Kirche stimmen sich bei allen den Religionsunterricht unmittelbar betreffenden Fragen miteinander ab. Der Religionsunterricht wird gemäß den für den schulischen Unterricht geltenden Bestimmungen durchgeführt. Unbeschadet dieser Vereinbarung hat das Land Berlin beschlossen, ab dem Schuljahr 2006/2007 das Fach Ethik einzuführen, das neben den von den Religionsgemeinschaften allein getragenen Religionsunterricht tritt. Das Fach Ethik soll in den Jahrgangsstufen 7 bis 10 der öffentlichen Schulen ordentliches Schulfach werden. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass das Fach „Ethik" mit zwei Unterrichtsstunden pro Woche ab dem Schuljahr 2006/2007 aufsteigend eingeführt wird, beginnend mit den siebten Klassen. Die Teilnahme ist für alle Schülerinnen und Schüler verbindlich. Ziel des Unterrichts ist es, dass sich alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit grundlegenden kulturellen und ethischen Problemen des individuellen Lebens, des gesellschaftlichen Zusammenlebens sowie mit unterschiedlichen Wert- und Sinnangeboten konstruktiv auseinander setzen.
1 Vertrag des Landes Berlin mit der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburgschlesische Oberlausitz, www.science.berlin.de/l_aktuell/inhalt/l_presse/3_kirchen/Vertragstext.pdf.
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Gerhard Robbers
In den Realschulen, Gesamtschulen und Gymnasien ist das Fach Ethik Bestandteil der Stundentafeln, die in Zusammenhang mit der Verkürzung des gymnasialen Bildungsganges auch in der Sekundarstufe I erhöht werden. In den Sonderschulen mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung" und „Lernen" wird der Ethikunterricht in den bestehenden Stundenrahmen integriert. Die Schulen sollen beim Fach Ethik mit den Trägern des Religions- und Weltanschauungsunterrichts kooperieren.
I. Religionsunterricht und staatliche Neutralität Mit dem Nebeneinander von Religionsunterricht der Religionsgemeinschaft und staatlichem Ethikunterricht stellt sich die Frage der Vereinbarkeit miteinander. Der Religionsunterricht ist gemäß Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Danach ist der Religionsunterricht in staatlicher Trägerschaft der vom Grundgesetz gewollte Regelfall in öffentlichen Schulen in der Bundesrepublik Deutschland. Der Inhalt dieses Religionsunterrichts wird dabei von den jeweiligen Religionsgemeinschaften bestimmt. Als Ausnahme hierzu sieht Art. 141 GG vor, dass Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG keine Anwendung in einem Land findet, in dem am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand. Wie das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 23.2.2000 festgestellt hat, gilt diese Ausnahme Vorschrift des Art. 141 GG in ganz Berlin 2 . Nach seinem klaren Wortlaut ist Art. 141 GG eine Ausnahme Vorschrift zu Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG. Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG bestimmt, dass der Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach der Regelfall an öffentlichen Schulen in der Bundesrepublik Deutschland sein muss. Wo diese Bestimmung nicht gilt, muss der Religionsunterricht gemäß Art. 7 Abs. 3 GG nicht ordentliches Lehrfach sein. Der Landesgesetzgeber ist in diesem Fall frei, eine andere Lösung für den Religionsunterricht vorzusehen. Bei der Bestimmung über jede Art von Religionsunterricht bleibt der Landesgesetzgeber an das Grundgesetz gebunden. Art. 141 GG befreit von der spezifischen Norm des Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG. Von den übrigen Bestimmungen des Grundgesetzes entbindet Art. 141 GG den Landesgesetzgeber nicht. Auch dies ergibt sich aus dem klaren Wortlaut des Art. 141 GG, der ausdrücklich nur von der Nichtanwendbarkeit des Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG spricht. Die Ausgestaltung des Systems eines ethisch-religiösen Unterrichts muss deshalb insbesondere die Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1, 2 GG), den Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1, 3 und 33 Abs. 3 GG), die religionsrecht2
BVerwG, NVwZ 2000, 922; a. Α. Fritz, Religionsunterricht: Berliner Sonderweg nicht mehr gerechtfertigt!, BayVBl. 2002, S. 135.
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liehen Bestimmungen des Art. 140 GG (Art. 136-139, 141 WRV i.V.m. Art. 140 GG), das Neutralitätsgebot des Grundgesetzes, das elterliche Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 GG) und die schulrechtlichen Bestimmungen (Art. 7 GG mit der Ausnahme des Art. 141 GG) der Verfassung beachten3. Weitgehend entsprechende Regelungen enthält die Berliner Verfassung. Dies gilt insbesondere für die Glaubens- und Religionsfreiheit (Art. 26 BerlVerf.), das elterliche Erziehungsrecht (Art. 12 Abs. 3 BerlVerf.), das Recht auf Bildung (Art. 20 BerlVerf.) sowie für das Recht auf Gleichbehandlung (Art. 10, 19 Abs. 2 BerlVerf.). Das Land Berlin ist zudem mit verschiedenen Religionsgemeinschaften in vertragliche Beziehungen getreten. Maßgeblich sind dabei insbesondere das Abschließende Protokoll mit der Katholischen Kirche von 19704 sowie der Evangelische Kirchenvertrag Berlin vom 20. Februar 2006, der das Abschließende Protokoll mit der Evangelischen Kirche 5 ablöst und der Staatsvertrag mit der Jüdischen Gemeinde zu Berlin 6 . Auch dieses Vertragsrecht enthält Bestimmungen über die Einführung, den Bestand und die Ausgestaltung ethischreligiösen Unterrichts. Die Gewährleistung des Religionsunterrichts in den öffentlichen Schulen ist konsequenter Ausdruck der Trennung von Staat und Kirche. Das von der Verfassung vorgesehene System der religiösen Unterweisung im Religionsunterricht verbindet den aus Art. 7 Abs. 1 GG folgenden allgemeinen und eigenständigen staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag mit den Erfordernissen staatlicher Neutralität in Religions- und Weltanschauungsfragen. Soweit im Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG eine Durchbrechung der Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften gesehen wird 7 , betrifft dies lediglich die organisatorische, technische Ebene der Unterscheidung. Schule ist mehr als bloße Vermittlungsanstalt vereinzelter Fertigkeiten. Schule bildet vielmehr die Schülerinnen und Schüler als Gesamtpersönlichkei-
3
Vgl. BVerwG, NVwZ 2000, 925. Abschließendes Protokoll über Besprechungen zwischen Vertretern des Bischöflichen Ordinariats Berlin und des Senats von Berlin über die Regelung gemeinsam interessierender Fragen vom 2. Juli 1970 mit nachfolgenden Änderungen. 5 Abschließendes Protokoll über Besprechungen zwischen Vertretern des Evangelischen Konsistoriums in Berlin (West), der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg und des Senats von Berlin über die Regelung gemeinsam interessierenden Fragen vom 2. Juli 1970 mit nachfolgenden Änderungen. 6 Staats vertrag über die Beziehungen des Landes Berlin zur Jüdischen Gemeinde zu Berlin sowie Gesetz zu diesem Staatsvertrag vom 8. Februar 1994, GVB1. 18. Februar 1994, S. 67. 7 Vgl. etwa Hömig , in: Seifert/Hömig, GG, 7. Aufl. 2003, Art. 7 Rn. 6; Pieroth , in: Jarass/Pieroth, GG, 8. Aufl. 2006, Art. 7 Rn. 8. 4
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ten auf der Grundlage der grundgesetzlichen Wertentscheidungen und erzieht sie zu gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten 8. Dabei darf der Staat die religiöse Dimension menschlicher Existenz nicht ausklammern. Täte der Staat dies, läge darin nicht zuletzt auch ein Verstoß gegen die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates, weil damit eine Entscheidung gegen die Religion als solche verbunden wäre. Überließe die Schule die religiöse Unterweisung gänzlich dem außerschulischen Bereich und wollte sie ihn aus dem Zusammenhang der Schulstunden ausklammern, sie also auf die schulfreien Nachmittags- oder Abendstunden oder auf das Wochenende abdrängen, würde sich religiöse Bildung für die Schülerinnen und Schüler als Sonderbelastung darstellen. Auch dies wäre eine Diskriminierung des Religiösen, die mit der Neutralitätspflicht des Staates in Widerspruch träte. Religion gehört zum Bestand staatlicher Bildungs- und ErziehungsVerantwortung. Mit einem gänzlichen Verzicht auf religiöse Bildung und Erziehung würde der Staat seinen eigenen Bildungs- und Erziehungsauftrag zu einem wesentlichen Teil nicht erfüllen. Er würde damit einen zentralen Zusammenhang der Persönlichkeitsbildung der Schülerinnen und Schüler ignorieren, unabhängig davon, wie sie zur Religion stehen. Die Integrationsaufgabe der öffentlichen Schule muss die unterschiedlichen Überzeugungen der Schülerinnen und Schüler aufnehmen. Diese unterschiedlichen Religionszugehörigkeiten sind gerade in einer religiös pluralen Gesellschaft wesentlicher Faktor der Gemeinschaftsbildung und staatlicher Friedenssicherung. Mit der Integration des Religionsunterrichts in die Schule kann der Staat zugleich kraft seines Aufsichtsrechts für die Wahrung der staatlichen Erziehungsziele Sorge tragen. Seine Integrations- und Friedensaufgabe verbietet ihm, Religion in die Hinterhöfe in Geheimsphären abzudrängen und so zu radikalisieren. Religiöse Bildung erschöpft sich allerdings nicht in der Aufzählung und in der von außen betrachtenden Darstellung dessen, was andere Menschen und Kulturen an religiösen Überzeugungen besitzen. Religiöse Bildung bedeutet vielmehr die Bildung der eigenen religiösen Überzeugung. Sie umfasst notwendig einen Wahrheitsanspruch. Staatliche Bildungs Verantwortung umfasst unter dieser Voraussetzung auch die Aufgabe des Staates, den Schülerinnen und Schülern ihren je eigenen Zugang zu Grundüberzeugungen und Wahrheitsfindung zu ermöglichen. Einen religiösen Wahrheitsanspruch kann der Staat in Anbetracht seiner Neutralitätspflicht 9 nicht selbst behaupten. Religiöse Wahrheit ist Sache der Einzelnen und der Religionsgemeinschaften, sie ist nicht Sache des Staates. Diesen Teil der Persönlichkeitsbildung muss der Staat des-
8 9
Vgl. BVerfGE 93, 1 (20). Vgl. bereits BVerfGE 19, 206 (216); st. Rspr.
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halb dem jeweiligen Inhalt nach den Religionsgemeinschaften und den Eltern und Erziehungsberechtigten überlassen. Deshalb wird der Religionsunterricht gemäß Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt; sie sind es, nicht der Staat, die religiösen Wahrheitsanspruch tragen. Dem Staat ist im Rahmen der Religionsfreiheit hier jede Bewertung untersagt. Der Staat gibt in der Schule kraft seiner Bildungs- und ErziehungsVerantwortung den Raum für diesen Teil der Persönlichkeitsbildung, ihren Inhalt muss er Religionsgemeinschaften und Eltern überlassen. Staatliche Neutralität und Trennung von Staat und Kirche bedeuten nicht, dass der Staat mit den Religionsgemeinschaften etwa nicht spricht oder nicht mit ihnen zusammenarbeiten dürfte; es kommt vielmehr entscheidend darauf an, dass der Staat sich nicht mit einer bestimmten religiösen oder weltanschaulichen Auffassung identifiziert und dass er nicht in Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften eingreift. Neben dieser verfassungsrechtlichen Grundlegung im Neutralitätsgebot findet der Religionsunterricht an staatlichen Schulen zudem seine innere Rechtfertigung aus der positiven Religionsfreiheit der Schüler und Schülerinnen. Religionsfreiheit ist nicht nur negativ ausgerichtet, indem sie ungerechtfertigte Eingriffe von Seiten des Staates verbietet. Religionsfreiheit ist auch positiv, indem sie den Staat dazu verpflichtet, den Raum zu schaffen, in dem die Menschen ihre Religion angemessen leben können 10 . Der Staat verpflichtet die Schülerinnen und Schüler über die Schulpflicht zum Besuch der Schule. Er verfügt damit über einen erheblichen Teil ihrer Zeit und ihrer Entfaltungsmöglichkeiten. Deshalb muss der Staat dafür Sorge tragen, dass die Schülerinnen und Schüler dabei auch ihren religiösen Bedürfnissen angemessen leben können. Endlich besitzt die grundgesetzliche Regelung ihre Legitimität aus der elterlichen Erziehungsverantwortung gemäß Art. 6 Abs. 2 GG, der der Staat soweit wie möglich Rechnung zu tragen verpflichtet ist 11 . Der konfessionelle Religionsunterricht an öffentlichen Schulen ist deshalb nicht Ausnahme, sondern Ausdruck und Ausgestaltung der Trennung von Staat und Kirche 12 .
I I . Die Möglichkeiten ethisch-religiösen Unterrichts in Berlin Der Staat darf an seinen öffentlichen Schulen ein Lehrfach einführen, das ethische Fragen zum Gegenstand hat. Dies folgt aus der eigenständigen Erzie-
10 11
Vgl. BVerfGE 32, 98 (106). Vgl. BVerfGE 93, 1 (21); 59, 360 (378); 47, 46 (75); 34, 165 (182 f.).
12 Vgl. Robbers , in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 4. Aufl. 1999, Art. 7 Rn. 114 ff.; Gröschner , in: Dreier, GG, 2000, Art. 141 Rn. 3.
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hungskompetenz des Staates. Sie ergibt sich aus Art. 7 Abs. 1 GG und aus der allgemeinen Friedenssicherungs- und Integrationsaufgabe des Staates. Ebenso darf der Staat im Unterricht die unterschiedlichen Religionen in ihren wesentlichen Lehren, ihren Traditionen und Erscheinungsformen darstellen. Auch dies folgt aus der allgemeinen Bildungsaufgabe des Staates13. Es entspricht der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung, dass ein Land von Verfassungs wegen nicht gehindert ist, überhaupt ein als Ethikunterricht bezeichnetes Fach mit dem Ziel einzuführen, das ethische Wissen und die ethische Kompetenz der Schüler zu fördern. Der Staat hat die Aufgabe, alle Schüler in vergleichbarer Weise zu verantwortungs- und wertbewusstem Verhalten zu erziehen. Dazu ermächtigt Art. 7 Abs. 1 GG in Verbindung mit den jeweiligen landesrechtlichen Vorschriften. Art. 7 Abs. 1 GG regelt danach nicht nur die Aufsicht des Staates über das gesamte Schulwesen. Vielmehr ergibt sich daraus auch das umfassende Recht zu Gestaltung des Schulwesens. Das betrifft einerseits die organisatorische Gliederung der Schule. Es betrifft andererseits aber auch die Festlegung der Unterrichtsziele und der Ausbildungsgänge, die dem Schulunterricht vorgegeben sind 14 . Der Staat darf verbindliche Pflichtfächer für alle Schüler festlegen 15. Dies umfasst die Befugnis zur Schaffung neuer Unterrichtsfächer und neuer Bildungsinhalte16. Diese Gestaltungsbefugnis umfasst einen schulischen Unterricht, der eine wertgebundene Erziehung beabsichtigt. Die Inhalte des staatlichen Ethikunterrichtes müssen dabei verfassungslegitime Ziele verfolgen, weil das Grundgesetz eine wertgebundene Ordnung ist 17 . Der Lehr- und Erziehungsauftrag der Schule ist nicht darauf beschränkt, reinen Wissensstoff zu vermitteln. Das einzelne Kind soll vielmehr zu einem selbstverantwortlichen Mitglied der Gesellschaft herangebildet werden 18. Dies bedeutet, dass das staatliche Schulwesen sich auch der Erziehung der Schüler und Schülerinnen in ethischen Fragen annehmen darf, ja muss19. Art. 4 Abs. 1, 2 GG verpflichtet auf einen glaubens- und bekenntnisneutralen Unterricht. Dabei muss jede staatliche Indoktrination unterlassen werden. Art. 4 Abs. 1, 2 GG schützt die Freiheit, keinen Glauben oder kein Bekenntnis zu haben, und darüber hinaus die Freiheit, sein Leben nicht nach bestimmten, der eigenen Überzeugung widersprechenden Glaubens- und Bekenntnisinhalten ausrichten zu müssen. Er schützt gleichzeitig und in demselben Maße die Frei13 14
Vgl. Robbers (Fn. 12), Rn. 139.
BVerwGE 107, 75 (78); BVerfGE 59, 360 (377); 53, 185 (196); 52, 223 (236); 47, 46 (71 f.); 41, 29 (44); 34, 165 (182). 15 BVerwGE 107, 75 (78); 64, 308 (312). 16 BVerwGE 107, 75 (78 f.) - ganz h.M. 17 BVerfGE 49, 24 (56); 39, 1; 36, 41 (65); 7, 198 (205); BVerwGE 107, 75 (79). 18 BVerfGE 47, 46 (72). 19 Vgl. BVerwGE 107, 75 (79).
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heit, einen Glauben oder ein Bekenntnis zu haben sowie die Freiheit, sein Leben nach bestimmten Glaubens- und Bekenntnisinhalten ausrichten zu können 20 . Damit ist das grundgesetzliche Gebot staatlicher religiös-weltanschaulicher Neutralität gegeben. Dieses Neutralitätsgebot folgt aus der Zusammenschau der Garantie der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit in Art. 4 GG, dem Verbot der Staatskirche in Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 1 WRV, der damit angeordneten Trennung von Staat und Kirche und aus dem Verbot der Diskriminierung aus religiösen Gründen nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 und 33 Abs. 3 GG 21 . Jeder Unterricht auch in Ethik oder Religion muss die Neutralitätspflicht des Staates wahren. Im Rahmen des Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG erfüllt der Staat diese Neutralitätspflicht in besonders deutlicher Weise. In diesem Zusammenhang ist die staatliche Neutralität besonders einfach zu bewahren. Die Neutralitätspflicht des Staates muss aber gerade auch dann erfüllt werden, wenn er selbst und allein über die Grundsätze eines Unterrichts über Ethik oder Religion entscheidet. Dies ist zwar schwieriger, als im Rahmen des normalen Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG, kann jedoch nach Maßgabe der übrigen Bestimmungen des Grundgesetzes erfüllt werden. Religionen dürfen danach in einem solchen Unterricht nicht bewertet werden 22. Einzelne Religionen dürfen nicht als besser oder schlechter erscheinen. Ebenso darf Religion als solche nicht negativ oder als irrelevant dargestellt werden. Eine Präferenz für den Atheismus oder den Agnostizismus ist unzulässig. Der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG steht grundsätzlich unabhängig von dem Elternrecht zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder aus Art. 6 Abs. 2 GG. In der Schule kann der Staat grundsätzlich unabhängig von den Eltern eigene Erziehungsziele verfolgen. Der Auftrag der Schule zur Bildung und Erziehung der Kinder ist dem Elternrecht grundsätzlich gleich geordnet 23. Es ist aber Sache der Eltern, ihren Kindern diejenigen Überzeugungen in Glaubens- und Weltanschauungsfragen zu vermitteln, die sie für richtig halten. Dazu gehört das Recht, die Kinder von Glaubensüberzeugungen, auch solchen den Glauben negierender oder relativierender Art fernzuhalten, die den Eltern
20
Vgl. Vgl. 22 Vgl. 140 Rn. 5; 12, 1 (4). 23 Vgl. BVerwGE 21
BVerfGE 93, 1 (15); 32, 98 (106); st. Rspr. BVerwGE 107, 75 (80). Hömig (Fn. 7), Rn. 7; Bergmann , in: Seifert/Hömig, GG, 7. Aufl. 2003, Art. BVerfGE 74, 244 (252); 52, 223 (239); 33, 23 (29); 32, 98 (106); 12, 45 (56); BVerfGE 93, 1 (21); 52, 223 (236); 47, 46 (72); 41, 29 (24); 34, 165 (182); 107, 75 (83).
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falsch oder schädlich erscheinen 24. Schulische und familiäre Erziehung können dabei in Konflikt geraten. Dieser Konflikt muss dadurch gelöst werden, dass alle betroffenen Rechtspositionen zu einem möglichst schonenden Ausgleich gebracht werden 25. Das Grundgesetz schützt die Religionsfreiheit als ein besonders herausgehobenes, wertvolles Gut. Religion als solche ist nach den Maßgaben des Grundgesetzes etwas grundsätzlich Wertvolles und Positives. Dies zeigt sich an der prominenten Stellung der Religionsfreiheit bereits in Art. 4 GG als erstes spezifisches Freiheitsrecht. Im System des Grundgesetzes erscheint die Religionsfreiheit gleich nach den allgemeinen Gewährleistungen von Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit und noch vor der Meinungsfreiheit und anderen wesentlichen besonderen Freiheitsrechten. Zudem ist die Religions- und Weltanschauungsfreiheit ohne Gesetzesvorbehalt gewährleistet. Die positive Offenheit des Grundgesetzes für Religion und Weltanschauung26 kommt auch darin zum Ausdruck, dass Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften Körperschaften des öffentlichen Rechts sein können. Endlich zeigt auch die Möglichkeit des konfessionellen Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG als Regelfall die positive Haltung des Grundgesetzes zur Religion. Staatliche Neutralität in Religions- und Weltanschauungsfragen ist deshalb positive Neutralität. Die Verfassung verpflichtet darauf, die Freiheit der Religion und der Weltanschauung zu fördern und ihre Vollzüge zu ermöglichen 27. Das Toleranzgebot des Grundgesetzes verlangt, dass Gläubigen, Andersgläubigen und Nichtgläubigen gleichermaßen wohlwollende, offene Toleranz entgegengebracht wird. Die Schule muss für eine Atmosphäre der Toleranz gerade auch für gläubige Menschen Sorge tragen 28. Religiöse Schüler dürfen deshalb nicht in die Defensive gedrängt werden. Sowohl die positive als auch die negative Bekenntnisfreiheit stehen unter dem Gebot der Toleranz 29. Eine bloß wertfreie, vergleichende Beschreibung verschiedener Religionen der Welt wird dem Toleranzgebot nicht gerecht. Mit einem solchen Unterricht nimmt der Staat relativierenden Einfluss auf religiöse Überzeugungen. Ein solcher Unterricht greift in die Religionsfreiheit der Schüler und in das Erziehungsrecht der Eltern ein. Eine bloß vergleichende, wertfreie Darstellung von Religion legt den Schülern eine Sicht auch ihrer eigenen Religion gegenüber nahe, die ihren Glauben von Staats wegen relativiert. Damit wird der Wahrheitsanspruch der eigenen Religion von Staats wegen beeinträchtigt.
24 25 26 27 28 29
Vgl. BVerfGE 93, 1 (17); 41, 29 (44, 47 f). BVerfGE 93, 1 (21 ff.); 52, 223 (247, 251); 41, 29 (50); 28, 243 (260 f.). BVerfGE 41, 29 (50). Vgl. BVerfGE 93, 1 (16 f.); 41, 29 (49). BVerfGE 52, 223 (250 f.). BVerfGE 52, 223 (250 f.); 47, 46 (77); 42, 29 (51); 32, 98 (109 f.).
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Die Religionsfreiheit schließt nicht nur den äußerlichen Zwang in religiösen Angelegenheiten aus, sondern verbietet auch und gerade die subtile Beeinflussung durch den Staat. Ihm ist die Einmischung in die Glaubensüberzeugungen Einzelner untersagt 30. Jeder staatliche Unterricht, der etwa auf eine „kritische Hinterfragung" der eigenen Religion abzielte, würde hiermit in Konflikt geraten. Art. 4 Abs. 1, 2 GG enthält deshalb auch für die öffentliche Schule einen verfassungsrechtlichen Schutz vor glaubensfremder Beeinflussung 31. Das subjektive Religionsverständnis, sein jeweils eigenes Bild von seiner Religion, sind zentrales Schutzgut der Glaubensfreiheit 32. Staatliche Erziehung darf nicht missionierend den Schüler zu einer wahren oder besseren oder anderen Religion zu bekehren suchen. Staatliche Erziehung darf den Schüler auch nicht von einer Religion befreien oder emanzipieren wollen, die der Staat für überholt oder falsch hält. Die Schule darf keine missionarische Schule sein.33 Ein staatlicher Pflichtunterricht über Religion greift in den Schutzbereich der Glaubensfreiheit ein, wenn er den Glauben der Schüler stört oder verfremdet. Das ist der Fall, wenn die staatlichen Erziehungsziele im Bereich der Religion mit dem Bekenntnis der Schüler und Eltern unvereinbar sind. Die staatliche Erziehungshoheit aus Art. 7 Abs. 1 GG schränkt allerdings auch die Religionsfreiheit gemäß Art. 4 Abs. 1, 2 GG ein. Der Landesgesetzgeber ist deshalb befugt, einen staatlichen Informationsunterricht über die verschiedenen Religionen einzuführen. Die staatlich verfasste Gemeinschaft besitzt ein überragendes Interesse angesichts der multireligiösen und multikulturellen Zusammensetzung der Bevölkerung daran, dass die staatliche Erziehung ein friedliches Zusammenleben, gegenseitiges Verständnis und Wissen voneinander, für die Achtung der Menschenwürde und Toleranz Andersdenkenden und Andersglaubenden gegenüber vermittelt und hinreichendes Wissen über religiös bedingte Eigenheiten, Unterschiede, Lebensstile und Traditionen. Dabei muss der Landesgesetzgeber wiederum die zentrale Bedeutung der Glaubensfreiheit zum Tragen bringen. Ein staatlicher ethisch-religiöser Unterricht kann nur dann verfassungskonform stattfinden, wenn eine Möglichkeit der Abmeldung von diesem Unterricht für Schüler besteht, die aus Glaubensgründen nicht an diesem Unterricht teilnehmen wollen. Ethikunterricht und Religionskundeunterricht unterscheiden sich von Verfassungs wegen in ihrer grundsätzlichen Zielrichtung. Ethik und Religion sind nicht lediglich verschiedene Gegenstände der Wissensvermittlung. Ethikunter30
BVerfGE 93, 1 (16); 41, 29 (48). BVerfGE 93, 1 (16). 32 BVerfGE 83, 341 (356); 53, 366 (401); 44, 37 (49 f.); 42, 312 (322, 332); 24, 236 (246 ff.); st. Rspr. 33 Vgl. BVerfGE 41, 88 (109 ff.); 41, 65 (78 ff., 82 ff.); 41, 29 (51 ff., 62f., 64). 31
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rieht soll vielmehr bestimmte, verfassungslegitime Werthaltungen und Verhaltensweisen fördern. Dies gilt auch, wenn er in rein staatlicher Verantwortung erteilt wird. Ethikunterricht soll Einfluss auf die innere Einstellung der Schülerinnen und Schüle nehmen. Einem Religionskundeunterricht in rein staatlicher Verantwortung ist eine solche Einflussnahme untersagt. Der Staat darf bestimmte Religionsüberzeugungen nicht fördern oder behindern. Die zwingende Möglichkeit der Abmeldung vom Religionsunterricht folgt besonders aus Art. 4 Abs. 1, 2 GG, Art. 12 BerlVerf. Die allgemeine Gewährleistung der Religionsfreiheit verbietet einen allgemeinen staatlichen Pflichtunterricht über Religion, der dem Bekenntnis des Schülers nicht entspricht oder ihm gar widerspricht. Staatlicher Unterricht an öffentlichen Schulen ist Weitergabe von Wissen an die Schüler, zugleich aber auch gezielte erzieherische Einflussnahme seitens der Schule und Lehrer auf die Kinder 34 . Die schulische Erziehung soll auch die emotionalen und affektiven Anlagen der Schülerinnen und Schüler zur Entfaltung bringen. Das Schulgeschehen ist darauf gerichtet, die Persönlichkeitsbildung umfassend zu fördern und insbesondere auch das Sozialverhalten zu beeinflussen. Dies geschieht gegenüber Personen, die wegen ihres noch jungen Alters in ihren Anschauungen noch nicht gefestigt und einer mentalen Beeinflussung besonders leicht zugänglich sind 35 . Religiöse Bezüge in öffentlichen Pflichtschulen sind zwar nicht unzulässig, sie sind aber nur dann verfassungsrechtlich nicht zu bestanden, wenn sie sich im Rahmen der den Ländern in Art. 7 Abs. 1 GG überlassenen Schulgestaltung halten und dabei andere Verfassungsgrundsätze, insbesondere Grundrechte der Beteiligten aus Art. 4 GG nicht verletzen 36. Besteht neben einem staatlichen ethisch-religiösen Pflichtunterricht ein konfessioneller Religionsunterricht, wie das in Berlin der Fall ist, erfüllt der Staat seinen Bildungs- und Erziehungsauftrag im Bereich religiösen Lebens durch diesen Religionsunterricht in der Trägerschaft der Religionsgemeinschaften. Er gibt damit in Übereinstimmung mit dem Neutralitätsgebot und der Glaubensfreiheit der Religion Raum zur Entfaltung. Versagte die Schule dabei aber den Schülerinnen und Schülern die Abmeldemöglichkeit von staatlich ethischreligiösem Unterricht zum konfessionellen Religionsunterricht, liegt darin ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Die Verpflichtung auf den staatlichen Unterricht ist in diesem Fall weder erforderlich noch angemessen, um den staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag zu erfüllen. Ein staatlicher Pflichtunterricht in ethisch-religiösen Fragen ist für die Schülerinnen und Schüler ohne Abmeldemöglichkeit unausweichlich. Nach Intensität und Dauer der Konfrontation mit dem Lehrstoff geht ein solcher Unterricht 34 35 36
BVerfGE 52, 223 (239). BVerfGE 93, 1 (20). BVerfGE 93, 1 (22 f.); 52, 223 (238); 41, 29 (50 f.).
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weit über die verstreute und gelegentliche Auseinandersetzung mit den entsprechenden Fragestellungen im Rahmen anderer Unterrichtsfächer hinaus37. Ein staatlicher Pflichtunterricht durch glaubensfremde, glaubensfeindliche oder glaubensindoktrinierende Lehrer, dem sich der Schüler nicht durch Abmeldung entziehen kann, würde ihn in der Bildung und Entwicklung seines Glaubens beeinflussen. Zwar kann sich der davon Betroffene von Rechts wegen gegen einen solchen Unterricht vor Gericht wehren. In der Praxis wird ihm dabei allerdings eine erhebliche Last aufgebürdet, weil die schulische und psychische Situation der Kinder einem solchen Rechtsstreit entgegensteht und die Beweislage in der Regel schwierig sein wird. Schwerer wiegen jedoch die strukturellen Gegebenheiten. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits festgestellt, dass die Ausschaltung aller weltanschaulich-religiösen Bezüge die bestehenden weltanschaulichen Spannungen und Gegensätze nicht neutralisieren würde. Sie würde vielmehr diejenigen Eltern in ihrer Glaubensfreiheit benachteiligen, die eine religiöse Erziehung ihrer Kinder wünschen und von Staats wegen gezwungen würden, diese in eine säkulare Schule zu schicken38. Dies gilt entsprechend auch für die Schüler selbst. Die daraus folgende Kollisionslage lässt sich lösen, wenn ein staatlicher Informationsunterricht über Religionen und ein von den Religionsgemeinschaften jeweils getragener Religionsunterricht im Verhältnis alternativer Fächer nebeneinander bestehen. Es muss also eine Abmeldemöglichkeit zu dem konfessionellen Religionsunterricht bestehen. Art. 141 GG entbindet nicht von der Neutralitätsverpflichtung der öffentlichen Schule. Diese Bestimmung stellt auch nicht von der Achtung und Wahrung der durch Art. 4 Abs. 1, 2 GG gewährleisteten Religionsfreiheit frei, ebenso wenig von der Achtung des elterlichen Erziehungsrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG. Auch wo Art. 141 GG anwendbar ist, würde ein Pflichtunterricht über Religion in staatlicher Trägerschaft ohne angemessene Einbindung der Religionsgemeinschaften bei fehlender Abmeldemöglichkeit deshalb verfassungswidrig sein. Entsprechend besteht auch in Bremen eine Abmeldemöglichkeit vom Religionsunterricht. In Bremen wird auf der Grundlage der Ausnahmebestimmung des Art. 141 GG gemäß Art. 32 Abs. 1 BremVerf. ein „bekenntnismäßig nicht gebundener Unterricht in Biblischer Geschichte auf allgemein christlicher Grundlage" erteilt 39 . Über die Teilnahme der Schüler entscheiden die Erziehungsberechtigten gemäß Art. 32 Abs. 2 BremVerf. Ein staatlicher Unterricht mit ethisch-religiöser Bildung ohne Abmeldemöglichkeit zu einem konfessionellen Religionsunterricht wäre deshalb verfassungswidrig. 37 38 39
Vgl. BVerfGE 93, 1 (18); 41, 29 (49). Vgl. BVerfGE 41, 29 (37 f., 49 f.). Vgl. Spitta, Kommentar zur Bremischen Verfassung von 1947, 1960, Art. 32.
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Gerhard Robbers
Beteiligen sich die Religionsgemeinschaften an der inhaltlichen Gestaltung des staatlichen Religionskundeunterrichts, wäre das System dem staatlichen Religionsunterricht gemäß Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG allerdings angenähert. Da Art. 141 GG von Art. 7 Abs. 3 Satz 1 freistellt, einen entsprechenden Unterricht aber auch nicht verbietet, wäre eine solche Lösung verfassungsgemäß. Eine vollständige Ausklammerung von Religion aus dem Unterricht an öffentlichen Schulen würde gegen den staatlichen Bildungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG verstoßen. Ebenso wäre die staatliche Neutralitätspflicht verletzt. Mit der staatlichen Ignorierung der Religion würde dieser Lebensbereich mit dem Signum der Irrelevanz belegt. Auch im Ausland wird die Religion regelmäßig nicht aus dem schulischen Bereich verdrängt. Dies gilt insbesondere auch für Frankreich. In Frankreich ist in den Grundschulen regelmäßig der Mittwoch schulfrei, damit die Kinder einen von ihrer Religionsgemeinschaft getragenen Religionsunterricht besuchen können. In weiterführenden Schulen gibt es Schulseelsorger, die den Schülerinnen und Schülern in der Schule religiöse Kenntnisse vermitteln können 40 . Im Vereinigten Königreich besteht insbesondere in den öffentlichen Schulen Englands ein System des staatlichen religionskundlichen Unterrichts. Über den Lehrplan entscheidet ein Gremium aus Vertretern der örtlichen Schulbehörde, der Lehrervereinigungen, der anglikanischen Staatskirche und solchen Religionsgemeinschaften, die die vorherrschenden religiösen Traditionen der betreffenden Region widerspiegeln 41. Ein rein religionskundlicher Unterricht findet insbesondere in den Ländern statt, die eine Staatskirche besonders fördern wie England oder Dänemark. Der staatskirchliche Einfluss ist damit bereits im gesamten Schulsystem gegeben, und der Religionskundeunterricht erfolgt als Ergänzung. Eine vollständige Ausklammerung von Religion im öffentlichen Schulsystem wäre deshalb nicht nur ein Verstoß gegen verfassungsrechtliche Grundprinzipien, sondern verstieße auch gegen die gute Praxis im internationalen Vergleich. Eine einseitige Abschaffung des zur Zeit in Berlin bestehenden Religionsunterrichts wäre unzulässig. Entsprechend garantiert Art. 5 des Evangelischen Kirchenvertrages Berlin den evangelischen Religionsunterricht als Bestandteil der Berliner Schule in allen Bildungsgängen und Jahrgangsstufen. Schon der Wortlaut des Art. 141 GG erweist die Absicht des Verfassungsgebers, nur die Verhältnisse fortzuschreiben, die vor 1949 bereits rechtlich so
40
Vgl. Basdevant-Gaudemet, Staat und Kirche in Frankreich, in: Robbers (Hrsg.), Staat und Kirche in der Europäischen Union, 2. Aufl. 2005, S. 186 f. 41 Vgl. McClean, Staat und Kirche im Vereinigten Königreich, in: Robbers (Hrsg.), Staat und Kirche in der Europäischen Union, 2. Aufl. 2005, S. 616 ff.
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existiert hatten42. Art. 141 GG wollte geschichtlich überkommene Traditionen in den betroffenen Ländern sichern und ihnen erlauben, den zur Zeit der Verfassungsgebung bestehenden Zustand aufrecht zu erhalten 43. Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes einschließlich der Beratungen des Parlamentarischen Rates ist eine wesentliche Quelle für die Auslegung der Verfassung. Dem folgt das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung. Dies gilt gerade auch dann, wenn der Wortlaut des Grundgesetzes eine klare Auslegung nicht zulässt44. Die mit Art. 141 GG gegebene verfassungsrechtliche Bestandsgarantie schließt eine systemimmanente Entwicklung dabei keineswegs aus. Das hat das Bundesverfassungsgericht selbst für den Zusammenhang des Art. 79 Abs. 3 GG ausgesprochen45. Umso eher gilt dies für die bereits in ihrem Wortlaut offenere Norm des Art. 141 GG. Eine systemimmanente Entwicklung bedeutet aber Aufrechterhaltung der Grundprinzipien des Systems. Diese liegen im Berliner Modell darin, dass ein Religionsunterricht in inhaltlicher Verantwortung der Religionsgemeinschaften mit staatlicher Unterstützung im Rahmen der Schulbildung stattfindet, soweit nicht von dem Regelfall des Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG Gebrauch gemacht wird. Dabei ist nicht entscheidend, ob sich die religionsdemographischen Verhältnisse in Berlin seit der Zeit der Verfassungsgebung geändert haben. Auf die zahlenmäßige Stärke oder die soziale Relevanz der jeweiligen Religionsgemeinschaften kommt es bei der Wahrung des Neutralitätsgrundsatzes und der Religionsfreiheit nicht an 46 . Die völlige Abschaffung des derzeitigen Systems des Berliner Religionsunterrichts würde danach gegen Sinn und Zweck des Art. 141 GG verstoßen, wenn nicht eine angemessene Beteiligung der Religionsgemeinschaften an einer Neuregelung stattfindet.
I I I . Die Einrichtung konfessionellen Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach Das Land Berlin wäre auch befugt, einen konfessionellen Religionsunterricht im Sinne des Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG einzuführen. Hierfür spricht schon
42
Stuth, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 141 Rn. 10. Vgl. Th. Heuss, Pari. Rat, Hauptausschuß, 51. Sitzung, Prot. S. 683; Ehlers , Pari. Rat, Hauptausschuß, 43. Sitzung vom 18.1.1949, Prot. S. 557; Gröschner , in: Dreier, GG, 2000, Art. 32; Schlink/Poscher, Gutachtliche Stellungnahme zu den verschiedenen Varianten eines Religions- und Ethikunterrichts an den Schulen des Landes Berlin, 2000, unveröffentlicht. 44 Vgl. BVerfGE 88, 40 (56); 83, 341 (354 f.). 45 Vgl. BVerfGE 30, 1 (2, 25). 46 BVerfGE 93, 1 (17). 43
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Gerhard Robbers
der Vergleichsvorschlag des Bundesverfassungsgerichts für den Religionsunterricht in Brandenburg 47. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht die Frage der Geltung des Art. 141 GG für Brandenburg offen gelassen und die Einführung eines konfessionellen Religionsunterrichtes vorgeschlagen. Dieser Religionsunterricht muss deshalb in den Augen des Bundesverfassungsgerichts zulässig sein, selbst wenn Art. 141 GG Geltung besitzen sollte. Art. 141 GG entbindet von einer Verpflichtung 48 , hindert aber nicht daran, sich dem verfassungsrechtlichen Regelfall anzuschließen. Art. 141 GG stellt die Länder, in denen am 1. Januar 1949 der Religionsunterricht nicht ordentliches Lehrfach war, von der in Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG normierten Verpflichtung frei, den Religionsunterricht in allen öffentlichen Schulen als ordentliches Lehrfach anzubieten49. Art. 141 GG ist eine Ausnahmevorschrift zu Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG. Art. 7 Abs. 1 Satz 3 GG lautet: „Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach". Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG ermächtigt nicht lediglich dazu, einen konfessionellen Religionsunterricht als Regelunterricht einzuführen, sondern er verpflichtet dazu. Der Indikativ „ist" bedeutet im Sprachgebrauch des Grundgesetzes eine strikte Form der Normativität. Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG ist deshalb dahingehend zu lesen, dass der Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen ordentliches Lehrfach sein muss, soweit es sich nicht um bekenntnisfreie Schulen handelt. Die Ausnahme von dem Normalfall „muss ordentliches Lehrfach sein" ist „muss nicht ordentliches Lehrfach sein". Damit steht fest, dass der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen in Berlin ordentliches Lehrfach sein darf, aber nicht sein muss. Wollte man zu dem Ergebnis kommen, dass der Religionsunterricht in Berlin nicht ordentliches Lehrfach sein dürfte 50 , müsste Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG lauten: „Der Religionsunterricht darf in den öffentlichen Schulen ordentliches Lehrfach sein". Dies ist aber nicht der Wortlaut der Norm und auch nicht die Intention des Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG. Das Grundgesetz sieht den konfessionellen Religionsunterricht als Regelfall an. Es spricht nichts dafür, dass dieser Regelfall vom Grundgesetzgeber in Bremen und in Berlin gegen den Willen der dortigen Gesetz- und Verfassungsgeber zwingend ausgeschlossen sein sollte, zumal der konfessionelle Religionsunterricht Ausdruck und Ausgestaltung des grundgesetzlichen Neutralitätsprinzips ist.
47
BVerfGE 104, 305 ff. BVerfGE 6, 309 (359). 49 BVerfGE 6, 309 (359). 50 Renck, Gutachtliche Stellungnahme zu Rechtsfragen von LER und Bekenntnisunterricht an den öffentlichen Schulen in Berlin, Fachausschuss Stadt des Wissens, 2005, unveröffentlicht. 48
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Die Entstehungsgeschichte des Art. 141 GG zeigt darüber hinaus, dass die Bestimmung die Fortexistenz der bestehenden, traditionellen Verhältnisse in Bremen und in Berlin ermöglichen sollte. Beide Länder sollten aber nicht daran gehindert werden, sich dem verfassungsrechtlichen Regelfall anzuschließen. Art. 7 Abs. 3 GG ist Ausdruck des verfassungsrechtlichen Neutralitätsgrundsatzes. Der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, wie ihn Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG als Regelfall für die Bundesrepublik Deutschland vorsieht, beinhaltet keine Durchbrechung des Neutralitätsgrundsatzes, er verwirklicht ihn. Die gegenteilige Auffassung verkennt Grundprinzipien des verfassungsrechtlichen Systems. Das Grundgesetz besteht als Einheit. Die Verfassung ist eine einheitliche Ordnung, die mit dem Ziel auszulegen ist, etwa vermutete Widersprüche zwischen ihren einzelnen Regelungen zu vermeiden 51. Gegenstand des Religionsunterricht im Sinne des Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG ist der Bekenntnisinhalt, die Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft 52. Allerdings dient er keineswegs allein der Verkündigung und der Glaubensunterweisung. Er ist vielmehr ein auch auf Wissensvermittlung gerichtetes, an höheren Schulen wissenschaftliches Fach, das in die Lehre eines Bekenntnisses einführt, vergleichenden Hinweisen offen bleibt und zugleich Gelegenheit bietet, mit den Schülerinnen und Schülern grundsätzliche Lebensfragen zu erörtern 53. Als Bestandteil des schulischen Bildungsauftrages gilt dabei auch die Information über andere Bekenntnisse54. Art. 141 GG gibt deshalb auch dem Land Berlin die Möglichkeit, Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach in Übereinstimmung mit Art. 7 Abs. 2, 3 GG zu erteilen 55.
51
BVerfGE 33, 23 (27); 19, 206 (220); 1, 14 (32). BVerfGE 74, 244 (252). 53 BVerfGE 74, 244 (253). 54 BVerfGE 74, 244 (254). 55 Richter, AK-GG, 2001, Art. 141 Rn. 4 m.w.N.; Pieroth , in: Jarass/Pieroth, GG, 8. Aufl. 2006, Art. 141 Rn. 2. 52
Gewissen und Recht Von Thomas Würtenberger
Der Jurist hat mit Gewissen und Gewissensentscheidungen auf den ersten Blick seine Probleme. Das Grundgesetz spricht von der Freiheit des Gewissens. Aber was ist Gewissensfreiheit und freie Entscheidung nach dem Gewissen in rechtlicher Sicht? Und vor allem: Was hat der Jurist von einer Gewissensentscheidung zu halten, die sich gegen das positive Recht wendet? Die Auflehnung des Gewissens gegen das Recht findet allerdings nur in Ausnahmesituationen statt. Denn rechtliche Regelungen entsprechen meist in größtmöglichem Umfang dem individuellen und kollektiven Rechtsgewissen oder weiter gefaßt dem Rechtsbewußtsein1. Wir können jedenfalls in den demokratischen Staaten eine erhebliche Übereinstimmung in dem, was Recht und Gewissen fordern, feststellen. Eine solche Konvergenz gehört zu den Leistungen des demokratischen Gesetzgebers und der Juristen, die das Recht fortzubilden zur Aufgabe haben. Dies führt zu der Frage: Ist der Jurist und mit ihm die Rechtsordnung vielleicht sogar der Hüter oder Verwalter des individuellen und kollektiven Rechtsgewissens? Dem Gewissen als Grenze rechtlicher Bindung sowie dem Recht als Orientierung für das Gewissen sind die folgenden Überlegungen gewidmet.
I. Gewissensfreiheit und Befolgung der Rechtsordnung 1. Schutz der Gewissensentscheidung durch das Grundgesetz Seit langem steht im Zentrum der rechtswissenschaftlichen Diskussion: Was kann der Jurist wissen, wenn er sich mit der Gewissensfrage beschäftigt? Woher holt er seine Maßstäbe, wenn es um die rechtliche Beurteilung der Gewissensentscheidung eines Einzelnen geht? Bleibt man auf dem Boden des positiven Rechts und steigt man nicht hinauf in die Höhen der Rechtsphilosophie2
1
Zum Rechtsbewußtstein und zum Rechtsgewissen als psychologischen Phänomenen: Würtenberger, Zeitgeist und Recht, 2. Aufl. 1991, S. 90 ff., 170 ff.; BVerwG, NJW 2006, 77 (87). 2 Seneca, Ad Lucilium - epistulae morales, XLI, 2; Kant, Werke (hrsg. von Weischedel, 1956), Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, Einleitung X I I b (S. 531 ff.); § 13 (S.
Thomas Würtenberger
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oder der Rechtsethik3, so muß man zunächst vom Grundgesetz ausgehen. Ist doch das Grundgesetz jene politisch-rechtliche Ordnung, der sich die zentralen Werte entnehmen lassen, die ihrerseits der Gesetzgebung und der Rechtspraxis zugrundezulegen sind. Im Grundrechtsteil regelt Art. 4 Abs. 1 GG: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich". Und Art. 4 Abs. 3 GG bestimmt: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden". Glauben, Gewissen, religiöses und weltanschauliches Bekenntnis sind hier zu einem einheitlichen 4 Grundrecht des Schutzes des Forums Internum, also von inneren Überzeugungen zusammengefaßt 5. Was hier als Gewissen wirklich geschützt ist, definiert das Grundgesetz allerdings nicht. Es sagt nur beispielhaft, daß die Ablehnung des Kriegsdienstes mit der Waffe eine Gewissensentscheidung sein könne. Dies führt zu der Aufgabe, dem Begriff des Gewissens einen rechtlichen Inhalt zu geben. Der Ansatzpunkt aller Definition liegt zunächst in der Sphäre des Geistig-Seelischen. Gewissen ist ein seelisches Phänomen, das juristisch nur schwer zu fassen ist 6 . Vom Recht wird daher nur sehr vorsichtig definiert: Die Gewissensfreiheit schützt die selbst wahrgenommene Verantwortlichkeit des Einzelnen für seine Handlungen. Sie betrifft damit eine innere moralische Steuerung 7. In psychologischer Perspektive wird das Gewissen wahrgenommen als eine innere Instanz, welche dem Einzelnen Handlungsmaßstäbe als verpflichtend vorgibt, deren Befolgung unbedingt gefordert wird 8 . Für das Gewissen als
572 ff.); A. Kaufmann, Das Gewissen und das Problem der Rechtsgeltung, 1990, S. 2 ff.; ders., Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl. 2004, S. 65 f.; Würtenberger (sen.), Vom rechtschaffenen Gewissen, in: FS für E. Wolf, 1962, S. 337 ff; Welzel, Vom irrenden Gewissen, 1949, S. 5 ff.; Hübsch, Philosophie und Gewissen, 1995, S. 11 ff.; Mock , Gewissen und Gewissensfreiheit, 1983, S. 18 ff. 3 Schockenhoff,\ Das Gewissen: Quelle sittlicher Urteilskraft und personaler Verantwortung, 2000, S. 5 ff.; ders., Wie gewiss ist das Gewissen? - Eine ethische Orientierung, 2003, S. 7 ff.; Lenk, Einführung in die angewandte Ethik - Verantwortlichkeit und Gewissen, 1997; Gründet, Das Gewissen: subjektive Willkür oder oberste Norm, 1990. 4 BVerfGE 24, 236 (245 f.); Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, S. 234 f.; Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 7. Aufl. 2004, Art. 4 Rdn. 1; a.A. Morlok, in: Dreier (Hg.), GG-Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 4 Rdn. 53 ff. m.w.N. 5
Zu den Dimensionen der Gewissensfreiheit: Morlok (Fn. 4), Rdn. 81 ff.; Filmer,
Das Gewissen als Argument im Recht, 2000, S. 90 ff. 6 BVerfGE 12, 45 (54); zu diesem Problem und dem daraus folgenden subjektiven Gewissensbegriff: Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts,
1989, S. 243 ff.; Morlok (Fn. 4), Rdn. 82; Podlech, Das Grundrecht der Gewissensfrei-
heit und die besonderen Gewaltverhältnisse, 1969, S. 30. 7 8
Morlok (Fn. 4), Rdn. 81 ff. Klier, Gewissensfreiheit und Psychologie, 1978, S. 32 ff.; Herdegen (Fn. 6), S.
142 ff.
Gewissen und Recht
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innere Instanz bedarf es keiner Theorie von Werten, es begnügt sich vielmehr mit praktischer Wahrheit. Eine Gewissensentscheidung ist also jede ernste sittliche, d. h. an den Kategorien von Gut und Böse orientierte Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln kann9. Was eine Gewissensentscheidung ist, kann der Einzelne nicht beliebig definieren. Es muß sich um eine Entscheidung handeln, die seine moralische Identität und Integrität betrifft 10 . Dies muß vom Einzelnen dargelegt werden können, wenn er sich gegenüber dem Staat auf sein Gewissen beruft 11 . Diese juristische Definition bleibt formal. Wie die Kategorie von Gut und Böse weiter zu konkretisieren ist, kann nicht der Jurist festlegen, sondern bleibt eine Aufgabe einer höchstpersönlichen ethischen Maßstabsbildung. Verfassungsrechtlich bedeutet dies, dass Art. 4 Abs. 1 GG Gewissensentscheidungen gemäß dem Selbstverständnis des Grundrechtsträgers schützt. Man kann hier von Grundrechtssubjektivismus sprechen, der zur Erweiterung der grundrechtlichen Schutzbereiche führt und kontrovers diskutiert wird 12 . Mit dem Schutz der individuellen Gewissensfreiheit hat sich das Grundgesetz nicht der Hegeischen Idee eines objektiven Gewissens angeschlossen. Hegel erkennt zwar das Gewissen als solches an. Aber ob „das Gewissen eines bestimmten Individuums der Idee des Gewissens gemäß ist, ob das was es für gut hält oder ausgibt, auch wirklich gut ist, dies erkennt sich allein aus dem Inhalt dieses Gutseinsollenden ... Der Staat kann deswegen das Gewissen in seiner eigentümlichen Form, d.i. als subjektives Wissen nicht anerkennen ..." 13 . Denn es würde eine nicht zu rechtfertigende Einengung des individuellen Gewissens bedeuten, wenn es auf das beschränkt wäre, was ein objektiviertes Gewissen als verpflichtend vorschreiben vermag. Das Recht kann also Gewissensentscheidungen nicht objektivieren, sondern muß, will es wirkliche Gewissensfreiheit gewähren, das Gewissen des Einzelnen jeweils respektieren 14. Aber gleichwohl kann eines verlangt werden: Eine 9
BVerfGE 12, 45 (54 f.); 48, 127 (173); BVerwG, NJW 2006, 77 (88). Bäumlin, VVDStRL 28 (1970), 3 (21); Böckenförde , VVDStRL 28 (1970), 33 (66 f.). 11 Herzog , in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 (1988), Rdn. 160, 162. 10
12
13
Nw. bei Zippelius/Würtenberger
(Fn. 4), S. 182 f.
Hegel , Grundlinien der Philosophie des Rechts - oder Naturrecht und Staats Wissenschaft im Grundrisse, 1821, § 137. Dagegen die Kritik Welzels (Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl. 1962 (Nachdr. 1980), S. 179) und A. Kaufmanns (Fn. 2, S. 7 ff.). 14 Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993, S. 78 ff., 393 ff.; Vorgaben von Standards der Empfindlichkeit oder das Abheben auf eine Durchschnittsbetrachtung kommen daher nicht in Betracht, Herdegen (Fn. 6), S. 243 ff. m.w.N.
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Gewissensentscheidung muß eine ernsthafte und für den Einzelnen gewichtige Entscheidung sein 15 . Es gibt eine Reihe von Entscheidungen höchster Gerichte, die eine Gewissensentscheidung abgelehnt haben, wenn etwa ein Schöffe aus angeblicher Gewissensnot an einem Strafverfahren nicht mitwirken wollte 16 , wenn jemand seine Kinder aus angeblicher Gewissensnot nicht auf die Schule schicken wollte 17 , wenn jemand aus angeblicher Gewissensnot die Stromrechnung nicht bezahlen wollte, weil der Strom aus einem Atomkraftwerk stammte 18 , oder wenn jemand aus angeblicher Gewissensnot die Zahlung von Steuern verweigerte, weil diese entgegen seinen pazifistischen Vorstellungen zur Finanzierung der Bundeswehr und deren Auslandseinsätze verwendet werden 19. A l l dies sind Bereiche, in denen demokratisch legitimierte Gesetze bestimmte Pflichten vorschreiben; Gewissensentscheidungen in jenem allgemeinen politischen Bereich sind aber nicht vorstellbar, weil diese Fragen politischer Gestaltung nicht an Gut oder Böse zu messen sind 20 . Davon abgesehen kann man nicht verlangen, daß die eigene Gewissensentscheidung für das Verhalten Dritter oder des Staates verbindlich ist 21 . So kann man z. B. nicht verlangen, daß die Krankenkasse, bei der man pflichtversichert ist, keine Abtreibungen finanziert, weil man dies mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann 22 . Die Freiheit, nach Gewissen zu handeln, ist vom Grundgesetz nicht ohne Grenzen gewährt 23. So mag jemand es als Gewissensentscheidung ausgeben, den natürlichen Lauf der Dinge nicht verändern zu dürfen. Der Respekt vor der Natur mag hier Leitmotiv für Gewissensentscheidungen sein. Darf man dann aber die Bluttransfusion für sein Kind ablehnen, das an schwerer Krankheit leidet und nur durch eine Bluttransfusion gerettet werden kann? Die Antwort des Verfassungsrechts auf diese Frage ist klar: Gewissensentscheidungen dürfen nicht dazu führen, dass Dritte an Gesundheit oder Leben gefährdet oder 15 Kokott, in: Sachs, Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 4 Rdn. 72; bloße Unlustgefühle reichen nicht, BVerwGE 7, 245 (247 f.). 16 OLG Karlsruhe, NJW 1996, 606 f f ; dazu Lisken, NJW 1997, 34 ff. 17 BVerfG, JZ 1986, 1019 f. 18 BVerfG, NJW 1983, 32; AG Hamburg, NJW 1979, 2315 f.; AG Stuttgart, NJW
1980, 1108; Hermann, BB 1979, 602 ff.; Mucket, NJW 2000, 689 ff. 19
BVerfG, NJW 1993, 455; BFH, NJW 1992, 1407 ; anders aber für eine Gewissensentscheidung des Soldaten, nicht unterstützend am Irak-Krieg mitzuwirken: BVerwG, NJW 2006, 77 (93 ff). 20
BVerfGE 67, 26 (37); Zippelius/Würtenberger
(Fn. 4), S. 236; Muckel (Fn. 18),
690. 21
BVerfGE 67, 26 (37); Mager, in: von Münch/Kunig, GG Bd. 1, 5. Aufl. 2000, Art.
4 Rdn. 49; Herdegen (Fn. 6), S. 167 ff., 255 ff.; Francke, AöR 114 (1989), 7 (39 f.).
22 BVerfGE 67, 26 (37); dazu P. Krause, NVwZ 1985, 87 ff.; Francke (Fn. 21), S. 36 ff. 23 Zu den Schranken allgemein: Freihalter, Gewissensfreiheit, Aspekte eines Grundrechts, 1973, 218 ff.; Muckel (Fn. 18), S. 689 ff.
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geschädigt werden. Die Freiheit des Gewissens und nach dem Gewissen zu handeln findet also ihre Grenze an kollidierenden Grundrechten Dritter 24 . Ob diese Grenzen der Gewissensfreiheit durch die Bestimmung des Gewährleistungsbereichs des Art. 4 Abs. 1 GG oder durch Abwägung mit kollidierenden Grundrechten gezogen werden, sei an dieser Stelle nicht weiter vertieft. Sie ist jedenfalls mit der Freiheit der anderen, also mit ihren Freiheitsgrundrechten, in Ausgleich zu bringen. Dabei hat der Staat insofern eine Schutzpflicht, als er in dem genannten Beispiel das Leben des Kindes gegenüber Gewissensentscheidungen seiner Eltern, die dieses Leben gefährden, schützen muß 25 .
2. Rechtfertigung von Rechtsbrüchen durch Gewissensentscheidungen Dies führt zu der schwierigen Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Gewissensentscheidung einen Rechtsbruch moralisch oder gar rechtlich zu rechtfertigen oder zu entschuldigen vermag. Seit Jahrhunderten wird diese Frage unter dem Stichwort des Tyrannenmordes abgehandelt26. Wann kann es das Gewissen rechtlich oder moralisch legitimieren, den Tyrannen zu töten oder den tyrannischen Staat in ein revolutionäres Chaos zu stürzen, um eine neue bessere politisch-rechtliche Ordnung herbeizuführen? Diese viel diskutierte Frage 27 läßt sich wohl folgendermaßen beantworten: Nach dem alten „ut non conturbaretur ordo" 28 , also nach dem Grundsatz, daß die Frieden stiftende und das Leben schützende Rechtsordnung nicht gestört werden dürfe 29 , sollte der Einzelne kraft seines Gewissens auch eine autoritäre oder tyrannische Rechtsordnung zum einen hinnehmen, zum anderen aber auch auf deren friedlichen Wandel dringen 30 . Diese Duldungspflicht ist aber nicht 24
Bäumlin (Fn. 10), S. 25; Böckenförde
(Fn. 10), S. 60; Bethge, HdbStR VI (1989),
§ 137 Rdn. 40; zur Bestimmung des Gewährleistungsbereichs von Art. 4 Abs. 1 GG:
Zippelius/Würtenberger
(Fn. 4), S. 182 m.w.N.
25
OLG Celle, NJW 1995, 792 ff.
26
Radbruch, SJZ 1948, 311; Jagusch , SJZ 1949, 324 (325); Zippelius , Geschichte
der Staatsideen, 10. Aufl. 2003, Kap. 5d, 6a, 7c, 9a, b, 12 а, c, 13b, 16d. In der Literatur etwa Schiller , Wilhelm Teil; Camus, Les Justes. 27 28
Dazu Herdegen (Fn. 6), S. 68 f.
Vgl. Zippelius , Allgemeine Staatslehre, 14. Aufl. 2003, S. 161. 29 Paulus, Römer 13, 1. Dazu Zippelius, Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, 1994, Kap. 25 (insb. S. 312 f.); A. Kaufmann, Vom Ungehorsam gegen die Obrigkeit, 1991, S. 19 ff. 30 Piaton, Kriton, 50a ff.; Sokrates begründet seinen Gehorsam gegenüber dem für unrichtig gehaltenen Todesurteil mit der Gesetzesgeltung und - philosophischsystematisch mit ihr verbunden - der positivistischen Idee des stabilen Staates; Hobbes, Leviathan (Nachdruck der Ausg. von 1651), 1958, Kap. 26; ausführlich dazu Herdegen (Fn. 6), S. 52 ff.; Kant (Fn. 2), Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, II. Teil: Öffentliches Recht, I. Staatsrecht, Allgemeine Anmerkung A (S. 439 ff.); Bodin , Les six livres de la republique, II. Kap. 5.
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unbegrenzt: Wenn die politisch-rechtliche Ordnung in einem Staat menschenverachtend, Minderheiten in ihrem Leben bedrohend und diskriminierend ist, so kann es das Gewissen moralisch gebieten und rechtlich rechtfertigen, daß Widerstand geleistet und das Leben derer angegriffen wird, die im Zentrum dieser menschenverachtenden Ordnung stehen31. Hier sei an den 20. Juli 1944 erinnert 32 . Diese Form des Widerstandsrechts ist deutlich zu unterscheiden von der kleinen Münze des zivilen Ungehorsams, wenn etwa Straßen oder Kasernen oder Presseunternehmen blockiert werden, um auf die Umweltpolitik, auf die Politik der Inneren Sicherheit oder auf die Presse Einfluß zu nehmen33. Soweit hier Leben, Gesundheit, Freiheit oder Sachgüter verletzt werden, sind solche Aktionen gleichwohl nicht strafrechtlich durch eine Gewissensentscheidung gerechtfertigt oder entschuldigt34. Wer im demokratischen Rechtsstaat gegen das, was durch die demokratisch-legitimierte Gesetzgebung geregelt ist, auf die Straße geht, mag sich zwar auf die Demonstrations- und Meinungsäußerungsfreiheit berufen, eine wirkliche Gewissensentscheidung im rechtlichen Sinn liegt jedoch nicht vor. Demgemäß darf der Staat hier durchaus Strafen wegen Körperverletzung, Nötigung etc. verhängen 35. Eine sehr viel schwierigere Problematik hat sich im Fall des stellvertretenden Polizeipräsidenten von Frankfurt gestellt: Dieser hatte einem Entführer eines Kindes Folter angedroht, falls er nicht angibt, wo dieses Kind versteckt sei. Dabei ging man davon aus, daß das Kind durchaus noch am Leben sein könne und sein Leben nur durch eine sehr rasche polizeiliche Aktion zu retten sei. Der Straftäter gab den Ort des Verbrechens preis, das Leben des entführten Kindes konnte aber nicht mehr gerettet werden. Würdigt man dieses verfassungsrechtlich, so gelangt man in erhebliche Wertungsprobleme. Art. 1 Abs. 1 GG fordert, daß der Staat die Würde des Menschen zu achten und zu schützen habe. Art. 1 Abs. 1 GG gebietet dem Staat, was für den Einzelnen auch vor dem Forum seines Gewissens geboten sein dürfte: Den Anderen als Subjekt zu achten, ihn aber nicht als Objekt für die Verfolgung eigener Ziele zu benutzen36. Die Achtung der Würde des Anderen ist eben auch als Gewissensentscheidung geboten. Daraus läßt sich herleiten:
31 32 33
Herdegen (Fn. 6), S. 68 f. Dazu Zippelius (Fn. 29), S. 308 ff. Dazu ausführlich Gröschner, in: Dreier (Hg.), GG-Kommentar, Bd. 2, 1998, Art.
20 (Widerstandsrecht), Rdn. 17; U. Karpen, JZ 1984, 249 ff; Zippelius/Würtenberger (Fn. 4), S. 507. 34 Ausführlich Mager (Fn. 21), Rdn. 50 m.w.N. 35 36
Mager (Fn. 21), Rdn. 50.
BVerfGE 9, 89 (95); 30, 1 (25); 96, 375 (399 f.); Düng, AöR 81 (1956), 117 (127 ff.).
Gewissen und Recht
433
Art. 1 Abs. 1 GG verbietet, daß Straftäter gefoltert werden dürfen, um ein Geständnis zu erpressen 37. Dieser Grundsatz ist auch im europäischen und im Völkerrecht anerkannt 38. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union 39 und die Europäische Menschenrechtskonvention 40 verbieten Folter ebenso wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 41. Im Hinblick auf dieses grundsätzliche Folterverbot läßt sich fragen: Hat es der Staat nicht auch zur Aufgabe, ein Leben der Bürger in Würde gegenüber denjenigen zu schützen, die dieses Leben für eigennützige Forderungen gefährden und vernichten? Und wäre Rettungsfolter nicht vielleicht dann erlaubt, wenn der Terrorist zwar weiß, wann und wo in den nächsten Tagen irgendwo in Europa ein Hochhaus gesprengt werden soll, damit terroristischen Forderungen Nachdruck verliehen werden kann? Solche Fragen an die Legitimität der Rettungsfolter werden nicht ohne Grund gestellt: Denn in den genannten Szenarien machen Terroristen oder Straftäter andere Mitmenschen zum Objekt ihrer verbrecherischen oder terroristischen Planungen. In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird bisweilen vertreten, daß in solchen Situationen durchaus an Folter zu denken sei 42 . Denn hier stehe die Würde des einen, der aber die Rechtsordnung in menschenverachtender Weise gefährdet, gegen die Würde des anderen, der zum Objekt verbrecherischer und terroristischer Pläne geworden ist 43 . In einer solchen Situation sei es durchaus naheliegend, daß der Staat nach sorgfältiger Abwägung die Würde und das Leben der bedrohten Einzelnen zu retten versucht 44. Dabei ist davon auszugehen, daß die Gebote des Achtens und des Schützens menschlicher Würde von gleicher rechtlicher Relevanz sind. Versuche, dem Gebot des Achtens Vorrang vor der staatlichen Schutzpflicht im Bereich menschlicher Würde einzuräumen, sind nicht überzeugend. Zwar hat der Staat im Schutzpflichtenbereich größere Gestaltungsspielräume als im Eingriffsbereich. Für den Bereich menschlicher Würde gilt aber: Bei tiefgreifenden Beeinträchtigungen menschlicher Würde muß vom Staat sorgfältig abgewogen werden, ob und mit welchen Maßnahmen eingeschritten werden soll; eine solche abwägende Entscheidung grundsätzlich
37
Zippelius/Würtenberger
38
Zur supranationalen Ebene: Dreier , in: ders. (Fn. 4), Art. 1 Rdn. 26 ff. Art. 4; dazu Oppermann , Europarecht, 3. Aufl. 2005, § 6 Rdn. 40 ff. Art. 3 EMRK.
39 40
(Fn. 4), S. 203 f.; Merten , JR 2003, 407 ff.
41
Art. 5; Dreier , in: ders. (Fn. 4), Art. 1 Rdn. 26 ff. Brugger , JZ 2000, 165 (167 ff.); Wittreck , DÖV 2003, 873 (879); Welsch , BayVBl. 2003, 481; Miehe, NJW 2003, 1219. 43 Für eine Abwägbarkeit in solchen Fällen: Jarass (Fn. 4), Art. 1 Rdn. 12; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 1 Rdn. 31. Dagegen Merten (Fn. 37), S. 407 f.; Welsch, BayVBl 2003, 481 (484 f.). 42
44
Brugger (Fn. 42), S. 167 stellt hierfür einen Kriterienkatalog auf.
434
Thomas Würtenberger
zu unterlassen und damit ein bewußtes Tolerieren von solchen Würdeverletzungen kann nicht in Betracht kommen 45 . Eine derart begründbare Durchbrechung des Folterverbots entspricht aber nicht den internationalrechtlichen Vorgaben, zu deren Einhaltung Deutschland verpflichtet ist 46 . In der Tat gehört es zu den Errungenschaften des Rechtsstaates, daß der Staat zur Aufklärung selbst schwerster Verbrechen auf Folter verzichtet 47 . Darüber, ob dies auch gilt, wenn es bei der sog. Rettungsfolter um die Abwehr von Gefahren für Leben und Würde dritter Personen geht, mag man nicht nur verfassungsrechtlich, sondern auch in ethischer Perspektive trefflich streiten 48. Es spricht manches dafür, dem Staat mit dem allgemeinen Folterverbot auch die Rettungsfolter zu untersagen. Gehört doch das Folterverbot zu den Marksteinen der Entwicklung europäischer Rechtsstaatlichkeit. An dieser Grundfeste der Rechtsstaatlichkeit ist bedingungslos festzuhalten. Ist es gerade doch auch das Anliegen der derzeitigen Welle des Terrorismus, den Rechtsstaat dazu zu veranlassen, seine eigene rechts staatliche Ordnung um der Bekämpfung der Gefährdungslage willen aufzugeben 49. Die Konsequenz dieser rigoristisch rechtsstaatlichen bzw. die Würde des Verbrechers schützenden Haltung ist allerdings fatal. In den von Brugger geschilderten und keinesfalls mehr realitätsfernen Szenarien werden dem Staat Handlungsmöglichkeiten abgeschnitten, so daß die Bürger, die hätten gerettet werden können, den „Tod für den Rechtsstaat" hinnehmen müssen. Für diese fordert der Rechtsstaat und in ihm der Würdeschutz des Verbrechers einen extrem hohen Preis. So gesehen drängt sich die Metapher vom „Tod für das
45 Würtenberg er/Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 6. Aufl. 2005, Rn. 92b; anders BVerfG 1 BvR 357/05, Urteil vom 15.2.2006, Rn. 137 ff. - Luftsicherheitsgesetz, das die verfassungsrechtliche Problematik der Würde- gegen WürdeKonstellation bei einem finalen Rettungsabschuß eines Passiergierflugzeuges übergeht; bei entsprechenden Konflikten hilft damit in Konsequenz dieser Rechtsprechung kein rechtlich vertretbarer Maßstab, sondern kann der Einzelne nach seinem Gewissen zu entscheiden veranlaßt sein. Bei Hohmann-Dennhardt (Freiräume - Zum Schutz der Privatheit, NJW 2006, 545 ff.) findet man die tiefere Begründung für die Rechtsprechung des 1. Senats des Bundesverfassungsgerichts, das den Würdeschutz der bedrohten Personen gering achtet: Freiheitsschutz soll gegenüber einem Leben in Sicherheit und damit auch gegenüber dem Schutz der Würde bedrohter Personen einen deutlichen Vorrang haben. Und für die geschilderten Bedrohungsszenarien soll nach HohmannDennhardt der Grundsatz gelten: „Man sollte nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen". Die Zukunft wird weisen, zu welchen Folgen und zu welchen Gewissenskonflikten eine Rechtsprechung führt, die um eines derartigen Freiheitsschutzes willen Maßnahmen zur Abwehr von existenzbedrohenden Gefahren in die Verfassungswidrigkeit drängt. 46
Vgl. oben Fn. 39, 40, 41 und Art. 7 IPbpR.
47
Hilgendorf,,
48
Zum Meinungsstand: Götz, NJW 2005, 953 ff. m.w.N.
49
Schäfer, NJW 2003, 947.
JZ 2004, 336 ff.; Merten (Fn. 37), S. 407; Kretschmer, RuP 2003, 108.
Gewissen und Recht
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Vaterland" auf, mit der seit Mitte des 18. Jahrhunderts der Einsatz auch des Lebens für einen freiheitlichen Staat gefordert wurde 50 . Dieser rechtsstaatliche Rigorismus hat allerdings die Gewissensentscheidung des verantwortlich handelnden Staatsorgans zu respektieren. Im Frankfurter Fall wurde der stellvertretende Polizeipräsident für sein Verhalten zwar verurteilt 51 . Dabei hat man aber beim Strafmaß seine Gewissensentscheidung berücksichtigt. Er hat in einer Situation gehandelt, in der ihm sein Gewissen gesagt hat, daß die Rettung des Lebens des Kindes unabhängig von allem entgegenstehenden Recht höchstes Gebot sei. Eine solche Gewissensentscheidung verdient den Respekt der Rechtsgemeinschaft, was für Straf- und Disziplinarverfahren von Bedeutung ist. Eine derartige Gewissensentscheidung hat bei der rechtlichen Bewertung von in Gewissensnot begangenen Straftaten hinreichende Berücksichtigung zu finden. Das Bundesverfassungsgericht hat für derartige Gewissenskonflikte Maßstäbe entwickelt, die für eine Beurteilung der Polizeifolter wegleitend sein dürften: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit setzt der Staatstätigkeit jeder Art, auch bei der Strafzumessung im Strafverfahren, Wertmaßstäbe und muß beachtet werden. Dieses Grundrecht wirkt sich hier aus als allgemeines Wohlwollensgebot gegenüber Gewissenstätern 52. Seine Auswirkungen im einzelnen und die sich aus ihm ergebenden verfassungsrechtlichen Grenzen für den Strafanspruch des Staates kann sich nur bei Prüfung im Einzelfall ergeben. Hierbei ist die Bedeutung für die Ordnung des Staates und die Autorität des gesetzten Rechts auf der einen und die Stärke des Gewissensdruckes und die dadurch geschaffene Zwangslage auf der anderen Seite in Betracht zu ziehen53. Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist kritisiert worden, weil sie möglicherweise Straftätern, die aus anderen Rechtskulturen kommen und deren Gewissen anders geprägt ist, von einer Bestrafung nach deutschem Recht weitgehend freistellen könnten 54 . Diese Kritik geht jedoch fehl, weil das Bundesverfassungsgericht sehr deutlich auf die Einzelfallprüfung abgestellt hat, wobei zum einen der Gehorsamsanspruch des positiven Rechts und zum anderen die Gewissensnot des Betroffenen jeweils in Erwägung zu ziehen sind 55 . Aber auch die Lösung, die sog. Rettungsfolter oder den finalen Rettungsabschuß einer Passagiermaschine56 der Gewissensentscheidung des verantwortlich 50
Abbt, Vom Tode für das Vaterland, 1761. LG Frankfurt, NJW 2005, 692 ff. 52 BVerfGE 23, 127 (134); Kokott (Fn. 15), Art. 4 Rdn. 78. 53 BVerfGE 23, 127 (134). 54 v. Campenhausen, in: Isensee/P. Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts VI, 1989, § 136 Rdn. 58. 55 BVerfGE 23, 127 (134). 56 Vgl. Fn. 45. 51
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handelnden Staatsorgans zu überantworten 57, vermag nicht gänzlich zu überzeugen. Man kann darin ein hohes Maß an Spitzfindigkeit sehen, zum einen um des Würde- und Lebensschutzes willen diese Maßnahmen als verfassungswidrig und nicht legalisierbar zu qualifizieren, dabei aber zum anderen einzuräumen, daß entsprechende Gewissensentscheidungen auf das Verständnis der Rechtsgemeinschaft stoßen. Derartige Bedenken verstärken sich, wenn durch verfassungsrechtliche Wertungen Entscheidungen und Maßnahmen von Staatsorganen in den Bereich des Verfassungswidrigen gedrängt werden, die in der ethischen Diskussion und möglicherweise auch von bedeutsamen Teilen des kollektiven Rechtsgewissens für legitimierbar gehalten werden. Vielleicht führt es auch zu einer Gefährdung der rechtsstaatlichen Ordnung, manifest werdende Probleme in den Grenzbereichen von Ethik und Recht nicht durch demokratisch legitimierte rechtliche Regelungen zu bewältigen, sondern sehenden Auges durch Gewissensentscheidungen lösen zu lassen.
I I . Gewissen als Grundlage rechtlicher Ordnung 1. Gewissen, Autonomie, Demokratie Wechseln wir die Perspektive und fragen nach dem Verhältnis von Gewissen, Autonomie und demokratischer Ordnung. Der Autonomiegedanke, also die Idee, daß jeder nach selbstgesetzten Maßstäben zu leben berechtigt sei, legt folgende Schlußfolgerung nahe: Niemand kann den Anspruch erheben, er sei allein in der Lage, absolut richtige Gewissensentscheidungen zu treffen. Wenn dem so ist, dann muß die Gewissensüberzeugung jedes Menschen gleich viel gelten58. Der Einzelne muß die Anderen, also seine Mitmenschen, als prinzipiell gleich zu achtende moralische Instanzen anerkennen. Dies gebietet im übrigen nicht nur der verfassungsrechtliche Gleichheitssatz, sondern auch die Achtung der Würde des Mitmenschen59. Dieser ist eine gleichberechtigte moralische Instanz, wenn er sich bei seinen Entscheidungen auf sein Gewissen beruft. Hieraus hat Kant die Folgerung gezogen: Hat die Gewissensüberzeugung eines jeden gleichen Anspruch auf Achtung, dann führt dies im Bereich der Moral zu dem Anspruch eines jeden, den Überzeugungen zu folgen, die er für richtig befunden hat und für die er sich entschieden hat 60 .
57
Vgl. Würtenberger/Heckmann
(Fn. 45), Rn. 787 a; Hilgendorf \ Tragische Fälle, in:
Blaschke u.a. (Hg.), Sicherheit statt Freiheit?, 2005, S. 107, 130. 58 Zippelius, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. 2003, § 6 II. 59 Zur Frage der unmittelbaren Wirkung der Menschenwürde auch für Private: Dreier (Fn. 38), Art. 1 Rdn. 137 m.w.N. 60 Kant (Fn. 2), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten (S. 74 ff.).
Gewissen und Recht
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Für den Bereich von Recht und Staat führt die Vorstellung von der gleichberechtigten moralischen Kompetenz aller zu dem demokratischen Anspruch auf Mitbestimmung und Mitentscheidung auch in den letzten und nur vor dem Gewissen zu lösenden Fragen von Recht und Gerechtigkeit 61. Außerdem sollte die demokratische Ordnung auf dem beruhen, was die meisten nach ihrem Gewissen verantworten können 62 . Die demokratische Ordnung sollte, aber muß sich nicht daran orientieren, was in der Gesellschaft allgemein kraft Gewissensentscheidung für gut oder für böse gehalten wird. Dies ist in der Regel der Fall, wie sich in Anlehnung an ein berühmtes Beispiel von Kant 63 zeigen läßt: Findet man nachts und unbeobachtet einen 500 €-Schein, so sagt das Gewissen: Dieses Geld nicht behalten, sondern dem Eigentümer wieder zukommen lassen. Die dieses gebietende Strafnorm verlangt nur das, was das Gewissen ohnehin fordert. Rechtsnormen, die etwas gebieten oder verbieten, was kraft Gewissensentscheidung nicht mehr in der Gesellschaft konsensfähig ist, werden geltungsschwach und können auf längere Sicht auch nicht durch Zwangsmaßnahmen durchgesetzt werden 64. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Entwicklung des Rechts der Abtreibung 65 . In der ersten Abtreibungsentscheidung hat das Bundesverfassungsgericht Mitte der 70er Jahre des 20. Jh. am traditionellen Schutz des ungeborenen Lebens festgehalten und es für verfassungsrechtlich geboten erachtet, daß Abtreibungen außerhalb bestimmter Indikationslagen zu bestrafen seien66. Dem entgegenstehend gibt es seit den ausgehenden 60er Jahren eine grundsätzliche Neubewertung des Schutzes des ungeborenen Lebens. Im kollektiven Bewußtsein setzte sich, wie empirisch festgestellt wurde, die Vorstellung durch, eine Fristenlösung ließe sich durchaus vor dem Gewissen verantworten, daß also in einem frühen Stadium der Schwangerschaft abgetrieben werden könne. Dies wurde sodann auch in rechtswidriger Weise Rechtspraxis, der weder die Gerichtsbarkeit noch die politischen Parteien entgegengetreten sind 67 .
61
Dazu Rousseau, Contrat social, 1762, I I 6. In neuerer Zeit Habermas , Technik und Wissenschaft als Ideologie, 8. Auf. 1976, S. 164 („herrschaftsfreier Dialog aller mit allen"). 62
Zippelius (Fn. 58), § 6 II; § 11 II 2, 4, § 18 I.
63
Kant , Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, 1793, Akademie Ausgabe, Bd. V I I I Abhandlungen nach 1781, Berlin 1968, S. 273 (286). 64 Rehbinder, Rechtssoziologie, 5. Aufl. 2003, Rdn. 116, 118 f., 126 ff.; Zippelius
(Fn. 58), § 32 I; ausführlich: Würtenberger 65
(Fn. 1), S. 122 ff.
Würtenberger , Gesetz, Rechtsbewußtsein und Schutz des ungeborenen Lebens, in: Schriftenreihe der Juristen Vereinigung Lebensrecht, Nr. 5 (1988), S. 31 ff. 66 BVerfGE 39, 1 ff. (67). 67 Umfassend zu dieser Entwicklung Würtenberger (Fn. 1), S. 225 ff.
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Nachdem der Schutz des ungeborenen Lebens im kollektiven Rechtsgewissen stark abgebaut war, sah sich das Bundesverfassungsgericht in der zweiten Abtreibungsentscheidung Mitte der 90er Jahre des 20. Jh. zu folgendem veranlaßt: Da der Schutz des ungeborenen Lebens durch strafrechtliche Vorschriften wirkungslos geworden war, wurde dem Gesetzgeber ein neues Schutzkonzept vorgegeben. Dieses besteht darin, daß eine Abtreibung nur dann rechtlich statthaft ist, wenn zuvor eine Beratung erfolgt war. Es wurde also an das angeknüpft, was längere Zeit zur Rechtspraxis geworden war, nämlich die Fristenlösung, aber ergänzt durch eine Pflicht zur Beratung 68. Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich erkannt, daß Rechtsnormen in diesem ethischen Bereich, in dem eine Erosion des kollektiven Gewissens zu beobachten ist, in der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht durchgesetzt werden können und damit auch nicht den intendierten rechtlichen Schutz entfalten. Deswegen fordert es, daß in Schulen und durch die Massenmedien darauf hingewirkt werden solle, daß das Rechtsgewissen des Einzelnen den Schutz des ungeborenen Lebens als ethisch verbindlich wieder verstärkt bejahe. Daß dieser Appell des Bundesverfassungsgerichts nicht ernst genommen wird, war bereits zu Zeiten der Entscheidung zu erwarten.
2. Der Jurist als Hüter und Verwalter des Rechtsgewissens Wechseln wir ein letztes Mal die Perspektive und fragen nach der Bedeutung des kollektiven Rechtsgewissens für die Arbeit des Juristen. Seine Aufgabe ist kurz zusammengefaßt: Der Jurist ist Hüter und Verwalter des kollektiven Rechtsgewissens und sucht die Rechtsordnung so fortzuentwickeln, daß keine Konflikte zwischen einer rechtlich gebotenen und einer nach Gewissen gebotenen Entscheidung entstehen69. Um einige Beispiele zu nennen: Im Strafrecht hat man die Dogmatik des Notstandes und des übergesetzlichen Notstandes entwickelt, um den Einzelnen vor Strafe zu bewahren, wenn er etwa, um das eigene oder fremde Leben zu retten, in auswegloser Situation zur Tötung eines Menschen gezwungen ist. Um hier ein Beispiel aus der jüngsten Diskussion zu geben: Die Ehefrau ermordet ihren schlafenden Ehemann, der über Jahre hinweg sie und ihre Kinder wie Sklaven behandelt, in ihrer Gesundheit verletzt und sexuell mißbraucht hatte70. Rechtlich ist diese Verzweiflungstat als Mord zu qualifizieren und müßte zu lebenslanger Freiheitsstrafe führen. Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe kommen nach überkommener
68
BVerfGE 88, 203 ff. Vgl. zur entsprechenden theologischen Fragestellung nach der „Kirche - Anwältin des Gewissens?": Schockenhoff, Das umstrittene Gewissen, 1990, S. 30 ff., 140 ff. 70 BGH, NStZ 2005, 154 ff. (Familientyrann II); Widmaier, NJW 2003, 2788 ff.; Rengier, NStZ 2004, 233 ff. 69
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Strafrechtsdogmatik meist nicht in Frage, was nicht weiter diskutiert werden soll 71 . Gleichwohl hat man in der Rechtspraxis das Bedürfnis, die schwierige Entscheidung der Frau, die sie vor ihrem Gewissen zu verantworten hat, jedenfalls beim Strafrahmen zu würdigen 72 . Mord in einem minderschweren Fall gibt es freilich nicht, so daß dem Richter auf den ersten Blick die Hände gebunden sind. Das Strafgericht mag in einem solchen Fall einen Psychiater bestellen, der in seinem Gutachten bei Würdigung der Zwangssituation zu einer verminderten Schuldfähigkeit gelangt. Dies wiederum gibt die Handhabe, zu einer strafgerichtlichen Verurteilung zu kommen, die zum einen der Gewissensnot der Frau entspricht und zum anderen dem allgemeinen Gerechtigkeitsbedürfnis nachkommt. Ein anderer Bereich betrifft die Gewissensentscheidung des Forschers, der an überzähligen Embryonen forscht 73. Die Konfliktlage besteht darin, daß bei verbrauchender Embryonenforschung das Leben des überzähligen Embryo vernichtet wird, zugleich aber von den Forschungsergebnissen mit Recht erwartet werden kann, daß sie künftig das Leben vieler Menschen retten oder jedenfalls ein Leben frei von schwerer Krankheit ermöglichen können. Hier stellt sich die Frage: Soll dem Forscher eine derartig lebensvernichtende Embryonenforschung gestattet werden? Soll es seinem Gewissen überlassen bleiben, ob er sie um des Schutzes von Leben und Gesundheit vieler künftiger Personen durchführt? Hier gibt es bekanntlich zwei Lager: das eine erachtet die Embryonenforschung für rechtlich und ethisch, also als Gewissensentscheidung, für vertretbar 74 , das andere lehnt Embryonenforschung schlechthin ab 75 . Für die juristische Beurteilung stellen die einen darauf ab, daß mit menschlichem Leben zugleich auch menschliche Würde zu schützen sei 76 . Werden derart Würdeschutz und Lebensschutz miteinander verkoppelt, so ist eine verbrauchende Embryonenforschung verfassungswidrig, auch wenn der einzelne Forscher sie vor seinem Gewissen verantworten kann. Andere argumentieren damit, daß Lebensschutz und Würdeschutz zu entkoppeln seien. Würdeschutz komme erst dem geborenen Individuum zu, währenddessen der Lebensschutz des Embryos durchaus in einer Gewissensentscheidung mit dem Lebensschutz Dritter abgewogen werden könne 77 . Auch hier versucht der Jurist rechtliche Lösungen zu 71 72
Zu Lösungen über den entschuldigenden Notstand: Rengier (Fn. 70), S. 235. BGH, NStZ 2005, 154 ff. (Familientyrann II).
73
Dazu Würtenberger/Zippelius (Fn. 4), S. 204 f.; Dederer , AöR 2002, 17 ff.; Böckenförde, JZ 2003, 812 ff. 74 Ipsen, JZ 2001, 995 ff.; Dederer (Fn. 73), S. 17 ff. 75 Böckenförde (Fn. 73), S. 812 ff. 76 Böckenförde (Fn. 73), S. 812 ff. 77
Dederer (Fn. 73), S. 17 ff.; Ipsen (Fn. 74), S. 995 ff. verneint selbst den Lebensschutz, will aber eine staatliche Schutzpflicht begründen.
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finden, die zum einen dem Lebensschutz verpflichtet sind, zum anderen aber auch der Gewissensentscheidung des Forschers Raum geben können. Ganz allgemein läßt sich sagen: Der Jurist orientiert sich am Rechtsgewissen oder auch am Rechtsgefühl, um die Rechtsordnung in einer Weise fortzuentwickeln, daß auf neue Fragen nach dem, was gut oder böse, was richtig oder falsch ist, Antworten gegeben werden können. Durch seine Ausbildung und durch seine Berufspraxis ist der Jurist eingehend geschult, das Für und Wider einer derartigen am Rechtsgewissen und Rechtsgefühl 78 orientierten Fortbildung der Rechtsordnung zu diskutieren und zu konsensfähigen Ergebnissen zu gelangen79. Zwischen Rechtsordnung und Gewissen gibt es enge Wechselbeziehungen80. Zum einen muß die Rechtsordnung Orientierungspunke dafür setzen, wie man gemeinhin nach seinem Gewissen richtig entscheidet. Zum anderen muß die Rechtsordnung aber auch weitgehend dem entsprechen, wie man in Konfliktsituationen individuell nach seinem Gewissen entscheidet81. Die Rechtsordnung muß also Ausdruck dessen sein, was von der großen Mehrheit der Bürger als gut oder böse qualifiziert sowie als mit dem Gewissen vereinbar oder unvereinbar angesehen wird 82 . Dabei fällt dem Juristen die wichtige Rolle zu, mögliche Gewissenskonflikte bei neu auftauchenden Problemsituationen zu erkennen und in einer Weise rechtliche Lösungen zu bieten, die den Rahmen für verantwortungsvolle Gewissensentscheidungen setzen83. Ein rechtschaffenes Gewissen an den zentralen Werten gesellschaftlichen Zusam78
Zum Rechtsgefühl: Zippelius (Fn. 29), Kap. 2 II. Dazu eignet sich der Jurist vor allem wegen seiner im persönlichen Umgang teilweise ungeliebten Fähigkeit, sich emotionaler Regung zu enthalten. Hierzu: Liebs, Der ungeliebte Jurist in der Alten Welt, Abschiedsvorlesung Universität Freiburg, Sommersemester 2005; im Ansatz auch Widmaier (Fn. 70), S. 2788. 80 Eingehend dazu Würtenberger (sen.) (Fn. 2), S. 351 ff; Recht und Gewissen stehen für ihn auf einer Ebene, Würtenberger (sen.) (Fn. 2), S. 337. 81 Zu dem seit 1945 und nach 1989 vielbehandelten rechtsphilosophischen Grundproblem des Auseinanderfallens von Rechtsordnung und Gewissen und dem Ausweg des Naturrechts: Radbruch, SJZ 1946, 105 ff; Würtenberger (sen.) (Fn. 2), S. 355; in neuerer Zeit: Alexy, Mauerschützen - zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit, 1993, S. 11 ff.; Gropp, Naturrecht oder Rückwirkungsverbot?, in: Schmoller (Hg.), FS Triffterer, Wien 1996, S. 103 ff. 82 Dazu Zippelius (Fn. 58), § 5 I 2, § 6 II. Diese Konsensfähigkeit des Rechts darf nicht auf ein vordergründiges Abfragen von Mehrheitsmeinungen hinauslaufen, sondern muß auf subtilere Weise abgeklärt werden, Zippelius (Fn. 58), § 6 II. Dazu eignet sich in besonderer Weise die parlamentarische Demokratie, Zippelius (Fn. 58), § 11 I 4. 83 Auf einer ersten Stufe erfolgt dieser Ausgleich zwischen dem Gewissen des Einzelnen, dem kollektiven Rechtsgewissen und objektivem Regelungsbedarf durch den Gesetzgeber in Form einer „Grobsteuerung". Auf einer zweiten Stufe ist es Aufgabe des Juristen, eine Feintarierung und Sonderlösungen zu erreichen. Zu dieser wichtigen Rolle des Juristen: Zippelius, Gründung der Gerechtigkeit auf Gewissen und Konsens, in: ders., Verhaltenssteuerung durch Recht und kulturelle Leitideen, 2004, S. 61 (79 f.); ders. (Fn. 29), Kap. 2 II 3. 79
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menlebens zu orientieren, aber auch verantwortungsvolle individuelle Gewissensentscheidungen zu ermöglichen, gehört zu den wichtigen Aufgaben des Rechts84.
I I I . Schlußbemerkung Zum Schluß sei nochmals auf Hegels Unterscheidung von subjektivem und objektivem Gewissen zurückgekommen 85. Gewiß lassen sich Entscheidungen des individuellen Gewissens nicht objektivieren. Aber die verfassungsrechtliche Ordnung gibt doch den großen Rahmen, innerhalb dessen Gewissensentscheidungen den Respekt der Rechtsgemeinschaft finden können. Grundlage unserer Gewissensentscheidungen ist letztlich eine freiheitliche und demokratische Ordnung mit der Würde des Menschen als oberstem Leitprinzip 86 . Dies ist das identitätsprägende Fundament, das die Freiheit des Gewissens zu respektieren zur Voraussetzung hat. Wer eine solche Ordnung und wer deren Werte mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann, ist zur Auswanderung gezwungen. Insofern war die auch vom Grundgesetz gewährleistete Auswanderungsfreiheit immer eine Freiheit, mit der man Zwängen im Hinblick auf Religion, Weltanschauung und Gewissen entgehen konnte 87 .
84 85
Würtenberger
(sen.) (Fn. 2), S. 354 ff.
Fn. 13. 86 Zur Problematik der Relativierung dieser Grundlagen von Gewissensentscheidungen: Schweidler , Kommentar, in: Kühnhardt/Takayama (Hg.), Menschenrechte, Kulturen und Gewalt, 2005, S. 423, 434 f. 87 Das ius emigrandi gewährt schon § 24 des Augsburger Religionsfriedens (1555).
Verkehrslärmschutz als Verfassungsabwägung* Von Michael Kloepfer
I. Abwägung und Recht 1. Keine Rechtsordnung ohne Abwägung Recht und Rechtswissenschaft sind ohne Abwägung unvorstellbar. Die Waage des Juristen ist das Symbol juristischer Tätigkeit schlechthin. Abgewogen wird nicht nur, wenn im Strafprozess strafmildernde und strafschärfende Umstände bei der Strafzumessung berücksichtigt werden, oder im Zivilprozess, wenn die Interessen von Kläger und Beklagtem - etwa im Hinblick auf die Begrenzung der Vertragspflichten - beurteilt werden, sondern auch im Verwaltungs- und Verfassungsprozess, wenn etwa die Interessen der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit mit den Grundrechten der Bürger auszugleichen sind. Der rechtsstaatlich gebotene Interessenausgleich, die fein tarierte wechselseitige Interessenabgleichung bei rechtlichen Entscheidungen sind ohne Abwägung nicht vorstellbar. Das gilt zwangsläufigerweise nicht nur bei der Normauslegung anhand eines konkreten Lebenssachverhalts (z.B. Zumutbarkeit des zu erwartenden Lärms bei einer zu bauenden Straße), sondern notwendigerweise auch in Hinblick auf die dahinter stehenden Rechtswerte und -garantien, die untereinander in eine Abwägung einzustellen sind.
2. Abwägung und Recht Die Notwendigkeit, die einschlägigen Rechtswerte untereinander abzuwägen, ergibt sich daraus, dass sie Bestandteile einer einheitlichen Rechtsordnung im Sinne eines in sich weitgehend geschlossenen Entscheidungssystems sind. Für die Rechtsordnung gilt nichts anderes als für einen Bau: Die Konstruktionselemente eines Bauwerks müssen die Gesamtstatik eines Gebäudes beachten. Diese Idee gilt auch im Verhältnis von einzelnen Rechtsgeboten zur Rechtsordnung insgesamt und wird im Recht häufig als Idee der Einheit der * Meinem Assistenten, Herrn Dr. Peter Gussone, danke ich sehr für die wertvolle Mitarbeit.
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Rechtsordnung bezeichnet. Allerdings darf dieser Gedanke in Deutschland mit seinen historischen Brüchen, mit seinen Wenden und Regierungswechseln, vor allem aber auch mit seiner pluralistischen Gesellschaft, die viele soziale und technologische Veränderungen erlebt hat, nicht als Konzept einer in sich völlig stimmigen Wertearchitektur verstanden werden. Insbesondere durch die zeitlich gestaffelte Entstehung der Rechtsordnung mit dazwischen liegenden technischen wie sozialen Umwandlungen, mit System- und Regierungswechseln, aber auch durch die demokratische Technik kompromisshafter Entscheidungsfindung sind inhaltliche Spannungen und Brüche in einer Rechtsordnung nichts Ungewöhnliches. Demokratische Rechtsordnungen sind keine Sammlungen ideologisch konzertierter Rechtsnormen, die durchgängig auf ein einziges politisches Prinzip oder einzelne solcher Prinzipien aufgebaut sind. Gewiss, alle Rechtsnormen müssen in einem Verfassungsstaat der Verfassung entsprechen, aber unterhalb der Verfassung und bei vorhandenen Entscheidungsspielräumen zeigen sich der Pluralismus und die Bewusstseinsänderungen einer lebendigen demokratischen Gesellschaft. Und selbst die Verfassung als solche ist kein abgestimmtes Wertegebäude, sondern spiegelt die Spannungen und die Vielschichtigkeit einer pluralistischen Gesellschaft wider. Das Grundgesetz gewährleistet bspw. in einem einzigen Artikel (Art. 14 GG) das Eigentum einerseits, trifft andererseits aber die Aussage: „Eigentum verpflichtet". Zugleich ermächtigt dieser Artikel zur Enteignung (Art. 14 Abs. 3 GG), der nächste (Art. 15 GG) sogar zur Sozialisierung von Grund, Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln.
3. Abwägung und Widerspruchsfreiheit Es kann also in der Wirklichkeit eines demokratischen Rechtsstaates nicht um eine wohl abgestimmte völlige Werteharmonie und -hierarchie gehen, wohl aber um Widerspruchsfreiheit i.S.d. Vermeidung offenkundiger Rechtswidersprüche. Der Bürger kann in einem Rechtsstaat erwarten, dass der Staat ihm keine erkennbar widersprüchlichen Verhaltensgebote erteilt, ihm z.B. etwas gebietet, was er an anderer Stelle sanktioniert; solche Rechtswidersprüche wären rechts- bzw. verfassungswidrig 1. In der Realität sind sie allerdings relativ selten. Die Rechtsgebote selbst müssen harmonisiert sein, nicht aber die dahinter stehende Wertewelt. Es können dann Rechtsnormen wie Art. 14 GG entstehen, die zwar Wertkonflikte, nicht aber Gebotswidersprüche enthalten. Zur Vermeidung widersprüchlicher Gebote kennt die Rechtsordnung verschiedene Instrumente, vor allem die der hierarchischen Verdrängung einer Norm durch 1 BVerfGE 63, 343 (357): „Das Rechtsstaatsprinzip verlangt einmal, dass der Bürger sich darauf verlassen können muss, dass sein dem jeweils geltenden Recht nicht widersprechendes Verhalten auch fürderhin von der Rechtsprechung nicht nachträglich als rechtswidrig qualifiziert wird."
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eine andere, aber auch die der ausgleichenden Interpretation und Gesetzesanwendung. Die hierarchische Verdrängung einer Norm löst Konflikte durch normativen Vorrang und Derogationsentscheidungen. So verdrängt etwa das höherrangige Recht das niederrangige, z.B. verdrängt Bundesrecht Landesrecht (Art. 31 GG) 2 , das Verfassungsrecht das einfache Recht und schließlich gehen Parlamentsgesetze den Rechtsverordnungen der Regierung (Art. 80 GG) vor. Weiter derogiert nach ganz allgemeinen Rechtsgrundsätzen das jüngere Recht das ältere und das spezielle Recht das allgemeine. Häufig regelt das jüngere Recht die Auflösung von normativen Kollisionen selbst, z.B. durch die Bestimmung, dass vorgefundene ältere Regelungen für „unberührt" erklärt werden. Neben dieser verdrängenden Konfliktlösung durch den Gesetzgeber selbst gibt es im Rahmen von Auslegungs- und Interpretationsspielräumen des anzuwendenden Rechts konfliktvermeidende oder -auflösende Rechtsinterpretationen und Ermessensausübungen. Soweit die Rechtsordnung entsprechende Entscheidungsfreiräume einräumt (die je nach betroffener Staatsgewalt recht unterschiedlich sein können, s.u.), sind vor allem Ermessens-, Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume (in der Realität, nicht in der Theorie aber auch: Interpretationsspielräume) geeignete Instrumentarien zur Rechtsgüterabwägung.
4. Abwägbarkeit aller Werte Dabei kann kein Zweifel an der Regel bestehen, dass grundsätzlich alle verfassungskonformen Werte in einer Rechtsordnung untereinander abwägbar sind. Es mag zwar von vornherein gewisse Gewichtungsunterschiede zwischen den Rechts werten geben (z.B. Verfassungs werte einerseits, einfachgesetzliche Werte andererseits), grundsätzlich bleiben die Werte gleicher Ranghöhe aber untereinander abwägbar. Die Verfassung erkennt dies an, wenn sie auch bei den so wichtigen Grundrechten regelmäßig Beschränkungsvorbehalte vorsieht oder wenn formal unbeschränkt gewährte Grundrechte Immanenzbeschränkungen unterworfen werden. Im hier interessierenden Problemzusammenhang von Mobilität und Lärmschutz ist also von vornherein vor einer einseitigen Verabsolutierung des Umweltschutzes einerseits oder der Mobilitätsbedürfnisse der Menschen andererseits zu warnen, selbst wenn in beiden Fällen verfassungsrechtliche Schutzgehalte berührt werden. Es kann nur um Abwägung, Optimierung und schonenden Ausgleich zwischen (mindestens) diesen beiden Positionen gehen. Für den Bereich des Verkehrslärmschutzes ist ein etwaiges Recht auf Mobilität durch Art. 2 Abs. 1 GG (oder jedenfalls das in diesem verankerte Recht
2
Dazu Huber, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, 3. Aufl. 2003, Art. 31, Rn. 13 ff.
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mit einem Fahrzeug zu fahren) einem sehr weiten Вeschränkungsvorbehält unterworfen und auch das Staatsziel Umweltschutz in Art. 20a GG 3 kennt umfängliche gesetzliche Gestaltungsvorbehalte. Die Verfassung ermöglicht so eine gesetzgeberische Lösung etwaiger Konflikte durch abstrakte und generelle Abwägungsentscheidungen im Rahmen von Beschränkungs- und Ausgestaltungsbefugnissen. Auch wenn dies unabwägbare, ein für alle Mal feststehende Werte nicht ausschließen muss (etwa die Verfassungsgebundenheit der Rechtsordnung schlechthin oder nach - nicht unumstrittener - herrschender Ansicht auch die Menschenwürde 4), ist die grundsätzliche Relativierbarkeit insbesondere auch der Verfassungswerte selbst - jedenfalls außerhalb der sog. Ewigkeitsklausel (Art. 79 Abs. 3 GG), die bestimmte Kernaussagen der Verfassung änderungsfest macht - nicht bestreitbar.
5. Abwägung und Relativismus Eine solche Sicht der Rechtswerte im Allgemeinen und der Verfassungswerte im Besonderen setzt sich allerdings dem Verdikt des neu gewählten Papstes Benedikt XVI. aus, der - freilich in anderer Funktion - unmittelbar vor dem Konklave die „Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt 4'5, verdammt hat. Dies mag für gläubige Menschen im Hinblick auf Gott und seine Gebote richtig sein, für eine pluralistische Demokratie mit ihren menschengemachten Normen ist sie es nicht. Das demokratische Prinzip ist ein Kompromissprinzip. Und Kompromisse werden in der Regel durch Abstriche von prinzipiellen Positionen erzielt bzw. ermöglicht. Das Zusammenleben der Menschen mit unterschiedlichen Interessen und der verschiedensten Gruppen setzt allseits die Notwendigkeit und Bereitschaft zum schonenden wechselseitigen Ausgleich voraus. Und gerade dies ist Aufgabe der Abwägung. Soweit Parteien oder Verbände im Wesentlichen nur einem Belang gewidmet sind, ist dies zwar nicht illegitim, bedarf aber der Relativierung durch andere Interessen im allgemeinen demokratischen Diskurs.
3
Dazu Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 3 II. Kloepfer, Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - dargestellt am Beispiel der Menschenwürde - , in: Starck (Hrsg.) Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe zum 25jährigen Bestehen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. II, 1976, 405 (411). 5 Papstmesse „Missa pro Eligendo Romano Pontifice", Predigt von Kardinal Joseph Ratzinger als Dekan des Kardinalskollegiums vom Montag, 18. April 2005, abrufbar unter: http://www.vatican.va/gpll/documents/homily-pro-eligendo-pontifice_200504 18 _ge.html, zuletzt besucht am 18. Juli 2005. 4
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6. Abwägung und Rechtssicherheit Bei einem solchen Konzept - nahezu allseitiger Abwägbarkeit - können allerdings inhaltliche Konturen, aber auch die Rechtssicherheit verloren gehen. Es besteht das Risiko, dass wertvolle materielle und formelle Verfassungssubstanz durch eine allgegenwärtige sowie allumfassende und damit nicht mehr überschaubare Abwägung gefährdet oder gar beseitigt wird. Von der Hand zu weisen sind diese Befürchtungen gewiss nicht. Und ernst zu nehmen sind sie auch, weil nicht nur die materielle Gerechtigkeit, sondern auch die Rechtssicherheit Gebote des Rechtsstaates sind. Viele Abwägungsklauseln mögen zwar optimale Einzelfallentscheidungen erlauben; sie wirken aber regelmäßig auf Kosten der Vorhersehbarkeit und damit der Rechtssicherheit. Je mehr allerdings der Gesetzgeber eigene klare und differenzierte, abstrakte und generelle Abwägungen vornimmt, desto geringer werden vor allem die Rechtssicherheitsverluste auf der Ebene des Gesetzesvollzugs bzw. der Gesetzesanwendung auf der Ebene der Verwaltung und der Rechtsprechung sein. So kann der Verkehrslärmgesetzgeber durch entsprechende bestimmte Normen die Folgen einer unbegrenzten Abwägung zwischen Mobilitäts- und Lärmschutzinteressen hinreichend begrenzen und letztlich die Abwägung auch durch politische Entscheidung beenden.
II. Lärm und Verkehr Der regelmäßig erscheinende Newsletter des Verkehrsclubs Deutschland (VCD), der sich selbst als ökologische Alternative zum ADAC betrachtet, verkündete in einer seiner letzten Ausgaben auf der Titelseite: „ Lärm tötet jährlich 500 Dänen " 6 . Dabei ging es um eine Studie des dänischen National Institute of Occupational Health, welche die Anzahl der jährlich aufgrund von durch Verkehrslärm verursachten Herz-Kreislauferkrankungen gestorbenen Dänen mit bis zu 500 angibt. Wenn man auch bei der Überschrift verwundert die Stirn runzeln mag, so ist der zugrunde liegende Befund der Studie doch alarmierend: Lärm und damit die Belastungen durch den Lärm wachsen überall und können jedenfalls zu ernsthaften gesundheitlichen Schädigungen der Betroffenen führen, wobei das Problem der etwaigen Verkehrslärmtoten bis heute sehr kontrovers ist 7 . Der Flugverkehr z.B. wird sich jedenfalls - sowohl das Verkehrsauf6 VCD Newsletter, Nr. 3/2004, S. 4, abrufbar unter: http://www.vcd.org, zuletzt besucht am 29. Juni 2005. 7 Die Frage nach der Kausalität von Verkehrslärmgeräuschen und HerzKreislauferkrankungen gilt als noch nicht geklärt, vgl. dazu zuletzt Sachverständigenrat für Umweltfragen, Umwelt und Straßenverkehr, Sondergutachten 2005, Hausdruck Juni 2005, S. 39 f., abrufbar unter: http://www.umweltrat.de/02gutach/down lo02/sonderg/SG_Umwelt%20und%20Stra%DFenverkehr2005_Hausdruck.pdf, zuletzt besucht am 29. Juni 2005.
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kommen nach Personen als auch die Verkehrsleistung in Kilometern - über dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland bis 2015 nahezu verdoppelt haben und auch Auto-, Schienen- und Schiffsverkehr wachsen zunehmend8. Dabei steht zu befürchten, dass die bisher stetig steigenden Möglichkeiten des technischen Schallschutzes im Ergebnis durch den Verkehrszuwachs „ausgeglichen" werden, so dass sich die Gesamtlärmsituation nicht ändert.
1. Lärm „Lärm ist die impertinenteste aller Unterbrechungen, da er sogar unsere eigenen Gedanken unterbricht, ja zerbricht", meinte bereits Schopenhauer9. Das Lärmproblem ist also nicht neu, nur dass im Vergleich zu früher eine Vielzahl neuer Lärmquellen hinzugekommen ist: Autos, Flugzeuge, Fabriken, Eisenbahnen, aber auch elektronisch verstärkte Musik usw. Ebenfalls scheint das kollektive Bedürfnis nach Ferne, d.h. der Massentourismus, den Verkehrsanstieg, vor allem beim Flugverkehr, zu fördern, was der Blick auf die beliebtesten Ferienziele der Deutschen bestätigt. Neue Angebote, wie die der Billigflieger, tun hier ein Übriges. Das Wörterbuch der Gebrüder Grimm verweist auf den militärhistorischen Hintergrund des hier im Mittelpunkt stehenden Wortes. Lärm, so die Definition, sei ein italienischer Schlachtruf gewesen, all' arme - zu den Waffen, der dann zum Substantiv gewandelt die Aufforderung an die Soldaten enthielt, mit dem Gewehr anzutreten 10.
2. Verkehrslärm Verkehrslärm umfasst den Lärm, der durch Verkehr entsteht. Verkehr ist laut Brockhaus die Gesamtheit aller Orts Veränderungen von Personen und Gütern 11 . Nach der Art der Verkehrsträger kann man unterscheiden zwischen Straßen-, Schienen-, Luft- und Wasserverkehr. Ebenso kann man zwischen Individualund Güterverkehr oder zwischen Berufs- und Freizeitverkehr differenzieren. Geräusche sind aber nur dann Lärm, wenn sie zu einer Störung von Nachbarn
8 Mann/ Ratzenberger/Schubert u.a., Verkehrsprognose 2015 für die Bundesverkehrswegeplanung, München, Freiburg, Essen 2001, S. 120; abrufbar unter: http://www.bmvbw.de/artikel,-5923/Verkehrsprognose-2015.htm, zuletzt besucht am 29. Juni 2005. 9 Schopenhauer , Parerga und Paralipomena, in: Frischeisen-Köhler (Hrsg.) Arthur Schopenhauers sämtliche Werke, Bd. 7 und 8, Kapitel X X X , S. 587. 10 Grimm/Grimm , Deutsches Wörterbuch, Bd. 12, Spalte 203. 11 Brockhaus Enzyklopädie, 19. Aufl. 1994, 23. Band, S. 218.
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oder Dritten führen 12. Dieses Verständnis liegt auch dem BundesImmissionsschutzgesetz (BImSchG) zugrunde, das die Geräusche zu den Immissionen und Emissionen im Sinne des Gesetzes zählt (§ 3 Abs. 2 und 3 BImSchG). Störende Geräusche wiederum werden als Lärm bezeichnet, wobei der Störgrad abhängig ist vom subjektiven Lästigkeitsempfinden: Ein jeder hat ein unterschiedlich sensibles Gehör (und eine unterschiedliche nervliche Stabilität). Freilich gibt es absolute Grenzen, die insbesondere dann erreicht wären, falls Verkehrslärm - nach allgemeiner medizinischer Erkenntnis - zu einer Gesundheitsschädigung führen würde. Allerdings ist gerade dies in der medizinischen Lärmwirkungsforschung noch nicht abschließend geklärt. Unstreitig ist aber, dass ein entsprechendes Besorgnispotential bezüglich verkehrslärmverursachter Gesundheitsgefährdungen besteht, so dass die Bekämpfung des Verkehrslärms jedenfalls durch das umweltpolitische Vorsorgeprinzip oder durch den Gedanken der präventiven Medizin gerechtfertigt sein kann. Umweltpolitisch geht es darum, etwaige gesundheitsgefährdende Störungen durch Verkehrslärm insbesondere präventiv zu vermeiden, wenn sie schädlich sein können. Dabei stehen sich die Interessen der Verkehrsteilnehmer, also der Lärmverursacher, und der Verkehrsbetroffenen, d.h. der Lärmbetroffenen, gegenüber. Die rechtliche Lösung dieser Konfliktlage erfordert Abwägungen durch den Gesetzgeber im Rahmen der Verfassung sowie der Exekutive und der Rechtsprechung im Rahmen der Verfassung und des einfachen Rechts. Die folgenden Abwägungen müssen sich auf die Erörterung der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Verkehrslärmschutzes beschränken.
I I I . Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Abwägung Jedenfalls mittelbar lassen sich Vorgaben für die Bewältigung der Verkehrslärmproblematik aus dem Grundgesetz gewinnen. Dies ist insbesondere dann notwendig, wenn einfachgesetzliche Maßstäbe, z.B. konkrete Lärmgrenzwerte, für die Beurteilung der Zumutbarkeit einer Lärmbelastung fehlen oder sich als unzureichend herausgestellt haben. Es hieße aber, die Funktion des Grundgesetzes zu verkennen, wenn man dort regelmäßig konkrete Lösungen für Einzelfälle der Lärmbekämpfung entnehmen wollte. Die Verfassung und insbesondere die Grundrechte können zwar eine absolute verfassungsmäßige Zumutbarkeitsgrenze der Lärmbelastung aufstellen; den generellen Ausgleich der Interessen von Lärmverursachern und Lärmbetroffenen zu finden ist freilich grund-
12
So auch die erhellende Definition der TA Lärm in der Fassung vom 16. Juli 1968
in Nr. 2.11.: „Lärm ist Schall (Geräusch), der Nachbarn oder Dritte stören kann oder stören würde".
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sätzlich Aufgabe des Staates13, d.h. des Gesetzgebers oder - im Rahmen der Gesetze - der Verwaltung bzw. der Rechtsprechung. Wie sehen nun diese verfassungsrechtlich ableitbaren Begrenzungen bzw. die Zumutbarkeitsgrenze aus und welche Rechte und Pflichten folgen daraus für Gesetzgeber, Lärmemittenten und Lärmbetroffene?
1. Individuelle Grundrechtspositionen Sowohl die Emittenten wie auch die Lärmbetroffenen können sich zunächst auf Grundrechte berufen: Die Grundrechte verleihen nach ganz überwiegender Auffassung ausschließlich subjektive Rechte des Einzelnen und sind regelmäßig konstruiert als individuelle Abwehrrechte gegen staatliches Handeln 14 . Pflichten von Bürgern, insbesondere Pflichten von Bürgern gegenüber Bürgern, etwa die Pflicht zur Lärmvermeidung bis zur Schonung der Umwelt, sind verfassungsrechtlich oder gar grundrechtlich grundsätzlich aber nicht ableitbar. Sie folgen auch nicht aus dem Staatsziel Umweltschutz in Art. 20a GG 15 . Im Übrigen wäre die Statuierung eines prinzipiellen Vorrangverhältnisses, z.B. der Rechte der Lärmverursacher gegenüber den Rechten der Betroffenen, mit dem Grundgesetz unvereinbar. Es gilt generell, dass alle Grundrechte prinzipiell - u.U. mit Sonderstellung der Menschenwürde - abstrakt gleichrangig sind 16 . Genauso wie Lärmbekämpfung durch den Staat die Grundrechte der Lärmverursacher, kann fehlende Lärmbekämpfung durch den Staat die Grundrechte der lärmbetroffenen Nachbarn verletzen. Von daher wird es per se keinen Vorrang entweder für die Lärmverursacher oder für die Lärmbetroffenen geben können. Von vornherein abzulehnen ist auch die grundrechtliche Bevorzugung eines bestimmten Verkehrsträgers, wie dies mit der Entwicklung eines Grundrechts auf (Auto-) Mobilität unter besonderer Berücksichtigung der Automobilität versucht worden ist 17 . Es herrscht insgesamt also bei Beginn einer Abwägung eine Pattsituation zwischen den verfassungsrechtlich geschützten Positionen der Lärmemittenten und der Lärmbetroffenen, aber auch zwischen den Betreibern der verschiedenen Verkehrsträger. Die Waage kann sich damit zur einen oder
13 Storost , Das deutsche Lärmschutzrecht aus Sicht eines Richters, 2004; abrufbar unter: http://www.vcd.org, zuletzt besucht 29. Juni 2005. 14 Zur Dogmatik der Grundrechte als Abwehrrechte vgl. Isensee, in: ders./Kirchof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 2. Aufl. 2000, Bd. V, § 111.
15
Kloepfer , Zum Grundrecht auf Umweltschutz, in: Brandneri Meßerschmidt (Hrsg.):
Umweltschutz und Recht, 127 (144) macht deutlich, dass auch ein Grundrecht auf Umweltschutz nicht aus der Verfassung ableitbar ist. 16 BVerfGE 35, 202 (225 f.). 17
Ronellenfitsch , DAR 1994, 7 (12).
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anderen Seite neigen, wenn insbesondere eine staatliche Schutzpflicht aus den Grundrechten abzuleiten wäre (siehe dazu sogleich). Die im Bereich des Lärmschutzes relevanten Grundrechte sind vor allem in Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1, 12 und 14 GG enthalten, also in dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, in dem Recht auf körperliche Unversehrtheit sowie in der Berufs- und Eigentumsfreiheit. Dabei kann die Inanspruchnahme der grundrechtlich verbürgten Freiheiten zu Konflikten zwischen den Grundrechtspositionen verschiedener Grundrechtsträger führen: Der sich auf die Eigentums- und die Berufsfreiheit berufende Flughafenbetreiber will Startund Landebahnen nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten bauen. Dagegen erheben die Anwohner Klagen und berufen sich dabei auf ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, um eine Lärmbelastung abzuwehren. Eine strukturell vergleichbare Situation besteht für den Betreiber einer lärmintensiven Fabrik und den Ruhe suchenden Nachbarn. Den Preis für realisierten Lärmschutz tragen regelmäßig die Lärmemittenten, den Preis für fehlenden oder mangelhaften Lärmschutz tragen in aller Regel die Betroffenen. Sieht man von dem Sonderproblem staatlich verursachten Lärms (z.B. Tiefflüge der Bundeswehr) ab, ist der typische Konflikt im Bereich des Lärmschutzes grundsätzlich eigentlich ein Streit zwischen Privaten. Der private Autofahrer, der Flughafenbetreiber oder Gewerbebetreibende verursacht Störungen oder Belastungen bei den Lärmbetroffenen. Da Grundrechte grundsätzlich nur den Staat verpflichten und nicht gegen Private gerichtet sind, d.h. keine Drittwirkung erfüllen, kommen die Grundrechte im Verhältnis zwischen Privaten nur mittelbar ins Spiel (mittelbare GrundrechtsdrittWirkung). Das kann über die Ausfüllung zivilrechtlicher Generalklauseln erfolgen, aber auch bei staatlichen Zulassungsentscheidungen für umweltbelastende Aktivitäten Privater oder vor allem bei grundrechtlich abgeleiteten Schutzpflichten des Staates, gegen lärmverursachende Dritte einzuschreiten. Dadurch entstehen Kollisionen zwischen den vom Staat zu schützenden Grundrechten der Betroffenen (vor allem aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) und den Grundrechten der Lärmverursacher (Art. 12, 14, 2 Abs. 1 GG). Verfassungsrechtlich sind Gesetzgeber und Gesetzesanwender im Falle einer solchen Grundrechtskollision gehalten, eine Abwägung dergestalt vorzunehmen, dass ein möglichst schonender Ausgleich im Wege einer so genannten praktischen Konkordanz erfolgt. Die Einschränkung des einen Grundrechtes darf nur zum Schutz des anderen erfolgen, wobei stets ein geschützter Kernbereich erhalten bleiben muss. Es geht letztlich um eine sich wechselseitig abschleifende Optimierung widerstreitender Grundrechtspositionen. In der Sache werden so die Grundrechte relativiert, d.h. zueinander in Beziehung gesetzt. Diesen Ausgleich vorzunehmen ist vor allem Sache des Gesetzgebers unter Wahrnehmung seiner Kompetenzen (im Bereich des Verkehrs aus Art. 73 Nr. 6, 6a und Art. 74 Abs. 1 Nr. 21-24 GG und unter Befolgung des Übermaß-
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Verbots). Die dabei geltenden Anforderungen sollen im Anschluss erläutert werden. Die verfassungsrechtliche Optimierungs- und Zumutbarkeitsgrenze liegt einmal bei Überschreitung des Übermaßverbots und im Übrigen dort, wo der Kernbereich eines Grundrechts betroffen ist und damit von dem Schutzgehalt im Grunde nichts oder nicht mehr Hinreichendes übrig bleiben würde. Es wird damit eine äußerste Grenze gezogen, die vom Gesetzgeber in keinem Fall überschritten werden darf 18 . Die verfassungsrechtliche Zumutbarkeitsgrenze wird in aller Regel überschritten sein, wenn die Lärmeinwirkungen gesundheitsgefährdend 19 sind oder das Eigentum schwer und unerträglich 20 beeinträchtigen 21. Der Schutz des menschlichen Lebens und der Gesundheit ist eine wichtige Aufgabe staatlicher Gewalt, so dass hier die Zumutbarkeitsgrenze bereits erreicht sein kann, wenn nur eine Gefährdung und damit noch keine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG eingetreten ist. Allerdings gilt dies nur für die Bekämpfung von Gesundheitsrisiken, nicht aber für die präventive Abwehr bloßer Lärmbelästigungen. Bei der Lösung des beschriebenen Konfliktes zwischen den Grundrechten der Lärmemittenten und den Grundrechten der Lärmbetroffenen kommt dem Gesetzgeber insgesamt ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Die Gestaltung der grundgesetzlich konstituierten Ordnung obliegt zuvörderst ihm, womit die Entscheidung eingeschlossen ist, ob er überhaupt und falls ja, wie er tätig werden will. Der Gesetzgeber hat beispielsweise Lärmschutzgrenzwerte für den Neubau von Straßen- und Schienenwegen festgelegt 22 , für den Bau von Flughäfen fehlen bislang Grenzwerte.
2. Staatliche Schutzpflichten In einigen Fällen wandelt sich diese Freiheit in eine Handlungspflicht um. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG folgt aus dem objektivrechtlichen Gehalt des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) die Pflicht der staatlichen Organe, sich schützend und fördernd vor die darin geschützten Rechtsgüter zu stellen und sie insbesondere vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten Dritter zu bewahren 23. Den Staat trifft damit eine objektive Schutzpflicht, die ihn zum Erlass von Schutzgesetzen und u.U. zur Ergän-
18
Halama/Stüer, Lärmschutz in der Planung, in: NVwZ 2003, 137 (141). B G H Z 122, 76. 20 BGHZ 97, 114. 21 Zu Existenzgefährdungen BVerwG, NVwZ 2000, 553. 22 Verkehrslärmschutzverordnung, 16. Verordnung zur Durchführung des BundesImmissionsschutzgesetzes, s. Kloepfer, Umweltschutz, Bd. 2 Nr. 668. 23 Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 3 Rn. 11; BVerfGE 39, 1 (42). 19
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zung bzw. Nachbesserung bestehender Gesetze zwingt 24 . Im Düsseldorfer Flughafenfall hat das BVerfG aus der staatlichen Schutzpflicht des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG eine solche Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers abgeleitet 25 . Im Bereich des Lärmschutzes ist damit der Gesetzgeber gehalten, die bestehenden Regelungen dem Stand der technischen Entwicklung anzupassen und gegebenenfalls Nachbesserungen vorzunehmen. Die Anerkennung einer staatlichen Schutzpflicht aus dem objektiven Gehalt der Grundrechte führt im Bereich des Verkehrslärms zu einer Risikovorsorgepflicht des Staates: Gesundheitsgefährdender Lärm ist präventiv zu vermeiden. Die Gerichte haben aber nur in wenigen Fällen eine solche Schutzpflicht bejaht. Grund ist der auch hier postulierte sehr weite Ermessensspielraum des Gesetzgebers. Deutlich hat so das BVerfG hervorgehoben, dass nur dann, wenn der Gesetzgeber „Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen hat oder offensichtlich die getroffenen Regelungen und Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das Schutzziel zu erreichen" 26, eine Verletzung durch das Gericht festgestellt werden könne. Die Hürde liegt damit sehr hoch.
3. Ergebnis Für den Lärmschutz ergibt sich damit aus verfassungsrechtlicher Sicht folgendes: Aus den Grundrechten resultiert ein Schutzanspruch des Einzelnen gegen den Staat, der gegen unzumutbare Lärmbelastungen Dritter einzuschreiten hat. Dieser grundrechtsabgeleitete Schutzanspruch steht jedoch in Konkurrenz mit den ebenso grundrechtlich geschützten Interessen der Lärmverursacher sowie anderen öffentlichen Zwecken, z.B. dem Interesse an einem funktionierenden und ausgebauten Verkehrsnetz. Die Lösung der hierbei auftauchenden Probleme ist vor allem Aufgabe des Gesetzgebers. Dabei wäre es ein Irrtum, wollte man die bestehenden umweit- und technikrechtlichen Regelungen zum Verkehrslärmschutz als Verfassungsvollzug verstehen. Der Gesetzgeber hat die Verfassungsgrenzen und -aufträge einzuhalten, nicht aber die Verfassung zu vollziehen. Auch deshalb soll der unmittelbare Rückgriff auf die Verfassung zur Lösung konkreter Probleme des Verkehrslärmschutzes die Ausnahme sein. Erst bei der Kontrolle gesetzgeberischer und planerischer Entscheidungen mit Verkehrslärmschutzrelevanz wird ein Rückgriff auf die Verfassung sinnvoll sein.
24 25 26
BVerfGE 49, 89 (141 f.); 56, 54 (78 ff.); 88, 203 (254). BVerfGE 54, 56 (78 ff.). BVerfGE 56, 54 (81); 77, 170 (215); 79, 174 (202).
Risikoentscheidungen durch Bauordnungsrecht Wirkungen im Verhältnis zu Zivil- und Strafrecht* Von Ulrich Battis
I. Einleitung Mit dem Begriff „Risikoentscheidung" verbindet man im öffentlichen Recht typischerweise Probleme der Gefahren Vorsorge im Umweltrecht (z.B. Gentechnikrecht) und im Recht der technischen Anlagen (z.B. dem Atomrecht) sowie im Fachplanungsrecht (z.B. Luftverkehrsrecht). „Risikoentscheidungen im Rechtsstaat"1 werden typologisch der Gefahren Vorsorge zugeordnet, die begrifflich gerade von der überkommenen Gefahrenabwehr des Polizei- und Ordnungsrechts geschieden wird. 2 Bauordnungsrecht ist klassisches Recht der Gefahrenabwehr. Als solches trifft es jedoch auch Vorsorge, dass die öffentliche Sicherheit oder Ordnung, insbesondere Leben und Gesundheit, nicht gefährdet werden (z.B. § 3 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW). Beispiele sind nicht erst seit dem 11. September 2001 Stand- und Brandsicherheit von Hochhäusern oder auch von Großstadien. Die Verschränkung des herkömmlichen Rechts der Gefahrenabwehr mit dem Recht der Gefahrenvorsorge tritt deutlich zu Tage, wenn etwa im Rahmen eines Planfeststellungsbeschlusses, z.B. anlässlich der Genehmigung eines Großflughafens oder der Genehmigung einer Anlage für ein atomrechtliches Vorhaben, die Baugenehmigung Teil des umfassenden Planfeststellungsbeschlusses oder der Anlagengenehmigung ist. Beide Beispiele belegen eine Spielart des Phänomens, mit dem wir uns befassen wollen, nämlich der Reichweite der Sachentscheidungskompetenz der Bauordnungsbehörde, der Konkurrenz, der Konzentrations-, Bindungs-3, Tatbestands- und LegalisierungsWirkung 4 der Baugenehmigung, und zwar lediglich * Ergänzte Fassung eines im Deutschen Institut für Normung (DIN) am 13.12.2005 in Berlin gehaltenen Vortrags. 1
Vgl. Di Fabio, 1994.
2
Vgl. Battis, Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 2002, S. 3. Vgl. dazu Jarass, Konkurrenz-, Konzentrations- und Bindungswirkung von Geneh-
3
migungen, 1984; Gaentzsch, NuR 1990, 1. 4 Vgl. Peine, JZ 1990, 201.
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innerhalb des öffentlichen Rechts und nicht wie bei unserem Thema intendiert gegenüber dem Zivilrecht und einer besonderen Form des öffentlichen Rechts, dem Strafrecht. Die letztgenannte Problematik wird auch unter dem Titel „Verwaltungsrecht als Vorgabe für Zivil- und Strafrecht" 5 diskutiert. So einfach wie vor über 3.500 Jahren im babylonischen Kodex Hammurabi lässt sich das Problem nicht mehr lösen. Stürzte ein Bauwerk ein und kam ein Mensch dadurch zu Tode, so hatte der Baumeister sein Leben verwirkt. Der Kodex umfasste nur Zivil- und Strafrecht, vom Verwaltungsrecht war damals noch nicht die Rede. Im Folgenden sollen in einem Allgemeinen Teil (2.) die dem Verhältnis vom Bauordnungsrecht, Zivil- und Strafrecht zugrunde liegenden methodischen Grundfragen behandelt werden, um im Besonderen Teil (3.) daraus Konsequenzen zu ziehen. Damit soll zugleich entsprechend dem schönen Titel der dem verehrten Jubilar gewidmeten Festschrift versucht werden, ein bis heute nicht befriedigend gelöstes Problem, der Abgrenzung verschiedener, sich als eigenständig definierender Rechtsgebiete, einem vernünftigen Ausgleich zuzuführen.
II. Allgemeiner Teil Zum Ritual, der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Verwaltungsrecht und Privatrecht, zählt die Berufung auf die Eigenständigkeit des jeweiligen Rechtsgebietes. So heißt es bei Jäde am Beispiel der ВindungsWirkung der Nachbarzustimmung im Bauordnungsrecht: „Angesichts der Eigenständigkeit des öffentlichen Rechts sollte stets zunächst versucht werden, zu Lösungen vom öffentlichen Recht her zu finden, bevor man sich der Krücke des Zivilrechts bedient."6 In Motzke's Abhandlung zur Verkehrssicherheit in Fußballstadien7 heißt es entsprechend: „[...] die Anforderungen an die - bauordnungsrechtliche - Verkehrssicherungspflicht sind eigenständig zu entwickeln." 8 Es entspricht durchaus der Normalität, dass Vertreter eines Rechtsgebietes zunächst einmal die Eigenständigkeit ihres Rechtsgebietes gegenüber anderen betonen. Dies hat i.d.R. wenig mit Corpsgeist oder gar Fachchauvinismus zu tun. Diese Phänomene sind natürlich immer noch nicht ganz auszuschließen, z.B. wenn ein Staatsrechtslehrer auf der Staatsrechtslehrertagung dem Referenten wünscht, er möge mit seinem Referat dazu beitragen, das negative Vorverständnis des Zivilrechts gegenüber dem Verwaltungsrecht abzubauen. Erinnert 5 6 7 8
Vgl. dazu M. Schröder/Jarass UPR 2005, 161, 164. NZBau 2004, 297, 301 f. Kursiv im Original.
, VVDStRL 50 (1991), 196/238.
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sei nur an die Philippika von Fritz Baur gegen die Zumutung des Bundesverfassungsgerichts, den Inhalt des Eigentums nicht allein aus § 903 BGB, sondern gem. Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG - „Inhalt und Schranken des Eigentums bestimmt der Gesetzgeber" - aus der Zusammenschau aller zivil- und öffentlichrechtlichen Vorschriften, die das Eigentum betreffen, zu bestimmen.9 „Im Wege steht immer noch ein Überlegenheitsgefühl auf Seiten des Zivilrechts." 10 Die Abneigung gegen die im 20. Jahrhundert stetige Zunahme öffentlich-rechtlicher Vorschriften, die z.B. im Umweltrecht, im Technikrecht, aber auch im Kartellrecht das Eigentum einschränkten, ist zwar verständlich. Aber seit den 90er Jahren erleben wir gerade unter europarechtlichem Einfluss eine Gegenbewegung. Weite Teile des öffentlichen Rechts wie Post, Telekommunikation, aber auch Umweltüberwachung werden privatisiert. Gesellschaftliche Selbstregulierung ersetzt hoheitlichen Zwang. Ein wichtiges Instrument dazu ist die technische Normierung. 11 Eine andere Erscheinung ist die, dass ein einheitlicher Vorgang sowohl verwaltungsrechtlich (z.B. als Ordnungswidrigkeit), aber auch zivilrechtlich und strafrechtlich sanktioniert wird. Im Umweltrecht gab es zunächst die Armierung des verwaltungsrechtlichen Umweltrechts durch Strafrecht und dann, und zum Teil statt dessen, durch Mechanismen gesellschaftlicher Selbstregulierung, z.B. Betriebsbeauftragte. Die Publifizierung des Vergaberechts ist ein neueres Beispiel für die Gegenrichtung: weg vom reinen Zivilrecht, hin zum öffentlich-rechtlichen Verfahren und Rechtsschutz. Die Betonung der Eigenständigkeit des jeweiligen Rechtsgebiets entspricht den Funktionen der verschiedenen Rechtsgebiete in einer komplexen Rechtsordnung, sei sie national gegliedert und/oder auch supranational und völkerrechtlich gestuft. „Die Herausbildung unterschiedlicher Rechtsgebiete dient der Reduzierung von Komplexität und der Steigerung des rechtlichen Steuerungsvermögens. Gäbe es keine unterschiedlichen Rechtsgebiete, müssten bei jeder neuen Regelung die Auswirkungen auf die gesamte Rechtsordnung beachtet werden [...] Die Existenz verschiedener Rechtsgebiete bildet [...] eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Rechtsordnung ein relativ hohes Maß an (Binnen-)Rationalität herausbilden und zugleich völlig verschiedene Ordnungsvorstellungen und sich mitunter widersprechende Leitprinzipien nebeneinander entfalten kann." 12
Dieser rechtstheoretische Befund ändert aber nichts an dem Bedürfnis, sich widersprechende Leitprinzipien in der Praxis zu harmonisieren und zu widerspruchsfreien Lösungen zu kommen. Es ist z.B. einem Metzgermeister nicht 9
NJW 1982, 1735 gegen BVerfGE 58, 225. Bullinger, VVDStRL 50 (1991), 297.
10
11
Schmidt- Ρ reuß, VVDStRL 56 (1997), 160, 232.
12
So Витке , Relative Rechtswidrigkeit, 2005, S. 145.
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vermittelbar, wenn ihm von unterschiedlichen Behörden aus gesundheitsrechtlichen Gründen glatte Fußbodenfliesen vorgeschrieben werden, aus arbeitsschutzrechtlichen Gründen hingegen geriffelte. Schon leichter war in der Vergangenheit zu vermitteln, warum ein wegen Bestechung strafgerichtlich verurteilter Unternehmer das Schmiergeld als betriebsbezogene Aufwendung von der Steuer absetzen konnte. Der Gesetzgeber hat diesen Wertungswiderspruch aufgrund vielfacher Kritik beseitigt. Er war dazu aber nicht verpflichtet, schon gar nicht aus verfassungsrechtlichen Gründen. Die funktionale Eigenständigkeit von Steuerrecht und Strafrecht hätte die Beibehaltung des Wertungswiderspruchs innerhalb einer Rechtsordnung gerechtfertigt. 13 Etwas anderes würde heute lediglich aufgrund völkerrechtlicher Selbstverpflichtung gelten. Der beliebte Rückgriff auf das Postulat von der Einheit der Rechtsordnung hilft nicht weiter. In der neueren methodologischen Literatur ist außer Streit, dass diese Großformel ebenso wie die angebliche Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung oder Topoi, wie Systemgedanke und Systemgerechtigkeit als Mittel zur Auflösung der Wertungswidersprüche ausscheiden. Solche Schlagworte sind zwar legitime rechtspolitische Forderungen, aber keine tauglichen Mittel zur notwendigen Harmonisierung zweier Rechtsgebiete.14 Ebenfalls keine Hilfe bringt die in jüngster Zeit beliebte Einsicht von der partiellen Austauschbarkeit von öffentlichem Recht und Zivilrecht. 15 Öffentliches Recht gegen privates oder privates gegen öffentliches Recht zur besseren oder anderen Lösung bestimmter Rechtsfragen auszutauschen, ist Sache des Gesetzgebers, z.B. bei der schon erwähnten Privatisierung von Dienstleistungsverwaltungen von Bahn, Post und Telekommunikation oder der Kontrolle im Umweltrecht einerseits und andererseits bei der Umstellung des Vergaberechts vom Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen zum GWB. Für den Rechtsanwender besteht eine Austauschmöglichkeit allenfalls in einem anderen Sinne dann, wenn die Rechtsordnung, wie z.B. mit dem privaten und dem öffentlichen Nachbarrecht, zwei unterschiedliche Rechtsschutzmöglichkeiten alternativ vor verschiedenen Gerichtsbarkeiten eröffnet. In jedem Fall besteht aber ein evidenter Harmonisierungsbedarf, worauf zurückzukommen ist. Weitgehend unbrauchbar zur näheren Abgrenzung von öffentlichem Privatund Strafrecht sind auch spezifisch verwaltungsrechtliche Begriffe, wie „Be-
13 14
Vgl. dazu Витке (Fn. 12), S. 70 ff. Vgl. Витке (Fn. 12), S. 116; M. Schröder (Fn. 5), S. 205 ff.; Jarass (Fn. 5), S. 259
ff.; Peine (Fn. 4), S. 210, jeweils m.w.N. 15 Vgl. dazu Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1996; vgl. auch schon Badura , VVDStRL 50 (1991), 289 speziell zum Baurecht Calliess, DV 2001, 194; krit. Витке (Fn. 12), S. 69.
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standskraft", „Tatbestands- und Legalisierungswirkung". Sie sind zu unscharf und sie beschreiben Probleme, lösen sie aber nicht. 16 Allerdings gilt dies nicht ausnahmslos. Hat z.B. ein Verwaltungsakt kraft Gesetzes privatrechtsgestaltende Wirkung (z.B. Ausübung eines Vorkaufsrechts durch die Gemeinde gem. § 24 BauGB), dann enthält das Verwaltungsrecht eine zwingende Vorgabe für das Zivilrecht. Gleiches gilt grundsätzlich, wenn dem Verwaltungsakt kraft Gesetzes Präklusionswirkung zukommt (z.B. § 75 Abs. 2 Satz 1 VwVfG - Planfeststellungsbeschluss), soweit nicht eine gesetzliche Ausnahme von der Präklusion vorgesehen ist, wie z.B. in § 4a Abs. 6 Satz 1 BauGB. Zur Gruppe der rechtsgestaltenden Verwaltungsakte zählt schließlich der Fall, dass von einer drittschützenden Baurechtsnorm eine bestandskräftige Befreiung erteilt wird. Eine Klage des Nachbarn gegen den Bauherrn auf Schadensersatz wegen Verletzung der Befreiungsvorschrift hätte vor den Zivilgerichten keine Aussicht auf Erfolg. 17 Erfolgreich könnte jedoch eine Amtshaftungsklage des Nachbarn gegen die Bauaufsichtsbehörde sein. Der verfügende Teil der bestandskräftigen Baugenehmigung bindet die Zivilgerichte, 18 aber nur soweit diese reicht. Hinsichtlich des privaten Nachbarrechts bedürfte es bezüglich der §§ 1004, 906 BGB gesonderter Untersuchung. Unproblematisch - zumindest in unserem Zusammenhang - sind auch die Fälle, in denen der Gesetzgeber kraft Zivilrechts an eine öffentlich-rechtlich genehmigte Anlage nachträglich neue Pflichten anknüpft, z.B. eine Gefährdungshaftung. Die öffentlich-rechtliche Genehmigung steht dem nicht entgegen, ist also durchaus kein umfassendes Schutzschild.19 Ist hingegen noch keine verbindliche Außenrechtsnorm (Gesetz, Rechtsverordnung, Satzung) förmlich in Kraft getreten, so hat sie keine rechtliche Bindungswirkung weder für Bürger noch für Gerichte, es sei denn, gesetzlich wird wie in § 33 BauGB ausdrücklich eine Vorwirkung auf den künftigen Bebauungsplan angeordnet. Zwar können Gesetze auch ohne ausdrückliche Regelung Vorwirkungen haben, aber in den uns interessierenden Fällen tritt keine Bindung für Bürger und Gerichte ein, und zwar weder im Verwaltungsrecht noch im Zivil- und Strafrecht. Bei strafrechtlichen, aber auch bei zivilrechtlichen haftungs- und versicherungsrechtlichen Fragen kann allenfalls bei der Frage der Schuld die Vorwirkung einer Rechtsnorm eine Rolle spielen.
16
Vgl. dazu Jarass, VVDStRL 50 (1991), 238, 264; Витке (Fn. 12), S. 184 m.w.N., zum Teil abweichend Peine (Fn. 4), S. 211 ff. 17 В GHZ 66, 354, 356; zum Ganzen Jarass (Fn. 5), S. 263, 268; weitergehend Dol-
derer, DVB1. 1998, 19. 18 19
Breuer, DVB1. 1983, 431/438. Vgl. dazu Sach, Genehmigung als Schutzschild, 1994.
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Bloße Verwaltungsvorschriften haben ebenso wie technische Normen - seien sie förmlich durch die Bauverwaltung eingeführt oder nicht - im Verhältnis zum Bürger lediglich indizielle, also im Einzelfall schwerer oder leichter widerlegbare, nicht aber bindende Wirkung. Ob technische Normen vom Normproduzenten schon förmlich verabschiedet worden sind oder nicht, hat nur Bedeutung für das Regel-Ausnahme-Verhältnis. Will sagen, auch noch nicht verabschiedete technische Normen können im Einzelfall veraltete, aber förmlich verabschiedete technische Normen widerlegen. Auch die überkommene Unterscheidung von „allgemein anerkannten Regeln der Technik", „Stand der Technik", „Stand von Wissenschaft und Technik" und der europarechtliche Terminus „beste verfügbare Technik" 20 ist für die vorliegende Thematik nicht ausschlaggebend.21 Für das Strafrecht hat M. Schröder die Relevanz von Verwaltungsvorschriften im Einzelnen untersucht. Ihre Irrelevanz im Sinne einer bindenden Vorgabe folgt letztlich aus Art. 103 Abs. 2 GG. Danach darf eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Bei normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften macht Schröder eine Ausnahme. Dem ist in dieser Allgemeinheit nicht zu folgen. Inzwischen hat die Figur der normkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift an Zauber verloren, nicht zuletzt durch den Europäischen Gerichtshof. 22 Existenz und Inhalt eines bestandskräftigen Verwaltungsaktes, auch eines rechtswidrigen, sind für den Bürger verbindlich. Sie schützen ihn daher grundsätzlich auch vor einer strafrechtlichen Sanktion, es sei denn, der Gesetzgeber hat wie in § 330d Nr. 5 StGB ausdrücklich die Gestaltungswirkung des Regelungsinhalts eines Verwaltungsaktes begrenzt. § 330d Nr. 5 StGB beschränkt die Wirksamkeit eines Verwaltungsaktes, soweit er durch Drohung, Bestechung oder Kollision erwirkt oder durch unrichtige oder unvollständige Angaben erschlichen worden ist. 23 § 330d Nr. 5 StGB geht teilweise bewusst über die Nichtigkeitsvorschriften des § 44 VwVfG hinaus, teilweise stimmt er aber auch damit überein. Völlige Deckungsgleichheit mit dem Bauordnungsrecht hat der Strafgesetzgeber in § 319 StGB - Baugefährdung - geschaffen. Die in der Strafrechtsvorschrift aufgeführten allgemein anerkannten Regeln der Technik sind identisch mit denen nach § 3 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW. Im Zuge der Ersetzung der allgemein anerkannten Regeln der Technik durch die in § 3 Abs. 3 Satz 1 BauO
20
Dazu Seibel, BauR 2005, 1109. S.a. Battis/Gusy , Technische Normen im Baurecht, 1988, Rn. 277. 22 Vgl. dazu m.w.N. Battis , Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 2002, S. 36 f.; s.a.a. BVerwG, JZ 2005, 892 mit krit. Anm. von Maurer - Veröffentlichungspflicht für Verwaltungsvorschrift mit Außenwirkung. 21
23
Vgl. auch Витке (Fn. 12), S. 115.
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Bin von der Senatsverwaltung durch öffentliche Bekanntmachung, § 3 Abs. 3 Satz 1 MBO eingeführten technischen Regeln (entsprechend § 3 Abs. 3 MBO) ist der Gleichlauf in den meisten Ländern inzwischen beseitigt. Die engeren bauordnungsrechtlichen Vorschriften können die Anwendbarkeit von § 319 StGB nicht steuern. Allenfalls kann im Einzelfall die Diskrepanz zwischen der bauordnungsrechtlichen und der strafrechtlichen Vorschrift bei der Schuldfrage relevant sein. Die beiden letztgenannten Strafrechtsnormen sind spiegelbildlich zur früheren steuerrechtlichen Abzugsfähigkeit von Schmiergeldern trotz strafrechtlicher Verurteilungen. Sie veranschaulichen die Eigenständigkeit unterschiedlicher Rechtsgebiete. Festzuhalten ist aber, dass in allen drei Fällen ausdrückliche gesetzliche Regelungen vorliegen bzw. vorlagen. Nur noch angemerkt sei, dass für die Praxis die strafprozessuale Frage der Aussetzung des Strafverfahrens bis zur Klärung der verwaltungsrechtlichen Fragen von besonderer Bedeutung ist, was das Bundesverfassungsrecht für das Steuerrecht ausdrücklich bestätigt hat. 24
I I I . Besonderer Teil Gegenstand dieses Teils sind die Fälle, in denen weder das Baurecht noch das Zivil- oder Strafrecht ausdrücklich eine Vorrangstellung des jeweiligen Rechtsgebietes anordnen. Das gilt - abgesehen von den behandelten Fällen - auch für die Baugenehmigung. Nach allgemeiner Meinung 25 hat sie einen feststellenden Teil. Problematisch ist aber schon, inwieweit die Prüfung der für ein Vorhaben einschlägigen materiellen Vorschriften reicht. Die Verabschiedung der Schlusspunkttheorie in den meisten Ländern, aber auch die unterschiedliche Rechtslage etwa in Brandenburg oder in Nordrhein-Westfalen zeigt die Grenzen der Baugenehmigung auf. Von der schon erwähnten Beschränkung der Sachentscheidungskompetenz der Baugenehmigungsbehörde durch speziellere öffentlich-rechtliche Vorschriften, etwa im Planfeststellungsrecht ganz zu schweigen. Auf jeden Fall hat die zivilrechtliche Seite die Forderung von Breuer nicht akzeptiert, dass die Baugenehmigung jede zivilrechtliche Abwehrmaßnahme ausschließe.26 Der verfügende Teil der Baugenehmigung hat ohne besondere gesetzliche Regelung nur insoweit rechtsgestaltende Wirkung, als er das präventive Bauverbot aufhebt. Ohne gesetzliche Vorrangregelung besteht auch im Bauordnungsrecht, wie allgemein für das Verhältnis von öffentlichem Recht und Zivil-
24 NJW 1985, 1915; M. Schröder (Fn. 5), S. 229 m.w.N.; vgl. auch Bettermann, ebd., S. 295; Pitschas, ebd., S. 309. 25 Ortloff, NJW 1987, 1665, 1667. 26 Nachweis bei Jarass (Fn. 5), S. 245; vgl. aber auch Dolderer (Fn. 17), S. 19.
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recht, Idealkonkurrenz. 27 Anders als bei der Idealkonkurrenz im strafrechtlichen Sinne, bei der zwar wegen aller Delikte verurteilt, die Strafe jedoch nur aus einer Norm erkannt wird, sind in unserem Fall alle Normen anwendbar, aber sie sind untereinander zu harmonisieren. Daran ändert auch nichts, das vielfach unter Öffentlichrechtlern und Privatrechtlern unstreitige und auch von Motzke bestätigte Stufenverhältnis zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht. Das öffentliche Baurecht trifft nach traditionellem Verständnis abstraktere und höherstufige Regelungen, während das Zivilrecht für den konkreten Einzelfall genauere Anforderungen stellt. Aus diesem Stufen Verhältnis lässt sich - anders als früher - kein allgemeiner Vorrang des öffentlichen Rechts ableiten,28 sondern allenfalls eine Führungsrolle oder - m.E. richtiger - eine Ausstrahlungswirkung 29. Die aufgrund der Idealkonkurrenz vorgegebene Harmonisierung schließt eine ausschließliche oder auch nur vorrangige Konkretisierungskompetenz des einen oder anderen Rechtsgebietes aus. Beide Rechtsgebiete haben sich in der jüngeren Zeit aufeinander zu bewegt und müssen dies in Zukunft noch mehr tun. Triebkraft des Wandels des öffentlichen Baurechts war und ist seine fortschreitende Subjektivierung, im Bauplanungsrecht etwa durch die Anerkennung des Rechts auf Abwägung gem. § 1 Abs. 7 BauGB 30 und im Bauordnungsrecht der Siegeszug der öffentlich-rechtlichen Nachbarklage. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zum Verhältnis von öffentlichem und privatem Nachbarrecht ist ein anschauliches Beispiel für eine insgesamt geglückte Entwicklung. Die durch die Tennisplatz-Entscheidung von 198231 eingeleitete Diskussion hat dazu geführt, dass das vormalige unkoordinierte Nebeneinander nicht zuletzt dank der literarischen Bemühungen des damaligen Vorsitzenden des zuständigen 5. Zivilsenats 32 mit dem Ziel der Harmonisierung beseitigt worden ist. Der völlig reibungslose Gleichlauf von öffentlich-rechtlichen und zivilrechtlichen Beurteilungsmaßstäben wird zwar noch nicht immer erreicht. Aber die inzwischen erreichte Harmonisierung etwa durch gleichlautende Auslegung der Wesentlichkeit i.S.v. § 906 BGB und von schädlichen Umwelteinwirkungen i.S.v. § 3 Abs. 1 BImSchG ist weit entfernt vom ursprünglichen unkoordinierten Nebeneinander. 33 Wichtige Instrumente 27 28 29
Vgl. Витке (Fn. 12), S. 65. Vgl. Bartlsperger , VerwArch 60 (1969), 35, 62. Vgl. Jarass (Fn. 5), S. 266; Витке (Fn. 12), S. 61.
30
BVerwGE 107, 215; dazu m.w.N. Masing , NVwZ-Sonderheft zum 70. Geburtstag von Finkelnburg 5/2005, S. 24, 25. 31
201.
BGH, NJW 1983, 751; dazu krit. Papier , UPR 1985, 73; Gaentzsch , UPR 1985,
32
Hagen, Jb. des Umwelt- und Technikrechts 21/1993, 49, 56.
33
BGHZ 111, 63, 65; 121, 248, 255; 144, 200, 206 m.N. bei Витке (Fn. 12), S. 62,
Fn. 92; S. 65 ff.
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sind dafür die allgemein anerkannten Regeln der Technik, auf die beide Rechtsbereiche rekurrieren, z.B. beim Brandschutz. Gerade beim Brandschutz ist auch festzustellen, dass nicht zuletzt in Umsetzung der Vorgaben der Europäischen Gemeinschaft die Anforderungen verschärft worden sind. 34 Einen Rückfall in die frühen 80er Jahre bedeutet es jedoch, wenn unter Berufung auf den Bundesgerichtshof geradezu brüsk die Unabhängigkeit vom Bauordnungsrecht hinsichtlich der zivilrechtlichen Haftung für die Verkehrssicherheit von Fußballstadien gefordert wird. 35 Die zitierte Bundesgerichtshofentscheidung aus dem Jahre 199636 führte hingegen bereits im Leitsatz die Bauordnungsrechts Widrigkeit eines entgegen der bauordnungsrechtlichen Auflage nicht befriedeten Löschwasserteichs. Anders als die Vorinstanz hat der BGH zudem sowohl den Verstoß gegen die bauordnungsrechtliche Auflage wie auch den Verstoß gegen die einschlägige DIN-Norm zur Begründung der zivilrechtlichen Haftung herangezogen. Angesichts der Offenheit des Bauordnungsrechts und auch der Musterbauordnung für neue, durch die anerkannten Regeln der Technik gesteigerten Sicherheitsanforderungen ist es unzutreffend, das Bauordnungsrecht als Mindestprogramm abzuqualifizieren. Auch das ist nichts anderes als ein Rückfall in das Denken der 80er Jahre. Wer meint, in seiner Eingangsthese betonen zu müssen, die Baugenehmigung sei „keine Rundum-Unbedenklichkeitsbescheinigung",37 orientiert sich an einem Zerrbild, das im Bauordnungsrecht heute niemand mehr vertritt, nicht einmal engagierte Vertreter der Regelung der (beschränkten) Konzentrationswirkung der Baugenehmigung. Zu behaupten - wegen des Begriffs „Allgemeine Anforderungen" an die Sicherheit der Anlage, z.B. auch Stadien oder Feueranlagen - das Bauordnungsrecht regele zwar auch und gerade den Nutzungsfall in der Krise, schweige sich aber in der Krisenlage „mehr oder weniger aus" 38 , ist angesichts der zahlreichen aufgrund der Bauordnungen erlassenen Rechtsverordnungen, aber auch der Verwaltungsvorschriften und Verweise auf die anerkannten oder die allgemeinen Regeln der Technik schlicht nicht nachvollziehbar. Ausführungen zur fehlenden Bindungskraft von nicht umgesetzten Musterbauordnungen und sonstigen Mustervorschriften sind trivial. Angesichts der hochentwickelten Versubjektivierung des Bauordnungsrechts und der fein ausgebildeten Dogmatik des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts ist es ebenso wenig nachvollziehbar, wenn dem Bauordnungsrecht vorgeworfen wird, es verwische den Unterschied zwischen abstrakter und kon-
34
Küster, Brandschutz 1/2002, S. 28, 31. Vgl. Motzke, NZBau 2004, 297, 302. 36 NJW 1997, 582; zur Abstimmung von § 906 BGB und Lärmbeeinträchtigungen nach einem Planfeststellungsverfahren gem. §§ 8-10 LuftVG s. BGH, NuR 2005, 487. 35
37 38
So Motzke (Fn. 35), S. 297. Motzke (Fn. 35), S. 299.
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kreter Gefahr „weitgehend" 39 . Auch unter Rückgriff auf neue Erkenntnisse der Panikforschung dient Panikmache nicht der weiter zu verbessernden Harmonisierung von Bauordnungsrecht und Zivilrecht. Lassen Sie mich zu einem versöhnlichen, aber nicht verkleisternden Schluss kommen. Ich habe im Allgemeinen Teil versucht, jeden Fachchauvinismus zu vermeiden und die Eigenständigkeit, aber auch die wechselseitige Abhängigkeit der Rechtsgebiete betont. Im Besonderen Teil habe ich versucht zu verdeutlichen, dass es um wechselseitige Berücksichtigung, nicht um Bindung geht. Im Interesse der Bürger, aber auch der Verwaltungen und Gerichte ist es geboten, die Gegensätze nicht zu verschärfen, sondern zur besseren Akzeptanz des Rechts, den eingeschlagenen Weg der wechselseitigen Harmonisierung weiterzugehen, um zu gemeinsamen Lösungen zu kommen. Einen wichtigen Beitrag können in diesem Prozess die als Produkt gesellschaftlicher Selbstregulierung entstandenen und entstehenden technischen Normen sein, zumal, wenn sie ihrem Anspruch, die Spitze des Fortschritts zu markieren, gerecht werden. Wird der Anspruch eingelöst, wird sich dem weder das Bauordnungsrecht noch das Zivilrecht verschließen können. Zu aller Letzt noch ein die titelgebenden Risikoentscheidungen paraphrasierendes Zitat aus der Feder eines Philosophen: „Der Geist des Versicherungswesens hat aber den sogenannten Risiko, gesellschaften' die Bereitschaft zu eben dem Verhalten ausgetrieben, von der sie ihren Namen haben: Eine Risiko,gesellschaft' ist jene, in der de facto alles wirklich Riskante verboten, das heißt im Schadensfall von Ersatzleistungen ausgeschlossen ist." 4 0
39
So Motzke (Fn. 35), S. 300.
40
Sloterdijk , Im Weltinnenraum des Kapitals, 2005, S. 150.
Z u m Recht auf Akteneinsicht in Bauleitplan- und Raumordnungsplanverfahren V o n Christian
Heitsch
„Die Einseitigkeit des verwaltungsaktsfixierten Denkens hat es verhindert, zu einem umfassenden System der Verwaltungshandlungen vorzustoßen." 1 Ferner hat sie mit dazu beigetragen, daß in der Rechtswissenschaft die Verfahrensrechte des Bürgers außerhalb der Vorbereitung des Erlasses von Verwaltungsakten sowie des Abschlusses öffentlich-rechtlicher Verträge und jenseits ausdrücklicher fachgesetzlicher Gewährleistungen vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit gefunden haben. Dies gilt auch für die Frage, ob dem Bürger während Bauleitplan- und Raumordnungsplan verfahren, für welche die Verwaltungsverfahrensgesetze jedenfalls nicht unmittelbar gelten, ein Akteneinsichtsrecht zusteht. Indes: „Das externe Verwaltungsverfahren ist auf die jeweilige Verwaltungshandlung und deren Form bezogen, über die an seinem Ende entschieden wird. Es ist um so stärker zu formalisieren, je weniger die Entscheidung normativ vorweggenommen ist und um so fester der Bestand der angestrebten Entscheidung ist. Die Erweiterung der materiellen Entscheidungsmöglichkeiten bedingt eine Verengung der Befugnisse der Verwaltung, den Entscheidungsprozeß selbständig zu ordnen. Daher ergreift das Verwaltungsverfahren den gesamten Entscheidungsgang der Verwaltung und kann nicht auf einzelne Verwaltungshandlungen beschränkt gedacht werden. Ein normatives Verwaltungsverfahren, welches sich auf die Vorbereitung des Erlasses von Verwaltungsakten, der Planung und des Abschlusses von verwaltungsrechtlichen Verträgen begrenzt, muß zu einer Freisetzung des Entscheidungsganges bei atypischen Handlungen führen, die angesichts dessen, daß die atypischen Handlungen selbst noch weniger rechtlich erfaßt sind, den Interessen der Allgemeinheit und der Bürger nicht gerecht werden kann." 2 Und: „Das Verfahren, welches der Entscheidungsbildung dient, geht in seiner dienenden Funktion nicht auf, sondern steht unabhängig davon unter Forderungen des repräsentativ-republikanischen Rechtsstaats. Eine Reihe von Verfahrensprinzipien sind Aus-
1
Peter Krause, Rechtsformen des Verwaltungshandelns: Überlegungen zu einem System der Handlungsformen der Verwaltung, mit Ausnahme der Rechtsetzung, 1975, S. 111. 2 Krause (Fn. 1), S. 49.
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druck für die Anerkennung des Bürgers als verantwortliches Rechtssubjekt, ungeachtet dessen, ob sie ein bestimmtes akzeptables Verfahrensergebnis sichern. [...] Rechtliches Gehör bleibt ein Akt der Courtoisie, die der Staat seinen Bürgern von Rechts wegen schuldet, auch wenn die Sachentscheidung davon nicht berührt wird." 3
Anlaß genug also, der Frage nachzugehen, ob während des Verfahrens der Aufstellung von Bauleit- oder Raumordnungsplänen ein Akteneinsichtsrecht des Bürgers begründet werden kann, der durch die Pläne möglicherweise in eigenen Rechten betroffen ist.4 Außerhalb des hier gewählten Untersuchungsgegenstands liegen die verfassungsrechtlich primär im Demokratieprinzip fundierten 5 Einsichtsrechte nach dem Umweltinformationsgesetz des Bundes, der gegen Landesverwaltungen unmittelbar wirksamen Umweltinformationsrichtlinie 2003/4/EG6 sowie nach den Informationszugangsgesetzen des Bundes und einzelner Bundesländer. Denn diese Rechte haben nicht zur Voraussetzung, daß der Antragsteller Betroffenheit eigener Rechte darlegen muß.
I. Diskussionsstand 1. Zum Akteneinsichtsrecht im Bauleitplanverfahren Während eines laufenden Bauleitplanverfahrens, d. h. eines Verfahrens zur Aufstellung, Ergänzung, Änderung oder Aufhebung eines Bebauungs- oder Flächennutzungsplans, besteht nach verbreiteter Ansicht kein allgemeines Akteneinsichtsrecht. § 3 Abs. 2 BauGB schreibt lediglich vor, daß der Planentwurf, seine Begründung sowie die nach Einschätzung der Gemeinde wesentlichen, bereits vorliegenden umweltbezogenen Stellungnahmen öffentlich auszulegen sind. Darüber hinausgehende Unterlagen, z. B. Stellungnahmen der Behörden oder Dritter sowie andere als umweltbezogene Gutachten, müssen dagegen nicht ausgelegt werden. Denn die Auslegung verfolgt lediglich den Zweck, der planenden Stelle Interessenbetroffenheiten deutlich zu machen sowie den Gemeindeeinwohnern Teilhabe am Bebauungsplanverfahren zu ermöglichen. Diesen Zwecken wird die auf Planentwurf, Begründung und be-
3 4
Krause (Fn. 1), S. 47.
Vgl. zum Ausschluß des Anspruchs auf Akteneinsicht außerhalb des durch das Verwaltungsverfahrensgesetz bekanntlich auf Vorbereitung eines Verwaltungsakts oder eines öffentlich-rechtlichen Vertrages beschränkten Verwaltungsverfahrens bereits BTDrs. 7/910, 52 f. (zu § 25 E-VwVfG 1973). 5 Bieber , Informationsrechte Dritter im Verwaltungsverfahren, in: DÖV 1991, S. 857, 865 f. 6 ABl.EG L 41, 26 ff.; vgl. zum Anspruch eines Einwenders in einem Planfeststellungsverfahren aus Art. 3 der Richtlinie, Einsicht in die Verfahrensakten zu nehmen, soweit diese Umweltinformationen enthalten, VGH Kassel, B. v. 04.02.2006, Az.: 12 Q 2828/05.
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reits vorliegende umweltbezogene Stellungnahmen beschränkte Auslegung gerecht. 7 Für die Zeit nach Abschluß eines Bauleitplan Verfahrens werden begrenzte Akteneinsichtsrechte aus § 214 Abs. 1 S. 2 BauGB 8 sowie aus § 215 Abs. 1 BauGB 9 hergeleitet. Die erstgenannte Vorschrift verpflichtet die Gemeinde, auf Verlangen Auskunft zu erteilen, soweit die Begründung des Bauleitplans in wesentlichen Punkten unvollständig ist. Diese Auskunftspflicht soll - so wird geltend gemacht - auch die Vorlage der maßgeblichen Unterlagen zur Einsichtnahme umfassen, sofern nur auf diese Weise vollständige Auskunft zu erlangen ist. Denn Funktion der Auskunftspflicht sei es, dem Bürger nachträglich diejenigen Informationen zu verschaffen, die in der Begründung fehlen. Daher eröffne die Auskunftspflicht aus § 214 Abs. 1 S. 2 BauGB keine umfassende Einsichtnahme in die vollständigen Akten des Planungsverfahrens. Es könne aber immerhin gefordert werden, daß die zur Erläuterung der unvollständigen Begründung erforderlichen Unterlagen zugänglich gemacht würden. Mit Blick auf § 215 Abs. 1 BauGB wird argumentiert, daß eine effektive Rüge von Verfahrens- und Formfehlern nur möglich sei, wenn Einblick in die Verfahrensakte gewährt werde. Allerdings ist im Gesetzgebungsverfahren zum insoweit gleichlautenden § 155a BauGB bewußt davon abgesehen worden, zugunsten derjenigen, die eine Rüge vorbereiten, ein besonderes Akteneinsichtsrecht einzuführen. Denn - so die damaligen Erwägungen des federführenden Bundestagsausschusses10 - hinreichende Kenntnis über Fehler im Planungsverfahren könne anläßlich der Bürgerbeteiligung erlangt werden; außerdem könne eine derartige Regelung der Akteneinsicht, die ja das gemeindliche Satzungsverfahren betreffe, sachgerecht nur allgemein in den Gemeindeordnungen der Länder geschaffen werden. Rechtsansprüche auf Einsicht in die vollständigen Akten eines Bauleitplanverfahrens werden also bislang nicht anerkannt. Immerhin jedoch wird darauf hingewiesen, daß nach allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsätzen über Akteneinsichtanträge nach pflichtgemäßem Er-
7 Battis, in: Battis/Krautzberger/Löhr, Baugesetzbuch - BauGB - , 9. Auflage, 2005, § 3 BauGB, Rn. 13; OVG Münster, NVwZ-RR 1999, 228; Schrödter, Baugesetzbuch, 7. Auflage, 2006, § 3 BauGB, Rn. 38a; Kukk, Akteneinsicht im Bebauungsplanverfahren, in: UPR 2005, S. 19,20.
8
Battis (Fn. 7), § 214 BauGB, Rn. 9; Gaentzsch, Baugesetzbuch, 1991, § 214 Rn. 6;
Lemmel, in: Schlichter/Stich, Berliner Kommentar zum Baugesetzbuch, 2. Auflage,
1995, § 214 BauGB, Rn. 20; Quaas/Kukk,
in: Schrödter (Fn. 7), § 214 Rn. 32; Dolde,
Die „Heilungsvorschriften" des BauGB für Bauleitpläne, in: BauR 1990, S. 1,4; skeptisch Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, Baugesetzbuch, § 214 Rn. 77, sowie Kukk (Fn. 7), UPR 2005, 20 f. 9 Dürr, in: Brügelmann (Hrsg.), Baugesetzbuch (Stand 09.2005), § 214 Rn. 25. 10 BT-Drs. 8/2885, 44 (zu Nr. 22).
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messen zu entscheiden sei, sofern der Antragsteller ein rechtliches Interesse darlege. 11
2. Zum Akteneinsichtsrecht im Raumordnungsplanverfahren Das Raumordnungsrecht enthält keine ausdrücklichen Rechtsgrundlagen für Ansprüche auf Akteneinsicht. § 7 Abs. 6 ROG in der Fassung des EAG-Bau 12 schreibt in rahmenrechtlicher (Art. 75 Abs. 1 Nr. 4 GG) Umsetzung der Richtlinie 2001/42/EG 13 vor, daß der Öffentlichkeit frühzeitig und effektiv Gelegenheit zu geben ist, zum Entwurf des Raumordnungsplans und seiner Begründung sowie zum Umweltbericht Stellung zu nehmen. § 22 S. 3 ROG ordnet an, daß die Bestimmung bis zur Umsetzung der Richtlinie 2001/42/EG durch die Länder unmittelbar gilt. Aus dem Gebot, effektiv Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, folgt kein Recht auf Einsicht in die vollständigen Akten des Raumordnungsplanverfahrens. Die Gesetzesmaterialien betonen zwar, daß „nicht lediglich die Möglichkeit einer passiven, sondern einer aktiven Beteiligung gefordert" sei, 14 äußern sich zur Frage der Akteneinsicht jedoch nicht. Die Rechtswirkungen der Raumordnungspläne für Privatpersonen sind erst seit immer noch recht kurzer Zeit vermehrt Gegenstand ausführlicherer rechtswissenschaftlicher Untersuchen 15 geworden. Deshalb überrascht es nicht, daß die Frage, ob speziell im Verfahren der Aufstellung oder Änderung eines Raumordnungsplans ein Recht auf Akteneinsicht anzuerkennen ist, in der Literatur bislang überhaupt nicht erörtert wurde. Gerichtliche Entscheidungen zu dieser Frage fehlen. In Fortschreibung ihrer bisherigen Linie zum Aktenzugang außerhalb eines „Verwaltungsverfahrens" i.S.d. § 9 VwVfG 1 6 wäre die Rechtsprechung vermutlich auch im Raumordnungsplanverfahren allenfalls bereit, eine Pflicht der Behörde zuzugestehen, bei berechtigtem Interesse des Antragstellers über Anträge auf Akteneinsicht nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Gelegentlich nutzt die Verwaltung die Tatsache, daß im Raumordnungsrecht keine ausdrückliche Rechtsgrundlage für ein Akteneinsichtsrecht existiert, auch strategisch aus, um die Rechtsverfolgung Betroffener in anderen Verwaltungsverfahren zu erschweren. Dies geschieht auf folgende Weise: Parallel zum Planfeststellungsverfahren für ein Infrastrukturprojekt wird ein Verfahren zur 11
Jäde, in: Dirnberger/Jäde/Weiß, Baugesetzbuch, 1998, § 214 BauGB, Rn. 11. G. v. 24.06.2004 (BGBl. I S. 1359). 13 Richtlinie des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 27. Juni 2001 über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme, AB1.EG Nr. L 197 S. 30. 14 BT-Drs. 15/2250, 70 f. 15 Vgl. Spiecker , Raumordnung und Private, 1999, insbesondere S. 104 ff. 16 Vgl. BVerwGE 69, 278; BayVGH, NVwZ 1999, 889 f. 12
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Änderung des maßgeblichen Raumordnungsplans eingeleitet, in welchem die Durchführung des Projekts als Ziel der Raumordnung formuliert werden soll. Der Antrag eines Betroffenen, die Akten des Planfeststellungsverfahrens einsehen zu dürfen, wird mit der Begründung zurückgewiesen, die Akten würden gerade im Verfahren zur Änderung des Raumordnungsplanes bearbeitet und dort gäbe es ja bekanntlich kein Akteneinsichtsrecht. 17 Einsicht in die vollständigen Akten des Planfeststellungsverfahrens erhält der Betroffene dann möglicherweise erst unmittelbar vor dessen Abschluß, schlimmstenfalls erst im Verwaltungsprozeß. Dies erschwert den Rechtsschutz der Betroffenen sehr erheblich. Unabdingbare Voraussetzung für eine wirksame gerichtliche Rechtsverfolgung ist nämlich die Möglichkeit, die tatsächlichen Annahmen, die dem Planfeststellungsbeschluß zugrunde liegen, mit hinreichend substantiiertem Sachvortrag anzugreifen. 18 Hierzu ist es notwendig, rechtzeitig die vollständigen Akten des Verwaltungsverfahrens auszuwerten. Denn der erforderliche Klagevortrag ist angesichts der Komplexität des Verfahrensgegenstands nur mit Hilfe gutachtlicher Äußerungen von Sachbeiständen möglich, die ihrerseits wiederum nur aufgrund der Kenntnis der Verfahrensakten ausgearbeitet werden können. All dies braucht Zeit. Vielfach sind aber zugleich noch gesetzliche (§ 17 Abs. 6b FStrG; § 10 Abs. 7 LuftVG) oder gerichtlich angeordnete (§ 87b VwGO) Klagebegründungsfristen zu beachten, deren Verlängerung jeweils gesetzlich ausgeschlossen ist. Die Praxis, unter Hinweis auf die Verwendung der Akten im parallel laufenden Raumordnungsplanverfahren die Akteneinsicht im Planfeststellungsverfahren praktisch bis zum letzten Moment zu verweigern, muß unter diesen Umständen als bewußte Rechtsschutzvereitelung qualifiziert werden. Vor diesem Hintergrund soll im folgenden untersucht werden, ob die gesetzlich auf das Verwaltungsverfahren zur Vorbereitung eines Verwaltungsakts unter Einschluß der Planfeststellung oder zur Vorbereitung eines öffentlich-rechtlichen Vertrags beschränkten Regelungen über den Anspruch auf Akteneinsicht im Rahmen von Bauleitplan- und Raumordnungsplanverfahren analog angewendet werden können.
17
S. z. B. Schreiben des Hessischen Ministeriums für Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung vom 05.09.2003, Az.: I 11 93c - 08 - 09. 18 Vgl. zur Befugnis der Verwaltungsgerichte, die entscheidungserheblichen Tatsachen aus den Verwaltungsvorgängen zu entnehmen, BVerwG NVwZ 1989, 1058 f.; vgl. auch BVerwG, NVwZ 2002, 1123, 1125, zum grundsätzlichen Verbot einer gerichtlichen Fehlersuche, die nicht durch Sachvortrag des anwaltlich vertretenen Klägers veranlaßt ist.
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I I . Versuch eines Neuansatzes 1. Verwaltungsverfahrensgesetzliche Akteneinsichtsrechte Beteiligter Innerhalb eines Verwaltungsverfahrens i.S.d. § 9 VwVfG besteht ein Anspruch auf Akteneinsicht (§ 29 Abs. 1 S. 1 VwVfG). Der Kreis der zur Einsicht Berechtigten ist allerdings auf die „Beteiligten" beschränkt. Kraft Gesetzes gehören zu diesem Personenkreis Antragsteller, Antragsgegner und Adressat des am Ende des Verfahrens stehenden Verwaltungsakts sowie derjenige, mit dem die Behörde am Ende des Verfahrens den öffentlich-rechtlichen Vertrag schließen will (§ 13 Abs. 1 Nr. 1-3 VwVfG). Als „rechtliches Interesse" gelten nur solche Interessen, die durch Rechtsnorm des öffentlichen oder privaten Rechts auch im individuellen Interesse eingeräumt sind. Sie werden von den „berechtigten Interessen" dadurch abgegrenzt, daß letztere auch schutzwürdige ideelle, soziale oder wirtschaftliche Interessen umfassen. 19 Dem Einsichtsanspruch unterliegen Akten gemäß § 29 Abs. 1 S. 1 VwVfG nicht schlechthin, sondern nur insoweit, als ihre Kenntnis zur Geltendmachung oder Verteidigung rechtlicher Interessen des Beteiligten erforderlich ist. Wenn die Erforderlichkeit nicht aufgrund der Umstände und des Zusammenhangs offensichtlich ist, trifft den Antragsteller eine Darlegungslast. Er muß erläutern, daß er die Akten benötigt, um die Voraussetzungen für ein rechtlich erhebliches Verhalten nach dem Ergebnis der Einsichtnahme zu klären oder um eine gesicherte Grundlage für die Verfolgung eines Anspruchs zu schaffen. Für die Gewährung der Akteneinsicht reicht es aus, daß das geltend gemachte materiellrechtliche Interesse bei überschlägiger Prüfung nicht offensichtlich rechtsmißbräuchlich wahrgenommen wird und ohne die Akteneinsicht eine Beeinträchtigung dieses Interesses möglich (nicht etwa sicher oder auch nur wahrscheinlich) erscheint. 20 Über den Kreis der kraft Gesetzes Beteiligten hinaus entsteht gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 VwVfG eine Beteiligung dadurch, daß die Behörde solche Personen auf Antrag als Beteiligte zu einem Verfahren hinzuzieht, deren rechtliche Interessen durch den Ausgang des Verfahrens berührt werden, oder für die das Verfahren rechtsgestaltende Wirkung entfaltet. Zu den Funktionen des Akteneinsichtsrechts gehört es auch, dem die Einsicht begehrenden die Gelegenheit zu geben, die Voraussetzungen für ein rechtserhebliches Verhalten zu klären, z. B. auch diejenigen für einen Antrag auf Hinzuziehung als Beteiligter. Daher wird man Personen, deren rechtliche Interessen durch den Verfahrensausgang
19 Für viele Kopp/Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz, 9. Auflage, 2005, § 13 VwVfG, Rn. 35; Bonk/Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 6. Auflage, 2001, § 13 VwVfG, Rn. 32.
20
Kopp/Ramsauer (Fn. 19), § 29 VwVfG, Rn. 16 ff.; Bonk/Kallerhoff,
Bonk/Sachs (Fn. 19), § 29 VwVfG, Rn. 41 ff.
in: Stelkens/-
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möglicherweise betroffen sind, bereits vor der förmlichen Hinzuziehung einen Akteneinsichtsanspruch gewähren müssen.21 Das Recht auf Akteneinsicht nach § 29 VwVfG ist verfassungsrechtlich in der Menschenwürde, den Grundrechten und ihrer das Verwaltungsverfahren bestimmenden Funktion sowie im Rechtsstaatsprinzip fundiert. 22 Der Bürger ist wegen seiner personalen Würde nicht Objekt, sondern Subjekt des Verwaltungsverfahrens. Diese Rechtsstellung wird unter anderem dadurch gesichert, daß § 29 VwVfG den Bürger in die Lage versetzt, sich gegenüber der Verwaltung zu behaupten.23 Das Akteneinsichtsrecht gehört zum grundrechtsbewehrten Minimum solcher Verfahrensmerkmale, die zum Schutz des jeweils berührten Grundrechts in jedem Fall gegeben sein müssen. Es konkretisiert nicht nur rechtsstaatliche Transparenz, sondern in ihm findet auch der personale Bezug des Grundrechtsschutzes seinen besonderen Ausdruck. 24 Gemeinsam mit dem erst aufgrund Aktenkenntnis sachgerecht wahrnehmbaren, in § 28 VwVfG gewährleisteten Anhörungsrecht dient der Anspruch auf Akteneinsicht der Verwirklichung rechtlichen Gehörs im Verwaltungsverfahren. 25 Es soll die Waffengleichheit des Bürgers mit der Verwaltung im Hinblick auf die Kenntnis des entscheidungserheblichen Sachverhalts sicherstellen und damit ein geheimes Verfahren der Behörde mit geheimer Entscheidungsgrundlage verhindern. Damit trägt es auch zur Fairness des Verfahrens bei. 26 Zugleich soll der Akteneinsichtsanspruch es in Verwirklichung eines rechtsstaatlichen Anliegens den Beteiligten ermöglichen, bei der Sachverhaltsermittlung der Behörde effektiv mitzuwirken. Die Beteiligten erhalten Kenntnis über denjenigen tatsächlichen Feststellungen, welche die Behörde nach gegenwärtigem Sachstand zur Grundlage ihrer Entscheidung machen möchte. Diese Kenntnis können sie zur Grundlage weiteren Vorbringens im Verwaltungsverfahren machen.27 Auf diese Weise wird die Wahrscheinlichkeit erhöht, daß die Verwaltungsentscheidung auf einer den Umständen entsprechend möglichst umfassenden Aufklärung des Sachverhalts beruht. Infolge dieser präventiven
21
So im Ergebnis auch Hufen, Fehler im Verwaltungsverfahren, 4. Auflage, 2002, Rn. 236. 22 Schwab, Das Recht auf Akteneinsicht, in: DÖD 1997, S. 148; allgemein zur Fundierung der Beteiligungsrechte des einzelnen in der Menschenwürde und dem Rechtsstaatsprinzip vgl. auch Krause (Fn. 3). 23 BayVGH, NVwZ 1990, 775, 777. 24 Hufen, Heilung und Unbeachtlichkeit grundrechtsrelevanter Verfahrensfehler?, in: NJW 1982, S. 2163; Schmidt-Aßmann, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung, (Stand: 01.2003), Einleitung, Rn. 207. 25 Bonk/Kallerhoff.\ in: Stelkens/Bonk/Sachs (Fn. 19), § 29 VwVfG, Rn. 4. 26 Clausen, in: Knack, Verwaltungs Verfahrensgesetz, 8. Auflage, 2003, § 29 VwVfG, Rn. 6. 27 Vgl. BVerwGE 15, 132.
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Kontrolle der Verwaltung durch Bürgerbeteiligung 28 kann sich auch das Prozeßrisiko für die Verwaltung reduzieren. Im Planfeststellungsverfahren sieht § 72 Abs. 1 Hs. 2 VwVfG vor, daß die Regelung des § 29 VwVfG nur mit der Maßgabe gelten soll, daß die Behörde über die Gewährung der Akteneinsicht in allen Fällen nach Ermessen zu entscheiden hat. Im Hinblick auf die typischerweise hohe Zahl an Beteiligten eines solchen Verfahrens leuchte ein, daß hier ein Akteneinsichtsanspruch nicht mehr gewährt werden könne, wenn nicht der Grundsatz der Gleichbehandlung aller Beteiligten verletzt werden solle. Die erforderliche Einsicht in die Pläne gewährleiste dafür § 69 des Entwurfs, d. h. § 73 VwVfG. 2 9 Die in § 72 Abs. 1 Hs. 2 VwVfG verfügte Einschränkung des Akteneinsichtsanspruchs ist verfassungsrechtlich bedenklich. Denn sie baut die dem Individualrechtsschutz dienenden rechtsstaatlichen Sicherungen in beträchtlichem Umfang ab. Im Mülheim-Kärlich-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts wurde die Bedeutung der Vorschriften über die Beteiligung klagebefugter Dritter am Verwaltungsverfahren für den Schutz der Grundrechte herausgearbeitet; lasse die Behörde derartige Vorschriften außer acht, verletze sie das im Einzelfall maßgebliche materielle Grundrecht der Betroffenen. 30 Infolge dieser Entscheidung ist es erforderlich, gesetzlich zwischen der grundrechtsrelevanten Beteiligung unmittelbar betroffener und daher später klagebefugter Dritter sowie derjenigen anderer Personen an Massen verfahren zu unterscheiden. 31 Diese Differenzierung enthält der Wortlaut des § 72 S. 1 Hs. 2 VwVfG allerdings nicht. Vielmehr speist er alle Antragsteller unterschiedslos mit einem bloßen Anspruch auf fehlerfreie Ermessensentscheidung ab. Wenn sich die Gesetzesbegründung insoweit auf den Gleichheitssatz beruft, überzeugt dies nicht. Denn zwischen den verschiedenen Beteiligten - Rechtsbetroffenen und anderen - kann durchaus sachgemäß abgegrenzt werden. Die Regelung des § 72 S. 1 Hs. 2 VwVfG wäre daher verfassungswidrig, wenn sie nicht in dem Sinne ausgelegt werden könnte, daß bei der Entscheidung über Anträge unmittelbar in eigenen Rechten betroffener und daher später klagebefugter Dritter eine Ermessensreduzierung auf Null eintritt. Diesem Personenkreis muß aus verfassungsrechtlichen Gründen ein strikter Anspruch auf Akteneinsicht zustehen.32
28 V. Mutius, in: Krause/v. Mutius/Schnapp/Siewert, Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren, 1991, § 25 SGB-X, Rn. 5. 29 BT-Drs. 7/910, 87 (Begründung zu § 68 des Regierungsentwurfs). 30 BVerfGE 53, 30, 62 ff. 31 Blümel, Grundrechtsschutz durch Verfahrensgestaltung, in: ders. (Hrsg.), Frühzeitige Bürgerbeteiligung bei Planungen, 1982, S. 23, 50 ff.; ders., Die öffentliche Bekanntmachung von Verwaltungsakten in Massenverfahren, in: VerwArch 73 (1982), S. 5, 7 ff. 32 Vgl. Blümel, Grundrechtsschutz (Fn. 31), S. 54, der allerdings auf die verfassungskonforme Auslegung nicht eingeht; zu dieser wie hier Breuer, Verfahrens- und Form-
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2. Sinngemäße Anwendung in Verfahren raumbezogener Planung? a) Zur Bedeutung der materiellen Rechtswirkungen der Pläne Für die Beurteilung, ob die Vorschriften der Verwaltungsverfahrensgesetze über die Akteneinsicht im Verfahren raumbezogener Planung analog anzuwenden sind, ist von folgenden Grundsätzen auszugehen.33 Je stärker sich die materiellrechtlichen Wirkungen der hier betrachteten Pläne der Einzelfallregelung annähern, und je mehr sich der Plan von der klassischen, abstrakt-generellen Rechtsnorm entfernt, um so größer wird die notwendige Legitimationsleistung des Verfahrens, d. h. seine Bedeutung als Entscheidungsprozeß, in dem die unterschiedlichen Interessen ermittelt und zu einem angemessenen Ausgleich gebracht werden müssen. Um so klarer wird auch die dogmatische Konsequenz: Anwendung der verwaltungsverfahrensgesetzlichen Akteneinsichtsregeln auf das Planaufstellungsverfahren. Dafür spricht auch, daß die auf die Einzelfallregelung zugeschnittenen verwaltungsverfahrensgesetzlichen Vorschriften über die Akteneinsicht uneingeschränkt auch für die Allgemeinverfügung (§ 35 S. 2 VwVfG) und gemäß § 72 VwVfG in modifizierter Form für den Planfeststellungsbeschluß gelten. Dies sind beides Handlungsformen, die gegenüber einer mehr oder weniger großen Anzahl von Personen Rechtswirkungen entfalten. Die Allgemeinverfügung richtet sich an einen nach allgemeinen Merkmalen bestimmten oder bestimmbaren Personenkreis oder regelt - mit Wirkung gegenüber allen Benutzern - die öffentlichrechtliche Eigenschaft einer Sache oder ihre Benutzung durch die Allgemeinheit. Die Gestaltungswirkung des Planfeststellungsbeschlusses nach § 75 Abs. 1 S. 2 VwVfG gilt für alle objektiv vom Plan Betroffenen. 34 Sofern die Rechtswirkungen der Pläne denjenigen einer Allgemeinverfügung oder einer Planfeststellung vergleichbar sind, sind in analoger Anwendung der verwaltungsverfahrensgesetzlichen Regeln Akteneinsichtsansprüche anzuerkennen. Auf die formellrechtliche Qualifikation der Pläne als Rechtsnormen, Verwaltungsakte oder Hoheitsakte eigener Art kommt es demgegenüber nicht an. Denn das Ausmaß der Legitimationsleistungen, die das Aufstellungsverfahren erbringen muß, ist davon unabhängig. Vielmehr gewinnt auch für die Aufstellung der Bauleit- und Raumordnungspläne die angemessene Sachverhaltsaufklärung und die Beteiligung der Planadressaten im Verfahren besondere Bedeutung, da der Planungsträger über einen weiten Entscheidungsspielraum verfügt. Die Bedeutung der Verfahrensfehler der Planfeststellung für räum- und umweltrelevante Großvorhaben, in: Franßen u. a. (Hrsg.): Festschrift für Horst Sendler, 1991, S. 357, 367; Hufen (Fn. 21), Rn. 384; nicht ganz so weit gehend - ermessensfehlerfreie Ablehnung nur bei Vorliegen schwerwiegender Gründe gegen die Gewährung - Kopp/Ramsauer (Fn. 19), § 72 VwVfG, Rn. 19; ähnlich Bonk/Neumann, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Fn. 20), § 72 VwVfG, Rn. 115; Ule/Laubinger, Verwaltungsverfahrensrecht, 4. Auflage, 1995, § 39 Rn. 29. 33
Zum folgenden vgl. Hufen (Fn. 21), Rn. 446 f.
34
Bonk/Neumann, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Fn. 20), § 75 VwVfG, Rn. 29.
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rechte wird um so größer, je höher der Grad individueller Betroffenheit ist. Personen, die von einem Bauleit- oder Raumordnungsplan unmittelbar in ihren Rechten betroffen werden, dürfen mit Rücksicht auf die verfassungsrechtliche Fundierung der Akteneinsichtsrechte 35 insoweit nicht schlechter gestellt werden als diejenigen, die von einer Allgemeinverfügung oder Planfeststellung betroffen sind.
b) Die materiellen Wirkungen der Pläne im einzelnen aa) Bebauungsplan § 10 Abs. 1 BauGB bestimmt, daß der Bebauungsplan als Satzung zu beschließen ist. Damit ist allerdings nur für Zwecke des kommunalverfassungsrechtlichen Aufstellungsverfahrens und des Rechtsschutzes die Frage nach der formellrechtlichen Natur des Plans beantwortet. Dagegen enthält § 10 Abs. 1 BauGB keine allgemeingültige rechtliche Qualifizierung, mit der weitere dogmatische Aussagen z. B. hinsichtlich der Fehlerfolgen, der Bestandskraft oder möglicher zusätzlicher Verfahrensrechte Betroffener begründet werden könnten. Ob auch in materiellrechtlicher Hinsicht der Bebauungsplan einer abstraktgenerellen Rechtsnorm gleichgestellt werden kann, ist zweifelhaft. 36 Der Bebauungsplan stellt zwar eine allgemein verbindliche Ordnung für eine Teilfläche des Gemeindegebiets auf. Die konkrete Grundstücksnutzung ist jedoch häufig so konkret, daß der spätere Vollzug bereits im Plan inhaltlich weitgehend festgelegt ist. Anders als die typische Rechtsnorm trifft der Bebauungsplan seine Regelungen nicht abstrahiert von den konkreten Umständen eines Einzelfalls, sondern gerade umgekehrt „konkret-individuell im Angesicht der konkreten Sachlage". Dies muß er im Normalfall sogar tun, da sonst das Abwägungsgebot verletzt wäre. Denn die hinter einer Festlegung stehende Abwägung der öffentlichen und privaten Belange löst sich von der konkreten Situation in dem gleichen Ausmaß ab wie die Festsetzung selbst. Eine allgemein gehaltene Regelung entzieht sich Erwägungen, die - notwendig differenzierend - mit der konkreten Situation der Einzelfälle zu tun haben. Die grundsätzliche Festlegung der Bebauungspläne auf konkret-individuelle Regelungen führt dazu, daß Festsetzungen, die sich von diesem Ausgangspunkt entfernen, einer besonderen Rechtfertigung bedürfen. 37 Daraus folgt zugleich, daß die materiellrechtliche Qualifikation als abstrakt-generelle, konkret-individuelle oder als 35
Vgl. dazu oben bei Fn. 22 ff. Zum folgenden mit unterschiedlichen Folgerungen für die materiellrechtliche Qualifikation der Bebauungspläne Brohm, Öffentliches Baurecht, 3. Auflage, 2002, § 8 Rn. 6; Krautzberger/Schliepkorte, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg (Fn. 8), § 10 BauGB, Rn. 33 f.; Niehues, Die Bekanntgabe dinglicher Verwaltungsakte, in: DVB1. 1982, S. 317, 321; Gierke, in: Brügelmann (Fn. 9), § 10 BauGB, Rn. 20 ff. 37 BVerwGE 50, 114, 119 ff. 36
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vergleichbar der Allgemein Verfügung gemäß § 35 S. 2 Var. 2 VwVfG konkretsachbezogene38 Regelung nicht allgemein für alle Bebauungspläne und alle Festsetzungen jedes Bebauungsplans, sondern differenzierend für jede einzelne Festsetzung zu treffen ist. 39 Von der Qualifikation als konkret-individuelle oder konkret-sachbezogene Festsetzung hängt es ab, ob im Einzelfall analog § 29 Abs. 1 S. 1, § 72 Abs. 1 Hs. 2 VwVfG ein Akteneinsichtsanspruch Betroffener anerkannt werden muß. Wer geltend macht, durch konkret-individuelle oder konkret-sachbezogene Festsetzungen unmittelbar in seinen Rechten betroffen zu sein, muß im übrigen analog § 13 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 VwVfG auf Antrag als Beteiligter zum Verfahren hinzugezogen werden. 40
bb) Flächennutzungsplan Dem Flächennutzungsplan werden grundsätzlich immer noch jegliche unmittelbaren Rechtswirkungen abgesprochen. Selbst wenn Darstellungen des Flächennutzungsplans als öffentliche Belange i. S. v. § 35 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 BauGB einem Bauvorhaben entgegenstehen können, soll es sich nach immer noch überwiegender Auffassung prinzipiell nicht um unmittelbare Rechtswirkungen eines Flächennutzungsplans handeln, sondern um eine gesetzlich angeordnete Erheblichkeit hinreichend konkreter planerischer Darstellungen. 41 Die Darstellungen selbst sollen dagegen keine unmittelbar nach außen wirkende Rechtsverbindlichkeit aufweisen, sondern lediglich als Unterstützung und einleuchtende Fortschreibung bestimmter tatsächlicher Gegebenheiten wirken. 42 § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB ermöglicht jedoch, für privilegierte Vorhaben (mit Ausnahme der landwirtschaftlichen Betriebe und der Vorhaben zur Nutzung der Kernenergie) Standorte durch Darstellungen im Flächennutzungsplan mit der Maßgabe auszuweisen, daß die jeweiligen Vorhaben im übrigen Gemeindegebiet ausgeschlossen sind. 43 Hinsichtlich dieser sog. Konzentrationsplanung hat sich inzwischen mit Recht die Auffassung durchgesetzt, daß der Flächennutzungsplan insoweit eine dem Bebauungsplan vergleichbare Wirkung hat; denn die entsprechenden Darstellungen schlagen unmittelbar auf die Zulassung eines Vorhabens durch. Der Flächennutzungsplan dient im Anwendungsbereich des § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB in Abweichung von der grundsätzlichen Zweistufigkeit der Bauleitplanung (§ 8 Abs. 2 BauGB) nicht mehr lediglich der vorbe38
Niehues (Fn. 36), DVB1. 1982, 321 f.
39
So auch Bönker, in: Hoppe/Bönker/Grotefels, Öffentliches Baurecht, 3. Auflage, 2004, § 3 Rn.88. 40 41
Näher Hufen (Fn. 21), Rn. 464 f. Brohm (Fn. 36), § 6 Rn. 13; Softer,
in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg (Fn. 7), §5
BauGB, Rn. 7 f.; Lohr, in: Battis u. a. (Fn. 7), § 5 Rn. 45 42 BVerwGE 68, 311,313 f. 43 Zu den Voraussetzungen im einzelnen vgl. BVerwGE 117, 287 ff.; 118, 33 ff.
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reitenden Darstellung, aus welcher der Bebauungsplan als nachfolgender Schritt mit eigenem planerischen Spielraum zu entwickeln ist. Vielmehr sind die Darstellungen im Flächennutzungsplan hier unmittelbar zu beachten. Ziel der Konzentrationsplanung ist nicht die Unterstützung und Fortschreibung tatsächlicher Gegebenheiten, sondern die Gestaltung der Bodennutzung im Außenbereich. Den entsprechenden Darstellungen des Flächennutzungsplans kommt daher Regelungswirkung zu. 44 Soweit die Gemeinde eine Konzentrationsplanung durchführt, bestimmen die Darstellungen des Flächennutzungsplans den Inhalt des Eigentums gemäß Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG. 45 Dies hat Auswirkungen auf den verfassungsrechtlich notwendigen Grad an Bestimmtheit der Darstellungen. Eigentumsinhaltsbestimmungen müssen nämlich nicht nur den Gewährleistungsgehalt des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG beachten sowie dem Gleichheitssatz und dem Verhältnismäßigkeit genügen. Sie müssen auch mit allen übrigen Verfassungsnormen im Einklang stehen, insbesondere den Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips entsprechen. 46 Hierzu gehört das Gebot hinreichender Bestimmtheit der Darstellungen, d. h. der typischerweise zeichnerischen Positivausweisung und der typischerweise textlich angeordneten Ausschlußwirkung. Aus der Planbegründung muß sich mit hinrechender Deutlichkeit ergeben, welche grundsätzlich für die privilegierte Nutzung geeigneten Flächen untersucht und nicht in die Positivausweisung einbezogen wurden. Denn die Kombination aus Positivausweisung und Ausschlußwirkung muß insgesamt auf einem schlüssigen, gesamträumlichen Planungskonzept beruhen. Die Abwägung aller beachtlichen Belange muß sich auf die positiv ausgewiesenen und die ausgeschlossenen Standorte beziehen.47 Daraus folgt, daß die im Gesetz scheinbar unspezifiziert auf den gesamten Außenbereich bezogene Ausschlußwirkung in Wahrheit immer konkrete, grundsätzlich für die privilegierte Nutzung in Frage kommende Flächen betrifft. Insofern bedarf die überkommene Vorstellung, 48 der Flächennutzungsplan sei wegen seiner Vorbereitungsfunktion (§ 1 Abs. 2 BauGB) „grobmaschiger" als der Bebauungsplan, der Korrektur. Denn im Anwendungsbereich des § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB ist der Flächennutzungsplan ausnahmsweise gerade nicht nur der vorbereitende Bauleitplan, sondern tritt von seiner Funktion her an die Stelle des Bebauungsplans. 44 BVerwG, BauR 2005, 503, 505 f.; Hoppe, Zur planakzessorischen Zulassung von Außenbereichsvorhaben durch Raumordnungs- und durch Flächennutzungspläne, in: DVB1. 2003, S. 1345, 1355; Kment, NVwZ 2003, 1047, 1055; Erbguth/Wagner , Grundzüge des Öffentlichen Baurechts, 4. Auflage, 2005, § 15 Rn. 15; Gierke , in: Brügelmann (Fn. 9), § 5 BauGB, Nr. 2. 45 BVerwGE 117, 287, 303. 46 BVerfGE 14, 263, 278; Jarass/Pieroth , Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 7. Auflage, 2004, Art. 14 GG, Rn. 48; Wieland , in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band I, 2. Auflage, 2004, Art. 14 GG, Rn. 129. 47 Vgl. BVerwGE 118, 33,37.
48
Vgl. BVerwGE 95, 123, 125; Brohm (Fn. 36), § 6 Rn. 11.
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Beteiligungsrechte analog § 13 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 VwVfG sowie Akteneinsichtsansprüche analog § 29 Abs. 1 S. 1, § 72 Abs. 1 Hs. 2 VwVfG stehen denjenigen zu, deren Grundeigentum durch Ausweisungen einer Konzentrationszone im Flächennutzungsplan betroffen ist. Gegen die analoge Anwendung der verwaltungsverfahrensgesetzlichen Vorschriften über die Akteneinsicht im Bauleitplan verfahren könnte unter Hinweis auf die Gesetzgebungsmaterialien eingewandt werden, daß die entsprechende Regelungslücke nicht planwidrig sei. Gewiß haben die Gesetzgebungsorgane es ausdrücklich abgelehnt, ein Akteneinsichtsrecht in das Baugesetzbuch aufzunehmen.49 Die zugrundeliegende Annahme, im Rahmen der Bürgerbeteiligung gemäß § 3 BauGB könne auch hinreichend Kenntnis über Verfahrensfehler erlangt werden, ist unrealistisch, da Unterlagen über den Verfahrensablauf nicht ausgelegt werden müssen.50 Die Erwartung der Bundesgesetzgebungsorgane, die Länder würden in den Gemeindeordnungen ein allgemeines, dann auch für Bebauungspläne geltendes Akteneinsichtsrecht für kommunale Satzungsverfahren schaffen, hat sich nicht erfüllt. Sie würde außerdem in Bezug auf Flächennutzungspläne nicht weiterhelfen, da diese formellrechtlich nicht als Satzungen qualifiziert werden. Die verfassungsrechtliche Fundierung des Akteneinsichtsrechts unmittelbar in ihren Rechten betroffener Personen wurde von den Gesetzgebungsorganen überhaupt nicht gewürdigt. Aus diesen Gründen ist die Regelungslücke als planwidrig anzusehen.
cc) Raumordnungspläne im Rahmen des § 35 Abs. 3 S. 2, 3 BauGB Gemäß § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB kann nicht nur eine Gemeinde für ihr Gebiet Konzentrationszonen im Flächennutzungsplan ausweisen; vielmehr können auch die Träger der Landes- und Regionalplanung privilegierte Vorhaben auf bestimmte Standorte konzentrieren, indem sie entsprechende Ziele der Raumordnung (§ 3 Nr. 2 ROG) formulieren. 51 Ziele der Raumordnung haben für Außenbereichsvorhaben noch in zwei weiteren Fällen Bedeutung. Und zwar bestimmt § 35 Abs. 3 S. 2 Hs. 1 BauGB für den Außenbereich, daß raumbedeutsame Vorhaben nach Abs. 2 und Abs. 1, d. h. privilegierte ebenso wie sonstige Vorhaben, Zielen der Raumordnung nicht widersprechen dürfen. Diese negative Wirkung der Raumordnungsziele kommt nur zum Tragen, wenn die Ziele für die Beurteilung eines Einzelvorhabens sachlich und räumlich hinreichend konkret sind, so daß der Standort ge-
49
Vgl. oben bei Fn. 10. So auch Boecker, Heilung mangelhafter Bauleitpläne und Satzungen, in: BauR 1979, S. 361,364. 51 Zur Ausweisung von Konzentrationszonen nach § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB durch Raumordnungsziele vgl. BVerwGE 119, 217, 224. 50
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wissermaßen anderweitig „verplant" ist. In räumlicher Hinsicht bedarf es hierfür einer gebiets- oder grundstücksscharfen Aussage; „Gemeindeschärfe" genügt nicht. In sachlicher Hinsicht muß der Standort einem konkreten Zweck oder einer bestimmten Nutzung zugewiesen werden. 52 Die Rechtswirkungen der Raumordnungsziele im Rahmen des § 35 Abs. 3 S. 2 Hs. 1 BauGB sind daher konkret-flächenbezogen. § 35 Abs. 3 S. 2 Hs. 2 BauGB regelt die unterstützende Wirkung der Raumordnungsziele. Öffentliche Belange stehen demnach raumbedeutsamen Vorhaben nach Abs. 1, d. h. privilegierten Vorhaben, nicht entgegen, soweit die Belange bei der Darstellung dieser Vorhaben als Ziele der Raumordnung in Plänen i.S.d. §§ 8 oder 9 ROG abgewogen worden sind. Diese unterstützende Abschichtungswirkung ist bürgergerichtet und kann für Dritte nachteilig sein. Aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG) müssen die Ziele, von denen die Abschichtungswirkung ausgehen soll, daher sachlich und räumlich hinreichend konkret sein. In räumlicher Hinsicht ist zumindest eine gemeindegebietsscharfe, wenn auch nicht unbedingt parzellenscharfe Ausweisung nötig. In sachlicher Hinsicht genügt es, wenn ein bestimmter Standort für Vorhaben einer bestimmten Nutzungsart vorbehalten wird. 53 Auch die unterstützende Abschichtungswirkung der Raumordnungsziele ist also konkretflächenbezogen. Da die Rücksichtnahme auf schutzwürdige Individualinteressen zu den im Rahmen des § 35 BauGB erheblichen öffentlichen Belangen gehört, und private Belange bei der Aufstellung der Raumordnungsziele berücksichtigt werden müssen, kann die Abschichtungswirkung im übrigen auch private, Belange erfassen, soweit diese bereits für die Raumordnung abwägungserheblich sind. 54 Durch Landesgesetz ist den Raumordnungsplänen und damit auch den darin enthaltenen Raumordnungszielen vielfach die Rechtsnatur der Satzung oder Rechtsverordnung zugewiesen.55 Damit ist aber nur die Frage nach der formellrechtlichen Natur der Raumordnungsziele geklärt. Was ihre die materiellrechtliche Bedeutung angeht, war bislang anerkannt, daß Raumordnungsziele nicht aus sich heraus, sondern nur aufgrund der in Raumordnungs- und Landesplanungsgesetzen sowie in Fachgesetzen enthaltenen Bindungsklauseln rechtliche Wirkungen entfalteten. Für sich genommen seien sie - ebenso wie die Flächennutzungspläne - nur als Unterstützung und Fortschreibung bestimmter tatsäch-
52 Hoppe, Die rechtliche Wirkung von Zielen der Raumordnung und Landesplanung gegenüber Außenbereichsvorhaben, in: DVB1. 1993, S. 1109, 1114 f.
53 54
Spiecker (Fn. 15), S. 317. Spiecker (Fn.15), S. 323 f.
55 Überblick über die landesgesetzlichen Regelungen bei Runkel, in Ernst/Zinkahn/ Bielenberg (Fn. 8), § 1 BauGB, Rn. 91.
Zum Recht auf Akteneinsicht
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licher Gegebenheiten anzusehen.56 Aus den gleichen Gründen wie Flächennutzungspläne entfalten jedoch auch Raumordnungsziele im Anwendungsbereich des § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB Rechtswirkungen, die sich auf konkrete, der Positivausweisung oder der Ausschlußwirkung unterfallende Flächen beziehen.57 Bei näherem Hinsehen sprechen gewichtige Gründe dafür, den Raumordnungszielen auch im Rahmen des § 35 Abs. 3 S. 2 BauGB unmittelbare Rechtswirkungen gegenüber dem Bürger zuzuschreiben. 58 Für die negative Wirkung der Ziele gemäß § 35 Abs. 3 S. 2 Hs. 1 BauGB folgt dies bereits aus dem Wortlaut der gesetzlichen Bestimmung. Hier wird den einschlägigen Zielen der Raumordnung nicht nur die Rechtswirkung eines weiteren öffentlichen Belangs zuerkannt, sondern sie werden zum unmittelbaren Maßstab für einen „Widerspruch" des Außenbereichsvorhabens mit der betreffenden, als Ziel formulierten Raumordnungsplanung. Die negative Wirkung der Raumordnungsziele ist ebenso wie die unterstützende Wirkung durch § 35 Abs. 3 S. 2 BauGB gesetzessystematisch deutlich von den in § 35 Abs. 3 S. 1 BauGB beispielhaft genannten „öffentlichen Belangen" abgegrenzt. Dies spricht dafür, daß die Ziele anders als die öffentlichen Belange nach S. 1 - in beiden Fällen für die Zulassung der Vorhaben nicht nur im Rahmen einer Abwägung erheblich sind, sondern unmittelbare Rechtswirkungen entfalten. Ebenso wie Festlegungen eines Bebauungsplans und Darstellungen eines Flächennutzungsplans im Rahmen des § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB sind die Rechtswirkungen der im Anwendungsbereich des § 35 Abs. 3 S. 2, 3 BauGB erheblichen Raumordnungsziele konkret-grundstücksbezogen. Beteiligungsrechte analog § 13 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 VwVfG und Akteneinsichtsrechte analog § 29 Abs. 1, § 72 Abs. 1 Hs. 2 VwVfG stehen Personen zu, die geltend machen, daß ihnen gegenüber die Ausweisung einer Konzentrationszone durch ein Ziel der Raumordnung gemäß § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB als Inhaltsbestimmung des Grundeigentums wirkt. Das gleiche gilt für Grundeigentümer, die geltend machen, von der negativen Wirkung der Raumordnungsziele nach § 35 Abs. 3 S. 2 Hs. 1 BauGB oder von der unterstützenden Wirkung der Raumordnungsziele nach § 35 Abs. 3 S. 2 Hs. 2 BauGB betroffen zu sein.
I I I . Zusammenfassung Die Verwaltungsverfahrensgesetze räumen Beteiligten, die zur Wahrung ihrer rechtlichen Interessen auf Kenntnis der Akten angewiesen sind, Ansprüche 56
BVerwGE 68, 311, 313 f.; Hohberg, Das Recht der Landesplanung, 1966, S. 99; Brohm (Fn. 36), § 37 Rn. 5 f.; VGH Kassel, NuR 2003, 115, 117. 57 So auch Hoppe (Fn. 44), DVB1. 2003, 1350; Kment (Fn. 44), NVwZ 2003, 1051. 58 Zum folgenden Kment (Fn. 44), NVwZ 2003, 1049 ff.; Hoppe (Fn. 44), DVB1.
2003, 1349 f.; Spiecker (Fn. 15), S. 292 ff., 316; Hendler, Raumordnungsziele und Eigentumsgrundrecht, in: DVB1. 2001, S. 1233, 1235.
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auf Akteneinsicht in Verfahren der Vorbereitung eines öffentlich-rechtlichen Vertrages, eines Verwaltungsakts mit Einschluß der Allgemeinverfügung sowie in verfassungskonformer Auslegung auch im Planfeststellungsverfahren ein (§ 29 Abs. 1 S. 1, § 72 Abs. 1 Hs. 2 VwVfG). Diese Regelungen können im Aufstellungsverfahren für Bebauungspläne, Flächennutzungspläne und Raumordnungspläne um so eher analog angewendet werden, je mehr sich die Rechtswirkungen der Pläne einer konkret-individuellen oder konkretsachbezogenen Regelung annähern. Denn mit zunehmender Nähe der planerischen Festlegungen zur Einzelfallregelung bzw. Allgemeinverfügung steigt die Bedeutung der ausreichenden Sachverhaltsermittlung und der Beteiligung der Betroffenen im Verfahren. Im Bebauungsplan verfahren sind demnach Beteiligungs- und Akteneinsichtsansprüche für diejenigen Personen anzuerkennen, die geltend machen, von konkret-individuellen oder konkret-sachbezogenen Festsetzungen des Plans unmittelbar in ihrem Grundeigentum betroffen zu sein. Im Flächennutzungsplanverfahren und Raumordnungsplanverfahren hängt der Akteneinsichtsanspruch davon ab, ob es möglich erscheint, daß der Antragsteller im Rahmen des § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB von der Positivausweisung oder der Ausschlußwirkung der Darstellung einer Konzentrationszone in ihrem Grundeigentum betroffen ist. Im Raumordnungsplan verfahren steht ferner denjenigen Personen ein Anspruch auf Beteiligung und Akteneinsicht zu, die geltend machen, von der negativen oder der unterstützenden Wirkung der Raumordnungsziele gemäß § 35 Abs. 3 S. 2 BauGB in ihrem Grundeigentum betroffen zu sein.
Dritter Teil: Geschichte, Philosophie
Z u r Staatsphilosophie im aufgeklärten Potsdam Von Detlef Merten
I. Einleitung Im Jahre 1808 äußert sich der Theologe Friedrich Schleiermacher 1 über die Gründung einer neuen preußischen Universität und bemerkt zum Standort: „Aber warum gerade in Berlin? Potsdam freilich kann wohl kaum einem Sachkundigen einfallen, da eine Universität in einer kleinen Stadt mit dem privilegiertesten Militär und dem Hofe dicht zusammen, der alle Kleinigkeiten notwendig erfahren müßte, in der Nähe der Hauptstadt eigentlich der wunderlichste Gedanke ist, den man haben kann. Allein Brandenburg, Havelberg, mittlere Städte ... sollten einem jeden weit eher in den Sinn kommen als Berlin". Auch Fichte 2 betont in seiner Denkschrift als Vorteil kleinerer Universitätsstädte den „allgemeinen wissenschaftlichen Geist und Ton unter den Studierenden". Ungeachtet dessen wird die Friedrich-Wilhelms-Universität dann aber doch in Berlin errichtet 3. Für das Vertrauen ganz Deutschlands in den preußischen Einfluß „auf wahre Aufklärung und höhere Geistesbildung", wie Wilhelm von Humboldt 4 formu-
* Der Beitrag geht teilweise auf Gedanken zurück, die Verf. am 20.1.1994 in einem Vortrag zur Eröffnung der Juristischen Fakultät der Universität Potsdam gehalten hat. 1 Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn, Anhang über eine neu zu errichtende Universität, abgedr. in: Wilhelm Weischedel (Hg.), Idee und Wirklichkeit einer Universität, Dokumente zur Geschichte der Friedrich-WilhelmsUniversität zu Berlin, Gedenkschrift der Freien Universität Berlin zur 150. Wiederkehr des Gründungsjahres, 1960, S. 106 (178); auch in: Ernst Müller (Hg.), Gelegentliche Gedanken über Universitäten, Leipzig 1990, S. 159 (238). 2 Deduzierter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt, in: Fichtes Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Bd. VIII, Berlin 1846, S. 95 (110). 3 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Winfried Speitkamp, Staat und Bildung in Deutschland unter dem Einfluß der französischen Revolution, in: HZ 250 (1990), S. 549 ff.; Ulrich Muhlack, Die Universitäten im Zeichen von Neuhumanismus und Idealismus: Berlin, jetzt in: ders., Staatensystem und Geschichtsschreibung, 2006, S. 223 ff. m. umfangr. Nachw. in Fn. 1. 4 Antrag auf Errichtung der Universität Berlin v. 12.5.1809, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. X, 1903, S. 139 f.
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liert, wäre die Wahl Potsdams vielleicht noch symbolträchtiger gewesen. Erscheint doch Potsdam seit Friedrichs Thronbesteigung dem Europa der Aufklärung als das „gelobte Land" 5 und „le grand Frederic ä Sans-Souci"6 als dessen geistiges Gravitationszentrum.
I I . Architektur als Sinnbild der Staatsauffassung „Un philosophe regne" heißt es in der Ode Voltaires zu Friedrichs Thronbesteigung7. Und dieser Philosoph regiert Zeit seines Lebens am liebsten aus Potsdam8. Hier hat er seinen Mittelpunkt, seinen „Hauptwohnsitz", wie Nicolai 9 schreibt, während er zum Berliner Schloß - insoweit wie in manch anderem seinem Vater ähnlich - Distanz hält, dort nur winters für einige Wochen weilt. Die Bevorzugung Potsdams ist übrigens den drei großen Hohenzollern-Fürsten eigen, und sie, alle schon in jungen Jahren zur Herrschaft gelangt, prägen jeweils auf ihre Weise das Bild der Havelstadt. Der Große Kurfürst, Erbauer des Potsdamer Stadtschlosses10, hält sich nicht zuletzt seiner zweiten Gemahlin Dorothea Sophie zuliebe oft in Potsdam auf 11 . Friedrich Wilhelm I. meidet schon aus Abneigung gegen die prunkhafte Hofhaltung seines Vaters den 5 Brief Voltaires an Friedrich den Großen vom September 1751, abgedr. in: Reinhold Koser/Hans Droysen (Hg.), Briefwechsel Friedrichs des Großen mit Voltaire, 2. Teil, Publikationen aus den K. preußischen Staatsarchiven, Bd. 82, 1909, Nr. 356, S. 356. 6 Brief Voltaires an Friedrich den Großen vom 6.1.1778, abgedr. in: Koser/Droysen, aaO., 3. Teil, Publikationen Bd. 86, 1911, Nr. 652, S. 425. 7 „Au roi de Prusse sur son avenement au trone", abgedr. in: Koser/Droysen (Fn. 5), Nr. 132, S. 2 (3). Bereits in seinem ersten Antwortbrief vom September 1736 hatte Voltaire den Kronprinzen „prince philosophe" genannt; abgedr. in: Koser/Droysen aaO., 1. Teil: Briefwechsel des Kronprinzen Friedrich 1736-1740, Publikationen Bd. 81, 1908, Nr. 2, S. 4. Siehe in diesem Zusammenhang auch Eduard Spranger , Der Philosoph von Sanssouci, 1942. Seit 1749 werden „(Euvres du Philosophe de Sans Souci" gedruckt; hierzu Johann David Erdmann Preuß (Hg.), (Euvres de Frederic le Grand, tome X, Avertissement de l'editeur, tome X, p. IX. Seit 1760 erscheinen Raubdrucke in deutscher Sprache unter dem Titel „Poetische" oder „Vermischte" „Werke des Weltweisen zu Sans-Souci"; siehe Gerhard Knoll , Probleme eines Verzeichnisses der bis ca. 1800 erschienenen Drucke von Werken Friedrichs II., in: Martin Fontius (Hg.), Friedrich II. und die europäische Aufklärung. Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, N.F., Beiheft 4, 1999, S. 87 (96 f.) 8
Zu seinem Aufenthalt vgl. Eduard Vehse, Illustrierte Geschichte des preußischen Hofes, Bd. I, 1901, S. 357, 373 ff. 9 Friedrich Nicolai , Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, Berlin 1786, ND 1980, S. 1118. 10 S. Hans-Joachim Giersberg , Das Potsdamer Stadtschloß, 1998, S. 15 ff.; Friedrich Mielke , Potsdamer Baukunst, 2. Aufl. 1991, S. 12 ff. 11 Vgl. Nicolai (Fn. 9), S. 1113. Auch seiner ersten Gemahlin, Luise Henriette , hatte Friedrich Wilhelm das vernachlässigte Berliner Schloß nicht zumuten wollen. Vgl. Wolf gang Neugebauer , Residenz - Verwaltung - Repräsentation. Das Berliner Schloß und seine historischen Funktionen vom 15. bis 20. Jahrhundert, 1999, S. 28 m.w.N.
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Schlüter-Bau in Berlin und faßt eine besondere Zuneigung zu Potsdam12, weshalb er später in seinem Testament den Wunsch äußert, die Residenz nach ihm zu benennen13, was sein Sohn ablehnt. Unter ihm wird Potsdam dann „fritzisch" 14 und zur fürstlichen Zentralsphäre, auch wenn das Schloß an der Spree politisch-administrativer Mittelpunkt bleibt 15 . In der unnachahmlichen Komposition von Grazie und Gefälligkeit, von Geist und Geschmack wird Sanssouci Kleinod preußischen Rokokos 16 und Denkmal friderizianischer Baukunst, die sich weder luxuriös darbietet noch prunkvoll renommiert 17 , sondern in einem „preußischen Stil" höchste Wirkung durch sparsamste Mittel erzielt 18 . Im Unterschied zu Versailles, Schönbrunn oder dem Escorial ist es nicht architektonisches Sinnbild 19 von Staatsabsolutismus und Herrschermajestät, trägt es anders als später das prachtentfaltende Neue Palais 20 keine Züge imperialer Staatsrepräsentation, weshalb es auch in Sanssouci an einem Thron fehlt, der im Audienzzimmer des Potsdamer Stadtschlosses steht21. In der Residenz vor den Toren Potsdams drückt sich nicht Disziplinierung, sondern Distanzierung aus. Sie soll fernab von Staatsgeschäften das sorgenfreie Refugium für einen Edelmann sein, der, wie er sagt, nichts als ein Philosoph geworden wäre, wenn er nicht Fürst sein müßte 22 , wobei „Philosoph" nach damaligem Sprachgebrauch nicht einen strengen Systematiker,
12
Vgl. Nicolai (Fn. 9), S. 1114 f.
13
Vgl. Instruktion König Friedrich Wilhelms I. für seinen Nachfolger vom 17.2.1722, abgedruckt in: Richard Dietrich (Bearb.), Die politischen Testamente der Hohenzollern, 1986, S. 221 (242 f.). 14
So Arthur Moeller van den Bruck, Der Preußische Stil [1914], 1953, S. 92.
15
Vgl. Neugebauer (Fn. 11), S. 9 f.; dens., Staatsverwaltung, Manufaktur und Garnison. Die polyfunktionale Residenzlandschaft von Berlin - Potsdam - Wusterhausen zur Zeit Friedrich Wilhelms I., in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, N.F. 7 (1997), S. 233 (245 ff.). 16 17
Zu ihm auch Moeller van den Bruck (Fn. 14), S. 103 f. Willy Kurth, Sanssouci, 1962, S. 20; s. auch Johannes Kunisch, Funktion und Aus-
bau der kurfürstlich-königlichen Residenzen in Brandenburg-Preußen im Zeitalter des Absolutismus, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte N.F. 3 (1993), S. 167 (184 f.). 18 Oswald Hauser, Das geistige Preußen, in: Jahrbuch preußischer Kulturbesitz 1972, 1973, S. 76 (78). 19 Vgl. Reinhold Knoll, Zur Semantik der Barockarchitektur, in: Michael Benedikt u.a. (Hg.), Verdrängter Humanismus - verzögerte Aufklärung, 1992, S. 328 ff. 20 Vgl. hierzu Horst Drescher/Sibylle Badstübner-Gröger, Das Neue Palais in Potsdam. Beiträge zum Spätstil der friderizianischen Architektur und Bauplastik, 1991; hierzu auch die Rezension von Helmut Börsch-Supan, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, N.F. 4 (1994), S. 133 ff. 21 22
S. Giersberg (Fn. 9), S. 227.
„Mais si je n'etais pas prince, je ne serais que philosophe". Brief vom 24.4.1741 an Jordan, in: Preuß (Fn. 7), tome XVII, 1851, S. 89 Nr. 38.
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sondern einen Schöngeist oder Vertreter der Vernunft meint. Sanssouci knüpft, wie die Übernahme der Kolonnaden verdeutlicht („comme ä Rheinsberg" 23), an die galante Heiterkeit Rheinsbergs und dessen „jours tranquilles" 24 an. Die von Friedrich skizzierte Planung macht ihn zum eigentlichen Schöpfer der Architektur 25 , mit der er sich zugleich bewußt in Gegensatz zum Hochabsolutismus setzt. Die Kolonnadenarchitektur wird dann für das Potsdamer Stadtschloß26 und Jahrzehnte später in die städtebauliche Architektur Berlins durch die Spittelkolonnaden, die Königskolonnaden und die Kolonnaden der Mohrenstraße übernommen 27. Für das Ancien regime muß das königliche Schloß Versailles Staatsmittelpunkt sein. Denn die absolutistische Gleichsetzung des „L'etat c'est moi" bedeutet zugleich, daß der Monarch des Staates ist. Er kann sich dessen ebensowenig entledigen wie seines Schattens. Seine Person ist höfischer Mittelpunkt von der Wiege bis zur Bahre, vom Lever bis zum Souper, und selbst seine Mätressen werden vom Hofe registriert und, soweit offiziell, auch als solche tituliert. Demgegenüber hat Friedrich schon als Kronprinz mit dem Monismus absolutistischer Staatsauffassung gebrochen und den für den aufgeklärten Absolutismus charakteristischen Dualismus von Staat und Herrscher begründet, der den Monarchen vom Sockel der Staatsinkarnation stürzt und ihn nur als Staatsinstitution bestehen läßt. Der Körper des Königs tritt hinter den Staatskörper zurück 28 , so daß der Monarch als bloßes Organ des Staates oder dessen „Oberhaupt", wie das Allgemeine Landrecht 29 später zurückhaltend formuliert, agiert.
23
So der zweimalige Hinweis Friedrichs in der eigenhändigen Entwurfsskizze zum Grundriß des Schlosses Sanssouci, abgedr. in: Staatliche Archivverwaltung der DDR, Staatliche Schlösser und Gärten Potsdam-Sanssouci (Hg.), Potsdamer Schlösser in Geschichte und Kunst, Leipzig 1984, S. 38; s. auch Kurth (Fn. 17), S. 39 f.; ferner die Bleistiftzeichnungen Adolph von Menzels, Blick durch die Kolonnade des Schlosses Sanssouci sowie Blick auf die Kolonnade des Schlosses Sanssouci von Nordwesten, Berlin, National-Galerie. 24 Brief an Voltaire vom 12.4.1742, in: Koser/Droysen (Fn. 5), Nr. 203, S. 122 (124). 25 „Ton dieu, ton createur", so Wilhelmine in einem Poem über Sanssouci, Schreiben an Friedrich vom 1.9.1750, abgedr. in: Preuß, (Euvres (Fn. 22), tome X X V I I , 1, 1856,
Nr. 223, S. 196. Zu Friedrichs 26
Entwurfstätigkeit auch Mielke (Fn. 10), S. 41 f.
Friedrich Mielke, Die Kolonnaden des Potsdamer Stadtschlosses, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 44 (1993), S. 53 ff. 27 Hierzu Edwin Redslob, Die städtebauliche Entwicklung Berlins, in: Das Hauptstadtproblem in der Geschichte, Festgabe zum 90. Geburtstag Friedrich Meineckes, 1952, S. 213 (215). 28 Vgl. in diesem Zusammenhang Ernst Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, 1990. 29 Vgl. § 80 Einl., § 2 I I 10, §§ 2 ff. I I 13, § 18 I I 17 und § 156 I I 20 ALR; hierzu auch Hans Hattenhauer, Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, 2. Aufl. 1994, Einführung S.22.
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Die Architektur des Schlosses über den Weinbergen verdeutlicht zugleich die Staatsauffassung Friedrichs, der den Staat nicht personifiziert, sondern nur repräsentiert, deshalb antihöfische 30 Zurückgezogenheit für sich reklamiert und ein Arkadien beansprucht, das nicht einschüchtert, sondern als Musenhof Gleichgesinnte einlädt. Sanssouci ist Privatbau, nicht Staatsbau, und deshalb kein „Versailles des Nordens" 31 , sondern Sommerresidenz für den „Philosophen von Sanssouci"32 und dessen Freundeskreis, „disputant de vers et d'amour" 33 . Die Tafelrunde im Marmorsaal ist ein früher „Runder Tisch", an dem Friedrich mit Gelehrten und Künstlern, darunter zeitweilig Voltaire, auch Fragen der Staatstheorie und Staatsphilosophie diskutiert.
I I I . Der Monarch als Staatsorgan Die Leugnung der Identität von Staat und Souverän durchzieht die staatstheoretischen Schriften Friedrichs wie ein roter Faden und kulminiert in der von ihm häufig gebrauchten, später von anderen noch häufiger zitierten Wendung vom „premier serviteur" 34 , der im „L'Antimachiavel" noch „le premier domestique" 35 ist. Poetischer heißt es in einer Ode an Voltaire 36 wenige Wochen nach der Thronbesteigung: „Desormais ce peuple que j'aime est l'unique dieu que je sers" 37. Nichts wäre jedoch verfehlter, als in diese Verse demokratisches Priestertum hineinzulesen. Aber auch wenn man sie ihrer poetischen Hülle 30 Vgl. auch sein Testament Politique von 1752, Du Ceremonial, abgedr. in: Dietrich (Fn. 13), S. 254 (330). Zur antihöfischen Haltung Friedrichs auch Theodor Schieder, Friedrich der Große. Ein Königtum der Widersprüche, 1983, S. 57. 31 Schon als Kronprinz kritisiert Friedrich in einem Brief an Voltaire, daß der Berliner Hof unter Friedrich I. „zum Affen des Versailler" geworden sei; Schreiben v. 6.7.1737, abgedr. in: Preuß (Fn. 7), tome XXI, 1853, Nr. 24, p. 73 (77 oben). 32 S. die Selbsttitulierung Friedrichs in einem Schreiben an seinen Bruder August Wilhelm vom 24.7.1747, in Faksimile abgedr. in: Potsdamer Schlösser (Fn. 23), S. 52; weitere Nachw. bei Preuß (Fn. 7), tome X, Avertissement de l'editeur, p. IX (XIII f.). 33 So die französischen Verse der Supraporte des Empfangszimmers, abgebildet in: Potsdamer Schlösser (Fn. 23), S. 49. 34 Memoires pour servir ä l'histoire de la maison de Brandebourg, in: Preuß (Fn. 7), tome 1, 1846, p. 142; Essai sur les formes de gouvernement et sur les devoirs de souverains, in: Preuß, tome IX, p. 225; Testament politique von 1752, in: Dietrich (Fn. 13), S. 328 oben. Auch nach Edmund Burke (Betrachtungen über die Französische Revolution, übersetzt von Friedrich Gentz, hg. von Ulrich Frank-Planitz, 1987, Erster Teil, S. 78) sind Könige in einem gewissen Sinne unstreitig Diener des Volkes, weil ihnen ihre Macht vernünftigerweise zu keinem anderen Endzweck beigelegt sein kann. 35 Chap. I, in: Preuß (Fn. 7), tome VIII, 1848, p. 66 oben. 36 Vom 12.6.1740, abgedr. in: Koser/Droysen (Fn. 5), Nr. 133, S. 3. 37 Eine Schaumünze auf die Huldigung der ostpreußischen Stände in Königsberg am 20.7.1740 trägt auf der Kehrseite, die eine weibliche allegorische Figur zeigt, die Inschrift: „FELICITAS POPULI"; Nachweis und Abbildung in: Arnold Hildebrand (Hg.), Das Bildnis Friedrich des Großen, 2. Aufl. 1942, S. 117 und Tafel 37.
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entkleidet, klingt hier in letzter Konsequenz der Grundsatz der Volkssouveränität an 38 - ein Gedanke, den Friedrich nicht zu Ende denkt und dessen Konsequenzen er von sich gewiesen hätte. Noch über hundert Jahre später bezeichnet sein Nachfahre, Friedrich Wilhelm IV., die Krone aus der Hand der Frankfurter Nationalversammlung 39 als „eine Wurstprezel von Meister Bäcker und Metzger, aber nicht von Gottes Gnaden" 40 . Über dieses Gottesgnadentum jedoch äußert sich Friedrich, der als Aufklärer seine Legitimation aus dem Gesellschaftsvertrag ableitet, schon als Kronprinz nur spöttisch-distanziert 41, auch wenn er die Könige als „les symboles mortels de la majeste du Dieu" ansieht „mais voila tout" 42 . Hatte knapp zwanzig Jahre vorher der französische König Ludwig XV. eine Krönungsreise von fast einmonatiger Dauer unternommen und dabei in messianischem Gestus Kranken die Hand aufgelegt und das Kreuzzeichen gemacht43, so lehnt Friedrich eine Krönung ebenso wie schon sein Vater ab 44 , während sein Großvater, Kurfürst Friedrich III., noch darauf bestanden hatte, als König gesalbt zu werden 45. Weil die Salbung dem Herrscher „den Stempel des Gottesgnadentums auf die Stirn" 46 drückt, sieht Friedrich in der „heiligen Salbflasche"
38
Vgl. Alexis de Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution, 1978, S. 223. Vgl. die Ansprache des Präsidenten der Frankfurter Nationalversammlung Eduard Simson beim Empfang der Kaiserdeputation durch den König von Preußen vom 3.4.1849, abgedr. in: Ernst Rudolf Huber (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, 3. Aufl. 1978, Nr. 113, S. 404 f. 40 Schreiben vom 7.3.1849 an Großherzog Ludwig III. von Hessen-Darmstadt, abgedr. in: Karl Haenchen (Hg.), Revolutionsbriefe 1848, Ungedrucktes aus dem Nachlaß König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen, 1930, S. 375; diplomatischer seine Erwiderung an die Deputation der deutschen Nationalversammlung vom 3.4.1849, abgedr. in: E.R. Huber aaO., Nr. 114, S. 405 f. 41 Vgl. seinen Brief an Suhm vom 26.11.1737 (abgedr. in Preuß [Fn. 7], tome XVI, p. 344 (345): „II est vrai que les rois sont les symboles mortels de la majeste de Dieu, mais voilä tout"; entkleide man sie ihres äußeren Glanzes, so seien sie in der Mehrzahl nur „pauvres hommes sans vertu et peu dignes d'inspirer de Γ admiration". 42 Schreiben vom 26.1.1737 aus Rheinsberg an Diaphone (i.e. v. Suhm), abgedr. in: Preuß (Fn. 7), tome XVI, 1850, Nr. 62, S. 344 (345). 43 Hierzu Michael Stürmer, Im Zeichen der Sonne. Die Krönung Ludwigs XV. von Frankreich im Jahre 1722, in: Uwe Schultz (Hg.), Das Fest, 1988, S. 222 ff. (230 f.). Zu wachsender Skepsis gegenüber wundertätiger Königsheilung Marc Bloch, Die wundertätigen Könige, 1998, S. 405 ff. 44 Vgl. Reinhold Koser, Geschichte Friedrichs des Großen, Bd. I, 6/7. Aufl. 1921, S. 220. 45 Vgl. in diesem Zusammenhang Johannes Kunisch (Hg.), Dreihundert Jahre Preußische Königskrönung. Eine Tagungsdokumentation. Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, N.F. Beiheft 6, 2002. 46 Eduard Eichmann, Königs- und Bischofsweihe, Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-philologische und historische Klasse, Jg. 1928, 6. Abhandlung, 1928, S. 66. 39
Zur Staatsphilosophie im aufgeklärten Potsdam
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und den sonstigen Zeremonien unnütze Erfindungen des Aberglaubens 47. Er will kein princeps christianus sein, kein Stellvertreter oder gar „Amtmann Gottes" wie sein Vater, weshalb er auch das Niederknieen bei der Überreichung von Petitionen untersagt 48: „denn das können sie wohl vor Gott thun, und wenn sie was abzugeben haben, so können sie das so thun, ohne dabei niederzufallen". Hohe Geburt ohne persönliches Verdienst ist für Friedrich bloße Chimäre 49 , weshalb er den jungen Herzog Karl Eugen von Württemberg im „Fürstenspiegel" überdeutlich ermahnt: „Denken Sie nur nicht, das Land Württemberg sei für Sie geschaffen worden" 50 . Aus demselben Grund meidet er den Fürstenkult und läßt wohl als erster europäischer Herrscher Denkmäler zu Ehren verdienter Untertanen errichten 51. Deshalb ist auch seine letztwillige Verfügung, „ohne Trauergepränge und Leichenpomp" als Philosoph begraben zu werden 52, keine persönliche Laune, sondern programmatische Geste. Wenn er, wie er in seinem persönlichen Testament von 1752 schreibt, sein Leben der Natur zurückgeben will 5 3 , so nimmt er jenes „retour ä la nature" der Aufklärung vorweg. Der zu seiner Zeit revolutionäre und daher nicht erfüllte Wunsch der Beisetzung in einer Gruft auf der Terrasse von Sanssouci54 verdeutlicht im Unterschied zu seinen Vorfahren eine Distanz des Souveräns zum Staate, ein Streben nach Privatheit wenigstens im Tode, so daß der Begräbnisort Rückschlüsse auf die Staatsphilosophie gestattet. Die staatliche Distanziertheit bei der Überführung der Särge der Preußenkönige im August 1991 kann sich zwar vordergründig auf Friedrichs Testament beru-
47 S. seinen Brief an Voltaire vom 27.6.1740, abgedr. in: Koser/Droysen (Fn. 5), Nr. 136, S. 8(10). 48 Vgl. Kabinettsordre vom 30.8.1783, abgedr. in: Norbert Hinske (Hg.), Was ist Aufklärung?, Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift, 3. Aufl. 1981, S. 388. 49 „... la naissance n'est qu'une chimere". Instruction au major Borcke, in: Preuß (Fn. 7), tome IX, 1848, p. 37 (39). 50 Miroir des princes, ou Instruction du roi pour le jeune due Charles-Eugene de Württemberg v. 6.2.1744, in: Preuß (Fn. 7), tome IX, 1848, р. 3 (6); ähnlich auch in: Considerations sur Γ etat present du corps politique de l'Europe, in: Preuß (Fn. 7), tome VIII, 1848, p. 1 (25). 51 Thomas von der Dunk, Vom Fürstenkultbild zum Untertanendenkmal. Öffentliche Monumente in Brandenburg-Preußen im 17. und 18. Jahrhundert, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, N.F. 7 (1997), S. 177 (201 ff.); auch Sibylle Badstübner-Gröger, Aufgeklärter Absolutismus in den Bildprogrammen friderizianischer Architektur?, in: Fontius (Fn. 7), S. 29 ff. 52 So sein persönliches Testament vom 11.4.1752, hg. von Friedrich v. OppelnBronikowski, Das Testament des Königs, 1925, S. 16; hierzu auch Johannes Kunisch, Friedrich der Große. Der Könug und seine Zeit, 2004, S. 280. 53 A.a.O. 54 Hierzu Hans-Joachim Giersberg, Die Ruhestätte Friedrichs des Großen zu Sanssouci, 1991, passim, insbes. S. 37 ff.
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fen, macht aber einem Gemeinwesen keine Ehre 55 , das in kleinmütiger Verlegenheit seine borussische Geschichte nicht annehmen will und in der geistigen und geopolitischen Beengtheit der „Bonner Republik" verharrt. Nach Theodor Schieder 56 ist Friedrichs Absolutismus deshalb aufgeklärt, weil er den Staat nicht seinen persönlichen Zwecken dienstbar macht, sondern sich selbst in den Dienst der res publica stellt, versinnbildlicht auch durch den von ihm als König fast ausschließlich getragenen Uniformrock als militärisches, nicht bürgerliches Signum. Und wie er nur Diener des Staates, wenn auch in des Wortes eigentlicher Bedeutung dessen premier ministre 57 ist, so sind seine Beamten ebenfalls Staatsdiener, wie sie das Allgemeine Landrecht später auch titulieren wird 58 , und nicht Fürstendiener. In Konsequenz dieses dualistischen Prinzips trennt Friedrich in seinen Testamenten sorgfältig zwischen Staatseigentum und Staatseinkünften einerseits, die er als „Bundeslade"59 und als „Blut des Volkes" („Le Sang et La sueur du peuple" 60 ) bezeichnet, und seinem Privateigentum, dem Allodialvermögen, andererseits. So kann er auch in seinem privaten Testament von 1752 schreiben, die öffentlichen Einkünfte seien von ihm nie für eigene Bedürfnisse benutzt worden 61. In der Tat wurde der kostspielige Bau in Sanssouci aus einer ostfriesischen Erbschaft finanziert 62 .
IV. Die Lehre vom Staatsvertrag Die Lehre vom Staats- oder Gesellschaftsvertrag, wie sie von der modernen Staatsphilosophie seiner Zeit vertreten wird, ist staatstheoretisches Leitmotiv Friedrichs, das sich von seiner ersten Publikation im Jahre 1738, den „Betrachtungen über den gegenwärtigen politischen Zustand Europas" 63, bis hin zu seinen späten Schriften findet 64 . Der friedlose Naturzustand, das Schutzbedürfnis sowie der Wunsch nach Aufrechterhaltung der Gesetze habe, so der Autor, die
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Kritisch auch Helmut Quaritsch, DÖV 1993, S. 1070 (1073 f. sub III.). (Fn. 30), S. 123. 57 In seinem Testament Politique, Introduction (Dietrich [Fn. 13], S. 254) spricht Friedrich von der „premiere Magistrature". 58 Vgl. die Überschrift des Zehnten Titels des Zweiten Teils: „Von den Rechten und Pflichten der Diener des Staats". 59 So in seinem persönlichen Testament von 1752 (Fn. 52), S. 17. 60 Testament Politique von 1752, abgedr. in: Dietrich (Fn. 13), S. 254 (322). 61 (Fn. 52), S. 17. 62 Vgl. Giersberg (Fn. 54), S. 18. 63 Considerations (Fn. 50), p. 25 f. 64 Lettres sur I'amour de la patrie, VI, in: Preuß (Fn. 7), tome IX, p. 211 (227 f.); Essai sur les formes de gouvernement et sur les devoirs des souverains, in: Preuß ebenda, p. 193 (196 ff.). 56
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Menschen bewogen, sich Obere zu geben. Dies sei der wahre Ursprung der Herrschergewalt und deren Inhaber der erste Diener des Staats65; die Völker hätten den Gerechtesten gewählt, um sie zu regieren und den Staat zu repräsentieren, nicht aber, um Tyrannei auszuüben66. Deshalb ermahnt er die Fürsten im Antimachiavel, ihre Untertanen nicht wie Sklaven, sondern wie ihresgleichen und in gewisser Hinsicht wie ihre Herren zu behandeln67. Diese in ihrer Radikalität beinahe revolutionäre These mildert Voltaire für den Druck dann ab. Nicht aus Willkür oder Despotismus, sondern entsprechend der Lehre vom Staatsvertrag zum Wohle des Staatsvolkes verficht Friedrich den Grundsatz der Alleinregierung - auch hierin seinem Vater ähnlich. Das politische Vermächtnis des Soldatenkönigs hatte gelautet: „Ein Regente, der mit honneur in die weldt Regiren will, muß seine affehren alles selber tuhn" 68 . Sein sonst so gegensätzlicher Sohn formuliert im Politischen Testament von 175269: „In einem Staat wie diesem ist es nötig, daß der Fürst seine Geschäfte selber führt". In der Tat hat dieser Flickenteppich von einem Staat mit seinen, wie der 19jährige Kronprinz in seinem berühmt-berüchtigten Natzmer-Brief 70 schreibt, zerstükkelten Ländern später als seine großen Nachbarn zur Staatlichkeit gefunden eigentlich erst durch seine Kriege, die den geopolitisch stets bedrohten Staat militärisch bis an den Rand seiner Existenz bringen. Friedrich muß noch an seine Offiziere appellieren, sich ungeachtet ihrer jeweiligen Stammeszugehörigkeit als Preußen zu fühlen 71 . Die Zersplitterung des Staatsgebiets geht mit einer Zersplitterung der Staatsgewalt einher. Brandenburg-Preußen ist nicht nur ein verspäteter Staat, sondern auch ein Staat mit verspätetem Absolutismus, was ideologische Pauschalkategorien von „Feudalismus" und „junkerlichen Klasseninteressen" verkennen. Noch der Soldatenkönig, dessen Regierungsantritt zeitlich fast mit dem Tode Ludwigs XIV. zusammenfällt, muß erbittert gegen Ständeprivilegien und Partikulargewalten kämpfen, damit, wie er formuliert, der Adel keinen anderen
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Essai (Fn. 64), p. 196 f. Considerations (Fn. 50), p. 25 f. 67 Refutation du Prince de Machiavel, chap. XXVI, in: Preuß (Fn. 7), tome VIII, 1848, p. 163 (298 unten); zurückhaltender noch in L'Antimachiavel, chap. X X V I , in: Preuß ebenda, p. 162. 68 Instruktion v. 17.2.1722, p. 3/8 f. (Dietrich [Fn. 13], S. 224). 69 Dietrich (Fn. 13), S. 324 f. 70 Schreiben vom Februar 1731, abgedr. in: Preuß (Fn. 7), tome XVI, 1850, p. 3; hierzu auch Schieder (Fn. 30), S. 132 ff. Im französischen Original heißt es: „... que ses pays n'ont plus une assez grande suite", was die deutsche Übersetzung ungenau mit den Worten wiedergibt: da sein Land „... ohne inneren Zusammenhang ist" (Gustav Berthold Volz [Hg.], Die Werke Friedrichs des Großen, Bd. VII, 1912, S. 197). 71 Vgl. sein Testament Politique von 1752, abgedr. in: Dietrich (Fn. 13), S. 310. 66
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Herrn kennt „als Gott und den König in Preußen" 72. Nicht zuletzt deshalb verteidigt Friedrich der Große die Alleinherrschaft insbesondere in seinen frühen staatstheoretischen Schriften.
V. Aufklärung und Strafrechtsreform Friedrich bekennt sich früh zu den Idealen der Aufklärung, die die patrimoniale Staatsbeglückung des Absolutismus, der Untertanen wie unmündige Kinder behandelt, als despotisch überwinden und durch individuelle Vernunft ersetzen will. Schon im Antimachiavel heißt es, alle Menschen vom zivilisiertesten bis zum barbarischsten seien gleichermaßen vom Gefühl der Freiheit durchdrungen. Der Kronprinz fährt dann fort: „Denn da wir ohne Ketten geboren werden, beanspruchen wir, ohne Zwang zu leben" 73 . Rousseau wird diese Metapher dann über zwanzig Jahre später in seinen „Contrat social" übernehmen. Die Befreiung von Ketten muß zuallererst bei dem noch mittelalterlichen Strafrecht, dem im wörtlichen Sinne peinlichen Recht ansetzen. Friedrich tritt in seiner Abhandlung über die Gesetze dafür ein, leichte Vergehen gelind zu ahnden, und kritisiert die harten Strafen für Abtreibungen. Er fordert in Übereinstimmung mit Montesquieu74 „une proportion" zwischen Strafe und Verbrechen75, womit er schon früh den heutigen Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit anspricht. Anläßlich der Freilassung eines Klempners schreibt er an Fredersdorf: „Zwei Blechplatten seindt nicht wehrt, einen Menschen nacher Spandau zu Schaffen" 76. Und Voltaire kann er gegen Ende seiner Regierungszeit mitteilen, daß in seinem Staate jährlich nur in 14 bis höchstens 15 Fällen die Todesstrafe vollstreckt werde. Den rechtsstaatlichen Grundsatz „in dubio pro reo" nimmt Friedrich mit den Worten vorweg, es sei besser, zwanzig Schuldige freizusprechen als einen Unschuldigen aufzuopfern. Gleichsam wie in einem Regierungsprogramm der Aufklärung untersagt Friedrich drei Tage nach Regierungsantritt weitgehend die Anwendung der
72 Politisches Testament („Instruktion") Friedrich Wilhelms /. v. 17.2.1722, p. 5/19 (Dietrich [Fn. 13], S. 229). 73 L'Antimachiavel, chap. IX, in: Preuß (Fn. 7), tome VIII, p. 59 (90, 1. Absatz). 74 De l'esprit des lois, livre VI, chap. 16: „De la juste proportion des peines avec le crime"; s. auch Detlef Merten, Friedrich der Große und Montesquieu, in: Blümel/ Merten/Quaritsch (Hg.), Verwaltung im Rechtsstaat, Festschrift für C.H. Ule, 1987, S. 187 (197). 75 Vgl. Kurt Mehring, Inwieweit ist praktischer Einfluß Montesquieus und Voltaires auf die strafrechtliche Tätigkeit Friedrichs des Großen anzunehmen bzw. nachzuweisen?, Breslau 1927, S. 7, 40 m.w.N. 76 Brief v. 15.10.1745, abgedr. in: Die Briefe Friedrichs des Großen an seinen vormaligen Kammerdiener Fredersdorf, hg. von Johannes Richter, 1926, Nr. 7, S. 60.
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Folter und schafft grausame Strafsanktionen, wie z.B. das Säcken, ab. Insbesondere die Ächtung der Tortur wird in Europa als Fanal aufgenommen. Fabian von Schlabrendorff 77 erklärt zweihundert Jahre später im März 1945 vor dem Volksgerichtshof, Friedrich der Große habe die Folter abgeschafft, gegen ihn sei sie aber angewandt worden, und wird freigesprochen.
VI. Gleichheit vor dem Gesetz Aus dem gleichen Naturzustand der Menschen folgt für Friedrich als einem typischen Vertreter der Aufklärung die Gleichheit aller Menschen78. So bezeichnet der Philosoph von Sanssouci seine Untertanen auch als Mitbürger, als „concitoyens" 79 oder als „compatriotes" 80. Er selbst will sich mehr als Bürger denn als Fürst zeigen („moins roi que citoyen" 81 ), gleichsam roi citoyen 82 sein. Der „Citoyen" ist also keine Errungenschaft der französischen Revolution; vielmehr sind Begriff und Bedeutung bekannt, bevor sie Jakobinerfloskel werden. Auch das Allgemeine Landrecht von 1794 variiert später unbefangen zwischen Einwohnern, Mitgliedern, Bürgern und Untertanen des Staates. Für Svarez sind die Begriffe Staatsbürger und Untertan identisch83, wie die Kronprinzenvorträge zeigen, die er dem nachmaligen König Friedrich Wilhelm III. hält.
77 Offiziere gegen Hitler, hg. von Gero von S. Gaevernitz, 1959, S. 170. Gerade im militärischen Widerstand gegen Hitler spiegelt sich der wahre „Geist von Potsdam"; vgl. Kurt Finker, Das Potsdamer Infanterieregiment 9 und der konservative militärische Widerstand, in: Bernhard Kroener (Hg.), Potsdam: Staat, Armee, Residenz in der preußisch-deutschen Militärgeschichte, 1993, S. 451 ff. 78 S. Instruction au major Borcke (Fn. 49), aaO. 79 Refutation du Prince de Machiavel, chap. IX, in: Preuß (Fn. 7), tome VIII, 1848, p. 163 (202); Testament Politique von 1752, Introduction, Satz 2, in: Dietrich (Fn. 13), S. 254. 80 Lettres, V I I I (Fn. 64), p. 242 oben. 81 So in der epitre au marquis d'Argens, Strehlen am 8.11.1761, in: Preuß (Fn. 7), tome XII, 1849, p. 168 (170). Siehe auch seine epitre ä mon esprit ν. 8.8.1749 (Preuß [Fn. 7], tome X, 1849, p. 213 [221]): „Que je sus distinguer l'homme du souverain; Que je fus roi severe et citoyen humain". 82 Hierzu auch Spranger (Fn. 7), S. 20, 43. 83 S. Carl Gottlieb Svarez, Die Kronprinzenvorlesungen 1791/1792, Erster Teil: Staatsrecht, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von Peter Krause, Bd. IV/1, 2000, S. 234 ff. (Das Recht der Finanzen), wo Svarez unterschiedslos die Begriffe „Bürger" und „Unterthan" gebraucht (z.B. S. 235, RN 163, 164). Auch Ernst Ferdinand Klein (Grundsätze der natürlichen Rechtswissenschaft nebst einer Geschichte derselben, Halle 1797, § 493, S. 253) verwendet „Mitbürger" und „Unterthan" synonym. Erst Freiherr vom Stein will dann die Untertanen zur Nation werden lassen; vgl. Fritz Härtung, Studien zur Geschichte der preußischen Verwaltung, Dritter Teil: Zur Geschichte des Beamtentums im 19. u. 20. Jahrhundert. Abhandlungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Jg. 1945/46, 1948, S. 6 f.
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Für Friedrich ist die Gleichheit nicht nur staatstheoretisches Bekenntnis, sondern geübte Praxis. Er sorgt sich um Einzelschicksale ohne Rücksicht auf Standesgrenzen, wie Zeitgenossen berichten: „Wer auch von seinen Untertanen ihn sprechen oder an ihn schreiben will, er findet den König stets bereit, ihm Gehör zu geben oder ihm zu antworten. Der Bauer, der Soldat, der Handwerker werden ebensogut empfangen wie der Mann von Stand. ... Eine Privataudienz unter vier Augen mit dem König ist keine Gnade, sondern allgemeines Recht, das jeder täglich in Anspruch nimmt, ohne darum einkommen zu müssen"84. Spektakuläre Betonung findet diese Gleichheits-Maxime in dem bekannten Fall des Müllers Arnold. In dem Protokoll 85 des königlichen Verhörs der beteiligten Kammergerichtsräte heißt es: „Denn sie müssen nur wissen, daß der geringste Bauer, ja was noch mehr ist, der Bettler eben sowohl ein Mensch ist, wie seine Majestät sind. ... Indem vor der Justiz alle Leute gleich sind, es mag sein ein Prinz, der wider einen Bauern klagt, oder auch umgekehrt, so ist der Prinz vor der Justiz dem Bauer gleich; und bei solchen Gelegenheiten muß pur nach der Gerechtigkeit verfahren werden, ohne Ansehen der Person". In das Allgemeine Landrecht geht dieser Grundsatz dann mit den Worten ein: „Die Gesetze des Staats verbinden alle Mitglieder desselben, ohne Unterschied des Standes, Ranges und Geschlechts" (§ 22 Einl.). Gleichheit vor der Justiz sieht auch die 1793 revidierte „Allgemeine Gerichtsordnung" vor. Sie bestimmt, „... daß auch Vornehme gegen Niedrige und Geringe, Dienstherrschaften gegen ihr Gesinde, Obrigkeiten gegen ihre Unterthanen, und Eltern gegen ihre Kinder, wenn sie von denselben verklagt werden, sich bey den dazu verordneten Gerichten einzulassen, und daselbst Recht zu nehmen schuldig sind" 86 . Hier wird das für den Rechtsstaat essentielle Prinzip formaler Gleichheit betont: die generell-abstrakte Norm erfaßt alle, auf die der Tatbestand zutrifft und ist ihnen gegenüber „ohne Ansehen der Person" gleichermaßen und gleichmäßig durchzusetzen. Zwar wird damit noch keine materiale oder soziale Gleichheit postuliert. Aber selbst der allgemeine Gleichheitssatz des Grundgesetzes, insoweit wörtlich mit der Weimarer Reichsverfassung übereinstimmend, garantiert lediglich, daß alle Menschen vor dem Gesetz, nicht, daß sie auch im Gesetz gleich sind. Deshalb wurde noch in der Weimarer Republik Gleichheit als bloße Rechtsanwendungsgleichheit, nicht als Rechtssetzungsgleichheit verstanden. Erst seither hat sich das heute anerkannte Gebot materialer Gleichheit
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Herzog von Nivemais, Porträt des Königs von Preußen, abgedr. in: Gustav Berthold Volz (Hg.), Friedrich der Große im Spiegel seiner Zeit, Bd. I: Jugend und Schlesische Kriege bis 1756, 1927, S. 278 (282). 85 V. 11.12.1779, Acta Borussica, Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert, Bd. XVI, 2. Teil, bearb. von Peter Baumgart und Gerd Heinrich, 1982, Nr. 450, S. 576 f.; auch in: Berlinsche Nachrichten. Von Staats- und gelehrten Sachen, Nr. 149 v. 14.12.1779, S. 1. 86 Erster Teil, Erster Titel § 2.
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durchgesetzt: Das Recht gilt nicht nur allen gegenüber gleich, sondern es muß auch gleiches Recht für alle gelten.
V I I . Gewaltentrennung als Beginn der Rechtsstaatlichkeit In einem Punkte bahnt sich allerdings schon früh eine Reform an. Sie betrifft das Verhältnis des Souveräns zur Rechtspflege. Zwar stellt die Frühaufklärung im Unterschied zur Spätaufklärung die Monarchie als solche nicht in Frage. Sie tritt jedoch für eine gemäßigte Regierungsform ein, weil schrankenlose Macht die Gefahr des Machtmißbrauchs in sich birgt. Montesquieu kritisiert in seinen 1721 anonym veröffentlichten „Persischen Briefen" schonungslos das französische Ancien Regime. Das Werk, das im Grunde eine einzige Anklage der despotischen Monarchie darstellt, wird zu einem Bestseller seiner Zeit und zu Friedrichs Lieblingslektüre 87, so daß er sie später den deutschen Schriftstellern zur Verbesserung ihres Stils empfiehlt 88 . In den 1734 erschienenen „Betrachtungen über die Gründe von Größe und Niedergang Roms", die Friedrich ebenfalls in seiner Rheinsberger Zeit liest und mit Randbemerkungen versieht, setzt der französische Aufklärer seine Kritik fort und vergleicht erstmals die nichtgemäßigte Regierungsform mit dem asiatischen Despotismus. Das 1748 veröffentlichte Hauptwerk „De l'Esprit des Lois" behandelt die Gewaltentrennung unter Hinweis auf die englische Verfassung dann grundsätzlicher. Der Autor leugnet eine politische Freiheit des Bürgers bei fehlender Gewaltentrennung. In der Türkei, so lautet gleichsam sein Totalitarismus-Argument, die alle drei Staatsgewalten in der Hand des Sultans vereint, herrsche ein furchtbarer Despotismus89. Demgegenüber ist nach Montesquieus Schilderung in den meisten europäischen Königreichen die Verfassung gemäßigt, weil der Fürst nur die ersten beiden Staatsgewalten innehabe, die Rechtsprechung aber seinen Untertanen zur Ausübung überlasse. Obwohl diese Analyse den wahren Verfassungszustand im damaligen Europa nicht zutreffend erfaßt und Montesquieu dies nicht zuletzt wegen seiner zahlreichen Reisen auch wissen muß, kann sie ihre Wirkung auf Friedrich nicht verfehlen: zum einen, weil dieser Montesquieu überaus schätzt und ihn deshalb zusammen mit d'Alembert und Voltaire als erste auswärtige Mitglieder der von ihm neugegründeten Akademie der Wissenschaften ernennt, zum anderen weil der junge König unter den Souveränen
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Vgl. Merten (Fn. 74), S. 191 ff. De la litterature allemande, des defauts qu'on peut lui reprocher, quelles en sont les causes, et par quels moyens on peu les corriger, in: Preuß, (Euvres (Fn. 7), tome VII, 1847, p. 91 (104); vgl. auch seinen Brief an Maupertuis v. 31.3.1756, in: Koser/ Droysen, Publicationen (Fn. 4), Bd. 72, 1898, S. 318. 89 S. Merten (Fn. 74), S. 201 ff. 88
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Europas die Speerspitze aufklärerischen Fortschritts sein will und es wohl auch ist. Montesquieus Türkei-Vergleich macht ihn plötzlich rückständig. Es spricht daher viel dafür, daß es Friedrich der Große unter dem Einfluß Montesquieus nun grundsätzlich ablehnt, in die Zivilrechtsprechung einzugreifen. Hatte er bis dahin in seinen Schriften die Fürsten als die geborenen Richter gesehen, so weigert er sich nunmehr, Zivilurteile abzuändern. Dies zeigen stereotype Bemerkungen wie: es solle „alles denen Rechten und denen Landesgesetzen gemäß traktieret werden", „die Gesetze müßten regieren" oder „es sei seine Schuldigkeit, die Gesetze zu unterstützen, aber nicht umbzuwerfen" 90. Im politischen Vermächtnis von 1752 schreibt Friedrich, er habe sich entschlossen, niemals in den Lauf der Prozesse einzugreifen, weil in den Gerichtshöfen das Gesetz sprechen, der Souverän aber schweigen müsse. Noch grundsätzlicher und in fast wörtlicher Anlehnung an Montesquieu formuliert er im Politischen Testament von 1768: Die unmittelbare Verwaltung der Rechtspflege werde heute von keinem Souverän in Europa persönlich wahrgenommen; es stehe dem Herrscher nicht zu, bei Prozeßentscheidungen seine Autorität einzusetzen; die Gesetze sollten allein regieren und der Herrscher solle sich darauf beschränken, sie zu schützen91. In seinen Kronprinzen vorträgen bezeichnet Svarez 92 später das Machtspruchverbot als Unterscheidungsmerkmal zwischen einem „Bürger des preußischen Staats" und dem „Sklaven eines orientalischen Despoten", woran ersichtlich wird, wie lange das Türkei-Argument Montesquieus nachwirkt. Ähnlich äußert sich später Kammergerichtsdirektor Kircheisen in einer Ansprache 93 vor demselben Kronprinzen, in der er unter Zitierung Montesquieus darauf verweist, in den despotischen Staaten dürfe der Fürst richten, nicht so in monarchischen. Gleichsam als Extrakt der Aufklärungsphilosophie findet das Machtspruchverbot Eingang in § 6 der Einleitung des Allgemeinen Gesetzbuchs für die preußischen Staaten, das allerdings nach der französischen Revolution und der Stärkung orthodoxer Bestrebungen in Preußen suspendiert und revidiert wird. Dabei wird das Machtspruchverbot gleichsam auf die Verlustliste der Rechtsstaatlichkeit gesetzt und ist in der endgültigen Fassung des Allgemeinen Landrechts nicht mehr enthalten94. Auch andere vernunftrechtliche Aussagen friderizianischer Prägung über Staatszweck und Gesellschaftslehre werden aus 90
Nachweise bei Merten (Fn. 74), S. 205. Hierzu Detlef Merten, Die Justiz in den Politischen Testamenten brandenburgpreußischer Souveräne, in: Karl Dietrich Bracher u.a. (Hg.), Staat und Parteien, Festschrift für Rudolf Morsey zum 65. Geburtstag, 1992, S. 13 (39 ff.). 92 Gesammelte Schriften (Fn. 83), Bd. IV/2, 2000, S. 615. 93 Abgedr. in: Svarez., Gesammelte Schriften (Fn. 83), Bd. IV/2, S. 893 (897). 94 S. Detlef Merten, Die Rechtsstaatsidee im Allgemeinen Landrecht, in: Friedrich Ebel (Hg.), Gemeinwohl - Freiheit - Vernunft - Rechtsstaat. 200 Jahre Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, 1995, S. 109 (123 ff.). 91
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dem Allgemeinen Gesetzbuch gestrichen. So wird § 79 AGB nicht übernommen, der in fast wörtlicher Übereinstimmung mit Kants Lehren vorsah, daß Staatsgesetze bürgerliche Freiheiten und Rechte nicht weiter einschränken dürften, als es der „gemeinschaftliche Endzweck'4 erfordert. Dennoch leitet das Allgemeine Landrecht als Gesetzbuch Friedrichs des Großen die gesetzesgeprägte und gesetzesgebundene Rechtsstaatlichkeit des modernen Konstitutionalismus ein. Auch ohne besonderen Freiheitskatalog schützt das Landrecht elementare Individualbereiche 95 und gewährleistet die den Rechtsstaat auszeichnende „Gewissheit der gesezmässigen Freiheit" 96 . Im Hinblick auf die von ihm praktizierte Gewaltentrennung modifiziert Friedrich im Alter seine Staatstheorie. Hatte er sich früher zur Alleinherrschaft bekannt und befürchtet, daß bei Delegation und Dekonzentration der Macht die Monarchie in eine Aristokratie abgleite, so schreibt er 1779 in seinen „Briefen über die Vaterlandsliebe": „Gute Monarchien, die mit Weisheit und Milde regiert werden, kommen durch ihre Regierungsform heutzutage der Oligarchie näher als der Tyrannis; die Gesetze allein herrschen. ... Der Fürst ist also kein Despot, der allein seinen Launen frönt" 97 .
V I I I . Rechtspflege und Justizaufsicht Der bekannte Müller Arnold-Fall 98 , der sich drei Monate später ereignet, straft den König nur scheinbar Lügen. Er will die Rechtspflege nicht wieder in königliche Hand nehmen, sondern nur einen Fall von „Klassenjustiz", wie er wähnt, wiedergutmachen. Zeit seines Lebens ist er in Sorge, daß die armen Leute „gehudelt" werden 99 und daß Schelme den Mantel der Justiz gebrauchen, „um ihre üblen Passiones auszuführen". Für Friedrich, der die komplizierte Rechtssache des Müllers Arnold wohl nur aus der Sicht der Eheleute kennt, ist der Fall einleuchtend, wie sich aus dem späteren Protokoll ergibt: „Hier ist nun aber ein Edelmann, der will einen Teich machen, und um mehr Wasser in den Teich zu haben, so lässet er einen Graben machen, um das Wasser, aus einem kleinen Fluß, der eine Wassermühle treibet,
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Hierzu Merten aaO., S. 131 ff. Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, IX, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. I, 1903, S. 179; Teile der Abhandlung waren unter der Überschrift „Wie weit darf sich die Sorgfalt des Staats um das Wohl seiner Bürger erstrecken?" vorab in Schillers Neue Thalia 2 (1792), S. 131 ff. erschienen. 97 Lettres, I I (Fn. 64), p. 216. 98 Hierzu Malte Diesselhorst, Die Prozesse des Müllers Arnold und das Eingreifen Friedrichs des Großen, 1984. 99 So in seiner Antwort v. 30.6.1743, in: Acta Borussica, Behördenorganisation, Bd. VI/2, 1901, Nr. 350, S. 611 (612). 96
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in seinen Teich zu leiten, der Müller verliehrt dadurch das Wasser, und kann nicht mahlen." „Kann man, einen Müller, der kein Wasser hat, und also nicht mahlen, und auch nichts verdienen kann, die Mühle deshalb nehmen, weil er keine Pacht bezahlet hat: Ist das gerecht?" 100 Dabei hatten mehrere Gerichtsinstanzen die Klagen des Müllers abgewiesen, weil nach den Feststellungen ausreichend Wasser zum Betrieb der Wassermühle verblieb. Eine in den Akten befindliche Skizze zeigt, daß das Wasser nicht abgeleitet, sondern lediglich umgeleitet wurde. Doch der König will die Sache kurz und ohne Weitläufigkeiten abgemacht wissen, weil er wohl bis zum Schluß Rechtsbeugung befürchtet. „Ein Justizkollegium, das Ungerechtigkeiten ausübt, ist gefährlicher und schlimmer wie eine Diebesbande. ... Die sind ärger wie die größten Spitzbuben, die in der Welt sind", heißt es im Protokoll über das Verhör der Kammergerichtsräte. Wie weit jedoch eine förmlich noch nicht anerkannte Unabhängigkeit der Rechtspflege etabliert ist, zeigt die Reaktion der Zeitgenossen. Friedrichs Bruder Ferdinand ärgert sich, daß der König das Ende seiner Regierung durch einen so großen Exzeß verunstaltet 101. Die Zürcher Zeitung meldet, Personen vom königlichen Hause und viele Vornehme hätten den Verurteilten ansehnliche Geschenke an Geld gemacht und hofften, die nach Spandau Gebrachten würden früher entlassen und auch wieder versorgt werden 102 . Friedrich Wilhelm II. rehabilitiert die Verurteilten wenige Monate nach Friedrichs Tod demonstrativ und bezeichnet die Verfügung seines Vorgängers als einen Irrtum, zu dem dieser durch seinen „ruhmwürdigen Justizeifer" verleitet worden sei 103 . Der Arnold-Fall vermehrt die Popularität des Königs über Preußens Grenzen hinaus, ist zu einem preußischen Märchen geworden. Nettelbeck 104 , der spätere Verteidiger von Kolberg, berichtet in seiner Lebensbeschreibung, er habe 1780 auf einem Marktplatz in Lissabon eine Wachsfigurendarstellung des Königs mit den Eheleuten Arnold vorgefunden. Nach Offenbarung seiner Nationalität habe man ihn als Untertan des großen Königs begeistert gefeiert. Da Komplexität sich nicht zur Legendenbildung eignet, vermengt diese den Wasser-Müller aus Pommerzig mit dem Wind-Müller von Sanssouci, dem der König nach einer
100 Protokoll v. 11.12.1779, A.B. (Fn. 85), S. 576; Berlinsche Nachrichten v. 14.12.1779, S. 1. 101 Johann E. Neumann, Aus der Festungszeit Preußischer Kammergerichts- und Regierungsräte auf Spandau 1789, 1910, S. 52. 102 Zürcher Zeitung v. 22.1.1780. 103 Kabinettsordre v. 14.11.1786, abgedr. in: Neumann (Fn. 101), S. 226 ff. Hierzu auch Conrad Bornhak , Preußische Staats- und Rechtsgeschichte, 1903, Nachdruck 1979, S. 256. 104 Joachim Nettelbeck , Stücke aus seiner Lebensbeschreibung, hg. von Wilhelm Capelle, Leipzig o.J., S. 10 ff.: Der Preuße in Lissabon.
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bloßen Anekdote die Mühle nehmen will und der seinem Monarchen entgegenhält: ja, wenn es nicht das Kammergericht in Berlin gäbe. Eigentlich wird erst diese Anekdote der wahren Bedeutung des Müller Arnold-Falls gerecht, weil sie auf den Rechtsschutz, die Gesetzmäßigkeit und die von den Richtern beanspruchte Unabhängigkeit verweist. Früher als anderswo wird in Preußen gerichtlicher Rechtsschutz auch gegen den Staat gewährt 105 . Das Allgemeine Landrecht bestimmt dann später, daß Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Oberhaupt des Staates und seinen Untertanen bei den ordentlichen Gerichten nach den Vorschriften der Gesetze erörtert und entschieden werden (§ 80 Einl.). Daher hätte auch ein Wind-Müller gegen den König klagen können 106 . Das Kammergericht seinerseits hatte ungeachtet königlicher Weisungen nur nach den Gesetzen entschieden. Zudem hatte sich der Kriminalsenat geweigert, gegen die verantwortlichen Richter, wie vom König verlangt, auf Kassation und auf Festungshaft zu erkennen. Friedrich nimmt dies lediglich mit „Befremden" zur Kenntnis und erläßt den Spruch selbst, ohne jedoch gegen den Kriminalsenat vorzugehen. Die Richter, inzwischen im Ansehen gestiegen und im Selbstbewußtsein gestärkt, beanspruchen damit eine richterliche Unabhängigkeit, die das Gesetz noch nicht garantiert, die der König aber respektiert. Das Kammergericht wird so zum Vorkämpfer einer richterlichen Unabhängigkeit, die sich trotz vereinzelter Machtsprüche und Strafschärfungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts allmählich durchsetzt und dann auch verfassungsrechtlich anerkannt wird.
IX. Religiöse Toleranz Potsdam wird auch Symbol religiöser Toleranz und Freiheit. Der Große Kurfürst reagiert auf die Verfolgung der Hugenotten in Frankreich mit dem Edikt von Potsdam vom 29. Oktober 1685, wobei die Hilfe für die Verfolgten nicht deshalb geringer einzuschätzen ist, weil sie sich für das aufstrebende Brandenburg-Preußen volkswirtschaftlich vorteilhaft auswirkt und auch für den Aufbau der brandenburg-preußischen Armee nützlich ist 107 . Der Soldatenkönig setzt diese Tradition fort, indem er die Salzburger Protestanten und die Böhmen in seinen Ländern aufnimmt. In seinen „Denkwürdigkeiten" 108 weist Friedrich 105 Siehe Wolf gang Riifner, Verwaltungsrechtsschutz in Preußen von 1749 bis 1842, 1962, passim, insbes. S. 60 ff., 172 ff. 106 Hierzu Andrieux, Le meunier de Sans-Souci, GEuvres, tome III, Paris 1818, S. 208. 107 Detlef Harms, Das Edikt von Potsdam vom 29. Oktober 1685. Die Integration und der soziale Aufstieg von Ausländern in der preußischen Armee des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Kroener (Fn. 77), S. 159 ff. 108 Memoires pour servir ä l'histoire de la maison de Brandebourg, in: Preuß (Fn. 7), tome I, 1846, p. 1 ff. (210).
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darauf hin, daß Friedrich I. zwar einige Male katholische Kirchen als Repressalie für die Verfolgung von Protestanten seitens des Kurfürsten von der Pfalz habe schließen lassen, daß aber die Katholiken ihre Religion grundsätzlich frei ausüben konnten. Friedrichs religiöse Toleranz 109 steht in Übereinstimmung mit der Naturrechtslehre, wie sie insbesondere von den Philosophen Thomasius und Christian Wolff vertreten wird. Friedrich, der als Deist an Gott glaubt, wenn auch nicht in Übereinstimmung mit dem kirchlichen Dogma, äußert sich in Religionssachen mitunter sarkastisch. Als er 1753 die nüchterne Nikolaikirche in Potsdam durch Knobeisdorff in italienischer Manier umbauen läßt und die Geistlichkeit reklamiert, daß dadurch die Kirche noch stärker verdunkelt werde, soll er auf die Bittschrift mit der spöttischen Bemerkung geantwortet haben: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben" 110 . Doch seine religiöse Indifferenz schmälert nicht die für die damalige Zeit bemerkenswerte religiöse Duldsamkeit, wie sie in der bekannten Marginalie 111 zum Ausdruck kommt, „Die Religionen Müsen alle Tolleriret werden". In seinem Lande, schreibt er Jahrzehnte später, habe ein jeder die Freiheit zu glauben, was er wolle. Wörtlich fast übereinstimmend garantiert das Allgemeine Landrecht dann jedem Einwohner im Staate eine „vollkommene Glaubens- und Gewissensfreyheit" (§ 2 I I 1). Den Katholiken gestattet Friedrich 1746, daß sie „eine Kirche, so groß, als sie solche immer haben wollen oder können mit einem oder mehreren Türmen, große und kleine Glocken" bauen dürfen. Wenn er in einem Brief an Voltaire schreibt, die religiöse Toleranz dürfe nicht so weit gehen, „die Frechheiten und Ausschreitungen junger Brauseköpfe gutzuheißen, die das frech beleidigen, was das Volk verehrt", so liegt hierin keine unzulässige Freiheitsbeschränkung. Denn auch heutzutage findet die Meinungsfreiheit ihre Grenze in den strafrechtlichen Verboten der Beschimpfung von Bekenntnissen und Störungen des Gottesdienstes (§§ 166 f. StGB). Friedrich der Große war sicherlich nicht semitophil. Dennoch hat es in Brandenburg-Preußen keine Judenpogrome gegeben, und hat er die unter der Herrschaft Maria Theresias zeitweise verfolgten Juden in seinen Ländern auf109 Hierzu auch Frank-Lothar Kroll, Das Problem der Toleranz bei Friedrich dem Großen, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, N.F. 11 (2001), S. 53 ff.; Wolf gang Stribrny, Friedrich der Große und seine evangelischen Untertanen, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, N.F. 2 (1992), S. 147 ff.; Günter Birtsch, Religions- und Gewissensfreiheit in Preußen von 1780-1817, Zeitschrift für historische Forschung 11 (1984), S. 177 ff. 110 Vgl. Heinrich Ludwig Manger, Baugeschichte von Potsdam, Bd. 1, Berlin und Stettin 1789, S. 150. 111 V. 22.6.1740, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, BrandenburgPreußisches Hausarchiv, Rep. 47 Nr. 23; auch abgedr. in: Max Lehmann (Hg.), Preußen und die Katholische Kirche seit 1640, 2. Teil: Von 1740 bis 1747. Publicationen aus den K. Preußischen Staatsarchiven, Bd. X, Leipzig 1881, Nr. 2, S. 4*.
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genommen112. Wenn die Juden auch erst durch das Edikt von 1812 113 in bürgerlichen Beziehungen den christlichen Staatsuntertanen gleichgestellt wurden, so genossen sie doch, wie Wilhelm von Humboldt 114 bemerkt, „viel größere Vorzüge, als im übrigen Deutschland", insbesondere Religionsfreiheit. Nicolai, der im Todesjahr Friedrichs des Großen die Residenzstädte Berlin und Potsdam beschreibt, führt für Potsdam immerhin neun Gotteshäuser auf, darunter eine französische, eine katholische, eine böhmisch-deutsche Kirche sowie eine jüdische Synagoge115. In der Innenstadt kommt auf jeweils zwei Gasthäuser eine Kirche. Welche Stadt kann das heute noch von sich sagen?
X. Schluß Die Regierungszeit Friedrichs des Großen, die insbesondere im Hinblick auf seine auswärtige Politik als „Königtum der Widersprüche" charakterisiert wird 1 1 6 , ist gleichzeitig ein „Königtum des Übergangs", weil es die so gegensätzlichen Epochen des Absolutismus im 18. und des Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert überbrückt. Friedrich hat einen für seine Zeit modernen Staat geschaffen, der freilich nicht an heutigen Maßstäben zu messen ist. Immerhin hat der zweite amerikanische Präsident, John Adams 117 , über ihn gesagt, er hätte die Parlamentsmehrheit auf seiner Seite gehabt, wenn es in Preußen so etwas gegeben hätte. In seinem persönlichen Testament von 1752 bekennt Friedrich, er habe Recht und Gesetz zur Herrschaft gebracht. Gibt es eine schönere Maxime als Schluß eines Beitrags, der einem bedeutenden Rechtshistoriker und Staatsrechtslehrer gewidmet ist?
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Vgl. hierzu Peter Baumgart, Die jüdische Minorität im friderizianischen Preußen, in: Oswald Hauser (Hg.), Vorträge und Studien zur preußisch-deutschen Geschichte, Neue Forschungen zur brandenburg-preußischen Geschichte, Bd. 2, 1983, S. 1 ff..; dens, Die „Freiheitsrechte" der jüdischen Minorität im Staat des aufgeklärten Absolutismus, in: Günter Birtsch (Hg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, 1981, S. 121 ff. 113
Hierzu Stefan Hartmann, Die Bedeutung des Hardenbergschen Edikts von 1812 für den Emanzipationsprozeß der preußischen Juden im 19. Jahrhundert, in: Bernd Sösemann (Hg.), Gemeingeist und Bürgersinn, Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, N.F., Beiheft 2, 1993, S. 247 ff. 114 Über die Behandlung der Angelegenheiten des Deutschen Bundes durch Preußen v. 30.9.1818, in: ders., Gesammelte Schriften (Fn. 4), Bd. XII, 1904, S. 53 (113 sub § 11,3). 115 Nicolai (Fn. 9), S. 1283 ff. 116 So der Untertitel der Biographie Schieders (Fn. 30). 117 A Defence of the Constitutions of Government of the United States of America, Bd. 1-3, 1787 ff., praef.
Die napoleonische Gesetzgebung aus der Sicht von Ernst Ferdinand Klein und Christoph Goßler Von Franz Dorn
I. Einleitung Zu Beginn des 19. Jahrhunderts beherrscht in Deutschland kaum ein Thema die rechtspolitische Diskussion so sehr wie die Auseinandersetzung mit der napoleonischen Gesetzgebung - und vor allem mit deren Herzstück, dem Code civil. Stand in der ersten Phase der Auseinandersetzung mit dem französischen Recht, der Rheinbundzeit, zur Debatte, ob und wieweit es in den einzelnen Rheinbundstaaten, dem Rheinbund insgesamt oder gar in ganz Deutschland zur Vereinheitlichung des Rechts rezipiert werden sollte1, so stellte sich in der zweiten Phase, der Zeit nach dem Sieg über Napoleon, die Frage, ob das französische Recht dort, wo es eingeführt worden war, erhalten bleiben sollte oder nicht. Während rechts des Rheins die Frage von den Regierungen zu Lasten des französischen Rechts entschieden2 und sich auch im Schrifttum die Stimmung zusehends gegen die Rezeption des französischen Rechts wandte3, konnte es sich links des Rheins behaupten, in Rheinpreußen allerdings erst nach erbittertem publizistischem Kampf der Rheinländer für den Erhalt des rheinischen Rechts4. Die wissenschaftliche Aufarbeitung des umfangreichen Schrifttums, das beide Phasen der Auseinandersetzung mit dem französischen Recht hervorgebracht haben, hat bislang hauptsächlich die Diskussion in den Rheinbund1
Hierzu Schubert, Französisches Recht in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts (Forschungen zur Neueren Privatrechtsgeschichte, 24), 1977, 47 ff.; Fehrenbach, Der Kampf um die Einführung des Code Napoleon in den Rheinbundstaaten (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Mainz, Abteilung Universalgeschichte, 56), 1973; dies., Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 13), 1974. 2 Hierzu Schubert, Das französische Recht in Deutschland zu Beginn der Restaurationszeit (1814-1820), in: ZRG, Germ. Abt. 94 (1977), 129-184. 3 Hierzu Schubert, Französisches Recht (Fn. 1), 594 ff. 4 Schubert, ZRG, Germ. Abt. 94 (1977), 154 ff. m.w.N.; ferner Faber, Die Rheinlande zwischen Restauration und Revolution. Probleme der rheinischen Geschichte im Spiegel der zeitgenössischen Verfassung. Die politische Funktion des Rheinischen Rechts im 19. Jahrhundert, 1970.
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Staaten und die Stellungnahmen in der rheinischen Publizistik im Blick 5 . Nur am Rande - wenn überhaupt - wird erwähnt, dass sich von preußischer Seite bemerkenswerterweise die als Mitarbeiter von Carl Gottlieb Svarez an der preußischen Kodifikation beteiligten Ernst Ferdinand Klein (1744-1810) und Christoph Goßler (1752-1817) zur napoleonischen Gesetzgebung geäußert haben6. Klein setzt sich 1808 und 1809 in seinen „Annalen" in drei Abhandlungen mit dem französischen Zivil- und dem Zivilprozessrecht auseinander. In der ersten Abhandlung7 geht es ihm vor allem darum, das ALR gegen Kritik von französischer Seite zu verteidigen. Die beiden anderen Abhandlungen stellen demgegenüber Einführungen in das französische Recht und dessen Unterschiede zum preußischen Recht dar und richten sich vornehmlich an die Bevölkerung des Königreiches Westphalen sowie alle, die mit nach französischem Recht lebenden Nachbarn in Verbindung stehen8. Dieselbe Intention verfolgt Goßler in seinem 1808 in zwei Teilen in der „Berlinischen Monatsschrift" erschienen Beitrag „Über den Code Napoleon"9. 1814 meldet er sich dann noch einmal mit einer selbständigen Schrift zu Wort, in der er zur Frage Stellung nimmt, ob und inwieweit in den von Preußen zurück- bzw. neu hinzugewonnenen Gebieten das französische Recht beibehalten werden soll 10 . Diese Beiträge sollen im Folgenden in ihrem wesentlichen Inhalt vorgestellt werden. Sie belegen, dass sich beide Autoren intensiv und bis ins Detail mit der franzö5
Siehe die oben in Fn. 1 und Fn. 4 angeführten Schriften. Schubert, Französisches Recht (Fn. 1), 60 f. mit Fn. 104 verweist nur kurz auf Klein, ohne näher auf dessen Arbeiten einzugehen; Goßler ist ebenda in Fn. 104 erwähnt. Auf dessen Schrift zur Frage, ob das französisches Recht in den neuen preußischen Landesteilen beibehalten werden soll (siehe unten Fn. 10), geht Stölzel, Brandenburg-Preußens Rechtsverwaltung und Rechtsverfassung dargestellt im Wirken seiner Landesfürsten und obersten Justizbeamten, Bd. II, 1888 (Neudruck, 1989), 429 f. kurz ein. Zu Klein: NDB, Bd. 3, 574; Bd. 11, 734 f.; HRG II/Holzhauer, 866-869. Zu Goßler. NDB, Bd. 6, 650. Goßler ist v.a. bekannt geworden durch seine mit Svarez verfassten Einführungen in das preußische Recht: Svarez/Goßler, Unterricht über die Gesetze f. die Einwohner der Preußischen Staaten v. zwey Preußischen Rechtsgelehrten, 1793; dies., Unterweisung für die Parteien zu ihrem Verhalten bei Prozessen und andern gerichtlichen Angelegenheiten, 1796. 6
7 Über die Verschiedenheit der Form des Französischen Civil-Codex und des Preußischen Allgemeinen Landrechts, wie auch über die Verschiedenheit des Gesichtspunkts, welcher bei diesen Gesetzbüchern zugrunde liegt, in: Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit, 25 (1808), 154-204. 8 Über die bei dem gewöhnlichen Verkehr vorkommenden Unterschiede der Französischen und Preußischen Gesetzgebung, in: Annalen 25 (1808), 205-232; Vergleichung der französischen gerichtlichen Procedur mit der preußischen, in: Annalen 26 (1809), 68-108. 9 Über den Code Napoleon. Einleitung zu den Vorlesungen darüber, in: Berlinische Monatsschrift, 1808, 1. Halbbd., 321-344; 2. Halbbd., 225-249. 10 Gedanken über die Einrichtung der Justiz in den Ländern, welche dem Preußischen Staate jetzt zufallen werden; nebst einer kurzen Unterweisung über die Rechte und Pflichten der Eheleute, Berlin 1814.
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sischen Gesetzgebung beschäftigt haben und geben Aufschluss darüber, wie sich sozusagen aus der Perspektive der „ALR-Werkstatt" die napoleonische und im Vergleich mit ihr die eigene Gesetzgebung ausnimmt. Schon die in den Jahren 1808/09 erschienen Beiträge nehmen deshalb, wenn auch nicht ausdrücklich, so doch indirekt zu der in diesen Jahren in Deutschland diskutierten Frage Stellung, ob und inwieweit französisches Recht in Deutschland rezipiert werden sollte. Dies gilt erst recht für den Beitrag Goßlers aus dem Jahr 1814, wo diese Frage bezogen auf Preußen und die von ihm hinzugewonnenen Gebiete thematisiert wird.
I I . Ernst Ferdinand Klein 1. Form und „Gesichtspunkt" der französischen und der preußischen Gesetzgebung Ausgangspunkt der Abhandlung Kleins: „Über die Verschiedenheit der Form des Französischen Civil-Codex und des Preußischen Allgemeinen Landrechts, wie auch über die Verschiedenheit des Gesichtspunkts, welcher bei diesen Gesetzbüchern zum Grunde liegt" 11 , ist die in den „Motives du projet des lois concernant le code Napoleon" am ALR geübte Kritik, die Klein seinem Leser in einer von ihm übersetzten Fassung vor Augen führt 12 . Danach kommt zwar Friedrich II. das Verdienst zu, als erster den Versuch unternommen zu haben, ein nationales Gesetzbuch zu schaffen. Jedoch wird diesem Versuch der gehörige Erfolg abgesprochen. Zum einen sei Friedrich nicht in der Lage gewesen, ohne Nachteil die alten Gesetze und Gebräuche seines Landes zu ändern. Zum anderen sei das preußische Gesetzbuch eine ähnliche Kompilation wie das Justinians. Die Ordnung der Materien sei zwar methodischer, stelle aber keineswegs das Muster eines Plans dar, der von der breiten Masse der Bürger durchschaut werden und zu deren Nutzen dienen könne. Der Plan setze vielmehr nach wie vor die tiefe Kenntnis der alten Landrechte und des römischen Rechts voraus, so dass die gerichtliche Laufbahn nur Rechtsgelehrten eröffnet werden könne. Die Bemerkung, die bei der Konzeption des ALR obwaltenden Umstände hätten es dem König nicht gestattet, den alten Gesetzen und Gebräuchen seines Landes ohne Nachteil eine Absage zu erteilen, deutet Klein - wohl zu Recht als Kritik daran, dass das ALR im Gegensatz zum Code civil an der Ständeordnung des Ancien Regimes festgehalten und insbesondere die Gutsuntertänigkeit beibehalten hat 13 . Obwohl er sich andernorts durchaus für Reformen zugunsten
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Annalen 25 (1808), 154-204. Annalen 25 (1808), 157 ff. Annalen 25 (1808), 158.
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der Landbevölkerung ausspricht 14 und inzwischen in Preußen das Bauernbefreiungsedikt ergangen ist 15 , lässt Klein sich hier auf keine weitere Diskussion über die mangelnde Fortschrittlichkeit des ALR und notwendige Reformen ein. Stattdessen begnügt er sich in deutlicher Anspielung auf Montesquieu mit dem Hinweis, selbst wenn es so gewesen wäre, dass in Preußen anders als in Frankreich die alten Gesetze und Gebräuche nicht hätten geändert werden können, so sei deshalb das preußische Gesetzbuch noch nicht schlechter als das französische, da doch jedes Gesetzbuch der Nation, für die es bestimmt sei, angemessen sein müsse16. Dem Vergleich mit dem Corpus iuris civilis Justinians hält Klein zum einen entgegen, dass es sich beim ALR weder um eine Sammlung aus den Schriften römischer Rechtsgelehrter noch um eine Zusammenstellung von Edikten handele. Vor allem aber wendet sich der Kompilationsvorwurf aus seiner Sicht eher gegen den Code civil selbst als gegen das ALR, da jener fast überall die römische Theorie und Terminologie übernommen habe. Es fehlten ihm insbesondere die allgemeinen Grundsätze, die das ALR an den Anfang stelle und die es ihm ermöglichten, die Anwendung des römischen und jedes anderen Rechts auf Fälle zu verbieten, die nach dem neuen Gesetz zu entscheiden seien17. Ferner enthalte das preußische Gesetzbuch mehr „Eigentümliches" als der Code civil und dies - abgesehen vom Zivilprozess- und Kriminalrecht - gerade auch im Zivilrecht, etwa im Hypotheken- und Testamentsrecht, wodurch es sich von anderen Rechten unterscheide und was ihm den Vorwurf der Abkehr vom römischen Recht eingebracht habe. Überhaupt aber gebe es keinen Teil des Zivilrechts, der bei der Konzeption des ALR nicht von Grund auf neu durchdacht und auf der Grundlage fester Grundsätze in allen Konsequenzen und „innigsten" Zusammenhängen geregelt worden wäre; eine Vorgehensweise, die nicht als Kompilation bezeichnet werden könne 18 . Den Vorwurf, die Ordnung der Rechtsmaterialien im ALR sei zwar methodischer als im Corpus iuris civilis, aber für den gemeinen Mann nach wie vor nicht zu durchschauen, nimmt Klein zum Anlass, ausführlich zum Aufbau des ALR und zu den ihm zugrunde liegenden Leitlinien Stellung zu nehmen. Auch hier wendet sich die an der preußischen Gesetzgebung geübte Kritik nach Kleins Ansicht in Wahrheit gegen den Code civil selbst, da sich für ihn die Anordnung des ALR als viel leichter fassbar und natürlicher als die des franzö-
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Klein , Über die gesetzlichen und richterliche Begünstigung des Bauernstandes, in: Annalen 24(1806), 167-182. 15 Hierzu Klein , Nachtrag zu der Abhandlung über die gesetzliche und richterliche Begünstigung des Bauernstandes, in: Annalen 25 (1808), 45-87. 16 Annalen 25 (1808), 158. 17 Annalen 25 (1808), 259. Annalen 25 (1808), 2 f.
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sischen Gesetzbuchs darstellt 19. Das ALR folge nämlich einer „wahrhaft philosophischen" Konzeption, weil es zunächst die Grundsätze und Materien behandele, die von einer so allgemeinen Anwendbarkeit seien, dass sie allen übrigen Rechtsmaterien als Richtschnur dienten. Dementsprechend werde zunächst auf die Lehren von den Personen, Sachen und Handlungen überhaupt, dann auf die Theorie der Willenserklärungen eingegangen, die für die gesamte Materie der Verträge und Testamente sowie sonstige rechtserhebliche Äußerungen maßgeblich sei und deshalb einschließlich der Vertragslehre hier und nicht wie sonst üblich „irgendwo" eingeordnet sei. Den Abschluss der allgemeinen Grundsätze bilde die Lehre von den unerlaubten Handlungen, da diese wie auch die Willenserklärungen zu den Quellen der Rechte und Verbindlichkeiten gehörten. Die anschließende Regelung des Zivilrechts beginnt nach Klein mit dem Sachenrecht, da das Zivilrecht überall das Eigentum zum Gegenstand habe, und das Sachenrecht insofern die Regel bilde, während das Personenrecht lediglich die Modifikationen enthalte, die sich aus dem Unterschied der Personen ergäben, und deshalb erst im zweiten Teil des ALR behandelt werde. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass das ALR von einem weiten Sachbegriff ausgeht und darunter alles versteht, was Gegenstand eines Rechts oder einer Verbindlichkeit sein kann (I, 2 § 1 ALR). Der Eigentumsbegriff bezieht sich dementsprechend nicht nur auf körperliche Gegenstände, sondern auch auf Rechte (vgl. I, 8 § 1 ALR). Da nun das Eigentum seinen Ursprung im Besitz habe, stehe - so Klein - dessen Regelung am Anfang, gefolgt von den Bestimmungen über das Eigentum überhaupt, den Regeln über dessen Erwerbung, Erhaltung, Verfolgung und Verlust, den Vorschriften über die besonderen Arten des Eigentums und schließlich den Bestimmungen über die Rechte auf fremdes Eigentum. Da die allgemeinen Lehren von den Willenserklärungen und den Verträgen vorab behandelt worden seien, habe man die auf die verschiedenen Arten des Eigentums oder dessen Erwerb, Erhalt oder Verlust gerichteten Verträge bei jeder dieser Materie mitbehandeln und sich dabei jeweils auf die Regelung der Besonderheiten beschränken können. Nach diesem Prinzip seien etwa der Kauf beim mittelbaren Eigentumserwerb, das Testament und der Erbvertrag demgegenüber beim Eigentumserwerb von Todes wegen geregelt. Klein gesteht zwar zu, dass die Konzeption des ALR dazu führt, dass das Erbrecht an verschiedenen Stellen im ersten und zweiten Teil des ALR geregelt wird, während man sich auf der anderen Seite - nicht ohne Inkonsequenzen - bemüht hat, das Handelsrecht zusammenhängend zu behandeln20. Das eine wie das andere fällt aber für Klein nicht sonderlich ins Gewicht. Zum einen helfe das Gesetz mit Verweisungen und zum anderen stehe dem Benutzer das Register zur Verfügung, ohne das man auch beim Code civil nicht auskomme. Als Beleg hierfür ver-
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Hierzu und zum Folgenden Annalen 25 (1808), 160-164. Annalen 25 (1808), 164 f.
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weist Klein darauf, dass der Code civil im Rahmen des Personenrechts die Ehe thematisiert, den Ehekontrakt und die Rechte der Eheleute untereinander aber erst im 5. Titel des 3. Buchs behandelt, und im 3. Titel des 3. Buchs auf die Kontrakte eingeht und dabei nicht nur die ganze Lehre von den Verbindlichkeiten, sondern auch die vom Beweis einschaltet21. Die Verständlichkeit und Lesbarkeit des Code civil wird darüber hinaus nach Kleins Auffassung noch dadurch erschwert, dass die Sprache nach wie vor vom alten Gerichtsstil geprägt sei und zudem zahlreiche Kunstausdrücke benutzt würden. Das ALR erkläre dagegen die von ihm benutzten Kunstausdrücke und sei ansonsten möglichst in der Sprache des gemeinen Lebens gefasst. Es sei deshalb für einen Deutschen verständlicher als der Code für einen Franzosen 22. Auch die Kürze des französischen Gesetzbuchs sei nur scheinbar, da sie auf Auslassungen beruhe. Insbesondere fehlten die allgemeinen Grundsätze. Dies habe zur Folge, dass die Rechtsgelehrten sich mit anderweitigen Kenntnissen behelfen und die Laien bei den Rechtsgelehrten Zuflucht nehmen müssten, die wiederum vollständiger hätten unterrichtet werden müssen, als durch den Code civil geschehen23. Die Kritik an der Unvollständigkeit des Code civil leitet über zum zweiten Teil der Ausführungen Kleins, in dem er sich mit inhaltlichen Unterschieden zwischen den beiden Gesetzbüchern auseinandersetzt. Auch wenn das französische Recht an vielen Stellen fast wörtlich mit dem preußischen übereinstimme, bestehe zwischen beiden doch ein erheblicher Unterschied hinsichtlich des Gesichtspunkts, von dem sich der Gesetzgeber jeweils habe leiten lassen. Das preußische Gesetzbuch wolle „wirklich das gesamte System der Civil- und Kriminalgesetzgebung umfassen und erschöpfen' 4, so dass alle vorkommenden Fälle danach entschieden werden könnten. Zwar scheine auch das französische Gesetzbuch diesen Zweck zu haben und erhebe sogar Anspruch, Gesetzbuch für ganz Europa zu werden. Es sei aber nicht so gearbeitet, dass man mit ihm allein ohne Rückgriff auf das römische Recht auskommen könne 24 . Dabei stellt Klein klar, dass auch in Preußen nach wie vor das Studium des römischen Rechts gefordert wird. Das römische Recht soll aber eben nicht mehr bei der Entscheidung neuer, sondern nur noch bei der Beurteilung alter sowie von Fällen mit Auslandsbezug Anwendung finden. Als weitere Gründe, warum das römische Recht auch in Preußen nach wie vor ein Zweig der Rechtsgelehrsamkeit bleiben muss, führt Klein an, dass es ohne die Kenntnis des römischen Rechts unmöglich sei, im Fach der Gesetzgebung eine bedeutende Rolle zu
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Annalen 25 (1808), 166. Annalen 25 (1808), 166 ff. mit mehreren Beispielen aus dem Code civil, denen die entsprechenden Regeln des ALR gegenübergestellt werden. 23 Annalen 25 (1808), 168. 24 Annalen 25 (1808), 169. 22
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spielen, und dass der preußische Gesetzgeber ungeachtet seines Wunsches, dass sein Gesetz von jedermann verstanden werden könne, die Rechts Verwaltung ausschließlich in den Händen gelehrter Männer wissen wolle, damit diese die ihr gebührende Würde behalte25. Nach Kleins Aussage war man sich bei den Gesetzgebungsarbeiten durchaus bewusst, dass das ALR aufgrund des Strebens nach Vollständigkeit ein „weitläufiges Werk" werde und deswegen „kein Gegenstand der Leserei des Publicums seyn könne". Man habe sich hierdurch aber nicht von „dem wesentlichen Zweck der Vollständigkeit" abbringen lassen und es für ausreichend erachtet, „dass es dem Richter möglich sey, die Parteien durch Anführung der zur Entscheidung dienlichen Gesetzesstellen von ihrem Recht und Unrecht zu überzeugen"26. Als weiteres Ziel, das man mit der Vollständigkeit des ALR verfolge, führt Klein an, dass man hierdurch „bloße Pfuscher, welche die Parteien aus Eigennutz oder aus Unwissenheit unrichtig leiten könnten", von der juristischen Praxis ausschließen wollte. „Solche Pfuscher können leicht mit einigen juristischen Ausdrücken sich bekannt machen, und einen mäßigen Band lesen, aber ein so ausführliches Werk wie das Preußische Gesetzbuch ist nicht für sie; auch wird ihnen die Einmischung in die Rechtshändel nicht verstattet." Dies bedeutet allerdings nicht, betont Klein sogleich, dass man das Gesetzbuch weitläufiger als erforderlich hat werden lassen, „aber es hat den Gesetzgeber darüber hinweg getröstet, dass die Ausführlichkeit des Werks ihn genötigt hat, mehrere Bände damit zu füllen" 27 . Abgesehen vom Streben nach Vollständigkeit zeichnet sich das ALR nach Klein ferner vor dem Code civil dadurch aus, dass es mehr als dieser die Schonung wohlerworbener Rechte im Blick habe28. Das französische Gesetz sei insofern durchgreifender und kenne weniger Ausnahmen, die angesichts besonderer Umstände erforderlich seien. Als Beispiel führt Klein an, dass nach dem Code civil Gesetze vom Zeitpunkt, in dem ihr Bekanntsein vorausgesetzt wird, ohne Einschränkung Geltung und Befolgung beanspruchen, während das ALR es in § 13 der Einleitung bei vormals erlaubten, später aber verbotenen Handlungen zulässt, dass der Täter - wenn ihn insoweit kein Pflichtverstoß trifft sich auf die Unkenntnis des Verbots beruft und damit der Sanktion für den Gesetzesverstoß entgeht. Bedeutung hat diese Vorschrift nach Klein insbesondere angesichts der zahlreichen Verordnungen in Accisen-, Zoll- und Fabriksachen, da hier zwar von Kaufleuten, nicht aber von jedermann die genaue Kenntnis aller Bestimmungen verlangt werden könne und dürfe.
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Annalen Annalen Annalen Annalen
25 25 25 25
(1808), (1808), (1808), (1808),
169 f. 170. 170 f. 171.
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Die das preußische Gesetzbuch auszeichnende Billigkeit macht sich nach Kleins Dafürhalten des Weiteren darin geltend, dass es auf alle mögliche Weise zu verhindern suche, dass ein Unschuldiger unter der Strenge der Gesetze zu leiden habe, und überall bestrebt sei, Treue und Redlichkeit aufrecht zu erhalten 29 . Im Folgenden stellt Klein dann eine Reihe familienrechtlicher Regelungen des preußischen und des französischen Gesetzbuchs einander gegenüber, um aufzuzeigen, dass das ALR besonders im Familienrecht die angeführten Ziele im Blick gehabt und deshalb insbesondere die Rechtstellung der Ehefrau deutlich besser und gerechter ausgestaltet hat als der Code civil, bei dem „das männliche Geschlecht... sehr für seinen Vortheil gesorgt" habe30. Im Blick hat Klein dabei zunächst die Bestimmungen über das Vorbehaltsgut der Frau 31. Während nach preußischem Recht die Frau - abgesehen von Ausnahmen im Interesse des Mannes - über das Vorbehaltsgut frei verfügen und in Angelegenheiten dieses Vermögens auch vor Gericht auftreten kann 32 , steht sie nach französischem Recht auch hinsichtlich ihres sogen. Parephernalguts völlig unter der Kuratel des Mannes33. Des Weiteren verweist Klein auf die Regeln, die das ALR zum Schutz des gemeinschaftlichen Vermögens für den Fall vorsieht, dass einer der Ehegatten bereits bei Eheschließung überschuldet war 34 . Der andere Partner kann in diesem Fall binnen zweier Jahre eine separatio bonorum herbeiführen mit der Folge, dass Altgläubigern des überschuldeten Gatten nur noch dessen eingebrachtes Vermögen haftet 35. Nach französischem Recht haftet das gemeinschaftliche Ehegut dagegen ausnahmslos auch für voreheliche Schulden des Mannes, während voreheliche Schulden der Frau unter bestimmten Voraussetzungen ausgenommen werden 36. Kritisch sieht Klein ferner die französische Regel, wonach die Ehefrau, die sich ihr gesamtes Vermögen vorbehalten hat, gleichwohl ein Drittel der Einkünfte aus diesem Vermögen zur Bestreitung der Ehelasten beisteuern muss37. Grundsätzlich - so Klein - sei es zwar billig, dass die Frau etwas zu den Ehelasten beitragen müsse, im Falle des ausdrücklichen Vermögens Vorbehalts sei dies jedoch eine große Begünstigung des Mannes. 29
Annalen 25 (1808), 171. Annalen 25 (1808), 176. 31 Annalen 25 (1808), 172 ff. 32 Zum gesetzlichen und vertraglichen Vorbehaltsgut der Frau, siehe II, 1 §§ 206 ff.; § 221 ff. ALR. Von der freien Verfügung der Frau sind ausgeschlossenen Juwelen, Gold, Silber und andere bloß zur Pracht bestimmte Sachen, § 223. 33 Annalen 25 (1808), 176 f.; zum Parephernalvermögen Artt. 1574 ff. Code civil; zur Verfügungsbeschränkung der Frau Art. 1576. 34 Annalen 25 (1808), 173 ff. 35 Siehe II, 1 §§ 392 ff.; wenn keine Überschuldung eines der Ehegatten bei Eheschließung vorgelegen hat, haftet das Gemeinschaftsgut auch für voreheliche Schulden des jeweiligen Partners. 36 Siehe hierzu Artt. 1409 f. Code civil. 37 Art. 1575 Code civil. 30
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Zum einen zwinge niemand den Mann eine Frau zu heiraten, die sich ihr gesamtes Vermögen vorbehalte. Zum anderen könne ein solcher Vorbehalt durchaus gute Gründe - etwa die Versorgung Verwandter - haben, so dass die französische Regelung unter Umständen zu unbilligen Ergebnissen führe 38. Am krassesten aber tritt die unbillige Behandlung der Ehefrau durch das französische Recht für Klein im Scheidungsrecht zutage, das dem Mann wegen Ehebruchs der Frau stets, der Frau im umgekehrten Fall dagegen nur dann einen Scheidungsgrund zugesteht, wenn der Mann die Geliebte in die eheliche Wohnung aufnimmt 39 . Der Grund für diese Regelung - mutmaßt Klein - sei wohl darin zu sehen, dass es in Frankreich schon so zur allgemein - auch von den Frauen - akzeptierten Gewohnheit geworden sei, Mätressen zu unterhalten, dass man darin keinen Sittenverstoß mehr sehe. Es sei aber zu wünschen, dass diese Sitte nicht mit dem französischen Gesetzbuch in Deutschland eingeführt und die Regierung in Westfalen insoweit vom Code abweichen werde 40. Die Ungleichbehandlung der Frau setzt sich fort bei den Scheidungsstrafen. Während Ehebruchstrafen für Männer nicht vorgesehen sind, hat Ehebruch bei Frauen nicht nur die Scheidung und eine Vermögens-, sondern auch eine Gefängnisstrafe von drei Monaten bis zu zwei Jahren zur Folge 41 . Für Klein fällt diese Ungleichbehandlung allerdings weniger ins Gewicht als die im Scheidungsrecht, lässt sich nach seiner Ansicht die Strenge des Gesetzes gegen die Ehefrau bei Ehebruch doch durchaus rechtfertigen; „nur hätte man dieser gegen den ehebrechenden Mann die Befugnis, auf Ehescheidung anzufragen, nicht so sehr beschränken sollen" 42 . Die Ungleichbehandlung im Strafrecht erscheint ihm offenbar also erst zusammen mit der Ungleichbehandlung im Scheidungsrecht als bedenklich. Als positiv und nachahmenswert bewertet Klein dagegen die Einführung der Zivilehe 43 und die Bestimmungen, durch die leichtfertige einverständliche Scheidungen verhindert werden sollen 44 , d.h. die Regeln, dass derartige Scheidungen erst nach zweijähriger Ehedauer erfolgen dürfen, dass der Ehemann
38
Zum Ganzen Annalen 25 (1808), 178 f. Artt. 229 f. Klein verweist dabei, Annalen 25 (1808), 179 f. darauf, dass es zwar richtig sei, dass die Ehefrau im Hinblick auf die Keuschheit noch größere Verpflichtungen habe. Das ALR habe deshalb in II, 1 § 671 festgesetzt, dass die Frau, die sich des Ehebruchs schuldig gemacht habe, dem Scheidungsbegehren des Mannes nicht entgegenhalten könne, auch er habe Ehebruch begangen. Es wäre hart, den Mann zu nötigen, fremde Kinder als die Seinigen zu ernähren. Dass die Frau aber, wenn sie treu sei, gar nicht auf Scheidung antragen könne, sei gewiss unbillig. 40 Annalen 25 (1808), 180. 41 Annalen 25 (1808), 189 f. 42 Annalen 25 (1808), 190. 43 Annalen 25 (1808), 180 f. 44 Annalen 25 (1808), 187 ff. 39
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dabei 25 und die Frau 21 Jahre alt sein muss, dass die Zustimmung der Eltern erforderlich und eine Wiederverheiratung erst nach drei Jahren möglich ist 45 . Bedenklich erscheint es ihm allerdings, dass eine einverständliche Scheidung nicht mehr möglich ist, wenn die Ehe zwanzig Jahre gedauert hat oder die Ehefrau über 45 Jahre alt ist 46 , und weiterhin, dass eine neuerliche Ehe zwischen einmal Geschiedenen nicht mehr geschlossen werden kann 47 . In beiden Fällen sieht Klein offenbar die Entscheidungsfreiheit der Betroffenen als in unbilliger Weise beschränkt an; im ersten, weil auch nach langer Ehedauer oder auch dann, wenn die Frau 45 Jahre alt geworden sei und deshalb in einer neuen Ehe wohl keine Kinder mehr bekommen könne, der Trennungswunsch billigenswerte Gründe haben könne 48 ; im zweiten, weil es möglich sei, dass die Gründe der einverständlichen Scheidung inzwischen entfallen sein könnten49. Eine weitere familienrechtliche Regelung des Code civil, die aus Kleins Sicht den der preußischen Gesetzgebung zugrunde liegenden Prinzipien nicht entspricht, ist die über die Rechte des Vaters am Kindesvermögen. Nach französischem Recht endet die väterliche Gewalt mit der Volljährigkeit des Kindes, d.h. mit dem 21. Lebensjahr 50. Den Nießbrauch am Kindesvermögen verliert der Vater aber bereits, wenn das Kind 18 Jahre alt wird 51 . Er hat es dann wie ein Vormund zu verwalten und ist rechnungslegungspflichtig. Nach preußischem Recht muss der Vater dagegen das Kind aus seiner Gewalt entlassen52 und behält bis dahin den Nießbrauch an dessen Vermögen 53 , was Klein damit erklärt, dass dies ein gerechter Ausgleich dafür sei, dass der Vater für das seiner Gewalt unterworfene Kind zu sorgen und aufzukommen habe und die Kosten hierfür den Vorteil aus dem Nießbrauch zumeist überstiegen 54. Für ihn ist die Regelung ein neuerlicher Beleg dafür, dass die preußische Gesetzgebung eher als die französische darauf zielt, Sittlichkeit und Recht in Übereinstimmung zu bringen 55 . Man sei zwar - so meint er in augenscheinlicher Bezugnahme auf Kant - weit davon entfernt gewesen, Zwangs- und Gewissenspflichten miteinander zu verwechseln und Tugend mit Gewalt erzwingen zu wollen. Man habe aber versucht, die einmal eingeführten guten Sitten durch Gesetze zu unterstüt45
Artt. 275, 276, 278, 297 Code civil. Art. 277 Code civil. 47 Art. 295 Code civil. 48 Annalen 25 (1808), 187 f. 49 Annalen 25 (1808), 189. 50 Artt. 372, 488 Code civil. 51 Art. 384 Code civil. 52 Vgl. hierzu I I 1 §§ 210-213 (Aufhebung beim volljährigen Sohn); §§ 214 ff. (Regelungen bzgl. des minderjährigen Sohns), §§ 228-230 (Regelungen bzgl. der Tochter). 53 I I 1 §§ 168; 231 ALR. 54 Annalen 25 (1808), 191. 55 Hierzu und zum Folgenden Annalen 25 (1808), 192 f. 46
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zen, soweit dies ohne Verletzung der Rechte möglich gewesen sei. Der erste Grund der Sittlichkeit aber werde durch die Ehrfurcht der Kinder gegen die Eltern gelegt. Dies erkenne zwar auch das französische Recht an, es sorge jedoch nicht ausreichend dafür, alle Kollisionen aus dem Weg zu räumen, die ein gutes Eltern-Kind-Verhältnis stören könnten. Hierzu komme es aber, wenn der 21-jährige Sohn sich, auch wenn er noch des väterlichen Unterhalts bedürfe, als rechtlich selbständig betrachte und dem Vater wie einem Fremden gegenübertrete. Noch schlimmer sei, dass der Vater mit dem 18ten Jahr den Nießbrauch am Sohnesvermögen verliere, also zu einer Zeit, in der der Sohn am teuersten werde und die Nutzung seines Vermögens die vom Vater zu tragenden Lasten meistenteils aufwöge. Ende aber der Nießbrauch mit dieser Periode, so falle ins Auge, dass dem Vater vermittels des Nießbrauchs ein Vorteil zugewandt werde, der mit seinen Lasten in keinem Verhältnis stehe. Als letzten Bereich, in dem preußisches und französisches Recht „beträchtlich" auseinander gehen, nennt Klein die Regelungen „in Ansehung der unehelichen Kinder" 56 . Die preußische Regelung erkläre sich aus dem Ziel des Gesetzgebers, den Kindsmord zu verhindern. Die außerhalb der Ehe Geschwängerte werde begünstigt, um sie davon abzuhalten, ihre Leibesfrucht aus Verzweiflung zu töten. Man könne zwar darüber streiten, ob man dabei nicht zu weit gegangen sei, zumal uneheliche Kinder dem Staat nur unwesentlichen Gewinn brächten und häufig dann doch stürben, weil sie schlecht gepflegt würden. Gewiss sei jedoch, dass der Staat keine Bestimmungen erlassen dürfe, durch die Kindsmorde veranlasst würden, zu denen es sonst nicht käme. Dies sei aber - damit nimmt Klein das französische Recht in den Blick - der Fall, wenn man die Geschwächte mit der Sorge für das Kind allein lasse und den Schwängerer von aller Verbindlichkeit freispreche. Dessen Gewissenspflicht, für das Kind zu sorgen, sei nicht zu bezweifeln und bislang durch die Gesetze aller Nationen anerkannt. Lediglich das französische Recht mache nun hiervon eine Ausnahme und stelle den Grundsatz auf: „la recherche de la paternite est interdite". Die hierfür vorgebrachten Gründe halten denn auch einer Überprüfung durch Klein nicht stand57 und vermögen an der Ungerechtigkeit des Gesetzes, das die Geschwängerte ohne jedes Rechtsmittel gegen den Schwängerer stellt, nichts zu ändern. Angesichts der zum Teil herben - wenn auch überwiegend sachlich vorgetragenen - Kritik am Code civil und obwohl nach seinen Ausführungen das ALR als das vorzugswürdigere - weil stärker der Billigkeit und dem Einklang von Recht und Sittlichkeit verpflichtete - Gesetzbuch erscheint, endet Kleins Abhandlung überraschend moderat mit dem den eigenen Standpunkt wie auch die Vorzüge des ALR relativierenden Resümee: 56 57
Annalen 25 (1808), 197 ff. Hierzu eingehend Annalen 25 (1808), 199 ff.
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„Wie man auch immer über den Unterschied der preußischen und französischen Gesetzgebung denken mag, so wird man darin übereinstimmen, dass, wenn die eine oder die andere oder beide fehlerhaft wären, dieser Fehler bei der preußischen in einer zu ängstlichen, und bei der französischen in einer zu geringen Sorgfalt bestehen würde" 58 .
2. Französisches und preußisches Zivil- und Zivilprozessrecht Die zweite Abhandlung Kleins folgt der ersten in den Annalen von 1808 unmittelbar nach und will diejenigen, die mit nach französischem Recht lebenden Nachbarn zu tun haben, sowie die nunmehr den französischen Gesetzen unterworfenen Einwohner des Königreichs Westphalen mit den „bei dem gewöhnlichen Verkehr vorkommenden Unterschiede" zwischen dem französischen und dem preußischen Zivilrecht bekannt machen59. Angesprochen werden in unterschiedlicher Breite: Formvorschriften, das Hypothekenrecht, Regelungen des Kauf-, Miet- und Pachtrechts, Spiel und Wette, Teile des Handels- und Gesellschaftsrechts, das Wechsel-, See- und Assekuranzrecht, die Bankrottiergesetze, der Konkursprozess, das Testament, das Pflichtteilsrecht, die gesetzliche Erbfolge und das Erbrecht des nichtehelichen Kindes. Dabei begnügt sich Klein nicht selten damit, ohne Wertung auf die Besonderheiten des französischen Rechts hinzuweisen oder lässt offen, ob der französischen oder der preußischen Regelung der Vorzug zu geben ist 60 . Auch hier moniert er aber mehrfach, dass die französischen Bestimmungen lückenhaft und unvollständig seien61, und gibt, wenn er sich wertend äußert, überwiegend den preußischen Regelungen den Vorzug. Kritisch sieht er vor allem die - z.T. aus dem Beweisrecht resultierenden - Formvorschriften 62 des französischen Rechts, das Hypothekenrecht 63, die Regelungen über Spiel und Wette 64 , die Bestimmung, dass im Eviktionsfall der Käufer vom Verkäufer auch dann vollen Wertersatz
58
Annalen 25 (1808), 204. Annalen 25 (1808), 205-232, 205. 60 So setzt er sich eingehend damit auseinander, dass nach französischem Recht der Verkäufer sich auf die laesio enormis berufen kann, während in Preußen dieses Recht nur dem Käufer zusteht. Er nennt dabei zwar die Gründe, die aus seiner Sicht eher für die preußische Regelung sprechen, lässt aber letztlich offen, ob der französischen oder der preußischen der Vorzug zu geben ist; vgl. Annalen 25 (1808), 210-214. Hinsichtlich der französischen Regel, dass das Wechselakzept auch auf eine geringere als die angewiesene Summe erfolgen kann, nennt er die Gründe, warum das preußische Recht dies den Handelsbräuchen entsprechend nicht vorsieht, führt aber zugleich auch an, was für die französische Regelung spricht; vgl. Annalen 25 (1808), 222 f. 59
61 So etwa Annalen 25 (1808), 215 (zu Miete und Pacht), 218 (zum Auftrag), 222 (zum Wechselrecht), 223 (zum See- und zum Assecuranzrecht). 62 Annalen 25 (1808), 205 ff. 63 Annalen 25 (1808), 208 ff. 64 Annalen 25 (1808), 216 ff.
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für die Kaufsache verlangen kann, wenn er deren Wert verschlechtert hat 65 , sowie die Vorschrift, dass der Mieter für Brandschäden einzustehen hat, wenn er sein mangelndes Verschulden nicht beweisen kann 66 . Als musterhaft und zweckmäßig stellen sich demgegenüber die französischen Bankrottiergesetze und die Regelung des Konkursverfahrens dar 67 und auch die Anerkennung des privatschriftlichen Testamentes trifft - wenn auch nicht einschränkungslos auf seine Sympathie68. Der dritte, 1809 erschienene, Beitrag 69 war ebenfalls bereits 1808 fertig gestellt 70 und hat, gewissermaßen als Fortsetzung des zweiten, die Unterschiede im Prozessrecht im Blick. Hier fällt das Urteil Kleins ähnlich kritisch aus wie in seiner ersten Abhandlung. Ähnlich wie dort den Code civil nimmt er hier zunächst den Code de procedure als Ganzes in den Blick. Dieser verdient aus seiner Sicht zwar den Vorzug vor der Gerichtsordnung von 1667, jedoch hätte er das Wesen des ganzen Prozesses schärfer ins Auge fassen und die Prozessform mehr im Einzelnen als im Ganzen behandeln müssen, weil sich für den, der den französischen Prozess nicht kenne, der Gang des Verfahrens aus dem Code de procedure nicht erschließe. Auch der Gerichtsordnung wirft Klein ferner eine „barbarische" Kunstsprache vor, die die Verständlichkeit noch erschwere 71. Positiv fällt für ihn ins Gewicht, dass man aus bloßer Neuerungssucht keine unnützen Änderungen vorgenommen habe. Allerdings - so wendet Klein sogleich den Spieß wieder um - dürfe die Scheu vor Neuerungen den Gesetzgeber nicht davon abhalten, das Ganze „mit philosophischem Blick" zu überschauen und statt eines Flickwerks ein vollständiges System zu liefern. Voraussetzung sei dabei allerdings, dass er den Geist der alten Form richtig erfasse und nicht nur aus Neuerungssucht ohne Not ein neues System aufstelle. Auch dürfe er sich nicht davon abhalten lassen, das Gute aus dem alten System in das Neue zu übertragen 72. Diese Prinzipien sieht Klein anders als in der französischen in der preußischen Zivilprozessordnung erfüllt, die aus seiner Sicht von einem „gewissen Geist" geprägt ist, den „man eher bei einer kühn aufstrebenden als einer alte Gebräuche verehrenden Nation vermutet haben würde". Die preußische Prozessform sei eine ganz neue Schöpfung und in ihrem ganzen
65
Annalen 25 (1808), 214. Annalen 25 (1808), 215 f. 67 Annalen 25 (1808), 224 f. 68 Annalen 25 (1808), 226 f. Als vorteilhaft stellt er ferner heraus, dass Streitigkeiten unter Gesellschaftern in erster Instanz vor Schiedsgerichten ausgetragen werden; zu den Handelsgerichten äußert er sich hier wie in der Abhandlung über das Prozessrecht (siehe im Anschluss) nicht weiter. 69 Annalen 26(1809), 68-108. 70 Vgl. Annalen 25 (1808), Vorwort, V. 71 Annalen 26(1809), 68. 72 Annalen 26(1809), 68 f. 66
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Wesen so einfach, dass man sich frage, warum man damit so viele „Alphabetic" gefüllt habe.73 Die unterschiedliche Vorgehensweise in der Zivilprozessgesetzgebung in Frankreich und Preußen markiert für Klein einen charakteristischen Unterschied zwischen beiden Nationen. Hiernach hat der „unermüdete Fleiß" der Deutschen, „immer weiter in das Wesen der Dinge einzudringen", zu einer „philosophischen Ansicht der gerichtlichen Prozedur" geführt. Dies gilt besonders für Preußen, wo sich die Justiz nicht hinter dem Ansehen und der Macht der Justizleute verstecken konnte, die Landesherren sich besonders um eine reine Rechtspflege kümmerten, aber auch wie sonst in Deutschland die Neigung herrschte, eine vollständige Theorie alles Wissenswürdigen aufzustellen, und das System des Prozesses in allen seinen Gliedern vollständig auszuarbeiten 74 . Als Beleg hierfür schildert Klein die Justizreformen unter Friedrich II. 7 5 und das stetige Arbeiten an der Ergänzung und Vervollständigung des Verfahrensrechts 76. Genau betrachtet enthalte und vermittle die Einleitung der preußischen Prozessordnung in den §§ 25-67 den ganzen Umfang des Verfahrens, während alles, was in den folgenden „viertehalb Alphabethen" folge, nur Kommentar zu diesem Text sei, der notwendige Vertiefungen, Ausnahmen und später als erforderlich erkannte Ergänzungen liefere 77. Nach dieser Gesamtbetrachtung folgt die Auseinandersetzung mit den Unterschieden im Detail. Ausgehend von einem Überblick über den von der Inquisitionsmaxime geprägten preußischen Verfahrensgang, den dabei den einzelnen Mitgliedern des Richterkollegiums zufallenden Aufgaben und die Rolle der an die Stelle der Advokaten getretenen Justizkommissare 78, legt Klein die Besonderheiten des französischen Prozessrechts dar 79 . Behandelt werden im Einzelnen: die Regelung über die Klärung von Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Richterkollegiums, das Prinzip der öffentlichen Verhandlung, die Regel, dass der Richter nach seinem Ermessen der Partei das Wort verbieten kann, wenn er meint, dass Leidenschaft oder mangelnde Erfahrung sie hindert, mit Anstand zu sprechen, die Regelungen über die Vorladung, Bestimmungen des - im Code civil geregelten - Beweis- und Vollstreckungsrechts sowie die ebenfalls im Code civil getroffenen Regelungen über das Vermögen eines Abwesenden. Dabei stoßen die französischen Bestimmungen bei Klein durchweg auf Bedenken bzw. stellen sich aus seiner Sicht die entsprechenden preußischen Regelungen durchweg als
73 74 75 76 77 78 79
Annalen 26 (1809), 69. Zum Ganzen Annalen 26 (1809), 70 f. Annalen 26 (1809), 70 ff. Annalen 26 (1809), 73 ff. Annalen 26 (1809), 7o f., siehe auch 75 f. Annalen 26(1809), 73-82. Annalen 26(1809), 82-107.
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vorzugswürdig dar. So lehnt er das Öffentlichkeitsprinzip zwar grundsätzlich nicht ab, hält es im Zivilprozess aber eher für nachteilig als vorteilhaft, weil das Verfahren verteuert würde, es in der letzten, wichtigsten Instanz wegen der Fülle der Fälle kaum durchführbar sei, zivile Fälle das Publikum kaum interessierten und nicht zuletzt, weil sich der Richter durch die Stimmung im Publikum bei der Entscheidung beeinflussen lassen könnte 80 . Die Regelung, wonach dann, wenn sich im Richterkollegium mehr als zwei Meinungen gegenüber stehen, die schwächste Partei einer der anderen folgen muss, hält er entgegen, sie zwinge den Richter dazu, sich für etwas auszusprechen, das er für Unrecht halte; würden demgegenüber die zu entscheidenden Fragen hinreichend von einander abgesondert, müsste stets eine absolute Mehrheit zu erreichen sein81. Im Beweisrecht kritisiert er vor allem, dass bei Geschäftsgegenständen im Wert über 150 Francs sowohl in Bezug auf die Höhe als auch hinsichtlich des Verpflichtungsgrundes kein Zeugenbeweis zulässig ist 82 und ferner, dass die Zeugenvernehmung in Anwesenheit der Parteien stattfindet, weil dies die Zeugen bei ihrer Aussage beeinflussen könne, was nicht der Fall sei, wenn - wie im preußischen Recht - nur die Parteibeistände anwesend seien83. Die preußischen Regelungen über die Vorladung schließen aus Kleins Sicht gegenüber den französischen eher aus, dass jemand in Abwesenheit verurteilt wird, weil er vom Prozess nichts weiß, da der Ladungszugang von der Partei bestätigt und die Ablehnung der Annahme protokolliert werden muss und so eine Unterschlagung der Ladung durch das Gerichtspersonal ausgeschlossen ist 84 . Die französischen Vollstreckungsregeln begünstigen für Klein zu sehr den Schuldner, weil die Vollstreckung einen Tag zuvor angekündigt werden muss, bestimmte Gegenstände für unpfändbar erklärt und der Personalarrest durch zu weitgehende Schutzvorschriften zugunsten des Schuldners eingeschränkt sei 85 . Die preußischen Regelungen über die Behandlung der Vermögen Abwesender schließlich haben eher die Interessen des Abwesenden und die französischen dagegen vornehmlich die Interessen der Vermögensnachfolger im Blick, wobei Klein letztendlich der preußischen den Vorzug gibt 86 . Als gelungen, da gegenüber dem preußischen sehr vereinfacht, wird demgegenüber auch hier der französische Konkursprozess hervorgehoben 87. Auch in Preußen steht nach Kleins Meinung allerdings nicht alles zum Besten. Seine Kritik richtet sich insoweit aber nicht gegen die Regelung des Verfahrens selbst, als vielmehr gegen die 80 81 82 83 84 85 86 87
Annalen Annalen Annalen Annalen Annalen Annalen Annalen Annalen
26(1809), 26 (1809), 26 (1809), 26 (1809), 26 (1809), 26 (1809), 26 (1809), 26 (1809),
88 f. 83 ff. 95 f; siehe dazu auch Annalen 25 (1808), 205 ff. 94 ff. 92 ff. 98 ff. 102 ff. 102; ausführlicher dazu Annalen 25 (1808), 225 f.
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Bequemlichkeit der Richter, die aus seiner Sicht zu wenig von der Möglichkeit Gebrauch machen, auf die Anwesenheit der Parteien zu bestehen, und nicht zuletzt die wichtige Aufgabe der Parteiinstruktion den Referendaren überlassen88. Die Abhandlung endet mit der Feststellung, dass der preußischen Prozedur, auch wenn die Verwaltung des Richteramtes ungleich mühsamer sei als in Frankreich und einen höheren Grad an Ausbildung und damit höher bezahlte Richter verlange, im Durchschnitt gesehen der Vorzug gebühre 89. Die französische Prozessordnung enthält nach Kleins Ansicht zwar auch „viel Nachahmungswürdiges", wobei offen bleibt, was er damit über das von ihm gelobte Konkursrecht im Blick hat. Er schränkt seine Aussage denn auch sofort mit dem Postulat ein, man müsse sich vor blinder Nachahmung des Ausländischen hüten, „damit der eigentümliche zur gründlichen Erforschung der Wahrheit unentbehrliche Gang des preußischen Prozesses nicht verloren gehe, oder durch ungleichartige Nebensprünge entstellt werde" 90 .
I I I . Christoph Goßler 1. „Über den Code Napoleon" (1808) Wie Klein mit seinen beiden letzten Beiträgen zur französischen Gesetzgebung geht es auch Goßler mit der 1808 in zwei Teilen erschienen Abhandlung „Über den Code Napoleon" 91 darum, das Laienpublikum angesichts des sich stetig ausweitenden Geltungsbereichs des französischen Rechts mit dessen Inhalt bekannt zu machen92. Wie die Anlage der Darstellung und das unvermittelte Ende des zweiten Teils vermuten lassen93, waren ursprünglich wohl noch weitere Fortsetzungen geplant, zu denen es nicht mehr gekommen ist. Nach einleitenden Anmerkungen zum Code Napoleon und den vorangegangenen Gesetzbüchern Friedrichs des Großen und Josephs II. sowie zum Unterschied zwischen diesen Kodifikationen und dem Corpus iuris civilis 94 nennt Goßler zu Beginn der eigentlichen Auseinandersetzung mit dem Code die Voraussetzungen, die seiner Ansicht nach gute Gesetzgebung erfüllen muss. Ein
88
Annalen 26 (1809), 91 f. Annalen 26(1809), 107. 90 Annalen 26(1809), 107 f. 91 Berlinische Monatsschrift, 1808, 1. Halbbd., 321-344; 2. Halbbd., 225-249. 92 Berlinische Monatsschrift, 1808, 1. Halbbd., 332. 93 Der zweite Teil des Beitrags bricht nach Darstellung der Einleitung des Code sowie der ersten Art. des Personenrechts abrupt ab, Berlinische Monatsschrift, 1808, 2. Halbbd., 249. 94 Berlinische Monatsschrift, 1808, 1. Halbb. 321-324. Mit dem Gesetzbuch Josephs II. ist wohl das Fragment gebliebene „Josephinische Gesetzbuch" (1 .Teil des Bürgerlichen Rechts) publiziert 1.11.1786 gemeint. 89
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guter Gesetzgeber hat danach von der Philosophie des Rechts auszugehen. Ein gutes Gesetzbuch ist dementsprechend seiner Natur nach ein mit philosophischem Geist auf einen gegebenen Staat hin angewandtes System des Rechts. Hieraus ergebe sich von selbst, dass alle guten Gesetzbücher in den Hauptpunkten notwendigerweise Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen aufwiesen 95. Ob er den Code Napoleon in diesem Sinn für ein gutes Gesetzbuch hält, lässt Goßler zwar offen, darf aber vermutet werden, weil er im weiteren Verlauf der Abhandlung hervorhebt, dass er an vielen Stellen mit dem ALR übereinstimme 96 . Weiterhin ist es für die Gesetzgebung nach Goßler von Vorteil, wenn der Gesetzgeber sich auf die Arbeiten und Erfahrungen seiner Vorgänger stützt, das Gute beibehält und die Fehler vermeidet, um so das Ganze weiter bis zur Vollendung hinauf zu steigern 97. Diesem Prinzip ist man aus seiner Sicht bei der französischen Gesetzgebung „mit Weisheit" gefolgt, wobei er unterstreicht, dass man auch - wie öffentlich bekundet - auf das ALR Rücksicht genommen habe. Worauf sich Goßler bei dieser (unzutreffenden) Aussage stützt, bleibt unklar und ebenso offen bleibt, ob Goßler von der in den Materialien zum Code civil am ALR geübten Kritik nichts weiß, ob er sie übersehen hat oder sie geflissentlich verschweigt 98. Im Folgenden stellt er heraus, dass die Umstände für den Erlass eines Gesetzbuches in Frankreich besonders günstig waren. Dies gilt für die Vorgehensweise bei der Erarbeitung des Code, an der die vortrefflichsten Männer einer der aufgeklärtesten Nationen und Napoleon selbst beteiligt waren 99. Dies gilt vor allem aber für den Zeitpunkt, der vorteilhafter gewesen ist, als er jemals für einen Gesetzgeber war. Zum einen sehnte sich Frankreich am Ende der Revolution wegen der anarchischen Verhältnisse nach Ruhe und einem gesetzmäßigen Zustand, so dass an die Stelle der sonst üblichen Abneigung gegenüber Reformen eine willige und freudige Akzeptanz des neuen Zivilgesetzbuches und der Neuordnung der Gerichte getreten war. Zum anderen und nicht zuletzt aber war Napoleon bei seiner Gesetzgebung völlig frei, weil alle Verfassungen, Privilegien und Gerechtsame, auf die ein Gesetzgeber in einem ruhigen Staat Rücksicht zu nehmen hat, durch die Revolution hinweggefegt worden waren. Im Gegensatz zum Gesetzgeber in einem ruhigen Staat, der das vorhan-
95
Berlinische Monatsschrift, 1808, 1. Halbbd., 324. Siehe im Folgenden. 97 Berlinische Monatsschrift, 1808, 1. Halbbd., 325. 98 Berlinische Monatsschrift 1808, 1.Halbbd., 325. Das ALR ist zwar durch das „bureau de legislation etrangere" in den Jahren 1800 bis 1802 einschließlich der abweichenden Bestimmungen des AGB von 1791 übersetzt worden, hat aber auf die Redaktion des Code civil so gut wie keinen Einfluß gehabt; vgl. Schubert, Französisches Recht (Fn. 1), 19 f. 99 Berlinische Monatsschrift, 1808, 1. Halbbd., 325 f. 96
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dene Gebäude nur ausbessern kann, konnte Napoleon ein völlig neues errichten und jeden guten neuen Gedanken zur Ausführung bringen 100 . Bei der Beurteilung des dabei erzielten Ergebnisses beschränkt sich Goßler ausdrücklich auf allgemeine Anmerkungen 101 . Nach seiner Überzeugung enthält der Code viel Gutes, das anderen Staaten zur Nachahmung dienen könnte. Dies gilt allerdings nicht einschränkungslos, sondern setzt voraus, dass die in den Staaten bestehenden Verfassungen 102 die Nachahmung erlauben. Als besondere Qualitäten des Code führt Goßler in diesem Zusammenhang keine inhaltlichen Aspekte an, sondern nennt lediglich die Ziele, die das Gesetzbuch im Blick hat und denen letztlich jedes Zivilgesetzbuch verpflichtet sein sollte: abgesehen von tiefen Einblicken in das Innere der Staatsmaschinerie zeichne den Code „das beständige Hinarbeiten auf Ordnung in den Familien, auf Gewissheit des Eigentums, auf Förderung der Landwirtschaft und der Gewerbe, auf Erleichterung der Geschäfte und Sicherung ihres Erfolgs, auf Erhaltung des Kredits, auf schnelle Verfolgung und Bestrafung böser Schuldner" aus 103 . Dies bedeute allerdings nicht - so stellt Goßler sogleich klar - , dass dadurch die preußische Gesetzgebung ihren anerkannten Wert verliert; dies schon deshalb nicht, weil sie - hier macht sich die oben angeführte Einschränkung geltend - den preußischen Bedürfnissen, den dort bestehenden Verfassungen und den dortigen wohlhergebrachten Gerechtsamen angepasst ist 104 . Zudem hat die preußische Gesetzgebung der französischen einiges voraus. Sie ist vollständiger und es gibt die Gesetzkommission, die Unklarheiten, Zweideutigkeiten und Lücken im Gesetz beseitigt, so der Verwirrung des Rechts vorbeugt und das Gesetz der Vollkommenheit näher bringt. In Frankreich ist man insoweit dagegen auf das römische Recht verwiesen 105. Das ALR stellt sich darüber hinaus als in Sprache, Methode und System harmonisches Ganzes dar, weil Svarez nicht nur die wichtigsten Abschnitte verfasst, sondern auch die gesamte Schlussredaktion besorgt hat 106 . Der Code civil ist demgegenüber abschnittsweise erlassen und durch weitere Gesetzbücher ergänzt worden mit der Folge, dass die vielen Teile das Gepräge ihrer Verfasser tragen und sich deshalb in Stil und Methode unterscheiden. Zudem fehlt es dem Code an einem einheitlichen System, weil auf der einen Seite vieles in ihn eingearbeitet ist, was an sich ins 100
Berlinische Monatsschrift, 1808, 1. Halbbd., 326 f. Berlinische Monatsschrift, 1808, 1. Halbbd., 327. 102 Goßler verwendet den Begriff „Verfassung/Verfassungen" weit, i.S. von Rechtszuständen, Rechts- und Gesellschaftsordnung. Zum weiteren Verfassungsbegriff siehe auch Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, 3. Aufl., 1975, 163 m.w.N. 103 Berlinische Monatsschrift, 1808, 1. Halbbd., 327. 104 Berlinische Monatsschrift, 1808, 1. Halbbd., 328. 105 Ebenda. 106 Berlinische Monatsschrift, 1808, 1. Halbbd., 329 f. 101
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Verfahrensrecht gehört, er auf der anderen Seite aber von bestimmten - in anderen Codes geregelten - Teilen getrennt ist 107 . Der Code civil muss deshalb stets zusammen mit dem Code de commerce und dem Code de procedure gesehen werden, weil diese sich aufeinander beziehenden Teile erst durch einen sorgfältigen Vergleich Deutlichkeit gewinnen. Bei einer isolierten Betrachtung des Code civil ist demgegenüber vieles falsch oder gar nicht zu verstehen 108. Wie Klein hebt Goßler ferner als besonderen Vorzug des ALR hervor, dass es anders als der Code in den ersten acht Titeln die allgemeinen Grundsätze des Rechts vorausschickt, die das Fundament des ganzen Gebäudes und die Gewähr für dessen Dauer seien. Sie müssten zur Vermeidung von Wiederholungen bei sämtlichen Materien vorausgesetzt werden und ohne sie bleibe die Gesetzgebung so unsicher wie unvollkommen 109 , womit indirekt gesagt ist, dass dies beim Code civil der Fall ist. Wie Klein bemängelt Goßler schließlich die Kunstsprache des Code, die den Laien zwinge, bei Rechtsgelehrten Rat zu suchen110, und wie jener verweist er darauf, dass der Code nur scheinbar kürzer als das ALR sei. Rechne man hinzu, was im ALR mitbehandelt, im französischen Code dagegen ausgelassen und in anderen Gesetzbüchern behandelt sei, so stelle sich die französische Gesetzgebung als nicht weniger umfänglich dar als die preußische 111. Der erste Teil der Abhandlung endet mit einer Einführung in die französische Gerichtsverfassung und das Zivilprozessrecht, wobei sich Goßler den französischen Neuerungen gegenüber in weitem Maße aufgeschlossen zeigt. So begrüßt er die Trennung zwischen Zivil- und Strafgerichtsbarkeit sowie die Unterscheidung von Verbrechen und Vergehen und empfiehlt beides Preußen zur Nachahmung112. Ferner erscheint es ihm als vorteilhaft, dass das französische Recht auf dem Gebiet der Zivilgerichtsbarkeit nur mehr zwei Gerichtszweige kennt: für Handelssachen die mit Sachverständigen besetzten Handelsgerichte 113 und für alle übrigen Zivilsachen die ordentlichen Gerichte, die für jedermann ungeachtet seines Standes zuständig sind 114 . Da hiernach jeweils nur der jeweilige Streitgegenstand über das anzurufende Gericht entscheidet und es weder besondere Standes- noch Patrimonial- noch besondere Gerichte für einzelne Zweige der Staatverwaltung gibt, ist in Frankreich die in Preußen „so verworrene Lehre von der Gerichtsbarkeit sehr vereinfacht und jeder weiß, an
107 108 109 110 111 112 113 114
Berlinische Monatsschrift, 1808, 1. Halbbd., 329. Berlinische Monatsschrift, 1808, 1. Halbbd., 335. Berlinische Monatsschrift, 1808, 1. Halbbd., 330. Berlinische Monatsschrift, 1808, 1. Halbbd., 334. So im zweiten Teil der Abhandlung, Berlinische Monatsschrift, 1808, 2. Halbbd. Berlinische Monatsschrift, 1808, 1. Halbbd., 335 f. Hierzu eingehend Berlinische Monatsschrift, 1808, 1. Halbbd., 337 f. Berlinische Monatsschrift, 1808, 1. Halbbd., 326; zum Instanzenzug, 338 ff.
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welchen Richter er sich zu wenden hat" 115 . Die Regelung des Zivilprozesses hat nach Goßlers Ansicht große Ähnlichkeit mit der preußischen 116, ist aber - zumal es nur zwei Instanzen gibt - darauf angelegt, das Verfahren insgesamt kürzer und weniger weitläufig zu gestalten117. Auch dass weniger Protokolle aufgenommen und Ausfertigungen ausgegeben werden, erscheint ihm aus Zeitund Kostengründen als vorteilhaft. Für bedenklich hält er es dagegen, dass der Willkür des Richters viel Spielraum gelassen sei. Hier müsse die Erfahrung zeigen, ob Einschränkungen, „dieser sonst so gefährlichen Willkür" notwendig seien, „um die Gerechtsame der Parteien gegen Missbrauch sicherzustellen und das gerichtliche Verfahren überall gleichförmig zu machen" 118 . Auch im zweiten Teil seiner Abhandlung äußert sich Goßler zu einer Reihe französischer Regelungen anerkennend, so zum Konkursrecht 119 , das dem preußischen wegen des raschen, einfacheren und kostengünstigeren Verfahrens überlegen sei, sowie zum Notariat 120 , durch dessen Einrichtung die Gerichte auf dem Gebiet der freiwilligen Gerichtsbarkeit entlastet würden. Bei der anschließenden Behandlung des Code civil 1 2 1 , die allerdings nach Ausführungen zum Aufbau, zur Einleitung und zu den ersten Artikeln des Personenrechts abbricht, beschränkt Goßler sich demgegenüber durchweg auf die Darstellung der Regelungen und hält sich mit der Bewertung zurück. Kritisch vermerkt er jedoch, dass die Einleitung zu knapp sei und keine Regelungen über Privilegien, Gewohnheitsrechte, die Form der Bekanntmachung von Gesetzen und die Unkenntnis von Verbotsgesetzen enthalte122, und ferner, dass nach Artt. 14 und 15 des Code jeder Fall, an dem ein Franzose beteiligt sei, vor ein französisches Gericht gezogen werden könne, auch wenn es um Streitfälle im Ausland gehe und ein Ausländer betroffen sei 123 .
2. „Gedanken" über den Umgang mit dem französischen Recht in den Preußen zugefallenen Gebieten (1814) Die gleiche prinzipielle Offenheit gegenüber dem französischen Recht wie im Jahr 1808 zeigt Goßler 1814, hinsichtlich der nun anstehenden Frage, ob
115
Berlinische Monatsschrift, 1808, 1. Halbbd., 336 f. Berlinische Monatsschrift, 1808, 1. Halbbd., 342, im Folgenden wird der Prozessgang kurz vorgestellt. 117 Berlinische Monatsschrift, 1808, 1. Halbbd., 344 dort auch zum Folgenden. 118 Berlinische Monatsschrift, 1808, 1. Halbbd., 344 f. 119 Berlinische Monatsschrift, 1808, 2. Halbbd., 225. 120 Berlinische Monatsschrift, 1808, 2. Halbbd., 235 ff. Berlinische Monatsschrift, 1808, 2. Halbbd., 239 ff. Berlinische Monatsschrift, 1808, 2. Halbbd., 241. Berlinische Monatsschrift, 1808, 2. Halbbd., 247 f. 116
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und inwieweit in den nun wieder bzw. neu zu Preußen gehörenden Landesteilen preußisches Recht eingeführt werden sollte. Mit der in Form einer Denkschrift abgefassten Abhandlung 124 meldet er sich als einer der ersten zu dieser in der Folge heftig umstrittenen rechtspolitischen Fragestellung öffentlich zu Wort. Er beruft sich dabei auf die Erfahrungen und Kenntnisse, die er als Mitarbeiter des „großen Meisters Svarez" hat gewinnen dürfen 125 und setzt mit seinen Ausführungen bewusst einen Kontrapunkt zu der zuvor im selben Jahr erschienenen Schrift August Wilhelm Rehbergs „Über den Code Napoleon und dessen Einführung in Deutschland" 126 . Während dort vom konservativen Standpunkt aus gegen den Code und die auf die „gänzliche Vernichtung aller bisher bestandenen Socialverhältnisse" gerichteten „metaphysischen Principien der Freiheit und Gleichheit" Front gemacht wird, mahnt Goßler zur Besonnenheit und warnt vor einer einseitigen, parteiischen Sichtweise. Dieser Standpunkt macht sich denn auch in den drei Fragekomplexen geltend, in die er seine Überlegungen gegliedert hat: 1. Inwieweit ist es rathsam, die bisherige Justiz in den neuen Ländern umzuformen? 127 2. In welchem Zustand befindet sich die preußische Gesetzgebung und welchen Mängeln derselben müsste zunächst abgeholfen werden, bevor sie auf die neuen Unterthanen angewandt wird? 128 3. In welchen Punkten muss die bisherige Justiz in den neuen Ländern beibehalten werden? 129 Schon die Ausgangsfrage verlangt nach Goßlers Worten „eine sehr kaltblütige und sorgfältige Erwägung", sei doch jede Umformung der Justiz, d.h. der gesamten Gesetzgebung über das bürgerliche Recht, die Form der Prozesse und die Gerichtsverwaltung unvermeidlich mit schmerzhaften Eingriffen für den einzelnen Untertanen verbunden und erzeuge deshalb bei vielen ängstliche Ungewissheit, Besorgnis und Unwillen. Eine wohlwollende und weise Regierung nehme eine solch harte Operation deshalb nur vor, wenn und soweit sie durchaus oder doch von überwiegendem Nutzen sei 130 . Dabei reicht es Goßler nicht, dass die neue Rechtsverfassung, die man einführen will, als Ganzes besser ist als die bisherige. Vielmehr ist bei jeder Teilmaterie zu prüfen, ob die 124
Siehe oben Fn. 10. Gedanken (Fn. 10), 3. 126 Zu Rehberg und dessen Schrift siehe Schubert, Französisches Recht (Fn. 1), 594 f. Die Schrift Rehbergs ist Anfang 1814 erschienen. Goßlers Schrift datiert auf den Mai 1814, siehe Gedanken (Fn. 10), 61. Zu Goßlers Bewertung der Rehbergschen Schrift siehe im Folgenden bei Fn. 137. 127 Gedanken (Fn. 10), 4. 128 Gedanken (Fn. 10), 9 f. 129 Gedanken (Fn. 10), 30. 130 Gedanken (Fn. 10), 4. 125
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Abänderung von überwiegendem Nutzen ist. Steht dies nicht ganz außer Zweifel, ist von der Abänderung der jeweiligen Teile abzusehen, zumal die Untertanen an ihre bisherigen Verfassungen gewöhnt sind, sich danach eingerichtet und Erwartungen darauf gestützt haben131. Dementsprechend kommt es denn auch bei der Frage, ob die Justiz in den neuen Ländern umgeformt werden soll, nicht allein darauf an, dass - wie Goßler meint - „die französische Gesetzgebung als Ganzes nach dem Urteil der meisten Sachverständigen der preußischen nachsteht", weil sie unvollständig ist, auf eine noch gar nicht unstreitig begründete Rechtswissenschaft hinweist, dadurch eine verderbliche Unsicherheit des Rechts veranlasst und ein unabsehbares Feld für Prozesse eröffnet, außerdem „auf Deutsche nicht passt und teils paradoxe, teils undurchführbare Vorschriften enthält" 132 . Entscheidend ist vielmehr, dass sich die Sachverständigen auch darüber einig sind, dass einzelne Teile der französischen Gesetzgebung besser als die preußische sind 133 . Es ist deshalb eine Pflicht gegenüber den Untertanen, „das von ihnen bislang genossene Gute in allen einzelnen Teilen der französischen Gesetzgebung mit Sorgfalt und Kaltblütigkeit aufzusuchen, damit es ihnen nicht durch Übereilung wieder entzogen wird" 1 3 4 . Dies allein reicht Goßler allerdings nicht. Getreu seiner Aussage aus dem Jahr 1808, es sei für die Gesetzgebung vorteilhaft, wenn die Erfahrungen der Vorgänger fruchtbar gemacht würden 135 , sieht er es zugleich als Pflicht des preußischen Gesetzgebers an, auch die alten Untertanen an den guten Teilen des französischen Rechts teilhaben zu lassen136, das preußische also entsprechend zu ändern. Nach diesem Postulat, distanziert sich Goßler ausdrücklich von Rehberg 137. Dessen Werk habe die für das Glück der Nationen so wichtige Frage nicht ins rechte Licht gerückt und lasse - abgesehen von einigen scharfsinnigen Bemerkungen - die nüchterne Ruhe und die hinreichende Kenntnis und Erfahrung im Fach der Gesetzgebung vermissen. Deshalb müssten die Irrtümer Rehbergs dringend von unparteiischen Sachkennern aufgedeckt werden, damit „die verderbliche Wirkung seiner auf den Geist der Zeit berechneten Schreibart" keinen Schaden anrichten könnten, wenn es denn hierzu nicht schon zu spät sei. Die preußische Regierung jedenfalls - so ist Goßler sich gewiss - werde sich von Rehbergs
131
Gedanken (Fn. 10), 4 f. Gedanken (Fn. 10), 5 f. 133 Gedanken (Fn. 10), 6 f. 134 Gedanken (Fn. 10), 7. 135 Siehe oben zu Fn. 97. 136 Gedanken (Fn. 10), 7. 137 Gedanken (Fn. 10), 7 f. Siehe demgegenüber das Urteil Savigny s, nach dessen Auffassung die politischen Elemente des Code von Rehberg geistreich und gründlich dargestellt worden sind; vgl. Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, in: Stern (Hg.), Thibaut und Savigny. Ein programmatischer Rechtsstreit auf Grund ihrer Schriften, 1959, 69-166, 102 ff. 132
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„Deklamationen" nicht irreführen lassen und den neuen Untertanen nichts Gutes nehmen, wenn sie nicht überzeugt sei, ihnen etwas Besseres wiederzugeben138. Die zweite Frage nach dem gegenwärtigen Zustand der preußischen Gesetzgebung hängt für Goßler mit der ersten insoweit zusammen, „als sie darauf führt, das Gute der französischen Gesetzgebung nicht ohne bedächtige Prüfung zu verwerfen" 139 . Sie bereitet - wie sich zeigen wird - die Antwort auf die dritte Frage zu einem Teil vor. Seit Svarez' Zeiten hat sich aus der Sicht Goßlers die preußische Gesetzgebung sehr geändert und ist nicht mehr, was sie sein sollte 140 : Da die Gesetzkommission seit 1807 „eingeschlafen" sei, finde keine sorgfältige Prüfung der Gesetze vor deren Erlass mehr statt 141 . Neue Gesetze und Abänderungen des ALR und der Prozessordnung würden nicht hinreichend öffentlich gemacht142. Das eine wie das andere habe zu einer Gesetzesverwirrung geführt, die schon für die alten Untertanen beschwerlich, für die neuen aber unerträglich und verderblich sei 143 . Darüber hinaus hält Goßler die Gerichtsverfassung in mehreren Punkten für reformbedürftig, von denen er einige bereits in der Abhandlung aus dem Jahr 1808 genannt hat. Im Einzelnen fordert er: - die Beseitigung der Patrimonialgerichte und der damit zusammenhängenden Exemtionen (adelige Gerichtsstände) und verweist dabei darauf, dass dies schon von Svarez geplant gewesen sei 144 , - die gleichfalls von Svarez bereis ins Auge gefasste Verkleinerung der Obergerichtsbezirke, um sie für das Publikum leichter erreichbar zu machen und die Arbeitsbelastung der Richter einzudämmen145, - die Errichtung besonderer mit Kaufleuten besetzter Handelsgerichte, da es den ordentlichen Gerichten an dem bei Handelssachen erforderlichen Sachverstand fehle 146 , - die Reform des Konkursrechts 147, - die Wiedereinführung der Advokatur, zumal auch dies bereits von Svarez angedacht gewesen sei 148 ,
138 139 140 141 142 143 144 145 146 147 148
Gedanken Gedanken Ebenda. Gedanken Gedanken Gedanken Gedanken Gedanken Gedanken Gedanken Gedanken
(Fn. 10), 8 f. (Fn. 10), 10. (Fn. (Fn. (Fn. (Fn. (Fn. (Fn. (Fn. (Fn.
10), 11 ff. 10), 14 ff. 10), 16. 10), 17 f. 10), 18 ff. 10), 22 ff. 10), 24 f. 10), 25 ff.
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- die Einführung des Notariates 149, - und schließlich die Trennung der Kriminal- von den Zivilgerichten und die Unterscheidung zwischen Verbrechen und Vergehen, wobei er auf die Reformen Feuerbachs in Bayern verweist 150 . Die Antwort auf die abschließende Frage, welche Teile des französischen Rechts in den neuen Ländern beibehalten werden sollen, nimmt den breitesten Raum in Goßlers Schrift ein und ist - wie er erneut betont - durch das Bemühen um „eine leidenschaftslose und vorurteilsfreie Vergleichung der Justiz in den fraglichen Ländern und der preußischen, so wie sie jetzt ist" 1 5 1 , geprägt. Den Anfang macht der Code civil. Hier könne - meint Goßler einleitend - die Zahl der erhaltenswerten Regelungen nicht groß sein, weil das ALR weit vollständiger sei, weniger vom vormaligen Recht abweiche und besser auf die deutschen Sitten passe152. Die folgende Zusammenstellung „nachahmenswerter Punkte" fällt dann allerdings umfangreicher aus, als der Einleitungssatz vermuten läßt. Beizubehalten und für das preußische Recht vorbildhaft sind hiernach: - die Einführung der Personenstandsregister 153, - die Einführung der Zivilehe 154 , - die Rechtsbelehrung der Eheleute bei der Trauung 155 , - das Erfordernis der mütterlichen Einwilligung zur Eheschließung156, - die Regelung der Gütergemeinschaft 157, - die Bestimmungen über die einverständliche Scheidung158, - die Regelungen zur väterlichen Gewalt und den Rechten des Vaters am Kindesvermögen 159 und darüber hinaus eine Reihe einzelner Vorschriften des Code, die Goßler aufzählt, ohne näher auf sie einzugehen160. Goßler empfiehlt dementsprechend, das preußische Recht in den genannten Punkten, orientiert am französischen Recht, umzugestalten, und erst dann in den neuen Ländern einzuführen. Sollte dies zu viel Zeit in Anspruch nehmen, müssten die genannten Punkte den neuen Untertanen erhalten und im Publika149
Gedanken (Fn. 10), 27 ff. Gedanken (Fn. 10), 29 f. 151 Gedanken (Fn. 10), 30. 152 Gedanken (Fn. 10), 31. 153 Gedanken (Fn. 10), 32 f. 154 Gedanken (Fn. 10), 33 ff. 155 Gedanken (Fn. 10), 35 ff. Nach Goßler soll die Belehrung schriftlich erfolgen, deshalb hat er im Anhang den Entwurf einer solchen Belehrung angehängt; so erklärt sich der Untertitel der Schrift, siehe oben Fn. 10. 156 Gedanken (Fn. 10), 37 ff. 157 Gedanken (Fn. 10), 48. 158 Gedanken (Fn. 10), 42 ff. 159 Gedanken (Fn. 10), 49 ff. 160 Gedanken (Fn. 10), 52 ff. 150
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tionspatent, mit dem das preußische Gesetzbuch eingeführt werde, ausdrücklich bestätigt werden. 161 Hinsichtlich des Hypotheken- und Handelsrechts gebührt Goßlers Ausführungen nach dagegen der preußischen Gesetzgebung der Vorzug 162 . Der Code de commerce gelte zwar als der beste Teil der französischen Gesetzgebung, auch habe er vieles aus dem ALR übernommen, dies aber zu abgekürzt und deshalb unvollständig 163 . Da demzufolge das ALR besser sei, könne der Code de commerce in den neuen Ländern entbehrt werden. Auszunehmen sei lediglich das Konkursrecht, dessen musterhafte Regelung im Code de commerce der preußischen vorzuziehen und auf Nichtkaufleute auszudehnen sei 164 . Die Stellungnahme zum französischen Zivilprozessrecht deckt sich zum Teil mit dem zur zweiten Frage aufgestellten Katalog von Reformforderungen. So unterstreicht Goßler, dass im französischen Recht die Patrimonialgerichte und Exemtionen beseitigt seien und sich der Geschäftsgang einfacher und bequemer gestalte165. Als weiteren erhaltenswerten Vorzug nennt er die geringere Belastung der Obergerichte durch Nebengeschäfte, die zu einer schnelleren und besseren Wahrnehmung der eigentlichen Aufgaben führe. Die freiwillige Gerichtsbarkeit liege zum größten Teil in den Händen der Notare, die Exekution sei besonderen Staatsbeamten übertragen, die das Obergericht nur in schwierigen Fällen leite, und die weitläufige Verwaltung der gerichtlichen Hinterlegungen sei weggefallen 166. Seinen Beifall finden ferner die Vermeidung unnötiger Schreiberei, die Möglichkeit der Parteivernehmung durch den Gegner und nicht zuletzt die Einrichtung des ministere public 167 . Hinsichtlich des französischen Strafverfahrensrechts fällt das Urteil dagegen im Ganzen negativ aus. Ohne auf Details, insbesondere auf die Prinzipien der Öffentlichkeit, Mündlichkeit und Laienbeteiligung einzugehen, merkt Goßler an, unter Sachkennern sei ausgemacht, dass der französische Kriminalprozess erhebliche Mängel habe, wenigstens auf Deutsche nicht passe und dem preußischen nachstehe168. Er empfiehlt deshalb zwar erneut die Trennung der Strafvon den Zivilgerichten und die Unterscheidung zwischen Verbrechen und Vergehen, nennt dabei als Vorbild aber statt des französischen Rechts, das neue bayerische Strafgesetzbuch. Seien diese beiden Änderungen vollzogen und dazu besondere Inquisitoriate mit zweckmäßig eingerichteten Gefängnissen und 161 162 163 164 165 166 167 168
Gedanken (Fn. 10), 54. Zum Hypothekenrecht siehe Gedanken (Fn. 10), 59 f. Gedanken (Fn. 10), 54. Gedanken (Fn. 10), 54 f. Gedanken (Fn. 10), 56. Ebenda. Gedanken (Fn. 10), 56 ff. Gedanken (Fn. 10), 60.
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Strafanstalten geschaffen, könne die in den neuen Ländern bislang bestehende Kriminalverfassung völlig aufgehoben und die preußische eingeführt werden 169 . An eine Reform des Strafrechts nach bayerischem Vorbild denkt Goßler also augenscheinlich ebensowenig, wie ihm die politische Brisanz der Besonderheiten des französischen Strafverfahrens aufgeht. Gerade sie waren es aber, um deren Erhaltung es den Rheinländern im später entbrannten Kampf um das rheinisch-französische Recht ging.
IV. Schlussbetrachtung Bei der Auseinandersetzung mit den Unterschieden zwischen dem französischen und dem preußischen Recht haben Klein und Goßler jeweils zwei Aspekte im Blick: zum einen die Gesamtkonzeption der beiden Gesetzgebungen und zum anderen die Unterschiede in den Regelungen der einzelnen Rechtsmaterien. Sie gelangen so, auch wenn sie letztlich unter beiden Aspekten dem preußischen Recht den Vorzug geben, zu einer differenzierten Bewertung des französischen Rechts. Vermag beide auch dessen Gesamtkonzeption im Vergleich zur preußischen Gesetzgebung nicht zu überzeugen, so enthält auf der anderen Seite das französische Recht im Detail aus ihrer Sicht durchaus Nachahmenswertes, wobei sich Klein allerdings deutlich zurückhaltender und kritischer als Goßler zeigt. Bei der Bewertung der französischen und der preußischen Gesetzgebung gehen beide Autoren von den Maximen aus, die man den Forderungen der Aufklärung, nicht zuletzt Montesquieus entsprechend bei der Kodifizierung des ALR zur Richtschnur genommen hatte. Die Gesetzgebung sollte hiernach vereinheitlicht und vereinfacht werden. Insbesondere galt es, allgemeine Grundsätze aufzustellen, die Vorschriften deutlich und bestimmt, allgemeinverständlich und in der Landessprache zu fassen und sie in einem natürlichen und zusammenhängenden System anzuordnen. Das geltende Recht sollte sich so eindeutig und unmissverständlich aus dem Gesetz ergeben, dass der Rückgriff auf die Lehrmeinung von Rechtsgelehrten überflüssig war, durch Unklarheiten im Gesetz keine Prozesse provoziert wurden, der Richter seine Entscheidungen allein auf das Gesetz stützen und vor allem auch der Untertan aus ihm seine Rechte und Pflichten ersehen konnte 170 . Hieraus erklärt sich zugleich das Be169
Ebenda. Vgl. zum Ganzen die Kabinettsorder vom 14.4.1780, in: Novum Corpus Constitutionum Prussico-Brandenburgensium, Bd. 6, 1935 ff., Nr. 13, 1939 ff.; in Auszügen abgedruckt bei Conrad , Die geistigen Grundlagen des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten von 1794 (Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westphalen, Geisteswissenschaften, Heft 77), 1958, 13 ff., Fn. 9. Siehe ferner Svarez, Die Kronprinzenvorlesungen 1791/1792, 2. Teil. Das positive preußische Recht, hg. v. Krause (Svarez , Gesammelte Schriften, hg. v. Krause, Erste Abteilung, Eigene Werke, Bd. 4.2), 570 f., 575; ebenso Svarez , Vorträge über Recht und Staat, hg. v. Con170
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mühen des ALR um möglichst vollständige und lückenlose Regelungen. Es hatte zwar eine bis ins kleinste Detail gehende und die Untertanen durchaus gängelnde Kasuistik und zudem eine Weitläufigkeit des Gesetzes zur Folge, die - worüber man sich durchaus im Klaren war - den gemeinen Mann eher von dessen Lektüre abschrecken, denn dazu einladen musste. Man sah aber gerade in der bis ins Detail gehenden Regelung eine Garantie der bürgerlichen Freiheit gegenüber richterlicher Entscheidungsfreiheit. Über die den Untertanen zukommenden Rechte und Pflichten hatte der Gesetzgeber, nicht der Richter, zu entscheiden, dem ansonsten die Rolle des Gesetzgebers zugefallen wäre 171 . Von diesem Blickwinkel aus gesehen, erscheint beiden Autoren die Konzeption des Code civil gegenüber der des ALR deutlich schwächer. Ihm fehlten das „in philosophischem Geist" gründende einheitliche System und die harmonische Geschlossenheit des Ganzen, weil er sukzessive erlassen wurde, bestimmte Teile des Zivilrechts, die in das ALR integriert sind, in anderen Gesetzbüchern regelt, vor allem aber, weil ihm keine allgemeinen Grundsätze voran geschickt sind, die es dem ALR ermöglichen, den Rückgriff auf das römische und andere Rechte zu untersagen und ohne die eine Gesetzgebung „unsicher und unvollkommen bleiben muss". Dies und die auch sonst das Gesetzbuch prägende Unvollständigkeit der Regelungen zwingt Rechtsgelehrte und Rechtsanwender dazu, ihre Kenntnisse wo anders zu suchen und bietet ihnen damit Freiräume und Einflußmöglichkeiten, die die preußische Gesetzgebung gerade auszuschließen sucht. Dass dies auf französischer Seite durchaus bewußt geschehen ist, weil man im Code civil nur die allgemeinen Regeln und Maximen aufstellen und das Detail der Entscheidung dem Richter überlassen wollte 172 , wird von beiden Autoren nicht erwähnt, ändert aber auch nichts daran, dass diese Vorgehensweise nach den dem ALR zugrunde liegenden Maximen verfehlt erscheint. Eine weitere Schwäche der französischen Gesetzgebung ist aus Sicht Kleins und Goßlers die Kunstsprache, die es dem gemeinen Mann erschwert, das Gesetz zu verstehen, wie überhaupt der Code civil im Gegensatz zum ALR aus den o.a. Gründen nicht aus sich selbst heraus verständlich erscheint. Der gemeine Mann ist somit nach wie vor auf den Rat der Rechtsgelehrten angewierad und Kleinheyer (Wissenschaftliche Abhandlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westphalen, Bd. 10), 1960, 601 f. Siehe ferner Conrad, Die geistigen Grundlagen, S. 10 ff.; ders., Rechtsstaatliche Bestrebungen im Absolutismus Preus-sens und Österreichs am Ende des 18. Jahrhunderts (Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westphalen, Geisteswissenschaften Heft 95), 1961,41. 171 Vgl. hierzu Svarez, In wiefern können und müssen Gesetze kurz sein?, abgedruckt in: ders., Vorträge über Recht und Staat (Fn.170), 627-631. 172 Hierauf verweist - dem ALR kritisch entgegenhaltend - in der zeitgenössischen Literatur Schmid, Kritische Einleitung in das bürgerliche Recht des französischen Reiches mit vergleichenden Blicken auf das römische, gemeine deutsche, sächsische, und vorzüglich das preußische Recht, Bd. I, l.Abt., 1808, 16 f. unter Bezugnahme auf die Materialien des Code civil.
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sen, die ihrerseits wiederum durch das Gesetz selbst nicht hinreichend instruiert werden. In die gleiche Richtung zielen die Vorbehalte Kleins gegenüber der Konzeption des Code de procedure. Auf die den Code civil prägenden politisch brisanten Prinzipien, Freiheit und Gleichheit der Person und die hieraus resultierende Beseitigung der ständischen Privilegien und Eigentumsbeschränkungen gehen beide Autoren - sieht man von Goßlers Forderung nach Abschaffung der Patrimonial- und ständischen Sondergerichtsbarkeit ab - nicht ein, erwähnen sie nicht einmal. Stattdessen verweisen sie auf den von Montesquieu übernommenen Grundsatz, dass ein Gesetzbuch der Nation, für die es erlassen ist, angemessen sein muss, was beim ALR der Fall ist, weil es auf die preußischen Verhältnisse hin ausgerichtet ist. Mag die französische Gesetzgebung auch Neuerungen enthalten, die das ALR nicht kennt, so ist dieses darum nicht schlechter, zumal die Umstände bei dessen Erlass völlig andere waren als bei Erlass des Code, da der Gesetzgeber in Frankreich nach der Revolution völlig freie Hand für Neuerungen hatte, während der preußische Gesetzgeber das Herkommen, die wohlerworbenen Rechte und Gerechtsame zu berücksichtigen hatte. Das Argument, dass die Gesetzgebung den besonderen Lebensverhältnissen des Volkes entsprechen muss, richtet sich zugleich gegen den von französischer Seite mit der Umbenennung des Code civil in „Code Napoleon" verknüpften Anspruch, dass der Code mit seinen in der Vernunft gründenden Regelungen auf jede Nation passe und damit zum gemeinsamen europäischen Gesetzbuch werden sollte 173 ; denn wenngleich Klein und Goßler durchaus zugestehen, dass die französische Gesetzgebung Nachahmenswertes enthält, so erscheint eine Rezeption dieses Nachahmenswerten nur möglich, wenn und soweit dies mit den Verfassungen der einzelnen Staaten vereinbar ist. In der Auseinandersetzung mit den zivil- und zivilprozessualen Regelungen im Einzelnen, zeigt sich Klein - abgesehen davon, dass seine Darstellungen im Ganzen mehr in die Tiefe gehen als die Goßlers - , deutlich kritischer als dieser. Besonders herb fällt seine Kritik in seiner ersten Abhandlung aus, in der es ihm darum geht, das ALR vor der Kritik der französischen Gesetzgeber zu schützen und aufzuzeigen, dass es dem Code an Billigkeit deutlich überlegen ist. Dass er hierbei vornehmlich auf die Unterschiede im Familienrecht rekurriert, kommt nicht von ungefähr, bietet doch gerade hier der Code breite Angriffsflächen, die auch sonst in der zeitgenössischen Literatur zum Gegenstand der Kritik werden 174 . Die Ausbeute dessen, was er für nachahmenswert im französischen Recht hält, ist bei ihm denn auch deutlich geringer als bei Goßler, dessen Vorschläge aus dem Jahr 1814 auf eine weitreichende Revision des preußischen Rechts nach französischem Vorbild hinauslaufen. Mit dieser Position sowie mit 173 174
Hierzu Schubert, Französisches Recht (Fn. 1), 39 ff. Hierzu Schubert, Französisches Recht (Fn. 1), 34 f.
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seiner Mahnung zur Besonnen- und Unvoreingenommenheit unterscheidet sich Goßler vom preußischen Justizminister Kircheisen, der - überzeugt von der Überlegenheit der preußischen Gesetzgebung gegenüber jeder anderen und nicht zuletzt der französischen - auf eine sofortige Einführung des preußischen Rechts in den ehemaligen preußischen und einer möglichst baldigen in den neu hinzugewonnen Gebieten drang 175 . Wie Stölzel berichtet 176 , hat Kircheisen Goßlers Schrift zwar zur Kenntnis genommen, sie teils mit zustimmenden teils mit abwehrenden Anmerkungen versehen und bemerkt: „Daß diese kleine Schrift viel Gutes enthalten würde, dafür bürgen die seltenen Fähigkeiten des Verfassers; sie verdient eine sehr ernstliche Aufmerksamkeit". Gleichwohl ließ Kircheisen sich durch sie von seinem Ziel, das preußische Recht in den an Preußen gefallenen Gebieten alsbald einzuführen, nicht abbringen. Wie Goßler sprach er sich zwar im Juli 1814 immerhin dafür aus, an der Abschaffung der Patrimonialgerichtsbarkeit festzuhalten 177. Im Patent vom 9.9.1814 „wegen Wiedereinführung des Allgemeinen Landrechts und der Allgemeinen Gerichtsordnung in den von den Preußischen Staaten getrennt gewesen, mit demselben wieder vereinigten Provinzen" 178 fehlt jedoch - auf Veranlassung des „GesamtMinisteriums" - auch dieses Zugeständnis an das französische Recht 179 . Zu einer Einführung des preußischen Rechts links des Rheins ist es dann nicht mehr gekommen, weil man sich letztendlich den Vorschlag der Rheinischen Immediat-Justiz-Kommission zu eigen machte, das französische Recht bis zum Abschluss der inzwischen ins Auge gefassten Revision des ALR bestehen zu lassen. In die gleiche Richtung ging bereits 1814 der Vorschlag Goßlers, man solle zunächst das preußische Zivilrecht nach seinen Vorschlägen umgestalten und, falls dies zu lange dauere, den Untertanen der neuen Länder vorerst die von ihm genannten Vorzüge des französischen Rechts erhalten.
175
Landsberg, Die Gutachten der Rheinischen Immediat-Justiz-Kommission und der Kampf um die Rheinische Rechts- und Gerichtsverfassung 1814-1819 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, XXXI), 1914, Einleitung, X I X ff. 176 Rechtsverwaltung und Rechtsverfassung (Fn. 6), 430. 177 Landsberg, Gutachten (Fn. 175), Einleitung, X X f. 178 Gesetzsammlung, 1814, 89 ff. 179 Zu diesem Patent Landsberg, Gutachten (Fn. 175 ), Einleitung X X X I f.
,Ad magistratus Germaniae hoc tempore necessarius" Christliche Obrigkeit, Staat und Menschenrechte bei Friedrich Spee Von Gunther Franz
I. Spees Schrift gegen die Hexenprozesse Cautio Criminalis Nach der Auffindung des Grabes von Friedrich Spee unter der Trierer Jesuitenkirche 1980, den Jubiläumsjahren 1985 und 1991 und der Gründung der Friedrich-Spee-Gesellschaften am Geburtsort Düsseldorf-Kaiserswerth und dem Sterbeort Trier gab es eine Spee-Renaissance. In der umfangreichen SpeeLiteratur der letzten Jahre, die in einer Spee-Dokumentation gesammelt und verzeichnet wird, findet sich aber noch keine Darstellung zur Staatsauffassung. 1 Friedrich Spee (nicht: von Spee, 1591-1635) war der Sohn des adligen kurkölnischen Amtmanns in der Pfalz Kaiserswerth am Rhein, besuchte das Gymnasium in Köln und trat 1610 in das Trierer Noviziat der Gesellschaft Jesu ein. Hier hatte er Gelegenheit, von der großen Hexenprozesswelle im Kurfürstentum Trier um 1590 und von dem Theologen Cornelius Loos als deren Gegner zu hören. Nach Aufenthalten in Fulda, Würzburg und Mainz lehrte Spee seit 1623 Philosophie und dann Theologie (besonders Moraltheologie) an den Universitäten Paderborn, Köln und Trier. Mit den anonym erschienenen geistlichen Liedern und der „ Trutz-Nachtigall" gilt Spee als der bedeutendste katholische Barockdichter in Deutschland. 1631 wurde in Rinteln an der Weser die wegweisende Schrift gegen die Hexenprozesse Cautio Criminalis ohne Druckerlaubnis des Ordens unter dem
1 Zur Einführung: Gunther Franz (Hrsg.), Friedrich Spee. Dichter, Seelsorger, Bekämpfer des Hexenwahns. Kaiserswerth 1591-Trier 1635, 1991 (Ausstellungskataloge Trierer Bibliotheken 10 A); Theo G. M. van Oorschot, Friedrich Spee von Langenfeld. Zwischen Zorn und Zärtlichkeit, 1992 (Persönlichkeit und Geschichte 140); Helmut Weber/Gunther Franz, Friedrich Spee (1591-1635). Leben und Werk und sein Andenken in Trier. 3. Aufl. 2004; Arbeitsgemeinschaft der Friedrich-Spee-Gesellschaften Düsseldorf und Trier (Hrsg.), Spee-Jahrbuch. 1. Jg. 1994 ff. Die Spee-Dokumentation in der Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars Trier liegt auf EDV vor. Bernhard Schmitt, Auswahlbibliographie der neuerschienenen Spee-Literatur (1998-2000). In: Spee-Jb. 8 (2001), S. 169-179 mit den dort angegebenen Vorgängern.
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Anonym Auetore Incerto Theologo Romano oder auf geändertem Titelblatt Auetore Incerto Theologo Orthodoxo gedruckt. 2 Dennoch erfuhr man in kirchlichen Kreisen schnell, dass der Jesuitenpater der Autor war. Die Entschuldigung, dass das Manuskript ohne Wissen des Autors zum Druck gegeben sei, wurde vom Ordensgeneral Mutius Vitelleschi zunächst akzeptiert. Da erschien im folgenden Jahr eine zweite Auflage der Cautio , in der die scharfe Kritik an der Prozesspraxis und an den kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten an verschiedenen Stellen noch verschärft und zugespitzt worden war. Diese Ausgabe ist nach dem Titelblatt und Vorwort in Frankfurt am Main auf Kosten eines österreichischen Juristen Johannes Gronaeus (Ioannes Gronaeus Austrius I.C.) veröffentlicht worden. Nachdem die erste Auflage bereits mit Genehmigung der Juristischen Fakultät in Rinteln veröffentlicht worden sei, hätten etliche Mitglieder des Reichskammergerichts zu Speyer und des kaiserlichen Hofs in Wien eine baldige Neuauflage für ratsam gehalten. Obwohl es historisch richtig ist, dass die Juristen am Reichskammergericht den Hexenprozessen kritisch gegenüber standen,3 sind die Angaben fingiert. In Wirklichkeit ist die zweite Auflage vom Jesuitenpater Spee beim Jesuitendrucker Johannes Kinckius in Köln, sicher mit Kenntnis des Provinzials Goswin Nickel, in Druck gegeben worden. 4 Obwohl der Ordensgeneral Vitelleschi dreimal forderte, Spee wegen Ungehorsam aus dem Orden zu werfen, hat Nickel diesen beschützt und 1632 als Theologieprofessor nach Trier versetzt. Wichtig ist bei diesem Vorgang, dass es keine einheitliche Stellung im Jesuitenorden zu den Hexenprozessen gab und dass es sich bei dem Traktat Spees nicht um die Meinung eines krassen Außenseiters handelte, diese vielmehr inoffiziell verbreitet werden konnte. Wenn die Cautio Criminalis offiziell als Buch eines Jesuiten veröffentlicht worden wäre, hätte der Kölner Erzbischof und Kurfürst Ferdinand von Bayern sich wegen der in seinen Bistümern geführten Hexenprozesse angegriffen gefühlt und den Jesuiten seine mächtige Unterstützung entziehen können. Spee hat - um unzählige Unschuldige zu retten - um des Gewissens willen seine Obrigkeit getäuscht. Er hat also ein Widerstandsrecht im Orden in Anspruch genommen. Das andere Bemerkenswerte ist, dass der Theologe Spee so gut 2
Theo G. M. Van Oorschot (Hrsg.), Friedrich Spee: Sämtliche Schriften. Historischkritische Ausgabe. Bd. 3: Cautio Criminalis, mit einem Beitrag zur Druck- und Editionsgeschichte von Franz. 2. Aufl. 2005 (der Beitrag von Franz S. 497-557 und Tafeln nach S. 560); Übersetzung von Hermann Schmidt 1649, Reprint in Sämtl. Schriften S.203-425. Als Taschenbuch erhältlich ist die Übersetzung von Joachim-Friedrich Ritter 1939: Friedrich von Spee: Cautio Criminalis oder Rechtliches Bedenken wegen der Hexenprozesse. 7. Aufl. 2003. Zitiert wird lateinisch nach den Seiten der Historischkritischen Ausgabe und deutsch (dt.) nach den Seiten der Taschenbuchausgabe. 3 Peter Oestmann, Hexenprozesse am Reichskammergericht, 1997 (Quellen u. Forsch, zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 31). 4 Gunther Franz , Friedrich Spee und die Bücherzensur. In: ders. (Hrsg.), Friedrich Spee zum 400. Geburtstag. Kolloquium der Friedrich-Spee-Gesellschaft Trier, 1995, S. 67-100; ders., in: Spee, Sämtl. Schriften (wie Fn.2), bes. S. 500-519.
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argumentiert hat, dass sein Traktat - wie verschiedene Zeugnisse belegen - von Juristen ernst genommen wurde und tatsächlich zur Abschaffung der Hexenprozesse beigetragen hat.
II. Christliche Obrigkeit und Staat nach der Cautio Criminalis Der Titel der Schrift - aus der auch die Überschrift dieses Aufsatzes genommen wurde - lautet: Cautio Criminalis Seu De Processibus contra Sagas Uber. Ad magistratus Germaniae hoc tempore necessarius, Tum autem consiliariis, et confessariis principum, inquisitoribus, iudicibus, advocatis, confessariis reorum, concionatoribus, caeterisque lectu utilissimus. (Rechtliches Bedenken wegen der Hexenprozesse [Übersetzung von Ritter, eigentlich: Vorsicht im Strafprozess oder Schrift über die Hexenprozesse]. Für die Obrigkeiten Deutschlands gegenwärtig notwendig, aber auch für die Ratgeber und Beichtväter der Fürsten, für Inquisitoren, Richter, Advokaten, Beichtväter der Angeklagten, Prediger und andere sehr nützlich zu lesen.) Die Cautio hat nicht die Form einer theoretischen Abhandlung, sondern ist ein rhetorisch brillanter Appell, der von der Literaturwissenschaft und Jurisprudenz gewürdigt wird 5 und noch heute mitreißend zu lesen ist. Er richtet sich an alle Obrigkeiten und Verantwortlichen, ob sie weltlich oder geistlich seien, und mahnt zur äußersten Vorsicht im Kriminalprozess gegen angebliche Hexen und Zauberer (die männlichen Beschuldigten sind meistens unter „Hexen" subsumiert, obwohl ihre Zahl in manchen Territorien ein Drittel der Angeklagten betrug). Spee wandte sich an die magistratus Germaniae (die Obrigkeiten) und subsumierte auch die Magistrate der Reichsstädte und -dörfer, spricht im Text aber meistens die Fürsten (principes) an. Die persönliche Verantwortung, an die Spee appellierte, passte auch auf die Regenten kleiner Territorien. Er wandte sich speziell an die magistratus Germaniae, da hier die Hexenprozesse besonders schlimm wüteten.6 Als Epitome oder Summe seiner Kritik der Prozesse stellt Spee zwei Bibelworte voran: „Ich sah unter der Sonne an der Stätte des Gerichts Gottlosigkeit und an der Stätte der Gerechtigkeit Unrecht" {Ecclesiastes - Prediger Salomonis 3,10). Das zweite Wort ist ein Appell an die Obrigkeit: „Und nun ihr Köni-
5 Italo Michele Battafarano, Die rhetorisch-literarische Konstruktion von Spees Cautio Criminalis. In: Franz (Hrsg.), Friedrich Spee zum 400. Geburtstag (wie Fn. 4), S. 137-148; Jan Zopfs, Juristische Überzeugungskunst am Beispiel der Cautio Criminalis. In: Spee-Jb. 10 (2003), S. 153-178. 6 Helmut Weber, Deutschland, die Deutschen und das Deutsche im Spiegel der Schriften Spees. In: Spee-Jb. 3 (1996), S. 31-49.
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ge! Verstehet; lasst euch weisen, die ihr Richter seid auf Erden." (Psalm 2,10).7 In der Vorrede betont der Autor erneut, dass er das Buch magistratibus Germaniae gewidmet habe, von denen er „Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt" bei der Prüfung der Fälle verlangt. Sie sollen aus dem Buch „Sorgfalt und Behutsamkeit" lernen. 8 In Dubium VIII. (der 8. Frage) schreibt Spee: Die Fürsten tun unrecht, wenn sie nicht „mit der äußersten Vorsicht, Besonnenheit und Umsicht" gegen die Hexerei vorgehen. Wenn dies ein „Sonderverbrechen" (crimen exceptum) sein sollte, muss mit noch größerer Sorgfalt darüber gewacht werden, damit nicht gesetz- und vernunftwidrig gehandelt wird. 9 Spee will nicht bestreiten, dass die Fürsten zu Recht streng gegen die Hexerei einschreiten. Sie tun, was nach Römer 13 ihres Amts und Berufs ist. Die Obrigkeit trägt als Gottes Dienerin das Schwert nicht umsonst. Wenn die Fürsten ohne rechtmäßigen Grund die Übeltäter nicht bestrafen, machen sie sich nach allgemeiner Lehre der Theologen mitschuldig. 10 Unmittelbar danach folgt aber die schärfste Kritik: „Soviel die Fürsten auch noch verbrennen mögen, sie werden es doch nicht ausbrennen, sofern sie nicht alles verbrennen. Sie verwüsten ihre Länder mehr als jemals ein Krieg es tun könnte, und richten doch nicht das allergeringste damit aus." 11
Falls infolge eines unbesonnenen Prozesses auch Unschuldige getroffen werden, so wird das „unermesslichen Schaden für den Staat nach sich ziehen." Auch für die katholische Religion entsteht großer Schaden, wenn auffallende Frömmigkeit zum Hexerei verdacht führt. 12 Der Staat wird auf diese Weise nicht von seinen schlechten Bürgern gesäubert, sondern von den guten. „Es ist eine Todsünde, sich wissentlich der Gefahr auszusetzen, eine Todsünde zu begehen, wozu zweifellos gehört, einen Unschuldigen ohne rechten Grund zu töten." 13 „Und vor allem will ich den Fürsten klarmachen, dass das eine Gewissenspflicht ist, um derentwillen nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Ratgeber und Beichtväter vor dem höchsten Richter werden Rechenschaft ablegen müssen... Sie sollen nur ihre Theologen zu Rate ziehen, da werden sie finden, dass man mit Menschenblut nicht Kurzweil treiben darf und dass unsere Köpfe keine Spielbälle sind, mit denen man so ohne weiteres zum Vergnügen leichtfertig um sich werfen darf, wie es jetzt vielleicht gar manches trefflichen Fürsten schlechter Inquisitor tut." (... in humano sanguine ludi поп posse, пес capita nostra esse pilas, quas pro libitu leviter temereque iactare
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Lat. S. 12, dt. S. X X X V I I . Cura et diligentia... soliciti ас diligentes esse discant... Lat. S. 13, dt. S. X X X V I I I . 9 Cautela, prudentia, circumspectio, cura, vigilantia. Lat. S. 25, dt. S. 10. 10 Dub. VI, Lat. S. 23 f., dt. S. 7 f. 11 Non exurent unquam, nisi omnia exurant: vastant terras suas, plusquam ullum bellum; пес hilum proficiunt. Lat. S. 24, dt. S. 9. 12 Lat. S. 26, dt. S. 11 f. 13 Lat. S. 42, dt. S. 36. 8
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liceat.y 4 „Wir alle müssen vor den Richterstuhl der Ewigkeit treten. Wenn dort schon über jedes müßige Wort Rechenschaft abzulegen ist, wie schwer wird da erst Menschenblut gewogen werden? Die Nächstenliebe verzehrt mich und brennt wie Feuer in meinem Herzen." 15
Neben dieser höchst persönlichen Verantwortung des Fürsten ist es entscheidend, dass er gute Berater hat, die den Mut haben, die Wahrheit zu sagen. Vor dem Textbeginn ist groß ein Wort von Seneca herausgestellt: „Ich will dir zeigen, was den großen Herren mangelt, und was denen fehlt, die alles besitzen: EINER, DER DIE WAHRHEIT SPRICHT." 1 6
Die Schmeichler berichten den Herrn alles entstellt. Wo ist der Ratgeber, der trotz der Gefahr, sich selbst ins Unglück zu stürzen, der Wahrheit die Ehre gibt, wenn zahllose mächtige Fürsten des Irrtums geziehen, zahllose Gerichte der Ungerechtigkeit beschuldigt werden? 17 „Den Unwillen der Fürsten zu erregen und ihnen nicht auf der Stelle zu gehorchen, das ist in Deutschland gefährlich; fast alle, selbst Geistliche, loben regelmäßig über die Maßen, was nur den Fürsten beliebt hat. Dabei beachten sie gar nicht, von wem die Fürsten, mögen sie persönlich noch so vortrefflich sein, sich häufig antreiben lassen." 18
Es ist ein altes Motiv der Kritik an Fürsten oder Diktatoren, dass sie bei aller Vortrefflichkeit nur schlecht informiert oder beraten seien. Gott, von dem alle rechtmäßige Gewalt herkommt, pflegt die Fürsten mit besonderer Weisheit und Gnade auszustatten; sie sind gewöhnlich gütig und der Nächstenliebe zugetan, menschlich und gnädig, aber niemals grausam. 19 Hier schmeichelt Spee selber etwas, um bei den Adressaten seiner Schrift Gehör zu finden. Falsche Ratgeber können fanatische Prediger sein, die ihre glänzende Beredsamkeit aufbringen, um die Obrigkeit im Kampf gegen die Hexen anzufeuern, auch große Gelehrte oder Prälaten, die nicht viel Weisheit und Urteilsfähigkeit besitzen oder Richter, die ihre „vortrefflichen Fürsten" irreführen. 20 Deswegen müssen sich die Fürsten selber bemühen und dürfen nicht die ganze Arbeit auf Beamte abschieben. Das wird in 21 Regeln dargelegt, die als Teil einer Regierungskunst oder heute der Managementlehre betrachtet werden können. Zum Beispiel 19:
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Lat. S. 101 f., dt. 134. Lat. S. 102, dt. S. 135. 16 Seneca lib. 6 de beneficiis cap. 30. Monstrabo tibi cuius rei inopia laborent magna fastigia, quid omnia possidentibus desit: scilicet JLLE QUI VERITATEM DICAT. Lat. S. 18, dt. S. XLIII. 17 Lat. S. 27, dt. S.14. 18 In der Zusammenfassung am Schluss, lat. S. 189, dt. S.280. 19 Prudentia ac gratia, humanitas, dementia. Lat. S. 30, dt. S. 17f. 20 Dt. S. 45, 51, 280. 15
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Der Fürst „soll selbst Bedenken erheben oder seine Beamten dazu anregen. 20. Er soll nicht immer alles glauben, was ihm hinterbracht wird. 21. Er soll, damit die Wahrheit um so deutlicher werde, die einzelnen Argumente lieber durch Männer prüfen lassen, die entgegengesetzter Meinung sind, als durch solche, die sie selbst vertreten. 22. Er darf nichts ungeprüft lassen, auch wenn es ihm zunächst ganz unsinnig erscheinen sollte." 21
Die Beamten müssen gelehrt, besonnen, rechtschaffen, barmherzig und milde sein; die Fürsten müssen deren Lebenswandel kontrollieren und von sich aus durch strenge Strafgesetze Verleumder und giftige Zungen zügeln.22 Wie bereits dargelegt, spricht Spee die Fürsten bei ihrem Gewissen an; sie müssen sich am Jüngsten Gericht rechtfertigen. Beispielsweise: „Mich dauern die Fürsten, deren Gewissen so sorglos und dabei doch in höchster Gefahr ist, da auch ihre eigenen Beichtväter ihnen nicht raten dürfen order mögen." 23
Wer die Verteidigung verweigert, der verstößt „gegen das Naturrecht und das Gebot der christlichen Nächstenliebe und macht sich demnach einer Todsünde schuldig." 24 Gott zählt die unschuldig Umgebrachten und wird ihre Zahl zu seiner Zeit beim Gericht vorbringen. „Wenn sich die Obrigkeiten nicht in acht nehmen, werden sie mit ihrem Feuereifer erreichen, dass sie im anderen Leben im Höllenfeuer brennen." (Caveant Magistratus, ne dum ardere se putant Iustitiae zelo, id agant ut ardeant in alterius vitae flammis.) 25
Über die Richter, die ihre Opfer mit unnötiger Folter zerfleischen, ruft Spee aus: „Was ist das für ein wahnsinniger Hang, Gottes Zorn auf sich zu sammeln?" 26 Der Schlusssatz der Cautio Criminalis lautet: „Doch das wird einstmals vor Gottes Richterstuhl deutlicher offenbar werden. Lebe nun wohl, mein Leser, lass dir dies Beispiel durch den Kopf gehen und fürchte das göttliche Walten." 27
„Gewissen" (