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German Pages 712 Year 2009
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1130
Recht als Medium der Staatlichkeit Festschrift für Herbert Bethge zum 70. Geburtstag
Herausgegeben von Steffen Detterbeck Jochen Rozek Christian von Coelln
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Recht als Medium der Staatlichkeit
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1130
Recht als Medium der Staatlichkeit Festschrift für Herbert Bethge zum 70. Geburtstag
Herausgegeben von Steffen Detterbeck Jochen Rozek Christian von Coelln
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-12713-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Wenn sich die individuellen Lebenspläne eines Menschen stets realisieren ließen, dann hätte es den Juristen Herbert Bethge wohl nie gegeben. Journalist war das Berufsziel des Jubilars, der am 8. Juni 1939 in Hettstedt im heutigen SachsenAnhalt geboren wurde und dem die Autoren und Herausgeber dieser Festschrift herzlich zu seinem 70. Geburtstag gratulieren. Das angestrebte Journalistikstudium wurde ihm in der DDR verwehrt: Als Hörer des Nordwestdeutschen Rundfunks hatte er sich bei den Machthabern das Prädikat „politisch unzuverlässig“ erworben; vor einem Studium musste er sich deshalb zunächst „in der Produktion bewähren“. Als man ihm den Zugang zur Hochschule trotz großen produktiven Engagements weiterhin verweigerte, flüchtete Herbert Bethge 1958 in den Westen. In Bamberg legte er ein weiteres Mal die Abiturprüfung ab. Im Anschluss daran studierte er bis 1964 an der Freien Universität Berlin die Rechtswissenschaften. Den juristischen Vorbereitungsdienst absolvierte er beim Kammergericht mit Gaststationen in den OLG-Bezirken Köln und Düsseldorf. Im Rheinland setzte sich seine juristische Laufbahn dann auch fort. Herbert Bethge wurde 1968 an der Universität zu Köln mit der Untersuchung „Der verfassungsrechtliche Standort der ,staatlich gebundenen‘ Berufe“ promoviert; 1976 habilitierte er sich bei Klaus Stern mit der Arbeit „Zur Problematik von Grundrechtskollisionen“. Im selben Jahr wurde er auf Vorschlag der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln zum Wissenschaftlichen Rat und Professor ernannt. Schon bald erhielt er einen Ruf an die Universität Passau, die auf der universitären Landkarte damals gerade erst verzeichnet wurde. Bis heute hält sich hartnäckig das Gerücht, Herbert Bethge habe die ihm eröffnete neue Wirkungsstätte zunächst in der Bodenseeregion vermutet. Nachdem dieses geographische Missverständnis ausgeräumt war, wurde er mit Wirkung zum 1. Mai 1978 als zweiter Professor der Juristischen Fakultät ernannt. Der alma mater pataviensis blieb er bis zu seiner Emeritierung am 30. September 2007 treu. In beinahe 30 Jahren hat Herbert Bethge die Entwicklung der Juristischen Fakultät der Universität Passau maßgeblich geprägt. Der hervorragende Ruf, den diese Fakultät heute genießt, beruht zu einem guten Teil auf seinem Wirken. Zweimal – 1980 bis 1981 und 1998 bis 2000 – bekleidete er das Amt des Dekans. Sein wissenschaftliches Interesse galt und gilt in besonderem Maße den Grundrechten, dem Recht des gerichtlichen Verfahrens (insbesondere der Verwaltungsund der Verfassungsgerichtsbarkeit), dem Staatshaftungsrecht und dem Medienrecht. Schon der bloße Versuch, sein umfangreiches wissenschaftliches Œuvre von deutlich über 400 Publikationen mit allein 24 Einzelschriften auf diesen und wei-
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Vorwort
teren Gebieten umfassend zu würdigen, beanspruchte seinerseits monographisches Großformat und würde den Rahmen eines Vorworts sprengen. Nur beispielhaft sei daher neben seinem Vortrag zum Thema „Der Grundrechtseingriff“ auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 1997 in Osnabrück erwähnt, dass Herbert Bethge seit 2000 Mitherausgeber und zugleich tatkräftigster Autor des führenden Erläuterungswerks zum deutschen Verfassungsprozessrecht ist, dem von Theodor Maunz und Bruno Schmidt-Bleibtreu begründeten Kommentar zum Gesetz über das Bundesverfassungsgericht. Speziell dem Verfassungsprozessrecht ist Herbert Bethge auch praktisch vielfältig verbunden. Er hat seine wissenschaftlichen Neigungen hier wie auf anderen Gebieten nie nur theoretisch verfolgt. In zahlreichen Verfahren vor der Verwaltungs- und Landesverfassungsgerichtsbarkeit, vor allem aber vor dem Bundesverfassungsgericht, war und ist er als Prozessvertreter tätig, u. a. für öffentlich-rechtliche und private Rundfunkveranstalter sowie für diverse Landesregierungen bzw. – je nach Verfahrensart – Länder. Es gibt nur wenige Leitentscheidungen zum deutschen Rundfunkrecht, an denen Herbert Bethge nicht mitgewirkt hat. Er war Prozessvertreter beispielsweise in den Verfahren zum Gesetz über die Veranstaltung von (privaten) Rundfunksendungen im Saarland (BVerfGE 57, 295 ff.), zum Niedersächsischen Landesrundfunkgesetz (BVerfGE 73, 118 ff.), zum Bayerischen Medienerprobungs- und Entwicklungsgesetz (BayVerfGHE 39, 96 ff.), zum WDRGesetz sowie zum Landesrundfunkgesetz NRW (BVerfGE 83, 208 ff.), zur HR 3-Finanzierung (BVerfGE 87, 181 ff.), zur EG-Fernsehrichtlinie (BVerfGE 92, 203 ff.) und zum Kurzberichterstattungsrecht (BVerfGE 97, 228 ff.). Erstritten hat er auch die Entscheidungen „Lebach II“ (BVerfG [1. Kammer des Ersten Senats] NJW 2000, 1859 f.) und zur Rechtsberatung durch Fernsehveranstalter (BVerfG ZUM 2004, 304 ff.). In der theoretischen Durchdringung der seinerzeit noch neuen Materie gehörte Herbert Bethge zu den Pionieren des deutschen Medienrechts, zu dessen führenden Vertretern er nach wie vor zählt. Seit 1990 ist er Mitglied des Vorstands des Studienkreises für Presserecht und Pressefreiheit e.V., des häufig nach seinem Gründer bezeichneten „Löffler-Kreises“. Nach alledem war es nur konsequent, diesen Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Tätigkeit auch in der Bezeichnung seines Lehrstuhls zum Ausdruck zu bringen. Im Jahr 2000 wurde dessen ursprüngliche Denomination als „Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Wirtschaftsverwaltungsrecht“ um den Zusatz „und Medienrecht“ ergänzt. Herbert Bethge versteht seinen Beruf als Hochschullehrer im besten Sinne des Wortes. Die Ausbildung der Studenten und die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses haben ihm immer in besonderer Weise am Herzen gelegen. Beides hat er fördernd, aber durchaus auch fordernd betrieben. Seine Vorlesungen sind gleichermaßen anspruchsvoll wie mitreißend; seine Maßstäbe für wissenschaftliches Arbeiten sind streng. Die Verabreichung mundgerecht zerkleinerter JuraHäppchen nach Bologna-Art ist seine Sache nicht. Eine intellektuell fordernde und rhetorisch ausgefeilte Vorlesung, in der immer wieder trockener Humor und Ironie
Vorwort
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durchscheinen, die sich nicht im Durchdeklinieren ominöser Prüfungsschemata erschöpft, sondern die den großen Bogen von den dogmatischen Grundlagen unserer Rechtsordnung bis hin zu neuester Rechtsprechung spannt, die historische Bezüge ebenso wie die jeweils aktuellen Problemlagen des Gemeinwesens aufgreift und die bei alledem eine tüchtige Portion Allgemeinbildung voraussetzt – eine derartige Veranstaltung war noch nie jedermanns Sache. In den Zeiten der modernen Massenuniversität ist sie es ganz sicher nicht mehr. So nimmt es nicht Wunder, dass ein Großteil der Studenten diese Vorlesungen sehr geschätzt hat, ja zum Teil regelrecht begeistert war, dass die Veranstaltungen bei einigen aber auch an intellektuelle Grenzen gestoßen sind. Herbert Bethge selbst brachte das auf die knappe Formel: „An mir scheiden sich die Geister.“ Wie viele Studenten im Laufe der Jahre Besucher der Vorlesungen von Herbert Bethge waren, lässt sich kaum noch schätzen. Auf Grund der besonderen Situation der seinerzeit im Aufbau befindlichen, dann aber rasch etablierten Passauer Fakultät hatte er zu Beginn seiner Tätigkeit neben dem ersten Semester auch ein sehr kleines drittes Semester zu betreuen. Die Vorlesung im Kommunalrecht hatte formal drei Hörer. Regelmäßig wurde sie von gerade einmal zwei Studentinnen besucht. War eine von ihnen krank, rief sie Herbert Bethge an, der daraufhin die andere Kommilitonin informierte, dass die Vorlesung an diesem Tag nicht stattfinde. Spätere Grundkurse – das Fundament der Ausbildung im Öffentlichen Recht persönlich zu legen, hat Herbert Bethge immer wieder mit Begeisterung übernommen – hatten regelmäßig 400 und mehr Teilnehmer. Seine jährlichen Staatsrechtsvorlesungen für Fachfremde (zunächst Informatiker sowie Volks- und Betriebswirte, später auch Kulturwirte und die Angehörigen diverser „Bachelor“-Studiengänge) wurden zum Teil von mehr als 500 Studenten besucht. Aus dieser Vorlesung ist sein Lehrbuch zum Verfassungsrecht hervorgegangen, das mittlerweile in dritter Auflage vorliegt. Seit dem Wintersemester 1997 / 98 war Herbert Bethge Gastprofessor für Medienrecht und für das Recht der Neuen Medien am Europa-Institut der Universität des Saarlandes. Auch an der Universität Tacoma bei Seattle und an der University of Western Michigan in Kalamazoo hat er Gastprofessuren wahrgenommen. Für die Juristische Fakultät in Passau betreute er den Austausch mit dem King’s College in London sowie mit der Cardiff Law School; an beiden Institutionen hat er regelmäßig unterrichtet. Seine jüngste Gastprofessur hat ihn – zuletzt im Februar und März dieses Jahres – an die Murdoch University Perth in Westaustralien geführt. Der große personelle Wirkungskreis brachte es mit sich, dass Herbert Bethge selbst auf Fernreisen immer wieder auf eigene Hörer getroffen ist. Nachdem ihm vor wenigen Jahren sogar in Neuseeland ganz unverhofft eine seiner Studentinnen begegnet ist, muss eine weitere Steigerung der räumlichen Distanz zwischen dem heimischen Wirkungsbereich und dem Ort des Erkannt- und Begrüßtwerdens allerdings als eher unwahrscheinlich gelten.
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Vorwort
Bis zum März 2009 haben 47 Doktoranden ihre Promotion unter der Betreuung des Jubilars abgeschlossen. Sie durften dabei ein Höchstmaß an wissenschaftlicher Freiheit genießen. Zugleich haben sie aber soviel Betreuung erfahren, wie es jeweils erforderlich war. Wer bei Herbert Bethge promoviert hat, dem werden sich die vermeintlichen Vorzüge einer angeblich „strukturierten“, in Wahrheit aber lediglich verschulten „Doktorandenausbildung“ nicht erschließen. Aber auch formal prägt es, bei ihm zu promovieren: Sprachlichen Schlendrian lässt er zu Recht nicht durchgehen. Die Formel der größtmöglichen Freiheit bei zuverlässiger Betreuung beschreibt zugleich das Klima am Passauer Lehrstuhl, dessen stimulierende Wirkung zu erleben über die Jahre hinweg mehreren Generationen von Nachwuchsjuristen vergönnt war. Auch über die rein fachlichen Belange hinaus war die Atmosphäre stets ausgesprochen angenehm und motivierend. Die regelmäßigen Einladungen des gesamten Lehrstuhlteams in die Passauer Privatwohnung haben dazu nicht unmaßgeblich beigetragen. Der Dank hierfür geht in mindestens gleichem Maße an die Gattin unseres akademischen Lehrers, Frau Irmtrud Bethge, die ihren Mann nicht nur auf diesem Wege tatkräftig unterstützt und – vielfach im Verborgenen wirkend – erheblichen Anteil an seinen Erfolgen hat. Über die Jahre hinweg durften viele Mitarbeiter und Kollegen eine Qualität des Jubilars kennenlernen, die Außenstehende regelmäßig verblüfft: Seine Affinität zu Zahlen, die sich insbesondere in einem erstaunlichen Datums- und Zahlengedächtnis ausdrückt. Neben den exakten Seitenangaben juristischer Fundstellen vermag Herbert Bethge selbst ältere Leichtathletikrekorde ebenso präzise wiederzugeben wie die Wochentage wichtiger historischer Ereignisse. Schon Jahre vor seiner Emeritierung wusste er täglich diejenige Norm des BGB zu benennen, deren Paragrafennummer der Anzahl der ihm verbleibenden Tage im aktiven Dienst entsprach. Im Jahr 2004 konnte er auf diese Weise sein stets bewahrtes besonderes Interesse am Hypothekenrecht ausleben, das bei ihm früher einmal den heute fast schon kurios wirkenden Wunsch nach einer Tätigkeit im Grundbuchamt hatte aufkommen lassen. Dass bei Herbert Bethge die Produktivität auch im vermeintlichen Ruhestand nicht nachlässt, kann nicht wirklich überraschen. Gleichwohl schafft der Wegfall äußerer Zwänge automatisch Freiräume. Speziell Reisen nach Australien, dessen Attraktivität Herbert und Irmtrud Bethge schon vor einigen Jahren für sich entdeckt haben, sind nun leichter möglich als im festen Korsett vorgegebener Semesterzeiten. Wir hoffen und wünschen ihnen, dass sie diesen Kontinent und andere Ziele noch sehr häufig bei guter Gesundheit werden ansteuern können. Der Medienrechtler Herbert Bethge hat immer wieder betont, dass der Beruf des Journalisten ein freier Begabungsberuf sei. Aus Sicht der Rechtswissenschaften war es allemal eine glückliche Fügung, dass ihm der Weg zum Journalismus trotz sicherlich vorhandener Begabung von einem System der Unfreiheit verwehrt wurde. Die Kollegen, Freunde, Weggefährten und Schüler von Herbert Bethge, die
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sich zusammengefunden haben, um ihn mit dieser – von Norbert Simon dankenswerterweise in seinem Verlag ermöglichten – Festschrift zu ehren, sind froh und dankbar, ihn in der ersten Reihe der deutschen Staatsrechtslehrer zu wissen. Alles Gute und auf viele weitere gemeinsame Jahre! Marburg / Leipzig / Köln, im Juni 2009 Steffen Detterbeck
Jochen Rozek
Christian von Coelln
Inhaltsverzeichnis I. Der Verfassungsstaat Johannes Dietlein: „Verfassungsrecht als abstrahiertes Verwaltungsrecht“? Die Gesetzgebungszuständigkeit für das Spielhallenrecht in und nach der Föderalismusreform . .
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Wolfgang Loschelder: „ . . . in einem vom Christentum geprägten Lande“. Zur Position des Islam im staatskirchenrechtlichen System des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Michael Nierhaus: Braucht die Bundesrepublik Deutschland ein volksgewähltes Staatsoberhaupt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hans Heinrich Rupp: Bürgerrechte als staatliche Kompetenztitel? Miszellen zum Verhältnis von Staat und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Walter Schmitt Glaeser: Glaubwürdigkeit – eine Verfassungserwartung an den Staat . . . .
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Rudolf Streinz: Innerparteiliche Sanktionen gegen Mitglieder politischer Parteien. Von Ordnungsmaßnahmen bis hin zum Parteiausschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kay Windthorst: Gewaltenteilung im deutschen und amerikanischen Verfassungsrecht . . 107 II. Der Grundrechtsstaat Matthias Cornils: Von Eingriffen, Beeinträchtigungen und Reflexen. Bemerkungen zum status quo der Grundrechts-Eingriffsdogmatik des Bundesverfassungsgerichts . . 137 Steffen Detterbeck: Der öffentliche Dienst als Medium der freien Selbstentfaltung? Der hessische Kopftuchstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Wolfram Höfling: Der Zugang zum Insolvenzverwalterberuf – eine grundrechtliche Problemskizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Stefan Mückl: Geistesgeschichtliche Grundlagen der Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Sebastian Müller-Franken: Bindung Privater an Grundrechte? Zur Wirkung der Grundrechte auf Privatrechtsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Michael Sachs: Nichtraucherschutz in Gaststätten vor dem Bundesverfassungsgericht . . 251 III. Der verwaltende Sozialstaat Christian von Coelln: Zwischen Gütegarantie und Professorenpranger: Die Evaluation der Hochschullehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Otto Depenheuer: Finanzielle Zwangspatenschaft privat Pflegeversicherter für gesetzlich Pflegeversicherte? Zur Zulässigkeit eines Finanzausgleichs zwischen privater und gesetzlicher Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
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Inhaltsverzeichnis
Dagmar Felix: Schiedsstellen im Sozialrecht – geeignete Instrumente der Streitschlichtung? Eine kritische Analyse am Beispiel der Schiedsstelle nach § 18a Abs. 1 KHG . . 319 Hans-Detlef Horn: Zum Fortentwicklungsbedarf des Verwaltungsvertragsrechts . . . . . . . . 339 Josef Isensee: Das Instrumentarium des Bundes zur Steuerung der Auftragsverwaltung der Länder. Am Beispiel der Revision des Kerntechnischen Regelwerks . . . . . . . . . . . . . 359 Friedrich E. Schnapp: Staatsaufsicht über den Gemeinsamen Bundesausschuss in der gesetzlichen Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Otfried Seewald: Verfassungsrechtliche Rechtsfragen zum neuen Weiterbildungsrecht für Ärzte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Hartmut Söhn: Kindergrundfreibetrag und Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 IV. Der mediale Staat Dieter Dörr: Die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zwischen den Vorgaben aus Karlsruhe und den Anforderungen aus Brüssel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 Georgios Gounalakis: Der Betrieb eines DVB-T-Sendernetzes durch die Sächsische Landesmedienanstalt aus wettbewerbsrechtlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 Peter M. Huber: Die Staatsfreiheit des Rundfunks – Erosion und Neujustierung . . . . . . . . 497 V. Der rechtsprechende Staat Matthias Jestaedt: Autorität und Zitat. Anmerkungen zur Zitierpraxis des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 Hartmut Maurer: Der Justizgewährungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 Hans-Joachim Musielak: Der Wechsel der Prozesspartei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 Ralf Müller-Terpitz: Bedürfnisorientierte Zulassung von Rechtsanwälten bei dem Bundesgerichtshof – „alter Zopf“ oder notwendiges Instrument zur Förderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 Jochen Rozek: „Leipziger Allerlei II“ – ein kompetenzwidriges Landesgesetz, eine Gliedstaatsklausel und eine landesverfassungsgerichtliche Kompetenzextension . . . . . 587 Rainer Wernsmann: Die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung als Prüfungsmaßstab der kommunalen Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 VI. Der europäisierte Staat Walter Rudolf: Datenschutz in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 Michael Schweitzer: Sicherheit durch Rechtssicherheit? Anmerkungen zum LucchiniUrteil des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639 Udo Steiner: Zum Kooperationsverhältnis von Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653 Veröffentlichungen Prof. Dr. Herbert Bethge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669 Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695
I. Der Verfassungsstaat
„Verfassungsrecht als abstrahiertes Verwaltungsrecht“? Die Gesetzgebungszuständigkeit für das Spielhallenrecht in und nach der Föderalismusreform Von Johannes Dietlein
I. Problemstellung Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG gehört seit der Föderalismusreform des Jahres 2006 zu den vielleicht merkwürdigsten Bestimmungen des Grundgesetzes: Die Norm statuiert eine konkurrierende Bundesgesetzgebung für das „Recht der Wirtschaft (Bergbau, Industrie, Energiewirtschaft, Handwerk, Gewerbe, Handel, Bank- und Börsenwesen, privatrechtliches Versicherungswesen) ohne“, wie es seit Umsetzung der Reform heißt, „das Recht des Ladenschlusses, der Gaststätten, der Spielhallen, der Schaustellung von Personen, der Messen, der Ausstellungen und der Märkte“. Im Schrifttum ist die seltsame Ansammlung von Ausnahmetatbeständen politisch korrekt als Folge „politiktypischer Verhandlungsrationalität“ bezeichnet worden, als Kompromiss des Gebens und Nehmens zwischen Bund und Ländern.1 Schaut man sich den bunten Strauß ausgeklammerter Lebensbereiche unbefangen an, hat man allerdings eher den Eindruck, als hätten die Urheber der Reform mehr oder minder planlos im Inhaltsverzeichnis der Gewerbeordnung geblättert, um den Ländern einzelne, mutmaßlich weniger wichtige Bereiche zukommen zu lassen. Ein Blick in die Materialien der Föderalismusreform entschärft diesen Eindruck nicht. Im Gegenteil: Der zugrunde liegende Reformvorschlag findet sich unvermittelt in einem sog. Vorentwurf der beiden Kommissionsvorsitzenden vom 13. 12. 2004.2 Von hier wanderte die Formulierung nahezu unverändert in das Grundgesetz.3 Es ist nicht erkennbar, dass zu irgendeinem Zeitpunkt eine vorbereitende Vgl. Höfling / Rixen, GewArch 2008, 1. Vgl. hierzu die Dokumentation der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, hrsg. vom Deutschen Bundestag und vom Bundesrat, 2005, S. 452. 3 Augenscheinlich wurde der Titel „Zurschaustellung von Personen“ zunächst nicht in die Arbeitsunterlage 104 – neu – S. 6 übernommen, später aber auf der Grundlage der Koalitionsvereinbarung wieder in den Text aufgenommen; Friedrich, in: Holtschneider / Schön, Die Reform des Bundesstaates, 2007, S. 245. 1 2
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Johannes Dietlein
oder begleitende Diskussion um die erwähnten Themenbereiche stattgefunden hat.4 Der Abgeordnete Dr. Hans-Peter Friedrich, selbst einer der maßgeblichen Akteure der Reform, umschreibt die Kryptogenese des neuen Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG wie folgt: „Die Gesetzgebungsgegenstände Spielhallen, Messen, Ausstellungen und Märkte . . . wurden in den Beratungen der Kommission . . . kaum explizit angesprochen und erörtert . . . Welchen Inhalt und Umfang diese Gesetzgebungsgegenstände haben, lässt sich daher aus Erörterungen und insbesondere den Unterlagen nur insoweit ermitteln, als sie bisher von der Kompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG erfasst sind, denn aus dieser sollen sie ja ausgenommen werden . . . Auch lässt sich hierzu Näheres nicht den Gesetzesmaterialien im Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen entnehmen.“5
Fast überflüssig zu erwähnen, dass sich auch die maßgebliche Sachverständigenanhörung am 15. und 16. Mai 2006 nicht mit den vermeintlichen „Bagatellfragen“ der verwaltungsrechtlichen Regelungszuständigkeit aufgehalten hat.6 Was aber tun mit Kompetenznormen, die der verfassungsändernde Gesetzgeber augenscheinlich tatsächlich aus dem Inhaltsverzeichnis der GewO abgeschrieben hat? II. Stand und Kritik der herrschenden Auslegung Das Schrifttum hat recht schnell den Versuch gestartet, aus der Not eine Tugend zu machen: Pars pro toto kann insoweit auf die Kommentierung von R. Stettner verwiesen werden, der zu folgendem Schluss kommt: „. . . der verfassungsändernde Gesetzgeber (nahm) ganz offensichtlich auf bestimmte Vorschriften der Gewerbeordnung ( . . . § 33 i Spielhallen und ähnliche Unternehmen . . . ) Bezug , so dass die einschlägigen (derzeit noch geltenden) bundesrechtlichen Bestimmungen als quasi verfassungsrechtlich rezipiert gelten können, wenn es um die Auslegung und Definition der verwendeten Begriffe geht“.7
Kurzum, wenn der Gesetzgeber von der Spielhallenkompetenz der Länder redet, dann meint er Spielhallen im Sinne des § 33 i GewO, und wenn § 33 i GewO Spielhallen regelt, dann bestimmt sich die Reichweite der neuen Landeskompetenz eben nach Maßgabe der dortigen Regelung. Eine kurze und griffige Lösung, die 4 Eine parallele Intention findet sich immerhin in der sog. „Münchener Erklärung“ der Präsidentinnen und Präsidenten der deutschen Landtage vom 18. Oktober 2004, Kommissions-Drs. 83, S. 2; zit. nach Friedrich (Fn. 3), S. 241 f. 5 Vgl. dens. (Fn. 3), S. 245. 6 Dokumente abrufbar unter http: // www.bundestag.de/ausschuesse/a06/foederalismusreform/ Anhoerung/01_Allgemeiner_Teil/index.html. 7 Stettner, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Band 2, 2. Aufl. Supplementum 2007, Art. 74 Rn. 64.
„Verfassungsrecht als abstrahiertes Verwaltungsrecht“?
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sich so oder ähnlich zwischenzeitlich in nahezu allen einschlägigen Stellungnahmen und Kommentierungen,8 ja sogar in den Erläuterungen zum Entwurf des neuen Glücksspielstaatsvertrages9 findet. „Verfassungsrecht als abstrahiertes Verwaltungsrecht“, könnte man in Umkehrung der Fritz Werner’schen Formel vom „Verwaltungsrecht als konkretisiertem Verfassungsrecht“ formulieren.10 Nun ziemt es sich nicht, über die Verfassungsgesetzgebung zu spötteln.11 Dies umso weniger, als Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG keineswegs nur untergeordnete Themenbereiche betrifft. Zu einem „Seite Eins-Thema“ ist in den vergangenen Monaten zumal das gewerbliche Spielrecht avanciert, auf das im Folgenden einzugehen sein wird. Kurioserweise ist dabei speziell die grundgesetzliche Kompetenzverteilung zu einem potentiellen Stolperstein für die nationale Regulierung geworden. So hat der EU-Binnenmarktkommissar Charly McCreevy die Gemeinschaftsrechtskonformität des von den Ländern unlängst in Kraft gesetzten Glücksspielstaatsvertrages mit der Begründung bestritten, dass die dortigen scharfen Regulierungen inkonsistent und damit unzulässig seien. Sein Verdikt gründet er auf den Umstand, dass der mutmaßlich gefahrenträchtigere 12 Bereich des ge8 So etwa Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 9. Aufl. 2007, Art. 70 Rn. 23, wonach der Spielhallenvorbehalt in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG die Spielhallenerlaubnis nach § 33 i GewO idF vom 22. 2. 1999 betreffen soll; Schönleiter, GewArch 2006, 372; ebenso Friedrich (Fn. 3), S. 245; wohl auch Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, 4. Aufl. 2007, Art. 74 Rn. 47; ders., NVwZ 2006, 1213 f.; Oeter, in: Starck, Föderalismusreform – Einführung, 2007, Rn. 63; Hahn, GewArch 2007, 89; etwas vorsichtiger, wenngleich mit derselben Tendenz auch Schmitz, in: Holtschneider / Schön (Fn. 3), S. 250 Fn. 17: „jedenfalls § 33 i GewO“; ähnl. Ennuschat / Brugger, ZfWG 2006, 292: „zumindest § 33 i GewO“; im Erg. wohl auch Martinez, in: BeckOK, Gewerberecht, hrsg. von Pielow, Stand: 01. 05. 2008, § 33 i GewO Einleitung; a. A. Dietlein, ZfWG 2008, 12 ff. 9 Vgl. B. 8 der Erläuterungen zum Entwurf des Glücksspielstaatsvertrages (Stand 14. 12. 2006), wo es heißt: „In den Staatsvertrag können – entgegen den fachlichen Vorschlägen der Suchtexperten – keine Anforderungen an das gewerbliche Spiel in Spielhallen aufgenommen werden. Hier sind die Länder an einer Regelung durch die abschließende Normierung des Bundes in der Gewerbeordnung (GewO) und der Spielverordnung gehindert; die in der Föderalismusreform übertragene Zuständigkeit für die Spielhallen umfasst nur die (räumlich radizierte) Spielhallenerlaubnis in § 33 i GewO, nicht dagegen das gewerbliche Spielrecht der §§ 33 c bis g GewO.“ 10 Vgl. dens., DVBl. 1959, 527. 11 „Lex non debet esse ludibrio“, nach Bartolus, Komm. 2 Summarium zu Cod. Jus. 1, 1, 1. 12 Hierzu nur Meyer / Bachmann, Spielsucht, 2. Aufl. 2005, S. 68 mit weiteren Nachweisen: „Glücksspiele mit dem höchsten Suchtpotential“; ähnl. Meyer / Hayer, Das Gefährdungspotenzial von Lotterien und Sportwetten, Abschlussbericht an das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW und an die Westdeutsche Lotterie GmbH & Co. KG, 2005, bes. S. 7 ff.; nachdrücklich auch Kellermann, Glücksspielsucht als typische Suchtform: „Suchtpotential höher als bei Cannabis-Produkten“, abrufbar unter www.gluecksspielsucht.de (Stichwort: Materialien).
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Johannes Dietlein
werblichen Automatenspiels kraft Bundesrechts nach wie vor ein zulässiges Gewerbe darstelle.13 Auch einige nationale Gerichte sind diesem – politisch wohlklingenden, juristisch gleichwohl wenig überzeugenden14 – Ansatz gefolgt.15 Suchtverbände schließlich fordern seit langem einen schärferen Zugriff speziell auf das gewerbliche Automatenspiel,16 dessen hohes Gefährdungspotential unlängst auch vom Bundesverfassungsgericht17 hervorgehoben worden ist. Nur: wer ist im Bereich des gewerblichen Spielrechts eigentlich für was zuständig? Und welche Regelungsspielräume bestehen?
1. Der Spielhallenbegriff des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG Ist der Landesgesetzgeber tatsächlich auf den Spielhallenbegriff der Gewerbeordnung festgelegt? Und erfasst seine Kompetenz tatsächlich nur den bisherigen § 33 i GewO? Wer näher hinsieht, wird sich mit dem gegenwärtigen Erkenntnisstand gewiss nicht begnügen können.
13 Vgl. etwa das ergänzende Aufforderungsschreiben der EU-Kommission vom 21. 3. 2007 im Vertragsverletzungsverfahren 2003 / 4350, abgedruckt in ZfWG 2007, 117, unter Verweis auf das hohe Gefährdungspotential der Spielautomaten; ähnl. die ausführliche Stellungnahme der EU-Kommission vom 22. 3. 2007 zum Notifizierungsverfahren für den Staatsvertrag zum Glücksspielwesen, ZfWG 2007, 107; hiergegen nunmehr aber überzeugend die Stellungnahme des Jur. Dienstes der Europäischen Kommission an den EuGH, betreffend die verbundenen Rechtssachen C-316 / 07, C-358 / 07, C-359 / 07, C-360 / 07, C-409 / 07 und C-410 / 07, ZfWG 2008, 94, Rn. 34 m. Anm. Stein; gegen eine Gesamtkonsistenz auch ausdrücklich Hüsken, Staatsaufsicht über die Landesmedienanstalten und Sportwettenwerbung im Privatfernsehen, 2008, S. 232 f. 14 Ablehnend gegenüber dem vermeintlichen Gebot einer „Gesamtkonsistenz“ der nationalen Glücksspielregulierung denn auch OVG Hamburg NVwZ 2007, 726; ebenso Beschl. vom 1. 6. 2007, 1 Bs 107 / 07; zuletzt eingehend VG Stuttgart, Urt. vom 12. 7. 2007, 1 K 1652 / 05, Abs.-Nr. 37, unter Hinweis auf VGH Mannheim, Beschl. vom 6. 6. 2007, 6 S 2814 / 06; OVG Lüneburg, Beschl. vom 2. 5. 2007, 11 ME 106.07; VGH München, Beschl. vom 4. 1. 2007, 24 CS 06.3095; VG Braunschweig, Beschl. vom 21. 3. 2007, 5 B 334 / 06; VG Hamburg, Beschl. vom 10. 5. 2007, 4 E 921 / 07; VG Magdeburg, Urt. vom 9. 8. 2007, 3 A 297 / 06 MD; zuletzt eingehend auch LG Bremen, Urt. vom 20. 12. 2007, 12 O 379 / 06. 15 Vgl. etwa OVG Saarlouis, Beschl. vom 4. 4. 2007, 3 W 23 / 06; VG Gießen, (Vorlage-) Beschl. vom 7. 5. 2007, 10 E 13 / 07; zuletzt auch VG Stuttgart, (Vorlage-)Beschl. vom 24. 7. 2007, 4 K 4435 / 06. 16 Vgl. etwa das sog. 10-Punkte-Positionspapier des Fachverbandes Glücksspiel, mit dem die Einordnung von Unterhaltungsautomaten mit Gewinnmöglichkeit unter das staatliche Glücksspielmonopol vorgeschlagen wird; zit. nach Meyer / Bachmann (Fn. 12), S. 16. 17 BVerfG NJW 2006, 1261 ff. Rn. 100; LVerfG LSA, Urt. vom 8. 2. 2007, LVG 19 / 05; ebenso die Erläuterungen zum Glücksspielstaatsvertrag (Stand 14. 12. 2006), S. 4: „Bei weitem die meisten Spieler mit problematischem oder pathologischem Spielverhalten spielen . . . an Automaten, die nach dem gewerblichen Spielrecht betrieben werden dürfen.“
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a) Methodische Einwände Da ist zunächst der methodische Einwand, dass das einfache Recht als subkonstitutionelles Recht nicht Maßstab der Verfassungsauslegung sein kann.18 Das Verhältnis zwischen Verfassungsgesetz und Parlamentsgesetz ist eben „nicht ein solches der Koordination, gar der wechselseitigen Substitution, sondern ein solches der Subordination. Es wird einseitig von der Verfassung her bestimmt“.19 Frei nach Herbert Krüger: Die Gesetze gelten im Rahmen der Verfassung und nicht die Verfassung im Rahmen der Gesetze. Folgerichtig ist im Schrifttum allgemein anerkannt, dass selbst einfachrechtlich vorgeprägte Begriffe – wie auch der hier zu prüfende Spielhallenbegriff – „im Grundgesetz gleichwohl einen eigenständigen Inhalt entfalten“ können.20 Dies gilt umso mehr, als jede Festlegung von Verfassungsnormen auf Regelungsgehalte des einfachen Rechts zu einer Versteinerung der einfachrechtlichen Lage führen müsste.21 b) Der Spielhallenbegriff vor dem Hintergrund des einfachen Rechts Die Untauglichkeit einer Verfassungsauslegung am Maßstab des einfachen Rechts zeigt sich aber auch ganz konkret, wenn man den gewerberechtlichen Spielhallenbegriff aus der Nähe betrachtet.22 Der dortige Begriff ist nämlich keineswegs so eindeutig und unbestritten, wie dies auf den ersten Blick erscheinen mag. aa) Beispiel 1: Der raumbezogene Spielhallenbegriff Zwar hat sich nach langen Auseinandersetzungen ein sog. „raumbezogener“ Spielhallenbegriff durchgesetzt, demzufolge als Spielhalle jeder einzelne Raum anzusehen ist, in dem Spielangebote der in § 33 i GewO genannten Art vorgehalten werden.23 Die Defizite dieses Begriffsverständnisses sind allerdings offensichtlich und im gewerberechtlichen Schrifttum deutlich aufgezeigt worden:24 So stellt der Hierzu Dietlein, ZfWG 2008, 13. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 16, unter Verweis auf BVerfGE 28, 243 (260 f.). 20 Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, S. 53. 21 Zutreffend Höfling / Rixen (Fn. 1), S. 7, die aus dieser Erkenntnis allerdings nur bedingt die notwendigen Konsequenzen ziehen. 22 Vgl. Dietlein, ZfWG 2008, 14 ff. 23 Grundlegend BVerwG NVwZ 1985, 269; BVerwG GewArch 1985, 64; BVerwG GewArch 1985, 65; BVerwG GewArch 1989, 264; BVerwG GewArch 1990, 244; aus dem Schrifttum etwa Dickersbach, WiVerw 1985, 39; Odenthal, GewArch 1985, 257; Orlob, GewArch 1985, 41; Hahn, in: Friauf, Kommentar zur Gewerbeordnung, Loseblatt, Stand: 2007, § 33 i GewO Rn. 7; Tettinger, in: Tettinger / Wank, Gewerbeordnung, Kommentar, 7. Aufl. 2004, § 33 i GewO Rn. 6. 24 Vgl. etwa, Marcks, WiVerw 1986, 28; mit umfassender Argumentation Marcks, in: Landmann / Rohmer, Gewerbeordnung, Kommentar, Band 1, Loseblatt, Stand: 2007, § 33 i GewO Rn. 4. 18 19
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raumbezogene Spielhallenbegriff die zentrale Ursache für die vieldiskutierte Problematik der sog. „Mehrfachkonzessionen“ dar.25 Hierbei geht es um das Problem, dass abgeschlossene Räume eines einheitlichen Gebäudes, aber auch Untergliederungen eines einzigen Raumes, u.U. als jeweils gesonderte Spielhalle genehmigt werden können und müssen.26 Mit dieser in der Praxis mittlerweise recht häufigen Massierung vermeintlich selbständiger Spielhallen aber ergeben sich Gebilde, die sich ihrem äußeren Erscheinungsbild nach zunehmend klassischen Spielbanken annähern; und dies, obgleich letztere kraft Landesrecht einer wesentlich schärferen Regulierung unterliegen als Spielhallen. Ferner drohen die gewerberechtlichen Spielerschutzregelungen infolge der Massierung von Spielhallen zumindest teilweise ins Leere zu laufen. Zu erwähnen ist insbesondere die rechtliche Begrenzung der zulässigen Höchstzahl von Automaten in einer Spielhalle,27 die durch das Nebeneinander mehrerer Spielhallen in einem an sich zusammengehörenden Ladenlokal beliebig unterlaufen werden kann. Soll nun der Landesgesetzgeber, wenn er von seiner neuen Spielhallenkompetenz Gebrauch macht, tatsächlich für alle Zeiten auf diesen umstrittenen Spielhallenbegriff festgelegt sein? Ich denke, eine solche Auslegung von Verfassungsrecht am Maßstab des einfachen Rechts ginge erkennbar zu weit. So wäre alternativ etwa auch die Normierung eines „betriebsbezogenen“ Spielhallenbegriffs denkbar, der auf die jeweilige unternehmerische Einheit abstellt.28 Zumindest aber muss den Ländern die Befugnis zugestanden werden, die Erteilung von Mehrfachkonzessionen in denselben oder zusammenhängenden Gebäuden gefahrenrechtlich zu überprüfen und ggf. neu zu bewerten. bb) Beispiel 2: Enumerative Aufzählung zulässiger Angebote Ein weiteres Beispiel: § 33 i GewO definiert Spielhallen als Veranstaltungsort, der ausschließlich auf die Vorhaltung dreier Angebotsvarianten bezogen ist, nämlich zum einen – auf die Aufstellung von Automatenspielen mit Gewinnmöglichkeit (§ 33 c GewO), also Automatenglücksspielen,29 des Weiteren 25 Hierzu Dietlein / Hüsken, in: Dietlein / Hecker / Ruttig, Glücksspielrecht, 2008, § 33 i GewO Rn. 5. 26 Zum Genehmigungsanspruch Dietlein / Hüsken (Fn. 25), § 33 i GewO Rn. 6 f. 27 Vgl. hierzu Dietlein / Hüsken (Fn. 25), § 3 SpielVO Rn. 4 ff. 28 Hierzu bereits Marcks (Fn. 24), § 33 i GewO Rn. 4 f. sowie Dietlein / Hüsken (Fn. 25), § 33 i GewO Rn. 5. 29 Zum Glücksspielcharakter der betreffenden Automaten BVerwG GewArch 1983, 60; EuGH EuZW 2000, 148 – Läärä; Hahn, GewArch 2007, 90; Marcks (Fn. 24), § 33 c GewO Rn. 4; Hahn (Fn. 23), § 33 c GewO Rn. 5; aA Bahr, Glücks- und Gewinnspielrecht, 2. Aufl. 2007, S. 65, der ausschließlich die unter das Spielbankenrecht der Länder fallenden Automatenspiele als Glücksspiele ansieht.
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– auf die Aufstellung von Unterhaltungsspielen ohne Gewinnmöglichkeit (§ 33 i GewO), also etwa Flipperautomaten sowie schließlich – auf die Veranstaltung anderer Spiele mit Gewinnmöglichkeit, die allerdings keine Glücksspiele sein dürfen (§ 33 d GewO).
Soll dieses einfachrechtliche Verständnis ebenfalls die Verfassungsauslegung für alle Zeiten binden? Warum sollte der Landesgesetzgeber dem Spielhallenbegriff nicht weitere Angebotsvarianten hinzufügen oder aber auch entnehmen können? Als mögliches Beispiel seien Laserspiele nach Art des Quasar-Spieles genannt. Hierbei handelt es sich um ein gewiss perverses, in den einschlägigen Kreisen aber gleichwohl äußerst beliebtes Kriegsspiel, bei dem sich die Spieler in Soldatenuniform einkleiden und gegenseitig mit Laser-Kriegswaffen „digital“ zu töten versuchen. Ein Sensor registriert die Treffer einer digitalen Waffennachbildung, die getroffene Person gilt als gefallen und darf nicht weiter mitspielen. Die Verwaltungsgerichte haben eine Subsumtion der betreffenden „Laserdrome“ und Quasar-Anlagen unter den Spielhallenbegriff mit der juristisch einwandfreien Begründung abgelehnt, dass es zwar um eine Art Unterhaltungsspiel (ohne Gewinnmöglichkeit) gehe, dieses aber nicht iSd § 33 i GewO „aufgestellt“ werde.30 Mit Blick auf die neue Landeskompetenz zum Spielhallenwesen stellt sich allerdings die Frage: Warum sollte der Landesgesetzgeber in Zukunft keine entsprechende Erweiterung des Spielhallenbegriffes vornehmen dürfen? Natürlich scheint diese Frage zunächst von nur akademischer Bedeutung. Denn bekanntlich hat die Rechtsprechung das Quasar-Spiel mit ebenfalls guten Argumenten als Verstoß gegen die Menschenwürdegarantie angesehen,31 so dass das Spielangebot auch nicht „Gewerbe“ im Sinne der Gewerbeordnung sein kann.32 Praktisch relevant wird die Frage aber spätestens in dem Moment, in dem ein Spielanbieter anstelle der digitalen Jagd auf lebende Menschen eine digitale Jagd etwa auf computergesteuerte Raubtiernachbildungen inszeniert. Warum, so die Frage, sollte der Landesgesetzgeber nicht berechtigt sein, derartige Installationen künftig ebenfalls als Spielhallen anzusehen und zu regulieren? Eine Zementierung des Spielhallenbegriffs auf den Erkenntnisstand des Jah30 VGH München NVwZ-RR 1995, 32; OVG Koblenz NVwZ-RR 1995, 30; Hahn (Fn. 23), § 33i GewO Rn. 15; Tettinger (Fn. 23), § 33 i GewO Rn. 25; Marcks (Fn. 24), § 33 i GewO Rn. 12c; Lippstreu, GewArch 1993, 311 ff.; hierzu auch Diegmann / Hoffmann / Ohlmann, Praxishandbuch für das gesamte Spielrecht, 2008, Rn. 356; für eine Einordnung als Unterhaltungsspiel ohne Gewinnmöglichkeit immerhin LG Stuttgart NJW-RR 1994, 428. 31 BVerwG GewArch 2007, 247; BVerwG NVwZ 2002, 598; EuGH NVwZ 2004, 1471 – Omega; OVG Koblenz NVwZ-RR 1995, 30; OVG Münster GewArch 2000, 71; OVG Münster GewArch 1995, 470; Hahn (Fn. 23), § 33 i GewO Rn. 15. Eingehend zuletzt hierzu auch Diegmann / Hoffmann / Ohlmann (Fn. 30). 32 So auch der Bund-Länder-Ausschuss Gewerberecht, 73. Tagung, 11. / 12. 05. 1993; teilweise anders VGH München GewArch 1994, 376; LG Stuttgart NJW-RR 1994, 427.
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res 1960, dem Jahr der Einführung des § 33 i GewO, erscheint wenig plausibel.33 cc) Beispiel 3: Ähnliche Unternehmen In welch sonderbare Diskussionen man gerät, wenn man den einfachrechtlichen Spielhallenbegriff des § 33 i GewO in das Verfassungsrecht zu implantieren sucht, zeigt nicht zuletzt die Erstreckung des § 33 i GewO auch auf „ähnliche Unternehmen“, also etwa spielhallenähnliche Aufenthaltsbereiche in Flughäfen oder Bahnhöfen. Denn wenn die betreffenden Lebensbereiche kraft ausdrücklicher Definition des einfachen Rechts nicht selbst Spielhallen, sondern nur „spielhallenähnlich“ sind, müssten sie bei strikter Orientierung an § 33 i GewO konsequenterweise von der neuen Gesetzgebungskompetenz der Länder ausgenommen sein.34 § 33 i GewO zerfiele damit künftig in einen bundes- und einen landesrechtlichen Kompetenzbereich. 35 Kann dies tatsächlich gewollt sein? Natürlich handelt es sich um eine rhetorische Frage. Das „argumentum ad absurdum“ zeigt aber überdeutlich, dass von einer Bindung der Verfassungsauslegung an die einfachrechtliche Begriffsbildung des § 33 i GewO nicht ausgegangen werden kann. c) Folgerungen und eigener Ansatz Theorie und Praxis kommen damit, wie dies im Grunde immer sein sollte, zu demselben Ergebnis: Nämlich – frei nach Herbert Krüger –: Die Verfassung gilt nicht im Rahmen der Gesetze, sondern die Gesetze gelten im Rahmen der Verfassung. Das aber bedeutet: Der Begriff der Spielhalle in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG wird durch § 33 i GewO nicht präjudiziert, sondern bedarf einer eigenständigen, genuin verfassungsrechtlichen Auslegung. Dabei erweist sich das Verfassungsrecht keineswegs als so unergiebig, wie dies auf den ersten Blick scheinen mag. Einen brauchbaren Auslegungsansatz bietet nämlich immerhin Art. 106 Abs. 2 Nr. 6 GG, der explizit die „Spielbanken“ erwähnt und diese mit einer besonderen Spielbankenabgabe belegt. Sowohl der Begriff der Spielbank als auch Sinn und Zweck der Spielbankenabgabe selbst weisen dabei auf die besondere Ausrichtung der Spielbanken als Ort des Glücksspiels. So zielt insbesondere die Spielbankenabgabe nach gefestigter Judikatur darauf ab, die sozialschädlichen Folgen des Glücksspiels zu kompensieren und auf Gewinne zuzugreifen, die nicht Folge unternehmerischen Handelns, sondern Konsequenz Dietlein, ZfWG 2008, 12, 17. In diesem Sinne wohl auch Höfling / Rixen (Fn. 1), S. 7, die den Spielhallenbegriff des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG aus eben diesem Grunde lediglich als „Typusbegriff“ verstehen, der die einfachrechtliche Einbeziehung ähnlicher Unternehmen zulasse. 35 Entsprechende Erwägungen wären im Übrigen für Spielhallen im Reisegewerbe anzustellen (§ 60 a Abs. 3 GewO). 33 34
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der Ausnutzung des menschlichen Spieltriebes sind.36 Stellt man nun den neuen verfassungsrechtlichen Spielhallenbegriff neben diesen Spielbankenbegriff, lässt sich unschwer rückschließen, dass es bei Spielhallen um solche Betriebsstätten gehen soll, die ihrem Typus nach nicht speziell dem Angebot von Glücksspielen dienen, die deshalb auch nicht mit einer kompensatorischen Spielhallenabgabe belegt werden und die damit – positiv gewendet – dem „Unterhaltungsspiel“ i. w. S.37 zu dienen bestimmt sind. Nach Maßgabe dieser Verfassungsauslegung kommt der Landesgesetzgebung bei der Ausgestaltung des Spielhallenbegriffs ein weiter Spielraum zu. Insbesondere wird sich eine Festlegung auf den raumbezogenen Spielhallenbegriff verfassungsrechtlich nicht begründen lassen, so dass die Frage der Erteilung von Mehrfachkonzessionen künftiger landesrechtlicher Regelung obliegt. Ähnliche Entscheidungsspielräume ergeben sich hinsichtlich der in § 33 i GewO getroffenen Festlegung der Spielhallen auf bestimmte Spielangebote, die künftig ebenfalls der Landesgesetzgebung überantwortet sind. Insoweit wird der Landesgesetzgeber im Rahmen künftiger Regulierungen durchaus auf das zulässige Angebot in Spielhallen Einfluss nehmen können, sei es, dass er die Spielhallen für weitere als die bislang in § 33 i GewO genannten Spielarten öffnet, sei es, dass er neue Erkenntnisse hinsichtlich des Gefahrenniveaus bislang zulässiger Angebote berücksichtigt und die bisherige Angebotspalette für Spielhallen dementsprechend verengt.
2. Die Reichweite der Landeszuständigkeit über das Spielhallenwesen Mit der potentiellen Öffnung der Spielhallenkompetenz der Länder für eine eigenständige Gestaltung des betreffenden Lebensbereiches stellt sich unvermeidlich die Frage, ob und inwieweit die gewerberechtlichen Regelungen des allgemeinen Spiel- und Automatenrechts (§§ 33 c ff. GewO) zu einer Bindung der Landesgesetzgebung führen, etwa kraft des Vorranges des Bundesrechts vor dem Landesrecht (Art. 31 GG). Auch im Rahmen der Prüfung dieser Frage manifestieren sich bei näherer Betrachtung sehr schnell die Probleme einer auf § 33 i GewO fokussierten bzw. reduzierten Verfassungsauslegung.
36 Vgl. BVerfGE 102, 197 (216). Eingehend Birk, in: Dietlein / Hecker / Ruttig (Fn. 25), SteuerR, Rn. 27 ff. 37 Selbstverständlich geht es hierbei nicht um den einfachrechtlichen Begriff des Unterhaltungsspiels nach § 33 i GewO. Als Unterhaltungsspiel im verfassungsrechtlichen Sinne sind etwa auch Spiele nach § 33 d GewO anzusehen, während Spiele i. S. d. § 33 c GewO eindeutig Glücksspiele darstellen.
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a) Bisherige Verzahnung des Spielhallenrechts mit dem gewerblichen Spielrecht Denn das Spielhallenwesen wird in § 33 i GewO nur zum Teil geregelt. Tatsächlich ist das Recht der Spielhallen in sehr komplexer Weise in das tradierte Ordnungssystem des gewerblichen Spielrechtes insgesamt eingebunden.38 So bedarf ein Spielhallenbetreiber nicht nur der Spielhallenerlaubnis nach § 33 i GewO. Soweit es ihm, wie im Regelfall, (zumindest auch) um die Aufstellung von Spielautomaten mit Gewinmöglichkeit geht, bedarf er zusätzlich einer allgemeinen Aufstellererlaubnis nach § 33 c Abs. 1 S. 1 GewO sowie einer behördlichen Bestätigung des gewählten Aufstellortes nach § 33 c Abs. 3 GewO. Die aufgestellten Geräte bedürfen weiter einer Bauartzulassung nach § 33 c Abs. 1 S. 2 GewO. Die Höchstzahl der in einer Spielhalle zugelassenen Automaten wird schließlich durch die nach § 33 f GewO erlassene Spielverordnung nochmals begrenzt. Vergleichbares gilt, wenn neben den Automatenspielen sonstige Spiele mit Gewinnmöglichkeit (z. B. Skat oder Dart) angeboten werden, die allerdings nach § 33 h GewO keine Glücksspiele (wie z. B. Poker) sein dürfen. Natürlich darf aus der Verzahnung des Spielhallenrechts mit dem allgemeinen gewerblichen Spielrecht nicht gefolgert werden, dass die neue Kompetenz das allgemeine Automatenrecht auf die Länder übertragen soll. So ergibt die Verfassungsnorm recht eindeutig, dass es nur um die Spiel-„hallen“, also um konkrete Geschäftseinrichtungen geht, nicht aber um das gewerbliche Spielrecht insgesamt.39 Genau hierin liegt allerdings die Crux der kompetenziellen Neuordnung. Denn mit der Statuierung eines gesonderten Kompetenztitels „Spielhallen“ hat der verfassungsändernde Gesetzgeber einen organisch gewachsenen und bislang thematisch verbundenen Regelungsbereich zerschlagen, ohne sich näher mit den Folgen dieser Kompetenztrennung zu befassen. Zugleich zeigt sich, dass dem Landesgesetzgeber mit der von der h. M. angenommenen Überweisung des § 33 i GewO keine wirkliche Regelungshoheit über das Spielhallenwesen zukäme. Gerade das „Innenleben“ der Spielhallen, wie es bislang durch die §§ 33 c ff. GewO sowie die politisch hochumstrittene Spielverordnung (SpielVO) geregelt wird, bliebe dem Zugriff des Landesgesetzgebers weitgehend entzogen.40 b) Vergleichsfall Spielbanken Wie aber eine wirkliche Regelungshoheit der Länder aussieht, zeigt die Regelung des § 33 h Nr. 1 GewO, der die Spielbanken – einfachrechtlich – aus dem Anwendungsbereich des gewerblichen Spielrechts ausklammert. Denn diese BeHierzu Dietlein / Hüsken (Fn. 25), Vorb. GewO Rn. 8, § 33 i GewO Rn. 1. Hierzu Dietlein, ZfWG 2008, 12, 16. 40 Im Sinne dieser Konsequenz Schmitz, in: Holtschneider / Schön (Fn. 3), S. 247, 250 Fn. 17. 38 39
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reichsausnahme, mit der die Gewerbeordnung letztlich die tradierten Kompetenzgrenzen zwischen der bundesrechtlichen Wirtschaftsgesetzgebung und der landesrechtlichen Polizeigesetzgebung nachzeichnet, 41 ist rechtlich und tatsächlich umfassender Natur. Sie legt fest, dass die Gewerbeordnung im Bereich der Spielbanken schlichtweg nicht anwendbar ist. Dies auch dann nicht, wenn dort Automaten aufgestellt werden, die im gewerberechtlichen Kontext der Aufstellererlaubnis, der Bauartzulassung und der behördlichen Bestätigung des Aufstellungsortes nach § 33 c GewO bedürfen.42 Ob und inwieweit solche oder ähnliche Vorgaben auf Spielbanken Anwendung finden sollen, ist eben nicht mehr Sache der Gewerbeordnung, sondern allein Sache der für das allgemeine Gefahrenabwehrrecht zuständigen Länder.43
c) Lösungsvorschlag: Spielhallenwesen als verfassungsrechtliche Bereichsausnahme Die Analogiefähigkeit dieses dogmatischen Ansatzes liegt förmlich auf der Hand: Denn wenn die Bereichsausnahme des § 33 h Nr. 1 GewO letztlich eine verfassungsrechtliche Trennlinie zwischen der Bundes- und Landesgesetzgebung nachzeichnet, kann für die durch die Neufassung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG bewirkte Kompetenzabgrenzung im Grunde nichts anderes gelten.44 Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG gibt den Ländern mit anderen Worten die Befugnis, dass Recht der Spielhallen – selbstverständlich unter Beachtung der materiellen Verfassungs- und Gemeinschaftsrechtsvorgaben – umfassend zu regulieren. Eine Bindung an die Gewerbeordnung besteht nicht. Immerhin behalten die spielhallenrechtlichen Regelungen der Gewerbeordnung ihre Gültigkeit, solange sie nicht durch landesgesetzliche Regelungen ersetzt werden (Art. 125 a Abs. 1 GG). Tettinger (Fn. 23), § 33 h GewO Rn. 3. Vgl. statt aller Bahr (Fn. 29), Rn. 249; auch Meßerschmidt, in: BeckOK (Fn. 8), § 33 c GewO Rn. 8; aA wohl Fröhler / Kormann, Kommentar zur Gewerbeordnung, 1978, § 33 h GewO Rn. 1; dies bedeutet, dass insoweit auch Erlaubnisse, Bauartzulassung und Unbedenklichkeitsbescheinigung entfallen, wenn das Landesrecht nichts Gegenteiliges bestimmt, vgl. Hahn (Fn. 23), § 33 h GewO Rn. 9. Freilich wird die Unanwendbarkeit der GewO regelmäßig durch den Erlass behördlicher Spielordnungen kompensiert, mit denen die Spielabläufe in den Spielbanken im Einzelnen geregelt werden, vgl. hierzu Bahr (Fn. 29), Rn. 253. 43 Zu dieser Zuständigkeitszuordnung aus der Verfassungsjudikatur nur BVerfG NVwZ-RR 2008, 1 ff., das die gefahrenabwehrrechtliche Zielrichtung des bayerischen Spielbankenrechtes ausdrücklich bestätigt. In der Sache folgt der Kammerbeschluss damit der früheren Grundsatzentscheidung in BVerfGE 28, 119 (143); eingehend hierzu Dietlein (Fn. 25), Art. 70 ff. GG Rn. 14; allgemein Hüsken (Fn. 13), S. 188 f.; für eine wirtschaftsrechtliche Zuordnung dagegen Ennuschat, in: BeckOK (Fn. 8), § 33 i GewO Rn. 3; Degenhart (Fn. 8), Art. 74 GG Rn. 47; ebenso ders., NVwZ 2006, 1214; Pieroth (Fn. 8), Art. 74 GG Rn. 26; tendenziell auch Stettner (Fn. 7), Art. 74 GG Rn. 64; vgl. aus älteren Publikationen auch Pieroth / Störmer, GewArch 1998, 179. 44 Eingehend Dietlein, ZfWG 2008, 18. 41 42
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III. Materielle Handlungsspielräume Im Rahmen der hier dargestellten Verfassungsauslegung eröffnet sich den Ländern ein weiter legislativer Gestaltungsspielraum. Nicht zuletzt bietet sich den Ländern die Möglichkeit, die vielkritisierten Defizite bei der Suchtprävention zumindest im Bereich der Spielhallen aus eigener Kraft heraus anzugehen. Wohin die Reise zu gehen hat, machen die Zahlen deutlich. Von den nach aktuellen Schätzungen ca. 100.000 bis 170.000 pathologischen Spielern45 in Deutschland spielen „bei weitem die meisten Spieler . . . an Automaten, die nach der Gewerbeordnung betrieben werden“.46 Hierbei handelt es sich vor allem um Automaten nach § 33 c GewO, die ihrer Natur nach echte Glücksspiele darstellen.47 Namentlich für jugendliche Spieler wird das Suchtrisiko derartiger Automatenglücksspiele als außerordentlich hoch eingestuft, da angesichts der zunächst relativ niedrigen Einsätze die Verlockung zum Weiterspielen auch bei schon hohen Verlusten „schier unwiderstehlich ist“.48 Dabei ist zugleich zu vergegenwärtigen, dass die volkswirtschaftlichen Kosten des pathologischen Glücksspiels nach zahlreichen Untersuchungen außerordentlich hoch zu beziffern sind, so dass teilweise sogar von einer „ökonomischen Zeitbombe“ (Goodman) die Rede ist.49 Mag Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG nach den vorangegangenen Darlegungen auch keine Grundlage dafür bieten, den kommerziellen Betrieb von Glücksspielautomaten – etwa nach dem Beispiel der Schweiz – landesrechtlich generell zu verbieten, verbleibt immerhin die Möglichkeit, dass die Länder für den Bereich der Spielhallen eine entsprechende Beschränkung des zulässigen Spielangebotes vorsehen und das Automatenglücksspiel i. S. d. § 33 c GewO künftig strengeren Auflagen unterwerfen oder sogar ganz aus entsprechenden Betrieben verbannen.50 Gerade das verfassungsrechtliche Begriffspaar „Spielbank“ und „Spielhalle“ darf dabei als starkes Argument dafür gewertet werden, Glücksspielangebote soweit wie möglich zu den Spielbanken und nicht zu den Spielhallen zu ressortieren. Für einen solchen Schritt sprechen nicht zuletzt die wesentlich schärferen Bindungen der Spielbanken an die Gewährleistung eines effektiven Spielerschutzes.
45 Zahlen nach Diegmann / Hoffmann / Ohlmann (Fn. 30), Rn. 372; der Drogen- und Suchtbericht der Drogenbeauftragen der Bundesregierung von Mai 2008 geht von 80.000 bis 400.000 beratungs- und behandlungsbedürftigen Spielern aus; von 80.000 bis 140.000 pathologischen Spielern gehen Meyer / Hayer aus, vgl. dies., Das Gefährdungspotential von Lotterien und Sportwetten – Eine Untersuchung von Spielern aus Versorgungseinrichtungen, 2005, S. 31. 46 BVerfG ZfWG 2006, 16, 26. 47 Vgl. BVerwG, GewArch 1983, 60; aus dem Schrifttum Dietlein / Hüsken (Fn. 25), § 33 c GewO Rn. 1, 4; Hahn, GewArch 2007, 90; Marcks (Fn. 24), § 33 c GewO Rn. 4; Hahn (Fn. 23), § 33 c GewO Rn. 5; a. A. Bahr (Fn. 29), S. 65. 48 Diegmann / Hoffmann / Ohlmann (Fn. 30), Rn. 376. 49 Eingehend hierzu Meyer / Bachmann, Spielsucht, 2. Aufl. 2005, S. 130 m. w. N. 50 Vgl. Dietlein, ZfWG 2008, 19.
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Dass auch das Verfassungs- und Europarecht einem solchen Vorgehen nicht entgegen stehen, dürfte als geklärt anzusehen sein. So haben der EuGH51 und der EFTA-Court52 explizit ausgeführt, dass sogar eine komplette Überführung des gewerblichen Automatenglücksspiels in das schärfere Regime des Ordnungsrechts nicht zu beanstanden wäre.53 Auch die verfassungsrechtliche Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts zum gewerblichen Automatenglücksspiel dürfte eindeutig sein. Denn wenn Berufszugangsbeschränkungen im Bereich des Sportwettenangebots aus Gründen der Suchtprävention verfassungsrechtlich zulässig sind, kann die Bewertung für die unter Suchtaspekten gefährlichste Glücksspielvariante des gewerblichen Automatenglücksspiels kaum anders ausfallen.54 Für die Länder freilich endet die Regelungszuständigkeit derzeit jenseits der Spielhallen.55 Immerhin aber könnten die Länder die Spielhallen dorthin zurückführen, wo diese – auch nach dem Verständnis der Verfassung – ihren Platz haben, nämlich bei dem Unterhaltungsspiel.
IV. Fazit Die neue Spielhallenkompetenz der Länder ist losgelöst von § 33 i GewO einer autonomen verfassungsrechtlichen Interpretation zuzuführen. Die Landeskompetenz erstreckt sich auf den gesamten Bereich des Spielhallenwesens, umfasst dagegen nicht das gewerbliche Spielrecht im Allgemeinen. Konturen gewinnt der verfassungsrechtliche Begriff der Spielhalle insbesondere aus seiner Abgrenzung vom Spielbankenbegriff des Art. 106 Abs. 2 Nr. 6 GG. Letzterem wird namentlich das Angebot echter Glücksspiele zuzuordnen sein, wohingegen sich Spielhallen durch ihre Ausrichtung auf Unterhaltungsspiele i. w. S auszeichnen. Vor dem Hintergrund der fortschreitenden Erkenntnisse zu dem erheblichen Suchtpotential gewerblicher Glücksspielautomaten werden die Landesgesetzgeber sorgsam zu prüfen haben, ob Spielhallen künftig noch ein legitimer Ort für die Aufstellung derartiger Glücksspielautomaten sein können. Unabhängig hiervon bleibt festzustellen, dass die Föderalismusreform zu einer weiteren und unnötigen Zersplitterung dort geführt hat, wo es einer Bündelung von Gesetzgebungszuständigkeiten, nämlich einer Zuweisung der Spiele- und Glücksspielgesetzgebung an die Länder bedurft hätte. Dringend erforderliche Reformen insbesondere des gewerblichen Spielrechts sind infolge der Novellierung einer Vgl. EuGH EuZW 2000, 148 – Läärä. Vgl. EuGH, Urt. vom 8. 11. 2006, Rs. E-1 / 06. 53 Hierzu eingehend Dietlein, ZfWG 2008, 80 f.; in diese Richtung tendenziell auch Hüsken (Fn. 13), S. 232 f. 54 Dietlein, ZfWG 2008, 78 ff. 55 Ob die neue Gaststättenkompetenz der Länder zugleich die Befugnisse zur Regulierung des Automatenwesens in Gaststätten mitumfasst, soll hier nicht erörtert werden. 51 52
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noch stärkeren Parzellierung unterworfen, als dies bislang der Fall war. Die Folgen dieser Fehlentwicklung sind derzeit nicht abzusehen. Auf der europäischen Bühne jedenfalls dürfte es in Zukunft noch schwerer werden, Verständnis für die höchst heterogene Regulierung des Spiel- und Glücksspielrechts in der Bundesrepublik Deutschland zu wecken.
„. . . in einem vom Christentum geprägten Lande“ Zur Position des Islam im staatskirchenrechtlichen System des Grundgesetzes Von Wolfgang Loschelder
1. Im Rahmen der „Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche“ hat Walter Leisner im März 1982 über „Das kirchliche Krankenhaus im Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland“ gesprochen.1 Er beginnt seine Darlegungen mit einem – kritischen – Rückblick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts,2 welche einerseits die Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG – vorliegend insbesondere im Bereich der Caritas3 – tendenziell auf jedes religiös motivierte Verhalten ausgedehnt,4 andererseits die institutionelle Freiheit der Kirchen (Art. 140 GG, 137 Abs. 3 WRV) hier wie auch sonst „immer wieder“ auf die grundrechtliche Religionsfreiheit „zurück[ge]führt“ hat.5 In diesem Zusammenhang findet Leisner für „dieses weite Verständnis der Religionsfreiheit, das alle Caritas einbezieht“ – eher beiläufig – die bemerkenswerte Formulierung: „und wie könnte es in einem vom Christentum geprägten Lande anders sein“.6 Diese Formulierung gibt den Anstoß zu den nachfolgenden Überlegungen. Denn heute, ein Vierteljahrhundert später, dürfte der Topos des „vom Christentum geprägten Lande[s]“, jedenfalls aus der Sicht der Allgemeinheit, erheblich an Selbstverständlichkeit und argumentativem Gewicht verloren haben. Der Einfluss der Kirchen auf das gesellschaftliche Geschehen hat sich über diese Zeit hinweg in Leisner, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 17 (1983), S. 9 ff. Leisner (Fn. 1), S. 11 ff. 3 Vgl. die Leitentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16. 10. 1968 in BVerfGE 24, 236 ff. (sog. Lumpensammler-Entscheidung) und die Kritik bei Herzog, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, Art. 4 Rn. 102 f. Siehe des Weiteren BVerfGE 53, 366 ff.; 57, 220 ff. 4 BVerfGE 24, 236 (246 ff.) – Sammlung und Verwertung von Altkleidern für karitative Zwecke; BVerfGE 41, 29 (48 f.) – Handlungen im Zusammenhang mit religiöser Erziehung, sofern sie nicht unter Art. 7 Abs. 3 GG fallen; BVerfGE 53, 366 (387) – Krankenpflege in religiös-karitativer Form. 5 Leisner (Fn. 1), S. 12 verweist in diesem Zusammenhang auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 25. 03. 1980 zur karitativen Krankenpflege (BVerfGE 53, 366 ff., insbesondere S. 401). 6 Leisner (Fn. 1), S. 13. 1 2
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vielen Bereichen abgeschwächt,7 und die Basis der Volksreligion schrumpft weiter – wenn auch regional und sozial in unterschiedlichem Maße.8 Die deutsche Wiedervereinigung hat die Probleme verschärft: Mit dem Beitritt von gut sechzehn Millionen Bürgern aus einem Territorium, in dem über vierzig Jahre der Atheismus Staats- und Gesellschaftsdoktrin – und Ziel intensiver Indoktrination – war,9 hat das Klima eines „neuen Heidentums“ an Dichte und Selbstverständlichkeit gewonnen. Das bedeutet nicht, dass in den sog. neuen Bundesländern die Religion überhaupt verschwunden wäre. Das, was über die Jahrzehnte hinweg überstanden hat, lebt – wie für Diasporasituationen typisch – sogar kräftiger als anderswo. Aber aufs Ganze gesehen hat sich unter der neuen Ordnung mit dem weiter vorhandenen alten und einem noch entsprechend sozialisierten jüngeren Personal an der Entchristlichung nichts Entscheidendes geändert. Ein zusätzlicher Faktor gewinnt an Bedeutung: Nicht ohne Grund wird davor gewarnt, dass die „fortschreitenden Angleichungen und Vereinheitlichungen innerhalb der Europäischen Union“ ihren Teil dazu beitragen werden, die Kirchen einem „deutlichen Minderheitsstatus“ zuzuführen.10 Ob dieser Prozess zwangsläufig ist, bleibt freilich abzuwarten. Dennoch kann – das ist die These – aus derartigen Beobachtungen nicht geschlossen werden, dass das Argument der christlichen Prägung der deutschen Kultur für politische und rechtliche Entscheidungen – und Unterscheidungen – bedeutungslos geworden wäre. Es spielt bei zahlreichen Auseinandersetzungen, besonders auf religionspolitischem und religionsrechtlichem Gebiet, eine zentrale Rolle – wenn auch regelmäßig bei durchaus kontroverser Bewertung. Letzteres kann nicht verwundern, weil die Einschätzung des Stellenwerts, den man diesem Argument beimisst, nicht zum wenigsten von den grundsätzlichen Positionen abhängt, welche die Beteiligten zum Verhältnis von Religion und säkularem Staat einnehmen. 2. Dass es in tatsächlicher Hinsicht ausschlaggebend sein kann – und darf –, ob eine politische – etwa bildungs- oder kulturpolitische – Entscheidung christliche oder nichtchristliche Alternativen betrifft, haben die Meinungsverschiedenheiten um das Unterrichtsfach „Lebensgestaltung, Ethik, Religionskunde (LER)“ eindrücklich vor Augen geführt. Der Streit darüber, ob sich das Land Brandenburg bei der Einführung dieses Unterrichtsfachs auf die sog. „Bremer Klausel“ des Art. 141 GG berufen und damit von der Einrichtung des Religionsunterrichts als eines „ordentlichen Lehrfachs“ im Sinne des Art. 7 Abs. 3 GG dispensieren könne,11 hat 7 Vgl. hierzu die Darstellung der Entwicklung der politischen und gesellschaftlichen Situation der Kirchen in Deutschland nach der Wiedervereinigung bei Hans Maier, in: Listl / Pirson, Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Aufl. 1994, S. 103 ff., 107 ff. 8 Vgl. die stetig sinkende Zahl der Kirchenmitglieder seit 1975 und die Prognose bis 2030 bei Begrich, ZevKR 52 (2007), 653 ff. 9 Zur Diskriminierung von Kirchen in der DDR vgl. Hollerbach, in: Listl / Müller / Schmitz, Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 1. Aufl. 1983, S. 1072 ff. 10 Geerlings, in: Geerlings / Sternberg, Kirche in der Minderheit, 2004, S. 29.
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vor dem Bundesverfassungsgericht bekanntlich zu einem eher zweifelhaften Kompromiss geführt.12 In der Folge hatte die Universität Potsdam – als die einzige lehrerbildende Hochschule des Landes – die Aufgabe, einen entsprechenden Studiengang zu entwickeln. Der erste Entwurf, den die zu diesem Zweck berufene Sachverständigenkommission vorlegte, war wenig überzeugend. Dazu ist anzumerken, dass dieser Kommission kein – evangelischer oder katholischer – Theologe angehörte. Vielmehr bestimmten auf diesem Feld unter anderem Religionswissenschaftler den Gang der Dinge. Entsprechend war das Ergebnis von entschiedener Beliebigkeit. Eine Gewichtung zwischen den verschiedenen Weltreligionen war nicht zu erkennen. Dass es vielleicht in einem „vom Christentum geprägten Lande“ sinnvoll sein könnte, jungen Menschen, die von dieser Prägung aus politisch-historischen Gründen nicht die geringste Ahnung haben, die nötigen Realia zu vermitteln – dieser Gedanke war den Autoren offenbar nicht gekommen. Nach heftigen Diskussionen hat die Hochschulleitung diesen Entwurf zurückgezogen und eine neue Kommission eingesetzt. In dieser war dann auch die Theologie angemessen – und prominent – vertreten. Das Konzept, welches diese Kommission erarbeitet hat und das die erforderlichen Akzente setzt, ist heute die Grundlage des Studiengangs LER.13 Die damit vorgenommene politische Differenzierung zwischen den Glaubensrichtungen war zweifellos legitim. Denn sie entspricht der staatlichen Verantwortung für die schulische Bildung und Erziehung. Ihr folgend muss den öffentlichen Schulen vorrangig daran gelegen sein, die Kinder und Jugendlichen mit dem Wissen und den Werten vertraut zu machen, die, wenn auch weitgehend in säkularisierter Form, vielfach nicht einmal bewusst, die Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung und des allgemeinen Selbstverständnisses bilden.14 Und ebenso muss – und darf – der Staat dabei auch sein eigenes Interesse verfolgen, diese Werte in der nachwachsenden Generation zu festigen, weil sie die wichtigste Voraussetzung für den Zusammenhalt des Gemeinwesens und damit für den Bestand und die Stabilität des freiheitlichen Staates selbst darstellen.15 11 Hierzu mit zahlreichen Nachweisen Heckel, Religionsunterricht in Brandenburg. Zur Regelung des Religionsunterrichtes und des Faches Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde (LER), 1998; ders., ZevKR 44 (1999), 147 ff.; Janz, ZevKR 53 (2008), 43 ff. 12 Vgl. die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts in BVerfGE 104, 305; 105, 235; 106, 210 = LKV 2003, 181 f. mit Besprechung von Janz, ebd., 172 f.; Renck, ebd., 173 f. Zum Ganzen im Überblick Badura, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, Art. 7 Rn. 80 ff. m. w. N. 13 Ordnung für das Bachelor- und Masterstudium im Lehramt Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde (LER) an der Universität Potsdam vom 8. Juli 2004 (Am. Bek. UP 2005, S. 145) i.d.F. der Ersten Satzung zur Änderung der Ordnung für das Bachelor- und Masterstudium im Lehramt Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde (LER) der Sekundarstufe I, der Primarstufe im Lehramt an Gymnasien und im Erweiterungsfach an der Universität Potsdam vom 26. Januar 2006 (Am. Bek. UP Nr. 11 / 2006, S. 1104). 14 Dazu Loschelder, Festschrift Listl, 1999, S. 354 ff.; eingehend Pieroth, DVBl. 1994, 949 ff.
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Aber auch rechtlich lässt sich an zentralen Beispielen aufzeigen, dass zumal – aber nicht nur – die grundgesetzlichen Verbürgungen der Religionsfreiheit, ungeachtet ihres grundsätzlichen Gleichheitsgehalts,16 in ihrer Anwendung auf christliche und nichtchristliche Glaubensgemeinschaften bei bestimmten Gegenständen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Diese Erkenntnis hat allerdings erst nach und nach an Boden gewonnen – und ist noch keineswegs Allgemeingut. Dies liegt daran, dass sich diese Gewährleistungen sowohl bei ihrer ursprünglichen Formulierung 1919 – Artt. 135 ff. WRV – wie bei ihrer Rezeption 1949 – Art. 4 GG (alias Art. 135 WRV), Art. 140 GG i. V. m. Artt. 136 ff. WRV – auf eine Situation bezogen, in der es im Wesentlichen um die Angehörigen christlicher Glaubensrichtungen und deren Religionsgemeinschaften ging. Vor diesem Hintergrund ist auch die von Leisner umrissene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu verstehen. Sie bezieht sich ebenfalls ganz auf ein „vom Christentum geprägte[s] Land“. Auf den Prüfstand gekommen ist diese Sicht – mehr als durch alle sonstigen gesellschaftlichen Veränderungen seit den 70er Jahren17 – durch die Begegnung mit dem „fremden“ Gegenstand Islam.18 Seitdem klar geworden ist, dass eine große – und anwachsende – muslimische Bevölkerungsgruppe unterschiedlicher Provenienz sich nicht nur vorübergehend in Deutschland niedergelassen hat,19 und seitdem diese Bevölkerungsgruppe sich, jedenfalls in Teilen, organisiert und artikuliert, Forderungen gerade auch mit religiösem und religionsrechtlichem Bezug formuliert, muss die religionsrechtliche Ordnung des Grundgesetzes Antworten finden, die dem „fremden“ Gegenstand Islam gerecht werden. So sehr die Bemühungen darum, gerade in den letzten Jahren, verstärkt worden sind, so wenig kann gesagt werden, dass sie bislang – auch nach Jahrzehnten20 – zu abschließenden Ergebnissen oder gar zu einem allgemeinen Konsens geführt hätten. Dabei wurde und wird ein solcher Konsens in der Sache zusätzlich dadurch erschwert, dass die Suche nach Lösungen in hohem Maße politisch überlagert und instrumentalisiert ist. Die partei- und gruppenpolitischen Kreuzzüge darum, ob und gegebenenfalls wie die Einwanderer – mehrheitlich aus der Türkei und der arabischen Welt – in die deutsche Gesellschaft integriert werden sollen, ob dies überhaupt wünschenswert wäre oder nicht eine „multikulturelle“ Gesellschaft das 15 Loschelder, Festschrift Isensee, 2007, S. 165 f.; Heckel, JZ 1999, 756; von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. 2006, S. 214. Grundsätzlich Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, 2. Aufl. 2006, S. 111 ff. 16 Siehe statt aller Heckel, in: Listl / Pirson, Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Aufl. 1994, S. 589 ff., insbesondere S. 619 f. 17 Vgl. Heinig, ZevKR 53 (2008), 235 ff. 18 Hierzu Loschelder, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 20 (1986), S. 149 ff. 19 Zu diesem – allmählichen – Erkenntnisprozess Hermann Weber, ZevKR 52 (2007), 355 f. 20 Immerhin datiert die umfängliche Bestandsaufnahme im Rahmen der 20. Essener Gespräche aus dem Jahr 1985, und auch damals war das Problem schon nicht mehr neu.
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Ziel sein müsse, ja, ob Deutschland überhaupt ein Einwanderungsland sei, sind zwar in den letzten Jahren abgeflaut. Unter dem unabweisbaren Druck der Fakten bezweifelt inzwischen kaum jemand mehr, dass eine hinreichende Eingliederung dieser Bevölkerungsgruppe – zumal der jungen Generation, aber auch der muslimischen Familien insgesamt – zwingend notwendig ist. Mit welchen Mitteln aber die entstandenen „Parallelgesellschaften“ 21 aufgebrochen werden könnten, darum werden unerfreuliche und kontraproduktive Grabenkriege geführt. Das heißt: Angesichts dieser wichtigen Herausforderung hat das politische System bislang weitgehend versagt.22 Der Beitrag, den die Medien zur Emotionalisierung des Disputs leisten, muss nicht vertieft werden. Es genügt, auf die künstlichen Aufgeregtheiten zu verweisen, die der Begriff der „Leitkultur“ ausgelöst hat.23 Hinzu kommt die Verquickung des Themas mit weiteren Problemfeldern. Das gilt in erster Linie für die innere und äußere Sicherheit. Die Kriminalitätsrate bei jungen Einwanderern wird immer wieder durch spektakuläre Fälle in den Blick gerückt und sogleich zum Politikum und zum Medienereignis erhoben.24 Die äußere Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus und die daraus resultierende Beunruhigung der Bevölkerung fördern eine sachliche Atmosphäre auch nicht eben. Schließlich tragen auch die befremdlichen Einmischungen von dritter, insbesondere türkischer Seite25 und die schwachen deutschen Reaktionen zu einer Lösung der Spannungen nicht bei. 3. Die „neue“ Situation – wenn man davon heute noch sprechen darf – eines großen muslimischen Bevölkerungsanteils in Deutschland26 stellt das historisch gewachsene Staatskirchenrecht27 vor die Aufgabe, seine Maßstäbe und Instru21 Zum Beispiel muslimischer Jugendheime vgl. Der Spiegel v. 13. November 2006, S. 56 ff. 22 Hierzu Loschelder (Fn. 15), S. 160 ff.; zur Integration von Muslimen in Deutschland und Europa vgl. weiterhin Matyssek, in: Muckel, Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 226 ff. 23 Dazu Landman, in: Ende / Steinbach, Der Islam in der Gegenwart, 5. Aufl. 2005, S. 587 sowie der Diskussionsbeitrag von Isensee, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 39 (2005), S. 136 f. 24 So z. B. der gewalttätige Überfall auf einen Rentner durch ausländische Jugendliche in der Münchner U-Bahn im Dezember 2008. Vgl. dazu die Beiträge in der FAZ v. 27. Dezember 2007, S. 4; FAZ v. 30. Dezember 2007, S. 1; FAZ v. 02. Januar 2008, S. 4; FAZ v. 13. Januar 2008, S. 49. 25 Besonders problematisch die „Kölner Rede“ des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan vom 10. Februar 2008 vor fast 20000 Deutsch-Türken, vgl. Tonmitschnitt des Bundespresseamtes in der FAZ v. 15. Februar 2008, S. 7. 26 Obschon keine amtlichen Zahlen existieren, gehen Schätzungen davon aus, dass in Deutschland ca. 3,5 Millionen Muslime leben, vgl. Spiegel Special v. 25. März 2008, S. 11; ferner die statistische Erhebung des Religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienstes (REMID) unter http: //www.remid.de/info_zahlen_grafik.html. Angaben über in Deutschland lebende praktizierende Muslime türkischer Herkunft finden sich bei Matyssek (Fn. 22), S. 225.
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mente auf eine Glaubensgemeinschaft – bzw. auf deren vielfältige Gruppierungen – anzuwenden, deren – ebenso tradierte – kulturelle Vorstellungen vom gesellschaftlichen Stellenwert der Religion und vom Verhältnis des Staates zur Religion von Grund auf verschieden sind. Das Modell eines Gegenübers von weltlichem, säkularem Bereich und geistlicher Sphäre trifft auf eine Lebenswelt, die eine solche Trennung nicht kennt.28 Die Verständigungsschwierigkeiten, die sich daraus ergeben, betreffen nahezu das gesamte gesellschaftliche Miteinander. Es gibt allerdings Brennpunkte der Diskussion, aus sachlichen wie aus politischen Gründen, in denen die unterschiedlichen Grundvorstellungen besonders deutlich aufeinander treffen, entsprechend eine Lösung der Probleme auch besonders schwer zu finden ist. So werden seit langem, nicht nur von muslimischer Seite, Forderungen nach einem islamischen Religionsunterricht erhoben. Auch die deutsche Seite drängt hier auf Fortschritte, vor allem unter dem Gesichtspunkt der Integration.29 Diese lassen aber, ungeachtet aller Bemühungen, bislang auf sich warten. Dabei schieben sich vielfach nicht so sehr die Gegensätze zwischen den Interessen der einzelnen, der muslimischen Zuwanderer beziehungsweise ihrer Kinder, und den staatlichen, schulpolitischen Belangen in den Vordergrund. Vielmehr kommen aus allen Richtungen die organisierten Interessen ins Spiel. Auf islamischer Seite sind es die verschiedenen religiösen Verbände und Organisationen, die um die Stimmführerschaft konkurrieren. Auch auf der „weltlichen Seite“ entfaltet sich das volle Spektrum der unterschiedlichen Auffassungen, wobei sich die Stoßrichtung ebenfalls nicht gegen eine – wie immer geartete – Berücksichtigung des Islam in der Schule, sondern vor allem gegen die Vorschläge der jeweiligen politischen Konkurrenz richtet. Nicht selten wird, ungeachtet der verfassungsrechtlichen Vorgaben, politischen Wunschvorstellungen das Wort geredet.30 Auch in der Rechtsprechung fehlt es gelegentlich an Klarheit.31 27 Zur Diskussion über die richtige Terminologie, d. h. über die Bezeichnung als „Staatskirchenrecht“, „Religionsrecht“ oder „Religionsverfassungsrecht“, vgl. etwa von Campenhausen / de Wall (Fn. 15), S. 39 f. m. w. N. 28 Hermann Weber, ZevKR 52 (2007), 355. 29 Zu dieser um den islamischen Religionsunterricht in Deutschland seit Jahrzehnten geführten Debatte siehe die Beiträge in: Bock, Islamischer Religionsunterricht?, 2. Aufl. 2007; ferner Dietrich, Islamischer Religionsunterricht, 2006; Kloepfer, DÖV 2006, 50 ff.; Stock, NWVBl. 2005, 285 ff.; ders., NVwZ 2004, 1399 ff.; Bergmann, ZAR 2004, 139 f.; Frisch, DÖV 2004, 469 ff.; Heimann, DÖV 2003, 238 ff.; Muckel, JZ 2001, 58 ff.; Renck, NWVBl. 2001, 425 f.; Häußler, ZAR 2000, 159 ff.; ders., ZAR 2000, 255 ff.; Rohe, ZRP 2000, 207 ff.; Heckel, JZ 1999, 741 ff.; Hillgruber, JZ 1999, 545 ff.; Korioth, NVwZ 1997, 1041 ff. 30 Als Beispiel sei auf den Versuch in Baden-Württemberg verwiesen, an einigen Schulen einen islamischen Religionsunterricht zu erproben, siehe Lichtenthäler, in: Bock, Islamischer Religionsunterricht?, 2. Aufl. 2007, S. 79 ff. 31 Vgl. etwa das Urteil des OVG Berlin vom 04. November 1998, abgedruckt in: DVBl. 1999, 554 ff.; dazu Loschelder, KuR 1999, 137 ff. sowie die Klarstellung durch von Campenhausen, BayVBl. 1999, 67 mit Fn. 17.
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In der staatskirchenrechtlichen Diskussion sind die grundsätzlichen Voraussetzungen eines islamischen Religionsunterrichts, die Hindernisse, welche seiner Einführung entgegenstehen, sowie die Spielräume für Alternativen vielfach behandelt worden.32 Was letztere betrifft, so bieten inzwischen die zahlreichen – diskutierten, geplanten, versuchten, realisierten – Modelle der einzelnen Bundesländer einen bunten Kranz an Möglichkeiten.33 Das Grundmuster des Art. 7 Abs. 3 GG ist eindeutig: Der Religionsunterricht ist eine gemeinsame Angelegenheit von Staat und Religionsgemeinschaften.34 Er setzt die Kooperation zweier artikulations- und entscheidungsfähiger Partner voraus. Auf der einen Seite ist er „ordentliches Lehrfach“ an den öffentlichen Schulen (Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG). D. h. der Staat ist, wie bei allen anderen Unterrichtsfächern, der „Unternehmer“ dieses Fachs, er hat die Verantwortung für die Qualität seiner Darbietung, übt die Aufsicht aus und trägt – personell und sächlich – die Kosten.35 Auf der anderen Seite wird der Religionsunterricht – so Art. 7 Abs. 3 S. 2 GG – „[u]nbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes [ . . . ] in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt“. Insoweit ist er also zugleich deren Angelegenheit, weil der religiös neutrale Staat über religiöse Inhalte nicht befinden kann, in Bezug auf sie „farbenblind“36 zu sein hat.37 Hier zeigt sich, dass es also nicht um die bloße Erteilung von „Religionskunde“, sondern darum geht, den Schülern gleichen Bekenntnisses unter der Direktive ihrer eigenen religiösen Instanzen die Inhalte ihres Glaubens zu vermitteln. In dieses arbeitsteilige Konzept fügt sich der Islam nicht ein. Das liegt nicht an den vielfältigen Richtungen und Strömungen, die er aufweist.38 Die finden sich bei den Christen ebenso.39 Es liegt vielmehr daran, dass er, mangels der Unterscheidung von religiösem und säkularem Bereich, keine eigenständigen institutionellen Strukturen ausgebildet hat, keine Organisationsformen, in denen sich „der Islam“ oder einzelne seiner Segmente nach außen darstellen können.40 Das gilt für denkbare übergreifende Einrichtungen, etwa auf der HandVgl. die Nachweise in Fn. 29. Hierzu die Länderberichte in: Bock (Fn. 29), S. 77 ff. 34 Vgl. u. a. Heckel, JZ 1999, 750; Loschelder (Fn. 18), S. 169; ders. (Fn. 15), S. 155. Siehe auch schon BVerfGE 74, 244 (251): „Der Religionsunterricht gehört [ . . . ] zu den [ . . . ] gemeinsamen Angelegenheiten von Staat und Kirche [ . . . ].“ 35 Hollerbach, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VI, 2. Aufl. 2001, § 140 Rn. 35; Robbers, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Grundgesetz-Kommentar, Band 1, 5. Aufl. 2005, Art. 7 Rn. 132 ff.; Loschelder, KuR 1999, 138. 36 So die prägnante Formulierung von Barion, Festschrift Carl Schmitt, 1959, S. 30. Auf sie bezugnehmend Heckel, VVDStRL 26 (1968), 21 f. 37 Im Ergebnis auch Link, in: Listl / Pirson, Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band II, 2. Aufl. 1995, S. 501. 38 Hierzu v.a. Bock, in: Bock, Islamischer Religionsunterricht?, 2. Aufl. 2007, S. 20 f. 39 BVerwG NJW 2005, 2103; Rohe, ZRP 2000, 210; Link, ZevKR 47 (2002), 461. 32 33
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lungsebene der christlichen Kirchen, das gilt aber auch bereits auf der Gemeindeebene. Es gibt keine klaren, staatlicherseits erfassbaren mitgliedschaftlichen Zuordnungen nach engeren Glaubenskreisen, gegebenenfalls auch nach räumlichen, örtlichen Kriterien.41 Die Gebetshäuser, Moscheen sind religiöse Versammlungsstätten, zu denen jeder Zutritt hat, ohne dass sich daraus ein engerer überpersonaler Zusammenhang ergäbe.42 Damit fehlt es an den mindesten Voraussetzungen dafür, dass die Religionsgemeinschaft nach außen, dem Staat und der Gesellschaft gegenüber, verbindliche inhaltliche Aussagen zu ihrem Glauben und den Regeln dieses Glaubens treffen kann. Es fehlt an einer „amtlichen“ Verfasstheit, die es den Sprechern des Islam erlaubte, nicht allein ihre persönliche Meinung zu solchen Fragen kundzutun, sondern für die Gemeinschaft selbst – über deren Binnendifferenzierungen hinweg – Festlegungen zu treffen, welche diese in die Pflicht nehmen.43 Die zahlreichen muslimischen Verbände, Organisationen und Instanzen, die als Ersatz für ein derartiges amtliches Gegenüber angeboten werden – oder sich selbst angelegentlich anbieten44 –, erfüllen die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen nicht.45 Es handelt sich bei ihnen durchweg um Interessenvertretungen politischer, auch nationaler Art, bei denen ein spezifisch religiöses Mandat, die Repräsentation einer in sich konsistenten Glaubensrichtung nicht erkennbar ist.46 Das Zusammenwirken von Staat und Religionsgemeinschaften, welches Art. 7 Abs. 3 GG vorsieht, erwartet von letzteren keine bloß „technisch-administrative Mitwirkung“,47 sondern inhaltliche Vorgaben, die ihre Legitimation aus der Glaubensgemeinschaft selbst, und nur aus ihr, beziehen. Demgemäß können, von anderen Einwänden 40 Dazu Bock (Fn. 38), S. 10 ff. m. w. N.; Frisch, ZevKR 49 (2004), 629 ff. m. w. N.; Starck, Festschrift Link, 2003, S. 497. 41 Albrecht, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 20 (1986), S. 95 f. Die Äußerungen zu der Frage, welche Rolle Moscheevereine in diesem Zusammenhang spielen, zeigen zum Teil, wie sehr man sich bemüht, dem Islam entgegenzukommen, vgl. Bock (Fn. 38), S. 16 f.; zu Recht kritisch von Campenhausen, in: Langenfeld / Lipp / Schneider, Islamische Religionsgemeinschaften und islamischer Religionsunterricht: Probleme und Perspektiven, 2005, S. 9. 42 Loschelder (Fn. 18), S. 163 m. w. N. 43 Link (Fn. 37), S. 501; Bade, in: Bock, Islamischer Religionsunterricht?, 2. Aufl. 2007, S. 130; Rohe, ZRP 2000, 209. Zu diesen für alle Religionsgemeinschaften geltenden Anforderungen siehe Frisch, DÖV 2004, 469 f.; Korioth, NVwZ 1997, 1046; Loschelder, KuR 1999, 139 f. m. w. N. 44 Aufschlussreich ist hierzu das Gespräch mit den Vertretern der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion, „DITIB“: FAZ v. 09. Februar 2005, S. 4; ebendort auch die Präsentation weiterer Verbände; vgl. auch FAZ v. 27. September 2006, S. 39. 45 Des näheren – aber wiederum zu entgegenkommend – Bock (Fn. 38), S. 20 ff. mit zahlreichen Nachweisen; ferner Frisch, ZevKR 49 (2004), 631 m. w. N.; Hillgruber, JZ 1999, 545; Muckel, DÖV 1995, 314 f. 46 Bock (Fn. 38), S. 20 f.; Link, ZevKR 47 (2002), 461. 47 Loschelder (Fn. 18), S. 171.
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abgesehen,48 auch staatliche Instanzen, etwa das türkische Amt für Religiöse Angelegenheiten,49 diesen Anforderungen nicht gerecht werden.50 Es geht also keineswegs vordringlich um praktische Schwierigkeiten – der Entwicklung von Lehrplänen, der Lehrerbildung, der Schulmaterialien –, an denen die Einführung eines islamischen „Religionsunterrichts“ scheitert. Natürlich sind diese Fragen bedeutsam, weil der Staat im Rahmen seiner Aufsichtspflicht die notwendige Qualität des Unterrichts zu sichern hat.51 Das entscheidende Hindernis, dieser Verantwortung zu entsprechen, liegt aber darin, dass dem Staat das religiöse, islamische Gegenüber fehlt, welches ihm die verbindlichen Inhalte vermittelt, die er seinem Teil der gemeinsamen Aufgabenerfüllung zugrunde legen könnte. Beim jetzigen Stand der Dinge verfügen die staatlichen Instanzen nicht einmal über gesicherte Kriterien, nach denen sich die Schüler einer je bestimmten Glaubensrichtung zuordnen ließen, damit sie tatsächlich nach deren Grundsätzen unterrichtet werden.52 Die wohlgemeinten Appelle, man müsse im Interesse der grundrechtlichen Religionsfreiheit und der gesellschaftlichen Einbindung der Muslime in einem Übergangsstadium53 Abstriche von den an sich geltenden Maßstäben machen und fehlende Vorgaben vorläufig schulamtlich ersetzen, führen nicht allein zu einer Aufweichung des fachlichen Niveaus, das bei einem ordentlichen Lehrfach vorausgesetzt werden muss. Sie drängen den säkularen Staat auch in eine Verantwortung, eine „Ersatzzuständigkeit“, die ihm im staatskirchenrechtlichen System des Grundgesetzes prinzipiell nicht zukommt.54 Nach alledem sind es, was den Religionsunterricht angeht, nicht die Glaubensinhalte, die in dem „vom Christentum geprägten Lande“ zu unterschiedlichen Ergebnissen bei der Anwendung der religionsrechtlichen Verfassungsvorgaben führen. Dass Art. 7 Abs. 3 GG einen Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen für jedes Bekenntnis, welcher Art auch immer, vorsieht, ist unbestreitbar.55 Dass er, soweit man ihn überhaupt grundrechtlich unterlegt, einen entsprechenden Link, ZevKR 47 (2002), 461 f. Nähere Informationen zu der Struktur und den Aufgaben der im Jahre 1924 gegründeten Präsidentschaft für Religiöse Angelegenheiten finden sich auf ihrer Homepage unter http: //www.diyanet.gov.tr/german/default.asp. 50 Bock (Fn. 38), S. 20 f.; Link, ZevKR 47 (2002), 461; von Campenhausen / de Wall (Fn. 15), S. 218 mit Fn. 45. 51 Vgl. Badura (Fn. 12), Art. 7 Rn. 69; Hemmrich, in: von Münch / Kunig, GrundgesetzKommentar, 5. Aufl. 2000, Art. 7 Rn. 28. 52 Allgemein zur Problematik vgl. Heimann, NVwZ 2002, 936; Frisch, ZevKR 49 (2004), 634. 53 So Bock (Fn. 38), S. 26 ff.; kritisch dagegen Heckel, JZ 1999, 754. 54 So mit wünschenswerter Klarheit von Campenhausen / de Wall (Fn. 15), S. 218 mit Fn. 45 sowie Link (Fn. 37), S. 501. 55 Vgl. statt aller Robbers (Fn. 35), Art. 7 Rn. 127 und Badura (Fn. 12), Art. 7 Rn. 71, die klarstellen, dass der Religionsunterricht – grundsätzlich – jeweils konfessionsgebunden erteilt wird. 48 49
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Anspruch auf die Erteilung eines solchen Unterrichts für Religionsgemeinschaften jeglicher Richtung sowie gegebenenfalls die betroffenen Schüler und Eltern begründet,56 steht ebenfalls außer Frage. In dieser Hinsicht gibt es nur eine Grenze – die aber wiederum für alle Religionen und Konfessionen gilt – auch die christlichen: Der Staat hat aus seiner Verantwortung für den schulischen Unterricht – in allen Fächern, also auch für den Religionsunterricht – sicherzustellen, dass die Beteiligten die Verfassungsgrundlagen, die fundamentalen Werte, aus denen im Rahmen der Verfassung die Gesellschaft lebt und ihren Zusammenhalt findet, respektieren sowie eine mindeste Loyalität dem Staat gegenüber pflegen.57 Die kulturelle – christliche – Prägung der staatskirchenrechtlichen Ordnung manifestiert sich hier vielmehr in ihren spezifischen historisch gewachsenen Strukturen, die ihre Dignität nicht auf bloße Herkömmlichkeit von ansonsten beliebigem Gehalt gründen. Die Trennung von Staat und Kirche, die Neutralität des Staates in Sachen Religion, seine Äquidistanz gegenüber allen Glaubensrichtungen sind vielmehr Errungenschaften, die in der westlichen Welt über die Jahrhunderte hinweg in einem langwierigen, schwierigen, oft schmerzhaften Prozess durchgesetzt worden sind. Sie stellen, im Einzelnen mit unterschiedlichen Konsequenzen und in unterschiedlicher Gestaltung, zentrale Elemente des europäischen Rechtsstaats dar, die seine Identität begründen und die daher auch nicht verhandelbar sind. Daraus folgt nicht, dass die Verbürgung des Religionsunterrichts gemäß Art. 7 Abs. 3 GG für die islamischen Glaubensgruppen schlechthin ins Leere liefe. Auch wenn, rebus sic stantibus, derzeit ein muslimischer Religionsunterricht nach den grundgesetzlichen Regelungen nicht zu realisieren ist, bleibt der aus ihnen folgende Auftrag unberührt, den religiösen Bedürfnissen der betroffenen Bevölkerungsgruppen Rechnung zu tragen. Und ebenso unberührt bleibt das gleichgerichtete Interesse des Staates, auf diesem Wege ihre Integration zu fördern. Vor allem die Berichte über die Rolle, welche die privaten Koranschulen bei der Indoktrination junger Muslime spielen,58 lassen es dringend erscheinen, den Einfluss dieser Einrichtungen durch staatlich unterstützte und kontrollierte Unterrichtsformen zurückzudrängen. Hier finden sich in den Bundesländern zahlreiche Ansätze. Auf unterschiedliche Weise wird versucht, im Rahmen des staatlichen Schulbetriebs die organisatorischen, personellen und sächlichen Voraussetzungen zu schaffen, um den muslimischen Schülern Unterweisungen in ihrer Religion zu bieten. Mangels hinreichender inhaltlicher Beurteilungsbefugnisse des Staates zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen ließe sich ein solcher Unterricht allerdings allenfalls nach den großen Gruppierungen – Sunniten, Schiiten, Aleviten – ge56 Hierzu Pieroth / Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 23. Aufl. 2007, Rn. 670 m. w. N.; ferner BVerwG NJW 2005, 2107; Janz, ZevKR 53 (2008), 42. 57 BVerwG NJW 2005, 2107 f.; Muckel / Tillmanns, in: Muckel, Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 270 f.; Starck (Fn. 40), S. 497 f.; zu insoweit „problematischen“ Lehren des Islam Frisch, ZevKR 49 (2004), 637 f. m. w. N.: „die Stellung der Frau, die Strafen im Koran und die Ablehnung der Religionsfreiheit“. 58 Vgl. Fn. 21.
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trennt anbieten,59 wobei angesichts der fehlenden eindeutigen mitgliedschaftlichen Zuordnung wohl eine Anmeldung durch die Erziehungsberechtigten Voraussetzung der Teilnahme sein müsste.60 Soweit die Voraussetzungen für eine derartige Gliederung fehlen, kann die Unterweisung nur „konfessionsübergreifend“ – und damit konfessionsneutral – erfolgen. Eine solche „Religionskunde“,61 „Islamkunde“, ist keine gemeinsame Veranstaltung des Staates und der beteiligten Religionsgemeinschaft. Sie ist eine staatliche Veranstaltung – oder man wählt den Weg einer Unterweisung durch die jeweilige islamische Religionsgemeinschaft allein.62 Dem Staat bleibt dann – neben der Logistik – lediglich die Aufsicht darüber, ob bei ihrer Durchführung die verfassungsrechtlichen Grenzen eingehalten werden. Dies spricht – neben dem Integrierungsgesichtspunkt – entscheidend dafür, dass eine solche religiöse Unterweisung ebenfalls in deutscher Sprache erfolgt.63 Mit diesen Überlegungen soll künftigen Entwicklungen nicht vorgegriffen werden. Der Umstand, dass der Islam bislang keine institutionellen Verfestigungen entwickelt hat, die es ihm erlaubten, dem Staat gegenüber mit amtlicher Verbindlichkeit zu sprechen, besagt nicht, dass dies auch für die Zukunft ausgeschlossen wäre. Der Blick auf andere Rechtsordnungen ist zwar auf diesem komplexen, historisch schwierigen Feld immer prekär, weil er sich auf das jeweilige religionsverfassungsrechtliche System insgesamt richten muss. Insofern weicht etwa schon die Ausgangslage in Frankreich, wo die Probleme einer starken muslimischen Bevölkerungsgruppe vor dem Hintergrund der jüngeren Geschichte besonders groß sind, angesichts des dortigen staatskirchenrechtlichen Trennungsmodells von der Verschränkung der Bereiche nach dem Grundgesetz völlig ab.64 Gleichwohl lassen sich – auch ohne einen umfassenden Vergleich – in anderen religionsrechtlichen Systemen Belege dafür finden, dass dem Islam Potentiale für eine weitere Institutionalisierung innewohnen, auch wenn die Anforderungen jeweils unterschiedlich 59 So wird teilweise z. B. in Baden-Württemberg verfahren. Im Jahre 2005 beschloss die baden-württembergische Landesregierung, für die Dauer von vier Jahren an zwölf Grundschulen ab dem Schuljahr 2006 / 07 sowohl sunnitisch als auch alevitisch geprägten Religionsunterricht anzubieten. Näher hierzu Lichtenthäler (Fn. 30), S. 84. 60 Siehe z. B. den Modellversuch „Islamunterricht“ in Bayern ab dem Schuljahr 2003 / 04 an einer Erlanger Grundschule. Dazu Seiser / Schütz, in: Bock, Islamischer Religionsunterricht?, 2. Aufl. 2007, S. 89 ff.; Stock, NVwZ 2004, 1400 f. m. w. N. 61 Zu Recht wird daher angemahnt, für diese Veranstaltung den grundgesetzlichen Terminus „Religionsunterricht“ nicht zu verwenden, vgl. insbesondere Heckel, JZ 1999, 755 ff.; von Campenhausen / de Wall (Fn. 15), S. 87, 218; Loschelder, KuR 1999, 138. 62 Vgl. von Campenhausen / de Wall (Fn. 15), S. 87. Einen Überblick darüber, auf welche Weise den religiösen Bedürfnissen muslimischer Schüler und ihrer Eltern in den einzelnen Bundesländern nachgekommen wird, geben Dietrich (Fn. 29), S. 111 ff.; Stock, NVwZ 2004, 1400 ff.; von Campenhausen / de Wall (Fn. 15), S. 87 f. m. w. N. 63 Das wird allerdings nicht allgemein so gesehen, vgl. die Länderüberblicke bei Bock (Fn. 29), S. 77 ff.; von Campenhausen / de Wall (Fn. 15), S. 87 f. m. w. N.; Stock, NVwZ 2004, 1400 ff. 64 Zur Situation in Frankreich im Überblick vgl. Starck (Fn. 40), S. 486 f.; von Campenhausen / de Wall (Fn. 15), S. 345 ff.
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sind. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht vor allem die Rechtslage in Österreich. Zwar kann man die Lehren aus diesem Modell nicht verallgemeinern, weil es unter sehr speziellen Bedingungen von langer Hand entstanden ist. Doch macht es deutlich, dass auch der Islam zu organisatorischen Strukturen finden kann, mit deren Hilfe er als eigenständig handelnder Partner mit einem westlichen Verfassungsstaat zusammenzuwirken vermag. Nachdem Österreich-Ungarn 1878 auf dem Berliner Kongress die Besetzung und Verwaltung von Bosnien und Herzegowina zugestanden worden war und es diese Gebiete 1908 endgültig annektiert hatte, erschien es unabweisbar, die Rechtsstellung der hinzugewonnenen muslimischen Bevölkerung zu regeln.65 Bereits 1912 wurde daraufhin der Islam gesetzlich als Religionsgemeinschaft anerkannt.66 Dies bezog sich ursprünglich allein auf die Angehörigen des sunnitisch-hanefitischen Ritus. Die darin liegende Einschränkung wurde erst 1987 durch den österreichischen Verfassungsgerichtshof mit der Begründung aufgehoben, dass der religiös neutrale Staat zu einer solchen Differenzierung nicht befugt sei.67 Eine eigene gesetzliche Regelung wurde 1912 deswegen für erforderlich gehalten, weil das bestehende Gesetz über die Anerkennung von Religionsgemeinschaften von 1874 ersichtlich auf die gemeindlichen Organisationsformen der christlichen Kirchen zugeschnitten war, über die der Islam nicht verfügte.68 Diese Schwierigkeiten bestanden also schon damals.69 In der Folgezeit hat sich der Islam in die religionsrechtliche Ordnung des österreichischen Staates eingefügt. Im Jahre 1979 wurde eine islamische Kultusgemeinschaft, die „Religionsgemeinde“, genehmigt.70 Der gesamte Prozess ist seit der Zeit der Monarchie von beiden Seiten sehr liberal und pragmatisch vorangetrieben worden. Entsprechend hat die muslimische Glaubensgemeinschaft auch ihren Platz in der Organisation des Religionsunterrichts gefunden. Dabei sind in Österreich die Kompetenzen deutlich anders verteilt als nach dem Konzept des Art. 7 Abs. 3 GG. Es sind die Kirchen und Religionsgesellschaften, ursprünglich sämtlich öffentlich-rechtliche Körperschaften,71 die für den schulischen Religionsunterricht 65 Hierzu Schnizer, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 20 (1986), S. 178; Potz, Festschrift Link, 2003, S. 350 f.; Rohe, in: Bock, Islamischer Religionsunterricht?, 2. Aufl. 2007, S. 60. 66 Geschehen durch das Gesetz vom 15. Juli 1912 betreffend die Anerkennung der Anhänger des Islams nach hanefitischem Ritus als Religionsgesellschaft („Islamgesetz“), RGBl. Nr. 159. Vgl. hierzu Schwarz, Festschrift Link, 2003, S. 452 m. w. N. 67 Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs vom 10. 12. 1987, G146 / 87, G147 / 87. Abrufbar über das Rechtsinformationssystem des österreichischen Bundeskanzleramts (http: // www.ris2.bka.gv.at / Vfgh / ). Vgl. daraufhin das geänderte Islamgesetz ohne Ritusbeschränkung in BGBl. Nr. 164 / 1988. 68 Vgl. Potz (Fn. 65), S. 351. 69 Vgl. Schnizer (Fn. 65), S. 179 sowie im Einzelnen Potz (Fn. 65), S. 352 f. 70 Schnizer (Fn. 65), S. 180; Potz (Fn. 65), S. 354; vgl. auch Ott, FAZ v. 14. Dezember 2004, S. 8.
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verantwortlich sind.72 Sie sind die „Unternehmer“ des Religionsunterrichts, führen ihn durch und beaufsichtigen ihn. Der Staat beschränkt sich auf die Aufsicht „in organisatorischer und schuldisziplinärer Hinsicht.“ Die „inhaltliche Seite (Lehrinhalte, Methode, Auswahl der Religionslehrer)“ liegt bei den Kirchen.73 Diese Aufgabenzuordnung erspart dem Staat, verglichen mit dem grundgesetzlichen System, eine Reihe von Entscheidungen, bei denen er auf die verbindlichen Vorgaben der religiösen Seite angewiesen ist, weil sie nach österreichischem Recht zu deren „inneren Angelegenheiten“ zählen.74 Das gilt etwa für die Zuordnung von Schülern verschiedener islamischer Glaubensrichtungen zum entsprechenden Religionsunterricht oder auch für die Anforderungen an das Lehrpersonal. Zu den besonderen Bedingungen, unter denen sich die Eingliederung des Islam in Österreich entwickelt hat, gehört der Umstand, dass die bosnischen Muslime religiös eine ziemlich einheitliche Gruppe darstellten, also die Schwierigkeiten der heutigen schwer überschaubaren islamischen Vielfalt damals nicht bestanden.75 Das hat die Körperschaftsbildung natürlich erheblich erleichtert. Auch lässt sich die Beharrlichkeit, mit der fast ein Jahrhundert lang, über alle Verfassungsumbrüche hinweg, ein Staat seine Erfahrungen mit unterschiedlichen Ethnien, Kulturen und Religionen nutzbar gemacht hat, nicht kopieren. Und dass es dem modernen Rechtsstaat grundgesetzlicher Prägung nicht mehr möglich wäre, die Angehörigen einer bestimmten Religionsgemeinschaft kraft Gesetzes korporativ zusammenzuschließen, ist auch klar. Das österreichische Beispiel zeigt aber zweierlei. Zum einen hat der Islam in diesem System bewiesen, dass er unter entsprechenden staatsrechtlichen Bedingungen, bei entsprechenden Anforderungen, imstande ist, institutionelle Strukturen auszuformen, auf der gemeindlichen Ebene wie darüber hinaus. Dazu mag viel Zeit und Geduld nötig sein, und ob – und wann – diese Strukturen in Deutschland den Standard erreichen, den Art. 7 Abs. 3 GG voraussetzt, ist gegenwärtig noch nicht abzusehen. Dass die staatlichen Instanzen dabei die ihnen mögliche Hilfestellung leisten – ohne die verfassungsrechtlichen Anforderungen aufzuweichen –, liegt im allgemeinen Interesse. Die Rechtslage in Österreich verdeutlicht zum andren auch auf der Verfassungsebene, dass in Sachen Religionsunterricht religiöse Verbände und Staat zu koope71 So Schnizer (Fn. 65), S. 177. Vgl. aber Potz (Fn. 65), S. 355, der darauf hinweist, dass mit Inkrafttreten des Bundesgesetzes über die Rechtsstellung religiöser Bekenntnisgemeinschaften (RRBG), BGBl. I 1998, S. 19, die Kategorie der Religionsgemeinschaft mit privatrechtlichem Status eingeführt worden ist. Kritisch hierzu Schwarz (Fn. 66), S. 457 ff. 72 Dies sieht die Verfassung ausdrücklich vor: vgl. Art. 17 Abs. 4 des österreichischen Staatsgrundgesetzes (StGG). Hierzu Rees, Festschrift Link, 2003, S. 396. 73 Potz (Fn. 65), S. 356; ferner Rees (Fn. 72), S. 398. 74 Art. 15 StGG verschafft gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften Autonomie bzgl. der Regelung ihrer „inneren Angelegenheiten“. Hierzu im Zusammenhang mit der Erteilung von Religionsunterricht näher Rees (Fn. 72), S. 396 ff. 75 Potz (Fn. 65), S. 352.
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rieren vermögen, ohne dass letzterer die weitreichende Verantwortung übernimmt, die Art. 7 Abs. 3 GG ihm zuweist. Das spricht keineswegs dafür, von dessen Anforderungen Abstriche zu machen. Es bekräftigt aber, dass sich praktikable Lösungen auch unterhalb dieser Anforderungen finden lassen. Das Grundgesetz selbst sieht auf einem begrenzten Feld eine solche Möglichkeit in Gestalt der „Bremer Klausel“ des Art. 141 GG vor.76 Dass diese unter herkömmlichen Bedingungen nur auf die Länder Bremen und Berlin anwendbar ist, schließt nicht aus, ähnliche Modelle auch in den Fällen vorzusehen, in denen die Voraussetzungen für einen „normalen“ Religionsunterricht (noch) nicht erfüllt sind. 4. Das historisch gewachsene grundgesetzliche Modell einer Kooperation des Staates mit Religionsgemeinschaften, die über ein Mindestmaß an amtlichen Strukturen verfügen,77 lässt eine weitere Forderung der Muslime als problematisch erscheinen. Diese streben seit langem danach – bis jetzt allerdings vergeblich –, dass ihren Verbänden der Status von Körperschaften des öffentlichen Rechts im Sinne des Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV verliehen wird.78 Nach Satz 1 dieser Bestimmung bleiben die „Religionsgesellschaften“ Körperschaften des öffentlichen Rechts, wenn sie solche schon bislang waren. Nach Satz 2 haben andere „Religionsgesellschaften“ einen Anspruch auf die Gewährung der Körperschaftlichkeit, „wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten.“ Die Schwierigkeiten, die es bereitet, den Begriff der öffentlich-rechtlichen Körperschaft im staatskirchenrechtlichen Sinne zu konturieren, müssen hier nicht im Einzelnen erörtert werden.79 Es genügt festzuhalten, dass die Kirchen – allgemein: die Religionsgemeinschaften – Körperschaften eigener Art darstellen, insofern sie dieser Status nicht in die staatliche Verwaltung eingliedert und kein Aufsichtsrecht des Staates über sie begründet.80 Sie werden dem öffentlichen Recht zugeordnet, aber nicht in dieses eingeordnet.81 Es werden ihnen dadurch 76 Vgl. den Hinweis auf die Parallelen bei Potz (Fn. 65), S. 356 in Fn. 36 und Rohe (Fn. 65), S. 60. 77 Siehe statt aller Hollerbach (Fn. 35), § 138 Rn. 135; von Campenhausen / de Wall (Fn. 15), S. 135. 78 Lindner, ZevKR 48 (2003), 180 f.; Landman (Fn. 23), S. 595 f. 79 Vgl. hierzu v.a. Friesenhahn, in: Friesenhahn / Scheuner, Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 1. Aufl. 1974, S. 545 ff.; Kirchhof, in: Listl / Pirson, Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Aufl. 1994, S. 651 ff.; Hollerbach (Fn. 35), § 138 Rn. 124 ff.; von Campenhausen, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl. 2005, Art. 137 WRV Rn. 218 ff.; ders., ZevKR 46 (2001), 165 ff.; Bohl, Der öffentlich-rechtliche Körperschaftsstatus der Religionsgemeinschaften: Verleihungsvoraussetzungen und Verfahren, 2001; Weber, ZevKR 34 (1989), 337 ff. 80 Vgl die ständige Rspr. des BVerfG: E 18, 385 (386 f.); 19, 129 (133 f.); 30, 415 (428). Aus dem Schrifttum siehe statt aller: von Campenhausen (Fn. 79), Art. 137 WRV Rn. 222 m. w. N. 81 Kirchhof (Fn. 79), S. 664; von Campenhausen / de Wall (Fn. 15), S. 130; ferner BVerfGE 18, 385 (386 f.); 19, 129 (133 f.); 42, 312 (321).
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bestimmte öffentlich-rechtliche Handlungsbefugnisse eröffnet, beispielsweise – so Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 6 WRV ausdrücklich – das Recht der Steuererhebung.82 Sie werden im Hinblick auf diese Befugnisse über die Religionsgemeinschaften in privatrechtlicher Form herausgehoben, erhalten zusätzliche „Vorrechte und Begünstigungen“,83 bleiben aber zugleich Grundrechtsträger.84 Allerdings wird in der Diskussion um den Körperschaftsstatus der muslimischen Gruppierungen vielfach übersehen, dass die grundsätzliche verfassungsrechtliche Stellung der Religionsgemeinschaften nicht erst durch die Körperschaftsverleihung begründet wird.85 Diese Stellung beruht vielmehr schon auf deren, wie es formuliert worden ist, „konstitutionellem Grundstatus“, d. h. auf den Verbürgungen der individuellen und kollektiven Religionsfreiheit, der staatlichen Neutralität im religiösen Bereich und des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts, die ohne Rücksicht auf die Rechtsform der Religionsgemeinschaft gelten.86 Jedoch beginnen hier auch schon die Bedenken. Denn auch dieser konstitutionelle Grundstatus stellt, jedenfalls soweit er „Autonomie“ vermittelt, bestimmte Anforderungen87: Es muss sich um eine Vereinigung von Personen handeln; diese muss auf Dauer gerichtet sein; sie muss eine mindeste Organisation besitzen, im Geltungsbereich des Grundgesetzes bestehen und die gemeinsame Religion der Mitglieder zum Ziel haben. Über einen derartigen stetigen, organisierten personalen Bestand verfügen die Muslime eben nicht. Zwar berufen sich zahlreiche Verbände und Gruppierungen darauf, sie zu vertreten. Doch sind diese nicht „konfessionell“, sondern sie sind „primär ethnisch, ideologisch und politisch“88 ausgerichtet. Demgemäß erfüllen diese Verbände und Gruppen erst recht nicht die Voraussetzungen, die Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV formuliert. Sie sind nicht als „Religionsgesellschaften“ anzusehen – im grundgesetzlichen Sprachgebrauch: „Religionsgemeinschaften“ 89 –, weil sie ihre Mitglieder nicht primär um der gemeinsamen, d. h. in der Grundlage einheitlichen Religion willen organisieren. Andererseits genügen bloß anstaltlich betriebene Einrichtungen mit einem wechselnden BenutZu diesen Befugnissen vgl. u. a. Link, ZevKR 43 (1998), 12 f.; Muckel, DÖV 1995, 311 f. Scheuner, ZevKR 6 (1957 / 58), 24. 84 BVerfGE 42, 312 (322); 53, 366 (387). 85 Vgl. BVerwG NJW 2005, 2107; BVerfGE 102, 370 (396 – obiter dictum). Aus dem Schrifttum siehe einerseits Frisch, DÖV 2004, 470; Muckel / Tillmanns (Fn. 57), S. 266 f. m. w. N. in Fn. 161; Heimann, NVwZ 2002, 936; Link, ZevKR 47 (2002), 461; Heckel, JZ 1999, 752; andererseits Korioth, NVwZ 1997, 1046 f.; Hillgruber, JZ 1999, 546. 86 Jurina, in: Listl / Pirson, Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Aufl. 1994, S. 696 f.; von Campenhausen / de Wall (Fn. 15), S. 132. 87 Eingehend hierzu u. a. Muckel / Tillmanns (Fn. 57), S. 267 ff. m. w. N.; Muckel, DÖV 1995, 312 ff. 88 Link, ZevKR 47 (2002), 461. 89 BVerwG NJW 2005, 2102 m. w. N.: „Der Begriff der Religionsgemeinschaft in Art. 7 III 2 GG ist gleichbedeutend mit demjenigen der Religionsgesellschaft in den Bestimmungen der Art. 136 ff. WRV, die gem. Art. 140 GG Bestandteil des Grundgesetzes sind.“ 82 83
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zerkreis – wie Gebets- und Versammlungsstätten oder Koranschulen – von vornherein nicht.90 Und da ansonsten, wie sich gezeigt hat, in der islamischen Kultur eine Gemeindestruktur im Sinne von „Lebensverbänden“ auf religiöser Grundlage91 nicht vorhanden ist, sich entsprechende institutionelle Formen auch auf höheren Ebenen nicht herausgebildet haben, fehlt es an dem kollektiven Subjekt, der „Gemeinschaft“, die dem Staat als eigenständig organisierter Partner gegenübertreten könnte und die durch ihre „Verfassung“ und die „Zahl ihrer Mitglieder“ die „Gewähr der Dauer“ böte. Auch wenn diese Anforderungen, historisch bedingt, auf die christlichen Kirchen zugeschnitten sind, ergibt sich daraus nicht, dass der von diesen entwickelte Standard in vollem Umfang von den „anderen“ Religionsgemeinschaften nach Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV ebenfalls verlangt werden könnte. Dagegen spricht schon, dass diese Bestimmung den „altkorporierten“ Religionsgemeinschaften nach Satz 1 die „gekorenen“ neuen gegenüberstellt und dass Abs. 7 den Kreis der berechtigten Verbände darüber hinaus auch auf die Weltanschauungsgemeinschaften ausdehnt.92 Im Übrigen sind der Organisationsgrad wie etwa auch die Gewichtung zwischen genossenschaftlichen und hierarchischen Elementen bereits bei den christlichen Kirchen durchaus unterschiedlich ausgestaltet.93 Insgesamt sind daher die Merkmale, die Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV formuliert, im Sinne von Mindestanforderungen zu verstehen. Auch bei den christlichen Glaubensrichtungen wird beispielsweise – man denke an Diasporabedingungen – die Frage nach der Mindestzahl der Mitglieder zusätzlich davon abhängen, ob die Gruppierung Teil einer weltweiten Gemeinschaft ist.94 Und was die Verfassung angeht, so ist es keineswegs notwendig, dass diese als geschriebene „Satzung“ vorliegt. Es genügen hinreichend feste ungeschriebene Formen, nach denen der Verband lebt und die seine Eigenständigkeit, seinen „Selbstand“ auch nach außen ausweisen.95 Was Art. 137 Abs. 5 WRV im Rahmen ihrer so verstandenen „Verfassung“ von den Religionsgemeinschaften jedenfalls erwartet, ergibt sich im Rückschluss aus den Kompetenzen, welche er ihnen mit dem Körperschaftsstatus zuweist. Zu nennen sind hier vor allem die Dienstherrenfähigkeit und die Disziplinargewalt, die – öffentlich-rechtliche – Organisationsgewalt, die „Autonomie“, also die – wiederum öffentlich-rechtliche – Regelungsbefugnis auf diesen Gebieten, das Parochialrecht und das Recht zur Kirchensteuererhebung.96 Es ist offenkundig, dass die WahrnehSiehe bereits Loschelder (Fn. 18), S. 163. Zum Begriff des „Lebensverbands“ Hollerbach, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 1 (1969), S. 50, 56. 92 Friesenhahn (Fn. 79), S. 555; Loschelder (Fn. 18), S. 165. 93 von Campenhausen / de Wall (Fn. 15), S. 131 m. w. N. 94 Loschelder (Fn. 18), S. 163 f. 95 So schon Mikat, in: Bettermann / Nipperdey / Scheuner, Die Grundrechte, Band IV / 1, 1960, S. 157; ferner Bohl (Fn. 79), S. 27 f.; Muckel, DÖV 1995, 312 f. 90 91
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mung dieser den staatlichen Kompetenzen entsprechenden Befugnisse auch ein mindestens staatsähnliches Instrumentarium erfordert mit einer „klare[n] Organisationsform, einem Willensbildungsverfahren, und Organen [ . . . ], welche eine langfristige Fähigkeit zur Zusammenarbeit mit dem Staat und den Verwaltungsstellen gewährleisten.“97 Wenn der Staat den Religionsgemeinschaften derartige Kompetenzen einräumt und ihnen unter bestimmten Bedingungen einen öffentlichen Status zuerkennt, so liegt darin noch mehr: Der Staat hebt sie auf diese Weise grundlegend von den sonstigen intermediären Kräften ab und erkennt damit an, dass sie, anders als jene – Parteien, Verbände, Gewerkschaften – nicht am gesellschaftlichen Wettbewerb partikulärer Interessen teilnehmen, sondern, wie er, der Staat, selbst dem allgemeinen Wohl verpflichtet, auf den Menschen als ganzen gerichtet sind. Sie sind dies sogar weitergehend als er selbst, dem nur das diesseitige Dasein des Menschen zugänglich ist.98 Daher erwartet der Staat, dass diese Körperschaften, wie er, „amtlich“ geprägt sind, dass also ihre Amtswalter sich dem „objektiven Prinzip“ verpflichtet wissen, ihre Befugnisse „als unverfügbar fremde“ in Distanz von allen subjektiven Interessen, auch den eigenen, wahrnehmen.99 Damit wird andererseits noch einmal deutlicher, welch weiten Weg der Islam, ohne amtliche Verfasstheit, ohne amtliche Autoritäten, noch vor sich hat, damit er auch in dieser Hinsicht in die ihm fremden Koordinaten des deutschen „staatskirchenrechtlichen“, religionsverfassungsrechtlichen Systems „hineinwächst“. 5. Die beiden bislang behandelten Komplexe – islamischer Religionsunterricht und Körperschaftsstatus für muslimische Gruppierungen – waren bereits 1985 im Rahmen der 20. Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche Gegenstand eingehender Erörterung.100 In der Folgezeit ist die Auseinandersetzung mit ihnen stetig fortgeführt worden,101 so dass sich inzwischen in vielen Fragen – wissenschaftlich wie praktisch – wenn nicht Übereinstimmung, so doch eine deutliche Annäherung der Standpunkte ergeben hat. Für einen dritten Komplex gilt dies dagegen nicht – hier steht die Diskussion nach wie vor am Anfang, obwohl gerade er damals besonders intensiv – und kontrovers – behandelt worden ist.102 Es geht um Vgl. die Nachweise in Fn. 82. So von Campenhausen (Fn. 79), Art. 137 WRV Rn. 224. 98 Vgl. bereits Loschelder (Fn. 18), S. 165 ff. m. w. N. 99 Loschelder (Fn. 18), S. 166 f. m. w. N.; eingehend ders., Vom besonderen Gewaltverhältnis zur öffentlich-rechtlichen Sonderbindung, 1982, S. 236 ff., 268 ff. 100 Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 20 (1986): Der Islam in der Bundesrepublik Deutschland, mit Referaten von Johansen, S. 12 ff., Albrecht, S. 82 ff. und Loschelder, S. 149 ff. 101 Zur Diskussion um den islamischen Religionsunterricht siehe Fn. 29, zum Körperschaftsstatus vgl. u. a. Muckel / Tillmanns (Fn. 57), S. 251 ff.; Kloepfer, DÖV 2006, 47 f., 52 f.; Lindner, ZevKR 48 (2003), 178 ff.; Hillgruber, JZ 1999, 546; Korioth, NVwZ 1997, 1047 ff.; Muckel, DÖV 1995, 311 ff. 96 97
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die Frage, wie weit inhaltlich der Schutz der Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG reicht – womit die Überlegungen an ihren Ausgangspunkt zurückkehren. Denn schon Walter Leisner hatte, wie eingangs angemerkt, die Ausweitung des Begriffs der „Religionsausübung“ auf jedes bloß religiös motivierte Verhalten kritisch gewürdigt und auf die nahe liegende Konsequenz hingewiesen, dass dann im Gegenzug auch die staatlich zu setzenden Begrenzungen, wie im Einzelnen auch immer, rigider ausfallen müssten103 – ein Vorgang, der von der Überdehnung des Rechts der freien Persönlichkeitsentfaltung nach Art. 2 Abs. 1 GG zu einer „allgemeinen Handlungsfreiheit“ geläufig ist.104 Im damaligen Zusammenhang – Caritas, kirchliches Krankenhaus –,105 also mit Blick auf christlich motiviertes Wirken, konnte es den Anschein haben, als ob diese Warnung sich eher auf Randbezirke der Religionsfreiheit bezöge, deren Kernbereich im Übrigen keine Probleme aufwarf – das dürfte auch der Grund für die eher stiefmütterliche weitere Behandlung des Themas gewesen sein.106 Mit der wachsenden Präsenz des Islam in Deutschland hat sich die Lage jedoch umfassend verändert. Denn bei diesem Glauben gibt es keine Randbereiche, weil er die Unterscheidung zwischen profaner und religiöser Sphäre, zwischen weltlichem Herkommen und Glaubensgebot nicht kennt und entsprechend, dem Anspruch nach, das Leben seiner Anhänger umfassend bestimmt.107 Die Fülle der Konflikte, die sich daraus ergeben, betreffen bekanntlich die unterschiedlichsten Fragen des Alltagslebens – vom Recht muslimischer Lehrerinnen, ein Kopftuch zu tragen,108 über die Befreiung muslimischer Schülerinnen vom Schwimmunterricht oder von Klassenfahrten109 bis zu den Speisevorschriften und zum Schächten von Tieren.110 Sie alle
102 Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 20 (1986), insbesondere Loschelder, S. 152 ff. sowie die Diskussion dazu, S. 183 ff., mit Beiträgen zum Thema u. a. von Schlaich, Isensee, Starck, Herman Weber und Maurer. 103 Leisner (Fn. 1), S. 12 f. 104 Im Überblick zu dieser seit Jahrzehnten diskutierten Problematik Di Fabio, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, Art. 2 Rn. 12 ff.; insbesondere Hans Peters hat die Überdehnung des Art. 2 Abs. 1 GG grundsätzlich kritisiert, vgl. Festschrift Arnold, 1955, S. 122; ders., Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Heft 109, 1963, S. 50 f. 105 Vgl. oben bei Fn. 3. 106 Vgl. Pieroth / Schlink (Fn. 56), Rn. 506 ff. zu den neuen Konflikten, mit denen sich das BVerfG bislang noch nicht auseinandersetzen musste. 107 Hierzu und zum Weiteren Loschelder (Fn. 18), S. 152 ff.; ferner Zacharias, in: Muckel, Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 151 ff.; Lindner, ZevKR 48 (2003), 180 f. 108 Zu der sog. Kopftuchentscheidung des BVerfG vom 24. 09. 2003 (BVerfGE 108, 282 ff.), ihrer Aufnahme in der Literatur und der Umsetzung der bundesverfassungsgerichtlichen Vorgaben durch die einzelnen Bundesländer siehe statt aller Wißmann, ZevKR 52 (2007), 51 ff.; Pofalla, NJW 2004, 1218 ff.; Battis / Bultmann, JZ 2004, 581 ff.; Ipsen, NVwZ 2003, 1210 ff.
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zeigen, dass es dringlich ist, die nicht zu Ende geführte Diskussion wieder aufzunehmen und klarere Kriterien zu entwickeln, welches Verhalten die Religionsfreiheit schützt und welches nicht. Daher muss vor allem die Aussage des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich überprüft werden, wonach die Religionsfreiheit „auch das Recht des Einzelnen [umfasse], sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren und äußeren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln“.111 Denn für diese Aussage kann das Fazit nicht allein lauten, dass die Anwendung einer staatskirchenrechtlichen Maxime – wie in Ansehung des Religionsunterrichts und des Körperschaftsstatus – für christlich und für muslimisch grundierte Sachverhalte zu unterschiedlichen Konsequenzen führt. Vielmehr stellen diese Konsequenzen, was den Islam angeht, die Maxime selbst in Frage. Einerseits nämlich, aus christlicher Sicht, würde danach die freie Religionsausübung nur den Teil der Verhaltensweisen erfassen, der nach überkommenem Verständnis überhaupt einen religiösen Bezug besitzt – was auch bei weitester Ausdehnung nur einen Ausschnitt des Daseins betrifft; andererseits, aus islamischer Sicht, wäre, jedenfalls potentiell, die gesamte Lebensführung einbezogen. Das hätte dann auch unterschiedliche Schranken zur Folge: Soweit die Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG reicht, können nur gleich geordnete Verfassungsgüter von hinreichendem Gewicht die Freiheit begrenzen;112 jenseits dieses Bereichs, unter der Geltung der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG, griffe dagegen die Schrankentrias der Rechte anderer, der verfassungsmäßigen Ordnung und des Sittengesetzes durch. Wenn dann darüber hinaus dem Einzelnen auch die Definitionsmacht zugestanden wird,113 was er für sich als Religionsausübung ansieht, so wird ihm damit zugleich die Wahl des Schrankenregimes überantwortet. Es fragt sich daher, ob nicht die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts allzu einseitig mit dem Blick auf den „konflikt- und kollisionsarmen Verhaltenshorizont der vertrauten großen und kleinen christlichen Kirchen“114 formuliert worden sind. 109 Eingehend hierzu und mit zahlreichen Rechtsprechungsbelegen Coumont, Muslimische Schüler und Schülerinnen in der öffentlichen Schule, 2007, S. 220 ff., 307 ff. 110 Zur Problematik des Schächtens siehe die Entscheidung des BVerfG vom 15. 01. 2002 (BVerfGE 104, 337 ff.); zu islamischen Speisevorschriften Coumont (Fn. 109), S. 45 f. 111 BVerfGE 32, 98 (106); 93, 1 (15); 108, 282 (297). 112 Statt aller: Pieroth / Schlink (Fn. 56), Rn. 544 f.; allerdings wird die Auffassung des BVerfG zunehmend kritisiert, dass Art. 140 GG, Art. 136 WRV nicht als Schranke der Religionsfreiheit herangezogen werden könne, da Art. 4 Abs. 1 GG den Art. 136 WRV „überlagere“, vgl. einerseits BVerfGE 33, 23 (30 f.), andererseits Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997, S. 224-234; Schoch, Festschrift Hollerbach, 2001, S. 163 f.; Hillgruber, DVBl. 1999, 1173; desgleichen BVerwGE 112, 227 (231 ff.). 113 Grundlegend BVerfGE 33, 23 ff.; vgl. auch Schlaich, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 20 (1986), S. 183 f. Zur Problematik insgesamt Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, insbesondere S. 46 ff. 114 Pieroth / Schlink (Fn. 56), Rn. 507a.
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Es fragt sich, ob sie nicht, angesichts der Erfahrungen mit dem Islam, zu generell gefasst sind und im Hinblick auf das Selbstverständnis „fremder“ Religionen präzisiert werden müssen. Das Bundesverfassungsgericht fügt, indem es das Grundrecht der Religionsfreiheit über das religiöse Bekenntnis und die Religionsausübung im engeren Sinn hinaus auf jedes glaubensgeleitete Verhalten erstreckt, die einzelnen Verbürgungen des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zu einem einheitlichen und flächendeckenden „Gesamtgrundrecht“ zusammen.115 Dies entspricht jedoch weder dem Textbefund noch der Entwicklungsgeschichte und führt, im Verhältnis der verschiedenen Gewährleistungen untereinander wie auch zwischen ihnen und den Bestimmungen der durch Art. 140 GG inkorporierten Artikel der Weimarer Reichsverfassung, zu erheblichen dogmatischen Verwerfungen.116 Demgegenüber lautet die Gegenthese nach wie vor117, dass die einzelnen Schutzgüter jeweils ihr eigenes, umrissenes Profil besitzen und über einen jeweils spezifischen Gewährleistungsbereich verfügen. Sie dokumentieren geschichtlich geformte Konfliktfelder zwischen den Glaubensrichtungen, auf denen der Staat genötigt war, einen Ausgleich zu schaffen. Entsprechend schließen sie sich nicht harmonisch zu einer systematischen Einheit zusammen. Wo sich zwischen ihnen „Schutzlücken“ auftun,118 müssen diese entweder aus der Zusammenschau der Einzelverbürgungen überbrückt oder es muss festgestellt werden, dass man an den Grenzen der Religionsfreiheit angekommen ist und andere grundrechtliche Gewährleistungen in Anspruch genommen werden müssen. Gegen diese Sicht ist eingewandt worden,119 dass damit der Staat – die Verfassung – die Grenzen der Freiheit vorgebe, also auch dem Selbstverständnis des Einzelnen Beschränkungen auferlege. Dem wurde zu Recht entgegengehalten, dass „der Staat, [was er] nicht definieren kann, [ . . . ] auch nicht schützen [könne].“120 Damit wird das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen nicht abgeschnitten. Denn innerhalb der historisch gewachsenen – und in der Zeit sich weiter entwickelnden – Freiräume bewegt sich jede Glaubensgemeinschaft und jedes ihrer Mitglieder nach eigenem Ermessen, macht von der Freiheit Gebrauch oder nicht. 115 Siehe statt aller BVerfGE 24, 236 (245 f.). Ferner Listl, in: Listl / Pirson, Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Aufl. 1994, S. 446 f., 454; von Campenhausen, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VI, 2. Aufl. 2001, § 136 Rn. 36 m. w. N. 116 Näher hierzu und mit zahlreichen Nachweisen vgl. v.a. Morlok, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Band I, 2. Aufl. 2004, Art. 4 Rn. 51 ff.; Pieroth / Schlink (Fn. 56), Rn. 506 f. 117 Loschelder (Fn. 18), S. 152 ff. m. w. N. 118 Pieroth / Schlink (Fn. 56), Rn. 506. 119 Schlaich (Fn. 113), S. 183 f. 120 So Isensee, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 20 (1986), S. 186; ders. (Fn. 113), S. 35; grundsätzlich zur Problematik im Rahmen der Gewissensfreiheit Bethge, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VI, 2. Aufl. 2001, § 137 Rn. 6 ff.
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Hier warten auf die weitere wissenschaftliche Aufarbeitung zahlreiche Fragen. Zwar liegt etwa auf der Hand, welches die zentralen Bereiche herkömmlicher religiöser Freiheit – und damit des staatlichen Ausgleichs zwischen den Glaubensrichtungen – sind. Kultus und Liturgie, Caritas, Mission und Pilgerschaft dürften dem Grunde nach unstrittig sein und gehören zum gemeinsamen Bestand der drei „abrahamitischen Religionen“121 – wobei freilich im Hinblick auf die Missionierung gerade der Islam Schwierigkeiten bereitet.122 Es bleibt aber zu untersuchen, welche zusätzlichen Gegenstände – in der gegenwärtigen Situation sowie im Hinblick auf weitere Glaubensrichtungen – einzubeziehen sind.123 Es ist weiter darüber gestritten worden, ob die umrissenen Felder der geschützten Religionsfreiheit deren Schutzbereich oder schon deren Tatbestand, ihren Regelungsbereich umschreiben.124 Das ist kein dogmatisches Glasperlenspiel, sondern hat Auswirkung auf die Grenze, von der an überhaupt Kollisionen mit konkurrierenden Gütern denkbar sind.125 Ein letzter Punkt hat besonderes Gewicht. Es ist, für den Außenstehenden wie für die Muslime selbst, vielfach schwer zu entscheiden, in welchen Fällen ein Verhalten – individuell, in der Familie, in der Gesellschaft – wirklich religionsbestimmt ist oder, im Rahmen der Religion, „lediglich“ der Sitte, dem Herkommen entspricht. Angesichts der Vielfalt der Traditionen – nach Glaubensrichtung, ethnisch und geographisch – ist hier das Fehlen verbindlicher Autoritäten besonders spürbar. Die Meinungsäußerungen verehrter Religionslehrer oder theologischer Fakultäten ersetzen keine amtliche Bekundung. Damit bewegt man sich in einem Zwischenbereich, in dem einerseits die Zuordnung zur freien Religionsausübung nicht greift, andererseits die Schranken der allgemeinen Handlungsfreiheit der Schwere des Konflikts, der sich für den Betroffenen ergeben kann – man denke an die Kopftuchproblematik –, in bestimmten Fällen nicht gerecht werden. Wer sich in einer solchen Konstellation auf Art. 4 Abs. 1 GG beruft, nimmt damit für sich Gewissensfreiheit126 in Anspruch. Das ist ebenfalls wiederum keine „akademi121 Vgl. dazu den Vortrag von Kardinal Karl Lehmann „Chancen und Grenzen des Dialogs zwischen den ,abrahamitischen Religionen‘“ vom 19. September 2006, abrufbar über die Homepage der Deutschen Bischofskonferenz (http: // www.dbk.de/aktuell/meldungen/01162/ index.html). Kritisch zu diesem seit neuerem beliebten Topos der Beitrag von Morgenstern in der FAZ v. 24. August 2006, S. 8. 122 Auf den Abfall vom Islam steht nach islamischem Recht die Todesstrafe, vgl. Dilger, in: Ende / Steinbach, Der Islam in der Gegenwart, 1. Aufl. 1984, S. 190; siehe auch Bassam Tibi, FAZ v. 18. Dezember 2000, S. 15, der jede Form von Missionierung, „die islamische eingeschlossen“, ablehnt; zur Verweigerung des Rechts auf nicht-islamische Mission: von Campenhausen / de Wall (Fn. 15), S. 84 f. 123 Loschelder (Fn. 18), S. 153 m. w. N.; kritisch zur extensiven Auslegung der Religionsfreiheit durch das BVerfG: Herzog (Fn. 3), Art. 4 Rn. 103 ff. 124 Loschelder (Fn. 18), S. 152 ff., insbesondere S. 158 ff. Zu dieser Problematik vgl. auch Scheuner, VVDStRL 22 (1965), 47 ff.; von Campenhausen, ZevKR 25 (1980), 139. 125 Dazu Loschelder (Fn. 18), S. 158.; vgl. auch Isensee (Fn. 113), S. 30 f. 126 Allgemein zum Grundrecht der Gewissensfreiheit Bethge (Fn. 120), § 137.
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sche“ Frage. Denn wer sich im definierten Rahmen der Religionsausübung bewegt, muss nicht dafür streiten, wo seine Freiheit beginnt und wo sie endet. Wer aber Gewissensfreiheit für sich reklamiert, der muss nachvollziehbar dartun – nicht: „beweisen“ –, dass er sich in einem existenziellen Konflikt zwischen der Gesetzesbefolgungspflicht und seiner eigenen sittlichen Überzeugung befindet.127 Das gilt dann aber wiederum gleichermaßen für die Angehörigen christlicher Bekenntnisse wie jeder anderen Religion. Insgesamt ist das Ergebnis im Grunde nicht überraschend. Einerseits, auf der institutionellen Ebene, geht es um ein spezifisches Zusammenwirken zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften – historisch: den christlichen Kirchen –, das auf deren Seite eine mindeste amtliche Verfasstheit voraussetzt. Diese Voraussetzung erfüllen die islamischen Gruppierungen – jedenfalls bislang – noch nicht. Andererseits, auf der Ebene des individuellen und kollektiven Grundrechtsschutzes, zeichnet sich ab, dass das Instrumentarium der staatlichen Konfliktlösung zwischen den christlichen Konfessionen, wie es sich geschichtlich entwickelt hat, auch zur Regulierung des Verhältnisses von Christentum und Islam geeignet ist. Voraussetzung ist, dass man dieses Instrumentarium wieder auf seine gewachsenen Funktionen zurückführt. Voraussetzung ist aber auch, wenn das Zusammenwachsen gelingen soll, – für beide Ebenen und auf beiden Seiten – Geduld und Toleranz.
127 Dazu Loschelder (Fn. 18), Diskussionsbeitrag S. 187 f.; eingehend zu dieser Frage Bethge (Fn. 120), § 137 Rn. 12 m. w. N., 57 f.
Braucht die Bundesrepublik Deutschland ein volksgewähltes Staatsoberhaupt? Von Michael Nierhaus
I. Im Vorfeld der Wahl des Bundespräsidenten am 23. Mai 2009 fand eine lebhafte Debatte – abgesehen vom viel- und langdiskutierten Prüfungsrecht bei der Ausfertigung von Bundesgesetzen1 – über die Existenznotwendigkeit eines Staatsoberhauptes überhaupt2 und bejahendenfalls über seine Wahl3 statt. Die Diskussion um das Amt des Bundespräsidenten ist nicht neu,4 hat aber in letzter Zeit deutlich an kontroverser Schärfe zugenommen. Anknüpfend an den – pardon – überzogenen Beitrag von J. Isensee („Braucht die Republik einen Präsidenten?“)5 verneint nunmehr auch der amtierende BGHRichter M. Gehrlein ein verfassungsrechtliches Bedürfnis für das Amt des Bundespräsidenten.6 Die Diskussion um die Volkswahl des Bundespräsidenten hat das amtierende Staatsoberhaupt H. Köhler selbst in der Talkshow „Sabine Christiansen“ am 24. Juni 2007 erneut entfacht, indem er für eine Direktwahl plädierte.7 Dies hat J. Ipsen zum Anlass genommen, die pro und contra Volkswahl vorgebrachten Argumente noch einmal sorgsam gegeneinander abzuwägen:8 Er kommt zu dem 1 Siehe dazu zuletzt Pieper, Gedächtnisschrift Bleckmann, 2007, S. 289 ff.; Nierhaus, in: Sachs, GG, 5. Aufl. 2008, Art. 82 Rn. 5 ff.; Höreth, APUZ 2008, 32 ff. jew. m. w. Nachw. 2 Gehrlein, DÖV 2007, 280 ff. 3 J. Ipsen, Festschrift H.-P. Schneider, 2008, S. 197 ff. 4 Vgl. allgemein nur Kimminich, VVDStRL 25 (1967), 2 ff.; Pernthaler, ebda., 95 ff. (überwiegend zum österr. Bundespräsidenten); Nierhaus, Entscheidung, Präsidialakt und Gegenzeichnung – Ein Beitrag zur verfassungsrechtlichen Stellung des Bundespräsidenten im System des Grundgesetzes, 1973; zuletzt Lhotta, ZParl 1 (2008), 119 ff. Speziell zur Volkswahl: Anders, DÖV 1970, 253; Jülich, DÖV 1969, 92 ff.; W. Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 3. Aufl. 1970, S. 140 f.; Seltenreich, KJ 1995, 238 ff. (befürwortend); skeptisch Grawert, Der Staat 18 (1979), 236; W. Leisner, Festschrift Broermann, 1982, S. 440 f.; Schmitt Glaeser, DÖV 1977, 545. 5 Isensee, NJW 1994, 1329 f.; früher schon Henke, DVBl. 1966, 723 ff.: „Die Bundesrepublik ohne Staatsoberhaupt“. 6 Gehrlein, DÖV 2007, 280 ff., basierend auf einem Vortag, den Gehrlein am 1. Februar 2007 vor der renommierten Kölner Juristischen Gesellschaft gehalten hat. 7 Siehe den Nachw. bei J. Ipsen (Fn. 3), S. 202 Fn. 31.
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Ergebnis, dass die gegen eine Volkswahl des Bundespräsidenten ins Feld geführten Argumente insgesamt nicht überzeugend sind; er befürwortet damit die Direktwahl. Er findet offenbar in D. Merten einen prominenten Mitstreiter, der auf dem von der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung zum 65. Geburtstag von H.-J. Papier veranstalteten Symposion vorgeschlagen haben soll, die Bundesversammlung abzuschaffen.9 Diese – auch die in der Publizistik anzutreffenden10 – Beiträge bieten aktuellen Stoff, zum einen der Frage nach der konstitutionellen Notwendigkeit eines Staatsoberhauptes in unserer Republik nachzugehen (unten II.) und zum anderen die Problematik der Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung (Art. 54 GG) und seine Amtszeit erneut näher zu durchleuchten (unten III.). II. Diejenigen Autoren, die das Amt des Bundespräsidenten verfassungspolitisch resp. -systematisch für überflüssig, mindestens für bedenklich halten (insbesondere J. Isensee und M. Gehrlein; aus jüngerer staatsrechtlicher, aber auch aus journalistischer Sicht H. Martenstein und P. Schwarze; skeptisch auch R. Lhotta vor allem mit Blick auf das Prüfungsrecht11), setzen naturgemäß überwiegend an der – im Vergleich zum Reichspräsidenten – schwach ausgestalteten Rechtsstellung des Bundespräsidenten im gewaltengeteilten Gefüge des GG an. Die einzelnen Kompetenzen des Bundespräsidenten sollen hier nicht erneut nachgezeichnet werden; dies ist an anderer Stelle ausführlich geschehen.12 Auffällig ist dabei vor allem, wie wenig Aufmerksamkeit der Reservefunktion oder -autorität des Bundespräsidenten in den Fällen Neuwahlen (Art. 63 Abs. 4 S. 3, Art. 68 GG)13, Gesetzgebungsnotstand (Art. 81 GG)14 und Einberufung des Bundestages (Art. 39 Abs. 3 S. 3 GG) geschenkt wird. Das mag – von der Bundestagsauflösung nach Art. 68 GG abgesehen – mit der geringen verfassungspraktischen Bedeutung der genannten Reservemachtkonstellationen zu tun haben, verfassungssystematisch stellen sie allerdings alles andere als eine quantité négliable dar. Der Bundespräsident ist darüber hinaus aber vor allem eine ernst zu nehmende Integrations- und Repräsentationsfigur. Diese von R. Smend (Integrationslehre)15 J. Ipsen (Fn. 3), S. 209. FAZ v. 19. Juli 2008, S. 8. 10 Siehe z. B. Die Zeit v. 17 April 2008, S. 2; Die Zeit v. 24. April 2008, S. 6; FAZ v. 29. Juni 2007, S. 1; früher schon Die Zeit v. 19. Mai 2004, S. 49. 11 Siehe oben Fn. 2, 4, 5, 10. 12 Vgl. nur die ausführliche Kommentierung von Pernice, in: Dreier, GG, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 54 ff. GG, und die knappere von Nierhaus (Fn. 1), Art. 54 ff. GG; grundlegend Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, § 30 jew. m. w. Nachw.; jüngst wieder Gehrlein, DÖV 2007, 281 ff. 13 Zu letzteren siehe BVerfGE 62, 1 ff.; 114, 121 ff. 14 Auf neuestem Stand: E. Klein, in: BK, Art. 81 GG. 8 9
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und G. Leibholz (Repräsentationslehre)16 ausgehenden bzw. auf ihnen fußenden präsidialen Funktionen sind vielfach beschrieben worden.17 Den Kritikern dieser – abgesehen von Art. 59 Abs. 1 GG – verfassungsrechtlich weitestgehend ungeschriebenen Funktionen18 kann der Vorwurf eines puristischen Funktionenverständnisses nicht erspart bleiben. Unter Außerachtlassung jeglicher politischer Symbolik und in rein verfassungseffizienter Betrachtungsweise ließen sich – so meinen sie – z. B. die Legislativfunktion des Bundespräsidenten (Art. 82 Abs. 1 GG) auf den Bundestagspräsidenten,19 die Exekutivfunktionen (Art. 60 Abs. 1 und 2, 63 Abs. 1, 64 Abs. 1 GG) auf Bundeskanzler und Bundesminister verteilen und die Repräsentationsaufgaben (Art. 59 Abs. 1 GG) auf den Bundeskanzler oder auch den Bundestagspräsidenten bzw. den Bundesratspräsidenten übertragen. Ohne in die Einzelheiten gehen zu können, sei nur in letzterer Hinsicht der Einwand gestattet, dass die Bundeskanzlerin / der Bundeskanzler durch vielfältige internationale Verpflichtungen (z. B. G 7 / 8-Gipfel, Vereinte Nationen und Europäische Union) daran gehindert wären, die Bundesrepublik Deutschland in der ganzen Welt (vgl. nur das Afrika-Engagement von H. Köhler) angemessen zu vertreten.20 Im Einzelnen: Wer das Amt des Bundespräsidenten allein funktionsökonomisch jenseits der Staatssymbolik in Frage stellt, müsste dies konsequenter Weise auch für den Nationalfeiertag und die Nationalflagge (unter Streichung des Art. 22 Abs. 2 GG)21 tun.22 Bewahrt man die Betrachtung des Staatsoberhauptes vor den Scheuklappen rein verfassungsstruktureller Erwägungen („Wer keine Macht hat, gehört abgeschafft!“), so wird der Blick frei für die eigentlichen und letztlich unverzichtbaren Aufgaben der Bundespräsidenten: Neben seiner rechts- und verfassungswahrenden Kontrollfunktion23 vor allem die Repräsentation der Existenz, Legitimität, Legalität und Einheit des Staates.24 Es kann hier nicht der Versuch 15 Verfassung und Verfassungsrecht, 1928; Staatliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 119 ff., 475 ff.; EvStL, 1966, Sp. 803 f. 16 Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, 3. Aufl. 1966. 17 Siehe nur Badura, Der Staat 16 (1977), 305 ff.; Stern (Fn. 12), § 30 III 3; Nierhaus (Fn. 4), S. 173 ff. jew. m. w. Nachw. 18 Isensee, NJW 1994, 1329 f.; Gehrlein, DÖV 2007, 285 ff.; dagegen zu Recht Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Hopfauf, GG, 11. Aufl. 2008, Art. 54 Rn. 28 ff. m. umf. Nachw. 19 Vgl. zur Verfassungslage in den Ländern Hederich, NdsVBl. 1999, 77 ff. 20 Zur Aufgabenverteilung zwischen Bundeskanzler(in) und Bundestagspräsident / Bundesratspräsident: „ein“ Staatsoberhaupt mit „doppeltem Hut“ oder doppelte Staatsoberhauptschaft mit unlösbaren protokollarischen Problemen? 21 Ebenso Leicht, Die Zeit vom 24. April 2008, S. 6. 22 Siehe demgegenüber E. Klein, in: BK, Art. 22 Rn. 93 ff. 23 Nettesheim, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 61 Rn. 36 ff. nennt dies die „Kustor-Funktion“. 24 Siehe Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 54 Rn. 97 f.
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unternommen werden, die Überschneidungen zwischen Integrations- und Repräsentativfunktion (nach innen und außen) auszudifferenzieren.25 Der Bundespräsident hat jedenfalls als nicht-regierendes Staatsoberhaupt den staatlichen Einheitsbezug der zur Desintegrationen neigenden Parteien und der von ihnen getragenen Staatsfunktionen herzustellen und die parteipolitisch, aber nicht staatspolitisch neutrale Einheit des parlamentarischen Regierungssystems darzustellen. In dem Staatsoberhaupt mit dem Recht, konsultiert zu werden, zu ermutigen und zu warnen (W. Bagehot), ist der Staat wie in keiner anderen rechtsstaatlich-demokratischen Institution in einer Einzelpersönlichkeit verkörpert. P. Pernthalers frühe Feststellung26 beansprucht auch heute noch Geltung: Durch die Verbindung der Einheit des Staates mit der Existenz eines Individuums können wesentliche Quellen des Staates und der Gesellschaft erschlossen werden. Wenn J. Isensee demgegenüber behauptet, im verfassungsrechtlichen Schauspiel sei die Anwesenheit eines Präsidenten vorgesehen, doch habe es der Autor versäumt, für die Rolle den Text zu schreiben,27 so ist dem zu entgegnen: Die Entscheidung der Mütter und Väter des Grundgesetzes war ebenso umsichtig wie unumgänglich, dass sich der jeweilige Inhaber des Amtes des Bundespräsidenten seine Rolle selbst schreibt.28 Viele Aufgaben und Funktionen seines Amtes sind deshalb von der Kompetenzordnung des GG nicht zwingend und konturenscharf gewaltenteilend vorgegeben,29 sondern stellen Schlussfolgerungen aus der konkreten Amtspraxis der bisherigen Bundespräsidenten dar,30 ohne dass daraus der Schluss verfassungswidriger Kompetenzanmaßung gezogen werden könnte oder dürfte! Als Alternative zur Trennung zwischen Regierungschef und oberster Staatsspitze schlägt M. Gehrlein vor, die Befugnisse des Bundespräsidenten auf den Bundesratspräsidenten zu übertragen, der ja schließlich nach geltendem Verfassungsrecht den Bundespräsidenten auch vertrete (Art. 57 GG). Als Gründe führt er an: Zum einen verfüge der Bundesratspräsident als Ministerpräsident über wirkliche Teilhabe an der Staatsgewalt. Zum anderen würden wegen des turnusmäßigen jährlichen Wechsels im Amt des Bundesratspräsidenten weitaus mehr Personen als gegenwärtig mit dem auf Ausgleich und Neutralität angelegten Amt betraut, was auf die gesamte Politik positiv ausstrahlen könnte.31 Dieser Vorschlag vermag aus mehreren Gründen nicht zu überzeugen: Abgesehen von Überlegungen zu einer Verlänge25 Näher Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Hopfauf, GG, 11. Aufl. 2008, Art. 54 Rn. 29 ff. 26 VVDStRL 25 (1967), 170 ff. 27 NJW 1994, 1329. 28 Ähnliche Äußerungen liegen von Herzog vor. Vgl. etwa: Weil der Bundespräsident nichts zu sagen habe, müsse er reden (zit. nach Sarcinelli, Politische Kommunikation in Deutschland, 2005, S. 252). 29 Kritisch etwa Lhotta, ZParl 2008, 119 ff. 30 Zutreffend Butzer (Fn. 25), Rn. 28. 31 Gehrlein, DÖV 2007, 287 f.
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rung der Amtszeit des Bundespräsidenten (unten III.2.b) im Sinne einer Stärkung der personellen Amtskontinuität sprechen weitere Gründe gegen einen Austausch von Bundespräsident und Bundesratspräsident. Es könnte zu vielfältigen Rollenund Ämterkonflikten zwischen dem Bundesratspräsidenten als Staatsoberhaupt einerseits und als Ministerpräsident eines Bundeslandes andererseits kommen. § 7 Abs. 1 S. 2 GOBRat löst derartige Konflikte nicht, da der Bundesratspräsident für die Zeit der Präsidentenvertretung (hier: der Wahrnehmung des Amtes des Bundespräsidenten aus eigenem Recht) sinnvoller Weise nur von den Präsidialgeschäften im Bundesrat ausgeschlossen ist (rechtsstaatliche und funktionale Gewaltenteilung). Er bleibt freilich einfaches Mitglied des Bundesrates (Stimmgewicht des Landes im Bundesrat nach Art. 51 Abs. 2 und 3 GG!) und Regierungschef seines Bundeslandes. Ein Urteil des OVGSachsAnh vom 25. April 2007 hat deutlich gemacht, zu welchen (Vertretungs-)Konflikten es kommen kann, wenn ein Ministerpräsident als Vertreter des Bundespräsidenten in seinem Land unaufschiebbare und auch längerfristige Amtsgeschäfte wahrnehmen muss.32 Diese Probleme potenzieren sich naturgemäß, wenn ein Ministerpräsident nicht nur kurzfristig, sondern für ein Jahr das Amt des Bundespräsidenten in eigener Verantwortung wahrnehmen müsste. Hinzu kommt: Ein Ministerpräsident verfügt zwar über eigenständige Landesstaatsgewalt, aber diese ist parteipolitisch erlangt und geprägt. Ein reibungsloser Rollenwechsel in das parteipolitisch neutrale Amt des Bundespräsidenten dürfte regelmäßig kaum gelingen. Als Mitglied im Bundesrat müsste er weiterhin Länderinteressen vertreten, wohingegen das Amt des Bundespräsidenten vorwiegend auf die Wahrung überparteilicher Bundesbelange ausgerichtet ist. Nur ein Beispiel (unter vielen): Kann ein Ministerpräsident als Bundespräsident die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes bei seiner Ausfertigung unvoreingenommen beurteilen, wenn er dem Bundesgesetz zuvor im Bundesrat seine Zustimmung erteilt hat? Zweifel sind mehr als angebracht.
III. Hält man – mit der hier vertretenen Meinung – an der durchaus bewährten, verfassungsrechtlich ebenso weitmaschig wie individuell geprägten Struktur des Amtes des Bundespräsidenten fest (oben II.), so ergeben sich zwei weitere Facetten in der aktuellen Diskussion um das Staatsoberhaupt: zum einen die Änderung des Verfahrens zur Wahl des Bundespräsidenten (Volkswahl, unten 1.), zum anderen die Begrenzung auf eine Amtszeit (unten 2.a) und / oder die Verlängerung der Amtsdauer (unten 2.b). 1. Der Bundespräsident wird nach Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG ohne Aussprache von der Bundesversammlung gewählt. Diese besteht aus den (geborenen) Mitgliedern des Bundestages und einer gleichen Anzahl von (gekorenen) Mitgliedern, die von 32 OVGSachsAnh, Urteil vom 25. April 2007, 1 L 453 / 05, UA Rn. 63-74 m. umf. Nachw.; dazu näher Nierhaus (Fn. 1), Art. 57 Rn. 5 f.
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den Volksvertretungen der Länder nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt werden (Art. 54 Abs. 3 GG). Das Nähere (Art. 54 Abs. 7 GG) regelt das Gesetz über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung vom 25. April 1959.33 Aus Art. 54 Abs. 3 GG i. V. m. § 3 WahlGBPräs geht eindeutig hervor, dass die Ländervertreter nicht Landtagsabgeordnete sein müssen; in der Praxis sind sie es aber ganz überwiegend. Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung erhält (absolute Mehrheit nach Art. 54 Abs. 6 S. 1 GG). Wird diese Mehrheit von allen Bewerbern in zwei Wahlgängen verfehlt, so ist gewählt, wer in einem weiteren (oder mehreren) Wahlgang (Wahlgängen) die meisten Stimmen auf sich vereinigt (einfache Mehrheit nach Art. 54 Abs. 6 S. 2 GG).34 Die Argumente, die für diese besondere Art der Wahl des Bundespräsidenten und damit zugleich gegen eine Volkswahl ins Feld geführt werden, lassen sich grob in drei Kategorien einteilen:35 Eine Volkswahl führe erstens im Vergleich zu den mit dem Amt verbundenen (geringen) Kompetenzen zu einem „Legitimationsüberschuss“,36 zweitens setze eine Direktwahl einen dem späteren Amtsinhaber schädlichen Wahlkampf unter den Bewerbern voraus und drittens vertrüge sich ein doppelt unmittelbarer Legitimationsstrang zwischen Bundestag und Bundespräsident nicht mit dem im GG verankerten System parlamentarischer Demokratie (sog. Weimar-Argument). Die beiden letzteren Argumente sind durchaus ambivalent im Sinne größerer und weniger großer Überzeugungskraft.37 Bei allem Respekt vor den Kandidaten / Kandidatinnen für das Amt des Bundespräsidenten wird man feststellen dürfen, dass es auch in der Vergangenheit unter dem Rechtsregime des Art. 54 GG zu einem „Wahlkampf“ gekommen ist. Stellvertretend sei hier nur die Präsentation der Bewerber St. Heitmann / R. Herzog, J. Rau und H. Hamm-Brücher (1993 / 94) sowie G. Schwan (2008) durch die sie vorschlagenden Parteien genannt. Die insbesondere von R. Herzog geäußerte Befürchtung, eine direkte Volkswahl führe unter den Bedingungen einer modernen Massen- und Parteiendemokratie zu einer verstärkten Anbindung der Präsidentschaftskandidaten an die Parteien und zu einer Bevorzugung von „Vollblutpolitikern“,38 gilt, wenn auch nicht in gleicher Weise, für beide Wahlverfahren. Das Wahlkampfargument stellt insgesamt wohl keinen „Gegenpol“ zur „Machtbegrenzung der Parteien“ dar.39 Die Hoffnung auf eine stärker persönlichkeitsbezogene Wahl auch über die Parteigrenzen hinweg40 er33 34 35 36 37 38 39 40
BGBl. I S. 230; 1975, S. 1593. Weitere Einzelheiten bei J. Ipsen (Fn. 3), S. 197 f.; Nierhaus (Fn. 1), Art. 54 Rn. 10 ff. Ebenso Seltenreich, KritV 1995, 244. Seltenreich, KritV 1995, 244. Vgl. auch J. Ipsen (Fn. 3), S. 202 ff. m. w. Nachw. Herzog (Fn. 24), Art. 54 Rn. 11. So aber Seltenreich, KritV 1995, 245 ff. Siehe etwa Jülich, DÖV 1969, 97.
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scheint trügerisch. Der Weimarer Argumentationsstrang (volksgewählter Reichstag, direkt gewählter mächtiger Reichspräsident und zwischen beiden als eine gleichsam stets einsturzgefährdete „Hängebrücke“ die Reichsregierung) verfängt umso weniger, je weiter Weimar zurückliegt. Neben dem grundlegend veränderten Verfassungsstrukturen der WRV und des GG mag auch noch der Einwand durchgehen, die Bundestagswahl sei längst zur Kanzlerwahl mutiert.41 Wie auch immer, jedenfalls dem ersteren Argument des mit einer Volkswahl des Bundespräsidenten verbundenen Legitimationsüberschusses kommt weiterhin Überzeugungskraft zu. Mit der Frage des Zusammenhangs von Wahlsystem einerseits und Kompetenzausstattung des Staatsoberhauptes andererseits werden keineswegs heterogene oder unzusammenhängende Fragen aufgeworfen.42 Das Gegenteil ist richtig: Zwischen Wahlverfahren und Ausstattung mit verfassungsrechtlichen Befugnissen besteht eine innige Wahlverwandtschaft.43 Bereits die Enquête-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages hat dazu in ihrem im Dezember 1976 vorgelegten Schlussbericht zutreffend festgestellt:44 Zu der repräsentativ und integrativ geprägten Ausgestaltung des Präsidentenamtes passe die unmittelbare Volkswahl nicht. Sie vertrüge sich insbesondere nicht mit den schwachen politischen Entscheidungskompetenzen. Werde durch eine Direktwahl des Bundespräsidenten das Volk zu einer politischen Entscheidung aufgefordert, so könne dieses Votum nicht durch die verfassungsrechtlich geforderte Distanz des Bundespräsidenten zur Tagespolitik gleichsam ins Leere gelenkt werden. Seine „überschießende Legitimation“ würde dem Bundespräsidenten auf informellem Wege zusätzliche Machtbefugnisse verschaffen und ihn dazu verleiten, seine einzelnen Kompetenzen und sein Amt insgesamt aktiv-politisch auszuüben und damit die Distanz zur Tages- und Parteipolitik zu verlassen. Diese Einschätzung verdient auch heute noch Zustimmung,45 weil durch die Volkswahl die Unwucht einer doppelten Volkssouveränität in das GG gelangen würde. Ob ein grenzüberschreitend-rechtsvergleichender Blick nach Österreich diese Beurteilung zu widerlegen, zumindest zu erschüttern vermag, erscheint fraglich. Nach Art. 60 Abs. 1 B-VG wird der Bundespräsident dort von der Bundesbevölkerung aufgrund des gleichen, unmittelbaren, geheimen und persönlichen Wahlrechts gewählt und zwar ohne Wahlpflicht.46 Bei vergleichbaren Kompetenzen des österreichischen und des deutschen Bundespräsidenten ist es zwar in Österreich (noch) nicht zu den Unzuträglichkeiten gekommen, die man in der deutschen Diskussion 41 So bereits Zeidler in seinem Sondervotum BVerfGE 62, 64 ff.; Herzog (Fn. 24), Art. 62 Rn. 83, Art. 65 Rn. 46, Art. 54 Rn. 12; siehe jetzt auch Seltenreich, KritV 1995, 247; J. Ipsen (Fn. 3), S. 207. 42 So aber Seltenreich, KritV 1995, 244, 247. 43 Zutreffend etwa Herzog (Fn. 24), Art. 54 Rn. 11. 44 Presse- und Informationszentrum des Deutschen Bundestages, Beratungen und Empfehlungen zur Verfassungsreform (I), 1976, S. 68 ff. 45 Mit beachtlichen Argumenten allerdings abw. J. Ipsen (Fn. 3), S. 200 ff. 46 Zutreffend J. Ipsen (Fn. 3), S. 208; unzutreffend Isensee, NJW 1994, 1330.
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mit der Volkswahl assoziiert. Aber auch Rechtsvergleiche pflegen wegen der unterschiedlichen politischen Kulturen und Akteure in der Regel zu hinken. Das Beispiel Österreich mag zeigen, dass die Direktwahl des Staatsoberhauptes in einer parlamentarischen Demokratie sinnvoll sein kann. Ob dies auch für die Bundesrepublik Deutschland zutreffen würde, gehört letztlich in das nicht ganz ungefährliche Reich der Spekulation, wenn nicht gar der Prophetie. Jedenfalls sollte die demokratische Wahlautorität (autoritas im Gegensatz zu auctoritas) eines vom Volk gewählten Präsidenten, selbst wenn dessen Rechte nicht verändert würden, nicht über derjenigen des Bundeskanzlers stehen. Die Vorzüge der einmaligen Konstruktion des Wahlverfahrens durch die Bundesversammlung liegen jedenfalls (weiterhin) auf der Hand: Dieses (nichtständige) Verfassungs(kreations)organ stellt zwar nicht die „höchste Gesamtvertretung des deutschen Volkes überhaupt“47 dar, verleiht aber dem Bundespräsidenten die „stärkste mittelbare Legitimation“, da er von einem Organ gewählt wird, „das die breiteste Absicherung durch unmittelbar vom Volk bestimmte Organe (Bundestag und Landtage) hat“.48 Die parlamentarische Bestellung „mit föderal verbreiteter Basis“49 prägt das Amt des Bundespräsidenten nicht nur mittelbar demokratisch, sondern zugleich auch föderal mit der im übrigen verfassungssystemkonformen Konsequenz, dass er nach Art. 57 GG durch den Präsidenten des föderativen Verfassungsorgans Bundesrat vertreten wird.50 Entgegen der wiederaufflammenden Meinung besteht nach allem weder Grund noch Anlass, auf den Mangel einer Direktwahl und das damit verbundene Defizit einer plebiszitären Legitimation des Bundespräsidenten hinzuweisen, um die Schwäche des Amtes im Vergleich zum Reichspräsidenten zu belegen. Mit K. Schlaich spricht die breite und originäre, um nicht zu sagen: originelle Legitimation durch die Bundesversammlung eher für das eigenständige Gewicht des Amtes.51 Abgesehen davon sind die verschiedenen Direktwahlmodelle52 politisch kaum auf einen Nenner zu bringen. Neben radikal basisdemokratischen Vorschlägen (Volkswahl des Bundespräsidenten und Bestimmung der Bewerber mittels eines bestimmten Quorums)53 liegt ein Gesetzesentwurf von Bündnis 90 / Die Grünen seit Herbst 1993 auf dem Tisch.54 Danach soll die Bundesversammlung mit min47 C. Schmid, Verh. des HA, HA-Sten. Ber., S. 116; kritisch v. Mangoldt / Klein, GG, 2. Aufl. 1964, Art. 54 Anm. III 3, S. 1070. 48 Stern (Fn. 12), § 30 II 1, S. 202; vgl. auch Schlaich, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Bd. II, 1. Aufl. 1987, § 47 Rn. 2. 49 Scheuner, Das Amt des Bundespräsidenten als Aufgabe verfassungsrechtlicher Gestaltung, 1966, S. 31. 50 Nierhaus (Fn. 1), Art. 54 Rn. 3. 51 Schlaich (Fn. 48), Rn. 2. 52 Siehe dazu Seltenreich, KritV 1995, 249 ff. 53 Vgl. Jülich, DÖV 1969, 96; Anders, DÖV 1970, 255. 54 BT-Drucks. 12 / 6105 vom 10. November 1993; dazu Seltenreich, KritV 1995, 250.
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destens fünf Prozent ihrer Stimmen die Bewerber auswählen. In einer nachfolgenden Volkswahl wäre derjenige Kandidat gewählt, der die absolute Mehrheit auf sich vereinigt. Misslingt dies, würde binnen zwei Wochen (!) ein zweiter Wahlgang stattfinden, in dem die meisten Stimmen zu einer erfolgreichen Wahl ausreichen sollen. Die Rückstufung der Bundesversammlung zu einem reinen Bewerberauswahlgremium wird sicher ihrer Rechtsstellung und Zusammensetzung in der föderalen Demokratie nicht gerecht. Unter anderem deshalb ist dieser Vorschlag auch zu Recht nicht weiter verfolgt worden. Allerdings sollte durch einfachgesetzliche Änderung des WahlGBPräs ein kleiner (demokratischer) Schönheitsfehler im Konstrukt des Bundespräsidenten-Wahlverfahrens beseitigt werden: Für die Zukunft sollte ausgeschlossen werden, dass Mitglieder von den Landtagen / Bürgerschaften in die Bundesversammlung gewählt werden können, die kein Landtagsmandat besitzen.55 Zuweilen konnte man sich insbesondere infolge der Medienberichterstattung über die Bundespräsidentenwahl nicht des Eindrucks erwehren, die Bundesversammlung degeneriere zu einer Art Presseball oder Ball des Sports.56 2. Mehr Anhänger könnten sich für den weiteren Diskussionsansatz erwärmen, der darauf hinausläuft, die Amtszeit des Bundespräsidenten auf eine Amtszeit zu beschränken, d. h. eine Wiederwahl auszuschließen, und / oder seine Amtsperiode zu verlängern. Beide Reformüberlegungen stehen in einem engen sachlich-politischen Zusammenhang, sollen jedoch im Folgenden unter a) und b) getrennt abgehandelt werden. a) Gegen die Beschränkung der Amtszeit des Bundespräsidenten auf eine Periode ist angeführt worden, diese Begrenzung widerspreche der politischen Verantwortung des Staatsoberhauptes.57 Dabei wird der Präsident – trotz seiner Alleinstellung als „Verfassungsorgan unter Verfassungsorganen“ – eher der Exekutive zugeordnet. Diese Einstufung ist zunächst insoweit nicht ganz stimmig, als der Bundespräsident bei der Ausfertigung und Verkündung von Gesetzen nach Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG integraler Bestandteil der Legislative ist.58 Abgesehen davon trägt der Bundespräsident ausweislich der Gegenzeichnung (Art. 58 GG), mit der ein Regierungsmitglied politische Verantwortung für Präsidialakte gegenüber dem Parlament übernimmt,59 und der Präsidentenanklage u. a. wegen vorsätzlicher Verletzung des GG (Art. 61 GG) nur staatsrechtliche Verantwortung.60 Man kann also – Siehe auch Seltenreich, KritV 1995, 242. Eine Versammlung u. a. von Wirtschaftsführern, Gewerkschaftsbossen und Goldmedaillengewinnern. Im Falle der Fürstin Gloria von Thurn und Taxis soll dieser Umstand für die CSU angeblich auch nicht besonders förderlich gewesen sein (siehe dazu J. Ipsen [Fn. 3], S. 198 Fn. 2). 57 FAZ v. 29. Juni 2007, S. 1. 58 BVerfGE 7, 330 (337); 16, 6 (17); 34, 9 (22 f.); 42, 263 (283); siehe auch Nierhaus, Festschrift K.-H. Friauf, 1996, S. 236 f.; Pieper (Fn. 1), S. 292. 59 Nierhaus (Fn. 1), Art. 58 Rn. 4. 60 Nierhaus (Fn. 1), Art. 58 Rn. 4. 55 56
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in abgeschwächter Form – allenfalls von einer allgemeinen politischen, nicht aber von einer politisch-parlamentarischen Verantwortung sprechen. Diese Verantwortung soll durch einen Staatsakt wie eine Wahl (durch die Bundesversammlung) „benotet“ werden.61 Dies setze die verfassungsrechtliche Möglichkeit einer abermaligen („anschließenden“) 62 Kandidatur und der Wiederwahl voraus. Bei Lichte betrachtet erscheint dieses Konstrukt einer politischen Verantwortung (gegenüber dem Volk oder dem nichtständigen und in seiner Zusammensetzung wechselnden Verfassungsorgan Bundesversammlung?) einigermaßen gewagt. In Wahrheit sprechen andere verfassungspolitische Gründe für die Möglichkeit einer anschließenden Wiederwahl: Im Vordergrund stehen Aspekte personeller Kontinuität. Ein „erfolgreicher“, im Volke beliebter und angesehener Bundespräsident soll die Chance einer weiteren Amtszeit haben, ohne sich in das Staatsamt einarbeiten und sein persönliches Amtsverständnis erst finden zu müssen.63 Auch in einer fünfjährigen Amtszeit (Art. 54 Abs. 2 S. 1 GG – dazu unten b)) ist es oftmals nicht möglich, alle selbst gestellten Aufgaben in Staat und Gesellschaft sowie in der völkerrechtlichen Repräsentation (Art. 59 Abs. 1 GG) vollständig zu erfüllen. Nur die Möglichkeit einer Wiederwahl verschafft einem Bundespräsidenten den zeitlichen Rahmen, den er benötigt, um sein Amt auszufüllen und zu vollenden. Die Begrenzung einer nur einmaligen (anschließenden) Wiederwahl beugt allen Gefahren vor, die von einem Bundespräsidenten ausgehen könnten, der sich als „Ersatzmonarch“ fühlt und als solcher agiert.64 Alles in allem stellt die einmalige Wiederwahlmöglichkeit eine ebenso bewährte wie weise Kompromisslösung dar.65 b) Auch wenn sich die Einführung der ein- und letztmaligen Amtsperiode politisch nicht durchsetzen lässt – wofür Vieles spricht –, so bleibt noch die ebenfalls von H. Köhler vorgeschlagene Verlängerung der präsidentiellen Amtsdauer. Verfassungsrechtlicher Ausgangsbefund ist die Abkoppelung der Amtszeit des Bundespräsidenten (Art. 54 Abs. 2 S. 1 GG: fünf Jahre) von der Wahlperiode des Bundestages (Art. 39 Abs. 1 S. 1 GG: vier Jahre). Durch diese Entzerrung ist sichergestellt, dass die Wahl des Staatsoberhauptes nicht in den Strudel parteitaktischer Wahlmanöver in zeitlichem Zusammenhang mit der Bundestagswahl gerät; damit soll freilich nicht geleugnet werden, dass es die Parteiführungen sind, die – teilweise auch unter koalitionspolitischen Gesichtspunkten – den Präsidentenkandidaten unter sich ausmachen.66 Hefty, FAZ v. 29. Juni 2007, S. 1. Mit der bekannten Problematik einer dritten Kandidatur bei zwischengeschaltetem Amt eines anderen Bundespräsidenten, siehe Nierhaus (Fn. 1), Art. 54 Rn. 21 m. w. Nachw. 63 Überzeichnend Schwarz, Die Zeit v. 17 April 2008, S. 2: „Bellevue-Blues“! 64 Anklänge in dieser Hinsicht bezogen auf R. v. Weizsäcker bei Isensee, NJW 1994, 1329 f. 65 Abw. Schwarz, Die Zeit v. 17 April 2008, S. 2, der zwischen den Amtszeiten „Weizsäcker I“ und „Weizsäcker II“ mit pejorativer Abwärtstendenz unterscheidet. 66 Z. B. bei der Wahl G. Heinemanns 1969 mit Blick auf die sozial-liberale Koalition; vgl. dazu Baring, Machtwechsel – Die Ära Brandt Scheel, 1982, S. 60 ff. 61 62
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Werden die Abgeordneten auf vier Jahre und der Bundespräsident auf fünf Jahre gewählt, so verbietet es sich aus Gründen demokratischer Konkordanz, die Amtsperiode des Präsidenten auf acht Jahre zu verlängern.67 Somit verbleibt noch die Möglichkeit der Ausdehnung der Amtszeit auf sieben, wenigstens auf sechs Jahre (vgl. Art. 43 WRV: siebenjährige Amtsperiode des Reichspräsidenten). Abgesehen von der hier (oben a)) abgelehnten Einführung der einmaligen Amtsperiode sind insoweit viele Imponderabilien abzuwägen: Im Falle möglicher Erkrankungen, aber auch bei erkennbarer Amtsmüdigkeit wäre eine Verlängerung der immerhin fünfjährigen Amtszeit sowohl für den Amtsinhaber als auch die Bevölkerung kontraproduktiv. In der (positiven) Konstellation eines wirkungsmächtigen und im Volk beliebten Bundespräsidenten besteht die Möglichkeit und Chance einer Wiederwahl. Abgesehen von diesen Variablen ist vor allem die mittelbar-demokratische Beteiligung der Wahlvölker des Bundes und der Länder an der Inthronisierung des Staatsoberhauptes in die Abwägung einzustellen. Diese Mitsprache der Bürger resp. die Stärkung ihres Einflusses ist schließlich ein wesentliches Argument für die (hier nicht befürwortete) Etablierung der Direktwahl des Bundespräsidenten.68 Konsequenterweise sollte die Mitwirkung des Volkes auf der nur indirekt-demokratischen Ebene nicht noch weiter durch Amtszeitverlängerung beschnitten werden. M. a. W.: Die Beibehaltung der fünfjährigen Amtsperiode stellt den Preis für die Vorenthaltung direkt-demokratischer Entscheidung über den Inhaber des höchsten Amtes im Staate dar. IV. Wissenschaft und Praxis haben in den letzten Jahren viel über die Notwendigkeit der Novellierung des GG reflektiert und sie teilweise auch schon realisiert (Stichworte: Föderalismusreform I und II). Entgegen den Reformanstößen von Bundespräsident H. Köhler, der Staatsrechtslehre und Publizistik ist nichts weniger reformbedürftig als die Regelungen über das Amt des Staatsoberhauptes einschließlich seiner Wahl. Sie sind nicht perfekt, bergen aber weniger Schwächen und Nachteile in sich als andere Bestimmungen des GG. Gerade im Imperfekten, vor allem im Nicht-Geregelten liegen die Stärken und individuellen Entwicklungspotentiale des Bundespräsidentenamtes. Der mit dieser Festschrift geehrte Jubilar und wahre Freund hat in seinem ebenso beeindruckenden wie facettenreichen Œuvre zum Bundespräsidenten, soweit ersichtlich, nicht Stellung genommen. Gleichwohl darf Herbert Bethge dieser kleine Beitrag gewidmet werden. Er führt „back to the roots“, zum Beginn der gemeinsamen wissenschaftlichen Arbeit in der Kölner Gyrhofstraße. H. B. war an der Entstehung meiner ersten Arbeit über den Bundespräsidenten wesentlich – unterstützend und ermunternd – beteiligt. 67 68
Zutreffend Hefty, FAZ v. 29. Juni 2007, S. 1. Vgl. J. Ipsen (Fn. 3), S. 207, 209; Seltenreich, KritV 1995, 239.
Bürgerrechte als staatliche Kompetenztitel? Miszellen zum Verhältnis von Staat und Gesellschaft Von Hans Heinrich Rupp I. Allgemeines Öffentliches Recht und Privatrecht beruhen auf konträren Prinzipien, erfüllen unterschiedliche Aufgaben und Regelungsbereiche, besitzen deshalb andere Strukturen und beziehen sich auf andersgeartete Rechtsverhältnisse. Sie gründen auf unterschiedlichen Basiselementen: Ist es im Privatrecht das grundrechtlich abgesicherte Agens der Interaktion der Privatrechtssubjekte, das dem Privatrecht Leben verleiht, so ist das öffentliche Recht im Prinzip Regulatorium hoheitlicher Staatskompetenzen, die nicht aus freier Gestaltungsbeliebigkeit hervorgehen, sondern nur dann und dort bestehen, wenn und wo sie demokratisch zugewiesen sind. Dieser Unterschied prägt nicht nur die verschiedenartigen Systeme der Rechtsformen und Rechtsfolgen, sondern auch das gesamte materielle Recht des demokratischfreiheitlichen Rechtsstaats. Dass sich hierin der Unterschied von Staat und Gesellschaft, von hoheitlicher Machtausübung einerseits und auf Freiheit beruhender Interaktion der Privatrechtsgesellschaft andererseits widerspiegelt, liegt auf der Hand. Wenn hier gleichwohl diese Selbstverständlichkeit zu betonen Anlass besteht, so deshalb, weil seit einiger Zeit dieser Unterschied wieder in Zweifel gezogen und sich mit der Behauptung konfrontiert sieht, die demokratische Verfassung habe es mit einer Gesellschaft als Ganzem zu tun, dessen Wirklichkeit mit dem klassischen Dualismus von „Staat und Gesellschaft“ nicht mehr zu erfassen sei.1 Die schlichte Wiederholung der Thesen Rudolf Smends wird freilich dem hochdifferenzierten System einer rechtsstaatlich verfassten liberalen Demokratie nicht gerecht. Der Bürger als mit der Privatautonomie der Freiheit begabter Bourgeois ist zugleich Citoyen, Mitglied des Souveräns, Teil des demos, Mitgestalter demokratischer Herrschaft. Dass dieses politische Mitgestaltungsgrundrecht im Grundgesetz – anders als in anderen Ländern, einschließlich einiger deutscher Länder – keine ausdrückliche Erwähnung gefunden hat, sondern sich nur im Wahlrecht spiegelt, hat mehrere Ursachen, die nicht zuletzt mit der deutschen Verfassungsgeschichte zu tun haben, 1
So z. B. Lege, DVBl. 2007, 1055.
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die ja keineswegs einen demokratischen Ursprung hatte. Der Umstand also, dass in der freiheitlichen Demokratie die Rolle des Bourgeois mit derjenigen des Citoyen in einer Person, diejenige von Volk und Gesellschaft in einem Personenverband zusammenfällt, sollte nicht mehr darüber hinwegtäuschen, dass der Bürger kraft der bürgerlichen Freiheitsrechte gegenüber kollektiven Entscheidungen des Demos geschützt werden soll, dessen Mitglied er selbst ist und an dessen Entscheidungen er – wenn auch nur höchst mittelbar – teilhat.2 Anderes Gewicht haben die im vorliegenden Zusammenhang zu beobachtenden politischen und verfassungstheoretischen Strömungen und Tendenzen, bisher in staatlicher Hand befindliche Aufgaben und Funktionen in privatrechtliche Gesellschaftsformen auszugliedern und von innen her – durch eine alleinige oder dominante Anteilsmajorität zielgerecht zu steuern und sich im übrigen auf eine die Verwirklichung dieser Ziele sichernde „Gewährleistungsverwaltung“ zu verlassen. Zu diesem Thema kann hier nicht im Einzelnen Stellung genommen werden. Immerhin ist unzweifelhaft, dass Private schon nach tradiertem Verwaltungsrecht in hoheitliche Aufgaben einbezogen werden können, das Beispiel des „beliehenen Unternehmers“, des „in Dienst genommenen“ Privaten oder des „Verwaltungshelfers“ belegt dies hinreichend. Doch damit lassen sich die neuen Strömungen nicht mehr erfassen; denn es ist gerade die prekäre Frage, wie etwa eine nach GmbHRecht organisierte, gesteuerte und kontrollierte, dem Insolvenzrecht unterworfene und mit eigenen Grundrechten ausgestattete GmbH zur gemeinwohlgerechten Wahrnehmung der übertragenen öffentlichen Aufgaben taugt. Diese Bedenken gelten erst recht für eine Voll-(Kapital-)Privatisierung, also für die Übertragung öffentlicher Aufgaben auf eine Gesellschaft des bürgerlichen Rechts ohne dominanten Kapital- oder Gesellschaftsanteil der öffentlichen Hand: ist schon eine auf gesellschaftliche Majorität gestützte Innensteuerung und -kontrolle in Bezug auf die ordnungsgemäße Durchführung der übertragenen öffentlichen Aufgabe nach geltendem Gesellschaftsrecht mehr als unsicher und die übliche Personalunion von Staats- und Gesellschaftsfunktionären mitsamt den Interessenkonflikten zwischen Staats- und Gesellschaftsbelangen mehr als problematisch, so scheiden Binnensteuerungen bei einer Voll- oder Mehrheitsprivatisierung der Kapital- oder Gesellschaftsanteile völlig aus. Entgegen der vielstimmigen Strömung, eine Kompensation durch eine auf „Gewährleistung“ bezogene neue Verwaltung zu erreichen, setzte dies eine „Gewährleistungsverwaltung“ voraus, welche die eingesetzte zivilrechtliche Gesellschaft auch organisatorisch, formell- und materiellrechtlich derart umformt, dass sie die von der Verwaltung gewährleistete Funktion oder Aufgabe verfahrens- und zielgerecht zu erfüllen geeignet ist. Das zivilrechtliche Gesellschaftsrecht reicht dafür absolut nicht aus, es sei denn, es erhält wie der öffentlich-rechtliche Vertrag eine Umformung, die sich so sehr dem öffentlichen Recht annähert, dass eher von einem „Gesellschafts- oder Privatverwaltungsrecht“ gesprochen werden müsste,3 2
Dazu neuerdings auch Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2002, S. 96 f.
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das es bisher nicht gibt. Eine solche Umformung würde es auch bedeuten, wenn, wie dies Burgi vorschlägt,4 dem „dispositiven“ Gesellschaftsrecht durch zusätzliche Verträge Anforderungen aufgebürdet würden, mit dem Ziel, organisatorisch und sachlich die übertragenen Aufgaben gewährleistungsgerecht umzusetzen. Das GmbH-Recht ist kein GmbH-Recht mehr, wenn ihm organisatorisch, im Entscheidungs- und Finanzierungsstatut, bei der Auswahl des leitenden Personals und der Unternehmensstrategie bindende Vorgaben und Aufträge zugewiesen werden, welche das gesellschaftsrechtliche Ordnungssystem praktisch mattsetzen. Schoch hat am Beispiel des geplanten, aber am negativen Votum des Bundespräsidenten gescheiterten Gesetzes zur Neuregelung der Flugsicherung eindrucksvoll aufgezeigt, welche verfassungsrechtlichen Kollisionen entstehen, wenn – wie geplant – die Hoheitsaufgabe der Flugleitung, Flugüberwachung und Flugsicherung einer GmbH überlassen würde, bei welcher der Bund zwar noch beteiligt ist, aber nur noch – und auch dies nur befristet – über 25 Prozent der Gesellschaftsanteile verfügt.5 Auch das gelegentlich geäußerte Vertrauen darauf, die mit der Übertragung einer öffentlichen Aufgabe an eine Gesellschaft des Privatrechts einhergehende Öffnung des marktlichen Wettbewerbs erfüllte diese Aufgabe, wenn nur der marktliche Wettbewerb staatlicherseits durch eine „Gewährleistungsverwaltung“ richtig organisiert, gesteuert, in Gang gehalten und als Instrument der Gemeinwohlverwirklichung begleitet werde,6 sieht sich nicht nur dem v. Hayek’schen Einwand der „Anmaßung von Wissen“ ausgesetzt, sondern hat eine „Gewährleistungsverwaltung“ zur Voraussetzung, die besser selbst die übertragene Aufgabe in eigener Regie wahrnähme und dafür die volle Verantwortung und Haftung trüge. Der Markt und marktlicher Wettbewerb sind im Sinne v. Hayeks ein unübertroffenes System von Such-, Entdeckungs- und Lernverfahren, denen – weil von Freiheit gespeist – innovatorische Motorik, Phantasie, Spontaneität und Reaktionsstärke eignen. Dies im Blick ist – was hier nur gestreift werden kann – der angesichts der von Amerika ausgehenden dramatischen Finanzmarktkrise lauter werdenden Kritik am Marktsystem, es führe zu maßlosem Egoismus, zu Rücksichtslosigkeit, Gier, sozialer Härte und zur einseitigen Bewertung aller Dinge am Maßstab der Gewinnmaximierung, nur insofern nachzugeben, als die derzeitige Tendenz zur Überlassung bisheriger Aufgaben der öffentlichen Hand an Private und den Markt mit z. T. dubiosen „Evaluierungs“-Regeln eine nüchterne Revision erfordert. Doch andererseits sind bisher alle anderen Wirtschaftssysteme und die Hoffnung auf einen besserwissenden, mit dem Alleinbesitz des Richtigen und untrüglicher Steuerungs- und Planungsgewissheit begabten „Staat“ kläglich gescheitert, und es ist keineswegs ausgemacht, dass der diagnostizierte Verfall der 3 So kritisch Rupp, in: Isensee / Kirchhoff, HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 31 Rn. 58; ders., JZ 2006, 1034. 4 Thesen zum öffentlich-rechtlichen Gutachten zum 67. DJT, Nr. 13. 5 Schoch, Die Verwaltung 2006, Beiheft 6. 6 So anscheinend Burgi, DVBl. 2006, 271.
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Sitten wirklich auf die Rechtsregeln und die Mentalität des Wettbewerbs zurückgeht oder dafür in erster Linie nicht andere tiefer gehende Gründe verantwortlich sind.7 Markt und marktlicher Wettbewerb haben jedenfalls im Bereich der Wirtschaft einen fundamentalen Gemeinwohlwert, und deshalb sollten immerhin solche von der öffentlichen Hand wahrgenommenen Aufgaben oder Funktionen, die entsprechend dem grundrechtlichen Subsidiaritätsprinzip i. S. J. Isensees dem interdependenten Aktionsgeflecht der in Freiheit verfassten Privatrechtsgesellschaft zu überlassen sind, dieser auch überlassen werden; allerdings notwendig verknüpft mit einer funktionsfähigen, tatkräftigen und wirksamen staatlichen Wirtschaftsaufsicht über Monopole, Oligopole, Kartelle, Transparenz und Lauterkeit des Wettbewerbs, Missbrauchsverhütung und Schutz der Verbraucher. Dagegen ist zur Verwirklichung öffentlicher Funktionen ein staatlich organisierter, gestalteter, gesteuerter und in Gang gehaltener Markt eine Chimäre und hat seine Ordnungskraft verloren. Nach dem Regierungsentwurf zum neuen Energiewirtschaftsgesetz war auch die „Regulierung“ der Netzwerke im Bereich von Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahn durch die neue Netzagentur als Übernahme „der bewährten Grundsätze der kartellrechtlichen Aufsicht“ und lediglich „im notwendigen Umfang durch zusätzliche Eingriffsrechte der neuen Regulierungsbehörde“ ergänzt, verstanden worden.8 Ob dabei freilich Aufgaben, auf deren Realisierung das Marktgeschehen nicht zugeschnitten ist, den Markt mattsetzen und der Regulierungsbehörde bei Nicht- oder Schlechterfüllung solcher Aufgaben Eingriffsmöglichkeiten und entsprechende Druckmittel zuwachsen, die über die übliche Wirtschaftsaufsicht hinausgehen, wird sich zeigen. Es entstünde dann u. U. nicht nur ein spezifisches „Regulierungsverwaltungsrecht“, sondern ein reguliertes Gesellschaftsrecht, welches so stark dem öffentlichen Recht angenähert wäre, dass – wie erwähnt – hinsichtlich Eigengrundrechten der Gesellschaft, Rechtsfolgen und Rechtsschutz Dritter bei Schlecht- oder Nichterfüllung der übertragenen Aufgaben durch die Gesellschaft sowie hinsichtlich Aufgabenfinanzierung, Personalauswahl u. ä. eine Sonderregelung unausweichlich wäre. Der Privatisierung und Arbeitsteilung bei öffentlichen Aufgaben zwischen Staat und Gesellschaft sind daher Grenzen gesetzt; sie lassen die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft nicht verschwimmen. „Denn die Auflösung der strikten Trennung von Staat und Gesellschaft als Verantwortungssubjekte birgt die Gefahr, dass fundamentale Prinzipien des Rechtsstaats aufgegeben werden.“9
7 Dazu etwa Saage, Zeitschrift für Politik 55 (2008), 123 ff.; auch Volkmann, in: Merten / Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. II, 2006, § 32 Rn. 39 ff. 8 BT-Drucks. 1573917, S. 64. A. A. Burgi, DVBl. 2006, 272. 9 So Spiecker gen. Döhmann, DVBl. 2007, 1082 zur „steuerungswissenschaftlichen“ Umformung des Verwaltungsrechts.
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II. Bürgerrechte und Staatsgewalt Dass Grundrechte den öffentlichrechtlichen Verbandswesen – mit spezieller Ausnahme der öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften, Rundfunkanstalten und Universitäten – nicht zu Gebote stehen, ist inzwischen unstreitig, kann keinem Zweifel mehr unterliegen und ist vom Jubilar eingehend und überzeugend dargelegt worden10. Öffentliche Gewalt ist grundrechtsgebunden, nicht grundrechtsberechtigt. Doch dieses Thema hängt nicht unmittelbar mit der hier zu erörternden Frage zusammen. Grundrechte sind staatsgerichtet, betreffen das Verhältnis von Bourgeois und hoheitlicher Gewalt. Im vorliegenden Zusammenhang geht es indessen nicht um diese vertikale Dimension und das Problem, ob Verbandspersonen des öffentlichen Rechts ihrerseits gegen hoheitliche Eingriffe grundrechtlich geschützt sind, sondern um die bisher wenig erörterte Frage, ob das Zivilrecht, also das die Horizontalbeziehungen der Bürger untereinander regelnde Recht, zugleich Kompetenztitel zur Ausübung öffentlicher Gewalt liefert. Diese Frage betrifft allenfalls eine eigenartig umgekehrte Drittwirkung der Grundrechte insoweit, als das Zivilrecht – wie erwähnt – ein grundrechtlich geprägtes, grundrechtlich interdependentes Interaktionssystem der in Freiheit verfassten Privatrechtsgesellschaft darstellt11 und deshalb die Nutzung dieses Systems zur Ableitung staatlicher Hoheitskompetenzen nichts anders als eine Partizipation hoheitlicher Gewalt am zivilrechtlichen Arsenal bürgerlicher Freiheit bedeutete. Deshalb kann die gestellte Frage nur negativ beantwortet werden: Zivilrechtliche Einrichtungen und Regelungen sind nicht in der Lage, staatlicher Gewalt Kompetenztitel zu vermitteln. Diese bedürfen im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat allemal besonderer Zuweisung durch das öffentliche Recht und haben mit bürgerlich-rechtlicher Privatautonomie nichts zu tun. Doch so selbstverständlich dies auf den ersten Blick erscheinen mag: Die folgenden Beispiele lassen gleichwohl Unsicherheit erkennen.
1. Der Fall „Daschner“ – Notwehr als Kompetenz zur Terrorabwehr a) Nach der Entführung des elfjährigen Jakob von Metzler konnte die Polizei den Täter Gäfgen fassen. Dieser weigerte sich, den Aufenthaltsort des Opfers zu nennen und verschwieg auch, dass der Junge nicht mehr lebt. Die Polizei ging daher vom Gegenteil aus, musste aber aufgrund der Umstände annehmen, dass der Junge in höchster Lebensgefahr schwebt. In dieser Situation drohte der Polizeivizepräsident, Wolfgang Daschner, dem Täter die Zufügung von Schmerzen an, falls er sich weiter weigere, den Aufenthaltsort des Opfers zu nennen. Infolge 10 Bethge, Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts nach Art. 19 Abs. 3 Grundgesetz, 1985. 11 Rupp (Fn. 3), § 31 Rn. 41; Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, 1977; Suhr, Die Entfaltung des Menschen durch die Menschen, 1976.
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der Drohung brach der Entführer sein Schweigen und gab den Aufenthaltsort des toten Kindes bekannt. Der in der Öffentlichkeit, der Politik und im Schrifttum mit großem Engagement erörterte und vom Landgericht Frankfurt / Main am 20. April 200412 entschiedene Fall kreiste um die Frage, ob die Androhung von Schmerzen zur Erreichung der Rettung eines Menschen als Folter oder Androhung von Folter gegen die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG verstoße, strafrechtlich zu ahnden oder als einzig erfolgversprechendes Mittel der Bewahrung der menschlichen Integrität zu rechtfertigen sei. Auf die kaum zu überblickende Literatur zu diesem Problem ist hier nicht einzugehen.13 Im vorliegenden Zusammenhang interessiert nur eine bestimmte Begründung für die Rechtfertigung der Folter bzw. Folterandrohung durch ein Polizeiorgan, nämlich der zivil- und strafrechtliche Rechtfertigungsgrund der Notwehr bzw. der Nothilfe (§§ 227, 228 BGB; 32 ff. StGB). Mit diesem Thema hat sich vor allem Volker Erb neuerdings eingehend befasst.14 Erb sieht im Notwehrrecht ein Menschenrecht. Der Staat laufe Gefahr, durch eine Beschränkung des Notwehrrechts die Menschenrechte des Angegriffenen zu verletzen – und zwar nicht nur durch unzureichende Erfüllung evtl. Schutzpflichten, sondern ganz im Sinne eines klassischen Menschenrechtsverstoßes. Damit erweise sich die Respektierung individueller Notwehr durch den Staat zumindest dort, wo existenzbedrohende Angriffe in Betracht stünden, als zwingendes menschenrechtliches Erfordernis. Dies gelte gleichermaßen für Selbstverteidigung und Nothilfe, wobei es keine Rolle spiele, wie nahe der Nothelfer dem Opfer persönlich stünde. Es sei auch unerheblich, ob sich der Nothelfer in der Rolle als Amtsträger befinde, dessen hoheitliche Befugnisse möglicherweise nicht so weit reichten wie das Notwehrrecht: „Ob der Staat dem Opfer selbst oder einem schutzbereiten Dritten in den Arm fällt, auf dass die erforderliche Verteidigung unterbleibe – die Negierung der angegriffenen Rechtsposition bei gleichzeitiger Förderung des Unrechts tritt in beiden Fällen mit gleicher Deutlichkeit zutage, und zwar unabhängig von der Position des Nothelfers.“15 Das zeige zugleich, wie notwendig und richtig es sei, dass § 32 StGB die Nothilfe im gleichen Umfang erlaube wie die Selbstverteidigung. Auf den konkreten Fall angewendet habe die Entführung eine Notwehrlage begründet, die so lange andauere wie der Freiheitsentzug des Opfers. Deshalb sei der Verteidigungscharakter einer Gewaltanwendung, die den Entführer zur Preisgabe des Aufenthaltsortes des Opfers veranlassen sollte, nach Sinn und Zweck des Notwehrrechts nicht zu bezweifeln. Die Erforderlichkeit der Androhung von Schmerzen und körperlicher Gewalt, die den Entführer zum NJW 2005, 652. Vgl. nur etwa Brugger, Der Staat 35 (1996), 67; ders., JZ 2000, 165; Nitschke, Rettungsfolter im modernen Staat? Eine Verortung, 2005; Hilgendorf, JZ 2004, 331; Otto, JZ 2005, 473. 14 Erb, NStZ 2005, 593; ders., Jura 2005, 24; ders., in: Nitschke, Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat? 2005, Rn. 149. 15 Erb, NStZ 2005, 594. 12 13
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Reden bringen sollte, sei zwar vom Landgericht verneint worden, weil „noch andere Maßnahmen zur Verfügung standen“. Damit habe sich das Gericht aber über den Grundsatz hinweggesetzt, dass bei der Notwehr weder nennenswerte Verzögerungen der Angriffsabwehr noch irgendwelche Risiken in Kauf genommen werden müssten, die aus der Wahl eines anderen Mittels mit unsicheren Erfolgsaussichten resultierten. So gesehen sei auch das von der Kammer aus Art. 1 Abs. 1 GG und internationalem Recht abgeleitete absolute Folterverbot nicht geeignet, das Notwehrrecht im konkreten Fall einzuschränken. Was verfassungsrechtlich an dieser Argumentation auffällt, ist die Grundannahme, dass das Notwehrrecht bzw. die Nothilfe im Verhältnis von Staat und Einzelperson staatlichen Organwaltern eine Kompetenz zum Eingreifen gewähre. Erb will zwar ausdrücklich die „mit der ganz h. M. zu verneinende“ Frage dahingestellt sein lassen, „ob der Staat als solcher berechtigt sei, entsprechende Maßnahmen polizeirechtlich anzuordnen“. Es gehe vielmehr ausschließlich um die strafrechtliche Verantwortlichkeit des einzelnen, der gg. auch als Amtsträger im Dienst und unter Überschreitung seiner polizeilichen Befugnisse bei derartigen lebensbedrohenden Umständen zum Mittel der Folter bzw. Folterandrohung greife.16 So verständlich im konkreten Fall diese Methode, dem Polizeirecht ein den Privaten untereinander geltendes und strafrechtlich geschütztes Nothilferecht einzufügen, auch ist: Verfassungsrechtlich ist sie problematisch. Ein Polizeibeamter, der in amtlicher Eigenschaft einem Täter die Zufügung von Schmerzen zur Erzwingung eines bestimmten Verhaltens androht oder anordnet, wird nicht im selben Augenblick Privatmann und zum Inhaber notwehrrechtlich erlaubter Gewalt, sondern ist um der Rechtsstaatlichkeit staatlicher Gewalt willen strikt an das für ihn geltende Amtsrecht gebunden. Es kommt deshalb ausschließlich darauf an, ob das öffentliche Recht eine der Nothilfe vergleichbare Eingriffskompetenz enthält und ob der Einsatz oder die Androhung staatlicher Gewalt als solche die Folter umfasst. b) Die Methode, notwehrrechtliche Vorstellungen zu verwenden, findet sich auch im Rahmen der Diskussion um die Möglichkeiten der staatlichen Terrorabwehr, insbesondere um § 14 des Luftsicherheitsgesetzes, das den Abschuss vom zum Terror eingesetzter gekaperter Zivilflugzeuge vorsah und vom Bundesverfassungsgericht wegen Kompetenzverstoßes und Verletzung des grundrechtlichen Rechts auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 i. V. mit Art. 1 Abs. 1 GG für verfassungswidrig erklärt worden ist.17 Im vorliegenden thematischen Zusammenhang ist etwa die Stellungnahme Michael Pawliks von Interesse: Er erörtert die Frage, ob sich der Abschuss eines Flugzeugs unter den Voraussetzungen des § 14 des Luftsicherheitsgesetzes nicht nach dem Grundsatz des entschuldbaren übergesetzlichen Notstandes zumindest in 16 17
Erb, Jura 2005, 24. Urteil vom 15. 2. 2006, BVerfGE 115, 118 (139).
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Bezug auf den betroffenen Soldaten entschuldigen lasse.18 Aus solcher Sicht liegt es nicht fern, auch dem Staat um seiner selbst willen für Fälle des inneren Notstands unter dem Gesichtspunkt der Notwehr außerverfassungsrechtliche Kompetenzen zuzugestehen. Wie erinnerlich, ist vor Jahren bei der Diskussion um die „Notstandsverfassung“ in der Tat die These vertreten worden, im Fall des inneren Notstandes sei der Rechtsgedanke des § 34 StGB heranzuziehen und gewähre dem Staat im Ernstfall weitgehende Notstandsrechte.19 Das verfassungsrechtlich Bedenkliche dieser Methode, die durch den Rechtfertigungsgrund der Notwehr gerechtfertigte Angriffsabwehr auf den inneren Staatsnotstand zu übertragen, liegt darin, dass damit das im Verhältnis der Privaten untereinander geltende zivil- und strafrechtliche Notwehrrecht zur Kompetenznorm des hoheitlich handelnden Staats und seiner Organwalter umgeprägt, also einem Referenzgeflecht implantiert wird, das aus gutem Grund andere Strukturen hat und Rechtfertigungsgründe der unter Privaten geltenden Angriffsabwehr als Kompetenzermächtigungen staatlicher Gewalt, die ja nur von Organwaltern ausgeübt werden kann, nicht zulässt. Ob allerdings die Bewältigung staatlicher Terrorabwehr auf ungeschriebenes Verfassungsrecht oder auf den Grundsatz „Not kennt kein Gebot“ gestützt werden kann,20 mag dahinstehen.
2. Glykol-Warnhinweise – BVerfGE 105, 252 Ein weiteres hier interessierendes Beispiel einer Vermengung bürgerlich-rechtlicher Rechte mit staatlichen Kompetenzen ist die Auseinandersetzung des Bundesverfassungsgerichts mit der Begründung der Zulässigkeit staatlicher Warnhinweise in Bezug auf bestimmte Weine. Nach dem Sachverhalt wurden bestimmte Weine in Deutschland vertrieben, die mit DEG, das normalerweise als Frostschutzmittel und als chemisches Lösungsmittel verwendet wird, versetzt waren. Verdachtmomente und Feststellungen der Beimischung von DEG sahen anfangs österreichische Behörden bei Weinen österreichischer Herkunft. 1985 erhielt die Bundesregierung durch eine Pressenotiz davon Kenntnis und forderte Informationen bei der österreichischen Handelsdelegation als der für Weinimporte zuständigen Stelle an. Die erhaltenen Mitteilungen gab sie an die für die Weinüberwachung zuständigen Landesbehörden weiter mit der Bitte, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen und das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit über gewonnene Ergebnisse zu unterrichten. Nachdem die Ausmaße der Beimengungen von DEG Pawlik, JZ 2004, 1050. Dazu Volkmann, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 3, 5. Aufl. 2005, Art. 91 Rn. 10; E. Klein, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Bd. VII, 1992, § 169 Rn. 61; zum Thema: strafrechtliche Notwehr und Staatsnotstand gab es eine umfangreiche Literatur, vgl. etwa Amelung, NJW 1977, 212; Schwabe, NJW 1977, 1903; P. Kirchhof, NJW 1978, 969. Neuerdings Gramm, Die Verwaltung 2008, 391. 20 Vgl. dazu etwa Isensee, FAZ v. 21. 8. 2008, S. 10. 18 19
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deutlich geworden waren, wurden Weine, vor allem Weine österreichischer, aber auch deutscher Herkunft umfassend untersucht. Nachdem in der Bevölkerung nach Presseveröffentlichungen eine erhebliche Beunruhigung entstanden war, zumal nicht bekannt war, um welche Weine es sich im einzelnen handelte, gab das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit 1985 eine „Vorläufige Gesamt-Liste der Weine und anderer Erzeugnisse, in denen DEG (Diethylenglykol) in der Bundesrepublik festgestellt worden ist“, heraus, in welcher zwar darauf hingewiesen wurde, dass nicht alle in die Liste aufgenommenen Weinsorten und Weinlagen DEG-verunreinigt sein müssten, sondern nur ganz bestimmte, genau gekennzeichnete Sorten davon betroffen seien. Die Liste ist veröffentlicht worden und konnte von jedem angefordert werden. Hiergegen richteten sich Verfassungsbeschwerden von Weinkellereien, welche in der Liste genannte Weine abfüllten und vertrieben. Was hier interessiert, sind Teile der Begründung, mit der das Bundesverfassungsgericht die Zulässigkeit der regierungsamtlichen Warnhinweise bejaht und eine Verletzung von Grundrechten der Beschwerdeführerinnen verneint. Das Gericht erklärt zunächst, das Berufsgrundrecht des Art. 12 Abs. 1 GG schütze nicht vor der Verbreitung zutreffender und sachlich gehaltener Informationen am Markt, die für das wettbewerbliche Verhalten der Marktteilnehmer von Bedeutung sein könnten, selbst wenn die Inhalte sich auf einzelne Wettbewerbspositionen nachteilig auswirkten. Unternehmerischer Wettbewerb folge den Regeln des Wettbewerbsrechts. Dem diene die Bekämpfung etwa des unlauteren Wettbewerbs nach § 1 UWG und dementsprechend werde auch das Verbot von Irreführungen als Grundsatz des Wettbewerbsrechts verstanden. Das Ziel der Sicherung von Markttransparenz werde auch hergestellt, wenn Informationen nicht durch Wettbewerber verbreitet würden, wie die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs21 zeige. Offenbar waren es diese Erwägungen, die mitbestimmend für die vom Gericht angenommene Verfassungsmäßigkeit der regierungsamtlichen Warnhinweise waren und die das hier behandelte Thema berühren: Aus dem privatrechtlichen Wettbewerbsrecht, seinen Grundsätzen, Verhaltensregeln und Transparenzgeboten lässt sich nicht eine staatliche Kompetenz zur Transparenzsicherung des marktlichen Wettbewerbs und zur Beeinflussung der Marktteilnehmer herleiten, wie das Bundesverfassungsgericht anzunehmen scheint. Dazu bedarf es einer eigenen öffentlich-rechtlichen Kompetenz, mit der sich der Senat denn auch anschließend befasst, ohne allerdings die Frage nach dem Gesetzesvorbehalt überzeugend zu beantworten.22
21 22
BGHZ 65, 325 (332). Dazu Rupp, Festschrift Häberle, 2004, S. 739.
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3. Osho-Bewegung – BVerfGE 105, 279 Ähnliche Bedenken bestehen gegenüber dem am selben Tag durch denselben Senat des Bundesverfassungsgerichts gefassten Beschluss vom 26. Juni 2002 zu Warnhinweisen bezüglich der Osho-Bewegung. Es ging dabei im wesentlichem um Äußerungen, die die Bundesregierung auf Kleine Anfragen im Deutschen Bundestag zu den „Jugendsekten“ in deutlich missbilligender Weise gemacht hatte. Auch hier geht der Senat zunächst davon aus, Art. 4 Abs. 1 GG schütze nur gegen diffamierende, diskriminierende oder verfälschende Darstellungen einer religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaft. Daran knüpft das Gericht die Bemerkung, der weltanschaulich neutrale Staat und seine Organe seien „nicht gehalten“, sich mit „derartigen Fragen überhaupt nicht zu befassen“.23 Das kann – positiv gewendet – nur heißen, dass der weltanschaulich neutrale Staat und seine Organe befugt sind, sich mit derartigen Fragen zu befassen, also eine Kompetenz zur Beurteilung und öffentlicher Kritik besitzen. Diese Anfälligkeit religiös-weltanschaulicher Gemeinschaften gegenüber kritischer Äußerung, die – gestützt auf die Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG – unbestreitbar zulässig ist, gibt dem Staat aber keineswegs das Recht, sich positiv oder negativ an der öffentlichen Meinungsbildung zu beteiligen. Deshalb sieht sich das Bundesverfassungsgericht auch hier nach einer tragfähigeren und überzeugenderen Begründung für die missbilligenden Äußerungen der Regierung um.
4. Schutz des Mietrechts als Eigentum – BVerfGE 89, 1 Eine andere Konstellation des hier behandelten Problems enthält die vielumstrittene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Eigentumsschutz des Besitzrechts des Mieters.24 Es ging in diesem Fall um das Verhältnis des Mietbesitzes zum Eigentum des Vermieters einer Wohnung. Die Eigentümerin hatte, gestützt auf Eigenbedarf, das Mietverhältnis gekündigt und mit ihrer Kündigungsklage im zivilgerichtlichen Instanzenzug obsiegt. Die Kündigung sei, so die Zivilgerichte, begründet und die Berufung der Klägerin auf Eigenbedarf nicht missbräuchlich. Die dagegen erhobene Verfassungsbeschwerde des Mieters rügte eine Verletzung des Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 14 GG. Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen. In Bezug auf Art. 14 GG tut sich der Senat mit seiner Argumentation schwer: Er stellt zunächst fest, dass der Gesetzgeber bei der Ordnung des Mietrechts die BeBVerfGE 105, 279 (294). Dazu eingehend etwa Lepsius, Besitz und Sachherrschaft im öffentlichen Recht, 2002, S. 83 ff. 23 24
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lange des Mieters angemessen zu berücksichtigen, aber den Mieterschutz nicht zu einer subjektiven Grundrechtsverbürgung erhoben habe.25 Sodann wird jedoch festgestellt, „unter den Schutz der Eigentumsgarantie im Bereich des Privatrechts fielen grundsätzlich alle vermögenswerten Rechte, die ihrem Inhaber von der Rechtsordnung in der Weise zugeordnet seien, dass er die damit verbundenen Befugnisse nach eigenverantwortlicher Entscheidung zu seinem privaten Nutzen ausüben“ dürfe.26 Dazu zähle auch das Miet-Besitzrecht. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ging es somit um das eigentumsrechtliche Verhältnis des Mieters zum Eigentum des Vermieters; es stehen sich demzufolge zwei verschiedene Eigentumspositionen gegenüber, von denen diejenige des Mieters bei der Abwägung mit derjenigen des Vermieters unterliegt und deshalb der berechtigten Kündigung des Vermieters weichen muss. Diese Argumentation von unterschiedlichen grundrechtlichen Eigentumspositionen mitsamt der Abwägung zwischen beiden mag im Ergebnis befriedigen. Sie geht indes im Grundsätzlichen fehl: So führt schon die Eingangsfeststellung des Gerichts in die Irre, nach ständiger Rechtsprechung erfasse die Eigentumsgarantie der Verfassung jedes vermögenswerte Recht der Privatrechtsordnung, also auch den Mietbesitz. Dieses Diktum passt nicht auf den vorliegenden Fall: Das Grundgesetz unterscheidet sehr genau zwischen der Garantie zivilrechtlicher Institute wie Ehe, Familie, Erbrecht und Eigentum als Rechtseinrichtungen des Zivilrechts („Einrichtungsgarantien“) von staatsgerichteten Grundrechten („Rechtsstellungsgarantien“). Zwar bekräftigen die einzelnen bürgerlich-rechtlichen Institute die zugehörenden subjektiven Rechte und Pflichten des Zivilrechts, doch als Rechtsinstitute sind sie keine Grundrechte, sondern verbürgen nur den Anspruch gegen den Zivilgesetzgeber, das individuelle Eigentum als Rechtsinstitut zu wahren. Ganz anders beschaffen ist das gegen hoheitliche Eingriffe gerichtete Schutzobjekt „Eigentum“. Bekanntlich hatte zur Stärkung dieses Schutzbereichs Martin Wolff den Eigentumsbegriff auf (wohlerworbene) vermögenswerte subjektive Rechte ausgedehnt, und die Rechtsprechung, einschließlich diejenige des Bundesverfassungsgerichts ist dem gefolgt.27 Wolff bezog diesen erweiterten Eigentumsbegriff jedoch ausdrücklich und mit gutem Grund nicht auf das zivilrechtliche Institut des Eigentums, sondern nur auf den gegen staatliche Eingriffe gerichteten Schutzbereich. Erweiterte man das zivilrechtliche Institut Eigentum um alle vermögenswerte Rechte des Zivilrechts, verlöre die zivilrechtliche Dogmatik ihre Konsistenz und Systematik. Zwar hat auch das Institut des Eigentums schon seit langem insoweit eine Ausdehnung erfahren, als hierzu auch bestimmte Rechtspositionen des bürgerlichen Rechts wie das Urheber- oder Patentrecht gerechnet werden. Aber auch hier gilt: 25 26 27
BVerfGE 89, 1 (5). BVerfGE 89, 1 (6). Wolff, Festgabe Kahl, 1923, S. 3 ff., 6.
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Diese bürgerlich-rechtlichen Rechtseinrichtungen sind objektive Basiselemente des Zivilrechts, als solche von der Verfassung garantiert, und sie werden nicht getroffen, wenn etwa ein Urheber sein subjektives Verfügungs- oder Verwertungsrecht aus Gründen des gemeinen Wohls unter den Bedingungen des Art. 14 Abs. 3 GG verliert. Das zivilrechtliche Eigentum wird als Rechtseinrichtung institutionell (gegen Sozialisierung und sozialisierungsähnliche Umformungen) geschützt, das gegen staatlichen Hoheitseingriff gerichtete Abwehrrecht schützt das Eigentum individuell. So gesehen ergeben sich in der Tat zwei verschiedene Eigentumsbegriffe: Derjenige des zivilrechtlichen Instituts und derjenige, auf den sich die individuelle Abwehrposition gegenüber Eingriffen von hoher Hand bezieht. Doch dieser Unterschied der Eigentumsbegriffe hat nichts mit der bundesverfassungsgerichtlichen institutsbezogenen Unterscheidung von qualitativ unterschiedlichen Eigentumsrechten zu tun, welche die Unterscheidung von obligatorischen und absoluten Rechten durcheinanderbringt. Das Bundesverfassungsgericht hätte zur Lösung des Falles besser auf seine Eingangsfeststellung zurückgegriffen, dass der Gesetzgeber das Mietrecht und den Mietbesitz nicht als Grundrecht ausgestaltet habe und dass das auf Eigenbedarf gestützte Kündigungsrecht des Eigentümers als nicht unverhältnismäßig zu beurteilen sei. Das Gericht hätte sich damit den in die Irre führenden Ausflug zur Annahme eines (vom Gesetz verneinten) Eigentumsrechts des Mieters und das mühsame Herabstufen dieses Eigentums auf das Niveau des gesetzlichen Mietrechts erspart.28 Doch um auf das Thema des Beitrags zurückzukommen: Die Mietrechtsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts betrifft dieses Thema insofern, als das unter Privaten geltende Verfassungsinstitut des Eigentums mit dem weiten gleichnamigen, aber gegen staatliche Enteignungskompetenzen gerichteten Schutzbereich identifiziert und damit ebenfalls das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, Bürgerrecht und Staatskompetenz berührt wird.
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Zum Ganzen: Rupp, in: Merten / Papier, HGR, Bd. II, 2006, § 36 Rn. 12.
Glaubwürdigkeit – eine Verfassungserwartung an den Staat Von Walter Schmitt Glaeser
I. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1973 wirft Herbert Krüger1 die Frage auf, „ob man nicht auch dieses vielfältige Gebilde ,Verfassung‘ in einer Umwelt zu sehen hat, die für sie, um nur das mindeste zu sagen, nicht bedeutungslos ist“. Diese Umwelt fasst er unter die Stichworte „Verfassungsvoraussetzungen“ und „Verfassungserwartungen“. Zum Teil, vor allem im Blick auf die Grundrechte, sind sowohl die Verfassungsvoraussetzungen als auch die Verfassungserwartungen inzwischen ausführlich beschrieben und analysiert.2 Während sich danach die Grundrechtsvoraussetzung auf die Möglichkeit der Grundrechtsausübung bezieht, geht es bei der Grundrechtserwartung um die tatsächliche Grundrechtsausübung. Definiert wird die Verfassungserwartung „als das von der Verfassung angestrebte, aber nicht durch Rechtsgebot sanktionierte Leitbild des gemeinwohlgemäßen Gebrauchs der grundrechtlichen Freiheit.“ Auch wenn es sich danach bei der Verfassungserwartung um keine rechtliche Kategorie handelt, besitzt sie, wie auch die Verfassungsvoraussetzung, eminente Bedeutung. Werden Voraussetzungen und Erwartungen der Verfassung nicht erfüllt, funktioniert die Umwelt der Verfassung nicht mehr, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch die Verfassung selbst nicht mehr funktioniert und damit der Staat nachhaltig beschädigt wird. Während die Verantwortung für die Voraussetzungen der Verfassung vornehmlich bei den staatlichen Organen gesehen wird, soll die für die Erwartungen als „ständige Verfassungsvervollständigung“ dagegen nach Herbert Krüger3 „primär in den Händen der Bürger“ liegen. Dabei geht es um eine konkrete Gestaltung des staatlichen Gemeinwesens in Verantwortung vor den Mitmenschen und in Orientierung am allgemeinen Wohl.4 Ob sich diese Erwartung einer verantwortlichen Krüger, Festschrift Scheuner, 1973, S. 286. Isensee, in: ders. / Kirchhof, HStR, Bd. V, 1992, § 115 Rn. 136 ff., 163 ff.; kritisch Lerche, Festschrift Paus, 2007, S. 407 f. 3 Krüger (Fn. 1), S. 302. 4 Häberle, Festschrift Knöpfle, 1996, S. 119 ff. 1 2
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Freiheitsausübung erfüllt, hängt vor allem davon ab, „ob es entsprechende gesellschaftliche Verhaltensregeln gibt und wie ernst sie genommen werden“.5
II. Es entspricht der Idee vom freiheitlichen Staat, die Verantwortung für die Erfüllung der Verfassungserwartungen in erster Linie den Bürgern und den gesellschaftlichen Kräften im Sinne eines „Vorgriffs“ zuzuordnen. Sie sollen es sein, die als Träger des Souveräns von ihren Freiheitsrechten verantwortungsvoll und damit im Sinne des gemeinen Wohls Gebrauch machen.6 Verfassungserwartungen an den Staat wurde bislang dagegen nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt, obgleich offenkundig ist, dass die Bürger den an sie gerichteten Erwartungen einer verantwortungsvollen Freiheitsausübung ohne Hilfe des Staates kaum gerecht werden können, insofern also die Erfüllung nur zur gesamten Hand denkbar ist. Denn der Einzelne, auf sich allein gestellt, ist nicht in der Lage, dem allgemeinen Wohl dienende Verhaltensmaßstäbe zu entwickeln, die eine verantwortliche Ausübung der Freiheit sicherstellen. Sein Leben ist zu kurz für die Entwicklung solcher Maßstäbe und sein Verstand zu begrenzt. Daran ändert auch die ständige Beschwörung des „mündigen Bürgers“ nichts. Das Individuum bedarf – wie schon bei Alexis de Tocqueville7 nachzulesen – der Stütze durch gemeinsame Grundideen: „Damit ein Staat sich bilde, und erst recht, damit er gedeihe, müssen die Bürger immer durch einige Grundideen vereinigt und zusammengehalten werden; dies ist nur dann möglich, wenn jeder von ihnen seine Anschauungen aus derselben Quelle schöpft und eine gewisse Anzahl fertiger Überzeugungen anzunehmen bereit ist.“ Auf diesen Grundideen beruhen jene „gesellschaftlichen Verhaltensregeln“, von denen bei Herbert Krüger8 die Rede ist. Zudem bringt es die in der Freiheit vor allem des status negativus liegende legitime Autonomie individueller Persönlichkeitsentfaltung mit sich, dass der Grundrechtsträger auch individuelle Eigenarten und spezifische Vorstellungen verfolgt, die sich nicht ohne weiteres in das gemeine Wohl einordnen lassen. Aus beiden Gründen bedarf das Individuum in seiner Verantwortungspriorität der Unterstützung des ausschließlich am Gemeinwohl orientierten Staates. Diese Unterstützung kann auf vielfältige Weise geschehen, so etwa dadurch, dass er verfassungsrechtliche Fixpunkte der Orientierung wie Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit, staatliches Gewaltmonopol oder Gewaltenteilung hervorhebt, an die er selbst gebunden ist, und dabei immer wieder unmissverständlich deutlich macht, dass er an diesen Fundamentalwerten nicht rütteln lässt; das allein schon wird dem 5 Krüger (Fn. 1), S. 302 f.; Isensee (Fn. 2), Rn. 162, 163 ff.; Schmitt Glaeser, Ethik und Wirklichkeitsbezug des Verfassungsstaates, 1999, S. 27 ff. 6 Isensee, in: ders. / Kirchhof, HStR, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 114 ff. m. w. N. 7 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, 1985, S. 219 f. 8 Krüger (Fn. 1), S. 302 f.
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Bürger helfen, Orientierung zu gewinnen. Des Weiteren kann der Staat in vielen Bereichen korrigierend oder unterstützend eingreifen, ohne seine Kompetenzen zu überschreiten. Auch wenn es nicht seine Sache ist, Moral und Wertbewusstsein zu verordnen,9 darf er sich wegen seiner Abhängigkeit von der Gesellschaft auch nicht völlig heraushalten, wenn es um die Schaffung und Bewahrung seiner sittlichen Lebensgrundlagen geht. Hier kann und muss er auf eine mittelbare Weise wirken. Dabei geht es um verschiedene Maßnahmen zur Pflege der ethischen Kultur, angefangen bei ideeller und materieller Unterstützung jener gesellschaftlichen Kräfte, die sich mit ethischen Konzepten identifizieren und diese vermitteln (z. B. die Kirchen), über eine entsprechende Öffentlichkeitsarbeit und die Vorbildfunktion der Amtswalter bis hin zum Schutz von Ehe und Familie sowie zu einer wertbezogenen Erziehung in staatlichen Schulen.10 Das alles sind Eckpunkte der Orientierung, die dem Einzelnen und der Gesellschaft helfen, allgemeine Verhaltensregeln zu entwickeln, die auf Verwirklichung von Gemeinwohl zielen, verantwortliche Freiheitsausübung also ermöglichen und stützen. Diese allgemeinen Erwägungen sind hier nicht zu vertiefen. Dem Grundsatz nach ist die Notwendigkeit staatlicher Förderung selbstverantwortlicher Freiheit anerkannt.11 Die Förderung ist zwar auch mit mancherlei staatlichen Rechtspflichten verbunden; worauf es aber ankommt, ist die Art und Weise, wie die staatlichen Organe mit den rechtlich gefassten Mindeststandards – wie etwa der Schutzpflicht für die Grundrechte und insbesondere der Menschenwürde – umgehen, und wie intensiv sie die „moralischen Ordnungsmächte“ (Josef Isensee) der Gesellschaft unterstützen. Werden die Mindeststandards möglichst minimalisiert oder werden sie optimal umgesetzt? Bleibt z. B. das in Art. 2 Abs. 1 GG als Schranke der freien Persönlichkeitsentfaltung genannte „Sittengesetz“ möglichst unbeachtet oder bemüht man sich, die darin in Bezug genommenen sozialen Normen angemessen und unter Beachtung der Gesetzlichkeiten einer pluralistischen Gesellschaft zu entfalten? Weitgehend ohne rechtliche Kontrolle und Korrektur bleibt die Pflege ethischer Kultur, namentlich das Ausmaß der ideellen und materiellen Unterstützung entsprechender gesellschaftlicher Kräfte und Institutionen. Auch hier geht es typischerweise um Verfassungserwartungen an den Staat.
Vgl. etwa Bethge, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Bd. VI, 2. Aufl. 2001, § 137 Rn. 8. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981. 11 Isensee, in: Essener Gespräche, Bd. II, 1977, S. 109 ff.; ders. (Fn. 6), Rn. 124; Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, 1978, S. 32 ff.; Hans Maier, in: Gorschenek, Grundwerte in Staat und Gesellschaft, 1977, S. 180 ff.; Fikentscher, in: Wertewandel, Rechtswandel, Perspektiven auf die gefährdeten Voraussetzungen unserer Demokratie, 1977, S. 154; vgl. etwa auch BVerfGE 49, 24 (56). 9
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III. Unter den zahlreichen Verfassungserwartungen an den Staat ragt eine als existentielle Grunderwartung hervor: Es ist seine Glaubwürdigkeit und das daraus erwachsende Vertrauen der Bürger, was vor allem bedeutet, dass sie dem Staat seine ausschließliche Gemeinwohlorientierung auch „abnehmen“. Beim freiheitlichen Staat sollte ein solches Verhältnis zwischen dem Staat und seinen Bürgern eigentlich selbstverständlich sein. Denn schon von Verfassung wegen ist er darauf angelegt, höchsten Anforderungen zu genügen. Seine Rechtsordnung wird dirigiert durch die normativen Grundentscheidungen für die Würde des Menschen, für die Grundrechte und die rechtsstaatliche Demokratie, und sie wird gesichert und verwirklicht durch die Revidierbarkeit der Wahlen, die Kontrolle der Regierung durch das Parlament und durch eine unabhängige Gerichtsbarkeit. Nach Maß dieser rechtsstaatlichen Demokratie wird die Integration der individuellen Freiheiten zu einem Zustand allgemeiner Freiheit und Gleichheit im Sinne einer gleichen Freiheit erstrebt. Indem schließlich die rechtliche Ordnung von Staatsorganen geschaffen wird, die das Volk auf der Basis freier und gleicher Wahlen repräsentieren, entspringt diese Ordnung dem vereinigten Willen des Volkes, an das sie adressiert ist. Eine solche Rechtsordnung erscheint in geradezu idealer Weise geeignet, bei den Bürgern Systemvertrauen zu schaffen, konkret also Akzeptanz und Folgebereitschaft. Zugleich lässt sie aber auch beides in besonderem Maße unverzichtbar erscheinen, ohne dass es in seiner emotional bedeutsamen Grundanlage erzwungen werden kann. Tatsächlich sind Akzeptanz und Folgebereitschaft nicht mehr hinreichend ausgebildet.12 Damit zusammenhängend und hier von besonderem Interesse ist darüber hinaus die Tatsache, dass bei einer großen Zahl der Bürger die Empfindung nahezu gänzlich abhanden gekommen ist, das geltende Recht sei in seiner Freiheit beschränkenden wie in seiner Freiheit verwirklichenden Bedeutsamkeit Ausdruck des eigenen autonomen Willens „zum Staat“, d. h. zur Regelung des (unvermeidlichen) Zusammenlebens der Menschen. Vielmehr wird das Verhältnis zum Recht mehr und mehr heteronom begriffen, so dass es als Fremdkörper erscheint. Die Folgen sind multivalent und durchweg negativ. Sie reichen von passiver Gleichgültigkeit und erlebter Bedrohung bis hin zu eigennütziger Verbiegung, zu Missachtung und aggressiver Bekämpfung des Rechts. Ohne die aus dem Systemvertrauen wachsende Akzeptanz und Folgebereitschaft ist eine verantwortliche Wahrnehmung individueller Freiheit nicht zu erwarten. Für diesen allseits und „Lager übergreifend“ beklagten Zustand unseres Gemeinwesens gibt es verschiedenartige Gründe.13 Auch der Bürger, der es an Akzeptanz und Folgebereitschaft feh12 Symptomatisch dafür die verbreitete Gewaltbereitschaft: vgl. etwa Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, 1975, S. 42 ff.; Isensee, Festschrift Eichenberger, 1982, S. 23 ff.; Schmitt Glaeser (unter Mitwirkung von Horn), Private Gewalt im politischen Meinungskampf, 2. Aufl. 1992. 13 Dazu näher Schmitt Glaeser (Fn. 5) m. w. N.
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len lässt, hat seinen Anteil daran. Entscheidend für die Misere aber dürfte sein, dass der Staat in der ihm aufgegebenen Verfassungserwartung der ausschließlichen Gemeinwohlverwirklichung nicht mehr glaubwürdig erscheint.
IV. Staatliche Glaubwürdigkeit ist ein Repräsentationsproblem. Denn die Glaubwürdigkeit des Staates zeigt sich in der Glaubwürdigkeit seiner Organe und Amtspersonen, in erster Linie der Politiker, denen die öffentliche Aufmerksamkeit in besonderer Weise gehört. Dominante Bedeutung besitzen hierbei die Abgeordneten als die unmittelbar gewählten Volksvertreter sowie die aus dem Parlament erwachsenden „leitenden Politiker“ (Fraktionsvorsitzende, Bundeskanzler, Bundesminister u. a.). Ihr Image ist schlecht. Es wird ihnen vieles abgesprochen, was ihre Anerkennung ausmachen würde: Problemlösungsfähigkeit, Integrität, Vorbildeigenschaft und nicht zuletzt auch Glaubwürdigkeit.14 Die distanzierte Haltung der Bevölkerung trifft allerdings nicht nur Politiker, sondern auch andere Führungseliten. Wie eine Untersuchung des Allensbacher Instituts für Demoskopie aus dem Jahr 2008 zeigt, schneiden Politiker aber auf vielen Feldern noch schlechter ab als die derzeit besonders gebeutelten Manager. Renate Köcher15 berichtet: Beiden wird „in hohem Maße unterstellt, dass ihnen das Verständnis für die Sorgen der Bevölkerung abgeht und ihre Handlungen von Egoismus und teilweise auch von Gier angetrieben werden. Harte Arbeit, Mut, Kompetenz und Selbstlosigkeit assoziiert die Bevölkerung mit der politischen Klasse noch weniger als mit den wirtschaftlichen Führungsspitzen . . . 58 Prozent sind überzeugt, dass die fachliche Kompetenz von Führungskräften aus der Wirtschaft höher ist als die politischer Führungskräfte; 47 Prozent trauen eher der Wirtschaft zu, auf Herausforderungen richtig zu reagieren, 12 Prozent sehen hier eine besondere Stärke der Politik. Bei der Frage, wo heute mehr Integrität zu finden ist, mag die Mehrheit weder Politik noch Wirtschaft nennen; die 40 Prozent der Bevölkerung, die hier Unterschiede zwischen Wirtschaft und Politik konstatieren, ordnen mit großer Mehrheit Integrität eher der Wirtschaft zu. Lediglich die Wahrnehmung der Interessen der Bevölkerung wird eher der Politik zugeschrieben, allerdings mit einem für die Politik eher enttäuschenden Votum: 14 Prozent der Bevölkerung trauen am ehesten der Wirtschaft zu, die Interessen der Bevölkerung (mit) wahrzunehmen, 32 Prozent der Politik. Wirtschaft wie Politik wird heute von der Mehrheit unterstellt, dass sie die Interessen und das Wohl der Bürger nur peripher interessieren. In Bezug auf die Wirtschaft sind davon 74 Prozent, in Bezug auf die Politik 57 Prozent überzeugt. Dies trifft die Politik zwangsläufig stärker als die Wirtschaft.“
14 Putnam, in: Weidenfeld, Demokratie am Wendepunkt, 1996, S. 56 ff.; Sendler, NJW 1989, 1763 f. Ausführlich Schmitt Glaeser, ZRP 2000, 95 ff. m. z. N. 15 Köcher, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 23. April 2008.
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Es mag hier dahinstehen, ob das öffentlich gezeichnete und von den Menschen angenommene Bild des Politikers der Wirklichkeit entspricht oder eher ein Zerrbild ist. Entscheidend erscheint zunächst nur, dass – von Ausnahmen abgesehen – Politiker tatsächlich äußerst wenig Anerkennung genießen und die Menschen sich mit ihnen kaum identifizieren können. Sie vermissen bei den Politikern offenbar jenes „gewisse Maß an Tugend und Ehre“, das nach den Federalist Papers16 „eine vernünftige Grundlage für Vertrauen bildet“. Gewiss handelt es sich hierbei um Gefühlslagen, vielleicht nur um Irrationalitäten, die rechtsnormativ – so könnte man meinen – nicht fassbar sind. Im Blick auf die Parlamentarier scheint sich diese Vermutung zu bestätigen. Weder dem Art. 38 GG noch anderen Bestimmungen können Hinweise darauf entnommen werden, dass der Abgeordnete als „Vertreter des ganzen Volkes“ Ansehen, Glaubwürdigkeit und Anerkennung genießen müsste. Und doch liegt es auf der Hand, dass die auch noch so strikte Einhaltung des Art. 38 GG allein Repräsentation nicht leisten und politische Einheit nicht hervorbringen kann, wenn die Wähler den Abgeordneten ihre Anerkennung versagen, sie nicht als ihre Repräsentanten honorieren, sich also gleichsam innerlich von ihnen distanzieren, weil sie etwas nicht vermitteln können, was die Beziehung zwischen Repräsentanten und Repräsentierten inhaltlich notwendig ausmacht: Glaubwürdigkeit und Vertrauen. Auf diese spezifische Art der Verbindung zwischen Wählern und Abgeordneten stellt auch Ulrich Scheuner17 ab: Lockert sie sich oder entfällt sie ganz, „so entfällt ein entscheidendes Moment der Repräsentation: die nicht nur rechtlich, sondern auch politisch gegebene Verbindlichkeit ihrer Aktion für das vertretene Ganze“. Das Ansehen der Politiker wird damit zu einem wesentlichen Problem der Repräsentation und mit ihr der repräsentativen Demokratie. So wenig sich Glaubwürdigkeit und Vertrauen rechtlich regulieren oder gar erzwingen lassen, so groß ist ihre verfassungspolitische Bedeutung. Wir handeln hier nicht von bloß formaler Repräsentation. Sie ist rein technischer Natur, ein Modus der Zurechnung und Legitimierung, der über die periodisch wiederkehrenden Wahlen (Art. 38 Abs. 1 S. 1, Art. 39 GG) und das freie Mandat der gewählten Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) diesen die Macht verleiht, durch ihr Handeln das Volk zu verpflichten.18 Es geht um die inhaltliche, die wirkliche, die „demokratische“ Repräsentation, die sich rechtlicher Anordnung im Wesentlichen entzieht. Sie ist ein (sozial-)wissenschaftlicher Erkenntnisbegriff, der lediglich insoweit von Art. 38 GG und anderen Normen mitgestaltet wird, als diese Rechtsnormen effektive Wirkung im sozialen und politischen Leben entfalten.19 Auch im Staat des offenen Pluralismus geht es dabei um die Herstellung politischer Einheit.20 Um diese zentrale Aufgabe zu bewältigen, hat der Staat „unter der James Madison, Brief Nr. 76, S. 449. Scheuner, Festschrift H. Huber, 1961, S. 242; vgl. etwa auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, § 22 II 5a (S. 959 ff.). 18 Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 34 Rn. 28. 19 Draht, in: Rausch, Zur Theorie und Geschichte der Repräsentation und der Repräsentativverfassung, 1968, S. 275 ff. 16 17
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Fülle der verschiedenen, oft einander entgegengesetzten Interessen und Tendenzen die maßgeblichen Entscheidungen zu fällen und dadurch den pluralistischen, also keineswegs allgemeinen Geist, der als solcher einheitlich gar nicht repräsentiert werden kann, weil er keine Einheit ist, mittels der staatlichen Entscheidungen der Repräsentanten erst zu einer Einheit zu erheben“.21 Bei der inhaltlichen Repräsentation geht es also nicht um die eher statische Darstellung einer Einheit, sondern es geht darum, Einheit hervorzubringen und immer wieder neue Gemeinsamkeiten zu schaffen, die von den Bürgern als verbindlich angesehen werden.22 Wenn diese Gemeinsamkeiten, für die Rudolf Smend23 den Ausdruck (personale, funktionale, sachliche) Integration wählt, bewusst gemacht werden, vermögen die Entscheidungen der Repräsentanten, die auf der Grundlage dieser Gemeinsamkeiten ergehen, nicht nur (äußerlich) rechtlich zu verpflichten, sondern auch innere Folgebereitschaft zu bewirken. Der offene Prozess der Repräsentation gibt den Rahmen ab für eine Repräsentation des Volkes in seinen Übereinstimmungen und Spannungen, in seinen gemeinsamen Anschauungen und Werten, in seinen Interessengegensätzen und Konflikten, und seine Aufgabe ist es, zu übergreifenden Gemeinsamkeiten zu führen, einen Grundkonsens herzustellen und zu erhalten; denn ohne einen solchen Konsens als nicht in Frage gestellte Wertegemeinschaft24 ist Integration nicht möglich, und inhaltliche Repräsentation läuft ins Leere. Mit der Verfassungserwartung, glaubwürdig zu sein und Vertrauen zu wecken, ist dem Abgeordneten eine große Verantwortung auferlegt. Die Enttäuschung der Erwartung führt langfristig zu einer „grundsätzlichen Systemgefährdung des Parlamentarismus“25 und damit schließlich zu einem zentralen verfassungsrechtlichen Problem. Das Ansehen der gewählten Repräsentanten und das Vertrauen zu ihnen ist Lebensgrundlage des demokratischen Staates.26 In schlichter Selbstverständlichkeit formuliert Robert Musil27: „In der Liebe wie im Geschäft, in der Wissenschaft wie im Weitsprung muss man glauben, ehe man gewinnen und erreichen kann, und wie sollte das nicht vom Leben im Ganzen gelten?! Seine Ordnung mag noch so begründet sein, ein Stück freiwilligen Glaubens an diese 20 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 6 ff. 21 Draht (Fn. 19), S. 277 m. Hinweis auf Heller, Die Souveränität, 1927. 22 Stern (Fn. 17), S. 962. 23 Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 148 f., 160 ff. Jüngst dazu auch Häberle, Nationalflaggen. Bürgerdemokratische Identitätselemente und internationale Erkennungssymbole, 2008. 24 Smend (Fn. 23), S. 153; Böckenförde (Fn. 18), Rn. 31 ff. 25 Th. Oppermann, VVDStRL 33 (1975), 39; Böckenförde (Fn. 18), Rn. 52; Bundespräsident Roman Herzog, Bulletin 1997, 742: Verlust der eigenen Fundamente. 26 Zum mangelnden (System-)Vertrauen und den Folgen vgl. etwa Oswald, in: Hof / Kummer / Weingart, Recht und Verhalten. Verhaltensgrundlagen des Rechts – zum Beispiel Vertrauen, 1994, S. 123 f. 27 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 1994, S. 528.
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Ordnung ist immer darunter, . . . und ist dieser Glauben verbraucht, für den es keine Rechenschaft und Geltung gibt, so folgt der Zusammenbruch; es stürzen Zeitalter und Reiche nicht anders zusammen wie Geschäfte, wenn ihnen der Kredit verloren geht“. Die Bedeutung personellen Vertrauens im Rahmen des Systemvertrauens wird erkennbar im offenkundigen Versagensfall, also bei weit verbreitetem Misstrauen in „die Politik“. Es zeigt sich dann auch in aller Deutlichkeit, dass mangelndes Systemvertrauen keineswegs anonym ist, sondern personelle Bezüge aufweist, Namen kennt. Das müssen nicht immer die gleichen Namen sein. Welche Politiker jeweils in den Misstrauensstrom geraten, hängt auch von den Medien ab, wen sie gerade kritisieren und traktieren (wollen). Aber es sind Politiker, also Personen, an denen sachliche oder unsachliche Kritik geübt, berechtigtes oder nicht berechtigtes Misstrauen festgemacht wird. Dementsprechend bezieht sich auch die Enttäuschung der Bürger zunächst auf Politiker und auf den (angeblichen) Bruch ihres Versprechens, ihre Amtspflichten gewissenhaft zu erfüllen. Das Misstrauen gegenüber dem ganzen System kommt regelmäßig erst später, gleichsam in einer zweiten Stufe, wenn sich die Unzuverlässigkeit der Politiker immer wieder bestätigt findet und die Hoffnung auf hinreichende politische Pflichterfüllung insgesamt enttäuscht wird.
V. Bei der Beurteilung des Politikerverhaltens ist allerdings in Rechnung zu stellen, dass der Beruf des Politikers alles andere als einfach ist. Das hat zunächst einmal – worauf Hans Maier28 hinweist – „historisch-psychologische“ Gründe: Im modernen Staat muss der Politiker häufig Entscheidungen treffen und vermitteln, die sich aus Herkömmlichem und Gewohntem kaum mehr ableiten und verstehen lassen, die in ihrer oft sprunghaften Dynamik den Rahmen des „Erlebbar-Unmittelbaren“ überschreiten, zu Entfremdungen führen und Unsicherheit verbreiten. Mit dieser Unsicherheit bleibt der Einzelne weitgehend allein. Die Ermöglichung und Förderung des Individualismus durch den modernen Staat, die Entmachtung und Entlegitimierung der Korporationen und Zwischengewalten, haben zwar den Weg zu den Menschenrechten frei gemacht,29 zugleich aber auch die stabilisierende und absichernde Wirkung dieser (ständischen) Zwischengewalten beseitigt, das Individuum auf sich selbst verwiesen, „Auffangnetze“ eingezogen. Begleitet wird diese Entwicklung von einer gewaltigen Informationsflut, die eine unmittelbare Verständigung zwischen Repräsentanten und Repräsentierten so gut wie nicht mehr zulässt. Im Wesentlichen ist das Sache der Medien. Sie sind unverzichtbar, weil sie Komplexität reduzieren und öffentliche Meinung thematisieren, zwei Leistungen, ohne die ein sinnvoller Disput kaum realisierbar wäre.30 Überdies ermöglichen sie 28 Hans Maier, Verteidigung der Politik. Recht – Moral – Verantwortung, 1990, S. 35 ff.; vgl. etwa auch Böckenförde (Fn. 18), Rn. 36 ff. m. w. N. 29 Isensee, in: ders. / Kirchhof, HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 15 Rn. 72 ff.
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die Erweiterung der natürlichen menschlichen Fähigkeiten zur Wahrnehmung, Übertragung und Speicherung von Informationen und Wissen und sind damit ein wichtiger Bestandteil kultureller Entwicklung. Die ihnen aus diesen Funktionen erwachsende Machtposition ist jedoch für das Verhältnis zwischen Bürger und Abgeordneten alles andere als vorteilhaft. Denn es ist allein der Journalist, der darüber bestimmt, welche Ereignisse der Bekanntgabe wert sind oder ohne Schaden für die öffentliche Meinung vernachlässigt werden können;31 er ist der „gatekeeper“ (Elisabeth Nölle-Neumann) vor dem Feld der öffentlichen Aufmerksamkeit, die regelmäßig nur gewinnen kann, wer in den Medien ist. So gestalten sie den politischen Prozess nachhaltig mit, sind aber jeglicher demokratischen Kontrolle enthoben. Eine solche Stellung würde Moral und Ethos erfordern; vor allem müssten die Journalisten die ihnen von der Verfassung aufgegebene dienende Rolle annehmen und „ehrliche Makler“ der Informationsvermittlung sein. Das sind sie aber in vielen Fällen nicht, gerade nicht in politischen Angelegenheiten.32 Hinzu treten die Bedingungen der Nachrichtenlogistik, der Medienproduktion, aber z. B. auch dramaturgische Anforderungen der Berichterstattung. Ist ein Ereignis zu komplex, um sich einfach erzählen oder bebildern zu lassen, bleibt es im Medienfilter hängen. Nicht weniger bedeutsam sind ökonomische Gesichtspunkte, also der „Zwang zu Quote“ mit dem Drang zu unterhaltsamer Aktualität und dramatischer Augenblicksorientierung,33 mit Wirklichkeitsverzerrung und Realitätsverlust.34 Strukturierend ist auch die immer größer werdende Diskrepanz zwischen dem ständig wachsenden Informationsaufkommen und der – jedenfalls im Blick auf die Massenkommunikation – begrenzten Verarbeitungskapazität nicht nur der Medien, sondern auch der Mediennutzer. Das Selektierte wird damit notgedrungen immer selektiver und die Auswahl immer willkürlicher. Um Gehör zu finden und Öffentlichkeit zu gewinnen, passen sich die Politiker diesen medialen Gegebenheiten an, was oft zu einer reinen Schlagwortpolitik führt, die gerade das nicht leistet, was angesichts der immer komplizierter und komplexer werdenden politischen Entscheidungsvorgänge unabdingbar wäre, nämlich eine wohl überlegte eigenständige Politik der Repräsentanten, die in einer differenziert angelegten, sachbezogenen öffentlichen Diskussion gewonnen wird und darauf achtet, dass wenigstens die Ergebnisse einigermaßen allgemein verständlich sind. Was heute vor allem in den Organen der Massenkommunikation auf die Bürger zukommt, ist in vielen Fällen ein desorientierendes Informationskauderwelsch, das die wahren Gegebenheiten eher verdunkelt als aufdeckt und dabei den Adressaten nicht selten auch noch vorspiegelt, das Geschehen zu verstehen und darauf ihre eigenen Meinungen Luhmann, Politische Vierteljahresschrift 11 (1970), 2 ff. BVerfGE 12, 205 (260) und ständig. 32 Vgl. nur Hans Wagner, Medien –Tabus und Kommunikationsverbote. Die manipulierte Wirklichkeit, 1991; Ulfkotte, So lügen Journalisten. Der Kampf um Quoten und Auflagen, 2001. 33 Oberreuther, Stimmungsdemokratie. Strömungen im politischen Bewusstsein, 1987, S. 77 ff. 30 31
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begründen zu können. Diese auf irrigen Voraussetzungen gestützten Meinungen gestalten sodann die Willensbildung des Volkes, beeinflussen die Staatswillensbildung und führen fast zwangsläufig zu falschen Entscheidungen, die letzten Endes den Repräsentanten angelastet werden. So wächst die Skepsis gegenüber Politikern, die diese Entscheidungen treffen und vermitteln sollen. Symptomatisch für die Gefühlslage einer allgemeinen Verunsicherung und der Unübersichtlichkeit der Verhältnisse ist der populäre und irrationale Trend zum Plebiszitären, was freilich keine Alternative wäre.35 Repräsentation begegnet Missfallen, nur allzu oft auch entschiedenem Misstrauen. Das ist eine denkbar schlechte Ausgangslage für den Politiker, der repräsentieren soll. Er übernimmt mit dem Amt – jedenfalls zu einem guten Teil – eine Hypothek, die er nicht aufgenommen hat, sehr wohl aber abtragen muss. Diese mit der Ablehnung der Repräsentation verbundene Grundskepsis gegenüber den Repräsentanten hindert nicht, an der überkommenen Vorstellung von dem Politiker als „idealer Persönlichkeit“ mit mehr oder weniger verklärter Vorbildfunktion festzuhalten.36 An der Spitze der Erwartungen der Bevölkerung stehen nach den Untersuchungen des Allensbacher Instituts für Demoskopie37 „Ehrlichkeit und Vertrauenswürdigkeit, gefolgt von Kompetenz, Zukunftsorientierung, der überzeugenden Wahrnehmung der Vorbildfunktion und Verständnis für die ,kleinen Leute‘“. Von der vergleichenden Verhaltensforschung erfahren wir, dass die Suche nach dem Vorbild stammesgeschichtlich in der Bereitschaft zu Unterordnung angelegt ist.38 Das erklärt ihre feste Verankerung im Gemeinschaftsleben. Bei Politikern wird dieses Bild allerdings regelmäßig nur in Negativsituationen aktiviert, also wenn sie sich Verfehlungen zu Schulden kommen lassen. Die sodann stets ausbrechende Empörung zeigt zum einen, wie groß auch in der heutigen Zeit die Sehnsucht gerade nach politischen Vorbildern ist, sie lässt zum andren aber auch den Eindruck entstehen, dass man als Politiker Vorbildfunktion zwar verfehlen, kaum aber erwerben kann. VI. Ganz falsch ist dieser Eindruck nicht, aber er ist auch nicht ganz richtig, weil es immer wieder Politiker gibt, denen es gelingt, in einem durchaus positiven Sinn zumindest eine Art Vorbildfunktion auszuüben. Und es ist auch nicht so, dass Postman, Wir amüsieren uns zu Tode, 1985. Böckenförde (Fn. 18), Rn. 23 ff., 53 sowie Krause, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 35; Schmitt Glaeser, Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes, 2008, S. 88 f., 110 f. 36 Realistisch ist diese Einstellung nicht (mehr): Schmitt Glaeser, ZRP 2000, 99. 37 Köcher (Fn. 15). 38 Eibl-Eibesfeld, Grundriss der vergleichenden Verhaltensforschung, 7. Aufl. 1987, S. 762 ff. 34 35
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Abgeordnete, Regierungsmitglieder und andere politische Amtsträger den soeben geschilderten misslichen Umständen, die ihr Verhältnis zu den Bürgern nachhaltig beeinträchtigen können, völlig ausgeliefert wären. Ganz wichtig für ihr Ansehen, gerade auch für ihre Glaubwürdigkeit und das Maß an Vertrauen, das sie erwarten können, ist die Art und Weise ihrer Pflichterfüllung, und das haben sie im Wesentlichen selbst in der Hand. Dabei geht es um Amtspflichten, denn sie alle sind Inhaber eines öffentlichen und speziell eines politischen Amtes. Und diese Amtspflichten sind exakt darauf gerichtet, was die Glaubwürdigkeit der staatlichen Organe und damit des Staates ausmacht. Im Amtseid von Bundespräsident und Bundeskanzler (Art. 56, 64 Abs. 2 GG) finden sie ihren Ausdruck. Danach hat der Inhaber eines öffentlichen Amtes seine Kraft dem Wohl des deutschen Volkes zu widmen, also nicht den eigenen Nutzen zu verfolgen, nicht egoistisch, sondern altruistisch, als Treuhänder des Volkes zu handeln, dem gegenüber er sich auch zu verantworten hat;39 er muss den Nutzen des deutschen Volkes mehren und Schaden von ihm wenden, ist damit dem Gemeinwohl verpflichtet; er hat das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes zu wahren und zu verteidigen, ist also rechtsgebunden; und schließlich muss er seine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben, d. h. sein Amt unparteiisch und sachlich führen. Insgesamt – so Otto Depenheuer40 – „enthält der Text des Eides in nuce ein umfassendes Gemeinwohlprogramm, das den Bereich der begrenzten Kompetenzen des Amtsinhabers transzendiert und auf seine ethischen Voraussetzungen verweist“. Tatsächlich ist das Gemeinwohl als Leitidee und Kernaufgabe des öffentlichen Amtes seit jeher ein Thema der politischen Ethik und ein offener Begriff,41 leitet als Idee zwar Verfassung und Gesetz, ist aber nicht vollständig normierbar. Die Art. 56 und 64 Abs. 2 GG sprechen nicht allein die gewissenhafte Funktionserfüllung an, von der allgemeinen Gesetzestreue über die regelmäßige Teilnahme an Parlaments- und Ausschusssitzungen bis zur Fraktionsmitarbeit und der Pflege des Wahlkreises; angesprochen ist vor allem das Ethos des Amtes, eine über die gesetzlichen Bindungen und Sachzwänge hinaus gehende „innere“ Einstellung, die sich grundsätzlich rechtlich nicht erzwingen lässt, ohne die aber Repräsentation auf eine formale Rechtstechnik schrumpft und übergreifende Gemeinsamkeiten erodieren.42 Eine solche Repräsentation allein wäre nichts als eine Kopie des Obrigkeitsstaates längst vergangener Zeiten, die Idee der Volksrepräsentation geriete zur „Verhüllungsideologie“.43 Inhaltliche (demokratische) Repräsentation kann nur gelingen, wenn der Inhaber des Amtes seine ganze Kraft der Förderung des Gemeinwohls als 39 Graf Kielmansegg, in: Matz, Aktuelle Herausforderungen der repräsentativen Demokratie, 1985, S. 21 ff.; Isensee, in: Matz, Demokratie – verfassungsrechtlich gezähmte Utopie, 1985, S. 45 ff. 40 Depenheuer, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 36 Rn. 6. 41 Isensee (Fn. 6), Rn. 1 ff., 9, 59. 42 Grundlegend Hennis, Festgabe Smend, 1962, S. 51 ff. 43 Draht (Fn. 19), S. 293 ff. Zur bloß formalen Repräsentation vgl. auch Böckenförde (Fn. 18), Rn. 27, 35, 46 f.
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„notwendiges Ziel jeder staatlichen Aktivität“ widmet44 und wenn er entsprechend seiner Position als Träger eines anvertrauten Amtes alles daran setzt, dieses Vertrauen zu rechtfertigen. Das ist die Verfassungserwartung an den Staat, den der Politiker repräsentiert; enttäuscht er sie, wird er Glaubwürdigkeit und Vertrauen verlieren, und gibt es zu viele von ihnen, werden die Menschen das gesamte System in Frage stellen. Keine Amtspflichten im Sinne der Art. 56 und 64 Abs. 2 GG haben Repräsentanten gesellschaftlicher Einrichtungen. Sie sind also auch nicht in entsprechender Weise dem Gemeinwohl verpflichtet. Vielmehr handelt es sich hierbei um Organisationen mit partikularen Interessen; „Ämter“ in diesem Rahmen sind grundrechtsgeprägt45. Besonders offenkundig wird dies bei Funktionären von Interessenverbänden. Nicht so ohne weiteres auf der Hand liegt es dagegen bei den Parteifunktionären; denn politische Parteien unterscheiden sich nicht unwesentlich von anderen Grundrechtsverbänden. Sie sind nicht lediglich „Vereinigungen von Bürgern“ (§ 2 PartG), sondern haben wegen ihrer verfassungsrechtlichen Aufgaben einen „singulären öffentlichen Status“, der „seine Wurzeln nicht im Bereich organisierter Staatlichkeit, sondern in jenem Umgangsbereich von ,Nicht-Staatlichem‘ und ,Staatlichem‘“ findet, „der das Feld politischer Einheitsbildung ist“.46 Parteien können ihren Einfluss daher sowohl aus der Gesellschaft als auch vom Staat her ausüben, so dass es dem ungeschulten Auge kaum möglich ist, zwischen politischer Partei und Staat, zwischen Parteifunktionär und Amtsträger zu unterscheiden, zumal die Parteien sich immer ungenierter des Staates bemächtigen, indem sie nahezu alle staatlichen Organe mit ihren Parteigängern durchdringen.47 Diese „Vermengung“ in den Augen der Bevölkerung und häufig auch der Medien macht ein Parteiamt zwar nicht zu einem öffentlichen Amt, führt aber in der Regel dazu, dass das Verhalten auch von bloßen Parteifunktionären dem Staat ebenso zugerechnet wird wie das von Amtsträgern. In besonderem Maße gilt dies bei Wahlkämpfen, in denen sich die Aufmerksamkeit primär auf das angestrebte öffentliche Amt und nicht so sehr auf die Position richtet, die der Wahlkämpfer innehat. In den Blickpunkt kommen damit die mit jeder Bewerbung um ein Wahlamt regelmäßig verbundenen Wahlversprechen, die nicht nur im Zentrum des Wettbewerbs um Wählerstimmen stehen, sondern durchweg auch eine Fundgrube für enttäuschte Erwartungen mit der Folge einschneidender Glaubwürdigkeitsverluste sind.
BVerfGE 108, 186 (228); vgl. etwa auch BVerfGE 5, 85 (198 f.); 62, 1 (43). Depenheuer (Fn. 40), Rn. 12. 46 Hesse (Fn. 20), Rn. 177; vgl. auch Löwer, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 70 Rn. 20. 47 Schmitt Glaeser (Fn. 35), S. 17 f. 44 45
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VII. Zur Illustration und Abrundung der theoretischen Überlegungen soll aus diesem Bereich des Wahlkampfes ein aktuelles und besonders eindrückliches Beispiel geschildert werden. Es geht um einen Fall des gebrochenen Wortes: Schauplatz ist der hessische Landtagswahlkampf im Frühjahr 2008. Erklärtes Ziel der SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti war es, den amtierenden Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) abzulösen und selbst Ministerpräsidentin zu werden. Weil nicht zu erwarten war, dass die SPD die absolute Mehrheit der Stimmen erhalten würde, sie zur Regierungsbildung daher eine Koalition mit einer oder mehreren Parteien würde eingehen müssen, war die Koalitionsfrage ein wichtiges Thema im Wahlkampf. Vornehmlich ging es darum, ob Frau Ypsilanti und die SPD, wenn anders eine Regierungsmehrheit nicht zustande zu bringen ist, auch eine Zusammenarbeit mit der Partei „Die Linke“, deren Einzug in den Landtag so gut wie sicher war, in Betracht zögen. Eine solche Zusammenarbeit wurde von Frau Ypsilanti und ebenso von den anderen SPD-Wahlkämpfern wiederholt und sehr dezidiert, an manchen Wahlkampfständen sogar mit Handschlag, ausgeschlossen.48 Die Formulierungen fielen unterschiedlich, stets aber eindeutig aus. So wird Frau Ypsilanti etwa mit den Worten zitiert: „Bei meinem Nein zu Rot-Rot bleibt es auch nach dem Wahlabend. Garantiert.“49 Tatsächlich blieb es nicht dabei. Als sich nach der Wahl zeigte, dass nur mit den Stimmen der Linkspartei die nötige Mehrheit für die Wahl zur Ministerpräsidentin zu erreichen ist, war Frau Ypsilanti schnell bereit, ihr Wahlversprechen zu brechen. Dass es dann bei einem „ersten Anlauf“ doch nicht zu ihrer Wahl zur Ministerpräsidentin mit Hilfe der Linkspartei kam, war allein auf die Standfestigkeit einer einzigen Landtagsabgeordneten der SPD, Frau Dagmar Metzger, zurückzuführen, die ihr Wahlversprechen nicht brechen wollte, weil sie ihre Glaubwürdigkeit gegenüber den Wählern höher einschätzte als die „Verantwortungsethik“ gegenüber der Partei.50 Vor einem erneuten Versuch Ende 2008 weigerten sich drei weitere SPDAbgeordnete, den Wortbruch mitzumachen, so dass das Unternehmen endgültig scheiterte.51 Rein rechtlich ist gegen das Verhalten von Frau Ypsilanti und der SPD nichts einzuwenden; es ist legal. Der Bürger hat keinen Rechtsanspruch auf die Einhaltung von Wahlversprechen. Das gilt auch für Koalitionsaussagen, und dies selbst dann, wenn der Bruch des Versprechens, mit einer Partei keine Koalition zu schließen oder zusammen zu arbeiten, zu einer den Wählerwillen verfälschenden RegieFrankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) vom 16. März 2008, S. 14. FAS vom 9. März 2008, S. 66. 50 FAZ vom 8. März 2008. 51 Der Schaden für die Politik war freilich auf diese Weise nicht mehr zu beheben, zumal die vier Abgeordneten ihren Mut mit ihrer politischen Existenz zu bezahlen hatten. Für die Neuwahl im Januar 2009 wurden sie von der SPD nicht mehr nominiert. 48 49
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rungsbildung führt.52 Trotzdem wurde das Verhalten von vielen heftig kritisiert. Man sah darin einen krassen Wortbruch gegenüber den Wählern und eine ernsthafte Gefährdung des freiheitlichen Staates.53 Joachim Knape54 etwa meinte, bei den Wählern habe der Wortbruch „die Vorstellung von Vertrauen und Treue verletzt“, und er fährt fort: „Wer dieses sensible Gefüge leichtfertig aus dem Lot bringt, gefährdet letztlich die Demokratie“. Nun lässt sich allerdings nicht leugnen, dass die politische Geschichte der Bundesrepublik Deutschland mit gebrochenen Wahlkampfversprechen gepflastert ist. Um dies zu erkennen, muss man nicht Zyniker sein.55 Fest verlassen konnte man sich eigentlich immer nur darauf, dass jede Partei alles tun wird, um an die Macht zu kommen oder dort zu bleiben. Sachthemen dagegen hatten noch nie einen hohen Glaubwürdigkeitswert. Diese Feststellung darf aber nicht zu falschen Schlüssen führen, insbesondere nicht dazu, dass es mit dem Gebot der Glaubwürdigkeit als einer unabdingbaren Basis politischen und staatsmännischen Handelns nicht so weit her sein könne. Denn Wahlversprechen ist nicht gleich Wahlversprechen. Nicht alles lässt sich in einen Topf werfen; es ist zu differenzieren. Entscheidend kommt es darauf an, wie das Versprechen formuliert ist und was versprochen wird. Es kann ein unbedingtes Versprechen, ein Versprechen also ohne Wenn und Aber sein oder ein bloßes Ziel, um dessen Erreichen man sich mit allen Kräften bemühen wolle, oder lediglich eine Zukunftsvision, die als vorläufig nicht oder kaum vollziehbar zu erkennen ist. Bei der Vision werden häufig die Bürger als Mitgestaltende aufgerufen; von einem Wortbruch wird man hier allenfalls dann sprechen können, wenn die gleichen Politiker nach der Wahl dezidiert darauf hinwirken, die Erfüllung der Vision unmöglich zu machen. Im zweiten Fall dürften die Erwartungen von vorneherein nicht allzu hoch gesteckt sein; jedermann weiß, dass nach der Wahl, nicht zuletzt aus der Art der Stimmenverteilung, Situationen eintreten können, die das Einhalten des Versprechens vorläufig oder bis auf weiteres unmöglich machen. Das Berufen auf die veränderte Lage muss daher keineswegs immer Ausrede oder gar Heuchelei sein. Völlig anders ist es im ersten Fall. Es wiegt schwer, wenn ein derartiges Versprechen nicht gehalten wird, obwohl es ohne Wenn und Aber gegeben wurde und sich seine Einhaltung in keiner Weise dem Einflussbereich der versprechenden Partei entzieht.56 Ebenso der Differenzierung bedarf der Inhalt des Wahlversprechens. In der Regel werden von den Parteien eine Vielzahl von Vorstellungen entwickelt, die als Kunig, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 40 Rn. 84. Dazu nur FAZ vom 6. März 2008, S. 33; FAS vom 9. März 2008, S. 14 und vom 16. März 2008, S. 14. 54 FAS vom 9. März 2008, S. 66. 55 Vgl. Nonnenmacher, in: FAS vom 9. März 2008, S. 14. 56 Eine solche Lüge kann auch die Meinungsfreiheit nicht decken. Vgl. BVerfGE 90, 241 (258). 52 53
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Wahlversprechen gewertet werden können, deren vollständige Einhaltung aber von niemandem Punkt für Punkt erwartet wird und auch nicht erwartet werden kann. Wenn z. B. unter vielen Vorstellungen die Zusage, den Denkmalschutz stärker zu fördern oder die Staatsaufgaben zu reduzieren, nach der Wahl nicht eingehalten wird, führt dies kaum dazu, dass die Partei in ihrer Grundausrichtung nicht mehr wieder zu erkennen ist. Darauf aber kommt es vor allem an. Mehr als die Einhaltung der großen Linien kann der Wähler nicht erwarten. Anders ist die Situation bei Koalitionsaussagen, jedenfalls dann, wenn die Nichteinhaltung der Zusage zu einer Regierungsbildung führt, die den Willen der Wähler der Partei, die das Versprechen abgegeben hat, offenkundig verfälscht. In einem solchen Fall liegt ein grober Vertrauensbruch vor. In unserem Beispielsfall treffen jeweils die Varianten zu, die am schwersten wiegen: Das Versprechen war unbedingt und in nicht wenigen Fällen wurde es sogar mit Handschlag abgesichert, was einem Ehrenwort gleichkommt. Zutreffend wird gerade diese Unbedingtheit allenthalben besonders hervorgehoben, so etwa von Volker Zastrow57: Frau Ypsilanti (und die anderen SPD-Wahlkämpfer) hätten sich selbst gebunden und „gerade damit um Stimmen geworben. Dieses Wahlversprechen war ausdrücklich unbedingt, nicht konditioniert, nicht von Dritten, den Wählern, abhängig.“ Auch die andere schwerwiegende inhaltliche Variante ist voll erfüllt: Das Abweichen von der Zusage, nicht mit der Linkspartei zu paktieren, hätte zu einer Regierung geführt, die von vielen SPD-Wählern nicht gewollt war. Es ging also um ein „echtes“, ein qualifiziertes Wahlversprechen mit allen negativen Folgen für die Glaub- und Vertrauenswürdigkeit bei Nichteinhaltung. Die Wähler müssten sich betrogen fühlen.58 Eine auf diese Weise gebildete Regierung mag dann „legal“ zustande gekommen sein, Legitimität könnte sie nicht für sich beanspruchen, denn das Ethos des Politischen ist mit derartigen Machenschaften gründlich verfehlt. Zusätzliches Gewicht erhält der Wortbruch dadurch, dass mit ihm ganz bewusst und aus rein machtpolitischen Gründen ein Schwur gebrochen wird, der angesichts der menschenverachtenden Diktaturen des 20. Jahrhunderts für jeden Demokraten seit Ende des Zweiten Weltkrieges in der „alten“ Bundesrepublik ausnahmslos verbindlich gewesen war: Der Schwur nämlich, dass es auf deutschem Boden niemals mehr ein Herrschaftsregime geben darf, das Würde und Freiheit der Menschen mit Füßen tritt. In der Partei „Die Linke“ aber wirken offen linksextremistische Kräfte.59 Dies sind insbesondere die „Kommunistische Plattform“, die an den marxistisch-leninistischen Traditionen festhält, das „Marxistische Forum“ mit Facetten des Wortbruchs, in: FAS vom 16. März 2008, S. 14. Häberle, Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat, 1995, S. 91: „Es gibt Felder, auf denen sich die Lüge generell verbietet.“ Das gilt sicher gegenüber Gerichten und parlamentarischen Untersuchungsausschüssen; und es muss gegenüber dem Volk gelten; jedenfalls dürfen die Bürger nicht zum bloßen „Stimmvieh“ degradiert werden. 59 Verfassungsschutzbericht des Bundes 2007, S. 134 ff. 57 58
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der gleichen Zielsetzung sowie der „Geraer Dialog / Sozialistischer Dialog“, ebenfalls ein Sammelbecken von Linksextremisten. Nach dem Vorsitzenden der Linkspartei, Lothar Bisky, gehört es sogar zum Grundverständnis (!) der ganzen Partei, die „Systemfrage“ zu stellen.60 Diese Partei ist immer noch die alte kommunistische SED, sie hat sich nur einen anderen Namen gegeben. Man will ganz offen einen „anderen Staat“, genauer: den „anderen Staat“, also eine linke Diktatur, wie es die ehemalige DDR war. So müssen wir uns bereits 20 Jahre nach Beendigung des DDR-Unrechtsregimes durch die „friedliche Revolution“ darauf vorbereiten, von den immer noch sehr wirkungsvollen Kräften dieser Diktatur wieder regiert zu werden, nur weil Politiker in ihrer Gier nach Macht ohne Skrupel auch mit Extremisten paktieren (wollen).61 Wie sollen die Bürger zu solchen Politikern Vertrauen haben, die sich offensichtlich um den Bestand unseres freiheitlichen demokratischen Staates und das gemeine Wohl keinen Deut scheren, sondern allein ihren egoistischen Machtbedürfnissen folgen? Gründlicher lässt sich die Glaubwürdigkeit als existentieller Grunderwartung an den Staat und seine Organe nicht verfehlen.
Verfassungsschutzbericht des Bundes 2007, S. 135. Dass die SED / PDS als Vorgängerin der Linkspartei in den neuen Bundesländern schon seit längerem als Koalitionspartner der SPD Einfluss auf Landesregierungen besitzt, lässt die Gefahr auch für Gesamtdeutschland immer bedrohlicher werden. 60 61
Innerparteiliche Sanktionen gegen Mitglieder politischer Parteien Von Ordnungsmaßnahmen bis hin zum Parteiausschluss Von Rudolf Streinz
I. Einleitung Als „homo politicus“1 widmete Herbert Bethge eine Reihe von Publikationen dem Recht der politischen Parteien. Bereits 1966 griff er mit der Parteienfinanzierung in den Gemeinden2 eine Frage auf, die zu einer wechselhaften Rechtsprechung des BVerfG führte3 und bis heute umstritten ist.4 Mit dem Verfassungsstatus der politischen Parteien sollten sich die Kandidaten im Referendarexamen auseinandersetzen.5 Bei manchen Jurastudenten ist gerade heute der Hinweis angebracht, dass sie in der Prüfung zeigen sollen, dass sie das Recht mit Verständnis erfassen und anwenden können und über die hierzu erforderlichen Kenntnisse in den Prüfungsfächern mit ihren u. a. politischen Grundlagen verfügen.6 Als führender Medienrechtler befasste er sich mit der Wahlwerbung in Hörfunk und Fernsehen7 sowie dem Fernsehduell von Kanzlerkandidaten. 8 Schließlich seien die Artikel im Staatslexikon der Görres-Gesellschaft genannt.9 Daher lag es für mich nahe, ein Thema aus diesem Bereich zu wählen, das in jüngster Zeit – man denke 1 Als solcher muss man kein Berufspolitiker sein wie umgekehrt nicht jeder Berufspolitiker „Politik als Beruf “ hat und homo politicus ist. Vgl. dazu Seibel, Die Bohemisierung der Politik, Die Tagespost vom 8. August 2002. Ich erinnere mich gerne an manche Diskussion, u. a. an seine Kommentare zum (damals neuen) Begriff der „Ampelkoalition“. 2 Bethge, Der Städtetag 1966, 628 ff. 3 Vgl. BVerfGE 69, 92 (110 f.); 78, 350 (361); 85, 264 (328). 4 Vgl. Koch, in: Ipsen, ParteienG – Kommentar, 2008, Rn. 13 ff. 5 Bethge, Jura 1984, 157 ff. 6 Vgl. § 4 Abs. S. 1 der bayerischen Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen (JAPO). 7 Bethge, in: Becker, Wahlwerbung politischer Parteien im Rundfunk. Symposium zum 65. Geburtstag von Ernst W. Fuhr, 1990, S. 31 ff. 8 Bethge, ZUM 2003, 253 ff. 9 Bethge, in: Görres-Gesellschaft, Staatslexikon, 7. Aufl. 1985 / 1986, Spalte 9 ff. bzw. 660 ff.
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nur an die Fälle Dagmar Metzger, Wolfgang Clement und Charly Lehnert10 – wieder aktuell wurde: Innerparteiliche Sanktionen bis hin zum Parteiausschluss. Parteiordnungsverfahren und Parteiausschluss wurden bereits mehrfach monographisch behandelt.11 Dies geschah, der Jurisprudenz als praktischer Wissenschaft durchaus nicht unangemessen, häufig aus konkreten Anlässen, zum Teil durch Betroffene selbst.12 Drei grundlegende Arbeiten entstanden in den achtziger Jahren, als alle drei damals im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien mit dem Problem spektakulärer Parteiausschlüsse konfrontiert waren. So schloss die SPD den Bundestagsabgeordneten Karlheinz Hansen aus, der in grundlegender Opposition zur Verteidigungspolitik der SPD / FDP-Regierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt („NATO-Doppelbeschluss“) stand;13 die CSU den Friedensforscher Alfred Mechtersheimer, zum einen wegen Zusammenarbeit mit dem sog. „Krefelder Appell“, der als kommunistisch beeinflusst angesehen wurde, zum anderen wegen seiner Äußerung, es sei eine Veränderung der Parteienlandschaft erforderlich, da die bestehenden Parteien einschließlich der CSU unfähig seien, die Gegenwartsprobleme bewältigen zu können;14 die FDP leitete ein Parteiordnungsverfahren gegen fünf von sieben Mitgliedern der FDP-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus ein wegen der Auseinandersetzung, ob die im Wahlkampf propagierte Fortsetzung der Koalition mit der SPD weitergeführt oder eine Neuorientierung zur CDU 10 Die hessische SPD-Landtagsabgeordnete Dagmar Metzger kündigte an, bei der Wahl zum Ministerpräsidenten Frau Ypsilanti wegen deren Ankündigung, sich entgegen der Aussage vor der Landtagswahl, jegliche Zusammenarbeit mit der Partei „Die Linke“ abzulehnen, mit deren (erforderlichen) Stimmen wählen zu lassen, die Zustimmung zu verweigern. Daraufhin wurden Sanktionen gefordert, allerdings nicht ergriffen. Dagegen wurde der frühere Ministerpräsident und Bundesminister Wolfgang Clement wegen einer Äußerung vor den Landtagswahlen in Hessen zur Energiepolitik, die als Aufruf, Frau Ypsilanti und damit die SPD nicht zu wählen, verstanden werden konnte, durch die Landesschiedskommission Nordrhein-Westfalen aus der SPD ausgeschlossen. Dagegen legte Clement Rechtsmittel zur Bundesschiedskommission ein. Diese beließ es bei einer Rüge, verbunden mit der Aufforderung zu einer Erklärung, „in Zukunft seine Worte sorgfältig abzuwägen“. Da Clement dies „unwürdig“ fand, trat er aus der SPD aus. Die saarländische SPD schloss schließlich Charly Lehnert aus, weil dieser die Wahlkampfleitung für Oskar Lafontaine, den Spitzenkandidaten der Partei „Die Linke“, übernommen hatte. 11 Lengers, Rechtsprobleme bei Parteiausschlüssen, Diss. Bochum 1973; Strunk, Parteiausschlußverfahren wegen innerparteilicher Opposition, Diss. Köln 1974; Hasenritter, Parteiordnungsverfahren, 1981; Risse, Der Parteiausschluß: Voraussetzungen, Verfahren und gerichtliche Überprüfung des Ausschlusses von Mitgliedern aus politischen Parteien, 1985; Grawert, Parteiausschluß und innerparteiliche Demokratie, 1987; zuletzt Ortmann, Verfassungsrechtliche Probleme von Parteizugang und Parteiausschluß, 2001. Auswahlbibliographie zum Thema bei Klein, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Loseblatt (2001), Art. 21 Rn. 364 Fn. 239. 12 Vgl. Lengers (Fn. 11), S. 11 f. 13 Vgl. Karl-Heinrich Hasenritter, ZRP 1982, 95 f. 14 Vgl. Hasenritter, ZRP 1982, 94 f. Zu dieser Veränderung der Parteienlandschaft ist es ja dann auch gekommen. Ob dadurch die Bewältigung der Gegenwartsprobleme leichter geworden ist, sei hier dahingestellt.
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erfolgen sollte.15 Dies ist Ausdruck einer politisch bewegten Zeit mit erheblichen Gegensätzen weniger zwischen, sondern vor allem innerhalb der politischen Parteien. Gleiches gilt für die spektakulären Fälle der 70er Jahre, insbesondere für die Auseinandersetzung der SPD mit der sog. „neuen Linken“ und der sog. „außerparlamentarischen Opposition (APO)“ sowie extremen Flügeln der Jungsozialisten (Jusos), insbesondere dem dann ausgeschlossenen Juso-Bundesvorsitzenden Klaus Uwe Benneter, dem Vertreter der sog. Stamokap-Theorie.16 Und gleiches gilt auch für die aktuellen Fälle, die mit der Frage, wie sich die SPD gegenüber der sog. „Linkspartei“ verhalten soll, zusammenhängen. Zahlreiche Verfahren wurden wegen Verstößen gegen sog. Unvereinbarkeitsbeschlüsse eingeleitet, die die Zusammenarbeit oder allein schon das gemeinsame Auftreten mit konkurrierenden Gruppierungen, in der Regel am jeweiligen „linken“ bzw. „rechten“ Rand der Partei, untersagten.17 Mit der eigenen Jugendorganisation hatte nicht nur die SPD, sondern auch die FDP erhebliche Probleme, die sich aus dem Richtungswechsel 1982 / 83 von der sozial-liberalen (SPD / FDP-)Koalition unter den Bundeskanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt zur bürgerlich-liberalen (CDU / CSU / FDP-)Koalition unter Bundeskanzler Helmut Kohl erklärten und letztlich zur Abspaltung der Jungdemokraten („Judos“) und zur Gründung einer neuen politischen Jugendorganisation der FDP, den Jungen Liberalen („Julis“) führten.18 Weitere Parteiordnungsverfahren, die in der Regel mit dem Ausschluss bzw. dem zuvor erfolgenden Austritt aus der Partei endeten, betrafen die temporäre und partielle Unterstützung des politischen Gegners aus Protest gegen die Politik der eigenen Partei.19 Aus diesem Grund, aber auch aus grundsätzlichen Erwägungen haben Parteimitglieder die für Wahlkandidaturen erforderlichen Unterstützungslisten anderer Parteien oder Gruppierungen unterschrieben, worauf in der Regel mit dem Parteiausschluss reagiert wurde.20 Weniger oder gar nicht aus politischen, sondern aus persönlichen Gründen, nämlich weil sie innerparteilich bei der Kandidatenaufstellung unterlegen waren, sind bei Kommunalwahlen Parteimitglieder auf unabhängigen Listen oder als unabhängige Kandidaten gegen die eigene Partei und gegen deren Willen – davon zu unterscheiden sind sog. „U-Boot-Listen“, d. h. solche, die mit Wissen und Willen einer Partei als „Parallelliste“ kandidieren, um das Kandidatenangebot zu erweitern21 – angetreten, worauf die Parteien unterschiedlich häufig, aber keineswegs immer mit Parteiausschlüssen, zum Teil auch mit milderen Sanktionen Vgl. Grawert (Fn. 11), S. 1, 3 m. w. Nw. Vgl. Hasenritter (Fn. 11), S. 162 ff. Soweit damit die Rolle des Staates als Reparaturbetrieb für gescheiterte kapitalistische Unternehmen kritisiert wurde, liefern aktuelle Entwicklungen für diese Theorie durchaus praktische Argumente. 17 Vgl. Hasenritter (Fn. 11), S. 156 ff. m. w. Nw. 18 Vgl. Jürgen Dittberner, FDP – Partei der zweiten Wahl, 1987, S. 119 ff. 19 Vgl. Hasenritter (Fn. 11), S. 187 ff. m. w. Nw. 20 Vgl. Hasenritter (Fn. 11), S. 85 ff. 21 Vgl. zur Abgrenzung einer solchen „U-Boot- „oder“ Tarnliste“ von einer selbständigen Liste BayVerfGH BayVBl. 1993, 209 f. 15 16
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reagierten22 oder auf solche ganz verzichteten, wenn der „Abtrünnige“ bei der Wahl Erfolg hatte und sich danach wieder in der Partei integrierte.23 Im persönlichen Bereich liegende Gründe für Parteiausschlüsse sind unsolidarisches Verhalten, z. B. Verstöße gegen Wahlabsprachen zu Lasten innerparteilicher Konkurrenten bei sog. offenen Listen, z. B. bei Kommunalwahlen oder bei Landtagswahlen in Bayern,24 persönliches unehrenhaftes Verhalten bis hin zur Begehung von Straftaten25 oder in dieser Form nicht mehr tolerierbare Angriffe gegen Funktionäre der Partei oder „Parteifreunde“.26 Schließlich führten Äußerungen, die wegen ihres Inhalts als (grob) parteischädigend angesehen wurden, zum Parteiausschluss.27 Somit zeigt sich ein buntes Bild der Praxis von Ordnungsmaßnahmen bis hin zum Parteiausschluss, wobei sich spektakuläre Fälle in politisch brisanten Zeiten häufen.
Vgl. Hasenritter (Fn. 11), S. 92 f., 98. So im Fall des Landshuter Oberbürgermeisters Hans Rampf, der, nachdem er in der innerparteilichen Kandidatenaufstellung knapp unterlegen war, von einer Bürgerinitiative aufgestellt wurde und die Wahlen u. a. gegen den offiziellen CSU-Kandidaten gewann, aber stets in der Partei verblieb und mittlerweile dort auch wieder Funktionen bekleidet. Anders noch 1990 in Würzburg: Der in der innerparteilichen Aufstellungsversammlung unterlegene Jürgen Weber trat gegen die offizielle CSU-Kandidatin (natürlich ohne Genehmigung der Partei) an und wurde, obwohl er die Oberbürgermeisterwahl gewann, wegen parteischädigenden Verhaltens aus der CSU ausgeschlossen. Zur Bewertung als parteischädigendes Verhalten gemäß den Statuten der politischen Parteien s. u. II. 4. b.) aa) und III. 3. b). 24 Vgl. zum Parteiausschluss eines Wahlbewerbers aus der SPD wegen Verstoßes gegen eine von der Partei beschlossene und von ihm als verbindlich anerkannte Regelung zur Beschränkung der Wahlwerbung („Traumreisen“ als „unzulässige“ Werbeaktion) BGH NJW 1994, 1610. 25 Vgl. Hasenritter (Fn. 11), S. 115 f., 117 ff. So schloss die Berliner SPD 1996 Kurt Neumann wegen einer verschwiegenen strafrechtlichen Verurteilung wegen Betrugs und Untreue aus. 26 Vgl. Hasenritter (Fn. 11), S. 119 ff. 27 So kam der frühere Bundesminister Jürgen Möllemann 2003 durch den Austritt aus der FDP einem Parteiausschluss (u. a. wegen eines israelkritischen Flugblattes) zuvor. Der Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann wurde wegen antisemitischer Äußerungen in einer Rede („Tätervolk-Vergleich“) aus der CDU-Fraktion und der CDU ausgeschlossen (Bundesparteigericht der CDU, Beschluss vom 19.Oktober 2004, NVwZ 2005, 480 ff.). Das LG Berlin wies am 11. November 2005 die dagegen erhobene Klage, das KG Berlin am 27. Oktober 2006 die dagegen eingelegte Berufung zurück und ließ die Revision nicht zu, der BGH verwarf am 10. Dezember 2007 die Nichtzulassungsbeschwerde mangels hinreichenden Werts des Beschwerdegegenstandes, den der Kläger in seiner Klageschrift als Streitwert angegeben hatte (§ 26 Nr. 8 EGZPO). Vgl. zu diesen Fällen und zu den Besonderheiten des Fraktionsausschlusses im Verhältnis zum Parteiausschluss Lenz, NVwZ 2005, 364 ff.; Ipsen, NVwZ 2005, 361 ff.; Zuck, NJW 2004, 1721 hält den Fraktionsausschluss des Abgeordneten Hohmann wegen der (aus dem Gesamtzusammenhang der Rede gerissenen) Äußerung zwar für politisch notwendig, bezweifelt aber die rechtliche Zulässigkeit. Zum Problem eines Parteiausschlusses nach einer erfolgten „scharfen politischen Rüge“ vgl. Roßner, MIP 12 (2004 / 2005), 59 ff. 22 23
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II. Rechtliche Grundlagen 1. Europarecht Das Europarecht, zu dem sowohl die im Rahmen des Europarates entwickelte Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) als auch das Recht der Europäischen Union zu zählen ist, wobei durch Art. 6 Abs. 2 EUV eine Verbindung zwischen beiden hergestellt wird, enthält keine speziellen Vorgaben für das Recht der politischen Parteien. Zu beachten sind jedoch als allgemeine Rahmenbedingungen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie. Art. 11 EMRK schützt die Vereinigungsfreiheit, Art. 3 des Zusatzprotokolls zur EMRK das demokratische Prinzip, das bereits in Erwägungsgrund 4 der Präambel angesprochen wird. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg musste sich insoweit mit Parteiverbotsverfahren befassen.28 Für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union nennt seit dem Amsterdamer Vertrag die „Homogenitätsklausel“ in Art. 6 Abs. 1 EUV ausdrücklich u. a. die Grundsätze der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit als „allen Mitgliedstaaten gemeinsam“. Nach Art. 191 EGV sind politische Parteien auf europäischer Ebene wichtig als Faktor der Integration in der Europäischen Union. Sie tragen dazu bei, ein europäisches Bewusstsein herauszubilden und den politischen Willen der Bürger der Union zum Ausdruck zu bringen. Wenn man will, kann man in der Betonung der Rolle der Bürger einen Anklang an innerparteiliche Demokratie sehen. Derzeit bestehen auf europäischer Ebene keine eigentlichen politischen Parteien, sondern lediglich Europäische Parteibünde.29 2. Verfassungsrecht a) Vorgaben: Innerparteiliche Demokratie und Gründungsfreiheit Das Grundgesetz enthält zwei Vorgaben, die bei Ordnungsmaßnahmen gegen Parteimitglieder zu beachten sind: Gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG muss die innere Ordnung politischer Parteien demokratischen Grundsätzen entsprechen. Dieser Grundsatz der innerparteilichen Demokratie setzt die Wahrnehmung demokratischer Rechte, insbesondere der Meinungsäußerungsfreiheit, voraus. Gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 2 GG ist die Gründung politischer Parteien frei. Da Parteien zur Verfolgung politischer Ziele gegründet werden, folgt aus der Gründungsfreiheit notwendig die Programmautonomie. Parteienfreiheit umfasst als besonderer Fall 28 EGMR, Urt. v. 30. Januar 1998, TBKP – Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei u. a. . / . Türkei, RDJ 1998-I, S. 1 ff.; EGMR, Urt. v. 13. Februar 2003, Refah Partisi („Die Wohlfahrtspartei“), Erbakan u. a. . / . Türkei, EuGRZ 2003, 206 ff. Vgl. dazu Kugelmann, EuGRZ 2003, 533 ff. Vgl. auch Marauhn, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2005, S. 120 ff. 29 Vgl. dazu Streinz, in: von Mangoldt / Klein / Starck, Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, Bd. 2, 4. Aufl. 2005, Art. 21 Rn. 42.
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der „Vereinsautonomie“30 die Freiheit zur Tendenz und das Recht, diese zu wahren. Dies ist bei den Anforderungen an die innerparteiliche Demokratie und auch bei den dadurch bedingten Beschränkungen von Ordnungsmaßnahmen zu berücksichtigen. „Tendenzreinheit“ und innerparteiliche Demokratie sind insoweit in Ausgleich zu bringen. b) Der Ausgleich zwischen Tendenzreinheit und innerparteilicher Demokratie Seit den „klassischen“ Forschungen von Moisei Ostrogorsk31 und Robert Michels32 wird das „eherne Gesetz der Oligarchie“ als Phänomen des Parteiwesens diskutiert. Die grundlegenden Beobachtungen und Feststellungen von Michels sind aktuell geblieben. Verfassungsrechtlich stellt sich die Frage nach dem durch Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG gebotenen Ausmaß der Sicherung des Einflusses des einzelnen Parteimitglieds und der Minderheiten innerhalb der Partei gegenüber Oligarchietendenzen und Uniformierungszwängen, die durch das systemimmanente Machtstreben der Parteien mit den Folgen der dafür erstrebten Geschlossenheit und „Tendenzreinheit“ gefördert werden. Die entscheidende Frage ist: Inwieweit muss eine Partei von Verfassungs wegen innerparteiliche Opposition aushalten und ab wann darf sie diese bis hin zum Parteiausschluss unterbinden.33 Die in der Literatur zum Spannungsverhältnis zwischen „parteiinternem Gruppenwettbewerb“34 bzw. dem Recht auf „innerparteiliche Opposition“35 und „Tendenzreinheit“36 bzw. „Geschlossenheit“ einer „politischen Kampfgemeinschaft“ 37 vertretenen Ansichten bewegen sich durchweg zwischen diesen beiden Polen, sind aber BVerfGE 50, 290 (354). Ostrogorski, La démocratie et l’organisation des partis politiques, 2 Bde., 1902. 32 Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, 4. Aufl. 1989. 33 Vgl. dazu Preuß, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl. 1989, Art. 21 Abs. 1, 3 Rn. 68; von Münch, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 3. Aufl. 1995, Art. 21 Rn. 56 („Opposition, innerparteiliche“). 34 Vgl. dazu Preuß (Fn. 33), Art. 21 Abs. 1, 3 Rn. 68 m. w. Nw.; vgl. auch Morlok, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 21 Rn. 136 m. w. Nw. 35 Vgl. dazu von Münch (Fn. 33), Art. 21 Rn. 56 („Opposition, innerparteiliche“); Tsatsos, Festschrift Mosler, 1983, S. 997 ff. Nach Gusy, in: Denninger, Kommentar zum Grundgesetz (Reihe Alternativkommentare), 3. Aufl., Loseblatt (2001), Art. 21 Rn. 76 ist die Frage nach einem „Recht auf innerparteiliche Opposition“ so falsch gestellt, da anders als im Verhältnis von „Regierungsmehrheit“ und „Opposition“ der Binnenpluralismus in der Partei durch den Außenpluralismus des Mehrparteiensystems ergänzt werde, wofür andere Regeln gelten würden, die durch den Oppositionsbegriff eher verdunkelt als erhellt würden. 36 Vgl. dazu Morlok (Fn. 34), Art. 21 Rn. 128. 37 Vgl. Henke, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblatt (1991), Art. 21 Rn. 275. 30 31
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sehr unterschiedlich.38 Weitgehend Einigkeit besteht – zumindest grundsätzlich – hinsichtlich der Möglichkeit für die Parteimitglieder, sich zu artikulieren, was entsprechende Partizipationsrechte (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 3 PartG) voraussetzt, die mit Diskussionsrechten (vgl. § 15 Abs. 3 Satz 1 PartG) verbunden sein müssen. Diese innerparteiliche Partizipation muss von einer fairen Gestaltung des Willensbildungsverfahrens bestimmt sein, was nicht nur die genannten Partizipationsrechte 39 voraussetzt, sondern auch eine bestimmte Form des innerparteilichen Umgangs bedingt, deren Einhaltung gegebenenfalls durch Ordnungsmaßnahmen erzwungen werden darf. Generell sind das Recht der Partei zur Wahrung der Tendenz, hinter dem auch das Recht der einzelnen Mitglieder steht, die sich bewusst einer „tendenziellen“ politischen Richtung angeschlossen haben, und das Recht des einzelnen Mitglieds, im innerparteilichen Willensbildungsprozess auch abweichende Ansichten zu äußern und für diese zu werben, nach dem Grundsatz der Herstellung praktischer Konkordanz40 zu vereinbaren, um das zulässige Maß der Einschränkung der Freiheit der Mitglieder durch das Mitgliedschaftsverhältnis zu bestimmen.41 Dabei ist zu beachten, dass das Demokratieprinzip in seiner Spezifizierung für den Binnenraum einer Organisation von Freiwilligen mit Tendenzcharakter, die sich im Wettbewerb mit anderen Parteien bewähren und deshalb auf Handlungsfähigkeit, Durchsetzungsstärke und auch eine gewisse Geschlossenheit in der Darstellung nach außen angewiesen ist, andere Gehalte gewinnt als in der Anwendung auf staatliche Herrschaft.42
c) Auswirkungen auf den Rechtsschutz: Kontrolldichte gegenüber Ordnungsmaßnahmen und Ausschlussentscheidungen Diese Besonderheiten innerparteilicher Demokratie haben Auswirkungen auf den Rechtsschutz des einzelnen Parteimitglieds gegenüber Ordnungsmaßnahmen 38 Vgl. z. B. die Darstellung bei Kressel, Parteigerichtsbarkeit und Staatsgerichtsbarkeit, 1998, S. 260 ff. 39 Vgl. dazu im einzelnen Streinz (Fn. 29), Art. 21 Rn. 167; Morlok (Fn. 34), Art. 21 Rn. 135. 40 Vgl. zu diesem Grundsatz Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 317. 41 Vgl. Streinz (Fn. 29), Art. 21 Rn. 162; Ipsen, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 5. Aufl. 2009, Art. 21 Rn. 80; Henke (Fn. 37), Art. 21 Rn. 268. Umstritten ist dabei, ob Grundrechte im Verhältnis zwischen einer Partei und ihrem Mitglied unmittelbar gelten oder die Lehre von der Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht heranzuziehen ist, vgl. Ortmann (Fn. 11), S. 60 ff. Jedoch ist dies ohnehin nicht der richtige Ansatz hinsichtlich der Verpflichtung der Partei gegenüber ihren Mitgliedern, zutreffend Volkmann, in: Friauf / Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblatt (2002), Art. 21 Rn. 42 und Ipsen, in: Ipsen (Fn. 4), § 10 Rn. 14 ff. („Scheinproblem“). 42 Vgl. Morlok (Fn. 34), Art. 21 Rn. 123; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG-Kommentar, 9. Aufl. 2007, Art. 21 Rn. 23 (notwendige Modifikationen). Vgl. auch Grimm, in: Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 14 Rn. 39.
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bis hin zu Ausschlussentscheidungen, und zwar zum einen innerparteilich, zum anderen im Verhältnis zu den staatlichen Gerichten. aa) Innerparteilich Ohne den Unterschied zwischen der innerparteilichen und der Staatsorganisation zu übersehen, kann ein Aspekt der „Gewaltenteilung“ zwischen gesetzgebender Gewalt (Parlament) und Judikative (Gerichten), der zur Beschränkung gerichtlicher Kontrolldichte führt,43 mutatis mutandis für das innerparteiliche Verhältnis herangezogen werden. Politische Konflikte in Parteien müssen in den Gremien entschieden werden, denen die politische Willensbildung der Partei obliegt, also Mitgliederversammlung, Parteitag und gegebenenfalls Vorstand, nicht aber durch die Schiedsgerichte der Parteien.44 Diese haben uneingeschränkt die Einhaltung der festgelegten Verfahrensgrundsätze zu überprüfen. Politische Inhalte unterliegen ihrer Bewertung nur insoweit, als eine Ordnungsmaßnahme auf einen Verstoß gegen das Programm der Partei gestützt wird und dieser Verstoß in der Sache bestritten wird, wobei sich die Frage des Bestehens und des Umfangs einer Einschätzungsprärogative der für die politische Willensbildung zuständigen Parteiorgane stellt. bb) Im Verhältnis zu den staatlichen Gerichten Wegen des Schutzes der innerparteilichen Demokratie und der Mitgliederrechte sowie wegen der allgemeinen Rechtsgewährpflicht des Staates kann die Anrufung der staatlichen Gerichte gegen Entscheidungen der Parteien und der Parteischiedsgerichte nicht ausgeschlossen werden.45 Bei der gerichtlichen Kontrolldichte muss aber die Parteifreiheit gegenüber dem Staat berücksichtigt werden. Während die Tatsachenbasis der Parteientscheidungen und die Einhaltung der einschlägigen Verfahrensvorschriften uneingeschränkt nachprüfbar sind, unterliegt die Anwendung des materiellen Satzungsrechts bei Tendenzentscheidungen im Autonomiebereich nur einer Plausibilitäts-, d. h. Willkürkontrolle.46 Die Berücksichtigung der 43 Vgl. dazu Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig (Fn. 11), Art. 19 Abs. 4 (2003) Rn. 180, 180a m. w. Nw. 44 Zutreffend die Bundesschiedskommission der PDS, Beschluss vom 19. 2. 2000 im Schiedsverfahren auf Ausschluss des Genossen Buttler. 45 Morlok (Fn. 34), Art. 21 Rn. 140; Streinz (Fn. 29), Art. 21 Rn. 161; vgl. auch Klein (Fn. 11), Art. 21 Rn. 361. Dies gilt speziell für den Parteiausschluss, st. Rspr., vgl. BGHZ 75, 158 (159); vgl. dazu Ipsen, in: Ipsen (Fn. 4), § 10 Rn. 35; Zimmermann, Rechtsstaatsprinzip und Parteigerichtsbarkeit. Zur Anwendung rechtsstaatlicher Grundsätze im Schiedsverfahren nach § 10 Abs. 5 PartG, 1979, S. 154 m. w. Nw. A. A. speziell hinsichtlich Parteiausschlussverfahren Schiedermair, AÖR 104 (1979), 200 ff. 46 Morlok (Fn. 34), Art. 21 Rn. 140 und Rn. 59 („tendenzwahrende Zurückhaltung“); Klein (Fn. 11), Art. 21 Rn. 390 f.; Streinz (Fn. 29), Art. 21 Rn. 161; Volkmann (Fn. 41), Art. 21 Rn. 73. Vgl. auch OLG Köln NVwZ 1991, 1116 unter Berufung auf die Rechtspre-
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Besonderheiten politischer Parteien hat zur Folge, dass die Rechtsprechung der Zivilgerichte zum allgemeinen Freiheitsrecht nicht vorbehaltlos übertragen werden kann.47 Es zeichnen sich in der Literatur Grundsätze ab, die die Rechtsprechung bei der Findung des richtigen Maßes zwischen Parteienfreiheit und Rechtsschutz für die einzelnen Mitglieder bei der Überprüfung von Parteigerichtsentscheidungen leiten können.48 Die Rechtsprechung des BGH zur Frage der richterlichen Prüfungsdichte ist nicht ganz einheitlich. 49 Verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz ist über die Verfassungsbeschwerde nicht gegen Entscheidungen der Parteigerichte, sondern erst gegen die Entscheidung eines staatlichen Gerichts möglich, weil erst damit öffentliche Gewalt ausgeübt wird.50 Das BVerfG hat entschieden, dass die staatlichen Gerichte zwar zur Missbrauchs- und Evidenzkontrolle verpflichtet sind, soweit der Gesetzgeber privatautonome Streitbeilegung durch Schlichtungsgremien zulässt, jedoch die auf Willkür beschränkte Kontrolle eines Parteiausschlusses durch die Zivilgerichte dem Justizgewährleistungsanspruch genügt, da sie einerseits die Mitglieder der Parteien nicht rechtlos stellt, andererseits den Anforderungen der Parteienfreiheit Rechnung trägt. Es sei nicht Sache der staatlichen Gerichte, über die Auslegung der Satzung und der bestimmenden Parteibeschlüsse zu entscheiden. Die Einschätzung, ob ein bestimmtes Verhalten einen vorsätzlichen Verstoß gegen die Satzung oder einen erheblichen Verstoß gegen Grundsätze oder die Ordnung der Partei bedeutet und der Partei damit schweren Schaden zufügt (§ 10 Abs. 4 PartG), sei den Parteien vorbehalten.51 3. Parteiengesetz Art. 21 Abs. 3 GG gibt dem Bund einen Gesetzgebungsauftrag zur Ausgestaltung des Parteienrechts. Der Deutsche Bundestag kam diesem Auftrag – reichlich verspätet – vor allem mit dem Parteiengesetz (PartG) vom 24. 7. 196752 nach. Diechung des BGH, vgl. z. B. BGHZ 87, 337 (343). Zur Ausdehnung des weiterhin beschränkten Prüfungsmaßstabes auch auf die Tatbestandsmerkmale des § 10 Abs. 4 PartG mit Verweis auf BGH NJW 1994, 2611 vgl. Ortmann (Fn. 11), S. 73. 47 Insoweit ebenso Kressel, Parteigerichtsbarkeit und Staatsgerichtsbarkeit, 1998, S. 247 f., 252 ff. m. w. Nw. 48 Vgl. Streinz (Fn. 29), Art. 21 Rn. 161 m. w. Nw. 49 Vgl. Klein (Fn. 11), Art. 21 Rn. 390 f. Vgl. einerseits BGHZ 75, 158 (159), wo auf die st. Rspr. zum Vereinsrecht verwiesen wird, andererseits BGH NJW 1994, 2611 f. Vgl. auch Gehrlein, ZIP 1994, 856 f. 50 BVerfG NJW 1988, 3260. Vgl. dazu Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Kommentar, Loseblatt (2007), § 90 Rn. 240 m. w. Nw. 51 BVerfG NJW 2002, 2228 m. w. Nw. (betreffend Ausschluss aus der CDU wegen Mitgliedschaft in der Scientology-Bewegung). 52 Gesetz über die politischen Parteien (Parteiengesetz), BGBl. 1967 I S. 773; jetzt i. d. F. d. Bek. vom 31. Januar 1994 (BGBl. I S. 149), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22. Dezember 2004 (BGBl. I S. 3673).
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ses enthält allgemeine Regeln über Ordnungsmaßnahmen und spezielle Regeln für die gravierendste Ordnungsmaßnahme, nämlich den Ausschluss eines Parteimitglieds. a) Regelungen im Parteiengesetz Gemäß § 6 Abs. 2 PartG müssen die Satzungen, die politische Parteien gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 PartG haben müssen, Bestimmungen enthalten u. a. über (Nr. 4) „zulässige Ordnungsmaßnahmen gegen Mitglieder und ihren Ausschluss (§ 10 Abs. 3-5)“. Diese Maßnahmen gegen Mitglieder sind zu unterscheiden von zulässigen Ordnungsmaßnahmen gegen Gebietsverbände, die § 6 Abs. 2 Nr. 5 PartG vorsieht. b) Ordnungsmaßnahmen (§ 10 Abs. 3 PartG) Gemäß § 10 Abs. 3 PartG sind in der Satzung Bestimmungen zu treffen über die zulässigen Ordnungsmaßnahmen gegen Mitglieder, die Gründe, die zu Ordnungsmaßnahmen berechtigen, und die Parteiorgane, die Ordnungsmaßnahmen anordnen können. Durch die generell abstrakte Festlegung der Tatbestände, der Sanktionen und der Zuständigkeiten soll willkürliches Vorgehen verhindert, die innerparteiliche Transparenz gefördert und die schiedsgerichtliche und gerichtliche Kontrolle von Ordnungsmaßnahmen ermöglicht werden. Ein ausdrücklicher Begründungszwang besteht gemäß § 10 Abs. 3 S. 2 PartG nur im Falle der Enthebung von Parteiämtern oder der Aberkennung der Fähigkeit zu ihrer Bekleidung. Angesichts der Bedeutung der Begründung für ein rechtsstaatliches Verfahren wäre es bedenklich, darin eine Beschränkung zu sehen. Vielmehr wird in diesen Fällen eine qualifizierte Begründung gefordert, während im übrigen – wie schon nach allgemeinem Vereinsrecht – zumindest eine kurze Angabe geboten ist, welches Verhalten beanstandet wird und welche Mitgliedspflicht verletzt worden sein soll.53
c) Ausschluss eines Parteimitglieds aa) Ausschlusstatbestände (§ 10 Abs. 4 PartG) Gemäß § 10 Abs. 4 PartG kann ein Mitglied nur dann aus der Partei ausgeschlossen werden, wenn es vorsätzlich gegen die Satzung oder erheblich gegen Grundsätze oder die Ordnung der Partei verstößt und ihr damit schweren Schaden zufügt. Als empfindlichste Ordnungsmaßnahme mit der Folge für die betroffenen Bürger, einer qualifizierten Teilnahme an der politischen Willensbildung des Volkes verlustig zu gehen, bedarf der Ausschluss aus der Partei einer besonderen Be53 Seifert, Die politischen Parteien im Recht der Bundesrepublik Deutschland, 1975, S. 223 m. w. Nw.
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gründung. Die Rechtsstellung eines Mitglieds ist stärker als die eines Aufnahmebewerbers und gibt ein grundsätzliches Recht auf Verbleib, weil zum einen schutzwürdige Kontinuitätserwartungen bestehen, zum anderen der innerparteiliche demokratische Prozess durch den Erhalt der Konfliktpartner und der innerparteilichen Kommunikation geschützt werden muss.54 § 10 Abs. 4 PartG legt daher den allgemein gültigen Ausschlussgrund abschließend55 fest. Im Umkehrschluss kann gefolgert werden, dass andere Ordnungsmaßnahmen an geringere Verstöße anknüpfen können. Im Verhältnis von Ordnungsmaßnahmen und Ausschluss ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Daher ist z. B. zu erwägen, ob dem legitimen Interesse der Partei nicht durch Einschränkungen der Mitgliedschaftsrechte oder ihre zeitweise Suspendierung Genüge getan werden kann. bb) Verfahren Gemäß § 10 Abs. 5 PartG entscheidet über den Ausschluss das nach der Schiedsgerichtsordnung der Partei zuständige Schiedsgericht. Die Berufung an ein Schiedsgericht höherer Stufe ist zu gewährleisten. Die Entscheidungen sind schriftlich zu begründen. In dringenden und schwerwiegenden Fällen, die sofortiges Eingreifen erfordern, kann der Vorstand der Partei oder eines Gebietsverbandes ein Mitglied von der Ausübung seiner Rechte bis zur Entscheidung des Schiedsgerichts ausschließen. Diese vorläufige Suspendierung ist von der eben angesprochenen Suspendierung von Mitgliedschaftsrechten als Ordnungsmaßnahme zu unterscheiden. Einrichtung und Verfahren der Parteischiedsgerichte, die bestimmte rechtsstaatliche Mindestgarantien zu beachten haben, sind in § 14 PartG geregelt.56
4. Regelungen in den Satzungen und Schiedsgerichtsordnungen der im Deutschen Bundestag vertretenen politischen Parteien a) Grundlage (§ 6 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 4, § 10 Abs. 3 – 5 PartG) Das Parteiengesetz schreibt in den genannten Bestimmungen Mindestvorgaben für die erforderlichen Regelungen in den Satzungen der politischen Parteien vor, an die diese gebunden sind.57 Über diese Mindestregelungen hinaus dürfen sich 54 Zutreffend Morlok (Fn. 34), Art. 21 Rn. 134. Vgl. auch Streinz (Fn. 29), Art. 21 Rn. 165; Klein (Fn. 11), Art. 21 Rn. 384. 55 Zweifelnd, wenngleich grundsätzlich bejahend („grundsätzlich abschließende Regelung“) BGHZ 73, 275 (280): „Es mag allerdings sein, dass der Gesetzeswortlaut, der an sich Ausnahmen nicht zulässt, in engen Grenzen – etwa mit Rücksicht auf Art. 21 GG – im Auslegungswege gewisser Korrekturen bedarf.“ Vgl. dazu Ortmann (Fn. 11), S. 60, Fn. 260. 56 Auswahlbibliographie zur Schiedsgerichtsbarkeit der Parteien bei Klein (Fn. 11), Art. 21 Rn. 389 Fn. 299.
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die Parteien selbst strengere Anforderungen stellen. Dies ist in den Satzungen der im Deutschen Bundestag vertretenen politischen Parteien (SPD, CDU, CSU, Bündnis 90 / DIE GRÜNEN, Die Linke58) zum Teil geschehen. b) Gemeinsamkeiten und Unterschiede aa) Ausschluss eines Parteimitglieds Gemeinsam ist allen Satzungen bzw. Statuten der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien der Ausschlusstatbestand, da dieser durch § 10 Abs. 4 PartG mit den erschöpfenden Ausschlussgründen vorsätzlicher Verstoß gegen die Satzung oder erheblicher Verstoß gegen Grundsätze oder Ordnung der Partei, wodurch dieser schwerer Schaden zugefügt wird, zwingend vorgegeben ist. Das Organisationsstatut der SPD59 (§ 35 Abs. 3), das Statut der CDU60 (§ 11 Abs. 1), die Satzung der CSU61 (§ 61 Abs. 1 S. 1), die Bundessatzung der FDP62 (§ 6 Abs. 2 S. 1), die Satzung von Bündnis 90 / Die Grünen63 (§ 20 Abs. 3) und die Bundessatzung der Partei Die Linke64 (§ 3 Abs. 4) übernehmen die Fassung des Gesetzes im Wesentlichen wörtlich. Der gesetzlich definierte Verstoß wird zum Teil konkretisiert, z. B. im Statut der CDU. Gemäß § 12 CDU-Statut verhält sich „insbesondere“ parteischädigend, wer zugleich einer anderen Partei innerhalb des Tätigkeitsgebietes der CDU oder einer anderen politischen, mit der CDU konkurrierenden Gruppe oder deren parlamentarischen Vertretung angehört (Nr. 1), als Mitglied der CDU gegen einen auf einer Mitgliederversammlung oder Vertreterversammlung der CDU nominierten Kandidaten als Bewerber auftritt (Nr. 2), in Versammlungen politischer Gegner, in deren Rundfunksendungen, Fernsehsendungen oder Presseorganen gegen die erklärte Politik der Union Stellung nimmt (Nr. 4), als Kandidat der CDU in eine Vertretungskörperschaft gewählt ist und der CDU-Fraktion nicht beitritt oder aus ihr ausscheidet (Nr. 3), vertrauliche Parteivorgänge veröffentlicht oder an politische Gegner verrät (Nr. 5), Vermögen, das der Partei gehört oder zur VerVgl. Henke (Fn. 37), Art. 21 Rn. 276. Bei den Wahlen zum 15. Deutschen Bundestag am 22. September 2002 scheiterte die aus der SED hervorgegangene SED-PDS, die sich seit 4. Februar 1990 „Partei des Demokratischen Sozialismus“ (PDS) nannte, an der 5 % Klausel. Sie errang jedoch in Berlin zwei Direktmandate und war mit diesen im Bundestag vertreten. Die im Juli 2005 in Die Linkspartei.PDS (Die Linke.PDS) umbenannte Partei errang bei den Wahlen zum 16. Deutschen Bundestag am 18. September 2005 8,7%. Am 16. Juli 2007 fusionierte sie mit der sog. WASG (Arbeit & Soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative), in der sich vor allem enttäuschte ehemalige SPD-Mitglieder sammelten, zur Partei „Die Linke“. 59 Stand 26. Oktober 2007. 60 Stand 4. Dezember 2007. 61 Stand 14. Oktober 2007. 62 Stand 15. Juni 2007. 63 Stand 25. November 2007. 64 Stand 25. März 2007. 57 58
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fügung steht, veruntreut (Nr. 6). Gemäß § 13 verstößt „insbesondere“ erheblich gegen die Ordnung der Partei, wer seinen Pflichten als Mitglied beharrlich dadurch nicht nachkommt, dass er über einen längern Zeitraum trotz Zahlungsfähigkeit und trotz Mahnung seine persönlichen monatlichen Mitgliedsbeiträge oder seine etwaigen weiteren, satzungsrechtlich festgelegten monatlichen Beiträge als Amts- oder Mandatsträger der CDU (Sonderbeiträge) nicht entrichtet. Offenbar wird all dies als Ausschlussgrund angesehen, da § 14 unter der Überschrift „weitere Ausschlussgründe“ ferner die rechtskräftige Verurteilung wegen einer ehrenrührigen strafbaren Handlung und die Verletzung der besonderen Treuepflichten, welche für einen Angestellten der Partei gelten, nennt. Ungeachtet des durch die Autonomie der Parteien gebotenen beschränkten Kontrollmaßstabs65 müssen sich solche Konkretisierungen im Rahmen der gesetzlichen Vorgabe des § 10 Abs. 4 PartG halten, was hinsichtlich der im CDU-Statut genannten Tatbestände zu bejahen ist, mit Ausnahme der nach zutreffender Ansicht verfassungswidrigen „Sonderbeiträge“. 66 Allerdings ist jeder Einzelfall im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu prüfen. Nach § 6 Abs. 2 S. 2 der Bundessatzung der FDP liegt ein Verstoß im Sinne von Satz 1, der den Ausschlusstatbestand regelt, vor, wenn ein Parteimitglied vor oder während seiner Mitgliedschaft in der Partei Mitbürger als Gegner eines totalitären Regimes denunziert oder seine gesellschaftliche Stellung dazu missbraucht hat, andere zu verfolgen (offenbar eine wiedervereinigungsbedingte Bestimmung), ferner bei Verletzung der richterlichen Schweigepflicht, bei Verweigerung des Beitritts zur oder Austritt aus der parlamentarischen Gruppe der Partei, bei unterlassener Beitragszahlung (Satz 2) sowie wenn ein Mitglied eine übertragene Buchführungspflicht nicht ordnungsgemäß erfüllt, Spenden nicht den gesetzlichen oder den Vorschriften der Finanzordnung entsprechend abrechnet bzw. abliefert oder Mittel nicht den Vorschriften und Beschlüssen entsprechend verwendet und dadurch der Partei finanziellen Schaden von nicht unbedeutender Höhe zufügt (Satz 3). Obwohl hier das „insbesondere“ fehlt, dürfte auch diese Vorschrift nicht abschließend gemeint sein. Gemäß § 20 Abs. 1 der Schiedsordnung der SPD67 ist derjenige, der als Mitglied der SPD gleichzeitig einer der in § 6 Abs. 1 lit. a Organisationsstatut genannten Organisationen angehört oder für sie kandidiert, schriftlich aufzufordern, binnen einer Woche den Austritt aus der betreffenden Organisation zu erklären bzw. die Kandidatur aufzugeben.68 Gemäß § 6 Siehe dazu oben II. 2. c) bb). Vgl. dazu Streinz (Fn. 29), Art. 21 Rn. 179, 194 m. w. Nw. Sog. „Sonderbeiträge“ werden von allen politischen Parteien, die im Bundestag vertreten sind, erhoben und sind in den Parteistatuten ausdrücklich verankert; sie gelten als geschuldete „Beiträge“, vgl. § 2 der Finanzordnung der SPD vom 1. Januar 1987 (spätere Änderungen betreffen hier nicht interessierende Bestimmungen). § 27 Abs. 2 des Niedersächsischen Abgeordnetengesetzes verbietet sie ausdrücklich. 67 Stand 26. Oktober 2007. 68 § 20 Abs. 3 Schiedsordnung der SPD: „Setzt sich ein Mitglied der SPD ohne Zustimmung der zuständigen Gliederung für eine der in § 6 Organisationsstatut genannten Organisationen ein oder wird es für sie tätig oder liegt eine unsolidarische Kandidatur als 65 66
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Abs. 1 lit. a Organisationsstatut ist mit der Mitgliedschaft in der SPD unvereinbar die gleichzeitige Mitgliedschaft in einer anderen konkurrierenden politischen Partei oder Wählervereinigung. Das Gleiche gilt für die Tätigkeit, Kandidatur oder Unterschriftsleistung für eine andere konkurrierende politische Partei oder Wählervereinigung (§ 6 Abs. 1 lit. b). Gleiches gilt für die Kandidatur gegen die von der zuständigen Parteigliederung bereits beschlossene Nominierung für ein öffentliches Amt oder Mandat (§ 6 Abs. 1 lit. c). Gemäß § 6 Abs. 2 Organisationsstatut gilt Entsprechendes für Vereinigungen, die gegen die SPD wirken. Die Feststellung der Unvereinbarkeit trifft der Parteivorstand im Benehmen mit dem Parteirat (sog. „Unvereinbarkeitsbeschlüsse“). Erklärt das Mitglied, in der betreffenden Organisation verbleiben bzw. weiter für sie kandidieren zu wollen oder liegt bei Ablauf der Frist eine Erklärung nicht vor, so „gilt dies als Austritt aus der SPD“ (§ 20 Abs. 2 S. 4 Schiedsordnung). Solche „fingierten Austritte“ sieht § 3 Abs. 3 S. 1 der Bundessatzung der Partei Die Linke für den Fall vor, dass ein Mitglied sechs Monate keinen Beitrag entrichtet hat und Mahnung und Verständigungsversuch erfolglos geblieben sind. In der Sache kommt dem die Regelung in § 9 Abs. 1 CSU-Satzung gleich, wonach die Mitgliedschaft erlischt, wenn ein Mitglied trotz zweimaliger schriftlicher Mahnung unter Hinweis auf die Folgen mit seiner Beitragsleistung mehr als sechs Monate im Rückstand ist (Nr. 1) und innerhalb weiterer zwei Monate kein gegenteiliger Beschluss des Ortsvorstands gefasst wird (Nr. 2). Solche fingierten Austritte sind als Umgehung der gesetzlichen Schutzvorschrift des § 10 Abs. 5 PartG, wonach über den Ausschluss das nach der Schiedsgerichtsordnung zuständige Schiedsgericht mit der Möglichkeit der Berufung an ein Schiedsgericht höherer Stufe entscheidet, unzulässig und allenfalls hinsichtlich der ausbleibenden Beitragszahlung trotz Mahnung diskutabel.69 Das Verfahren des Ausschlusses wird im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben des § 10 Abs. 5 PartG in den Statuten, Satzungen sowie den Schiedsordnungen bzw. Schiedsgerichtsordnungen der Parteien näher geregelt. bb) Ordnungsmaßnahmen Hier ist zwischen Ordnungsmaßnahmen gegen Verbände und Organe der Partei, Arbeitsgemeinschaften und Arbeitskreise einerseits und Ordnungsmaßnahmen gegen Parteimitglieder andererseits zu unterscheiden.
Einzelbewerberin und Einzelbewerber nach § 6 Abs. 1 lit. c) des Organisationsstatuts vor oder besteht eine Unvereinbarkeit nach § 6 Abs. 2 des Organisationsstatuts, so gelten die Bestimmungen der §§ 6, 18 ff. dieser Schiedsordnung.“ 69 Vgl. Streinz (Fn. 29), Art. 21 Rn. 166; für generelle Unzulässigkeit Henke (Fn. 37), Art. 21 Rn. 274 und Ortmann (Fn. 11), S. 59 f. Siehe dazu auch unten III. 4. und 6.
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(a) Ordnungsmaßnahmen gegen Verbände und Organe § 59 CSU-Satzung sieht Ordnungsmaßnahmen gegen Verbände und Organe der Partei, der Arbeitsgemeinschaften und Arbeitskreise vor, die die Bestimmungen der Satzung missachten oder in wesentlichen Fragen gegen die politische Zielsetzung der Partei handeln. Solche Ordnungsmaßnahmen sind die Erteilung von Rügen, das befristete Ruhen des Vertretungsrechts in den höheren Organen und übergeordneten Verbänden sowie die Amtsenthebung von Organen, die nur wegen schwerwiegender Verstöße gegen die Grundsätze oder die Ordnung der Partei angeordnet werden darf (Abs. 4 S. 1). Gemäß § 20 Abs. 5 der Satzung von Bündnis 90 / Die Grünen können gegen Gebietsverbände, Organe der Partei oder Organe der Vereinigungen der Partei, die Bestimmungen der Satzung missachten, insbesondere auch Beschlüsse übergeordneter Parteiorgane nicht durchführen oder sich weigern, begründete Beschwerden aufzugreifen und an ein Schiedsgericht heranzutragen, oder in wesentlichen Fragen gegen die politische Zielsetzung von Bündnis 90 / Die Grünen handeln, ein Verweis, ggf. verbunden mit der Auflage, eine bestimmte Maßnahme innerhalb der gesetzlichen Frist zu treffen (Nr. 1), die Amtsenthebung von Vorständen oder einzelnen Mitgliedern derselben (Nr. 2) sowie die Auflösung des Gebietsverbandes (Nr. 3) verhängt werden. § 7 Abs. 8, § 12 Abs. 6 und § 13 Abs. 11 der Bundessatzung der Partei Die Linke sehen die Auflösung von innerparteilichen Zusammenschlüssen, Landes- bzw. Kreisverbänden oder einzelner ihrer Organe vor, die in ihren Beschlüssen und ihrem politischen Wirken erheblich und fortgesetzt gegen die Grundsätze des Programms oder der Satzung oder gegen Grundsatzbeschlüsse der Partei verstoßen. Gegen diese Ordnungsmaßnahmen gibt es unterschiedliche Beschwerderechte. (b) Ordnungsmaßnahmen gegenüber Parteimitgliedern Die Satzungen bzw. Statuten aller Parteien außer der Partei „Die Linke“ sehen Ordnungsmaßnahmen gegenüber Parteimitgliedern unterhalb des Parteiausschlusses vor. Dabei handelt es sich im Wesentlichen übereinstimmend, aber mit Differenzierungen im Einzelnen, um die Verwarnung, einen darauf folgenden Verweis, die (zeitlich beschränkte) Enthebung von einem Parteiamt oder die Aberkennung der Fähigkeit, ein solches zu bekleiden, das zeitweise Ruhen einzelner oder aller Rechte aus der Mitgliedschaft.70 Anders als der Ausschluss muss die Verhängung solcher Ordnungsmaßnahmen nicht zwingend den Schiedsgerichten übertragen werden. Während bei CDU und CSU diese Ordnungsmaßnahmen von den jeweils zuständigen Vorständen, bei der CSU mit Zweidrittelmehrheit, verhängt werden,71 gegen deren Beschlüsse die zuständigen Schiedsgerichte angerufen werden kön70 § 35 Abs. 2 SPD Organisationsstatut; § 10 Abs. 2 Statut der CDU; § 60 Abs. 2 Satzung der CSU; § 6 Abs. 1 Bundessatzung der FDP; § 20 Abs. 2 Satzung des Bundesverbands Bündnis 90 / Die Grünen. 71 § 60 Abs. 3 Satzung CSU: Partei- bzw. Bezirksvorstand.
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nen,72 entscheidet bei Bündnis 90 / Die Grünen grundsätzlich73, bei SPD und FDP generell die zuständige Schiedskommission74 bzw. das zuständige Schiedsgericht.75 Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechend wird zum Teil ausdrücklich bestimmt, dass Schiedsgerichte in Parteiausschlussverfahren an Stelle des Ausschlusses Ordnungsmaßnahmen aussprechen können.76
III. Die Praxis der im Deutschen Bundestag vertretenen politischen Parteien 1. Allgemeines Die Praxis der Ordnungsmaßnahmen der politischen Parteien ist wissenschaftlich noch wenig systematisch erschlossen.77 Einzelne Fälle sind in den eingangs zitierten Monographien78 sowie in Erfahrungsberichten79 dokumentiert. Publiziert und kommentiert wurden die Urteile staatlicher Gerichte, die von Parteimitgliedern gegen die Entscheidungen der Parteischiedsgerichte angerufen wurden.80 Seit einiger Zeit werden Entscheidungen der Parteischiedsgerichte auch publiziert.81 Das Institut für Deutsches und Europäisches Parteienrecht, ursprünglich an der FernUniversität / Gesamthochschule in Hagen, jetzt an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, hat Interviews mit den Vorsitzenden der Parteischiedsgerichte geführt82 und unter Mitwirkung der im Deutschen Bundestag vertretenen politischen Parteien eine Datenbank zur Praxis der Parteischiedsgerichte aufgebaut.83 72 § 60 Abs. 6 CSU-Statut. Vgl. auch § 11 Nr. 3, § 13 Abs. 1 Nr. 3 der Parteigerichtsordnung der CDU. 73 § 20 Abs. 1 Satzung Bündnis 90 / Die Grünen. 74 § 34 Abs. 2 Nr. 1, § 35 Abs. 4 SPD-Organisationsstatut; § 1 Abs. 1 lit. a, §§ 6 ff. SPDSchiedsordnung. 75 § 9 Abs. 1 Nr. 2 Schieds(gerichts-)ordnung der FDP. 76 § 61 Abs. 5 CSU-Satzung. 77 Vgl. dazu aus der Sicht eines „Insiders“ Bull, MIP 10 (2000), 8. Eine Analyse der Praxis der Jahre 1990 bis 2000 nimmt Raike Büdding, Parteischiedsgerichtsbarkeit auf Bundesund Landesparteiebene unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1990-2000, 2003 vor. 78 Siehe oben Fn. 11. 79 Vgl. z. B. Bull, MIP 10 (2000), 9 ff. 80 Vgl. z. B. BGHZ 73, 275; BGHZ 75, 158 m. Anm. Hasenritter, NJW 1980, 446 f.; BGHZ 87, 337; BGH NJW 1994, 2610; LG Trier NJW 1974, 1774; OLG Bamberg NVwZ 1983, 572; LG Bonn NJW 1997, 2958; OLG Köln NJW 1998, 3721. 81 Vgl. Bundesparteigericht der CDU NVwZ 1993, 1126; NVwZ 1993, 1127; NVwZ-RR 1999, 153; Bundesschiedsgericht der FDP NVwZ 1995, 519; Beschlüsse der Bundesschiedskommission der PDS vom 8. Januar 2000 (Genosse Dr. Dieter Götze) und vom 19. Februar 2000 (Genosse Harald Buttler), publiziert im Internet. Vgl. dazu De Petris, MIP 10 (2000), 59 f. 82 De Petris, MIP 9 (1999), 114 ff.; ders., MIP 10 (2000), 109 ff. 83 Vgl. dazu De Petris, MIP 9 (1999), 122 ff.; Retzow, MIP 9 (1999), 106 ff.
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Damit dürfte die Datenbasis in Zukunft die systematisierende Auswertung erleichtern. Im Folgenden können nur einige Fallgruppen kurz angesprochen werden.
2. Verstöße gegen politische Grundsätze Verstöße gegen politische Grundsätze der Partei müssen gemäß Art. 10 Abs. 4 PartG ausdrücklich „erheblich“ sein und der Partei „schweren Schaden“ zufügen. Dieser Ausschlussgrund trifft den Kern des Grundproblems des Ausgleichs zwischen den verfassungsrechtlichen Geboten der innerparteilichen Demokratie (Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG) und der Parteienfreiheit (vgl. Art. 21 Abs. 1 S. 2 GG): Inwieweit muss eine Partei von Verfassungs wegen innerparteiliche Opposition aushalten und ab wann darf sie diese bis hin zum Parteiausschluss unterbinden?84 Die vielen unbestimmten Rechtsbegriffe sind wegen der Vielgestaltigkeit der zu erfassenden Sachverhalte nicht zu vermeiden, um einerseits das gebotene Mindestmaß an innerparteilicher Freiheit und Gleichheit durchzusetzen und andererseits der Funktionsfähigkeit der Partei Rechnung zu tragen. Als Leitlinie kann angesehen werden, dass Kritik an Programm und Führung der Partei keinesfalls unterbunden werden darf, dass aber die Mitglieder der Partei bei der Wahrnehmung ihrer Rechte auf das Bedürfnis der Partei nach einem Mindestmaß an Geschlossenheit nach innen wie nach außen Rücksicht zu nehmen haben. Die Grenze innerparteilicher Opposition nach Inhalt und Form ist die Integrität der Partei.85 Die Beurteilung der „Erheblichkeit“ des Verstoßes und der „Schwere“ des Schadens muss bis auf die oben beschriebene Willkürkontrolle der staatlichen Gerichte86 den Parteischiedsgerichten überlassen bleiben, da die Parteiprogramme, die Bedeutung ihrer Grundsätze und die Einschätzung des „Schadens“ durch uneinheitliches Auftreten der Selbstbeurteilung der Parteien überlassen bleiben müssen.87 „Schaden“ ist (jedenfalls primär) kein materieller, sondern ein immaterieller „politischer“ Schaden, wie z. B. ein Verlust an Vertrauenswürdigkeit, An84 Vgl. dazu Preuß (Fn. 33), Art. 21 Abs. 1, 3 Rn. 68; von Münch (Fn. 33), Art. 21 Rn. 57 („Opposition, innerparteiliche“); Morlok (Fn. 34), Art. 21 Rn. 134; Streinz (Fn. 29), Art. 21 Rn. 167; Gusy (Fn. 35), Art. 21 Rn. 76, 78; Kunig, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 4. / 5. Aufl. 2001, Art. 21 Rn. 58 („Grundrechte der Mitglieder); Klein (Fn. 11), Art. 21 Rn. 383 ff.; Volkmann (Fn. 41), Art. 21 Rn. 42, 66, 70 m. w. Nw. 85 Vgl. Kunig, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 40 Rn. 121 f.; Klein (Fn. 11), Art. 21 Rn. 388; vgl. auch ebd., Rn. 364 mit Auswahlbibliographie in Fn. 239. 86 Siehe oben II. 2. c) bb). 87 Vgl. BGHZ 75, 158 (159 f.); Streinz (Fn. 29), Art. 21 Rn. 166. Darauf wird seitens aller Parteien (was nicht verwundert) besonderer Wert gelegt, in der Sache aber durchaus zu Recht, weil abgesehen von der Bestimmung des „Parteibegriffs“ (vgl. dazu und zu den damit verbundenen Problemen Streinz [Fn. 29], Art. 21 Rn. 45 ff. m. w. Nw.) und der Prüfung der Voraussetzungen des Art. 21 Abs. 2 GG für ein Parteiverbot jegliche Inhaltskontrolle und Inhaltsbewertung unterbleiben muss. Vgl. dazu De Petris, MIP 10 (2000), 115 ff.; ders., MIP 9 (1999), 119.
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sehen und Wahlchancen, immaterielle politische Nachteile, die juristisch kaum begründbar sind.88 Ausschlussverfahren wegen Verstoßes gegen die Grundsätze der Partei sind relativ selten. Dem Vorwurf, der Betroffene hätte innerparteilich, nicht öffentlich opponieren sollen, kann entgegengehalten werden, dass politische Auseinandersetzung der Öffentlichkeit bedarf.89 Abgesehen von der Missachtung sog. Unvereinbarkeitsbeschlüsse,90 der nachhaltigen Opposition gegen die Parteilinie, die eine erkennbare generelle Distanz des Parteimitglieds zu seiner eigenen Partei erkennen lässt,91 und extremistischen Äußerungen, die wegen ihres Verbreitens und Aufgreifens in der Öffentlichkeit Schaden für die Partei zu bringen drohen, wenn sie nicht mit scharfer Abgrenzung reagiert,92 handelte es sich hauptsächlich um den Ausschluss von „Abweichlern“ in politischen Vertretungskörperschaften, insbesondere im Deutschen Bundestag, die nicht nur durch ihr abweichendes Stimmverhalten, sondern durch (partielle) „Fundamentalopposition“ in einer wichtigen Frage die parlamentarische Basis der Regierungsmehrheit gefährdeten.93 Der Grundsatz des freien parlamentarischen Mandats steht dem nicht entgegen:94 Der gewählte Abgeordnete behält sein Mandat, allerdings um den Preis, nicht nur die Partei- und Fraktionszugehörigkeit zu verlieren, sondern auch bei den nächsten Wahlen nicht mehr (zumindest nicht von dieser Partei) aufgestellt zu werden. In der Regel belassen es die Parteien aber auch allein bei letzterer „Sanktion“, da sie grundsätzlich am Verlust von Fraktionsmitgliedern wegen der damit mehrfach verbundenen negativen Folgen kein Interesse haben. Gemäß § 12 Nr. 3 CDU-Statut gilt als parteischädigendes Verhalten, das wegen der Überschrift des § 14 CDU-Statut („Weitere Ausschlussgründe“) wohl als Ausschlussgrund gewertet wird, wenn ein Kandidat der CDU in eine Vertretungskörperschaft gewählt ist und der CDU-Fraktion nicht beitritt oder aus ihr ausscheidet. § 6 Abs. 3 der Bundessatzung der FDP verpflichtet demgegenüber die parlamentarischen Gruppen der Partei, ein rechtskräftig ausgeschlossenes oder ein Vgl. Strunk, JZ 1978, 87. Strunk, JZ 1978, 91. Zur Öffentlichkeit der Parteien allgemein vgl. Morlok (Fn. 34), Art. 21 Rn. 109 ff. 90 Siehe dazu unten III. 4. 91 Vgl. zum Fall des durch Urteil des Bezirksschiedsgerichtes Oberbayern der CSU vom 30. November 1981 aus der CSU ausgeschlossenen Alfred Mechtersheimer Hasenritter, ZRP 1982, 94 f. 92 Vgl. den vom Bundesparteigericht der CDU durch Beschluss vom 22. April 1997 – BPG 4 / 96 – NVwZ-RR 1999, 153 ff. bestätigten Ausschluss eines Parteimitglieds wegen mehrerer rechtsextremistischer Äußerungen. Vgl. dazu Launhardt, MIP 9 (1999), 137. 93 Vgl. zum Ausschluss des SPD-Bundestagsabgeordneten Karl-Heinz Hansen durch die Entscheidung der Bundesschiedskommission der SPD vom 19. Januar 1982 Hasenritter, ZRP 1982, 95 f. 94 Vgl. zum „Spannungsverhältnis“ des freien Abgeordnetenstatus zur Parteibindung Streinz (Fn. 29), Art. 21 Rn. 86 f. m. w. N. 88 89
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ausgetretenes Parteimitglied aus ihrer Gruppe auszuschließen. Die Satzungen der anderen Parteien enthalten, soweit ersichtlich, insoweit keine ausdrücklichen Festlegungen. Die Praxis dürfte – jedenfalls auf kommunaler Ebene – unterschiedlich sein.95 3. Unterstützung konkurrierender Parteien bzw. Gruppierungen a) Allgemein Die Unterstützung konkurrierender Parteien bzw. Gruppierungen stellt mit den schwersten Angriff gegen die „eigene“ Partei dar. Er verursacht wegen der Aufmerksamkeit, die ein solches Verhalten – je nach der Prominenz des betreffenden Parteimitglieds – erregt, und der Ansatzpunkte, die es für die Argumentation und Propaganda des Gegners liefert, besonders schweren Schaden und berechtigt daher sicherlich zum Ausschluss aus der Partei. b) Kandidatur auf anderen Wahlvorschlägen (insbesondere bei Kommunalwahlen) Während die Kandidatur auf der Liste einer anderen politischen Partei bei Bundes- und Landtagswahlen ebensowenig geduldet wird wie eine „Doppelmitgliedschaft“96 bei mehreren Parteien, ist die Praxis hinsichtlich der Kandidatur auf anderen als den Parteilisten bei Kommunalwahlen unterschiedlich. Eine ausdrückliche „Einwilligung“ in solche Kandidaturen wird allenfalls dann erfolgen, wenn die andere kommunale Wahlliste nicht in politischer Gegnerschaft steht. Die Bandbreite reicht hier von bloß geduldeten bis hin zu sogar erwünschten Kandidaturen, die wiederum das Problem sog. „Tarnlisten“ aufwerfen.97 Ob die Partei auf solche Kandidaturen mit dem Ausschluss reagiert,98 unterliegt im Rahmen des Willkürverbots dem Ausschließungsermessen der Parteischiedsgerichte. 99 4. Sog. Unvereinbarkeitsbeschlüsse § 6 Abs. 2 des Organisationsstatus der SPD enthält die ausdrückliche Bestimmung, dass mit der Mitgliedschaft in der SPD die gleichzeitige Mitgliedschaft in Vereinigungen „unvereinbar“ ist, die gegen die SPD wirken. Die Feststellung der 95 Vgl. zur (damaligen) Praxis der CSU den Vorsitzenden des Landesschiedsgerichts Lückemann im Interview mit De Petris, MIP 9 (1999), 118. Siehe dazu auch unten III. 3. b). 96 Vgl. die ausdrückliche Regelung in § 6 Abs. 1 S. 1 SPD-Organisationsstatut; § 12 Nr. 1 CDU-Statut; § 8 Abs. 1 lit. e CSU-Satzung. 97 Siehe dazu oben Fn. 21. 98 Vgl. zur unterschiedlichen Praxis der CSU die in Fn. 23 genannten Fälle. 99 Vgl. dazu Strunk, JZ 1978, 90 m. w. N.
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„Unvereinbarkeit“ und ggf. ihre Wiederaufhebung trifft der Parteivorstand im Einvernehmen mit dem Parteirat. Aufgrund von solchen „Unvereinbarkeitsbeschlüssen“ bzw. Beschlüssen, die als solche gewertet wurden, hat die SPD in den 70er Jahren eine Reihe von Parteiordnungsverfahren bis hin zum Ausschlussverfahren eingeleitet, von denen das wohl bekannteste gegen den Bundesvorsitzenden der Jungsozialisten, Klaus-Uwe Benneter, wegen dessen ideologischer Nähe zur DKP als Vertreter der sog. „Stamokap-Theorie“, geführt wurde; 1977 wurde er aus der SPD ausgeschlossen.100 Dass die SPD deutlich stärker als andere Parteien zu diesem Mittel griff,101 dürfte durch die zu dieser Zeit bestehenden außergewöhnlich starken innerparteilichen Kontroversen begründet sein, die sich nach einigen Jahren legten. Ausdruck dafür ist, dass „Stamokap“ später als scherzhafte Bezeichnung für eine Trophäe bei Juso-Fußballturnieren – auch das gab es früher – verwendet wurde und Klaus-Uwe Benneter selbst 1983 auf Betreiben seines Nachfolgers im Juso-Vorsitz, des späteren Bundeskanzlers Gerhard Schröder, wieder in die SPD aufgenommen wurde und es nach Ämtern in der Berliner SPD und Abgeordneter im Berliner Abgeordnetenhaus 2004 vorübergehend zum Generalsekretär der SPD brachte; jetzt ist er als Bundestagsabgeordneter Mitglied der „Parlamentarischen Linken“ in der SPD-Fraktion und Justitiar der SPD-Bundestagsfraktion.102 Danach spielten Ausschlussverfahren, wie bei den anderen Parteien ohnehin, auch in der SPD eine eher geringere Rolle.103 „Unvereinbarkeitsbeschlüsse“ waren auch die Grundlage für mehrere Ausschlussverfahren der CDU wegen der Mitgliedschaft in der Scientology-Bewegung.104 Solche Unvereinbarkeitsbeschlüsse sind sicherlich zulässig, da sich eine Partei sowohl von konkurrierenden als auch von mit dem eigenen Programm für unvereinbar angesehenen Bewegungen auch generell abgrenzen können muss. Fraglich ist aber, ob ein Beschluss, der Basis für ein Ausschlussverfahren sein soll, als „Grundsatz“ der Partei im Sinne von § 10 Abs. 4 PartG nicht vom Parteitag selbst beschlossen werden muss – wie in der CDU hinsichtlich des Unvereinbarkeitsbeschlusses in der Frage der Scientology-Church geschehen, die in § 6 Abs. 2 S. 2 des Organisationsstatuts der SPD vorgesehenen Beschlüsse des Parteivorstandes somit nicht genügen.105 Jedenfalls erforderlich ist wegen der zwingenden und konVgl. dazu Strunk (Fn. 11), S. 102 ff. m. w. N. Vgl. dazu Hasenritter (Fn. 11), S. 221 ff.; ders., NJW 1980, 445. 102 Vgl. http: //www.benneter.de/?page=zurperson. 103 Vgl. ebd., S. 8 f.; Lückemann im Interview mit De Petris, MIP 9 (1999), 118. 104 Beschluss des Bundesparteitags der CDU vom Dezember 1991 Nr. C 47: „Die Mitgliedschaft in der Scientology-Church ist mit der CDU-Mitgliedschaft unvereinbar.“ Auf dieser Basis wurden durch Entscheidungen des Bundesparteigerichts der CDU vom 24. September 1996 (Verfahren Az. CDU-BPG 3 / 95 und 1 / 96) höherrangige Mitglieder der Scientology-Church aus der CDU ausgeschlossen. Die dagegen angerufenen staatlichen Gerichte haben die Entscheidungen des CDU-Bundesparteigerichts bestätigt (LG Bonn NJW 1997, 5958; OLG Köln NJW 1998, 3721). Dies wurde vom BVerfG gebilligt, BVerfG NJW 2002, 2227 ff. 105 Kritisch dazu Strunk, JZ 1978, 90 f. 100 101
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kreten gesetzlichen Vorgabe des § 10 Abs. 4 PartG die Ausschlussentscheidung durch ein Parteischiedsgericht. Die in § 20 Abs. 2 S. 4 der SPD-Schiedsordnung vorgesehene Austrittsfiktion genügt nicht.106 Mit § 10 Abs. 4 PartG, der insoweit das verfassungsrechtliche Gebot innerparteilicher Demokratie (Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG) konkretisiert, unvereinbare Satzungsbestimmungen sind nichtig,107 auf ihrer Grundlage getroffene Entscheidungen sind unwirksam.
5. Verstöße gegen die innerparteiliche Solidarität Verstöße gegen die innerparteiliche Solidarität können als „erhebliche“ Verstöße gegen die „Ordnung“ der Partei angesehen werden und, wenn der dadurch verursachte Schaden als „erheblich“ eingestuft werden kann, zum Ausschluss eines Parteimitglieds führen. In Betracht kommen zum einen persönliche Angriffe, zum anderen Verstöße gegen innerparteiliche Absprachen, insbesondere bei der Wahlwerbung. a) Persönliche Angriffe Nach Aussagen des „Insiders“ Hans Peter Bull beruht die überwiegende Zahl der heute durchgeführten Parteiordnungsverfahren nicht auf politisch-inhaltlichen Konflikten, sondern auf persönlichen Rivalitäten und Unverträglichkeiten einzelner Mitglieder.108 Soweit dies zu Gegenkandidaturen für andere Wahlvorschläge führt, wurde dies bereits behandelt.109 Gehässige, grob beleidigende Äußerungen über gegnerische „Parteifreunde“ bis hin zu Tätlichkeiten und Denunziationen können ab einer bestimmten Intensität, insbesondere wenn der Kampf in der Presse ausgetragen wird, Ordnungsmaßnahmen bis hin zu Parteiausschlüssen erforderlich machen.110 Problematischer als solche örtlich, wenn nicht persönlich begrenzten Konflikte sind Parteiordnungsverfahren wegen Kritik an der Parteiführung. Hier ist darauf zu achten, dass Ordnungsmaßnahmen nicht auf den Vorwurf einer Art „Majestätsbeleidigung“ hinauslaufen.111 Angesichts der begrenzten rechtlichen Überprüfung durch staatliche Gerichte am Maßstab des § 10 Abs. 4 PartG dürfte freilich allein eine nachhaltige Einschränkung der durch Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG geforderSiehe zur generellen Unwirksamkeit von Austrittsfiktionen unten III. 4. Zutreffend Morlok (Fn. 34), Art. 21 Rn. 121; ebenso im Ergebnis, allerdings gestützt auf § 134 BGB Pieroth (Fn. 42), Art. 21 Rn. 26; Ipsen (Fn. 28), Art. 21 Rn. 87; Kunig (Fn. 84), Art. 21 Rn. 56. 108 Bull, MIP 10 (2000), 9. 109 Siehe oben III. 3. b). 110 Vgl. Bull, MIP 10 (2000), 10 ff. Daher die sprichwörtliche Steigerung „Feind, Todfeind, Parteifreund“. 111 Kritisch dazu hinsichtlich des Falles Hansen Hasenritter, ZRP 1982, 95 f.; vgl. auch Strunk, JZ 1978, 91. 106 107
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ten innerparteilichen Demokratie zu Beanstandungen führen. Ein erheblicher Verstoß gegen die „Ordnung“ der Partei in diesem Sinne kann auch allein in einer ihrer Form nach beleidigenden oder über eine polemische Zuspitzung hinausgehenden Kritik am innerparteilichen Gegner liegen.112 In den bedeutsameren Fällen der Praxis ging die wegen ihrer Form beanstandete Kritik mit der oben113 behandelten „Fundamentalopposition“ gegen grundlegende Inhalte der Politik der Partei einher.114 b) Verstöße gegen innerparteiliche Absprachen (insbesondere bei der Wahlwerbung) Einen „erheblichen“ Verstoß gegen die „Ordnung“ der Partei kann die Nichteinhaltung von innerparteilichen Absprachen darstellen. In besonders gravierenden Fällen kommen hier Ordnungsmaßnahmen bis hin zum Parteiausschluss in Frage. Zu nennen ist hier insbesondere unsolidarisches Verhalten bei der Wahlwerbung. Derartige Probleme stellen sich bei Wahlverfahren, bei denen, anders als bei den Bundestagswahlen, der Wähler nicht auf „starre“ Listen beschränkt ist und somit nur noch die Partei „ankreuzen“ kann, sondern ihm selbst die Auswahl der einzelnen Kandidaten offen steht. Dies gilt für Kommunalwahlen, in Bayern noch verstärkt durch die Möglichkeit des Kumulierens („Häufelns“) und Panaschierens (Wahl von Kandidaten aus mehreren Listen),115 in Bayern aber auch bei den Landtagswahlen.116 Dies hat zur Folge, dass der Wahlkampf nicht nur zwischen den Parteien, sondern (bisweilen sogar noch heftiger) zwischen den Listenkandidaten derselben Partei stattfindet. An letzterem ist die Gesamtpartei nur insoweit interessiert, als das Eigeninteresse das Engagement der Kandidaten steigert, was auch zu einem guten Gesamtergebnis beitragen kann, nicht aber, wenn sich die „Parteifreunde“ gegenseitig schaden. Sie muss daher zumindest gegen Auswüchse im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben Vorkehrungen treffen und treffen können.117 Als Beispiel sei der Fall des SPD-Abgeordneten im Bayerischen Landtag, Dr. Hartl, genannt, den die Schiedskommissionen der SPD aus der Partei ausschlossen, weil er sich über eine von der SPD beschlossene und von ihm als verbindlich anerkannte Regelung zur Beschränkung der Wahlwerbung durch eine allein auf seine Ebenso Hasenritter, ZRP 1982, 96. Vgl. oben III. 2. 114 Vgl. zum Fall Hansen Hasenritter, ZRP 1982, 95 f. 115 Vgl. Art. 34 des bayerischen Gesetzes über die Wahl der Gemeinderäte, der Bürgermeister, der Kreistage und der Landräte (Gemeinde- und Landkreiswahlgesetz – GLKrWG) i. d. F. d. Bek. v. 7. November 2006, aktuelle Fassung in: Ziegler / Tremel, Verwaltungsgesetze des Freistaates Bayern, Loseblatt, Nr. 290. 116 Vgl. Art. 38 des bayerischen Gesetzes über Landtagswahl, Volksbegehren und Volksentscheid (Landeswahlgesetz – LWG) i. d. F. d. Bek. v. 5. Juli 2002, aktuelle Fassung in: Ziegler / Tremel (Fn. 115), Nr. 430. 117 Zur Zulässigkeit solcher Beschränkungsmaßnahmen vgl. BGH NJW 1994, 2612 f. 112 113
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Person ausgerichtete und die regelungstreuen Mitbewerber auf der eigenen Liste benachteiligende Werbeaktion hinweggesetzt hat. Es handelte sich dabei freilich nicht um eine Kleinigkeit, wie sie immer wieder vorkommt, sondern um eine besonders aufwendige Aktion: Über eine kommerzielle Werbeagentur wurden etwa 480.000 mit Namen, Anschrift und einem Foto des Kandidaten versehene Werbebriefe an Wählerinnen und Wähler in ganz Oberbayern (das war der betreffende Wahlkreis) verschickt, in denen der Kandidat unter Vorstellung seiner persönlichen Lebensumstände und der Schwerpunkte seiner Wirkungsbereiche darum bat, ihm die Zweitstimme zu geben. Zugleich setzte er unter der Überschrift „Gewinnen Sie mit Dr. Hartl, MdL!“ drei „Traumreise-Tickets“ nach New York, Paris und Wien zur Verlosung aus, wobei Einsendeschluss der Wahltag sein sollte. Unter der Beschreibung der zu gewinnenden Preise wurde eine Erläuterung der Voraussetzungen für eine gültige Stimmabgabe bei der Wahl mit dem Einschub „SPD Bayern“ angebracht; einen sonstigen Hinweis darauf, für welche Partei der Betreffende kandidierte, enthielt der Text des Werbebriefs nicht. Die gegen den Ausschluss durch das Parteischiedsgericht erhobene Klage vor den staatlichen Gerichten blieb erfolglos: LG und OLG München wiesen die Klage ab, der BGH wies die Revision zurück, wobei sich alle Instanzen eingehend mit der Frage der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme im Rahmen der Prüfung ihrer „Unbilligkeit“ auseinandersetzten. 118
6. Das Problem „fingierter Austritte“ bzw. eines automatischen Verlusts der Mitgliedschaft Neben einer Reihe von Tatbeständen des automatischen Verlusts der Mitgliedschaft, die sich entweder von selbst verstehen (z. B. Tod des Parteimitglieds) oder die Folge gesetzlicher Vorgaben sind (z. B. Verlust des aktiven oder passiven Wahlrechts infolge Richterspruchs, vgl. § 10 Abs. 1 S. 4 PartG),119 enthalten die Parteisatzungen bzw. -statute Gründe über den automatischen Verlust der Mitgliedschaft, die äußerst problematisch sind. Dabei handelt es sich um Rückstände mit der Zahlung des Beitrags, Doppelmitgliedschaften und die Kandidatur für andere Parteien oder Wählergruppen. a) Unterbliebene Beitragszahlung Gemäß § 9 Abs. 2 des Statuts der CDU ist „als Erklärung des Austritts aus der Partei“ zu behandeln, wenn ein Mitglied mit seinen persönlichen Mitgliedsbeiträgen oder mit etwaigen Sonderbeiträgen120 länger als sechs Monate in Zahlungsverzug ist, innerhalb dieser Zeit schriftlich gemahnt wurde und anschließend auf eine 118 119 120
BGH NJW 1994, 2612 f. Vgl. zu solchen Tatbeständen Klein (Fn. 11), Art. 21 Rn. 381 m. w. N. Siehe zu deren Verfassungswidrigkeit oben Fn. 66.
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zweite als Einschreibebrief erfolgte Mahnung trotz Setzung einer Zahlungsfrist von einem Monat und trotz schriftlichen Hinweises auf die Folgen der Zahlungsverweigerung die rückständigen Mitgliedsbeiträge nicht bezahlt. Der Kreisvorstand stellt die Beendigung der Mitgliedschaft fest und hat dies dem ausgeschiedenen Mitglied schriftlich mitzuteilen. Eine ähnliche Regelung enthält hinsichtlich der Beitragsrückstände § 1 Abs. 5 der Finanzordnung der SPD. Gemäß § 9 Abs. 1 der Satzung der CSU erlischt die Mitgliedschaft, wenn ein Mitglied trotz zweimaliger schriftlicher Mahnung unter Hinweis auf die Folgen mit seiner Beitragsleistung mehr als sechs Monate im Rückstand ist und innerhalb weiterer zwei Monate kein gegenteiliger Beschluss des Ortsvorstands gefasst wird. Das OLG Bamberg hat eine solche „Streichung“ eines CSU-Mitglieds aus der Mitgliederliste wegen eines Beitragsrückstandes als „vereinfachtes Ausschließungsverfahren“ angesehen, „das an einen einfachen, leicht feststellbaren Sachverhalt anknüpft“.121 Dem kann nicht gefolgt werden.122 Denn es handelt sich auch hier um einen „Ausschluss“ eines Parteimitglieds, für den nach der zwingenden123 Vorschrift des § 10 Abs. 5 S. 1 PartG nur das zuständige Schiedsgericht der Partei entscheiden darf. Dabei spielt es keine Rolle, dass die unterbliebene Beitragszahlung einen „unpolitischen“124 Hintergrund haben mag, was im Übrigen keineswegs zwingend ist (Beitragsverweigerung aus Protest gegen die Politik der Partei). Für die Nichterfüllung der Beitragspflicht sieht im übrigen § 10 Abs. 2 S. 1 PartG als mögliche Sanktion die Suspendierung des Stimmrechts vor.125 Zumindest bei beharrlicher Beitragsverweigerung ist allerdings in der Regel ein Ausschlussgrund im Sinne des § 10 Abs. 4 PartG gegeben.126 b) Doppelmitgliedschaft Nach § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 CSU-Satzung endet die Mitgliedschaft durch den Eintritt in eine andere Partei. § 6 Abs. 1 lit. a des Organisationsstatuts der SPD i. V. m. § 20 Abs. 2 S. 4 SPD Schiedsordnung nimmt für den Fall der gleichzeitigen Mitgliedschaft in einer anderen Partei eine Austrittsfiktion an. Sowohl der automatische Beendigungstatbestand als auch die Austrittsfiktion sind wegen Umgehung des durch § 10 Abs. 5 PartG zwingend vorgeschriebenen Ausschlussverfahrens unzulässig und unwirksam.127 Der Beitritt zu einer anderen Partei kann 121 OLG Bamberg NVwZ 1983, 572. Im konkreten Fall wurde die Streichung lediglich wegen eines Verfahrensfehlers für unwirksam erklärt. 122 Anders für den Fall unterbliebener Zahlungen trotz Mahnung noch Streinz (Fn. 29), Art. 21 Rn. 166 m. w. N., allerdings bereits unter Hinweis auf § 10 Abs. 2 S. 2 PartG. 123 Anders BGHZ 73, 275 (280 f.), wonach die Vorschrift Ausnahmen zulasse. Zu Recht kritisch dazu Ortmann (Fn. 11), S. 60 Fn. 260. 124 Darauf möchte Risse, NVwZ 1983, 530 abstellen. 125 Ebenso Ortmann (Fn. 11), S. 49. 126 Vgl. Klein (Fn. 11), Art. 21 Rn. 382.
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auch nicht als konkludente Austrittserklärung gewertet werden, da dem der tatsächliche Wille des Doppelmitglieds ersichtlich entgegensteht.128 Allerdings ist in diesen Fällen ohne weiteres ein Ausschlussgrund im Sinne des § 10 Abs. 4 PartG gegeben.129 c) Kandidatur für eine andere Partei oder Wählergruppe Die Austrittsfiktion des SPD-Organisationsstatuts soll auch für den Fall gelten, dass ein Parteimitglied für eine andere politische Partei tätig ist, kandidiert oder zur Unterstützung die Unterschrift leistet.130 Auch dies ist wegen Verstoß gegen § 10 Abs. 5 PartG unzulässig und unwirksam. Jedoch ist, wenn die Kandidatur gegen den Willen der Partei erfolgt, in der Regel ein Ausschlussgrund gegeben.131
7. Widerruf der Mitgliedschaft seitens der Partei wegen arglistiger Täuschung Gemäß § 8 Abs. 2 CDU-Statut kann der zuständige Kreisvorstand eine Aufnahmeentscheidung widerrufen, wenn das betreffende Mitglied in seinem Aufnahmeantrag oder sonst zu entscheidungserheblichen Fragen schuldhaft falsche Angaben gemacht oder wesentliche Umstände verschwiegen hat. Dadurch scheidet ein Mitglied zwar aus der Partei und damit dem innerparteilichen Willenbildungsprozess aus. Es handelt sich dabei jedoch nicht um einen Ausschluss, der in § 10 Abs. 4, 5 PartG abschließend geregelt ist. Denn der Grund für das Ausscheiden liegt nicht in einem Verhalten als Parteimitglied, das unter Berücksichtigung des Gebots innerparteilicher Demokratie gewürdigt werden muss, sondern in seinem Verhalten vor Erlangung der Mitgliedschaft. Wenn aber eine Partei ein Mitglied in voller Kenntnis der Sachlage legitimerweise nicht aufgenommen hätte, dann hätte dieses jetzt ebenso wenig die Möglichkeit, am Willensbildungsprozess mitzuwirken. Der Sache nach handelt es sich um eine Anfechtung der Willenserklärung wegen arglistiger Täuschung (§ 123 Abs. 1 BGB).132
127 Streinz (Fn. 29), Art. 21 Rn. 166; Ortmann (Fn. 11), S. 59 m. w. Nw. Zur Nichtigkeit solcher Satzungsbestimmungen siehe oben Fn. 91. 128 Klein (Fn. 11), Art. 21 Rn. 382; Ortmann (Fn. 11), S. 59. 129 Vgl. insoweit § 12 Nr. 1 CDU-Statut. 130 Vgl. § 6 Abs. 1 lit. b Organisationsstatut i. V. m. der differenzierenden Regelung in § 20 Abs. 1 der Schiedsordnung, wonach das Schiedsgerichtsverfahren bei dieser Austrittsfiktion – im Gegensatz zu einer Zuwiderhandlung gegen einen Unvereinbarkeitsbeschluss – nicht zum Tragen kommt. 131 Siehe dazu oben III. 3. 132 Ortmann (Fn. 11), S. 58; im Ergebnis ebenso Risse (Fn. 11), S. 116.
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8. Wiederaufnahme ausgeschlossener Parteimitglieder Da der Ausschluss eines Parteimitglieds auf besondere, schwerwiegende Gründe gestützt werden muss und in der Praxis von den Parteien nur als ultima ratio eingesetzt wird bzw. eingesetzt werden soll, sind die Parteien zu Recht hinsichtlich der Wiederaufnahme ausgeschlossener Mitglieder besonders vorsichtig und unterwerfen Wiederaufnahmeanträge einer gesonderten Prüfung.133 Wegen der besonderen Situation ist diese abweichende Behandlung gegenüber „normalen“ Aufnahmeanträgen gerechtfertigt.
IV. Ausblick Wie die Praxis der Schiedsgerichte aller Parteien und insbesondere ihre weitgehende Nichtbeachtung nicht nur durch die Öffentlichkeit, sondern auch durch die Parteimitglieder selbst zeigen, spielen Ordnungsmaßnahmen gegen und Ausschlüsse von Parteimitgliedern in der Regel eine untergeordnete Rolle. Lediglich in Zeiten erheblicher innerparteilicher Kontroversen und beim Ausschluss besonders prominenter Parteimitglieder – wie jetzt z. B. Wolfgang Clement – interessiert sich auch die Öffentlichkeit dafür. Sie sind insoweit ein Spiegelbild der Bewegtheit der politischen Lage in einem Land. Ungeachtet dessen ist die Regelung von Ordnungsmaßnahmen bis hin zum Parteiausschluss, der dem Betroffenen jedenfalls in dieser Partei faktisch die politische „Mitwirkungsmöglichkeit“ (vgl. Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG) nimmt, von grundlegender Bedeutung für das Gebot innerparteilicher Demokratie (vgl. Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG) und damit für das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Angesichts dessen bietet es sich an, dem Thema nicht nur, wie geschehen, in „unruhigen Zeiten“ verstärkte Aufmerksamkeit zu widmen, sondern gerade in ruhigen Zeiten die Parteisatzungen bzw. Parteistatuten – soweit dies noch nicht geschehen ist – mit den verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Vorgaben in Einklang zu bringen. Dabei kann die Wissenschaft, die ein eigenes Rechtsgebiet „Parteienrecht“ entwickelt, Hilfestellung leisten.
V. Thesen 1. Das Europarecht (Europäische Menschenrechtskonvention; EU-Vertrag; EGVertrag) gibt keine speziellen Vorgaben für Ordnungsmaßnahmen gegenüber den Mitgliedern politischer Parteien bis hin zum Parteiausschluss. Zu beachten sind jedoch als allgemeine Rahmenbedingungen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie. 133 Vgl. § 61 Abs. 2 CSU-Satzung: Ein ausgeschlossenes Mitglied kann nur mit Zustimmung des Präsidiums wieder aufgenommen werden.
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2. Verfassungsrechtlich liegen Ordnungsmaßnahmen und Parteiausschluss im Spannungsfeld zwischen der ausdrücklich vorgeschriebenen innerparteilichen Demokratie und dem aus der Gründungsfreiheit (Art. 21 Abs. 1 S. 2 GG) und der Stellung und Aufgabe der politischen Parteien im Verfassungsgefüge (Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG) folgenden Recht zur Programmautonomie und zur Wahrung der sog. Tendenzreinheit. Beide Rechte sind nach dem Grundsatz der Herstellung praktischer Konkordanz (Konrad Hesse) zu vereinbaren. 3. Für Ordnungsmaßnahmen schreibt das Parteiengesetz vor, dass die zulässigen Ordnungsmaßnahmen, ihre materiellen Voraussetzungen und die Zuständigkeiten zu ihrer Verhängung in den Satzungen der politischen Parteien zu regeln sind. Ein Begründungszwang wird ausdrücklich für den Fall der Enthebung von Parteiämtern oder der Aberkennung der Fähigkeit zu ihrer Bekleidung vorgeschrieben. 4. Für den Ausschluss von Parteimitgliedern enthält das Parteiengesetz die (allgemeine) materielle Vorgabe und Verfahrensregeln (Schiedsgericht; Berufungsmöglichkeit; Begründungszwang; vorläufige Suspendierung). 5. Die politischen Parteien haben entsprechend den Vorgaben des Parteiengesetzes Ordnungsmaßnahmen und Ausschluss des Parteimitglieds in ihren Satzungen, Statuten, Schiedsordnungen und Schiedsgerichtsordnungen geregelt. Besondere Bestimmungen bestehen für die Wiederaufnahme einer aus der Partei ausgeschlossenen Person. 6. Die materiellen Tatbestände der Ausschlussgründe sind in § 10 Abs. 4 PartG allgemein festgelegt. Danach kann ein Mitglied nur dann aus der Partei ausgeschlossen werden, wenn es vorsätzlich gegen die Satzung oder erheblich gegen Grundsätze oder Ordnung der Partei verstößt und ihr damit schweren Schaden zufügt. Leitlinie ist damit das Gewicht des Verstoßes. Ordnungsmaßnahmen können an geringere Verstöße anknüpfen. Im Verhältnis von Ordnungsmaßnahmen und Ausschluss ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (z. B. Suspendierung oder befristetes Verbot, Parteiämter zu bekleiden, statt Ausschluss). 7. In der Praxis der Parteien können verschiedene Gesichtspunkte bzw. Fallgruppen für die Verhängung von Ordnungsmaßnahmen und Ausschlüssen herausgearbeitet werden (Verstoß gegen politische Grundsätze; Verstoß gegen die innerparteiliche Solidarität; Unterstützung des politischen Gegners; Rückstand mit Beitragszahlungen). Eine besondere Fallgruppe, die auch besondere Probleme aufwirft, sind die sog. Unvereinbarkeitsbeschlüsse. Diese dienen zum einen der Wahrung der Tendenzreinheit gegenüber politischen Gegnern am jeweiligen Rand nach „Links“ bzw. „Rechts“. Damit soll aber auch dem politischen Gegner die Möglichkeit entzogen werden, auf die fehlende Abgrenzung zu extremen („verfassungsfeindlichen“) Parteien hinzuweisen und daraus politisches Kapital zu schlagen. Ein weiterer Fall ist die Abgrenzung zu als bedenklich empfundenen Vereinigungen (z. B. Scientology).
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8. Das Spannungsfeld zwischen innerparteilicher Demokratie und Parteiautonomie (Tendenzreinheit) wirkt sich auch auf den Rechtsschutz der Parteimitglieder, insbesondere auf die Kontrolldichte, aus. Dies gilt zum einen innerparteilich („Gewaltenteilung“ zwischen Mitgliederversammlung, Parteitag und Vorstand einerseits, Parteigerichtsbarkeit andererseits), zum anderen im Verhältnis zu den staatlichen Gerichten. 9. Die Praxis von Ordnungsmaßnahmen und Ausschlüssen von Parteimitgliedern ist in gewisser Hinsicht ein Spiegelbild der Bewegtheit der politischen Lage in einem Land. Nicht von ungefähr wurde das Thema insbesondere Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre vertieft behandelt. Aktuelle Fälle ergeben sich insbesondere aus dem Richtungsstreit in der SPD. 10. Das Thema Ordnungsmaßnahmen und Ausschluss des Parteimitglieds belegt das Erfordernis der Fortentwicklung des eigenen Rechtsgebiets „Parteienrecht“. Es erstaunt, dass mehr als 40 Jahre vergehen mussten, bis spezielle Kommentare zum Parteiengesetz erschienen bzw. angekündigt sind.
Gewaltenteilung im deutschen und amerikanischen Verfassungsrecht Von Kay Windthorst
Betrachtet man das Verhältnis zwischen Deutschland als Teil Europas und den USA in den letzten Jahren, scheint dieses zwei Eisschollen zu gleichen, die infolge des äußeren Drucks langsam auseinanderdriften. Die äußeren Anzeichen hierfür sind unübersehbar. „Irak-Krieg“, „Guantanamo“, „Verhältnis zu Russland“ – um nur einige Glieder in der Kette der Streitfragen zu nennen. Beschränkt sich diese Entfernung oder zumindest Entfremdung auf den politischen, insbesondere außenpolitischen Bereich, oder hat die Erosion auch bereits das Rechtsverständnis erfasst? Diese Kernfrage soll in Bezug auf ein tragendes Verfassungsprinzip beantwortet werden, das dem Grundgesetz und der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika zugrunde liegt: die so genannte Gewaltenteilung.
I. Geschichtliche Entwicklung der Gewaltenteilung in den USA und in Deutschland 1. Übergreifende Bedeutung dieses Organisationsprinzips trotz divergierender Begrifflichkeit Die Bezeichnung „Gewaltenteilung“ wird in der deutschen Rechtssprache zunehmend durch Begriffe wie „Gewaltentrennung“,1 „Gewaltengliederung“,2 „Funktionenteilung“,3 „Funktionentrennung“4 und „Funktionenordnung“5 verdrängt. Dieser Wandel in der Terminologie spiegelt ein verändertes Verständnis dieses Organisationsprinzips wider. Es ist nicht durch strikte Trennung der staatlichen Gewalten charakterisiert. Im Vordergrund steht vielmehr die Organisation von Herrschaft 1 Vgl. schon Peters, Die Gewaltentrennung in moderner Sicht, 1954; aus neuerer Zeit Horn, AöR 127 (2002), 428 ff. 2 Grundlegend Möllers, Gewaltengliederung, 2005; zuletzt Hoffmann-Riem, Festschrift Schneider, 2008, S. 183. 3 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 520. 4 Diese Bezeichnung taucht etwa bei Horn, AöR 127 (2002), 431, auf. 5 S. etwa Achterberg, Probleme der Funktionenordnung, 1970, passim; Möllers (Fn. 2), S. 25, erkennt nur eine synonyme Verwendung der Begriffsteile „Gewalt“ und „Funktion“ an.
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durch sachangemessene Aufteilung, Gliederung und Balancierung staatlicher Funktionen und Verantwortung im Rahmen einer zwar arbeitsteiligen, aber aufeinander bezogenen Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben.6 Trotz dieser Entwicklung wird für die rechtsvergleichende Betrachtung weiterhin der herkömmliche Begriff „Gewaltenteilung“ gebraucht, weil die amerikanische Rechtsprechung und Rechtswissenschaft ganz überwiegend an der Bezeichnung „separation of powers“ festhalten.7 In der Sache eignet sich die Gewaltenteilung in besonderem Maße für eine vergleichende Untersuchung, weil sie die amerikanische und die deutsche Verfassungsrechtsordnung prägt. Sie bildet in beiden Ländern die Grundlage für das Zusammenwirken der verschiedenen Teile staatlicher Gewalt und dient hier wie dort dem Schutz der Freiheitssphäre des Bürgers. Hinzu kommt, dass der Grundsatz der Gewaltenteilung auf gemeinsame geistesgeschichtliche Wurzeln zurückgeht. Ein wichtiger Kristallisationspunkt sind Überlegungen von Charles de Montesquieu,8 der bereits im Jahre 1748 in seinem Opus Magnum „De l’ Esprit des Lois“ zwischen gesetzgebender, vollziehender und richterlicher Gewalt unterschied.9 Diese grundsätzliche Strukturierung staatlicher Gewalt markiert auch nach dem Übergang zu einer demokratischen Verfassungsordnung trotz ausgreifender Differenzierungen und Verschränkungen weiterhin den Nukleus der Gewaltenteilung.10 Allerdings ist dieser Grundsatz zu verschiedenen Zeitpunkten in den Verfassungen der Vereinigten Staaten und Deutschlands verankert und in der Folgezeit teilweise unterschiedlich interpretiert worden.
Dazu Horn, AöR 127 (2002), 450; Hoffmann-Riem (Fn. 2), S. 183 f. Nur vereinzelt tauchen abweichende Bezeichnungen wie z. B. „coordinated powers“ auf, vgl. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, 1959, S. 14 f. 8 Nach Ansicht v. Unruhs, DVBl. 1976, 455, wirkt das Genius Montesquieus seitdem wie ein Medium der staatstheoretischen Beziehungen zwischen Deutschland und den USA; dessen Konzeption knüpfte ihrerseits an Ideen von John Locke an, dazu und zu frühen Ansätzen, die bis zu Aristoteles zurückreichen, Stern (Fn. 3), S. 514 ff., 523; für die amerikanische Verfassung Beck, Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Nordamerika, 1926, S. 279 f. 9 „Puissance lègislative“, „puissance exécutrice“ und „puissance de juger“, dazu etwa Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, 1997, S. 29 ff.; Weber-Fas, JuS 2005, 883. 10 Zur Ausrichtung von Montesquieus Konzeption der Gewaltenteilung auf die damalige Gesellschaftsordnung in England unter unzutreffenden Vorstellungen von dem dort geltenden Verfassungsrecht Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, 1960, S. 221; Horn, AöR 127 (2002), 434 f. 6 7
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2. Entstehung und Interpretation der Gewaltenteilung im amerikanischen Verfassungsrecht a) Verankerung der Gewaltenteilung in der amerikanischen Verfassung Die Gewaltenteilung wird in der amerikanischen Verfassung von 1787, die bis heute weitgehend unverändert fort gilt,11 nicht ausdrücklich erwähnt. Sie ergibt sich aber unmittelbar aus der Struktur der Bestimmungen, in der die „klassische“ Dreiteilung der staatlichen Gewalt klar erkennbar ist.12 Art. I regelt die Stellung des Kongresses, der aus dem Repräsentantenhaus und dem Senat besteht. Sein § 1 vertraut alle durch die Verfassung verliehenen gesetzgebenden Kompetenzen dem Kongress an, der somit der Gesetzgeber auf Bundesebene ist. Art. II normiert die Wahl, die Stellung, die Aufgaben und die Möglichkeit der Amtsenthebung des Präsidenten der Vereinigten Staaten.13 § 1 Abs. 1 S. 1 dieses Artikels weist ihm die exekutive Gewalt auf Bundesebene zu. Art. III enthält Vorgaben für die rechtsprechende Gewalt der Vereinigten Staaten. Sein § 1 S. 1 ordnet sie einem Obersten Gerichtshof (Supreme Court) und unteren Bundesgerichten zu, die vom Kongress errichtet werden können. Die Unabhängigkeit der Bundesrichter gegenüber dem Kongress und dem Präsidenten wird gemäß Art. III § 1 S. 2 dadurch gesichert, dass sie grundsätzlich auf Lebenszeit im Amt verbleiben und ihr Gehalt nicht vermindert werden darf.14 Diese Gliederung der Staatsgewalt ist Ausdruck der Gewaltenteilung. Diese ist wiederum nicht lediglich eine staatstheoretische Konzeption, die der amerikanischen Verfassung voraus liegt, sondern ein Grundsatz mit normativem Gehalt, der Eingang in das amerikanische Verfassungsrecht gefunden hat und dieses prägt.15 Daraus ergibt sich zunächst eine wichtige Konsequenz: Die Bedeutung der Gewaltenteilung in den Vereinigten Staaten erschöpft sich nicht in der einmaligen Aufteilung der Staatsgewalt. Vielmehr muss das damit verfolgte Ziel dauerhaft bei der Ausübung von Staatsgewalt beachtet werden. Montesquieu sah das wesentliche 11 Vgl. Currie, Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, 1988, S. 9 ff.; die wichtigste Änderung erfolgte bereits 1791 durch die Einfügung der ersten zehn Amendments, den so genannten Bill of Rights, dazu ders., a. a. O., S. 13 f., 49 ff.; wesentliche Gründe für die Beständigkeit dieser Verfassung sind einerseits die hohen Hürden für ihre Änderung (dazu Quint, JZ 1986, 620 f., andererseits der elastische, auslegungsfähige Wortlaut vieler Bestimmungen (Haller, Supreme Court und Politik in den USA, 1972, S. 11 f.). 12 S. etwa Quint, JZ 1986, 621; Wieland, AöR 112 (1987), 464. 13 Die Amtsentfernung des Präsidenten setzt seine Verurteilung aufgrund einer Staatsanklage (Impeachment) voraus; näher dazu unten IV. 14 Dieser Grundsatz steht gem. Art. III § 1 S. 2 unter dem Vorbehalt guter Amtsführung („during good behavior“); dies ist zur Sicherung ihrer Unabhängigkeit restriktiv zu verstehen und lässt eine Amtsenthebung nur aufgrund Verurteilung in einem Impeachment-Verfahren zu, s. Art. I § 3 Abs. 6 und 7; dazu Loewenstein (Fn. 7), S. 415 f. 15 So Gwyn, The Meaning of the Separation of Powers, 1965, S. 8, der einen nur deskriptiven Bedeutungsgehalt der Gewaltenteilung ablehnt.
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Ziel der Gewaltenteilung in der Sicherung der Freiheit des Bürgers. Als unerlässliche Voraussetzung hierfür forderte er eine Trennung der Gewalten zur Begrenzung staatlicher Macht und zur Verhinderung ihres Missbrauchs. „Pouvoir arrête le pouvoir“.16 Gewaltentrennung soll Gewaltenhemmung verwirklichen. Sie ist also kein Selbstzweck, sondern in den Dienst der Freiheit des Menschen gestellt.17 b) Herausbildung eines spezifisch amerikanischen Verständnisses der Gewaltenteilung Die amerikanische Verfassung knüpfte an Montesquieus Ideen an,18 ohne dessen Konzeption schematisch zu übernehmen.19 Vielmehr entstand ein spezifisch amerikanisches Verständnis der Gewaltenteilung, das auf die damals herrschenden besonderen Bedingungen, Vorstellungen und Ziele zugeschnitten war.20 Ausgangspunkt war die Deklaration des Staates Virginia vom 29. Juni 1776, die eine Gewaltengliederung in Legislative, Exekutive und Judikative vorsah.21 Diese fand aufgrund des so genannten Virginia-Plans22 Eingang in die Beratungen der Verfassung der Vereinigten Staaten und wurde nach kontroversen Diskussionen23 letztlich ihrer Architektur zugrunde gelegt. Einen grundlegenden Beitrag für die Interpretation der Gewaltenteilung in den Vereinigten Staaten leisteten die von Madison, Hamilton und Jay bereits im Jahre 1788 verfassten Federalist Papers, die bis heute wichtige Hinweise für das Verständnis dieses Verfassungsgrundsatzes enthalten.24 Darin wird betont, dass individuelle Freiheit angesichts der realen Interessengegensätze nur durch ein tatsächliches Gleichgewicht der politischen Kräfte sichergestellt werden kann. Hierfür Montesquieu, De l’Esprit des Lois, 1748, Buch XI Kap. 4. Stern (Fn. 3), S. 518. 18 Näher dazu Gwyn (Fn. 15), S. 100 ff. 19 Vgl. Fraenkel (Fn. 10), S. 220, der zugleich darauf hinweist, dass diese Anknüpfung für das Verständnis des heute bestehenden amerikanischen Regierungssystems von zweifelhaftem Wert ist. 20 Zu Einzelheiten s. Fraenkel (Fn. 10), S. 220 ff. 21 „The legislative, executive and judiciary departments shall be separate and distinct, so that neither exercise the powers properly belonging to the other“; dazu Vile, Constitutionalism and the Separation of Powers, 1967, S. 119; zur Verankerung der Gewaltenteilung in den Verfassungen weiterer Einzelstaaten der damaligen Zeit Fraenkel (Fn. 10), S. 220. 22 So wird der Entwurf für eine neue Verfassung genannt, den Edmund Randolph aus Virginia am 29. Mai 1787 vorlegte. 23 Diese betrafen neben der Verankerung des Prinzips in der Verfassung (dazu Fraenkel [Fn. 10], S. 222 f.; Vile [Fn. 21], S. 147 ff.) die konkrete Machtverteilung zwischen den Staatsgewalten, Filzmaier / Plasser, Die amerikanische Demokratie, 1997, S. 27; letztgenanntes Problem ist bis heute in der amerikanischen und deutschen Verfassungsordnung virulent, s. Möllers (Fn. 2), S. 81 ff. 24 Bedeutsam für die Gewaltenteilung sind insbesondere die Ausführungen Madisons, in: The Federalist Papers, Nr. 47; dazu Gwyn (Fn. 15), S. 5 f.; v. Unruh, DVBl. 1976, 458. 16 17
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reiche die bloße Zuordnung staatlicher Aufgaben zu organisatorisch getrennten Gewalten nicht aus. Im Gegenteil, ein solches Vorgehen würde nach Ansicht der Verfasser unvermeidlich zu einem Übergewicht der Legislative führen, da sie in der Lage wäre, die Exekutive und Judikative durch das Mittel der Gesetzgebung an ihren Willen zu binden. Die hauptsächliche Gefahr für die Freiheit gehe nicht mehr, wie unter der Monarchie, von der Exekutive, sondern von der Legislative aus. Ihr müssten Zügel angelegt werden, um eine „Tyrannei der Mehrheit“ zu verhindern.25 Als geeignetes Instrument hierfür wurde eine gegenseitige Kontrolle und Hemmung – „checks and balances“ – zwischen den verschiedenen Gewalten angesehen, das eine Mäßigung dieser Kräfte, insbesondere der Legislative, gewährleisten sollte.26 c) Trennung und Verschränkung staatlicher Gewalt als Elemente der Gewaltenteilung im amerikanischen Verfassungsrecht Dieses System des Ausgleichs zwischen den Gewalten war von Anfang an in der amerikanischen Verfassung angelegt. Trotz der systematischen Stellung der Art. I bis III und der darin vorgesehenen Aufteilung der Staatsfunktionen war ihre strikte Trennung nicht intendiert.27 Teilweise wurde schon bestritten, dass ein solches Modell im Verfassungsleben überhaupt realisierbar sei.28 Jedenfalls wurde und wird es nicht als wünschenswert erachtet.29 Entscheidend für die Freiheit des Einzelnen ist die Verhinderung einseitiger Machtkonzentration. Die Verteilung hoheitlicher Gewalt auf verschiedene Funktionsträger allein genügt hierfür nicht. Ergänzend ist ihre wechselseitige Überwachung und Hemmung erforderlich. Das impliziert eine gewisse Verschränkung der Gewalten, etwa in Form eines arbeitsteiligen Zusammenwirkens.30 Eine einseitige Interpretation der Gewaltenteilung als strikte Trennung der verschiedenen Zweige staatlicher Gewalt würde zudem der Verfassungspraxis und Verfassungsrechtsprechung widersprechen, denen in den Vereinigten Staaten seit jeher große Bedeutung zukommt.31 Die amerikanische Verfassung enthält an verschiedenen Stellen Berührungsund Integrationspunkte, an denen die Gewaltenträger zusammenarbeiten müssen, um bestimmte Staatsaufgaben zu erfüllen.32 Exemplarisch hierfür ist die Notwen25 Vgl. Madison (Fn. 24); dazu Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, 1974, S. 103 ff.; v. Unruh, DVBl. 1976, 456. 26 Dazu im Einzelnen Loewenstein (Fn. 7), S. 364 f.; Steinberger (Fn. 25), S. 103 ff., jeweils m. w. N. 27 Vgl. Wieland, AöR 112 (1987), 450. 28 Madison (Fn. 24). 29 Vgl. Filzmaier / Plasser (Fn. 23), S. 32. 30 Filzmaier / Plasser (Fn. 23), S. 32. 31 Vgl. Haller (Fn. 11), S. 12 ff.; Wieland, AöR 112 (1987), 450 f.; Möllers (Fn. 2), S. 21 f. 32 Loewenstein (Fn. 7), S. 15.
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digkeit der Unterzeichnung eines Gesetzes des Kongresses durch den Präsidenten33 oder umgekehrt das Erfordernis der Zustimmung des Senats zur Ernennung von Beamten und zum Abschluss von Verträgen durch den Präsidenten.34 Diese Fixpunkte des Zusammenwirkens sind seit Erlass der amerikanischen Verfassung durch andere Integrationstechniken ergänzt worden. In der Verfassungspraxis spielen insoweit vor allem die politischen Parteien eine wichtige Rolle.35 Die Aufteilung staatlicher Macht ist notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung effektiver Freiheitssicherung. Sie darf zudem nicht so weit gehen, dass es zu einer gegenseitigen Abschottung kommt. Denn dies würde in vielen Bereichen eine wirksame Erfüllung staatlicher Aufgaben ver- oder zumindest behindern. Sie erfordert an verschiedenen Stellen ein Zusammenwirken verschiedener Gewalten. Das impliziert einerseits eine Durchbrechung des Trennungsgrundsatzes. Andererseits trägt die dadurch eröffnete wechselseitige Hemmung und Kontrolle der Gewalten im Rahmen eines Systems von „checks and balances“ dazu bei, den Schutz der Freiheit des Einzelnen als wesentliches Ziel der Gewaltenteilung zu gewährleisten. Zu klären bleibt, in welcher Weise die Elemente „Trennung“ und „Verschränkung“ der Funktionen, also „Separation“ und „Cooperation“ oder zumindest „Coordination“,36 im amerikanischen Verfassungsrecht zusammenwirken. Auf dogmatischer Ebene bieten sich zwei Erklärungsmodelle an. Entweder man versteht das Zusammenspiel verschiedener Gewalten als eigenständiges gegenläufiges Prinzip zur Gewaltenteilung, das mit diesem in einen angemessenen Ausgleich zu bringen ist. Oder man fasst „Trennung“ und „Verschränkung“ als Komponenten auf, die der Gewaltenteilung nach amerikanischem Verständnis von vornherein immanent sind.37 Für diese Variante sprechen die Intention der „Väter der Verfassung“, ein System von „checks and balances“ zu etablieren, und die damit einhergehende Anerkennung eines partiellen Ineinandergreifens verschiedener Gewalten bei Erfüllung bestimmter Aufgaben. Der Ausgleich zwischen den gegenläufigen Elementen ist daher unter dem „Dach“ der Doktrin der Gewaltenteilung vorzunehmen. Die hierfür erforderliche Binnenstrukturierung erfolgt durch Auslegung und Konkretisierung dieses Verfassungsgrundsatzes im konkreten Fall. Das geschieht durch das Handeln der Staatsorgane und dessen Überprüfung durch die Gerichte, insbesondere den Supreme Court,38 aber auch die anderen Bundesgerichte, da sie Art. I § 7 Abs. 2 US-Verfassung. Art. II § 2 Abs. 2 US-Verfassung. 35 Vgl. Loewenstein (Fn. 7), S. 15. 36 Loewenstein (Fn. 7), S. 365. 37 In diese Richtung Loewenstein (Fn. 7), S. 365, wonach die „getrennten“ Gewalten zu koordinierten Gewalten werden und das Schema der reinen Gewaltentrennung vom System der koordinierten, wenn auch getrennten Gewalten – separated and coordinated powers – abgelöst wird (Hervorhebungen im Original). 33 34
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ebenfalls zur Verfassungsinterpretation zuständig sind.39 Allerdings ist die Rechtsprechung in dieser Frage wenig konsistent. Teils wird der Aspekt der Trennung, teils die Notwendigkeit der Verschränkung der Gewalten für „checks and balances“ betont.40 Diese Elemente markieren nur die Eckpunkte für die Konkretisierung der Doktrin der Gewaltenteilung durch Staatspraxis und Rechtsprechung. Diese müssen dabei den sich wandelnden tatsächlichen, insbesondere wirtschaftlichen Bedingungen und daraus resultierenden neuen Herausforderungen Rechnung tragen, die vor allem im Verhältnis von Kongress und Präsident immer wieder für Spannungen gesorgt haben.41 Für den Grundsatz der Gewaltenteilung in der amerikanischen Verfassung hat dies zur Folge, dass innerhalb des durch die normative Zuweisung bestimmter hoheitlicher Funktion zu einzelnen Gewalten gezogenen weiten Rahmens der Ausgleich zwischen den widerstreitenden Elementen „Trennung“ und „Verschränkung“ nicht ein für allemal feststeht, sondern einzelfallabhängig immer wieder überprüft und angepasst werden muss. Das hat zu Verschiebungen zwischen Legislative, Exekutive und Judikative in der Verfassungswirklichkeit geführt. Auffällig ist zunächst der Machtzuwachs des Präsidentenamtes, der auf verschiedene Faktoren zurückzuführen ist. So haben die amerikanischen Präsidenten seit dem New Deal unter Franklin D. Roosevelt zunehmend Freiräume, die der Kongress der Exekutive überließ, durch präsidiale Anordnungen (executive orders) ausgefüllt und so Einfluss auf Politik und Verwaltung genommen.42 Dazu trug auch die weite Interpretation der Befugnisse der Exekutive durch die Rechtsprechung bei.43 Außerdem geht die Umgestaltung der Lebensverhältnisse zunehmend vom Präsidenten (und seinem Beraterstab) aus. Dieser tritt mit einem bestimmten Programm an und versteht seine Wahl als Zustimmung des Volkes, dieses durchzusetzen. Eine solche „Programmpräsidentschaft“ drängt zumindest faktisch das Initiativrecht des Kongresses bei der Gesetzgebung zurück.44 Schließlich beansprucht der Präsident bestimmte Vorrechte, insbesondere im Bereich der auswärtigen Beziehungen. Zwar bedarf der Abschluss völkerrechtlicher Verträge nach Art. II § 2 Abs. 2 S. 1 US-Verfassung der Zustimmung von zwei Drittel der Sena38 Vgl. Kommers / Finn / Jacobsohn, American Constitutional Law, 2. Aufl. 2000, S. 112, wonach die gegenwärtige Funktionsweise des Systems getrennter Gewalten und checks and balances mehr das Ergebnis praktischer Handhabung und Politik als von Verfassungsrechtsprechung ist. 39 S. nur Quint, JZ 1986, 622 f.; grundlegend für die Normenkontrollkompetenz der Gerichte ist die Entscheidung Marbury v. Madison aus dem Jahre 1803, 1 Cranch 137; dazu unten Fn. 50. 40 Das wird anhand der Judikatur zur Möglichkeit der Übertragung von Gesetzgebungsbefugnissen vom Kongress auf den Präsidenten deutlich, vgl. unten III 2. 41 Zu diesem Verhältnis im Hinblick auf die Gewaltenteilung Currie (Fn. 11), S. 30 ff. m. w. N. 42 Falke, in: Adams / Czempiel / Ostendorf / Shell / Spahn / Zöller, Die Vereinigten Staaten von Amerika, Bd. 1, 1990, S. 339 f. 43 Kommers / Finn / Jacobsohn (Fn. 38), S. 111. 44 Vgl. Falke (Fn. 42), S. 340.
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toren.45 Trotz der verfassungsrechtlichen Teilung der Macht im Bereich auswärtiger Beziehungen werden diese in der Verfassungsrealität durch den Präsidenten dominiert. Er verhandelt die Verträge und vertritt generell Amerikas Interessen in der internationalen Gemeinschaft.46 Als Gegengewicht zu den Befugnissen des Präsidenten hat die amerikanische Verfassung dem Kongress etwa in Art. I § 9 Abs. 7 das Recht auf Bewilligung von Geldausgaben (power of purse) eingeräumt.47 Darüber hinaus hat der Kongress als Reaktion auf den faktischen Machtzuwachs des Präsidenten Gegenstrategien entwickelt. Dazu zählen die wachsende Zahl an Untersuchungsausschüssen48 und – bis zu seiner Beschränkung durch den Supreme Court im Jahr 1983 – das legislative Veto.49 Auch die Stellung des Supreme Court ist inzwischen stärker als dies von den „Vätern der amerikanischen Verfassung“ ursprünglich vorgesehen war. Der erste und bis heute wichtigste Meilenstein dieser Entwicklung, das richterliche Recht zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Bundesgesetzen, liegt freilich schon über 200 Jahre zurück und ist seit der grundlegenden Entscheidung in dem Fall „Marbury v. Madison“ allgemein anerkannt.50 Nach einem zwischenzeitlichen Niedergang des richterlichen Prüfungsrechts51 ist dessen Bedeutung in den letzten Jahrzehnten wieder erheblich gewachsen. Dazu hat der Kongress selbst beigetragen, indem er eine Ausdehnung der Rechtsprechung der Bundesgerichte ermöglicht und sie zur Überprüfung verfassungsrechtlich zweifelhafter Bundesgesetze geradezu eingeladen hat.52
3. Entstehung und Entwicklung der Gewaltenteilung im deutschen Verfassungsrecht In Deutschland waren die Überlegungen Montesquieus ebenfalls von richtungsweisender Bedeutung für die Gewaltenteilung. 53 Trotz dieser Gemeinsamkeit 45 Das hat in der Vergangenheit zu Konflikten mit dem Präsidenten geführt; dazu Shell, in: Adams / Czempiel / Ostendorf / Shell / Spahn / Zöller, Die Vereinigten Staaten von Amerika, Bd. 1, 1990, S. 319 f.; Kommers / Finn / Jacobsohn (Fn. 38), S. 173 f.: „an invitation to struggle“. 46 S. zur Frage, inwieweit dieser Machtzuwachs in der Struktur der amerikanischen Verfassung angelegt ist, Kommers / Finn / Jacobsohn (Fn. 38), S. 174. 47 Dazu Shell (Fn. 45), S. 316 ff. 48 Näher dazu Shell (Fn. 45), S. 322 ff. 49 Dazu Tribe, American Constitutional Law, 3. Aufl. 2000, S. 141 ff.; Einzelheiten unten III 2. 50 5 Cranch 137 (1803); zu dieser wohl berühmtesten amerikanischen Gerichtsentscheidung und zur weiteren Entwicklung etwa Loewenstein (Fn. 7), S. 421 ff.; Currie (Fn. 11), S. 15 ff.; ausführlich Tribe (Fn. 49), S. 207 ff. m. w. N. 51 Näher dazu Loewenstein (Fn. 7), S. 423 ff. m. w. N. 52 Kommers / Finn / Jacobsohn (Fn. 38), S. 111. 53 Näher dazu Stern (Fn. 3), S. 517 ff., ebda, S. 514 ff., zu Bodin und anderen Vorläufern.
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nahm ihre Entwicklung im deutschen Verfassungsrecht einen anderen Verlauf als in den Vereinigten Staaten. Das wird anhand der folgenden Ausführungen deutlich. Allgemein wird der Inhalt der Gewaltenteilung in Deutschland in weit stärkerem Maße durch den Verfassungstext geprägt.54 Dieser bildet daher den Anknüpfungspunkt für die Darstellung ihrer Entwicklung. a) Ansätze einer Gewaltenteilung in den spätkonstitutionellen Verfassungen Die spätkonstitutionellen deutschen Verfassungen enthielten nur einzelne Elemente der Trennung und Verschränkung der Gewalten. Eine grundsätzliche Aufteilung der Funktionen, wie sie die amerikanische Verfassung in Art. I bis III bereits zum damaligen Zeitpunkt vorsah, lag noch in weiter Ferne. Zwar beeinflusste amerikanisches Verfassungsdenken nachhaltig die so genannte Paulskirchenverfassung vom 28. März 1849.55 Dagegen blieb sein Einfluss auf die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850 jedenfalls in der Frage der Gewaltenteilung gering. Gleichwohl enthält diese Verfassung an einigen Stellen Elemente einer Trennung und Verschränkung der Gewalten. So sieht etwa Art. 62 die Mitwirkung von Volksvertretern bei der Gesetzgebung über die Zweite Kammer vor. Für Mitglieder dieser Kammer und der Ersten Kammer statuiert Art. 78 eine Inkompatibilität. Außerdem muss die richterliche Gewalt nach Art. 86 Abs. 1 im Namen des Königs durch unabhängige Gerichte ausgeübt werden, die keiner anderen Autorität als der des Gesetzes unterworfen sind. Dem Preußischen König allein steht gem. Art. 45 S. 1 die vollziehende Gewalt zu. Seine Vorrangstellung ist unübersehbar, zumal er auch nach Art. 62 die Gesetzgebung gemeinsam mit den beiden Kammern ausübt.56 In der Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 187157 sind solche Strukturelemente einer Gewaltenteilung schwächer ausgeprägt. Unmittelbare Einwirkungen des amerikanischen Verständnisses dieses Organisationsprinzips sind nicht zu erkennen.58 So fehlen beispielsweise entsprechende Vorgaben für die 54 Darauf weisen aus amerikanischer Sicht Kommers / Finn / Jacobsohn (Fn. 38), S. 126, hin; dagegen wird das amerikanische Verfassungsverständnis von Gewaltenteilung stark durch die Staatspraxis und die Rechtsprechung des Supreme Court geprägt. 55 RGBl. S. 101; diese Verfassung ist zwar de jure in Kraft getreten, ihre Regelungen blieben aber faktisch weitgehend wirkungslos; zum Einfluss des amerikanischen Verfassungsdenkens v. Unruh, DVBl. 1976, 457 ff.; Steinberger, 200 Jahre amerikanische Bundesverfassung, 1987, S. 14 ff. 56 Vgl. Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, 6. Aufl. 2007, Rn. 341; zwar bedurften nach Art. 44 S. 2 alle Regierungsakte des Königs zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch einen Minister, der dadurch die Verantwortlichkeit übernahm; dem König stand aber gem. § 45 S. 2 das Recht zur Ernennung und Entlassung der Minister zu. 57 RGBl. S. 63. 58 Vgl. Steinberger (Fn. 55), S. 25.
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Rechtsprechung, die in der Hauptsache den Ländern überlassen wird.59 Der aus den Bundesfürsten zusammengesetzte Bundesrat (Art. 6) beschließt Reichsgesetze und entscheidet über die zu ihrer Ausführung erforderlichen allgemeinen Verwaltungsvorschriften und Einrichtungen (Art. 5 Abs. 1 S. 1, Art. 7 Abs. 1 Nr. 1 und 2).60 Dieses Reichsorgan nimmt somit Legislativ- und Exekutivfunktionen wahr, was der Idee einer Gewaltenteilung zuwiderläuft. Insgesamt steht in dieser Verfassung weniger die Verteilung der Funktionen auf verschiedene Organe als die Verteilung der Kompetenzen für die Regierungsgewalt zwischen dem Reich und den Einzelstaaten im Vordergrund.61 b) Fragile Gewaltenbalance in der Weimarer Reichsverfassung Die vom Deutschen Volk gegebene Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 191962 enthält – im Gegensatz zu einigen in dieser Zeit entstandenen Landesverfassungen63 – kein ausdrückliches Bekenntnis zur Gewaltenteilung. Erneut oder angesichts des Übergangs zur Republik und Demokratie besser: noch immer spielen bei der Organisation des Staates die Zuständigkeiten des Reichs und der Länder sowie deren Eigenständigkeit eine wichtige Rolle. Art. 5 WRV ordnet an, dass die Staatsgewalt in Reichsangelegenheiten durch die Organe des Reichs aufgrund der Reichsverfassung ausgeübt wird, ohne diesen Organen explizit bestimmte Staatsfunktionen zuzuweisen. Allerdings wird in den folgenden Bestimmungen zwischen dem Reichstag (Art. 20 ff. WRV), dem Reichspräsidenten und der Reichsregierung (Art. 41 ff. WRV) sowie dem Reichsrat (Art. 60 ff. WRV) unterschieden. Im Mittelpunkt stehen die Bildung, Zusammensetzung und Auflösung dieser Staatsorgane. Diese organisationsrechtliche Differenzierung wird durch eine Trennung der Staatsfunktionen ergänzt. Sie ergibt sich aus den folgenden Abschnitten V, VI und VII, die gesonderte Regelungen für die Reichsgesetzgebung, die Reichsverwaltung und die Rechtspflege bereitstellen. Regelungstechnische Parallelen zur amerikanischen Verfassung sind nicht von der Hand zu weisen. Jedenfalls kann aufgrund der Struktur der Regelungen und des Gesamtzusammenhangs kein Zweifel daran bestehen, dass der Weimarer Verfassung der Gedanke der Gewaltenteilung zugrunde liegt.64 59 So Thoma, in: Anschütz / Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrecht, Bd. II, 1932, S. 113. 60 Zu weiteren Exekutivbefugnissen des Bundesrats Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, S. 372. 61 Haenel, Deutsches Staatsrecht, Bd. I, 1892, S. 237. 62 RGBl. S. 1383. 63 Exemplarisch hierfür ist die Verfassung des Landes Baden vom 21. März 1919. Sie weist in § 2 S. 2 die Staatsgewalt der Gesetzgebung, der Rechtsprechung und der Vollziehung zu. Diese Formulierung knüpft erkennbar an Überlegungen Montesquieus an. 64 Vgl. Weber-Fas, Deutschlands Verfassung, 1997, S. 117; nach Ansicht von Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 164, verstand die Weimarer Verfassung Gewaltenteilung weniger im funktionalen als im organisatorischen Sinne.
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Freilich weist die Ausgestaltung dieser Gewaltenteilung wesentliche Unterschiede zu früheren deutschen Verfassungen und zur amerikanischen Verfassung auf, obwohl gerade das ausländische Vorbild nicht unerhebliche Anziehungskraft besaß.65 Anders als in den unter der Monarchie entstandenen Verfassungen von 1850 und 1871, die streng zwischen Regierung und Parlament trennten, sah die Weimarer Reichsverfassung in wesentlichen Fragen eine Gewaltenverschränkung vor, die vereinzelt sogar als partielle Gewaltenvereinigung bezeichnet wurde.66 So war etwa die Regierung vom Vertrauen des Parlaments abhängig (Art. 54). Die Exekutive wurde von der Legislative kontrolliert (Art. 34). Der Reichspräsident konnte bei einer schweren Krise das Parlament auflösen (Art. 25 I). Die Kompetenzen des Präsidenten ließen sich zudem nicht in die klassische Trias der Gewaltenteilung einfügen, weil er in allen Bereichen der Staatsgewalt Zuständigkeiten beanspruchen konnte.67 Diese Beispiele zeigen, dass die Weimarer Verfassung von einer (zu) großen Besorgnis geprägt war, dass einzelne Organe über andere eine hegemoniale Stellung erlangen. Um dies zu verhindern, wurde ein kompliziertes System von Zuständigkeitsverschränkungen und wechselseitigen Abhängigkeiten errichtet.68 Das Ziel, ein Höchstmaß an Balance zwischen den verschiedenen Gewalten sicherzustellen, durchzieht die Weimarer Verfassung wie ein roter Faden. Er wurde später zur Zündschnur, weil dieser Balanceakt nur funktioniert, wenn die beteiligten Organe sich ihrer gemeinsamen Verantwortung bewusst sind und ihre Befugnisse dementsprechend ausüben.69 Ob dieses Bewusstsein während der Weimarer Zeit überhaupt jemals in dem erforderlichen Ausmaß bestand, ist fraglich. Jedenfalls war es in der Endphase der Weimarer Republik überwiegend nicht (mehr) vorhanden. In dieser Situation konnte das ganze System durch Besetzung einer wesentlichen Schaltstelle der Macht, dem Amt des Reichkanzlers, durch republikfeindliche Kräfte aus dem Gleichgewicht und zum Einsturz gebracht werden. c) Beseitigung jeder Form von Gewaltenteilung durch den Nationalsozialismus Nach Ernennung von Adolf Hitler zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 durch den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg fiel das auf tönernen Füßen ruhende Gebäude der Weimarer Republik wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Damit war der Weg frei für die Errichtung der menschenverachtenden nationalsozialistischen Diktatur. Die Gewaltenteilung wurde keine drei Monate später durch das so ge65 Das gilt etwa für den hohen Rang des Begriffs „Verfassung“; zur diesbezüglichen Diskussion bei den Beratungen der Weimarer Verfassung nur v. Unruh, DVBl. 1976, 460. 66 So Weber-Fas (Fn. 64), S. 117. 67 Zu Einzelheiten s. Gusy (Fn. 64), S. 102 ff. 68 Vgl. v. Unruh, DVBl. 1976, 461. 69 Weber-Fas (Fn. 64), S. 117 f.
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nannte Ermächtigungsgesetz beseitigt.70 Es ermächtigte die Reichsregierung zum Erlass von Gesetzen, die von der Verfassung abweichen konnten71 und ohne Mitwirkung des Reichsrats vom Reichskanzler ausgefertigt wurden.72 In der Reichsregierung verschmolzen somit Exekutive und Legislative.73 Zugleich wurde die Beteiligung anderer Verfassungsorgane, namentlich des Reichspräsidenten und des Reichsrats, ausgeschlossen.74 Schließlich wurden mit dem Gesetz über den Neuausbau des Reichs vom 30. Januar 1934 auch die letzten Reste der Bundesstaatlichkeit beseitigt.75 Die Volksvertretungen der Länder wurden aufgehoben, die Hoheitsrechte der Länder gingen auf das Reich über und die Landesregierungen wurden der Reichsregierung unterstellt. Diese wurde zugleich zum Erlass neuen Verfassungsrechts ermächtigt. d) Renaissance der Gewaltenteilung nach dem Zweiten Weltkrieg Nach dieser dunklen Epoche erlebte die Gewaltenteilung mit Ende des Zweiten Weltkrieges eine Renaissance. Die Initiative ging von den Ländern aus. Die in den Jahren 1946 und 1947 entstandenen Verfassungen der Länder in den Besatzungszonen der Westlichen Alliierten enthalten das eindeutige Bekenntnis zur Gewaltenteilung. Das folgt vielfach bereits aus der ausdrücklichen Anerkennung dieses Organisationsprinzips im Verfassungstext, ergibt sich im Übrigen jedenfalls aus der Struktur und dem Inhalt der Verfassungsbestimmungen.76 Exemplarisch hierfür ist die Verfassung des Freistaates Bayern vom 2. Dezember 1946.77 Sie ordnet in Art. 5 die gesetzgebende Gewalt ausschließlich dem Volk und der Volksvertretung zu (Abs. 1). Die vollziehende Gewalt liegt in den Händen der Staatsregierung und der nachgeordneten Vollzugsbehörden (Abs. 2). Die richterliche Gewalt wird durch unabhängige Richter ausgeübt (Abs. 3). Dagegen hielten die im gleichen Zeitraum entstandenen Verfassungen der damals noch bestehenden Länder in der Sowjetischen Besatzungszone nur scheinbar an der Gewaltenteilung fest. Zwar gingen sie nach der äußeren Form ihrer Bestimmungen von der Unterscheidung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative 70 Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 24. März 1933, das der Reichstag mit Zustimmung des Reichsrats beschlossen hat, RGBl. I, S. 141; dazu Wadle, JuS 1983, 170 ff. 71 Einzige Einschränkungen waren nach Art. 2 dieses Gesetzes die Einrichtung des Reichstags und des Reichsrats als solche und die Rechte des Reichspräsidenten. 72 Auf diese Weise wurde zugleich das Ausfertigungsrecht des Reichspräsidenten nach Art. 70 WRV ausgehebelt. 73 Zur Instrumentalisierung des Gesetzes durch den Nationalsozialismus Kirschenmann, „Gesetz“ im Staatsrecht und in der Staatsrechtslehre des NS, 1970, S. 53 ff. 74 Dazu Wadle, JuS 1983, 173. 75 RGBl. I, S. 75. 76 Vgl. Stern (Fn. 60), S. 1075 m. w. N. 77 Bay GVBl. S. 333.
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aus und behandelten diese Formen staatlicher Gewalt jeweils in drei gesonderten Abschnitten. In der Sache lehnten sie aber eine wechselseitige Kontrolle und Hemmung der Gewalten – Herzstück einer freiheitssichernden Gewaltenteilung – ab. Vielmehr oblag allein dem Landtag die Kontrolle über die Verwaltung,78 in einigen Ländern auch über Regierung und Rechtsprechung.79 Ein richterliches Recht zur Prüfung von Gesetzen wurde abgelehnt. Vielmehr unterlag die Rechtsprechung als Ausdruck „wahrhafter Demokratie“ der Kontrolle des Landtags als „höchstem“ demokratischen Staatsorgan.80 Die Macht der Volksvertretung sollte nicht beschnitten, sondern von dieser zum Wohle des Volkes ausgeübt werden, was vielfach durch die erwähnte umfassende Kontrolle der Verwaltungsorgane abgesichert wurde. Eine organisatorische und funktionelle Trennung der Gewalten entsprechend der Konzeption Montesquieus war nicht vorgesehen. Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zu den Verfassungen der Länder der westlichen Besatzungszone.81 In den unterschiedlichen Konzeptionen für die Organisation und Ausübung von Staatsgewalt schimmern die gegensätzlichen Modelle von Montesquieu und Rousseau durch: Schutz individueller Freiheit durch séperation de pouvoir wider plebiszitäre Gestaltung des Gemeinwesens durch Herrschaft des volonté generalé.82 e) Ausgestaltung der Gewaltenteilung im Grundgesetz Die Vorarbeiten zum Grundgesetz haben die Gewaltenteilung zunächst nur zögerlich aufgegriffen, obwohl ihre Notwendigkeit prinzipiell anerkannt wurde.83 Gleichwohl enthielt der Herrenchiemseer Entwurf eines Grundgesetzes vom 25. August 1948 in Art. 29 Abs. 3 nur für die Länder ein ausdrückliches Bekenntnis zur Gewaltenteilung. Danach mussten Gesetzgebung, ausführende Gewalt und Rechtsprechung, unbeschadet einer Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Landtag, durch gleichgeordnete Organe ausgeübt werden. Die Verankerung der Gewaltenteilung auf Bundesebene geht auf einen Entwurf von Mangoldts zurück,84 den er dem Grundsatzausschuss am 14. Oktober 1948 vorlegte. Art. 21 Abs. 3 dieses Entwurfs sah vor, dass „in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung die einheitliche Staatsgewalt für jeden dieser Bereiche getrennt durch beson78 Art. 20 der Verfassung von Thüringen; nach Art. 24 Abs. 3 der Verfassung von SachsenAnhalt erstreckte sich die Kontrolle des Landtags auf die gesamte Verwaltung, einschließlich der Justizverwaltung. 79 Vgl. Art. 9 Abs. 2 der Verfassung von Brandenburg; Art. 22 Abs. 2 S. 3 der Verfassung von Mecklenburg; Art. 26 Abs. 1 S. 3 der Verfassung von Sachsen. 80 So Stern (Fn. 60), S. 1087. 81 Vgl. Klein, Neues Deutsches Verfassungsrecht, 1949, S. 213. 82 Dazu nur v. Unruh, DVBl. 1976, 458. 83 Bedenken äußerten allein Vertreter der KPD, dazu Reinhardt (Fn. 9), S. 41. 84 Zum Einfluss des amerikanischen Verfassungsverständnisses von Gewaltenteilung auf das Denken v. Mangoldts v. Unruh, DVBl. 1976, 461 ff.
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dere Organe ausgeübt wird“.85 Diese Fassung enthielt bereits die Elemente der Gewaltenteilung, die den geltenden Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG formen. Durch den Ausdruck „einheitliche Gewalt“ sollte der vom Nationalsozialismus erhobenen Behauptung, durch die Gewaltenteilung erfolge eine Aufsplitterung der Gewalten, entgegengetreten werden.86 Er wurde auf Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses durch Bezugnahme auf die Staatsgewalt ersetzt, ohne dass damit eine inhaltliche Änderung verbunden war.87 Die zentrale verfassungsrechtliche Verankerung der Gewaltenteilung erfolgt durch den letzten Halbsatz des Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG.88 Er verlangt, dass die durch das Volk legitimierte Staatsgewalt durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt wird. Dieses ausdrückliche Bekenntnis zu einer Teilung der staatlichen Funktionen und ihre Zuweisung zu besonderen Organen wird in verschiedenen Zusammenhängen aufgegriffen und weiter ausdifferenziert.89 Das gilt etwa für Art. 20 Abs. 3 GG im Hinblick auf die Verfassungs- und Gesetzesbindung der verschiedenen Teile staatlicher Gewalt und für Art. 1 Abs. 3 GG, der ihre unmittelbare Grundrechtsbindung hervorhebt.90 Außerdem regelt das Grundgesetz die Wahrnehmung der unterschiedenen Staatsfunktionen in jeweils eigenen Abschnitten VII, VIII und IX. Diese Aufgliederung nach den klassischen Gewalten darf indes nicht dahingehend (miss-)verstanden werden, dass dem Grundgesetz die Konzeption einer strikten Gewaltentrennung zugrunde liegt.91 Vielmehr finden sich besonders im Verhältnis von Legislative und Exekutive an vielen Stellen Funktionenverschränkungen, die in beiden Richtungen Einwirkungen auf den anderen Funktionsbereich zulassen.92 Exemplarisch hierfür sind die durch Art. 80 GG eröffnete und begrenzte Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen auf Organe der vollziehenden Gewalt und das Gesetzesinitiativrecht der Bundesregierung nach Art. 76 Abs. 1 GG. v. Mangoldt, JöR n. F. 1 (1951), 195. So v. Mangoldt, JöR n. F. 1 (1951), 196. 87 Vgl. v. Mangoldt, JöR 1 (1951), 197 ff. 88 Reinhardt (Fn. 9), bezeichnet Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG als „positiver grundgesetzlicher Ausgangspunkt der Gewaltenteilung, der das Teilungsprinzip für das Grundgesetz in höchstem Maße ausfüllungs- und konkretisierungsbedürftig, aber gleichwohl verbindlich festlegt“. 89 S. zu den einzelnen Querverbindungen Reinhardt (Fn. 9), S. 17 ff. m. w. N. 90 Zu diesen Ausprägungen einer Funktionentrennung Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 794. 91 Zur Verbindung zur Konzeption Montesquieus und zur Notwendigkeit einer Neubestimmung seiner Idee Stern (Fn. 3), S. 521 ff. 92 Dagegen sind die Funktionenverschränkungen bei der Judikative nur schwach ausgeprägt; der Richter unterliegt zwar gem. Art. 97 Abs. 1 GG der Bindung an das Gesetz, ist aber im Übrigen durch die in dieser Verfassungsnorm garantierte Unabhängigkeit geschützt und somit prinzipiell von den übrigen staatlichen Funktionen gesondert, Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 547; Reinhardt (Fn. 9), S. 20, spricht zutreffend von „deutlicher Asymmetrie“. 85 86
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Auf diese Weise entsteht ein fein gesponnenes Netz verschiedener Formen des Zusammenwirkens der Teilgewalten von unterschiedlicher Reichweite, das hier nicht in allen seinen Facetten ausgeleuchtet werden soll.93 Aus rechtsvergleichender Sicht ist primär von Interesse, dass Gewaltenteilung auch im deutschen Verfassungsrecht als ein System von „checks and balances“ ausgestaltet ist,94 das strukturell dem amerikanischen Verständnis dieses Grundsatzes vergleichbar ist. Fraglich ist, ob und ggfs. in welchem Umfang über diese strukturelle Komparabilität hinaus auch inhaltliche Gemeinsamkeiten bestehen. Das kann nicht allein aufgrund des Textes des Grundgesetzes beantwortet werden. Vielmehr ist zunächst festzustellen, in welcher Weise die Gewaltenteilung durch die deutsche Rechtsprechung und Rechtswissenschaft konkretisiert und weiterentwickelt wurde.
f) Konkretisierung und Weiterentwicklung der Gewaltenteilung durch Rechtsprechung und Rechtswissenschaft Das Bundesverfassungsgericht hat die Gewaltenteilung in einer frühen Entscheidung als „tragendes Organisations- und Funktionsprinzip des Grundgesetzes“ bezeichnet.95 Es wies damit die Richtung für ein Verständnis der Gewaltenteilung als fundamentaler Verfassungsgrundsatz mit normativer Wirkung, dessen Vorgaben für die Organisation staatlicher Herrschaft das Grundgesetz durchziehen und durch eine Vielzahl von Bestimmungen konkretisiert werden.96 Meinungsverschiedenheiten betreffen weniger die damit umrissene allgemeine Bedeutung der Gewaltenteilung97 als ihren konkreten Inhalt.98 Seine Konkretisierung durch Rechtsprechung und Rechtswissenschaft ist durch zwei Entwicklungslinien gekennzeichnet: Zum einen ist die Zulässigkeit von Verschränkungen zwischen verschiedenen Funktionen und deren Grenzen für unterschiedliche „gewaltenteilungssensible“ Konstellationen konkretisiert worden. Das gilt insbesondere für das Zusammenwirken von Legislative und Exekutive. Paradigmatisch hierfür sind die Anforderungen, die gem. Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG an die Bestimmtheit gesetzlicher Ermäch93 Einen guten Überblick geben etwa Stern (Fn. 3), S. 539 ff.; Di Fabio, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 27 Rn. 31 ff.; Sachs, in: ders., Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, Art. 20 Rn. 82 ff. 94 Vgl. Sommermann, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 20 Rn. 212 m. w. N. auch zum amerikanischen Verfassungsrecht. 95 BVerfGE 3, 225 (247); später BVerfGE 34, 52 (59); s. auch BVerfGE 2, 1 (13), wonach die Gewaltenteilung ein „grundlegendes Prinzip der freiheitlich demokratischen Grundordnung“ ist. 96 Vgl. Ossenbühl, DÖV 1980, 545; Di Fabio (Fn. 93), § 27 Rn. 1, 4. 97 Insoweit geht es vor allem um die Frage, ob das Gewaltenteilungsprinzip des Grundgesetzes einen eigenen Regelungsgehalt besitzt oder in seinen Einzelvorschriften aufgeht; dazu Möllers, AöR 132 (2007), 495 f. 98 S. etwa Achterberg (Fn. 5), S. 1, der darauf hinweist, dass die Begriffsinhalte der Staatsfunktionen in der deutschen Staatsrechtslehre ungeklärt seien.
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tigungen zum Erlass von Rechtsverordnungen im Hinblick auf Inhalt, Zweck und Ausmaß zu richten sind.99 Zum anderen ist aus der Gewaltenteilung der Grundsatz der Funktionsgerechtigkeit abgeleitet worden, der eine funktionsadäquate Aufgabenwahrnehmung verlangt.100 Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts müssen staatliche Entscheidungen „möglichst richtig, d. h. von Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen.“101 Dahinter steht die Vorstellung, dass staatliche Stellen entsprechend dieser Kriterien unterschiedlich zur Erfüllung der einzelnen staatlichen Aufgaben geeignet sind. Es geht also darum, die Wahrnehmung dieser Aufgaben entsprechend ihrer Eigenart dem Organ zuzuweisen, dass hierfür bestmöglich geeignet ist.102 Grundvoraussetzung hierfür sind klare Zuständigkeiten und damit Verantwortlichkeiten.103 Während bei der gewaltenbalancierenden Komponente der Gewaltenteilung die Mäßigung staatlicher Macht zum Schutz der Freiheit des Einzelnen im Vordergrund steht, zielt die Funktionsadäquanz auf eine Optimierung der Aufgabenerfüllung.104 Beurteilungsparameter hierfür sind nicht nur die Effektivität und Effizienz staatlichen Handelns,105 sondern auch „die parlamentarisch-demokratische Konstituierung, Legitimierung und Steuerung der Staatsmacht.“106 Dieser erweiterte Ansatz ist zwar grundsätzlich anzuerkennen. Allerdings ist vor einer Überdehnung oder gar Instrumentalisierung des Optimierungsgedankens zu warnen.107
II. Strukturierung der Gewaltenteilung Um präzise und tragfähige Aussagen zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Gewaltenteilung im deutschen und amerikanischen Verfassungsrecht zu gewinnen, wird dieser Grundsatz nachfolgend anhand verschiedener Kriterien strukturiert. BVerfGE 55, 207 (226); 58, 257 (277 f.); 101, 1 (31). S. schon Küster, in: Rausch, Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, 1969, S. 1 (7); zuletzt Hoffmann-Riem (Fn. 2), S. 184; zu Begriffsalternativen wie „Funktionsadäquanz“ und „Organadäquanz“ Stern (Fn. 3), S. 530; Ossenbühl, DÖV 1980, 548 ff.; v. Danwitz, Der Staat 35 (1996), 329 ff.; zum Verhältnis von Organadäquanz und Gewaltenteilung Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, 2001, S. 584 ff. 101 BVerfGE 68, 1 (86); s. auch BVerfGE 90, 286 (364); 95, 1 (15); 104, 151 (207). 102 Zu dabei bestehenden Schwierigkeiten und Möglichkeiten ihrer Überwindung Horn, AöR 127 (2002), 448 ff.; Möllers, AöR 132 (2007), 498 ff. 103 Vgl. Sommermann (Fn. 94), Art. 20 Rn. 224; Hoffmann-Riem (Fn. 2), S. 184. 104 Das betont Horn, AöR 127 (2002), 448 ff. 105 Dazu Lerche, in: Isensee, Gewaltenteilung heute, 2000, S. 76 ff.; zuletzt HoffmannRiem (Fn. 2), S. 184. 106 Horn, AöR 127 (2002), 450 m. w. N. 107 Näher dazu Lerche (Fn. 105), S. 79 ff. 99
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1. Horizontale und vertikale Gewaltenteilung Die bisherigen Ausführungen betrafen die horizontale Gewaltenteilung. So wird allgemein die Trennung und Verschränkung der Funktionen auf derselben Ebene der Staatlichkeit, vorliegend also auf Bundesebene, bezeichnet.108 Sie wird ergänzt durch die vertikale Gewaltenteilung, 109 die ebenfalls der Sicherung der Freiheit des Bürgers dient.110 Diese Dimension der Funktionengliederung betrifft die Verteilung der Staatsaufgaben zwischen Bund und Ländern und ist durch die bundesstaatliche Struktur Deutschlands bedingt.111 Da die Vereinigten Staaten ebenfalls ein Bundesstaat sind, ist diese Unterscheidung auch im amerikanischen Verfassungsdenken anzutreffen. Dort wird zwischen „legislative-executive-judicial separation of powers“ und „federal-state division of powers“ unterschieden. Erstere wird als horizontales, Letztere als vertikales Prinzip für die Aufteilung der Staatsgewalt bezeichnet und ihre gemeinsame Bedeutung für die Sicherung der Freiheit des Bürgers betont.112 Obwohl vertikale Gewaltenteilung in den Vereinigten Staaten ebenfalls der Bundesstaatlichkeit (federalism) zugeordnet ist,113 gelten für das Verhältnis von federal und state authorities andere Regeln als für das Verhältnis von Bund und Ländern in Deutschland.114 Auch wenn man die Kategorie „vertikale Gewaltenteilung“ prinzipiell anerkennt und ihr Erkenntniswert zumisst,115 folgt die Lösung der damit angesprochenen Fragen jedenfalls gesonderten Regeln, die sich aus den jeweiligen Bedingungen und Grundsätzen der Bundesstaatlichkeit ergeben.116 Ihnen ist in diesem Zusammenhang nicht weiter nachzugehen, so dass die vertikale Gewaltenteilung bei den folgenden Ausführungen ausgeklammert bleibt.
2. Materielle, organisatorische und personelle Gewaltenteilung In der deutschen Rechtswissenschaft wird teilweise zwischen materieller, organisatorischer und personeller Funktionentrennung unterschieden.117 Versteht man 108 Vgl. Stern (Fn. 3), S. 547 f.; zu weitergehenden Differenzierungen innerhalb horizontaler Gewaltenteilung Achterberg (Fn. 5), S. 112 ff. 109 Zu den Wechselwirkungen zwischen horizontaler und vertikaler Gewaltenteilung Di Fabio (Fn. 93), § 27 Rn. 12. 110 S. etwa BVerfGE 104, 249 (279) – abw. M.; Hesse (Fn. 92), Rn. 231. 111 Möllers, AöR 132 (2007), 526. 112 Tribe (Fn. 49), S. 123 f., 132 ff. 113 Vgl. Tribe (Fn. 49), S. 129. 114 So ausdrücklich Richter Scalia, United States v. Lopez, 514 U.S. 549, 575 (1995): „the fact is that our federalism is not Europe’s“. 115 Kritisch Möllers, AöR 132 (2007), 528. 116 Zum Föderalismus in den USA Currie (Fn. 11), S. 23 ff.; Falke (Fn. 42), S. 354 ff. 117 Stern (Fn. 90), S. 795 f.; Sachs (Fn. 93), Art. 20 Rn. 82 ff., 90 f.
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Funktionentrennung als Synonym für Gewaltenteilung,118 kann diese Differenzierung für diesen Begriff übernommen werden. Materielle Gewaltenteilung stellt auf die materiellen Staatsfunktionen der Rechtsetzung, der Vollziehung und der Rechtsprechung ab.119 „Diese sind grundsätzlich je einem spezifisch zur Erfüllung dieser Tätigkeit eingerichteten Organ, einer formellen Gewalt, zugewiesen, so dass im Idealzustand Kongruenz zwischen materieller und formeller Funktion besteht.“120 Gesetzgebung ist somit Sache des Bundestags, Vollziehung ist der Exekutive zugeordnet, während Rechtsprechung den Gerichten zugewiesen ist. Die organisatorische Gewaltenteilung will die Unabhängigkeit der Funktionsträger dadurch gewährleisten, dass diese ihre jeweilige Funktion eigenständig wahrnehmen und jedenfalls in den Kernbereich dieser Funktion kein anderes Organ eindringen darf. Dagegen verlangt personelle Gewaltenteilung die personelle Verschiedenheit der Organwalter der einzelnen Organe, die grundsätzlich keiner anderen Gewalt angehören dürfen.121 Im amerikanischen Verständnis von Gewaltenteilung ist diese Kategorisierung nicht üblich. Das steht einer Ausrichtung der vergleichenden Betrachtung anhand dieser Differenzierung und damit ihrer Heranziehung bei der Untersuchung des amerikanischen Verfassungsrechts nicht generell entgegen. Allerdings muss darauf geachtet werden, dass diese Ausprägungen der Gewaltenteilung nur als Beurteilungsparameter fungieren, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Verständnis von Gewaltenteilung nach deutschem Verfassungsrecht zu ermitteln. Inhaltliche Aussagen dürfen damit nicht verbunden werden. Denn sie ergeben sich nicht schon aus dieser Kategorisierung, sondern erst aus der Konkretisierung der Gewaltenteilung in der deutschen und amerikanischen Rechtsordnung.
III. Konvergenz und Divergenz bei der materiellen Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive Die materielle Gewaltenteilung umfasst zwar alle drei Gewalten. Als diffiziles Geflecht von Trennung und Verschränkung hat sich aber vor allem das Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive entwickelt. Das gilt für Deutschland und für die Vereinigten Staaten. Dieser Teilbereich eignet sich daher besonders für eine aktuelle vergleichende Bestandsaufnahme, die sich auf die beiden folgenden Fragen beschränkt.
Dazu oben I 1. Zur Bestimmung gesetzgebender, vollziehender und rechtsprechender Gewalt nur Möllers, AöR 132 (2007), 509 ff. 120 Stern (Fn. 90), S. 795. 121 Vgl. Stern (Fn. 90), S. 795; Sachs (Fn. 93), Art. 20 Rn. 91. 118 119
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1. Beim Erlass von Gesetzen Während Art. 76 Abs. 1 GG die Bundesregierung als Teil der Exekutive neben den Abgeordneten des Bundestags (und dem Bundesrat) zur Einbringung von Gesetzesentwürfen ermächtigt, sieht die amerikanische Verfassung ein solches Initiativrecht des Präsidenten oder anderer Stellen der Exekutive nicht vor. Art. I § 1 und § 7 Abs. 2 S. 1 Hs. 1 weisen dieses Recht allein dem Kongress zu. Die Entwürfe von Bundesgesetzen müssen daher von einem Mitglied des Repräsentantenhauses oder des Senats im eigenen Namen eingebracht werden.122 Der Präsident kann in diesem Stadium seinen Einfluss nur dadurch geltend machen, dass er die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf bestimmte Themen lenkt123 und / oder sich zur Einbringung des Gesetzesentwurfs eines Parteifreundes im Kongress bedient.124 Dagegen ist seine Stellung nach Annahme des Gesetzes durch beide Kammern stärker als die des Bundespräsidenten im Grundgesetz. Zwar hat dieser im Rahmen der in Art. 82 Abs. 1 GG vorgeschriebenen Ausfertigung des Gesetzes zu prüfen, ob dieses im Einklang mit den Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommen ist. Nicht abschließend geklärt ist aber, ob dem Bundespräsident neben diesem formellen auch ein materielles Prüfungsrecht zusteht. Nach überwiegender Auffassung besitzt er ein solches Recht jedenfalls im Falle eines offenkundigen und zweifelsfreien Verfassungsverstoßes.125 Anders ist die Situation im amerikanischen Verfassungsrecht. Art. I § 2 Abs. 2 verlangt, dass jeder Gesetzesvorschlag, der im Repräsentantenhaus und im Kongress angenommen worden ist, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten vorgelegt werden muss, bevor er Gesetz wird. Stimmt der Präsident dem Vorschlag zu, so unterzeichnet er ihn, und das Gesetz tritt in Kraft.126 Gleiches gilt nach Art. I § 7 Abs. 2 S. 6, wenn der Präsident einen Gesetzesvorschlag nicht innerhalb von zehn Tagen (Sonntage ausgenommen) nach Vorlage an die Kammer, von der er stammt, zurückschickt, es sei denn, dass der Kongress durch Vertagung die Rückgabe verhindert.127 Der Präsident kann aber auch gem. Art. I § 7 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 einem Gesetzesvorschlag nicht zustimmen und ihn mit seinen Einwänden an die Kammer zurückschicken, von der er ausging. Die Gründe für ein solches Veto, das sich nur auf das gesamte Gesetz beziehen kann,128 werden in dieser VerfassungsbestimDazu und zum weiteren Verfahren Loewenstein (Fn. 7), S. 197 ff.; Shell (Fn. 45), S. 314 ff. Zu diesem „Agenda Setting“ Shell (Fn. 45), S. 330 f. 124 Vgl. Loewenstein (Fn. 7), S. 197 f., 370 ff. 125 Zum Meinungsstand Nierhaus, in: Sachs, Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, Art. 82 Rn. 5 ff., insbesondere Rn. 16 m. w. N. 126 Art. I § 7 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 US-Verfassung. 127 Zur Möglichkeit und Bedeutung eines so genannten „Pocket Veto“, das kurz vor Ende der Sitzungsperiode des Kongresses greift, Shell (Fn. 45), S. 331 f.; Tribe (Fn. 49), S. 737 ff. m. w. N. 128 Die Möglichkeit eines so genannten „Item Veto“, das sich auf Teile des Gesetzesentwurfs beschränkt, wird nicht anerkannt; zwar wurde ein solches Veto durch den Line Item 122 123
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mung nicht genannt. Sie ergeben sich aus der Befugnis des Präsidenten, die Verfassungsmäßigkeit von Bundesgesetzen bei deren Ausführung festzustellen. Dieses Recht wird aus seiner exekutiven Gewalt (Art. II § 1 Abs. 1 S. 1) und seiner Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass Gesetze ordnungsgemäß ausgeführt werden (Art. II § 3 Abs. 3 S. 4 Hs. 2), abgeleitet.129 Präsidenten haben daher in der Vergangenheit ein Veto eingelegt, weil sie das vorgelegte Gesetz für verfassungswidrig hielten.130 Allerdings wird das Vetorecht vom Präsidenten in der Staatspraxis auch als politische Waffe zur Verhinderung missliebiger Gesetze genutzt.131 Für den Kongress ist es dann schwierig, den Gesetzesvorschlag durchzubringen. Er kann zwar gem. Art. I § 7 Abs. 2 S. 4 das Veto des Präsidenten überwinden. Dies setzt aber voraus, dass nach erneuten Beratungen beide Kammern jeweils mit Zwei-Drittel-Mehrheit dem Entwurf zustimmen. Das sind hohe Hürden. Zwischen 1789 und 1981 konnten nur 92 von 2393 Vetos durch den Kongress überwunden werden.132 Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass die Exekutive in den Vereinigten Staaten weit umfangreichere Möglichkeiten besitzt, den Erlass eines Gesetzes zu verhindern, als in Deutschland. Der Aspekt der materiellen Funktionenverschränkung ist insoweit im amerikanischen Recht stärker ausgeprägt als im Grundgesetz.
2. Bei der Delegation von Rechtsetzung Aufschlussreiches Anschauungsmaterial für eine vergleichende Untersuchung der Ausgestaltung der materiellen Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive bietet die Delegation von Rechtsetzung. Das Grundgesetz sieht diese Möglichkeit für Rechtsverordnungen in Art. 80 ausdrücklich vor und stellt hierfür besondere formelle und materielle Voraussetzungen auf.133 Aus Sicht der Gewaltenteilung ist Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG von besonderer Bedeutung. Er verlangt, dass das ermächtigende Gesetz nach Inhalt, Zweck und Ausmaß bestimmt ist. Die hieraus resultierenden Anforderungen sind durch das Bundesverfassungsgericht konkretisiert worden.134 Ob die Regelung hinreichend bestimmt ist, hängt danach von Veto Act zum 1. Januar 1997 eingeführt, aber vom Supreme Court in der Entscheidung Clinton v. City of New York, 524 U.S. 417, 418 S. Ct. 2091 (1998), für ungültig erklärt; dazu Tribe (Fn. 49), S. 740 ff. 129 Zu Einzelheiten s. Tribe (Fn. 49), S. 722 ff., wo auch auf mögliche Konflikte mit der Befugnis der Bundesgerichte, insbesondere des Supreme Court, zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Bundesgesetzen eingegangen wird. 130 Vgl. Osborne v. Bank of the United States, 22 U.S. (9 Wheat.) 738 (1824); Wright v. United States, 302 U.S. 583, 596 (1938). 131 S. Shell (Fn. 45), S. 331. 132 Zitiert nach Shell (Fn. 45), S. 331 mit Fn. 86. 133 Diese betreffen etwa den zulässigen Adressaten der Ermächtigung (Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG), die Beachtung des Zitiergebots in der Rechtsverordnung (Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG) und die Notwendigkeit einer Zustimmung des Bundesrates (Art. 80 Abs. 2 GG).
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der Bedeutsamkeit der Ermächtigung ab. Die maßgeblichen Kriterien sind von der verfassungsgerichtlichen Judikatur im Rahmen der so genannten Wesentlichkeitslehre weiter ausdifferenziert worden. Danach gilt die Leitlinie, dass die Bestimmtheit des Inhalts, des Zwecks und des Ausmaßes der Ermächtigung desto größer sein muss, je schwerwiegender, d. h. insbesondere je grundrechtsrelevanter die Auswirkungen der Rechtsverordnung für die potenziell Betroffenen sind.135 Ähnliche Anforderungen gelten für die aufgrund des Vorbehalts des Gesetzes erforderliche Rechtsgrundlage für den Erlass von Satzungen, sofern sie in subjektive Rechte eingreifen oder dies zulassen.136 Die anzulegenden Kriterien, die ebenfalls dem Gedanken der Wesentlichkeit zuzuordnen sind, ergeben sich nicht unmittelbar aus Art. 80 GG,137 sondern sind von der Rechtsprechung im Hinblick auf die durch die Delegation bewirkte Durchbrechung der Gewaltenteilung aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip entwickelt worden.138 Danach ist die Delegation von Rechtsetzung auf die Exekutive grundsätzlich zulässig, sofern der Gesetzgeber Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung so bestimmt festlegt, dass der Ermächtigungsadressat das vom Gesetzgeber vorgegebene Programm ermitteln und der Bürger aus der Ermächtigung erkennen kann, in welchen Fällen und mit welcher Tendenz von ihr Gebrauch gemacht werden kann.139 Dieses Anforderungsprofil ist Ausdruck des Ausgleichs zwischen dem trennenden und dem verschränkenden Element der Gewaltenteilung im deutschen Verfassungsrecht bei Delegation von Rechtsetzung. Die Zulässigkeit der Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen vom Kongress auf die Exekutive ist im amerikanischen Verfassungsrecht ebenfalls von grundlegender Bedeutung. Allerdings ist die Entwicklung dort anders als in Deutschland verlaufen, wenngleich einige inhaltliche Parallelen zu erkennen sind. Zunächst ist daran zu erinnern, dass in der amerikanischen Verfassung – anders als im Grundgesetz – keine Delegationsgrenzen kodifiziert sind.140 Allerdings haben amerikanische Gerichte schon früh die Zuständigkeit zur Überprüfung solcher Delegationen beansprucht.141 Das geschah auch im Hinblick auf die Gewährleistungen der Gewaltenteilung. 142 Die Rechtsprechung weist in dieser Frage freilich gewisse Schwankungen auf. Nachdem der Supreme Court im Jahre 1892 mit der nondeleS. etwa BVerfGE 5, 71 (76 f.); 41, 251 (265 f.); 80, 1 (20). BVerfGE 58, 257 (277 f.); 62, 203 (210). 136 Vgl. BVerfGE 33, 125 (157 ff.); 76, 171 (184 f.); 101, 312 (322 f.). 137 BVerfGE 12, 319 (325); 33, 125 (157 f.); 49, 343 (362). 138 BVerfGE 34, 52 (58 ff.); 41, 251 (266); 83, 130 (142); 101, 1 (34); 111, 191 (215). 139 Zur „Selbstentscheidungsformel“, zur „Programmformel“ und zur „Vorhersehbarkeitsformel“ in Bezug auf Rechtsverordnungen Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 9. Aufl. 2007, Art. 80 Rn. 11 m. w. N. 140 Vgl. Möllers (Fn. 2), S. 182. 141 S. etwa Wayman v. Southard, 10 Wheat. 1, 42 (1825); Shanlkand v. Washington, 30 U.S. 390, 395 (1831); Field v. Clark, 143 U.S. 649, 692 (1892); aus neuerer Zeit Mistretta v. United States, 488 U.S. 361, 371 f. (1989); Touby v. United States, 500 U.S. 160 (1991). 134 135
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gation doctrine ein striktes Delegationsverbot postuliert143 und damit den Gesichtspunkt der Trennung von Legislative und Exekutive hervorgehoben hatte, schwächte er dieses Verbot in einer Entscheidung aus dem Jahr 1928 ab. Danach ist die Übertragung legislativer Befugnisse zulässig, wenn der Kongress ihre Ausübung an ein gesetzlich festgelegtes „erkennbares Prinzip“ („intelligible principle“) im Sinne einer nachvollziehbaren Handlungsanweisung bindet, die die ermächtigte Behörde befolgen muss.144 Zur Begründung wurde u. a. angeführt, dass die drei Gewalten aufeinander bezogene Teile einer einheitlichen Staatsgewalt seien. Ausmaß und Charakter ihres Zusammenwirkens müssten im Einklang mit Gründen des Gemeinwohls und zwingenden Erfordernissen koordinierter Ausübung hoheitlicher Gewalt festgelegt werden.145 Das bedeutete eine erhebliche Lockerung des Trennungsgebots. Denn für die Delegation reichte es nunmehr aus, dass aufgrund der gesetzlichen Ermächtigung erkennbar ist, ob das Handeln vom Willen des Gesetzgebers gedeckt ist.146 In der Staatspraxis griff die beschränkende Wirkung der so interpretierten nondelegation doctrine, die den Grundsatz der Gewaltenteilung für die Übertragung von Gesetzgebungsbefugnissen auf die Exekutive konkretisiert, letztlich nur noch in Missbrauchsfällen ein.147 Die neuere Rechtsprechung des Supreme Court interpretiert diese Doktrin wieder restriktiver und schränkt die Zulässigkeit einer Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen ein. Anlass hierfür war der extensive Gebrauch des so genannten legislativen Vetos in den 70er Jahren.148 Durch dieses Instrument konnte der Kongress sich auch nach Übertragung von Gesetzgebungsbefugnissen ein Zugriffsrecht auf die Gesetzesausführung im Einzelfall erhalten. Der Supreme Court hat dieses Vorgehen für unzulässig erklärt. In seiner Begründung erinnerte er an die grundsätzliche Trennung der Gewalten in der amerikanischen Verfassung. Diese werde zwar an einigen Stellen durchbrochen. So sehe etwa Art. I § 7 Abs. 2 die Beteiligung des Präsidenten bei der Gesetzgebung vor. Derartige Ausnahmen müssten sich aber in dem durch die Verfassung festgelegten Rahmen halten. Gesetze dürften nur auf dem verfassungsrechtlich vorgesehenen Weg erlassen werden. Das legislative Veto habe sich zwar in einigen Fällen in der Praxis als zweckmäßig erwiesen. Das könne ein Abweichen von diesen rechtlichen Vorgaben und die damit verbundene S. die Bezugnahme in Mistretta v. United States, 488 U.S. 361, 371 f. (1989). Field v. Clark, 143 U.S. 649, 692 (1892); s. auch Shanlkand v. Washington, 30 U.S. 390, 395 (1831). 144 J.W. Hampton, Jr. v. United States, 276 U.S. 394, 409 (1928); daran zuletzt anknüpfend Touby v. United States, 500 U.S. 160, 165 (1991); Loving v. United States, 276 U.S. 394, 409 (1996); Whitman v. American Trucking Association, 531 U.S. 457, 472 ff. (2001); dazu Tribe (Fn. 49), S. 979 ff. 145 J.W. Hampton, Jr. v. United States, 276 U.S. 394, 406 (1928). 146 Vgl. Yakus v. United States, 312 U.S. 414, 425 (1944). 147 Darauf weist zutreffend Wieland, AöR 112 (1987), 453, hin. 148 Dazu Shell (Fn. 45), S. 318 f. 142 143
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Einschränkung des Trennungsgrundsatzes jedoch nicht rechtfertigen. Nach einer Delegation von Gesetzgebungsbefugnissen könne der Kongress weder selbst noch durch von ihm abhängige Behörden die Gesetzesausführung beeinflussen.149 Er müsse daher vor Übertragung solcher Befugnisse prüfen, ob er auf sie verzichten wolle. Das beinhaltet die Forderung nach klarer Abgrenzung der Kompetenzen der einzelnen Staatsorgane. Sie ist Voraussetzung für eine eindeutige Zurechnung staatlicher Entscheidungen. Die damit einhergehende Übernahme der Verantwortung ist unerlässliche Bedingung einer funktionierenden Demokratie. Denn sie versetzt den Bürger in die Lage festzustellen, welcher Teil der Staatsgewalt gehandelt hat und ermöglicht es ihm, darauf in Wahlen entsprechend zu reagieren.150 Trotz dieser Verschärfung der Anforderungen der nondelegation doctrine hat diese nur in seltenen Fällen zu einer Aufhebung von Gesetzen wegen Verstoßes gegen dieses Dogma geführt.151 Dies ist u. a. darauf zurückzuführen, dass die nondelegation doctrine den Gerichten im Unterschied zur deutschen Rechtslage keine justiziablen Kriterien an die Hand gibt.152 Die Rechtsprechung des Supreme Court hat die Prüfung der Delegation zuletzt aber zum Anlass genommen, um bei der Gesetzesauslegung andere verfassungsrechtliche Maßstäbe heranzuziehen.153 Das hat in grundrechtssensiblen Fällen dazu geführt, einen höheren Grad an Bestimmtheit der gesetzlichen Ermächtigung zu verlangen.154 Darin liegt eine tendenzielle Annäherung an die Anforderungen an Rechtsetzungsermächtigungen in Deutschland.
IV. Grundlegende Unterschiede bei der organisatorischen Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive Bei der organisatorischen Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive bestehen grundlegende Unterschiede zwischen amerikanischem und deutschem Verfassungsrecht und Verfassungsverständnis. Das wird anhand der Wahl und Stellung des amerikanischen Präsidenten und des deutschen Bundeskanzlers deutlich. Der Präsident wird gem. Art. II § 1 Abs. 3 i. V. m. Zusatzartikel XII der US-Ver149 INS v. Chadha, 462 U.S. 919, 946 ff. (1983); dazu Tribe (Fn. 49), S. 141 ff. m. w. N.; Löhr, in: Demel u. a., Funktionen und Kontrolle der Gewalten, 2001, S. 135 (159 f.); s. auch Metropolitan Washington Airports Authority v. Citizens for the Abatement of Aircraft Noise, 501 United States, 252, 274 ff. (1991). 150 Vgl. Wieland, AöR 112 (1987), 470 ff. 151 Diese Fälle liegen überdies lange zurück, erfolgten also vor Verschärfung der Doktrin, s. Panama Refining Company v. Ryan, 293 U.S. 388 (1935); A.L.A. Schechter Poultry Corporation v. United States, 295 U.S. 495 (1935); dazu Kommers / Finn / Jacobsohn (Fn. 38), S. 128 ff. 152 Zutreffend Möllers (Fn. 2), S. 183. 153 Whitman v. American Trucking Association, 531 U.S. 457, 472 ff. (2001). 154 Möllers (Fn. 2), S. 184 f. m. w. N.
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fassung durch Wahlmänner gewählt, die ihrerseits vom Volk gewählt sind. Zwar sind diese Elektoren verfassungsrechtlich nicht verpflichtet, ihre Stimme für den offiziellen, vom Parteikonvent normierten Bewerber abzugeben, obwohl die sichere Erwartung, das sie ihr Wahlrecht in dieser Weise ausüben, die Grundlage ihrer Wahl durch die Bürger war.155 In der Verfassungspraxis seit 1934 haben die Elektoren aber – von seltenen Ausnahmen abgesehen – erwartungskonform abgestimmt, so dass der Präsident de facto vom Volk über die Wahlmänner gewählt wird.156 Dagegen wird der Bundeskanzler gem. Art. 63 Abs. 1 GG auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestag ohne Aussprache in geheimer Wahl gewählt. Trotz des Vorschlagsrechts des Bundespräsidenten liegt die eigentliche Entscheidungsbefugnis beim Bundestag.157 Die Abgeordneten sind bei der Wahl des Bundeskanzlers gem. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Gewählt ist gem. Art. 63 Abs. 2 GG, wer die Stimmen der Mehrheit der voll stimmberechtigten Mitglieder des Bundestags (Art. 121 GG) auf sich vereinigt. Der Bundespräsident muss den Gewählten dann zum Bundeskanzler ernennen. Die Abhängigkeit des Bundeskanzlers als Spitze der Exekutive von der Zustimmung des Bundestages ist Wesensmerkmal des im Grundgesetz ausgestalteten parlamentarischen Regierungssystems.158 Sie gilt nicht nur für die Wahl des Bundeskanzlers, sondern für seine gesamte Tätigkeit. Als ultima ratio parlamentarischer Regierungskontrolle kann der Bundestag den Bundeskanzler durch ein konstruktives Misstrauensvotum gem. Art. 67 GG stürzen. Dies setzt voraus, dass der Bundestag ihm dadurch das Vertrauen entzieht, dass er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt und den Bundespräsidenten ersucht, den Bundeskanzler zu entlassen. Der Bundespräsident muss diesem Ersuchen entsprechen und den Gewählten ernennen. Der Bundeskanzler kann einer solchen Abwahl zuvorkommen, indem er zurücktritt oder gem. Art. 68 GG die Vertrauensfrage stellt.159 Dagegen ist der amerikanische Präsident in seiner Stellung und Amtsführung vom Kongress weitgehend unabhängig. Zwar muss er, wie gezeigt, die zur Umsetzung seiner politischen Ziele erforderlichen Gesetze vom Kongress verabschieden lassen, was eine gewisse Abhängigkeit von diesem Organ mit sich bringt.160 Sie geht aber nicht so weit, dass sein Amt von der Unterstützung durch den Kongress Vgl. Loewenstein (Fn. 7), S. 284 ff. Loewenstein (Fn. 7), S. 284 f., bezeichnet die Wahl über das Wahlmännerkollegium (Electoral College) daher als verfassungsrechtliche Fiktion. 157 Zur umstrittenen rechtlichen Bindung des Bundespräsidenten bei Ausübung des Vorschlagsrechts Oldiges, in: Sachs, Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, Art. 63 Rn. 15 ff. m. w. N. 158 Ausführlich dazu Stern (Fn. 90), S. 977 ff., ebda, S. 959 ff., zu den Grundbedingungen dieses Systems. 159 Dazu BVerfGE 62, 1 (32 ff.); 114, 121 (147 ff.). 160 S. schon oben III 1. 155 156
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abhängt.161 Die Entfernung des Präsidenten aus dem Amt ist nur durch Impeachment (Staatsanklage) möglich. Hierfür gelten enge formelle und materielle Voraussetzungen, die in Art. I § 2 Abs. 5, § 3 Abs. 6 und 7 sowie Art. II § 4 der US-Verfassung festgelegt sind. Danach hat allein das Repräsentantenhaus die Befugnis, Staatsanklage zu erheben. Hierüber entscheidet der Senat. Wird der Präsident angeklagt, so führt der Oberste Richter den Vorsitz. Diese weitere Gewaltenverschränkung gewährt zusätzlichen verfahrensrechtlichen Schutz gegen eine Amtsenthebung. Diese bedarf einer Verurteilung durch zwei Drittel der anwesenden Mitglieder des Senats wegen Verrats, Bestechung oder anderer schwerer Verbrechen oder Verstöße gegen Amtspflichten („high crimes and misdemeanors“).162 Wie hoch diese Hürden sind, wird schon daraus deutlich, dass bislang kein Impeachment-Verfahren gegen einen amerikanischen Präsidenten zu einer Verurteilung geführt hat.163 Dagegen war unter der vergleichsweise kurzen Ägide des Grundgesetzes das konstruktive Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Helmut Schmidt im Jahr 1982 erfolgreich.164 Daher spiegelt auch die Verfassungspraxis in beiden Ländern die unterschiedliche Ausgestaltung der organisatorischen Gewaltenteilung im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Funktionsträger „Bundeskanzler“ bzw. „Präsident“ und „Bundestag“ bzw. „Kongress“ wider.
V. Abweichende Ausgestaltung der personellen Gewaltenteilung Eine personelle Gewaltenteilung, also die Besetzung der einzelnen Organe durch verschiedene Personen, ist verfassungsrechtlich nur dann geboten, wenn ausnahmsweise Inkompatibilität angeordnet ist. Die damit angesprochene Unvereinbarkeit der Ausübung verschiedener Ämter durch ein und dieselbe Person ist in der amerikanischen Verfassung anders ausgestaltet als im Grundgesetz. Die zentrale Bestimmung der US-Verfassung ist Art. I § 6 Abs. 2. Danach darf kein Senator oder Abgeordneter während der Mandatsdauer ein besoldetes Bundesamt innehaben. Umgekehrt darf auch keine Person, die ein besoldetes Bundesamt ausübt, gleichzeitig Mitglied des Kongresses sein. Diese weitreichende Inkompatibilität wird durch Art. II § 1 Abs. 2 S. 2 ergänzt. Er verbietet, dass ein Kongressmitglied oder jemand, der ein Vertrauensamt oder besoldetes Bundesamt bekleidet, zum Wahl161 Auf diesen wesentlichen Unterschied zum parlamentarischen Regierungssystem in Deutschland weisen Kommers / Finn / Jacobsohn (Fn. 38), S. 123 ff., hin. 162 Dazu Loewenstein (Fn. 7), S. 244 f.; zur Konkretisierung der materiellen Voraussetzungen „high crimes and misdemeanors“ im gescheiterten Impeachment-Verfahren gegen Präsident Clinton Kommers / Finn / Jacobsohn (Fn. 38), S. 161 ff. 163 Ausführlich dazu Tribe (Fn. 49), S. 152 ff. m. w. N. 164 Dagegen scheiterte 1972 das konstruktive Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Willy Brandt; s. zum Ganzen Mager, in: v. Münch / Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 4. / 5. Aufl. 2001, Art. 67 Rn. 3.
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mann ernannt werden. Aus Struktur und Inhalt der Art. I § 1, Art. II § 1 Abs. 1 S. 1 und Art. III § 1, die dem Kongress die Kompetenz zur Gesetzgebung, dem Präsidenten die exekutive Gewalt und den Gerichten die rechtsprechende Gewalt zuweisen, folgt zudem das Gebot einer strikten personellen Gewaltenteilung zwischen diesen Organwaltern. Daher darf etwa der Präsident der Vereinigten Staaten, der Staatsoberhaupt, Regierungschef und Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist,165 nicht Mitglied des Kongresses oder eines Bundesgerichts sein. Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zur deutschen Rechtsordnung. Dort können nach überwiegender Meinung Ministeramt und Abgeordnetenmandat gleichzeitig nebeneinander wahrgenommen werden.166 Bundesminister können also zugleich Abgeordnete des Bundestags sein und umgekehrt. Diese sog. Ministerkompatibilität entspricht zwar der Tradition und Staatspraxis in Deutschland. Gleichwohl ist sie im Hinblick auf Art. 66 GG nicht unproblematisch. Versteht man diese Vorschrift als Regelung verfassungsorganschaftlicher Inkompatibilität,167 lässt sich die Vereinbarkeit des Amts des Bundeskanzlers oder eines Bundesministers mit dem Mandat als Abgeordneter des Bundestags wohl nur als traditionelles, wesentliches Merkmal des parlamentarischen Regierungssystems rechtfertigen.168 Darüber hinaus enthält das Grundgesetz an verschiedenen Stellen Inkompatibilitätsregelungen, die den Grundsatz personeller Gewaltenteilung verwirklichen und absichern. Exemplarisch hierfür ist Art. 55 Abs. 1 GG, wonach der Bundespräsident weder der Regierung noch einer gesetzgebenden Körperschaft des Bundes oder eines Landes angehören darf. Ein weiteres Beispiel ist Art. 94 Abs. 1 S. 3 GG. Nach dieser umfassenden Inkompatibilitätsregelung dürfen Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts weder dem Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung noch entsprechenden Organen eines Landes angehören. Dadurch sollen Pflichtenkollisionen vermieden werden. Insoweit sind Parallelen zu den Vorgaben der amerikanischen Verfassung unverkennbar. Art. 53a Abs. 1 S. 2 Hs. 2 GG verwehrt es den Abgeordneten des Bundestages, als Mitglieder des Gemeinsamen Ausschusses der Bundesregierung anzugehören.169 Daneben ermächtigt Art. 137 Vgl. zu letztgenannter Funktion Art. II § 2 Abs. 2 S. 1 der US-Verfassung. S. mit unterschiedlicher Begründung Hesse (Fn. 92), Rn. 489; Pieroth (Fn. 139), Art. 38 Rn. 25a; Oldiges (Fn. 157), Art. 66 Rn. 25a; a. A. Epping, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 66 Rn. 18 ff. m. w. N. 167 Vgl. Epping (Fn. 166), Art. 66 Rn. 6 ff. m. w. N.; a. A. Oldiges (Fn. 157), Art. 66 Rn. 2, 21 f. m. w. N. 168 So Pieroth (Fn. 139), Art. 38 Rn. 25a; dagegen stellt Hesse (Fn. 92), Rn. 489, darauf ab, dass Parlament und Regierung in gleicher Weise politische Funktionen wahrnehmen und deshalb gleiche Qualitäten ihrer Mitglieder voraussetzen; nach Ansicht von Oldiges (Fn. 157), Art. 66 Rn. 25b, ist tragender Grund für die Sinnhaftigkeit und verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Ministerkompatibilität der parteienstaatliche Charakter des heutigen demokratischen Systems; für verfassungsrechtliche Unzulässigkeit dagegen Epping (Fn. 166), Art. 66 Rn. 18 ff. 165 166
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Abs. 1 GG zu gesetzlichen Beschränkungen der Wählbarkeit, was ebenfalls der personellen Gewaltentrennung dient.170 Vergleicht man die Ausgestaltung dieses Grundsatzes, so erfolgt sie im Grundgesetz durch spezifische Einzelregelungen und ist für die Besetzung der Organe „Bundesregierung“ und „Bundestag“ weithin durchbrochen. Dagegen ordnet die amerikanische Verfassung durch die Zuweisung des Kongresses zur Legislative, des Präsidenten zur Exekutive und der Bundesgerichte zur Judikative eine grundsätzliche personelle Gewaltentrennung an, die durch die umfassende Inkompatibilitätsregelung für Kongressmitglieder ergänzt wird.
VI. Fazit Die vergleichende Untersuchung der Gewaltenteilung im amerikanischen und deutschen Verfassungsrecht hat ein differenzierteres Bild zum Vorschein gebracht, als man anfänglich vermuten konnte. Pauschale Aussagen zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden in Bezug auf dieses Organisationsprinzip werden diesem Befund kaum gerecht. Vorzugswürdig ist eine Binnenstrukturierung der Gewaltenteilung in materieller, organisatorischer und personeller Hinsicht. Mit Hilfe des dadurch erschlossenen Differenzierungspotenzials können präzise, belastbare Aussagen zu Parallelen und Abweichungen zwischen beiden Rechtsordnungen getroffen werden. Diese sind zwar in den Teilbereichen der Gewaltenteilung unterschiedlich stark ausgeprägt. Gleichwohl sind das amerikanische und das deutsche Verständnis dieses Grundsatzes über die gemeinsamen Wurzeln hinaus an wichtigen Punkten gleichgerichtet und haben sich in der jüngeren Vergangenheit angenähert. Diese Erkenntnis führt auf die gemeinsamen Werte zurück, die der Gewaltenteilung zugrunde liegen und durch sie verwirklicht werden. Dies sind vor allem die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Sie prägen und verbinden die Rechtsordnung und -kultur in Deutschland, Europa und den Vereinigten Staaten. Das sollte gerade angesichts der eingangs konstatierten Friktionen nicht in Vergessenheit geraten, sondern als gemeinsames Gut gehütet werden.
169 Zu den Gründen für diese Anordnung von Inkompatibilität Epping (Fn. 166), Art. 66 Rn. 12. 170 S. zur Qualifizierung dieser Vorschrift als Inkompatibilitätsregelung und zu ihrer Bedeutung Magiera, in: Sachs, Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, Art. 137 Rn. 7 ff.; s. auch Stern (Fn. 90), S. 317 ff., ebda, S. 359, zu weiteren Inkompatibilitätsregelungen, etwa für den Wehrbeauftragten nach Art. 45b GG i. V. m. §§ 13 ff. WBeauftrG.
II. Der Grundrechtsstaat
Von Eingriffen, Beeinträchtigungen und Reflexen Bemerkungen zum status quo der Grundrechts-Eingriffsdogmatik des Bundesverfassungsgerichts Von Matthias Cornils
I. Der mittelbare Grundrechtseingriff in der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Angestoßen und munitioniert durch die neuere Grundrechtsrechtsprechung des Ersten Senats des BVerfG findet seit einigen Jahren eine engagierte und teilweise gehaltvolle Diskussion1 über Struktur und Grenzen grundrechtlicher Gewährleistungsgehalte statt. Die Enttäuschung über die begrenzte Rationalität, die der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz der Rechtfertigungsprüfung vermitteln kann, hat die Energien der Grundrechtsinterpreten auf die Schutzbereichsebene gelenkt. Die noch vor wenigen Jahren kaum angefochtene Grundauffassung von im Zweifel eher weit zu verstehenden Schutzbereichen ist so weit unter Druck geraten, dass Ausformungen einer engeren Tatbestandstheorie2 jedenfalls bei einzelnen spezielleren Freiheitsrechten3 schon als herrschend bezeichnet werden müssen. Die auf der ziemlich pauschal also diskreditierten „Abwägungsebene“ der grundrechtlichen Rechtfertigungsprüfung vermissten4 Rationalitätsvorteile werden nunmehr mit erstaunlichem Zutrauen von einer genaueren Konturierung der Schutzbereiche erwartet, wobei zumeist allerdings eher diffus bleibt, weshalb und inwieweit die Verschiebung der Argumentation auf die vorgelagerte Ebene einen solchen Rationalitätsgewinn verbürgen soll – jahrzehntelang hatte man schließlich zu Gunsten 1 Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 ff.; Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 ff.; HoffmannRiem, Der Staat 43 (2004), 203 ff.; Volkmann, JZ 2005, 211 ff.; Murswiek, Der Staat 45 (2006), 473 ff.; Martins, DÖV 2007, 456 ff.; Schlink, JZ 2007, 157 ff.; Papier, in: Merten / Papier, Grundsatzfragen der Grundrechtsdogmatik, 2007, S. 81 ff.; Zuck, JZ 2008, 287 ff. 2 Zur Begrifflichkeit: Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 1998, S. 29 ff., 99 ff. 3 Siehe nur die sachliche Schutzverkürzung bei Art. 8 GG durch Verengung des Versammlungsbegriffs in BVerfGE 104, 92 (104) – Autobahnblockade; BVerfG DVBl. 2001, 1351 ff. – „Love Parade und Fuckparade“. 4 Volkmann, JZ 2005, 267: „Nullpunkt einer juristischen Dogmatik“; Murswiek, Der Staat 45 (2006), 478.
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der Rechtfertigungsebene und der Verhältnismäßigkeitsprüfung gerade umgekehrt argumentiert.5 Was aber ist mit dem Grundrechtseingriff, also der grundrechtsdogmatischen Kupplung zwischen Gewährleistungsbereich und Rechtfertigungsebene? Hat die Intensivierung der Schutzgehalte-Diskussion auch Auswirkungen auf die Eingriffsdogmatik – was ja angesichts der seit jeher weit verbreiteten, überwiegend indessen eher nur die quantitative Dimension anzielenden Vorstellungen einer gegenseitigen „Aufeinander-Bezogenheit“ von Schutzbereich und Eingriff6 durchaus nahe liegt? Stärker noch als die Schutzbereichsfragen lagen die Eingriffsfragen, von Einzelproblemen abgesehen, in der Vergangenheit im Schatten der Rechtfertigungsebene, auf der dann die eigentlichen grundrechtlichen Diskussionen stattfanden. Unter der Geltung eines weithin unangefochtenen weit gefassten „modernen“ Eingriffsbegriffs, der sich für die Bejahung eines Eingriffs im wesentlichen mit der Kausalität des staatlichen Verhaltens für eine tatsächliche belastende Auswirkung auf ein grundrechtlich geschütztes Gut zufrieden gab, also auch die faktischen und mittelbaren Grundrechtsbeeinträchtigungen integrierte, ergaben sich hier kaum Anknüpfungspunkte für eine Präzisierung und damit auch Begrenzung des grundrechtlichen Schutzes. Zwar spiegeln die immer wieder aufflackernden Problematisierungen des weiten Eingriffsbegriffs ein erhebliches Maß an Unzufriedenheit mit dessen schwacher Differenzierungskraft. So hat Herbert Bethge den Grundrechtseingriff 1998 in der „Krise“ gesehen, ihm Profil- und Konturlosigkeit attestiert und daraus auf die Konsequenz „schwindender Berechenbarkeit“ des Rechts geschlossen.7 Und doch bleibt der eigentlich diagnostizierte Begrenzungsbedarf folgenlos: Bemühungen, einzelne Eingriffskriterien wieder enger, gewissermaßen klassisch zu fassen, stoßen in einer Zeit allgegenwärtiger und polymodaler Staatstätigkeit, die Grundrechtsgüter auf den unterschiedlichsten Pfaden berührt, allzu schnell auf kaum überwindlich scheinende Einwände.8 Allenfalls lassen sich bei den mittelbar-faktischen Auswirkungen Bagatellvorbehalte9, die die bloße Belästigung vom Grundrechtseingriff scheiden sollen und dafür auf die Eingriffsintensität abstellen, oder die Forderung der Vorhersehbarkeit der Beeinträchtigung 5 Statt vieler nur Lübbe-Wolff, Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 25 ff.; zum Problem mit weiteren Nachweisen auch Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005, S. 40 ff. 6 Pieroth / Schlink, Grundrechte, 24. Aufl. 2008, Rn. 226: Je weiter die Schutzbereiche (oder Gewährleistungsgehalte) der Grundrechte gefasst werden, um so mehr sind staatliche Verhalten Grundrechtseingriff, insofern sie mit diesen Schutzbereichen in Kontakt geraten; tiefer greifend Albers, DVBl. 1996, 233 ff.; Murswiek, Der Staat 45 (2006), 474 ff. 7 Bethge, VVDStRL 57 (1998), 40 f. 8 Weber-Dürler, VVDStRL 57 (1998), 74 ff. 9 Bethge, Jura 2003, 332: „Bloße Belästigungen und Gefährdungen hat der Grundrechtsträger grundsätzlich hinzunehmen. Sie liegen im Allgemeinen innerhalb der Sozialbindungen, die der Staat als Gegenseitigkeitsrechtsordnung dem Grundrechtsträger sanktionslos zumuten darf. Sie übersteigen nicht die Opfergrenze. Erst ein Grundrechtseingriff löst die grundrechtsspezifische Rechtfertigungslast des Staates aus“.
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für den handelnden Hoheitsträger10 mit einer gewissen Aussicht auf Ertrag diskutieren. Im Übrigen konnten, wie Bethge in aller Schärfe konstatiert hat, „Rückorientierungen auf einen postklassischen Eingriff“ keinen problemadäquaten Lösungsansatz liefern,11 und man fand sich mithin mehr oder weniger resignierend mit der Selektionsschwäche des modernen Eingriffsbegriffs ab.12 Immerhin herrschte bis vor einigen Jahren wenigstens in einem Punkt (weitgehend unbestrittene) Einigkeit: Jeder Jurastudent im zweiten Semester musste wissen, dass die Qualifizierung einer staatlichen Maßnahme als Grundrechtseingriff auf der zweiten Stufe der Grundrechtsprüfung Voraussetzung für die Eröffnung des Grundrechtsschutzes ist. Die Eingriffsmetapher beschrieb das Ergebnis einer erfolgreichen Zurechnung der Beeinträchtigung eines grundrechtlichen Schutzgutes zu einem staatlichen Verhalten und damit zur staatlichen Verantwortung. Die Bejahung eines Eingriffs in den Schutzbereich löst die grundrechtlichen Reaktionsansprüche aus, d. h. sie macht die fragliche Maßnahme grundrechtlich in formeller und materieller Hinsicht rechtfertigungspflichtig. Der Eingriff bedarf hinreichend bestimmter gesetzlicher Grundlage und muss materiell den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit genügen. Gelingt hingegen die Qualifizierung als Eingriff nicht, so greift das fragliche Grundrecht schon prima facie nicht ein, der Staat muss sich für das fragliche Verhalten schon im Ansatz nicht rechtfertigen. Die Beschlüsse des Ersten Senats des BVerfG zur Bhagwan-Sekte (Osho) und zum Glykol-Wein vom 26. Juni 2002 haben diese Gewissheiten umgestürzt – sie haben tatsächlich eine neue Eingriffsdogmatik installiert.13 Sie stehen mithin nicht nur für jene oben angesprochene Neuorientierung bei der Präzisierung der Schutzgehalts der Grundrechte, sondern haben in der Folge oder auch ergänzend das Verständnis von Funktion und Begriff des Eingriffs grundlegend verändert – und scheinen also den oben angedeuteten Zusammenhang von Schutzbereich und Eingriff eindrucksvoll zu bestätigen. Der Schlüsselsatz des Senats im Osho-Beschluss lautet: „Das Grundgesetz hat den Schutz vor Grundrechtsbeeinträchtigungen nicht an den Begriff des Eingriffs gebunden oder diesen inhaltlich vorgegeben.“14 Also konnte das Junktim von Eingriff und grundrechtlicher Rechtfertigung im Allgemeinen, im Besonderen aber von Eingriff und Gesetzesvorbehalt, welches Bethge noch vor 10 Jahren als „indisponibel“ charakterisiert hat,15 aufgegeben werden: Neben dem wieder auf seine klassische Gestalt zurückgeführten GrundrechtseinWeber-Dürler, VVDStRL 57 (1998), 89 ff. Bethge, VVDStRL 57 (1998), 42. 12 Vgl. die eher nachdenklich stimmende Quintessenz einer jüngeren Auseinandersetzung mit dem Eingriffsbegriff: „Letztlich bedarf es jedoch einer Gesamtbetrachtung des Sachverhalts, in der die Unmittelbarkeit der Nachteilszufügung, ihre Erkennbarkeit und ihre Schwere die maßgeblichen Kriterien darstellen.“, Huber, Festschrift Badura, 2004, S. 918. 13 Dazu Cremer, JuS 2003, 747 ff.; Murswiek, NVwZ 2003, 1 ff.; Huber, JZ 2003, 290 ff.; Bumke, Die Verwaltung 37 (2004), 3 ff. 14 BVerfGE 105, 279 (300 f.). 15 Bethge, VVDStRL 57 (1998), 46; ebenso Albers, DVBl. 1996, 236. 10 11
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griff steht als neue Kategorie die „eingriffsgleiche Grundrechtsbeeinträchtigung“, die, obschon nicht Eingriff, doch grundrechtliche Rechtfertigungspflichten auslöst. Mittelbar faktische Beeinträchtigungen, wie die Sektenwarnung oder die regierungsamtliche Information der Öffentlichkeit über möglicherweise gesundheitsschädliche Inhaltsstoffe in Lebensmitteln, sind danach zwar keine Eingriffe, können aber, ohne dies freilich immer zu müssen, eingriffsgleiche Beeinträchtigungen, dem Eingriff „funktionale Äquivalente“, sein,16 die genauso grundrechtlich rechtfertigungsbedürftig sind. Die ungewöhnlich deutliche Schelte, die das BVerfG für die Osho- und GlykolEntscheidung in der Literatur bezogen hat17 – Bethge hat sich daran in der Sache treffend, im Ton aber in nobler Zurückhaltung beteiligt18 – hat den Ersten Senat wenig beeindruckt. Neue Entscheidungen, etwa die wichtigen Beschlüsse zur Aufnahme der im Verdacht des Rechtsextremismus stehenden Zeitung „Junge Freiheit“ in den Verfassungsschutzbericht aus dem Jahr 200519 und zu den Tariftreueerklärungen nach dem Berliner Vergabegesetz vom 11. Juli 2006,20 zeigen, dass sich die erwähnte Differenzierung von den Eingriffen einerseits, den eingriffsgleichen Beeinträchtigungen andererseits in der Rechtsprechung des Ersten Senats etabliert hat – der Zweite Senat freilich ignoriert sie geflissentlich. Wenn sich die neu erfundene Kategorie jedenfalls als Sonderweg des Ersten Senats heute also offenbar festgesetzt hat, so gibt dies allein schon Anlass danach zu fragen, ob mit dieser begrifflichen Anreicherung des eingriffsdogmatischen Instrumentariums ein Gewinn an Rationalität in der grundrechtlichen Argumentation verbunden ist. Dieser Frage soll in einem ersten Teil der folgenden Überlegungen (II.) nachgegangen werden. In einem zweiten Teil (unten III.) soll es um mehr gehen als um die begriffliche Innovation und deren analytische Unterscheidungskraft. Die neue Rechtsprechung wirft mit ihrer Vorliebe für Eingriffsdiskussionen auch und vor allem die Frage auf, inwieweit diese Diskussionen und ihre Ergebnisse inhaltlich überzeugen können. Die Koinzidenz der neuen Gewährleistungs- mit der neuen Eingriffsdogmatik lenkt dabei von vornherein die Aufmerksamkeit auf mögliche Zusammenhänge und Wechselwirkungen. Im Mittelpunkt steht hier, ob die neoklassische Verengung des Eingriffsbegriffs, die durch die Neuschöpfung der flankierenden „eingriffsgleichen Beeinträchtigung“ nicht vollständig ausgeglichen wird, notwendige oder sinnvolle Folge oder Ergänzung der präziseren Fassung von grundrechtlichen Gewährleistungsgehalten ist – oder aber vielleicht gerade nicht. Wichtig ist diese Fragestellung auch, weil restriktiv eingesetzte Eingriffsbegriffe für den Grundrechtsschutz ebenso entscheidend wie prekär sind: Die Qualifizierung einer staatlichen 16 17 18 19 20
BVerfGE 105, 279 (303) – Osho; BVerfGE 116, 202 (222) – Tariftreue. Statt vieler nur Murswiek, NVwZ 2003, 1 ff. Bethge, Jura 2003, 332 f. BVerfGE 113, 63 (76, 80). BVerfGE 116, 202 (222).
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Maßnahme als Eingriff oder Nichteingriff ist eine Alles-oder-Nichts-Entscheidung, sie entscheidet definitiv über die Grundrechtsrelevanz oder -irrelevanz der fraglichen Maßnahme. Für flexible Rechtfertigungsargumentationen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit, etwa nach Maßgabe der Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung und der Bedeutung der verfolgten Regelungsziele, bleibt kein Raum. Genau dieser – offenbar intendierte – Effekt: vollständiger Verlust des Grundrechtsschutzes kraft Verneinung der Eingriffs- (und: „Beeinträchtigungs“-)qualität tritt in verschiedenen Entscheidungen des Ersten Senats zu Tage.21
II. Kategoriendualismus seit „Osho“: Eingriff und (eingriffsgleiche) Grundrechtsbeeinträchtigung Wie eingangs bemerkt, hat sich die „eingriffsgleiche Grundrechtsbeeinträchtigung“ gewissermaßen als Eingriff „zweiter Klasse“22 seit seiner Erfindung im Osho-Beschluss von 2002 in der Senats- und Kammerrechtsprechung des Ersten Senats eingenistet.23 Sie wird vom Senat seither dort herangezogen, wo es um mittelbare Beeinträchtigungswirkungen geht, also solche, die erst durch eine vermittelnde Zwischenursache beim Betroffenen ausgelöst werden.24 Ein Beispiel aus dem Bereich des Freizügigkeitsgrundrechts (Art. 11 Abs. 1 GG) bietet die Entscheidung vom 17. März 2004 zum Wohnortzuweisungsgesetz.25 Nach diesem Gesetz entfallen Sozialhilfeansprüche dann, wenn ein Aussiedler, dem ein bestimmter Wohnort zugewiesen ist, an einem anderen Ort Wohnung nimmt. Die Freiheit, den anderen Wohnort auszuwählen, wird also nicht unmittelbar beschnitten. Wohl aber wird eine solche Entscheidung mit einer nachteiligen Rechtsfolge verknüpft. Das BVerfG erkennt hierin eine mittelbare zielgerichtete Beeinträchtigung des Grundrechts, die als solche zwar kein Eingriff, gleichwohl aber an Art. 11 Abs. 1 GG zu messen sei. Ein zweites Beispiel liefert die Entscheidung zur Wochenzeitung „Junge Freiheit“ vom 24. Mai 2005.26 Es ging auch hier um mittelbare Auswirkungen – hier auf die Pressefreiheit des Verlegers –, die darin bestanden, dass potentielle Leser 21 Beispiele: BVerfGE 106, 275 (299 f.) – Festbeträge (Auswirkungen auf die Berufsausübung sind „bloßer Reflex)“; BVerfGE 118, 1 – Anwaltsvergütungs-Kappungsgrenzen („weder ein Eingriff in die Berufsfreiheit noch eine Maßnahme mit eingriffsgleicher Erwirkung“), dazu krit. Sondervotum Gaier sowie Zuck, JZ 2008, 287 ff. 22 Volkmann, Staatsrecht II, 2007, § 15 Rn. 40. 23 Über die nachfolgend aufgeführten Entscheidungen hinaus auch in BVerfG (K) NVwZRR 2002, 801 (Sektenwarnung); BVerfG (K) DVBl. 2007, 1097 (Besteuerung von Biokraftstoffen); BVerfG (K) NJW 2007, 2537 (Versicherungsvermittlung); BVerfG (K) NVwZ 2008, 780 (Flughafen Berlin-Schönefeld). 24 BVerfGE 116, 202 (222) – Tariftreue. 25 BVerfGE 110, 177 (191). 26 BVerfGE 113, 63 (76 f.).
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davon abgehalten werden, die Zeitung zu erwerben und zu lesen, und zwar als Folge der Veröffentlichung des Blattes unter der Rubrik Rechtsextremismus im Verfassungsschutzbericht. Der Senat betont auch hier, dass es sich nicht um einen Eingriff im traditionellen Sinne handele, wohl aber um eine in ihrer Zielsetzung und Wirkung einem Eingriff gleich kommende, eingriffsgleiche Maßnahme. Schließlich findet sich die Unterscheidung auch in dem erwähnten Beschluss zum Berliner Vergabegesetz vom 11. Juli 2006.27 Dort heißt es in Zusammenfassung des aktuellen Standes der Rechtsprechung: „Der Grundrechtsschutz ist nicht auf Eingriffe im herkömmlichen Sinne beschränkt. Vielmehr kann der Abwehrgehalt der Grundrechte auch bei faktischen oder mittelbaren Beeinträchtigungen betroffen sein, wenn diese in der Zielsetzung und in ihren Wirkungen Eingriffen gleichkommen. Durch die Wahl eines solchen funktionalen Äquivalents eines Eingriffs entfällt die Grundrechtsbindung nicht. An der für die Grundrechtsbindung maßgebenden eingriffsgleichen Wirkung einer staatlichen Maßnahme fehlt es jedoch, wenn mittelbare Folgen ein bloßer Reflex einer nicht entsprechend ausgerichteten gesetzlichen Regelung sind.“ Diese im Osho-Beschluss vor sieben Jahren eingeführte Begrifflichkeit und Differenzierung des Ersten Senats – sie ist wirklich neu28 – lässt ein sozusagen wissenschaftliches, jedenfalls lehrbuchartiges Streben nach analytisch scharfem Zugriff auf das Eingriffsproblem erkennen. Es sollen offenbar nicht mehr alle gegenständlich verschiedenen Varianten staatlicher Beeinträchtigung von Grundrechtsgütern in den Topf des Eingriffs geworfen, sondern die Unterschiede von vornherein durch begriffliche Differenzierung bewahrt und geachtet werden. Dies ist an sich ein anerkennenswertes Anliegen. Freilich hält die Anerkennung nur solange vor, wie die begriffliche Unterscheidung die sachlichen Unterschiede und daran anknüpfende unterschiedliche rechtliche Folgerungen auch klar transportiert. Ein näherer Blick auf die Entscheidungen macht jedoch sofort klar, dass das nicht der Fall ist. Die eingeführte Differenzierung ist erstens von ihren Kriterien her unklar und damit analytisch leistungsschwach, und sie verfehlt zweitens die im Osho-Beschluss mit ihr verbundene Hauptfunktion, ist damit funktionslos und überflüssig.
BVerfGE 116, 202 (222). Soweit in der Literatur behauptet wird, der Begriff der Beeinträchtigung als eigenständige, vom Eingriff klar geschiedene dogmatische Kategorie, in der die faktischen mittelbaren Rechtsgutbeeinträchtigungen zusammengefasst seien, sei auch schon in der alten Rechtsprechung des BVerfG etabliert gewesen (so etwa Sachs, in: Stern, Staatsrecht, Bd. III / 2, 1994, § 78, S. 80), tragen die dafür angegebenen Beispiele diesen Befund nicht. Die Entscheidungen, etwa BVerfGE 13, 181 (186) und BVerfGE 46, 120 (137) verwenden zwar das Wort „beeinträchtigen“ und handeln von der Notwendigkeit der Ausweitung des Grundrechtsschutzes über klassische Eingriffsmaßnahmen hinaus. Sie schlagen aber die so als grundrechtsrelevant identifizierten mittelbaren oder faktischen Rechtsguteinwirkungen gerade dem Eingriffsbegriff zu und grenzen ihn davon keineswegs unter einer besonderen Kategorie der Beeinträchtigung ab. 27 28
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1. Analytische Leistungsschwäche des Begriffs der (eingriffsgleichen?) Grundrechtsbeeinträchtigung Der Senat grenzt die eingriffsgleiche Beeinträchtigung vom Eingriff im traditionellen Sinne ab. Dieser wird in der Osho-Entscheidung definiert als „rechtsförmiger Vorgang, der unmittelbar und gezielt (final) durch ein vom Staat verfügtes, erforderlichenfalls zwangsweise durchzusetzendes Ge- oder Verbot, also imperativ, zu einer Verkürzung grundrechtlicher Freiheiten führt.“29 Dieser enge Eingriffsbegriff umfasst mithin ein Bündel konstituierender Elemente. Daraus ergibt sich mit Blick auf die neue Kategorie sofort die Frage, ob ein Eingriff nur noch anzunehmen ist, wenn jedes dieser Elemente vorliegt und also schon bei dem Fehlen auch nur eines dieser Elemente, etwa der Rechtsförmigkeit (bei faktischem Handeln) oder der Unmittelbarkeit (bei durch Dritte vermittelten Auswirkungen), eine sonstige „Beeinträchtigung“ anzunehmen ist. Der Osho-Beschluss lässt diese Frage offen und betont nur, dass in dem dieser Entscheidung zu Grunde liegenden Fall keines der Eingriffsmerkmale erfüllt sei. Bei Hoffmann-Riem, der an der Osho-Entscheidung mitgewirkt hat, finden sich Ausführungen, die darauf schließen lassen, dass er allein zugleich nicht-unmittelbare und nicht-finale Maßnahmen aus dem Eingriffsbegriff herausnehmen und also den Beeinträchtigungen zuschlagen will.30 Ein derart engeres Verständnis würde mit Blick auf die gleich zu erörternde rechtliche Funktion des Ausschlusses aus dem Eingriffsbegriff durchaus Sinn machen. Die nachfolgenden, oben erwähnten Entscheidungen des Senats folgen jedoch diesem Verständnis nicht. In ihnen ist die Kategorie der eingriffsgleichen Beeinträchtigungen gerade auch für intentional verursachte, wenngleich faktische Beeinträchtigungen herangezogen worden.31 Die Kategorie ist also offenbar weit zu verstehen, sie umfasst alles, was nicht klassischer Eingriff ist. 2. Dysfunktionalität der Kategorie In dieser weiten Bedeutung ist die Kategorie jedoch funktionslos. Von welcher Funktion indessen ist hier die Rede? Es unterliegt keinem vernünftigen Zweifel, dass Begriff und Kategorie der grundrechtsrelevanten Beeinträchtigung neben dem Eingriff im Osho-Beschluss eingeführt worden ist, um den für Eingriffe geltenden Gesetzesvorbehalt auszuschalten, im Kern mit der Begründung, die Exekutive (hier: Regierung) könne bei den in Rede stehenden, nicht im Vorhinein kalkulierbaren, vielmehr situativ spontan und flexibel zu bestimmenden Maßnahmen nicht auf gesetzliche Ermächtigungen verwiesen werden. Der Senat hat diese schon vom BVerfGE 105, 279 (299 f.). Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), 222. 31 Deutlich BVerfGE 116, 202 (222), wo die „Zielsetzung“ der Maßnahme geradezu als Kennzeichen der eingriffsgleichen Beeinträchtigung in Abgrenzung zum „nicht entsprechend ausgerichteten“ „bloßen Reflex“ genannt wird; sachlich konnte an der Finalität der Tariftreueregelung auch kein Zweifel bestehen. 29 30
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Bundesverwaltungsgericht32 in seinen älteren Entscheidungen zum Informationshandeln der Regierung vorgezeichnete Motivation in den Beschlüssen vom 26. Juni 2002 deutlich eingeräumt.33 Danach gebe es mittelbar faktische Beeinträchtigungen grundrechtlicher Freiheit, etwa durch staatliche Warnungen oder Informationen, die zwar die materiellen Rechtfertigungslasten des Grundrechts, nicht aber die formelle Anforderung einer parlamentsgesetzlichen Grundlage auslösen. Nun: Wenn die konstitutionelle Formel – kein Eingriff in Freiheit und Eigentum ohne Gesetz! – aufrechterhalten werden soll, ist es nachvollziehbar, diese Klasse zwar grundrechts-, jedoch nicht gesetzesgebundener Verhaltensweisen des Staates einem eigenständigen Begriff neben dem Eingriff zuzuweisen. Schon die Osho-Entscheidung hat aber den Begriff der „Beeinträchtigung“ viel zu breit und unscharf angelegt, um die Funktion der Freistellung vom Gesetzesvorbehalt erfüllen zu können. Schon in Osho war davon die Rede, dass es auch innerhalb der Klasse der faktisch mittelbaren Beeinträchtigungen ohne Eingriffsqualität eine Teilklasse von staatlichen Handlungen gebe, die nicht vom Gesetzesvorbehalt freigestellt seien, sofern sie nämlich nach Zielsetzung und Wirkungen als Ersatz für einen Grundrechtseingriff im herkömmlichen Sinne, als „funktionales Äquivalent eines Eingriffs“ zu qualifizieren seien. Von Anfang an gab also der neue Begriff keine definitive Orientierung, in welchen Fällen auf die parlamentsgesetzliche Grundlage verzichtet werden durfte und in welchen nicht. Er war ja für die Fälle der praeterlegalen Grundrechtsgutbeeinträchtigungen kraft gouvernementaler Staatsleitung oder sonstiger verfassungsunmittelbarer „Beeinträchtigungs“Titel gerade nicht reserviert, sondern schloss die Quasi-Eingriffe, die gesetzlicher Grundlage bedürfen, schon mit ein. Diese Schwäche wirkte sich in den nachfolgenden Entscheidungen sofort aus: Die eigentlich mit der Einführung der neuen Kategorie intendierte Funktion der Freistellung sonstiger Beeinträchtigungen vom Gesetzesvorbehalt wurde vollkommen verschüttet. Von einer Freistellung vom Gesetzesvorbehalt ist in allen späteren Entscheidungen, die grundrechtsrelevante Nichteingriffe behandeln, nicht mehr die Rede. In allen Fällen wird vielmehr die parlamentsgesetzliche Grundlage geprüft und als notwendig vorausgesetzt. Die im Osho-Beschluss noch angelegte Differenzierung zwischen (eingriffsungleichen) sonstigen Grundrechtsbeeinträchtigungen, die ohne Gesetz zulässig sind, und qualifizierten, nämlich funktional dem Eingriff äquivalenten Grundrechtsbeeinträchtigungen, die nur auf gesetzlicher Grundlage zulässig sind, ist aufgegeben. Jetzt heißt es durchweg nur noch, dass die Grundrechtsbindung schlechthin – nicht etwa erst der Gesetzesvorbehalt – nur durch funktionale Äquivalente eines Grundrechtseingriffs ausgelöst wird. Man kann das so verstehen, dass es jetzt einfach zwei grundrechtsrelevante Kategorien gibt, den echten Eingriff und die eingriffsgleiche Beeinträchtigung, die denselben formellen und materiellen Anforderungen genügen muss wie der Eingriff. Die 32 33
BVerwGE 82, 76 (79 ff.); NJW 1991, 1770. BVerfGE 105, 279 (301) – Osho; BVerfGE 105, 252.
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eigentliche Funktionsbestimmung der neuen Kategorie ist damit unter den Tisch gefallen. Die Freistellung vom Gesetzesvorbehalt bleibt ein fragiles Sonderphänomen für die Regierungswarnungen, hat aber mit der dogmatischen Differenzierung von Eingriff und Beeinträchtigung nichts mehr zu tun. Sofern es über diese Fallgruppe hinaus doch noch eine (gegenwärtig verborgene) Teilklasse derjenigen staatlichen Verhalten geben sollte, die zwar materiell an den Grundrechten zu messen ist, aber nicht dem Gesetzesvorbehalt unterliegt, so liegt sie jetzt irgendwo im weiten Einzugsbereich des neuen Begriffs, wird durch diesen aber nicht abgegrenzt. Der Begriff leistet also nicht das, was er leisten sollte. Sein Wert, wenn man davon überhaupt sprechen will, beschränkt sich darauf zu veranschaulichen, dass es neben dem klassischen imperativen Eingriff (Rechtsverkürzung durch unmittelbar an den Betroffenen adressierte, notwendigerweise finale Regelung) auch noch problematischere Formen grundrechtsrelevanter Einwirkungen gibt. Diese Einsicht gab es allerdings schon immer – genauer sogar schon von Anbeginn des Grundrechtsdenkens in Deutschland im 19. Jahrhundert, welches entgegen der irreführenden Rede vom angeblich engen klassischen Grundrechtseingriff seit jeher von einem durchaus weiteren Eingriffsverständnis einschließlich der faktisch mittelbaren Beeinträchtigungen ausgegangen ist.34 3. Zur angeblichen Notwendigkeit praeterlegaler Grundrechtseingriffe Abgesehen vom Scheitern der neuen Begrifflichkeit ist der – bisher nur für die Fälle der Regierungswarnungen in der Rechtsprechung akzeptierte – Dispens nicht eingriffsgleicher, aber grundrechtsrelevanter Beeinträchtigungen vom Gesetzesvorbehalt auch in der Sache fragwürdig. Die neue Kategorie der Beeinträchtigung wäre also auch und gerade dann problematisch, wenn sie die ihr zugewiesene Funktion, anders als in der bisherigen Rechtsprechung,35 tatsächlich trennscharf erfüllen würde. Die Hauptbegründung für die Lockerung der Konnotation von Grundrechtsbeschränkung und Gesetzesvorbehalt erscheint spekulativ und auch als Spekulation wenig plausibel, gerade auch mit Blick auf die Fälle staatlichen Infor34 Aus den Anfängen der Verwendung des Eingriffsbegriffs Anfang des 19. Jahrhunderts ist die heute für klassisch erklärte Eingrenzung anhand der verwendeten Eingriffsmerkmale gerade nicht geläufig. Und auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die durch eine stärkere dogmatische Strukturierung des Eingriffs gekennzeichnet ist, erfasst der Eingriffsbegriff zwanglos auch indirekte und rein tatsächliche Einwirkungen, dies auch in der Weimarer Zeit. Besonders bemerkenswert: Die Konkurrenz des Staates im Wirtschaftsleben ist schon zu Anfang des 19. Jahrhunderts als Eingriff in die Erwerbsfreiheit angesehen worden, Jordan, Versuch über allgemeines Staatsrecht, 1828, S. 417; näher zu alldem Sachs (Fn. 28), § 78, S. 86 ff. 35 Welche ja die Beeinträchtigung in fast allen Fällen doch vollständig wie einen Eingriff behandelt, BVerfGE 105, 279 (303): „Durch Wahl eines solchen funktionalen Äquivalents eines Eingriffs kann das Erfordernis einer besonderen gesetzlichen Grundlage nicht umgangen werden.“
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mationshandelns, die jener These zu Grunde liegen.36 Diese Hauptbegründung zielt darauf, es gebe Eingriffsnotwendigkeiten,37 die gesetzlich gar nicht regelbar seien, insbesondere wegen ihrer fehlenden Vorhersehbarkeit.38 Diese Annahme leuchtet indes nicht recht ein. Fachgesetzliche Normierungen staatlicher Informationstätigkeit belegen, dass eine gesetzliche Normierung offenbar sehr wohl möglich ist – jedenfalls in zumindest für die Aufgaben-Kompetenzabgrenzung durchaus werthaltiger generalklauselartiger Form.39 Dies gilt sicherlich auch in den Fällen von Lebensmittelwarnungen oder Sektenwarnungen, in denen die Auswirkungen auf die betroffenen Hersteller, Händler bzw. Gemeinschaften als so gut wie sicherer und unvermeidbarer Begleiteffekt völlig klar, ja sogar eventualvorsätzlich mitgewollt sein mussten.40 Was schließlich wirklich unvorhersehbare Folgen staatlichen Handelns angeht, ist umso weniger einzusehen, weshalb die Exekutive eigentlich die gesetzesfreie Macht haben soll, derartige Folgen grundrechtslegal verursachen zu dürfen. Unkalkulierbare Beeinträchtigungen von Grundrechtsgütern soll der Staat gar nicht ins Werk setzen. Tut er es dennoch, werden sie ihm gerade darum zu seiner Grundrechtsverantwortung, für die es auf subjektive Elemente (Verschulden) nicht ankommen kann,41 zugerechnet. Unbeabsichtigte oder nicht vorhergesehene und damit auch nicht normierbare grundrechtsbeeinträchtigende Folgen staatlichen Handelns (etwa: der fehlgehende Schuss des Polizeibeamten, unbeabsichtigte Gewerbebeeinträchtigungen durch fehlerhafte Straßenbauarbeiten usw.) bilden gerade Fälle rechtswidriger Schadenszufügung, Fälle objektiven Staatsunrechts, die eindeutig nicht rechtfertigungsfähig sind. Es geht mithin hier gerade nicht um rechtfertigungsfähige und damit potentiell rechtmäßige Eingriffe auf gesetzlicher Grundlage, sondern um Beeinträchtigungsfolgen, die ohnehin nicht legalisierbar wären.42 Es gibt keinen Grund, ausgerechnet wegen solcher Fälle ungewollter und unkalkulierter Schadenszufügung den Staat bei seinem grundrechtsrelevanten Handeln vom Gesetzesvorbehalt zu befreien.
Dagegen auch Klement, DÖV 2005, 507 ff. Die diese Notwendigkeit behauptenden Annahmen des BVerfG, die von einem sich über die gesamte Verwaltungskompetenzordnung hinwegsetzenden Bedürfnis („Erwartung der Bürger“ als Kompetenzbegründung, BVerfGE 105, 252 Rn. 53 f.) dafür ausgehen, dass gerade die Regierungen die Bürger vor Gefahren warnen müssten und diese Aufgabe und Befugnis (weshalb dann eigentlich nur Warnungen und nicht gleich auch ordnungsrechtliche Maßnahmen?) als „Staatsleitung“ ausgeben, sind ihrerseits hochgradig fragwürdig; vgl. zur Kritik etwa Ibler, Festschrift Maurer, 2001, S. 156 ff. 38 So schon Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen im Bereich der Grundrechte, 1970, S. 94; siehe ferner Papier (Fn. 1), S. 97 f. 39 Vgl. § 8 ProdSG sowie Huber, JZ 2003, 295 mit weiteren Beispielen. 40 Heintzen, VerwArch 81 (1990), 546; Klement, DÖV 2005, 513; Volkmann, JZ 2005, 269. 41 Klement, DÖV 2005, 511 f. 42 Siehe auch Sachs (Fn. 28), § 78, S. 179 ff. 36 37
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III. Ein genauerer Blick auf die Eingriffsmerkmale: Beharrungskraft des Finalitätskriteriums Wie konsistent und tragfähig ist in der Sache das vom 1. Senat in der jüngsten Rechtsprechung zu Grunde gelegten Konzept einer restriktiveren Eingriffsprüfung – und wie verhält es sich zur Tendenz, auch die Gewährleistungsgehalte präziser zu fassen? Auf der Suche nach Antworten auf diese Fragen soll im Folgenden zunächst noch einmal ein Blick auf vier besonders aussagekräftige neuere Entscheidungen des BVerfG zum Thema, jeweils aus dem Bereich der Berufsfreiheit, geworfen werden. Dabei geht es darum herauszufinden, worin die jeweils angewandte Argumentation hinsichtlich der Bejahung oder Verneinung der Eingriffsqualität im Wesentlichen besteht und ob sie überzeugend ist. 1. Die Rechtsprechung zur staatlichen Beeinflussung von Marktteilnahme-Bedingungen a) Die Festbetragsentscheidung des BVerfG vom 17. Dezember 200243 In dem Urteil vom 17. Dezember 2002 zu den Arzneimitteln-Festbeträgen im Gesundheitswesen ist den Pharmaherstellern der Grundrechtsschutz aus Art. 12 Abs. 1 GG versagt worden, und zwar schon mangels eines Eingriffs in den Schutzbereich. Die fragliche Regelung über die Festbeträge (§ 35 SGB V) gibt den Spitzenverbänden der Krankenkassen die Befugnis, für Arzneimittel sogenannte Festbeträge, das heißt in der Krankenversicherung erstattungsfähige Höchstbeträge festzusetzen. Die Versicherten erhalten nicht mehr jedes verordnete Arzneimittel kostenfrei, sondern nur noch jene Mittel, deren Preis den Festbetrag nicht überschreitet. Dieses Instrument führt dazu, dass die Anbieter von preislich über dem Festbetrag liegenden Arzneimitteln faktisch gezwungen werden, ihre Preise insoweit auf den Festbetrag abzusenken, weil sie ansonsten kaum Chancen haben, die Arzneimittel abzusetzen. Dieser Effekt war vom Gesetzgeber gewollt: Eindeutiges, in den Gesetzesberatungen klar zum Ausdruck gebrachtes Ziel der Regelung war es, die Hersteller von hochpreisigen Medikamenten zu veranlassen, ihre Preise zu senken und über solche Preissenkungen das gesamte Preisgefüge zu verändern.44 Das BVerfG hat – soweit es um die angebliche Betroffenheit der Pharmahersteller ging – das Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG schon tatbestandlich als nicht berührt angesehen. Dass die Marktchancen der Arzneimittelhersteller betroffen würden, ändere hieran nichts; die Wettbewerber hätten keinen Anspruch darauf, 43 BVerfGE 106, 275; siehe auch thematisch verwandt BVerfG (K) v. 4. Februar 2004 NZS 2005, 479, betreffend die Anhebung der Versicherungspflichtgrenze; die Kammer lässt hier jedoch die Frage, ob in der Einschränkung des Kundenkreises der Privatversicherungen durch die Anhebung der Pflichtgrenze ein Eingriff zu sehen sei, offen und prüft, diese Annahme unterstellend, die grundrechtliche Rechtfertigung. 44 Vgl. BVerfGE 106, 275 (300).
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dass die Wettbewerbsbedingungen für sie gleich bleiben, insbesondere auch keinen Anspruch auf Erfolg im Wettbewerb. Die Auswirkung der Regelung auf die Berufsausübung der Hersteller sei „bloßer Reflex der auf das System der gesetzlichen Krankenversicherung bezogenen Regelung“. Die Erstreckung des Preiswettbewerbs auf den Arzneimittelmarkt der gesetzlichen Krankenversicherung sei eine vom „gesetzgeberischen Willen umschlossene Folgewirkung der Festbeträge, nicht aber ein eigenständiges Ziel des Gesetzes“.45 Als Fazit dieser Aussagen lässt sich festhalten: Trotz wirtschaftlich erheblicher, faktisch zwingender, vom Gesetzgeber vorhergesehener und auch gewollter mittelbarer Beeinflussung der Angebotsmacht der Arzneimittelhersteller im Hinblick auf ihre Möglichkeiten, den Preis zu bestimmen, soll die staatliche Regelung kein Eingriff in die Berufsfreiheit der Betroffenen sein. Ausschlaggebend dafür sind zwei Argumente, erstens, dass Art. 12 Abs. 1 GG dem Betroffenen grundsätzlich kein Recht auf einen bestimmten Preis, d. h. wirtschaftlichen Erfolg seines Angebots gebe, zweitens, dass die faktische Angebotspreisbeeinflussung zwar gewollt, aber doch kein eigenständiges Ziel des Gesetzes gewesen sei. Nicht das erste, wohl aber das zweite Argument ist ein Finalitätsargument: Die Regelung bezweckte (angeblich) nicht geradezu die Einschränkung der Preisgestaltungsmacht der PharmaHersteller; sie war gewissermaßen nicht final genug. b) Der Tariftreuebeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juli 200646 Dieser Entscheidung sei der Beschluss betreffend die Regelung über die Tariftreueerklärung im Berliner Vergabegesetz gegenüber gestellt. Diesem Gesetz zufolge soll die Vergabe von Bauleistungen durch Berliner Vergabestellen mit der Auflage erfolgen, dass die auftragnehmenden Unternehmen ihre Arbeitnehmer bei der Ausführung des Auftrages nach den jeweils in Berlin geltenden Entgelttarifen entlohnen. Hier bejahte das BVerfG einen Eingriff in das Grundrecht der Berufsfreiheit der auftragnehmenden Unternehmen. In der Tariftreueregelung des Gesetzes sei eine eingriffsgleiche Beeinträchtigung der Berufsfreiheit zu sehen. Regelungsinhalt und Zielrichtung der Norm gingen über einen bloßen Reflex auf Seiten der Unternehmen hinaus, auch wenn sich das Gesetz regelungstechnisch nicht an sie, sondern an die Auftraggeber richte und die Unternehmer, die keine Verträge mit öffentlichen Stellen abschließen wollen, nicht vom Regelungsbereich des Gesetzes erfasst würden. Ausschlaggebend dafür soll sein, „dass der Inhalt der vom Auftragnehmer abzuschließenden Arbeitsverträge mittelbar selbst schon Gegenstand der gesetzlichen Regelung [ist], auch wenn er den Arbeitsvertragsparteien nicht unmittelbar normativ vorgeschrieben wird. Er ist inhaltlich durch die Norm vorgegeben, indem geregelt ist, dass die Anwendung der örtlichen Entgelttarifver45 46
BVerfGE 106, 275 (302). BVerfGE 116, 202.
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träge durch die Auftragnehmer verlangt werden soll. Mit dieser gesetzlichen Regelung soll zudem gerade erreicht werden, dass die Geltung tarifvertraglicher Entgeltabreden ausgeweitet wird. Die Einflussnahme auf die Arbeitsbedingungen ist damit von der Zweckrichtung des Gesetzgebers umfasst. Sie tritt nicht nur reflexartig als faktische Folge eines anderen Zielen dienenden Gesetzes ein.“47 Entscheidend ist nach den dargelegten Gründen offenbar wiederum zweierlei, zum einen die zwar mittelbare, aber inhaltlich vollständige Bindung der Entscheidungsfreiheit des Unternehmers, welchen Lohn er vertraglich mit seinen Arbeitnehmern vereinbart: Das Unternehmen muss genau den Lohn zahlen, der vom Gesetz in Bezug genommen ist, damit es den Auftrag bekommt. Der zweite Grund für den Eingriffscharakter ist, dass die vermittelte Einflussnahme auf die Arbeitsverträge Zweck des Gesetzes ist. Ausschlaggebend ist also auch hier die Finalität der Regelung.
2. Zwischenüberlegung: Finalität als überzeugendes Kriterium für die unterschiedliche Beurteilung des Eingriffscharakters? Die beiden Fälle sind unter dem Eingriffsaspekt vollkommen unterschiedlich entschieden worden. Die Gegenüberstellung der Sachverhalte und Argumente macht deutlich, dass dies im Ergebnis zweifelhaft und jedenfalls von der gegebenen Begründung her nur schwer nachvollziehbar ist. In beiden Fällen bewirkt der Staat eine faktisch zwingende Verschlechterung der Angebotsposition der Betroffenen, indem er die Nachfragekonditionen auf dem jeweiligen Markt verändert: Die Pharmaunternehmen müssen ihre Preise senken, um ihre Produkte noch absetzen zu können. Die Bauunternehmen müssen die gezahlten Löhne erhöhen, um ihre Dienst- oder Werkleistung absetzen zu können. Der faktische Belastungseffekt wird auch durch beide gesetzlichen Regelungen vollständig determiniert: Die Pharmaunternehmen müssen ihre Preisen im Wesentlichen auf die Festbeträge absenken, die Bauunternehmen müssen die Tariflöhne vereinbaren. Soweit das BVerfG in der Tariftreue-Entscheidung für die Beurteilung der Eingriffsfrage auf diesen Gesichtspunkt Wert gelegt hat, hätte das also genauso auch für die Festbeträge gelten können. Was schließlich die Finalität als das offenbar ausschlaggebende Eingriffskriterium angeht, so ist kaum zu begreifen, weshalb es für die Zurechnung zum Staat einen Unterschied machen soll, ob dieser die Belastung nur kennt und will (wie bei den Festbeträgen), ohne dass sie geradezu Selbstzweck der Regelung ist (angeblich keine Finalität), oder ob sie darüber hinaus wie bei der Tariftreueregelung selbstständiger Regelungszweck ist (Finalität). Abgesehen von der begrifflich und sachlich fragwürdigen Unterscheidung von Haupt- und Nebenzwecken sowie gewollten Folgewirkungen, bei der es wohl im Wesentlichen auf die jeweils gewählte Formu47
BVerfGE 116, 202 (222 f.).
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lierung ankommt, ist auch überhaupt nicht einsehbar, weshalb es für die grundrechtliche Eingriffszurechnung auch noch auf die denkbar engste Variante subjektiver Finalität, auf eine Art Nachteilszufügungsabsicht ankommen soll. Es ist nachgerade Normalität und typisches Kennzeichen klassischer Eingriffe, dass sie eine Freiheitsverkürzung nicht um ihrer selbst willen, sondern zur Erreichung anderweitiger Zwecke vornehmen. Deswegen kann es nicht überzeugen, wenn es das BVerfG in der Festbetrags-Entscheidung nicht ausreichen lässt, dass die staatliche Einwirkung auf die Angebotsbedingungen der Pharmaunternehmen zwar gewollt, aber nichts als solches – eigenständiges – Ziel des Gesetzes gewesen sei – abgesehen von der inhaltlichen Fragwürdigkeit derartiger Rangfolgenbildungen in der Motivation des staatlichen Handelns. Schließlich lässt sich ganz grundsätzlich bezweifeln, weshalb es für die grundrechtliche Verantwortlichkeit des Staates eigentlich auf dessen subjektive Willensrichtung oder die Vorhersehbarkeit der Beeinträchtigungsfolgen ankommen soll. Es gibt gute Gründe, die Grundrechtsbindung nicht als eine Art Verschuldenshaftung oder Haftung für Handlungsunrecht aufzufassen.48 Die Finalitäts- und damit die Eingriffsargumentation, mithin die angebliche Unterscheidbarkeit zwischen bloßem Reflex und von der Zweckrichtung umfasster Auswirkungen im Festbetrags- wie im Tariftreue-Fall erscheinen als ziemlich schwache Verlegenheitsargumentationen. Das Argument fehlender Finalität kann abgesehen von seiner inhaltlichen Fragwürdigkeit jedenfalls nicht überzeugen, wenn die Finalität unübersehbar vorliegt, wie im Festbetragsfall, wo die erzwungene Preissenkung bei den Pharmaherstellern als erklärtes Gesetzesziel in den Parlamentsmaterialien nachzulesen ist. Die wahren Gründe für die Weigerung, hier eine Grundrechtsbetroffenheit der Pharmaunternehmen anzunehmen, müssen, darauf deutet die Unzulänglichkeit der Eingriffsargumentation hin, woanders liegen. Und tatsächlich spricht das BVerfG diese Gründe ja auch an, und zwar im ersten Teil der Argumentation: „Die Wettbewerber haben aber keinen grundrechtlichen Anspruch darauf, dass die Wettbewerbsbedingungen für sie gleich bleiben. Insbesondere gewährleistet das Grundrecht keinen Anspruch auf Erfolg im Wettbewerb oder auf Sicherung künftiger Erwerbsmöglichkeiten.“49 Diese Aussagen betreffen nicht die Eingriffsqualität der staatlichen Regelung, sondern die Schutzreichweite des Art. 12 Abs. 1 GG. Sie bestreiten den grundrechtlichen Schutz gegenüber staatlich induzierten Veränderungen des Nachfrageverhaltens und damit der Erfolgschance des Anbieters im Markt nicht wegen irgendwelcher Eigenschaften der staatlichen Maßnahme, sondern deswegen, weil das Grundrecht gleichbleibende Marktchancen schlechthin nicht gewährleiste. Mit der Vorhersehbarkeit oder Gewolltheit (Finalität) der Veränderung der Marktchance durch den Staat hat ein so begründeter Ausschluss des Grundrechtsschutzes offensichtlich nichts zu tun. Demgemäß wirken die in den Entscheidungsgründen sich anschließenden Ausfüh48 49
Siehe schon oben, II. 3., und Klement, DÖV 2005, 511 ff.; Sachs (Fn. 28), § 78, S. 179. BVerfGE 106, 275 (299).
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rungen zu Finalität und damit zum Eingriffsbegriff wie aufgesetzt und eigentlich überflüssig. Die Eingriffsargumentation erscheint als ein inhaltlich – wie gezeigt – nicht überzeugender Versuch einer zusätzlichen Begründung für den Ausschluss des Grundrechtsschutzes, nachdem schon der sachliche Schutzbereich des Grundrechts verneint worden war. 3. „Objektiv berufsregelnde Tendenz“ Der damit begründete Verdacht, dass Eingriffsargumentationen häufig wohl einfach nur unbefriedigende Alibi-Begründungen für unausgesprochen bleibende oder nicht für tragfähig genug erachtete Begrenzungen des Gewährleistungsgehaltes der Grundrechte sind, dass also verallgemeinernd gesprochen die Zurechnungsfunktion des Eingriffs um eine weitere Funktion der Begrenzung des sachlichen Schutzbereichs aufgeladen wird, bestätigt sich bei einem Blick auf zwei neuere Referenzbeispiele aus einem anderen klassischen Problemsektor des Grundrechtseingriffs im Bereich der Berufsfreiheit, dem Problem der Qualifizierung von Geldleistungspflichten als Eingriffen in die Berufsfreiheit. Das BVerfG hat seit jeher Abgabelasten, die sich auf die Berufswahl oder -ausübung nachteilig auswirken, teils als Eingriffe in die Berufsfreiheit anerkannt, teilweise und überwiegend jedoch abgelehnt. Allerdings geht es bei diesen Abgrenzungsbemühungen, anders als in den oben diskutierten Fällen, nicht um die Frage, ob überhaupt Grundrechte durch die staatliche Maßnahme berührt sind oder nicht. Vielmehr wird hinterfragt, ob die Abgabenbelastung (oder auch sonstige Regelungen) gerade das Grundrecht der Berufsfreiheit in seiner Abwehrfunktion herausfordert – oder nicht vielleicht doch nur andere Verbürgungen der Handlungsfreiheit, etwa Art. 2 Abs. 1 GG. Es geht also hier bei der Eingriffsdiskussion nicht um Grundrechtsschutz schlechthin, sondern um berufsgrundrechtsspezifischen Grundrechtsschutz, mithin um die Frage der Grundrechtskonkurrenz. Entscheidendes Kriterium dafür soll die subjektive oder zumindest objektiv berufsregelnde Tendenz der Abgabenregelung sein, also auch hier eine Art Finalitätskriterium. Seine Essenz besteht darin zu fragen, ob eine Regelung gerade auf die Berufsausübung zielt. Die objektiv berufsregelnde Tendenz als der Berufsfreiheit spezifisches Eingriffskriterium ist in der Literatur schon häufig totgesagt50 und noch häufiger abgelehnt worden.51 Die Nachrufe waren verfrüht; die objektiv berufsregelnde Tendenz ist in der jüngsten Rechtsprechung beider Senate (und mehr noch ihrer Kammern) lebendiger denn je.52 Anschauliche, aber auch ernüchternde 50 Zuletzt wieder – unter Berufung auf BVerfGE 109, 64 (85) – Volkmann (Fn. 22), § 15 Rn. 63. 51 Dietlein, in: Stern, Staatsrecht, Bd. IV / 1, 2006, S. 1844 f.; Manssen, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 12 Rn. 74. 52 Z. B.: BVerfGE 113, 29 (Datenbeschlagnahme) Rn. 91; BVerfG (K) DVBl. 2007, 1097 (Besteuerung von Biokraftstoff) Rn. 32 f.; BVerfGE 118, 1 (Rechtsanwaltsgebühren), Sondervotum Gaier.
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Beispiele liefern aus der Sonderabgabenrechtsprechung des BVerfG die beiden Beschlüsse zur so genannten Klärschlammabgabe einerseits und zur Abgabe für den Solidarfonds Abfallrückführung andererseits.
a) BVerfGE 110, 370 – Klärschlammabgabe Im Beschluss des Zweiten Senates zur Klärschlammabgabe vom 18. Mai 2004 ging es um eine Regelung des Düngemittelgesetzes, nach der alle Hersteller von Klärschlämmen (also Kläranlagenbetreiber), die in der Landwirtschaft eingesetzt werden, zur Entrichtung eines Beitrages in einen Entschädigungsfonds verpflichtet sind. Aus diesem Fonds sollen Schäden an Personen und Sachen, die aus der landwirtschaftlichen Verwertung von Klärschlammen entstehen können, ersetzt werden. Der Senat hat einen Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG verneint. Zwar könne die für einen Eingriff zumindest erforderliche objektiv berufsregelnde Tendenz einer Regelung auch dann gegeben sein, wenn „eine Abgabe nicht unmittelbar auf die Berufsfreiheit abzielt, sondern nur in ihren tatsächlichen Auswirkungen geeignet ist, sie zu beeinträchtigen (BVerfGE 81, 108 [121 f.]).“53 Insoweit schließt sich der Beschluss an ältere Judikate an. Die Klärschlammabgabe sei jedoch weder geeignet noch dazu bestimmt, auf die Berufsausübung Einfluss zu nehmen. Sie „soll weder nach der Intention des Gesetzgebers den Entschluss zur Wahl oder zur Art der Ausübung einer solchen Tätigkeit motivierend steuern noch hat sie objektiv – schon wegen ihrer geringen Höhe – eine solche berufsregelnde Wirkung“.
b) BVerfGE 113, 128 – Solidarfonds Abfallrückführung Ganz anders verläuft die Subsumtion unter dieselben Obersätze in dem ein gutes Jahr später ergangenen Beschluss wiederum des 2. Senats zum so genannten Solidarfonds Abfallrückführung. In dieser Entscheidung ging es um die gesetzliche Beitragspflicht von abfallexportierenden Unternehmen. Der aus der Sonderabgabe finanzierte sogenannte Solidarfonds sollte die Kosten für die Rückführung illegal exportierter gefährlicher Abfälle in das Herkunftsland decken. Hier bejahen die Richter den Eingriff in die Berufsfreiheit und am Ende sogar deren Verletzung. Zur Begründung heißt es: „Die Abgabepflicht [ . . . ] knüpft tatbestandlich unmittelbar an bestimmte wirtschaftliche Tätigkeiten [von] Personen an. Sie ist eingefügt in den Zusammenhang eines abfallwirtschaftlichen Regulierungskonzepts und nimmt die Abgabenpflichtigen gerade wegen ihrer Beteiligung an einem spezifischen abfallwirtschaftlichen Markt in Anspruch. Eine solche Abgabenregelung greift in die Berufsfreiheit der Abgabenpflichtigen ein.“54 53 54
BVerfGE 110, 370 (393 f.). BVerfGE 113, 128 (145).
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Die Kontrastierung beider Entscheidungen bestätigt den Eindruck, dass das Kriterium der objektiv berufsregelnden Tendenz ungeeignet ist, eine einigermaßen rationale Abgrenzung zwischen staatlichen Maßnahmen, vor denen das Grundrecht der Berufsfreiheit schützt, und solchen, vor denen es nicht schützt, zu leisten. Die Klärschlammabgabe genauso wie die Abfallabgabe belastet ein Verhalten, das ganz überwiegend, wenn nicht ausschließlich gewerblichen Charakter hat und also beruflich geübt wird. Wenn das BVerfG bei der Abfallabgabe meint, sie knüpfe unmittelbar an eine wirtschaftliche Tätigkeit an, so gilt das genauso auch für die Klärschlammabgabe. Beide Abgaben machen nicht rechtliche Vorgaben für die eigentliche berufliche Tätigkeit (Abfallexport, Klärschlammerzeugung und -abgabe), belasten aber ihren Ertrag. Wenn das BVerfG daher von der Klärschlammabgabe meint, diese ziele nicht darauf ab, die Berufsausübung motivierend zu steuern, so kann nichts anderes auch für die Abfallabgabe gelten. Zweck beider Regelungen ist nicht der Beruf an sich, sondern der Schutz externer Rechtsgüter (Umweltschutz, Eigentumsschutz, Verschonung öffentlicher Kassen). Und was den Gesichtspunkt der geringen Schwere der Belastung angeht, so hätte dieses vom BVerfG nur bei der Klärschlamm-Abgabe herangezogene Bagatellargument wohl genauso auch bei der Abfallabgabe herangezogen werden können. Die vom BVerfG angebotenen Eingriffserwägungen können also nicht erklären, warum die eine Abgabe aus Art. 12 Abs. 1 GG abgewehrt werden kann, die andere hingegen nicht. Ähnlich ernüchternd würde die Diagnose zahlreicher anderer Entscheidungen zur objektiv berufsregelnden Tendenz ausfallen.55 4. Folgerungen Weshalb begibt sich das BVerfG in solche fruchtlosen Eingriffsdiskussionen? Warum versucht es mit schon sprachlich kaum noch nachvollziehbaren, hochartifiziellen Exerzitien über den Finalitätsbegriff zwischen grundrechtsrelevanten Eingriffen / Beeinträchtigungen und grundrechtsirrelevanten bloßen Reflexen zu unterscheiden? Warum argumentiert es mit einer Figur der objektiv berufsregelnden Tendenz, deren funktionale Untauglichkeit und sachliche Fragwürdigkeit zur Abgrenzung berufsfreiheitsrelevanter von -irrelevanten Eingriffen seit langem erwiesen ist? 55 In der Sache erscheint der – zu nicht überzeugenden Ergebnissen führende – Abgrenzungsaufwand ohnehin entbehrlich: Für das hinter der Rechtsprechung zur berufsregelnden Tendenz stehende Dogma, nur berufsspezifische Eingriffe lösten den Rechtfertigungszwang des Art. 12 Abs. 1 GG aus – also ein berufsfreiheitsspezifisches Konzept enger Tatbestandstheorie –, sprechen keine zwingenden Gründe. Die Unsicherheiten für die Konkurrenzlehre könnten ohne weiteres vermieden werden, wenn Art. 12 Abs. 1 GG auch bei freiheitseinschränkenden Maßnahmen als Maßstab herangezogen würde, die zwar nicht spezifisch gerade nur auf berufliche Tätigkeit zielen, jedoch auch solche berufliche Ausübung der in Rede stehenden Freiheit erfassen. Nicht anders verfährt das BVerfG auch bei der Vertragsfreiheit, die, soweit sie beruflich ausgeübt wird, durch Art. 12 Abs. 1 GG, soweit sie hingegen „in der Freizeit“ ausgeübt wird, durch Art. 2 Abs. 1 GG gegen staatliche Beschränkungen geschützt ist; BVerfGE 116, 202 (221) – Tariftreue: „Vertragsfreiheit im unternehmerischen Bereich“.
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Manches spricht dafür – diese These sei hier formuliert –, dass sich hinter dem Hantieren mit dem Eingriffsbegriff und den dabei herausspringenden unberechenbaren ad-hoc-Ergebnissen tief greifende Unsicherheiten über die tatbestandliche Reichweite des Grundrechtsschutzes verbergen – häufig, aber keineswegs nur bei Art. 12 Abs. 1 GG. Um dies zunächst an der Konkurrenzentscheidungsformel der berufsregelnden Tendenz zu erläutern: Es geht hier nicht um ein Eingriffs-, sondern um ein Schutzreichweite-Problem, freilich nicht der Freiheitsrechte insgesamt, sondern spezifisch der Berufsfreiheit im Verhältnis zu anderen Freiheitsgrundrechten; also um ein Schutzbereichs-Konkurrenzproblem: Welchen Schutz vor Einschränkungen der Handlungsfreiheit gewährt gerade Art. 12 Abs. 1 GG? Diese Grundfrage ist in der Rechtsprechung des BVerfG nicht wirklich geklärt. Die Unsicherheit betrifft ganz allgemein den Schutz des Art. 12 I GG vor sämtlichen staatlichen Maßnahmen, die sich auf berufliche Tätigkeiten nachteilig auswirken, ohne dass es den Maßnahmen geradezu um das Berufliche der Tätigkeit zu tun ist. Das BVerfG hat sich hier weder zu einem eindeutig restriktiven Standpunkt durchringen können, wonach ausschließlich Regelungen, die gerade auf das Berufliche einer Tätigkeit abzielen, Eingriffe in die Berufsfreiheit darstellen, noch zu einem extensiven Verständnis, demzufolge jede Maßnahme, die sich belastend auf eine auch beruflich ausgeübte Tätigkeit auswirkt, mit dieser ihrer Belastungswirkung in Art. 12 Abs. 1 GG eingreift. Grundrechtstheoretisch gesprochen bleibt im Ungewissen, ob sich das Gericht bei dem Grundrecht der Berufsfreiheit durchweg einer engen oder einer weiten Tatbestandtheorie anschließen will. Statt dessen laviert es irgendwo in der Mitte und versucht die Fälle ad hoc mit Hilfe der Eingriffsmerkmale der Finalität bzw. der Schwere der Auswirkung zu lösen – ein Unterfangen, das wie gezeigt, wenig Erfolg versprechend ist. Nicht anders verhält es sich aber auch – über die engere „Tendenzrechtsprechung“ hinaus – mit den oben zunächst behandelten Eingriffsdiskussionen – bei der staatlichen Beeinflussung der Marktstellung von Wirtschaftsunternehmen durch Nachfragesteuerung in Gesundheitsmarkt oder durch Konditionierung der Auftragsvergabe –, die im Wesentlichen mit dem Kriterium der Finalität versuchen, überhaupt grundrechtsschutzwürdige Fälle von grundrechtlich schlechthin (also nicht nur unter dem Aspekt des Art. 12 Abs. 1 GG) irrelevanten Fällen („bloßer Reflex“) zu unterscheiden. Auch hier zeigt sich, dass der Eingriffsbegriff eine anspruchsvolle, ihn jedoch überfordernde Funktion übernimmt, nämlich die Funktion einer Begrenzung des Gewährleistungsgehaltes des jeweiligen Grundrechts. Man kann von einem funktional erweiterten Eingriffsbegriff sprechen, der nicht nur die Zurechnung einer Maßnahme zum Staat, sondern auch noch die Begrenzung der Schutzreichweite auf präzisere Schutzwirkungen leisten soll. In allen Fällen hat sich aber gezeigt, dass die Eingriffsargumentation unter Rückgriff auf das Merkmal der Finalität diese ihr zugewiesene Funktion nicht überzeugend erfüllen kann. Der Grund dafür liegt darin, dass die subjektive Regelungsabsicht oder auch objektive Steuerungseignung einer Maßnahme ein sachlich inadäquates Kriterium für die Beantwortung der Frage ist, ob das Grundrecht vor
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dem fraglichen Belastungseffekt Schutz bietet oder nicht.56 Am Beispiel der staatlichen Wettbewerbsbeeinflussung lässt sich das leicht erläutern: Wenn Art. 12 Abs. 1 GG vor der Verschlechterung einer Angebotsmarktchance durch Konkurrenz Dritter oder durch nachteilige Einflussnahme auf das Nachfrageverhalten absolut keinen Schutz bietet – gleichgültig ob die Veränderung durch den Staat oder durch Private veranlasst ist –, dann ist es völlig unerheblich, welche Zwecke der Staat mit einem Verhalten verfolgt, das eine solche Verschlechterung der Marktposition zur Folge hat. Insbesondere kann er dies noch so gezielt tun: Auch die Zweckrichtung macht die Maßnahme dann nicht zu einem Eingriff in den Schutzbereich der Berufsfreiheit. Genau dieser Ansatz lag der Begründung des Glykol-Beschlusses von 2002 zu Grunde. Hier hatte der Erste Senat schon den abwehrrechtlichen Gewährleistungsgehalt des Art. 12 Abs. 1 GG gegenüber wahrheitsgemäßem Informationshandeln des Staates, das zu einer Verschlechterung der Absatzchancen der Weinproduzenten führte, verneint. Und ähnlich verlief ja auch der erste Argumentationsstrang in der Festbetragsentscheidung: Nur hielt es hier der Senat für nötig, auf die restriktive Schutzbereichsargumentation noch eine Eingriffsargumentation aufzusatteln, die jedoch ad absurdum führt, weil hier eine sogar selten klare Kostendämpfungsintention des sozialen Gesetzgebers als nicht final ausgegeben werden muss, um das – vom restriktiven Schutzbereichsansatz her – richtige Ergebnis zu bestätigen. Im Tariftreuefall schließlich wird überhaupt nur noch vom Eingriff her argumentiert, obwohl eine skrupulöse Diskussion des Gewährleistungsgehaltes auch hier jedenfalls die Frage hätte aufwerfen müssen, ob die Vergabebedingung der Tariftreue nicht einfach nur eine grundrechtlich irrelevante Verschlechterung der Angebotsposition der Bauunternehmen am Markt darstellt: Auf den Zuschlag von Aufträgen zu bestimmten günstigen Konditionen besteht doch möglicherweise genauso wenig ein grundrechtlicher Anspruch wie auf den Absatz von Arzneimitteln zu besonders hohen Preisen. Hier wird sichtbar, dass das Argumentieren mit der angeblich ausreichenden oder nicht ausreichenden Finalität des Eingriffs auch eine Ausweichstrategie darstellen kann, um unbequemen Festlegungen auf der Schutzbereichsebene aus dem Weg gehen zu können.57 Von hier aus ergeben sich interessante Folgerungen für das Verhältnis der präzisierten Schutzbereichs-(Gewährleistungsgehalts-)Dogmatik vor allem des Ersten Senats zur Eingriffsdogmatik. Unabhängig davon, was man inhaltlich vom GlykolBeschluss, der Festbetrags-Entscheidung sowie der folgenden Kammerrechtsprechung hält: Im konzeptuellen Grundansatz, Fragen der Gewährleistungsreichweite der Berufsfreiheit als solche offen auszuweisen und zu behandeln58 und Ähnlich schon Albers, DVBl. 1996, 236. Gerade bei den durch starke staatliche Einflussnahme gekennzeichneten „Märkten“, namentlich im Gesundheitswesen, ist offenkundig noch nicht stringent geklärt, inwieweit die Grundrechte den Marktbeteiligten die Rechtspositionen verschaffen, vgl. BVerfGE 106, 275 – Festbeträge einerseits, BVerfG (K) NJW 2005, 273 andererseits, unentschieden BVerfG (K) NZS 2005, 479 – Pflichtversicherungsgrenze; vgl. dazu Lindner, DÖV 2004, 765 ff. 56 57
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sie nicht als Eingriffsthema zu kaschieren, sind diese Entscheidungen zukunftsweisend.59 Bei dieser Präzisierung der Gewährleistungsgehalte geht es auch nicht einfach um eine – abzulehnende60 – generelle Entscheidung für eine restriktives Verständnis von Grundrechtsschutzbereichen (präformierte, schon apriori gebundene Freiheit als Schutzgegenstand) und gegen ein „liberal-weites“ Verständnis („wertoffene“ Freiheit nach subjektivem Selbstverständnis). Auch eine „liberale“, im Ansatz außentheoretisch konzipierte Grundrechtstheorie, die bei den Verbürgungen von Handlungsfreiheit die Entscheidungsfreiheit des Berechtigten in den Mittelpunkt stellt, muss sich solchen Präzisierungen stellen:61 Die Abwehrrechte schützen auch von diesem Standpunkt aus nicht vor allen und gegen alles, was den „Grundrechtsgebrauch“ irgendwie erschwert. Sie gewährleisten insbesondere nicht notwendigerweise ideale oder gleich bleibende tatsächliche Bedingungen der Freiheitsausübung. Die Frage, wogegen die Grundrechte allgemein oder das in Betracht kommende konkrete Grundrecht je schützen (nur rechtliche Freiheit, auch faktische Freiheit und Freiheitsvoraussetzungen?), muss also tatsächlich schon unter dem Aspekt der Gewährleistungsreichweite gestellt und beantwortet werden, genauso wie unter dem Aspekt der Leistungsfunktion der Grundrechte (Schutzpflichten, sozialstaatliche Gehalte) gefragt werden muss, was diese vom Staat fordern.62 58 Dafür schon Albers, DVBl. 1996, 237 ff.; Weber-Dürler, VVDStRL 57 (1998), 83 f.; jetzt auch Holoubek, in: Merten / Papier (Fn. 1), S. 24 ff. 59 Ein – m. E. vorzugswürdiges – Ergebnis des Diskurses auf der Schutzbereichsebene zu Art. 12 GG (und nicht unter dem Finalitätsetikett) könnte dann allerdings entgegen dem Glykol-Urteil des BVerfG auch sein, den Gewährleistungsgehalt dieses Grundrechts doch so weit zu interpretieren, dass er prima facie jede Wettbewerbseinwirkung des Staates als heteronomen Eingriff in die Marktautonomie rechtfertigungspflichtig stellt, wie hier z. B. Huber, JZ 2003, 292; Dietlein (Fn. 51), S. 1855 ff.; Volkmann (Fn. 22), § 15 Rn. 33; für gleichheitsrechtlichen (Art. 3 Abs. 1 GG) Schutz der Erfolgschancengleichheit im Wettbewerb Lindner, DÖV 2003, 190 f. 60 Näher – in Auseinandersetzung mit Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 ff. – Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005, S. 43 ff.; gegen eine generell enge Tatbestandstheorie der Grundrechte und insbesondere Einschränkungen des individuumsbezogenen Autonomiegedankens als Kerngehalt der Freiheitsrechte mit Recht Kahl, Der Staat 43 (2004), 174 ff.; siehe auch Höfling, in: Muckel, Kirche und Religion im sozialen Rechtsstaat, 2003, S. 329 ff. 61 Insoweit zutreffend Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), 215 ff.; Volkmann, JZ 2005, 266. 62 Wozu ungenaue Schutzgehaltsbestimmungen („die Privatautonomie“) führen können, zeigt sich insbesondere in der Rechtsprechung des BVerfG zur Kontrolle ungerechter Verträge bei fehlender Vertragsparität (angeblicher Schutzanspruch vor sich selbst aus Art. 2 Abs. 1 GG, BVerfGE 89, 214), ähnlich auch in der Rechtsprechung zur Koalitionsparität und Verhältnismäßigkeit des Arbeitskampfes (Art. 9 Abs. 3 GG), BVerfGE 84, 212; 88, 103; BAG NZA 2007, 1055, aber auch bei der Behauptung angeblichen Schutzpflichtgehalte aus Art. 12 Abs. 1 GG im Hinblick auf die Erhaltung von Arbeitsplätzen, BVerfGE 103, 293 (307); 116, 202 (223): „Verringerung von Arbeitslosigkeit ermöglicht den zuvor Arbeitslosen, das Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG zu verwirklichen“; zur Kritik näher Cornils (Fn. 60), S. 202 ff., 406 ff.
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Allein mit dem Vorliegen oder Nichtvorliegen klassischer Eingriffsmerkmale – also dem Eingriffsbegriff – haben derartige nähere Bestimmungen und Eingrenzungen der Gewährleistungsgehalte nichts zu tun: Ob die Wettbewerbsbeeinflussung rechtlich, nicht rechtlich, final oder akzidentiell, mittelbar oder unmittelbar stattfindet, ist danach ganz gleich, wenn feststeht, dass diese Wettbewerbsbeeinflussung inhaltlich den Gewährleistungsgehalt des Grundrechts der Berufsfreiheit nicht aktiviert. Die Frage nach der „Schutzrichtung“ des prima-facie-Abwehrrechts ist also eine Gewährleistungsfrage, keine Eingriffsfrage.63 Ob das Grundrecht des Art. 12 Abs. 1 GG vor staatlicher Einwirkung auf die Marktfaktoren Angebot und Nachfrage oder andere Wettbewerbs-Rahmenbedingungen genauso wenig schützt wie vor inhaltsgleicher privater Einwirkung oder aber zwar insoweit gerade gegen den Staat, nicht aber drittwirkend genauso gegen Private, ist ein Inhaltsproblem, das zum Schutzbereich gehört, keine bloße Zurechnungsfrage. Da die zurechnungsbezogenen Kriterien des Eingriffsbegriffs zur Lösung dieses Sachproblems nichts beitragen können, ist es auch nicht gleichgültig, ob das Sachproblem (richtigerweise) wie im Glykol-Beschluss auf der Schutzbereichsebene oder (verfehlter Weise) wie im zweiten Teil der Festbetrags-Entscheidung oder im TariftreueBeschluss oder in den Abgabenfällen (objektiv-berufsregelnde Tendenz) auf der Eingriffsebene verhandelt wird. Die inadäquate Verankerung im Eingriffsbegriff begünstigt sachlich nicht hinreichend begründete, inkonsequente Entscheidungen. Eingriffsdogmatische „Begründungen“, entweder allein oder in Ergänzung zu schutzgehaltsbezogenen Erwägungen, signalisieren daher, dass die Rechtsprechung in dem jeweiligen Fall entweder nicht zu einer klaren Antwort auf die Schutzgehaltsfrage gefunden hat oder dieser nicht genug zutraut.64 Die eingriffsdogmatische Argumentation kann aber diese Antwort nicht ersetzen, und sie ist auch nicht ihre natürliche und passende Ergänzung: Die restriktivere Fassung des Gewährleistungsgehalts (also: Art. 12 Abs. 1 GG schützt nicht vor dem Marktteilnehmer Staat) führt eben keineswegs auch zu einem restriktiveren Eingriffsbegriff (also: nur finale Grundrechtsgutbeeinträchtigungen durch den Staat sind Eingriffe). Korrespondenz zwischen Schutzbereich und Eingriff besteht nur (selbstverständlich) insofern, als ein staatliches Verhalten, welches eine Auswirkung hat, vor der das Grundrecht nicht schützt, natürlich schon gar kein Eingriff sein kann. IV. Fazit Der Erste Senat des BVerfG hat in seiner jüngeren Rechtsprechung seit „Glykol“ und „Osho“ die Eingriffsdogmatik erheblich verkompliziert – aus dem klar erkennbaren Motiv heraus, Beeinträchtigungen grundrechtlicher Schutzgegenstände auch 63 Anders insoweit Murswiek, Der Staat 45 (2006), 489, der die Frage der Schutzrichtung unter dem Aspekt der Konkretisierung des Eingriffsbegriffs diskutieren will. 64 So kann man die „aufgesattelte“ Eingriffsargumentation in der Festbetrags-Entscheidung und auch den Argumentationsgang im Osho-Beschluss verstehen, ähnlich die Einschätzung von Lindner, DÖV 2003, 770 zu Osho und zum Pflichtversicherungsgrenzen-Beschluss.
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ohne gesetzliche Grundlage, wie sie für Eingriffe erforderlich ist, verfassungsrechtlich zuzulassen. Danach sind Eingriffe im eigentlichen Sinne entsprechend dem klassischen Eingriffsbegriff nur noch diejenigen Maßnahmen, die die Merkmale der Unmittelbarkeit, Rechtsförmigkeit, Finalität und Imperativität (Gebot und Verbot) aufweisen. Andere, insbesondere faktische oder mittelbare staatliche Verhalten können den Schutzbereich eines Grundrechts als „Beeinträchtigung“ berühren, wobei in der Rechtsprechung wieder – aber ohne Konsequenz und ohne klare Abgrenzungskriterien – zwischen qualifizierten, „eingriffsgleichen“ Beeinträchtigungen und sonstigen Beeinträchtigungen unterschieden wird. Für die eingriffsgleichen Beeinträchtigungen („funktionalen Äquivalenten“ eines Grundrechtseingriffs) gelten die gleichen Rechtfertigungsbedingungen wie für Eingriffe, also auch das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage (Gesetzesvorbehalt), während bei den sonstigen Beeinträchtigungen offenbar Abstriche bei der Rechtfertigung gemacht werden können (insbesondere kein Gesetzesvorbehalt). Unklar ist aber häufig wiederum, ob derartige Beeinträchtigungen überhaupt grundrechtlichen Rechtfertigungszwang auslösen oder nicht nur grundrechtlich irrelevante bloße „Reflexe“ sind. Insgesamt erweist sich die neue Eingriffsdogmatik als kompliziert, unberechenbar und dysfunktional, weil sie über die zentrale Funktion des Eingriffsbegriffs, Grundrechtsgutbeeinträchtigungen einem staatlichen Verhalten zuzurechnen und dieses damit grundrechtlich rechtfertigungspflichtig zu stellen, hinausgeht, sie damit überfordert und das Problem der Unterscheidung grundrechtsrelevanter von grundrechtsirrelevanten Interessen-Beeinträchtigungen mit den ihr eigenen, dazu jedoch ungeeigneten Zurechnungskriterien traktiert. Insbesondere erweisen sich die Kriterien, die die Abgrenzung zwischen qualifizierten und schlichten Beeinträchtigungen (jenseits der klassischen Eingriffe) und den „bloßen Reflexen“ leisten sollen (namentlich: Finalität), als nicht belastbar. Gleiches gilt für die Figur der berufsregelnden Tendenz, die vom BVerfG (insoweit auch vom Zweiten Senat) nach wie vor als Voraussetzung der Anerkennung eines Grundrechtseingriffs im Gewährleistungsbereich des Art. 12 Abs. 1 GG verlangt wird. Das Merkmal der berufsregelnden Tendenz (in subjektiver oder jedenfalls objektiver Hinsicht) dient dazu, Eingriffe gerade in das Grundrecht der Berufsfreiheit (berufsspezifische Eingriffe) von solchen, die in andere spezielle Grundrechte oder subsidiär dasjenige der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) eingreifen, abzugrenzen. Insbesondere bei der Beurteilung steuerlicher und nichtsteuerlicher Abgaben zeigt sich jedoch, dass die auf ein mehr oder minder großes Maß an Finalität und Schwere der Maßnahme abstellende Bewertung einer „berufsspezifischen Tendenz“ völlig unberechenbar ist. Indem dem Eingriffsbegriff in dieser Rechtsprechung die Aufgabe zugewiesen wird, sachlich grundrechtsschutzwürdige von grundrechtlich irrelevanten Fällen zu unterscheiden, übernimmt er neben der ihm zukommenden Zurechnungsfunktion zugleich Funktionen der inhaltlichen Begrenzung des Grundrechtsschutzes – ohne diese Funktionen jedoch adäquat erfüllen zu können. Vorzugswürdig erscheint demgegenüber eine Konzeption, welche die Eingriffsprüfung entlastet und auf die Frage der Zurechnung grundrechtsberührender Auswirkungen zum Staat beschränkt (also:
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Prüfung der Kausalität im weiteren Sinne).65 Die Frage hingegen, ob die jeweilige Auswirkung den Grundrechtsschutz überhaupt aktualisiert, sollte – insoweit durchaus mit der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG – als Sachproblem der Gewährleistung begriffen und nicht mit den unpassenden Kriterien der Eingriffsdogmatik behandelt werden. Über die sich auf der Schutzbereichsebene jeweils stellenden Sachprobleme der Reichweite des grundrechtlichen Schutzes lässt sich freilich immer wieder streiten.
65 Anders Volkmann, JZ 2005, 269, der für eine noch weitergehende Ausdifferenzierung der Eingriffsdogmatik plädiert.
Der öffentliche Dienst als Medium der freien Selbstentfaltung? Der hessische Kopftuchstreit Von Steffen Detterbeck
I. Vom besonderen Gewaltverhältnis zum Sonderrechtsverhältnis Die Geltung der Grundrechte auch im öffentlichen Dienst gehört spätestens seit dem Strafgefangenenurteil des BVerfG1 zum gesicherten Bestand deutscher Grundrechtsdogmatik. Ebenso wie in allen anderen ehemals als besondere Gewaltverhältnisse bezeichneten Sonderverbindungen zwischen Staat und Bürger können sich auch die öffentlichen Bediensteten im Dienst gegenüber ihrem Dienstherrn auf Grundrechte berufen. Die Frage, die sich damals wie auch heute stellt, ist, wie weit reicht der Grundrechtsschutz in den nunmehr etwas verschämt als Sonderrechtsverhältnisse titulierten Sonderverbindungen,2 welche Regelungsbefugnisse (Eingriffsbefugnisse) kommen dem Staat zu und welche Rolle spielt der durch die bundesverfassungsgerichtliche Wesentlichkeitstheorie konturierte Vorbehalt des Gesetzes? Dass die der staatlichen Gewalt in besonderer Weise Unterworfenen bar jeglichen Grundrechtsschutzes seien, wurde nicht einmal in den grundrechtsfinsteren Zeiten der Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis behauptet. Menschenwürde, Leben und körperliche Unversehrtheit wurden auch in den besonderen Gewaltverhältnissen vom Grundrechtsschutz nicht ausgenommen. Andere Grundrechte wie vor allem die Meinungs- und Glaubensfreiheit wurden indes wenn nicht vollends negiert, so doch weitgehend ausgeblendet. Vor allem aber wurde grundsätzlich auf das Erfordernis einer formellen gesetzlichen Grundlage als Rechtfertigung für Eingriffe in Grundrechte verzichtet, so ihnen denn überhaupt eine Wirkkraft zuerkannt wurde. Dass es mittlerweile keine grundrechtsfreien Reservate im allgemeinen und besonderen Staat-Bürger-Verhältnis mehr gibt, ist Allgemeingut. Auf der anderen Seite ist es unbestritten, dass die Grundrechte der Bürger in einem besonderen Näheverhältnis zum Staat stärker einschränkbar sind als im allgemeinen Staat-Bürger-Verhältnis.
BVerfGE 33, 1 ff. Einen Überblick über den Meinungsstand bietet Sicko, Das Kopftuch-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und seine Umsetzung durch die Landesgesetzgeber, 2007, S. 27 ff. 1 2
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II. Grund und Rechtfertigung der gesteigerten staatlichen Eingriffsbefugnisse im öffentlichen Dienst Die Befugnis des Staates, in den sog. Sonderrechtsverhältnissen, zu denen auch der öffentliche Dienst zählt, den Grundrechten engere Grenzen zu setzen als im allgemeinen Staat-Bürger-Verhältnis, findet ihre Rechtfertigung nicht schon in der Qualifizierung bestimmter Rechtsverhältnisse als Sonderrechtsverhältnis an sich. Wie sonst auch muss der Grundrechtseingriff auf einem formellen Gesetz beruhen, das seinerseits der materiellen Rechtfertigung bedarf. Der Grund für die weitergehenden Regelungs- und Eingriffsbefugnisse des Gesetzgebers in den Sonderrechtsverhältnissen liegt darin, dass hier die Grundrechtsausübung der Bürger schneller an diejenigen Grenzen stößt, die von anderen Rechtsgütern gesetzt werden. Ihren Schutz bezwecken die geschriebenen und ungeschriebenen (verfassungsimmanenten) Grundrechtsschranken und die in ihnen enthaltenen Ermächtigungen des Gesetzgebers zu Grundrechtseingriffen. Nur deshalb darf z. B. der Gesetzgeber die Grundrechte der Freiheit, des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses oder der Freizügigkeit der Strafgefangenen stärker einschränken als im allgemeinen StaatBürger-Verhältnis. Im öffentlichen Dienst kommt eine Besonderheit hinzu. Der Staat handelt durch seine Bediensteten. Sie repräsentieren ihn.3 Das Verhalten der Bediensteten wird dem Staat zugerechnet, wenn es im sachlichen Zusammenhang mit der Dienstausübung steht. Nur wenn dieser Sachzusammenhang nicht mehr besteht, was im Einzelfall naturgemäß umstritten sein kann, stellt sich das Verhalten staatlicher Bediensteter, auch wenn es im Dienst und bei Gelegenheit der Wahrnehmung dienstlicher Aufgaben erfolgt, nicht mehr als staatliches, sondern als ausschließlich privates Verhalten dar. Wird ein bestimmtes Verhalten ausschließlich dem Staat zugerechnet, genießt es von vornherein keinen Grundrechtsschutz. Der Staat ist grundrechtsverpflichtet und nicht grundrechtsberechtigt. Die Befugnis zu staatlichem Handeln ist nicht grundrechtlich umhegt. Dies bleibt nicht ohne Konsequenzen für die Bewertung der grundrechtlichen Befindlichkeit der staatlichen Bediensteten. Sie haben zwar einen Grundrechtsanspruch auf chancengleichen Zugang zum öffentlichen Dienst (Art. 33 Abs. 2 GG). Einen Grundrechtsanspruch auf (Ermöglichung der) Vornahme bestimmter Diensthandlungen gibt es dagegen nicht. Der öffentliche Bedienstete, und hier ganz besonders der Beamte, hat seinen Dienst wenn nicht mit Freude, so doch mit voller Hingabe zu versehen. Die einzelne Dienst- und Amtshandlung ist indes nicht Ausdruck grundrechtlich geschützter freier Selbstentfaltung des Amtswalters.4 Dies bedeutet, dass gesetzlichen Regelungen über die Art und Weise der Dienstausübung sowie hierauf gestützten Einzelanweisungen des Dienstherrn prinzipiell keine Grundrechtsrelevanz zukommt. 3 BVerfGE 108, 282 (319) – diss. op.; BVerwGE 116, 359 (362); HessStGH NVwZ 2008, 201, 204; BayVerfGH BayVBl. 2007, 237; Hufen, NVwZ 2004, 575 m. w. Nw. in Fn. 14. 4 Isensee, ZBR 2004, 6; Mückl, Der Staat 40 (2001), 122.
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Indes, ganz so einfach liegen die Dinge bekanntlich nicht. Ohne auf die Einzelheiten der früheren Unterscheidung zwischen dem beamtenrechtlichen Grundund Betriebsverhältnis einzugehen, die der Sache nach auch heute noch, wenn auch terminologisch anders eingekleidet, 5 praktiziert wird, können sich dienstbezogene gesetzliche Regelungen und Einzelanweisungen zugleich auf Grundrechte des Amtswalters auswirken. Dies beruht darauf, dass der einzelne Amtswalter seine Persönlichkeit und die sie schützenden Grundrechte beim Dienstantritt nicht abgibt und erst nach Dienstende wieder annimmt. Auch im Dienst ist der öffentliche Bedienstete kein bloßes Werkzeug des Staates, sondern bleibt Mensch und Träger von Grundrechten.6 Dienstliche Anweisungen, deren Befolgung Leib oder Leben des Angewiesenen gefährden, greifen in dessen Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ein – und zwar auch dann, wenn die Anweisung dies nicht bezweckt. Eine dienstliche Anweisungen, Bart oder Haare zu kürzen, greift in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Angewiesenen aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG ein.7 Nicht so eindeutig zu beantworten ist die Frage, ob etwa das Verbot, im Dienst Symbole mit politischem Inhalt8 zu tragen oder zu verwenden, in das Grundrecht der Meinungsfreiheit eingreift.9 Gleiches gilt für die Glaubensfreiheit im Falle eines Verbots, im Dienst religiöse Kennzeichen oder Symbole zu tragen oder zu verwenden.10 Erst recht ist es zweifelhaft, ob Anordnungen, deren Befolgung der Angewiesene mit seinem Gewissen nicht zu vereinbaren vermag, in das Grundrecht der Gewissensfreiheit eingreifen.11 Die Rechtsprechung ist bekanntlich großzügig. Sie hat in den genannten Beispielsfällen Grundrechtsschutz zuerkannt.12 Diese Rechtsprechung impliziert, dass der Bedienstete das Grundrecht hat, sich auch im Dienst politisch und religiös betätigen und seine dienstlichen Handlungen an seinem Gewissen ausrichten zu dürfen. Einen Freibrief zur grundrechtlich geschützten Selbstverwirklichung und -entfaltung stellt diese Rechtsprechung zwar nicht aus. Zum einen gibt es nach wie vor kein Grundrecht auf Vornahme bestimmter Diensthandlungen. Zum anderen ist die grundrechtliche Freiheit der Bediensteten auch nach Maßgabe der oben genannten Rechtsprechung nicht 5 Mittlerweile wird zwischen der persönlichen und der ausschließlich dienstlichen Rechtsstellung des Amtswalters unterschieden. 6 Battis / Bultmann, JZ 2004, 582 f.; Böckenförde, NJW 2001, 725; Mückl, Der Staat 40 (2001), 122 f. 7 BVerwGE 125, 85 Rn. 15 stellt (nur) auf das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG ab. 8 Z. B. Stoppt Strauß (dazu BayVerfGH NJW 1982, 1089 ff.); Willy wählen; Freiheit statt Sozialismus; auf den Kanzler kommt es an; Atomkraft, nein danke (dazu BVerwGE 84, 292 ff.). 9 Bejahend BVerwGE 84, 292 (294). 10 Bejahend BVerfGE 108, 282 (298 f.). 11 Bejahend BVerwGE 127, 302 (321 ff.). 12 Nw. in den vorherigen Fn.
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grenzenlos, sondern kann aus hinreichend gewichtigen Gründen eingeschränkt werden. Allerdings wird es für den Dienstherrn zunehmend schwieriger, durch Einzelanweisungen einen reibungslosen und effektiven Dienstablauf sicherzustellen. Greifen die Anweisungen in Grundrechte der Bediensteten ein, bedarf es einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage. Außerdem dürfen sowohl die dienstlichen Anweisungen als auch ihre gesetzlichen Grundlagen die Grundrechte der Bediensteten vor allem nicht unverhältnismäßig einschränken. Die Problematik soll im folgenden exemplarisch am Beispiel des Verbots, im Dienst bestimmte Kleidungsstücke, Symbole oder andere Merkmale zu tragen oder zu verwenden, belegt werden. III. Das beamtenrechtliche Mäßigungsgebot 1. Politisches Mäßigungsgebot Beamte dürfen im Dienst keine Kennzeichen oder Symbole tragen oder verwenden, die eine parteipolitische Botschaft vermitteln. Das Tragen von Ansteckern mit den Initialen einer politischen Partei, parteipolitischen Aussagen oder Aufrufen ist unzulässig. Gleiches gilt für das Tragen von Kleidungsstücken, durch die eine bestimmte politische Einstellung offenbart werden soll oder die zumindest diesen Eindruck vermitteln. Es besteht kein ernsthafter Zweifel, dass es einem Beamten nicht gestattet ist, im Dienst schwarze Springerstiefel mit roten Schnürbändern und eine schwarze Bomberjacke zu tragen. Derartige Kleidungsstücke, zumal in dieser Kombination, werden häufig von Personen getragen, die dadurch ihre rechtsradikale Einstellung zum Ausdruck bringen wollen. Die Verwendung oder das Tragen derartiger Symbole oder Kleidungsstücke im Dienst darf nicht nur, sondern muss durch den Dienstvorgesetzten untersagt werden. Eine entsprechende spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlage fehlt im Bundesbeamtenrecht. In verschiedene Landesbeamtengesetze wurde sie erst in jüngster Zeit eingefügt. Gleichwohl sind entsprechende Verbote auch gegenüber Bundesbeamten und Landesbeamten, für die keine spezialgesetzlichen Regelungen gelten, zulässig. Geltungsgrund für das generelle Verbot des Tragens und Verwendens von Kleidungsstücken und Symbolen mit politischer Signalwirkung sind die beamtenrechtlichen Vorschriften, die den Bundes- und Landesbeamten ein allgemeines Mäßigungsgebot bei ihrer inner- und außerdienstlichen politischen Betätigung auferlegen (§§ 53 BBG, 35 Abs. 2 BRRG und die gleichlautenden landesbeamtenrechtlichen Vorschriften). Diese Vorschriften ermächtigen den Dienstvorgesetzten zugleich zu entsprechenden Einzelverboten. Dass diese nur sehr allgemein gehaltenen Mäßigungsvorschriften den Vorgaben der bundesverfassungsgerichtlichen Wesentlichkeitsrechtsprechung genügen, stand bis vor kurzem außer Streit. Entweder wurde der Frage eines politischen Mäßigungsgebots im Dienst keinerlei Grundrechtsrelevanz beigemessen. Unter der Prämisse, eine parteipolitische Betätigung im Dienst genieße von vornherein keinen Grundrechtsschutz, stellt sich ein ent-
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sprechendes einzelfallbezogenes Verbot nicht als Grundrechtseingriff oder grundrechtsrelevantes Handeln dar. Die beamtengesetzlichen Gebote zur politischen Mäßigung im Dienst sind in dieser Konsequenz nur deklaratorisch und nicht konstitutiv.13 Einer einfachgesetzlichen Regelung bedürfte es dann gar nicht mehr. Einzelfallverbote wären auch ohne jedwede gesetzliche Regelung zulässig.14 Nichts anderes gilt aber auch unter der Annahme, der Beamte genieße im Dienst selbst dann Grundrechtsschutz, wenn es nicht um seine Statusrechte (Grundverhältnis), sondern um sein sonstiges dienstliches Verhalten gehe;15 wenn dem Beamten also ein Grundrecht auf (partei-)politische Betätigung im Dienst und im Zusammenhang mit seiner Dienstausübung zugestanden wird. Das Tragen oder Verwenden von Bekleidung oder Symbolen mit parteipolitischer Signalwirkung während des Dienstes wäre dann zunächst einmal grundrechtlich geschützt. Gesetzliche politische Mäßigungsgebote nach Art der §§ 53 BBG, 35 Abs. 2 BRRG stellten sich dann als grundrechtseingreifende Regelungen dar. Zu berücksichtigen ist indes, dass der Zweck des beamtenrechtlichen Dienstverhältnisses nicht darin besteht, dem Beamten einen Freiraum für grundrechtliche Betätigung zu verschaffen. Die Verrichtung der Dienstgeschäfte und das dienstliche Handeln ist grundrechtlich nicht geschützte Ausübung von Staatsgewalt. Das Tragen oder Verwenden von Bekleidung oder Symbolen mit einer politischen Botschaft als solches ist zwar keine Dienstverrichtung. Es erfolgt aber im Dienst und steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der dienstlichen Tätigkeit. Sie steht im Vordergrund. In erster Linie ist der Amtswalter Repräsentant des Staates. Der Grundrechtsausübung im Rahmen der dienstlichen Tätigkeit kommt eine untergeordnete Bedeutung zu. Insoweit unterscheidet der öffentliche Dienst sich grundlegend von anderen Sonderrechtsverhältnissen.16 Die öffentlichen Bediensteten stehen im Lager des Staates. Sie repräsentieren ihn17 und üben staatliche Gewalt aus. Für den Schüler oder Strafgefangenen gilt dies nicht. Sie befinden sich zwar auch in einem besonderen Näheverhältnis zum Staat. Sie handeln indes nicht für den Staat. Ihr Sonderrechtsverhältnis zum Staat beschreibt – anders als das Beamten- und Dienstverhältnis – kein innerstaatliches Verhältnis staatsorientierten Handelns, sondern ein Kontrastverhältnis, in dem sich Staat und Bürger gegenüberstehen und in dem der Bürger gerade wegen seiner Nähe zum Staat dem staatlichen Handeln besonders intensiv ausgesetzt ist; insoweit besteht sogar eine gesteigerte grundrechtliche So BVerfGE 108, 282 (324) – diss. op. So BVerfGE 108, 282 (320, 324, 335 f.) – diss. op. 15 Vgl. BVerfGE 108, 282 (297); BVerfGK NVwZ 2008, 416 f.; BVerwGE 84, 292 (294); 116, 359 (363); 127, 302 (321); HessStGH NVwZ 2008, 200; BayVerfGH BayVBl. 2007, 237. 16 BVerfGE 108, 282 (316 f.) – diss. op. 17 BVerwGE 116, 359 (362); HessStGH NVwZ 2008, 201; BayVerfGH BayVBl. 2007, 237; BVerfGE 108, 282 (319) – diss. op.; Hufen, NVwZ 2004, 238; nichts anderes gilt auch für Lehrkräfte – a.A. Böckenförde, NJW 2001, 726; dagegen überzeugend Bertrams, DVBl. 2003, 1228 f. 13 14
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Gefährdungslage. Demgegenüber weisen staatliche Maßnahmen im Beamten- und Dienstverhältnis, soweit sie keine Statusfragen betreffen, eine weitaus geringere Grundrechtsrelevanz auf. Ein an den Bediensteten gerichtetes Verbot, im Dienst bestimmte Kleidungsstücke oder Symbole, die eine politische Botschaft vermitteln, zu tragen oder zu verwenden, stellt keinen schwerwiegenden Grundrechtseingriff dar. Die Grundrechtsrelevanz ist gering. An die Regelungsdichte einer gesetzlichen Verbots- oder Mäßigungsregelung sind deshalb keine hohen Anforderungen zu stellen. Beamtenrechtliche Vorschriften, die wie die §§ 53 BBG, 35 Abs. 2 BRRG ein allgemeines politisches Mäßigungsgebot statuieren, rechtfertigen Verbote, im Dienst Kleidungsstücke, Symbole oder andere Merkmale zu tragen oder zu verwenden, wenn hierdurch der Eindruck entsteht, eine neutrale und unparteiische Führung der Amtsgeschäfte (vgl. § 52 Abs. 1 BBG) sei nicht mehr uneingeschränkt gewährleistet.18 Relativ weitgefasste dienstrechtliche Verhaltensregelungen haben zudem den Vorteil, dass der Dienstherr im Einzelfall flexibel reagieren kann. Es muss nicht jedwede politische Betätigung im Dienst untersagt werden. So sind etwa parteipolitisch gefärbte Äußerungen im Rahmen von Diskussionen über aktuelle politische Themen und Streitfragen im Dienst nicht von vornherein unmäßig i. S. d. §§ 53 BBG, 35 Abs. 2 BRRG. Es kommt vielmehr auf die Umstände des Einzelfalles an. Auch das Tragen oder Verwenden von Symbolen oder Kennzeichen mit politischem Bedeutungsgehalt muss nicht zwingend in jedem Einzelfall verboten werden. So muss das Tragen einer kleinen Ansteckplakette, die allgemein zum Verzicht auf den Gebrauch von Waffen aufruft oder den Weltfriedensgedanken propagiert, nicht zwingend als Missachtung des politischen Mäßigungsgebots gewertet werden. Auch sind bereichsspezifische Differenzierungen nach dem Dienstposten und der Art der dienstlichen Tätigkeit nicht ausgeschlossen. Wollte man dies unter Hinweis auf die Kopftuchentscheidung des BVerfG, die in einem Verbot, im Dienst ein islamisches Kopftuch zu tragen, einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff sieht, der durch allgemein gehaltene gesetzliche Regelungen nach Art der §§ 53 BBG, 35 Abs. 2 BRRG nicht gerechtfertigt sein könne, anders sehen und eine inhaltlich präzisere gesetzliche Eingriffsermächtigung verlangen, dürfte z. B. gegen Bundesbeamte kein Verbot ausgesprochen werden, im Dienst Symbole oder Kennzeichen mit eindeutig parteipolitisch werbendem Charakter zu verwenden oder Springerstiefel mit roten Schnürsenkeln und Bomberjacke zu tragen. Eine bundesrechtliche Eingriffsermächtigung, die den vom BVerfG in seinem Kopftuchurteil formulierten Anforderungen genügt, existiert nämlich nicht. Nach soweit ersichtlich einhelliger Auffassung gelten diese Anforderungen für Anweisungen und Verbote, die das politische Mäßigungsgebot sicherstellen, indes nicht. Hier begnügt man sich – zu Recht – mit allgemein gehaltenen Vorschriften nach Art der §§ 53 BBG, 35 Abs. 2 BRRG.
18 BVerwGE 84, 292 (293 f.); Mückl, Der Staat 40 (2001), 125 f.; vgl. auch BVerfGK NVwZ 2008, 416 zu § 54 S. 3 BBG.
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2. Religiöses Mäßigungsgebot Für die nach wie vor in der Diskussion stehende Frage des Tragens oder Verwendens von Kleidungsstücken, Symbolen oder sonstigen Kennzeichen, denen eine religiöse Bedeutung zukommt – in der Praxis geht es fast ausschließlich um das islamische Kopftuch –, gilt nichts anderes. Folgt man der Auffassung, zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums des Art. 33 Abs. 5 GG gehöre auch das Gebot der religiösen Mäßigung im Dienst und dieses Mäßigungsgebot schränke die Glaubensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und andere in Betracht kommende Grundrechte verfassungsunmittelbar ein,19 dann fällt ein übermäßiges religiöses Verhalten von Beamten im Dienst von vornherein nicht in den Schutzbereich dieses Grundrechts. Ein behördliches Verbot der übermäßigen religiösen Betätigung im Dienst für Beamte bedarf dann überhaupt keiner formellen gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage. Diese Auffassung hat den bereits oben genannten praktischen Vorteil der Flexibilität des behördlichen Handelns. Das Tragen eines islamischen Kopftuches im Dienst müsste nicht generell untersagt werden. Möglich wäre vor allem eine bereichsspezifische Differenzierung nach Art und Funktion des jeweiligen Amtes. So könnte etwa das Tragen eines islamischen Kopftuches im polizeilichen Vollzugsdienst oder im Schulunterricht als übermäßige religiöse Betätigung gewertet werden, während man im Falle einer kopftuchtragenden Beamtin in der Registratur ohne Außenkontakt anders entscheiden könnte. Zum gleichen Ergebnis gelangt man, wenn man den öffentlichen Bediensteten die Berufung auf das Grundrecht der Glaubensausübungsfreiheit (forum externum) im Dienst von vornherein verwehrt. Das BVerfG hat bekanntlich anders entschieden. Es hat die nach außen gerichtete religiöse Betätigung des öffentlichen Bediensteten auch während der Dienstausübung dem Grundrechtsschutz der Glaubensfreiheit unterstellt. Auch verfassungsunmittelbaren Grundrechtsschranken unterliegt die Glaubensfreiheit nicht. Von verfassungsunmittelbaren Schranken sollte man nur sprechen, wenn der Schutzbereich eines Grundrechts bereits nach dem Verfassungswortlaut begrenzt ist.20 Klassisches Beispiel ist der Friedlichkeitsvorbehalt des Art. 8 Abs. 1 GG. Falls die Schranken der Glaubensfreiheit nicht den in das Grundgesetz inkorporierten Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung (Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 1 WRV) entnommen werden,21 bleibt nur mehr der Rückgriff auf verfassungsimmanente Grundrechtsschranken.22 Sie werden zunächst von anderen Grundrechten, Verfassungsprinzipien und sonstigen Verfassungsrechtsgütern gezoBVerfGE 108, 282 (323) – diss. op. Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008, Rn. 6 f.; zum Begriffswirrwarr Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 2, 1994, S. 494 ff. 21 Für diesen Weg BVerwGE 112, 227 (231 f.); dazu näher Kokott, in: Sachs, GG, 4. Aufl. 2007, Art. 4 Rn. 118 ff. 22 So zuletzt BVerfGE 108, 282 (311). 19 20
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gen, die auch dem Grundrecht der Glaubensfreiheit verfassungsrechtliche Schranken setzen. Mittlerweile ist es indes nahezu unstreitig, dass der Verwaltung Grundrechtseingriffe, die allein auf die verfassungsimmanenten Schranken gestützt werden, verwehrt sind. Erforderlich ist vielmehr ein parlamentarisches Gesetz, das die verfassungsimmanenten Grundrechtsschranken konkretisiert.23 Dies folgt schon aus dem allgemeinen Vorbehalt des Gesetzes; die insoweit anders lautende abweichende Auffassung zum Kopftuchurteil des BVerfG24 beruht ersichtlich auf einer Vermengung von unmittelbarer und verfassungsimmanenter Grundrechtsschranke. Ein behördliches Verbot der religiösen Betätigung im Dienst bedarf daher einer parlamentarischen gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage – jedenfalls soweit Beamte betroffen sind.25 Im Bundesbeamtenrecht und in vielen Landesbeamtengesetzen lässt sie sich nicht finden. Die dort normierten allgemeinen Verhaltenspflichten (§§ 52, 53, 54 BBG, 35, 36 BRRG) – viele Landeschulgesetze enthalten entsprechende Vorschriften für Lehrkräfte – rechtfertigen wenn überhaupt, dann nur ein Verbot der aggressiven religiösen Betätigung im Dienst.26
IV. Die Kopftuchproblematik 1. Die Bedeutung des Kopftuchs Dem von Frauen getragenen Kopftuch kommt eine Vielzahl von Bedeutungen und Symboliken zu. So kann es als reines Bekleidungsstück oder modisches Accessoire getragen werden, ohne dass die Trägerin damit eine religiöse, weltanschauliche oder politische Botschaft vermitteln will. Erinnert sei nur an die kopftuchtragenden deutschen Frauen, die vor oder nach Ende des zweiten Weltkrieges aus den verlorengegangenen Ostgebieten geflüchtet waren oder vertrieben wurden, oder an die kopftuchtragenden sog. Trümmerfrauen nach dem Kriege. In Kinofilmen der 50iger Jahre sind auch junge, für die damalige Zeit modern gekleidete Frauen zu sehen, die durch ein zumeist gepunktetes Kopftuch den Eindruck besonderer Frische und Fröhlichkeit vermitteln. Selbst vor den Köpfen junger Männer machte es nicht Halt. Dort wurde – vor allem in den achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts – und wird es zumeist nach Piratenart getragen, nicht selten unterlegt von glitzerndem Ohrschmuck. Eine mehr als nur modische Bedeutung kam oder kommt dem Kopftuch in all diesen Fällen nicht zu. Allerdings ist diese ausschließlich modische Funktion des Kopftuches in den letzten Jahrzehnten völlig in den Hintergrund getreten. Mittlerweile wird es ganz überwiegend von Frauen getragen, die ihrem islamischen Glauben ein deutlich sichtbares Zeichen setzen wollen. Dass das Kopftuch als religiösen Kleidungsstück und Symbol des 23 24 25 26
BVerfGE 111, 147 (157 f.); 108, 282 (311 f.); 83, 130 (142). BVerfGE 108, 282 (336 f.) – diss. op. Zu den Angestellten unten V. 3. c). Dazu näher Sicko (Fn. 2), S. 54 ff.
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islamischen Glaubens getragen werden kann – ohne schon aus sich heraus ein religiöses Symbol zu sein27 –, wird von niemandem bezweifelt – ungeachtet der umstrittenen Frage, ob es sich um ein zwingendes religiöses Gebot oder nur um ein in das Belieben des einzelnen Gläubigen gestelltes religiös motiviertes Verhalten handelt. Zunehmend wird das Kopftuch aber auch als politisches und weltanschauliches Symbol des islamischen Fundamentalismus verwendet und wahrgenommen.28 Nicht selten ist es ein Mittel zur zivilisatorischen Abgrenzung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen und ein politisches Symbol der Ablehnung westlicher Werte wie Toleranz gegenüber politisch und religiös anders Denkenden oder Gleichberechtigung von Mann und Frau oder gar Ausdruck der Ablehnung der Demokratie.29 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat erklärt, es sei schwierig, das Tragen des islamischen Kopftuchs mit der Botschaft der Toleranz, der Achtung des anderen und insbesondere der Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung zu vereinbaren.30
2. Das Erfordernis einer gesetzlichen Ermächtigung für ein Kopftuchverbot Trägt eine Beamtin das Kopftuch im Dienst, um dadurch einer politischen Gesinnung im oben genannten Sinn Ausdruck zu verleihen, genügt schon eine allgemein formulierte politische Mäßigungsklausel nach Art der §§ 53 BBG, 35 Abs. 2 BRRG, um ein Trageverbot im Einzelfall zu rechtfertigen. Insoweit besteht kein Unterschied zum Tragen von Springerstiefeln mit roten Schnürsenkeln und schwarzen Bomberjacken. Auch diese Bekleidungsstücke sind für sich genommen politisch neutral. Häufig sind sie aber Ausdruck einer rechtsradikalen Gesinnung. Dass die allgemeinen beamtenrechtlichen Mäßigungsklauseln jedenfalls dann ein Trageverbot rechtfertigen, wenn im Einzelfall ernstzunehmende Anhaltspunkte für ein politisch motiviertes Tragen dieser Kleidungsstücke bestehen, wurde bislang noch nicht bestritten. Anders verhält es sich dagegen, wenn das Kopftuch nicht als politisches, sondern als religiöses Kleidungsstück getragen wird. Besteht keine beamtenrechtliche allgemeine religiöse Mäßigungsklausel, ist ein Trageverbot nicht zu rechtfertigen. Erforderlich, aber auch ausreichend, um im Einzelfall das religiös motivierte Tragen oder Verwenden eines Kleidungsstücks oder Symbols zu verbieten, ist eine allgemein gehaltene religiöse Mäßigungsklausel nach Art der §§ 53 BBG, 35 Abs. 2 BRRG. 27 BVerfGE 108, 282 (304); zu dieser Entscheidung Sicko (Fn. 2), S. 40 ff. mit umfangreichen Nw. in Fn. 180. 28 BVerfGE 108, 282 (304); BVerwGE 121 (145); OVG Bremen NVwZ-RR 2006, 403. 29 Ötztürk, DÖV 2007, 999. 30 EGMR NJW 2001, 2873; NVwZ 2006, 1389 Rn. 111.
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Ein schlagendes Argument, weshalb ein Verbot der religiösen Betätigung im Dienst einer detaillierteren gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage bedürfte als ein Verbot der (partei-)politischen Betätigung im Dienst, für das allgemeine Vorschriften nach dem Muster der §§ 53 BBG, 35 Abs. 2 BRRG für ausreichend gehalten werden, ist nicht ersichtlich. Die knappen Ausführungen, mit denen das BVerfG in seinem Kopftuch-Urteil die gegenteilige Auffassung begründet hat,31 vermögen nicht zu überzeugen.32 Verfehlt ist schon die Annahme, „eine Regelung, nach der es zu den Dienstpflichten einer Lehrerin gehört, im Unterricht auf das Tragen eines Kopftuches oder anderer Erkennungsmerkmale der religiösen Überzeugung zu verzichten, . . . greift in erheblichem Maße in die Glaubensfreiheit der Betroffenen ein“.33 Auch wenn das religiös motivierte Tragen von Kleidungsstücken im Dienst vom Grundrecht der Glaubensfreiheit geschützt ist, steht dieses Verhalten bei objektiver Betrachtungsweise nicht im Zentrum des Schutzbereichs dieses Grundrechts. Der Beamte ist im Dienst in erster Linie Repräsentant des Staates. Das Amt dient nicht der freien Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung als Individuum, sondern der Erfüllung staatlicher Aufgaben.34 Auch das Grundrecht der Glaubensfreiheit ist nicht darauf gerichtet, den Repräsentanten und Trägern staatlicher Gewalt im Dienst Freiräume für eine religiöse Entfaltung ihres Glaubens zu schaffen. Das Amt und der Dienst stehen im Vordergrund. Der Beamte hat seinen Dienst nach Maßgabe der Anforderungen seines Amtes zu verrichten und nicht nach Maßgabe mehr oder weniger verbindlicher Glaubenssätze und religiöser Vorgaben. Ein von der Dienststelle verhängtes Kopftuchverbot stellt sich zwar als Eingriff in die Glaubensfreiheit dar. Schwerwiegend ist er indes nicht. Es ist nicht ersichtlich, weshalb ein Verbot des Kopftuchtragens im Dienst grundrechtlich schwerer wiegen sollte als ein Verbot, im Dienst ein Parteiabzeichen zu tragen. Auch ein politisch engagierter Beamter kann von dem Programm, den Zielen und dem Ethos seiner Partei dermaßen erfasst und durchdrungen sein, dass sich für ihn die Dokumentation seiner Parteizugehörigkeit im Dienst als unverzichtbares Gebot seines politischen Gewissens und seiner individuellen Persönlichkeit darstellt. Gleichwohl wurde bislang nicht bezweifelt, dass allgemeine politische Mäßigungsklauseln nach Art der §§ 53 BBG, 35 Abs. 2 BRRG ausreichen, um ein Verbot der parteipolitischen Betätigung im Dienst zu rechtfertigen. Hinzu kommt, dass ein Kopftuchverbot kein generelles Verbot der religiösen Betätigung im Dienst bedeutet.35 So bleibt etwa den betroffenen Beamtinnen in den Pausen Zeit für ein Gebet oder ähnliche religiöse Handlungen. BVerfGE 108, 282 (312 f.). Müller-Volbehr, Festschrift Frotscher, 2007, S. 298; vgl. auch Mückl, Der Staat 40 (2001), 125 f. 33 BVerfGE 108, 282 (312). 34 Isensee, ZBR 2004, 6, 8. 35 Hufen, NVwZ 2004, 577 f.; Engelken, BayVBl. 2004, 101. 31 32
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Auch das Argument, das Verbot, im Dienst religiöse Bekleidung zu tragen, treffe diejenigen Personen besonders intensiv, die die Befolgung bestimmter Bekleidungssitten „als zur Ausübung ihrer Religion gehörig ansehen“,36 ist nicht stichhaltig. Die Intensität des Grundrechtseingriffs bestimmt sich nicht nach kaum nachprüfbaren individuellen Vorlieben und Vorstellungen, sondern nach objektiven Kriterien. Die Kategorie des gefühlten Grundrechtseingriffs37 müsste erst noch erfunden werden. Auch das Gebot der Gleichbehandlung Angehöriger unterschiedlicher Religionsgemeinschaften vermag ein Erfordernis einer detaillierten gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage für ein Kopftuchverbot nicht zu begründen.38 Zu beachten ist nicht nur das verfassungsrechtliche Gebot der religiösen Gleichbehandlung, sondern auch das Gebot der politischen Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG). Gleichwohl wurden bislang die §§ 53 BBG, 35 Abs. 2 BRRG für die fallweise Anordnung des Verbots der politischen Betätigung im Dienst für ausreichend erachtet. Gänzlich ungeeignet ist der Hinweis darauf, dass die Glaubensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG vorbehaltlos gewährleistet sei.39 Eingriffe in vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte setzen keine detaillierteren gesetzlichen Eingriffsermächtigungen voraus als Eingriffe in Grundrechte mit Gesetzesvorbehalt. Dies folgt schon aus dem Grundsatz der prinzipiellen Gleichwertigkeit der Grundrechte. Dem Grundrecht der vorbehaltlos garantierten Glaubensfreiheit kommt kein höherer Stellenwert zu als dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, das einem Gesetzesvorbehalt unterliegt (Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG).40 Das BVerfG hat bekanntlich anders entschieden. Danach bedarf ein wie auch immer geartetes Verbot des Kopftuchtragens im öffentlichen Dienst einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage, die über ein allgemeines religiöses Mäßigungsgebot hinausgeht. Nähere Vorgaben hat das BVerfG indes nicht gemacht. Betont hat es lediglich das selbstverständliche verfassungsrechtliche Gebot der strikten Gleichbehandlung der verschiedenen Glaubensgemeinschaften und Gläubigen. Hinzu kommt, dass das BVerfG sich in seiner Kopftuchentscheidung lediglich zu einem Kopftuchverbot im Schuldienst und nicht im gesamten öffentlichen Dienst geäußert hat. Denn zu entscheiden war nur über die Verfassungsbeschwerde einer kopftuchtragenden Lehramtsbewerberin, die sich gegen die Weigerung der Schulbehörde wehrte, sie deshalb nicht in ein Beamtenverhältnis auf Probe als Lehrerin zu berufen, weil sie im Dienst auf das Tragen des Kopftuches nicht verzichten wollte. Deshalb darf aus der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung nicht BVerfGE 108, 282 (312). In diese Richtung BVerfG NJW 2008, 1505 Rn. 78, 173. 38 So aber BVerfGE 108, 282 (313). 39 Vgl. BVerfGE 108, 282 (311). 40 Vgl. H. H. Rupp, in: Merten / Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II, 2006, § 36 Rn. 33. 36 37
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der Rückschluss auf eine grundsätzliche Unzulässigkeit eines gesetzlichen Kopftuchverbots für den außerschulischen Bereich gezogen werden.41 Die meisten Länder, die ihrer Verwaltung die rechtliche Möglichkeit zur Anordnung eines Kopftuchverbots eröffnen wollten, haben die hierfür erforderliche gesetzliche Regelung auf den schulischen Bereich beschränkt. Nur Hessen und Berlin haben auch weitere Bereiche des öffentlichen Dienstes einbezogen.42
V. Die hessischen Regelungen 1. Der hessische Sonderweg Am strengsten ist die hessische Regelung. Sie erstreckt sich auf den Schulbereich und gilt sowohl für beamtete als auch für angestellte Lehrkräfte. Einbezogen ist aber auch die gesamte Landesverwaltung, wobei aber nur die Beamten und nicht auch die anderen öffentlichen Bediensteten erfasst sind. Erreicht wurde dies durch eine Ergänzung des hessischen Beamtengesetzes. Anders als die Berliner Regelung, die sich zwar auch auf den außerschulischen Bereich erstreckt, aber insoweit zwischen den verschiedenen Verwaltungsbereichen differenziert,43 erfasst die hessische Regelung die gesamte Landesbeamtenschaft unterschiedslos. Weil der hessische Gesetzgeber einerseits am strengsten war, andererseits die nichtverbeamteten Bediensteten der außerschulischen Bereiche ausgenommen hat, war und ist die hessische Regelung verfassungsrechtlich am umstrittensten und interessantesten. Das heißt freilich nicht, dass die einschlägigen Gesetze der anderen Länder keine Kritik erfahren haben. Zum weiteren Verständnis ist eine Kenntnis des Wortlautes der hessischen Vorschriften unerlässlich. § 3 Abs. 1 Hessisches Schulgesetz (HSchG) lautet: Die Schule achtet die Freiheit der Religion, der Weltanschauung, des Glaubens und des Gewissens sowie das verfasssungsmäßige Recht der Eltern auf die Erziehung ihrer Kinder und nimmt Rücksicht auf die Empfindungen und Überzeugung Andersdenkender.
§ 86 Abs. 3 HSchG lautet: Zur Gewährleistung der Grundsätze des § 3 Abs. 1 haben Lehrkräfte in Schule und Unterricht politische, religiöse und weltanschauliche Neutralität zu wahren; § 8 bleibt unberührt. Insbesondere dürfen sie Kleidungsstücke, Symbole oder andere Merkmale nicht tragen oder verwenden, die objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die Neutralität ihrer Amtsführung zu beeinträchtigen oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Frieden in der Schule zu gefährden. Bei der Entscheidung über das Vorliegen der Vorausset41 In diese Richtung aber Klein / Falk / Giani / v. Plottnitz, NVwZ 2008, 206 – diss. op.; zutreffend Sicko (Fn. 2), S. 145. 42 Ein Überblick über die verschiedenen landesgesetzlichen Regelungen und eine verfassungsrechtliche Bewertung finden sich bei Sicko (Fn. 2), S. 93 ff. 43 § 1 des Gesetzes zu Art. 29 BerlVerf. vom 27. 1. 2005, GVBl. S. 92.
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zungen nach Satz 1 und 2 ist der christlich und humanistisch geprägten abendländischen Tradition des Landes Hessen angemessen Rechnung zu tragen. Für Lehrkräfte im Vorbereitungsdiensts kann die zuständige Behörde auf Antrag abweichend von Satz 2 im Einzelfall die Verwendung von Kleidungsstücken, Symbolen oder anderen Merkmalen zulassen, soweit nicht zwingende öffentliche Interessen entgegenstehen.
§ 68 Abs. 2 Hessisches Beamtengesetz (HBG) lautet: Beamte haben sich im Dienst politisch, weltanschaulich und religiös neutral zu verhalten. Insbesondere dürfen sie Kleidungsstücke, Symbole oder andere Merkmale nicht tragen oder verwenden, die objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die Neutralität ihrer Amtsführung zu beeinträchtigen oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Frieden zu gefährden. Bei der Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen nach Satz 1 und 2 ist der christlich und humanistisch geprägten abendländischen Tradition des Landes Hessen angemessen Rechnung zu tragen.
2. Die verschiedenen Regelungsmöglichkeiten Ziel dieser und ähnlicher Vorschriften anderer Länder ist es in erster Linie, Lehrerinnen und ggf. Beamtinnen in anderen Verwaltungsbereichen das Kopftuchtragen im Dienst zu verbieten. Auch wenn im Gesetz vom Kopftuch nicht die Rede ist, steht völlig außer Streit, dass das Kopftuch gemeint ist. Ein ausdrückliches gesetzliches Kopftuchverbot wäre indes mit dem vom BVerfG betonten verfassungsrechtlichen Grundsatz der religiösen Gleichbehandlung der verschiedenen Glaubensgemeinschaften und Gläubigen kaum vereinbar gewesen. Denn es hätte sich gegen ein Kleidungsstück gewendet, das als Symbol einer einzigen Glaubensrichtung getragen werden kann. Denkbar wäre es auch gewesen, einige bestimmte politische, religiöse und weltanschauliche Kleidungsstücke, Symbole und Merkmale – und hier vor allem das islamische Kopftuch – zu nennen und im übrigen salvatorisch das Tragen oder Verwenden sonstiger Kleidungsstücke, Symbole oder anderer Merkmale zu verbieten, die objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die Neutralität der Amtsführung des Verwenders zu beeinträchtigen oder den Dienstfrieden zu stören.44 Eine solche Regelung hätte den Vorteil der größeren Klarheit bei gleichzeitiger normativer Offenheit für weitere unbenannte Kleidungsstücke, Symbole oder andere Merkmale geboten. Den Königsweg hätte der Gesetzgeber damit aber nicht beschritten. So wäre es verfassungsrechtlich nicht erforderlich, gerade ganz bestimmte Kleidungsstücke – wie neben dem islamischen Kopftuch etwa die Baghwankleidung, das Gewand der Taliban, den Tschador oder Springerstiefel und Bomberjacke –, Symbole und Merkmale – wie etwa Parteiabzeichen – zu nennen. Der Vorwurf der gezielten Ungleichbehandlung und Benachteiligung bestimmter politischer, religiöser und weltanschaulicher Gemeinschaften und Strömungen wäre deshalb auch hier unvermeidbar. 44
Engelken, BayVBl. 2004, 100 m. Fn. 28.
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Verfassungsrechtlich zulässig wäre die Radikallösung eines strikten Verbots jeglicher politisch, religiös und weltanschaulich motivierter Kleidungsstücke, Symbole oder anderer Merkmale im Dienst.45 Auch hier wäre indes unter Hinweis auf die vom BVerfG betonte Glaubensfreiheit im Dienst – nichts anderes kann dann für die Meinungsfreiheit gelten – der Vorwurf des undifferenzierten und unverhältnismäßigen Grundrechtseingriffs erhoben worden. Wer ein Kopftuchverbot deshalb für verfassungswidrig hält, weil er eine abstrakte Gefahr für die politische, religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates oder den Dienstfrieden verneint,46 kann zu keinem anderen Ergebnis gelangen, wenn der Gesetzgeber sämtliche politisch, religiös und weltanschaulich motivierte Kleidungsstücke, Symbole und Merkmale im Dienst verbietet. Dass eine solche Auffassung nicht nur mit der hier vertretenen Konzeption der prinzipiellen Nachrangigkeit der Glaubens- und Meinungsfreiheit der öffentlichen Bediensteten während der Dienstausübung gegenüber der öffentlichen Funktion ihres Amtes, sondern nicht einmal mit der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung vereinbar ist, wonach gesetzliche Regelungen, die es Lehrern untersagen, im Dienst äußerlich dauernd sichtbar ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft oder Glaubensrichtung erkennen zu lassen, verfassungsrechtlich zulässig sein können,47 steht auf einem anderen Blatt.
3. Die Verfassungsmäßigkeit der hessischen Regelung a) Bestimmtheitsgrundsatz Dass der hessische Gesetzgeber – wie auch andere Landesgesetzgeber – von den oben beschriebenen Möglichkeiten keinen Gebrauch gemacht, sondern eine sowohl allgemeine Regelung – soweit er auf die Benennung ganz bestimmter Kleidungsstücke, Symbole oder andere Merkmale verzichtet hat – als auch differenzierende Regelung – soweit er auf die objektive Gefährdungseignung abgestellt hat – getroffen hat, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Sie genügt insbesondere dem rechtsstaatlichen und durch die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung konturierten Bestimmtheitsgrundsatz.48 Die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe bleibt dem Gesetzgeber selbst in grundrechtssensiblen Bereichen unbenommen. Als Beispiel genannt sei nur die Strafbarkeit der Verbreitung von Propagandamitteln und die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Or45 Vgl. Giani / v. Plottnitz, NVwZ 2008, 2 – diss. op.; a.A. Walter / Ungern-Sternberg, DÖV 2008, 491 f. 46 Lange, NVwZ 2008, 209 – diss. op.; zutreffend dagegen Gassner, Festschrift v. Zezschwitz, 2005, S. 79; Engelken, BayVBl. 2004, 99; ders., VBlBW 2006, 210; vgl. auch Goerlich, NJW 1999, 2930. 47 BVerfGE 108, 282 (310 ff.). 48 HessStGH NVwZ 2008, 200 f.; Sicko (Fn. 2), S. 59 f., 148 f.; ebenso zu Parallelvorschriften anderer Länder BVerfGK 7, 320 (323); BayVerfGH BayVBl. 2007, 237.
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ganisationen – einschließlich von Kennzeichen, die verbotenen Kennzeichen zum Verwechseln ähnlich sind – nach den §§ 86, 86a StGB oder die Befugnis der Polizei, nach Maßgabe der polizeilichen Generalklauseln die erforderlichen Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu treffen. Die gesetzliche Umschreibung der verbotenen Kleidungsstücke, Symbole oder anderen Merkmale durch das Kriterium der objektiven Eignung, das Vertrauen in die Neutralität der Amtsführung zu beeinträchtigen oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schul- bzw. (Dienst-)Frieden zu gefährden, vermag den Bürgern eine hinreichend bestimmte Vorstellung darüber zu vermitteln, welche Gegenstände gesetzlich verboten sind. Gleiches gilt für die gesetzesanwendenden Behörden. Hinzu kommt, dass ein Verstoß gegen die in Rede stehenden gesetzlichen Vorschriften weder buß- noch strafgeldbewehrt ist. Auch eine disziplinarische Ahndung erstmaliger Verstöße wäre unzulässig. Disziplinarische und ähnliche Maßnahmen – wie insbesondere die Nichteinstellung in den öffentlichen Dienst – dürften erst ergriffen werden, wenn der Betreffende sich beharrlich weigerte, einer behördlichen Feststellung, dass das Tragen oder Verwenden eines bestimmten Kleidungsstücks, Symbols oder anderen Merkmals mit den einschlägigen Vorschriften unvereinbar sei, Rechnung zu tragen. Schließlich ist auch zu berücksichtigen, dass den Behörden bei der Bestimmung, welche Gegenstände von diesen Vorschriften im Einzelfall erfasst sind, kein Beurteilungsspielraum zusteht. Die behördliche Entscheidung ist gerichtlich uneingeschränkt justitiabel. Dass die Schulbehörde im Einzelfall prüfen und entscheiden muss, ob einem bestimmten Bekleidungsstück, Kennzeichen oder Symbol ein religiöser, weltanschaulicher oder politischer Aussagegehalt zukommt, stützt nicht die Annahme, die §§ 86 Abs. 3 HSchG, 68 Abs. 2 HBG seien zu unbestimmt und rechtfertigten deshalb nicht die behördliche Anordnung eines Kopftuchverbots im Einzelfall.49 b) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Das religiös oder weltanschaulich motivierte Tragen oder Verwenden von Kleidungsstücken oder Symbolen durch Lehrkräfte kollidiert mit der negativen Glaubensfreiheit der Schüler aus Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG. Dieses Grundrecht schützt sie davor, in der Schule unausweichbar mit Kleidungsstücken oder Symbolen konfrontiert zu werden, die von einem Repräsentanten des Staates getragen oder verwendet werden, um einer bestimmten Religion oder Weltanschauung Ausdruck zu verleihen. Weiterhin kollidiert ein solches Verhalten mit dem staatlichen schulischen Erziehungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG. Die Regelungen der Art. 4 Abs. 1 u. 2, Art. 3 Abs. 3 S. 1, Art. 33 Abs. 3 GG sowie Art. 136 Abs. 1 u. 4 und Art. 137 49 So BVerfGK 7, 320 (323 f.) zu § 59 b BremSchulG; a.A. Klein / Falk / Giani / v. Plottnitz, NVwZ 2008, 206 – diss. op.
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Abs. 1 WRV i. V. m. Art. 140 GG verpflichten den Staat und damit die Staatsdiener, den staatlichen schulischen Erziehungsauftrag nach Art. 7 Abs. 1 GG weltanschaulich-religiös neutral zu erfüllen. Schließlich ist auch das elterliche Erziehungsrecht nach Art. 6 Abs. 2 GG zu beachten. Es gibt den Eltern das Recht, ihre Kinder von Glaubensüberzeugungen und Weltanschauungen fern zu halten, die den Eltern als falsch oder schädlich erscheinen.50 Tragen oder verwenden Lehrkräfte im Unterricht politisch motivierte Kleidungsstücke, Symbole oder andere Merkmale, kann ein solches Verhalten ebenfalls mit dem staatlichen Erziehungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG kollidieren. Dem Staat und seinen Bediensteten ist zwar nicht jedwede politische Betätigung verwehrt. Die Gesetze sind in aller Regel Ausdruck bestimmter politischer Mehrheitsentscheidungen. Die Gesetzesanwendung und das Verhalten der Gesetzesanwender, das im Zusammenhang mit dem Gesetzesvollzug steht, hat deshalb auch eine politische Dimension. Auch im übrigen haben sich der Staat und seine Bediensteten keineswegs apolitisch zu verhalten. Staatliches Handeln ist häufig zwangsläufig politisches Handeln.51 Allerdings gilt für alle Staatsdiener – nicht nur für die Beamten – das Gebot der politischen Mäßigung. Der Staat und seine Diener sind dem Gemeinwohl verpflichtet.52 Die einseitige, sachlich nicht gerechtfertigte Begünstigung parteilicher Interessen ist dem Staat verwehrt.53 Der Staat und seine Bediensteten müssen sich nicht nur parteipolitisch neutral verhalten. Unzulässig ist auch eine sonstige politische Betätigung im Dienst, die nicht dem Gebot der Sachlichkeit und Mäßigung genügt.54 All dies folgt verfassungsrechtlich aus dem republikanischen Prinzip, das den Staat und seine Bediensteten zu gemeinwohlorientiertem Handeln verpflichtet.55 Politische Agitation und ideologisierendes Verhalten der Staatsdiener im Dienst ist mit dem republikanischen Prinzip unvereinbar.56 Diejenigen, die eine materielle Aufladung des republikanischen Prinzips ablehnen, verweisen insoweit auf das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip und gelangen zum selben Ergebnis.57
Im einzelnen BVerfGE 108, 282 (299 ff.); Hufen, NVwZ 2004, 576 f. Vgl. BVerfGE 119, 247 (261): „politische Ausrichtung der jeweiligen Staatsführung“; Wichmann, in: Wichmann / Lange, Öffentliches Dienstrecht, 6. Aufl. 2007, Rn. 203. 52 BVerfGE 119, 247 (261); Isensee, ZBR 2004, 4; Goerlich, NJW 1999, 2931. 53 BVerfGE 119, 247 (261) zu den Beamten. 54 BVerwGE 84, 292 ff.; Wichmann (Fn. 51), Rn. 203; F. Krause, Die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums, 2008, S. 232 f. 55 Isensee, ZBR 2004, 3 ff.; ders., in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 135: „republikanische Grundentscheidung“; Gröschner, ebenda, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 23 Rn. 15, 66; Sommermann, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 20 Rn. 14 ff. m. w. Nw. 56 Sommermann (Fn. 55), Art. 20 Rn. 15: „Die Republik ist ideologiefeindlich“. 57 BVerfGE 119, 247 (261); Sachs, in: Sachs, GG, 4. Aufl. 2007, Art. 20 Rn. 10; Dreier, in: Dreier, GG, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Republik) Rn. 21; vgl. auch Isensee (Fn. 55), § 71 Rn. 134 f., der neben dem republikanischen auch auf das demokratische Prinzip abstellt. 50 51
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Letztlich ist die Amtspflicht zur Objektivität, Neutralität, Unparteilichkeit und zur politischen Mäßigung ein verfassungsrechtliches Gebot.58 Es schließt die religiöse, weltanschauliche und politische Neutralität ein. Dieses Neutralitätsgebot gilt auch bei der Wahrnehmung des staatlichen schulischen Erziehungsauftrages nach Art. 7 Abs. 1 GG für die Lehrkräfte, die den Erziehungsauftrag erfüllen. Schließlich kann das Tragen oder Verwenden politischer Kleidungsstücke oder Symbole durch Lehrkräfte im Dienst wiederum mit dem elterlichen Erziehungsrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG kollidieren. Es schließt auch das Recht der Eltern ein, politische Aussagen, Symbole oder sonstige Erscheinungsformen, die dem staatlichen politischen Neutralitätsgebot nicht genügen, abzuwehren. Gleiches gilt für die spezifisch beamtenrechtlichen Neutralitäts- und Mäßigungsgebote nach den §§ 52 Abs. 1, 53, 54 BBG, 35 BRRG, 68 Abs. 2 S. 1 HBG. Auch sie sind Ausformungen des republikanischen Prinzips bzw. des Rechtsstaatsund Demokratieprinzips. Zugleich zählt die beamtenrechtliche Neutralitäts- wie auch die damit zusammenhängende Mäßigungspflicht zum unaufgebbaren Kernbestand an Strukturprinzipien des in Art. 33 Abs. 5 GG institutionell garantierten Berufsbeamtentums.59 Verhalten sich Beamte im Dienst politisch, weltanschaulich oder religiös nicht neutral, hierzu kann auch das Tragen oder Verwenden von Kleidungsstücken, Symbolen oder anderen Merkmalen, denen eine politische, religiöse oder weltanschauliche Bedeutung zukommt, zählen, kollidiert ein solches Verhalten mit den Grundrechten derjenigen Bürger, die mit diesem Verhalten der Beamten konfrontiert werden. Dies können Bürger sein, die mit den Beamten unmittelbaren Kontakt haben, aber auch Arbeitskollegen, die dem neutralitätswidrigen Verhalten ausgesetzt sind. Allgemeine dienstrechtliche Neutralitäts- und Mäßigungsgebote, wie sie die §§ 52 Abs. 1, 53, 54 BBG, 35 BRRG oder § 68 Abs. 2 S. 1 HGB und § 86 Abs. 3 S. 1 HSchG statuieren, sind deshalb einfachgesetzliche Konkretisierungen verfassungsrechtlicher Grundsätze (republikanisches Prinzip oder Rechtsstaatsund Demokratieprinzip). Zugleich konkretisieren diese einfachgesetzlichen Neutralitäts- und Mäßigungsgebote die grundgesetzliche Pflicht des Staates, nicht in Grundrechte der Bürger einzugreifen. Insoweit sind die genannten dienstrechtlichen Ge- und Verbote in erster Linie grundrechtsschützende60 und erst in zweiter Linie grundrechtseingreifende Vorschriften, nämlich soweit es um die Grundrechte der öffentlichen Bediensteten auf politische, religiöse und weltanschauliche Betätigung im Dienst geht. § 86 Abs. 3 S. 2 HSchG und § 68 Abs. 2 S. 2 HBG konkretisieren ihrerseits die einfachgesetzlichen allgemeinen dienstrechtlichen Neutralitätsgebote der jeweiliBVerfGE 119, 247 (261); im einzelnen Isensee (Fn. 55), § 71 Rn. 132 ff. BVerfGE 108, 282 (320 ff., 323) – diss. op.; vgl. auch BVerfGE 119, 247 (260 ff.); BVerwGE 84, 292 (294). 60 Vgl. BVerfGE 108, 282 (320) – diss. op. 58 59
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gen Sätze 1 dieser Vorschriften und sind damit ebenfalls einfachgesetzliche Ausformungen verfassungsrechtlicher Prinzipien sowie primär grundrechtsgewährleistende Regelungen. Zu beachten ist, dass der Gesetzgeber nicht verboten hat, jedwede Kleidungsstücke, Symbole oder andere Merkmale zu tragen oder zu verwenden, denen eine politische, weltanschauliche oder religiöse Bedeutung zukommt. Die Frage, ob ein solch radikales Verbot die Grundrechte der Bediensteten auf politische, weltanschauliche oder religiöse Betätigung im Dienst unverhältnismäßig einschränken würde, stellt sich deshalb nicht. Das Verbot erstreckt sich nämlich nur auf solche Gegenstände, deren Verwendung objektiv geeignet ist, das Vertrauen in die Amtsführung des Verwenders zu beeinträchtigen oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schul- oder Dienstfrieden zu gefährden. Andere Gegenstände, denen eine politische, religiöse oder weltanschauliche Bedeutung zukommt, dürfen getragen oder verwendet werden.61 Durch das Merkmal der objektiven Eignung wird die Dienststelle der Schwierigkeit enthoben, im Einzelfall die Motive und individuellen Beweggründe des Bediensteten zu erforschen. So kann etwa das Tragen einer schwarzen Bomberjacke zu rotgeschnürten Springerstiefeln Ausdruck modischer Fehlvorstellung, aber auch radikaler politischer Gesinnung sein. Gleiches gilt für ein Kopftuch. Es kann ein modisches Accessoire, ein religiös oder ein politisch motiviertes Kleidungsstück sein. Ein Verstoß gegen die dienstrechtliche Neutralitätspflicht setzt indes keine entsprechende subjektive Motivation voraus. Verschulden ist insoweit nicht erforderlich. Die Neutralitätspflicht wird bereits durch ein objektiv nichtneutrales Verhalten verletzt. Lediglich ein Strafoder Disziplinarverfahren setzt auch ein persönlich vorwerfbares Verhalten (Verschulden) voraus. Das in § 86 Abs. 3 S. 2 HSchG und § 68 Abs. 2 S. 2 HGB genannte Vertrauen in die Neutralität der Amtsführung ist in der Tat kein verfassungsrechtlich geschütztes Rechtsgut,62 hinter das die Grundrechte der Bediensteten zurücktreten müssten. Indes benennt diese Formulierung ein Kriterium, dem für die Einzelfallentscheidung, ob die dienstrechtliche Neutralitätspflicht tatsächlich verletzt ist, entscheidende Bedeutung zukommt. Der Begriff der (dienstlichen) Neutralität ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. Wenngleich der Dienststelle kein Beurteilungsspielraum zukommt, bedarf er gleichwohl der Auslegung und Ausfüllung. Da der einzelne Bedienstete sich neutral gegenüber den Bürgern verhalten muss, kommt deren Sichtweise mitentscheidende Bedeutung zu. Ein Verhalten des Bediensteten, das den Bürgern objektiven Anlass gibt, an der Neutralität der Amtsführung zu zweifeln, verstößt ungeachtet der persönlichen Motive des Bediensteten gegen seine Neutralitätspflicht. Das dienstrechtliche Neutralitätsgebot verpflichtet den Amts61 Sicko (Fn. 2), S. 149; Hufen, NVwZ 2004, 577 f.; unter anderem deshalb verstoßen § 86 Abs. 3 S. 2 HSchG und § 68 Abs. 2 S. 2 HBG weder gegen das Antidiskriminierungsgesetz noch gegen die Antidiskriminierungsrichtlinien; gleiches gilt auch für die Sätze 3 der genannten Vorschriften; a.A. zu § 57 Abs. 4 SchulGNRW Walter / Ungern-Sternberg, DVBl. 2008, 880 ff. 62 Lange, NVwZ 2008, 209 – diss. op.
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träger nicht nur zur Korrektheit als solcher, sondern schon zur Vermeidung des bösen Scheins.63 Die nicht nur einfachgesetzliche, sondern wie oben dargelegt auch verfassungsrechtliche Neutralitätspflicht aller öffentlichen Bediensteten verbietet ihnen ein Verhalten, das objektiv geeignet ist, das Vertrauen in die Neutralität ihrer Amtsführung zu beeinträchtigen. 64 Das verfassungsrechtliche Rechtsgut, dessen Schutz § 86 Abs. 3 S. 2 HSchG und § 68 Abs. 2 S. 2 HBG bezweckt, ist deshalb die Neutralität der Amtsführung. Das beeinträchtigte Vertrauen in die Neutralität der Amtsführung ist lediglich ein Kriterium und einfachgesetzliches Tatbestandsmerkmal, das der Feststellung von Verstößen gegen die (verfassungsrechtliche) Neutralitätspflicht dient. Nach der zweiten gesetzlichen Alternative ist das Tragen oder Verwenden solcher Kleidungsstücke, Symbole oder anderer Merkmale untersagt, die objektiv geeignet sind, den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Frieden in der Schule (§ 86 Abs. 3 S. 2 HSchG) oder nur den Frieden (§ 68 Abs. 2 S. 2 HBG) – gemeint ist der Frieden in den Dienststellen (kurz: der Dienstfrieden) – zu gefährden. Hinter dem in § 86 Abs. 3 S. 2 HSchG genannten Schulfrieden steht das öffentliche Schulwesen.65 Art. 7 Abs. 1 GG garantiert die Institution der öffentlichen Schule als wichtigsten Teil des Schulwesens.66 Ihr kommt Verfassungsrang zu.67 Gesetzliche Regelungen, die den Schutz von verfassungsrangigen Rechtsgütern und Institutionen bezwecken und ihnen drohende Gefahren, mögen sie auch nur abstrakt sein, abwehren, dürfen hierzu in andere, auch vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte eingreifen, soweit insbesondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt bleibt. Eine Gefährdung des politischen, religiösen oder weltanschaulichen Friedens in den Schulen beeinträchtigt den Schulbetrieb und stellt eine Bedrohung für das öffentliche Schulwesen dar. Dass das Tragen oder Verwenden bestimmter Kleidungsstücke, Symbole oder anderer Merkmale den Schulfrieden gefährden kann, steht außer Zweifel.68 Der Gesetzgeber ist deshalb berechtigt, wenn nicht sogar gehalten, ein entsprechendes Verbot auszusprechen. Hierbei ist er nicht auf die Abwehr konkreter Gefahren beschränkt. Auch die Abwehr nur abstrakter Gefahren für den Schulfrieden, also von Verhaltensweisen, die mit hinrei63 Isensee (Fn. 55), § 71 Rn. 133 unter Berufung auf Hilp, Den bösen Schein vermeiden, 2003, S. 24 ff., 94 ff.; ders., ZBR 2004, 7; ähnlich Goerlich, NJW 1999, 2931; vgl. auch BVerwGE 84, 292 (294). 64 Isensee, ZBR 2004, 7. 65 Für Verfassungsrang des Schulfriedens Engelken, VBlBW 2006, 210. Auf Schulen in freier Trägerschaft (Privatschulen) ist § 86 HSchG nicht anwendbar, § 179 Abs. 1 HSchG. 66 Gröschner, in: Dreier, GG, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 7 Rn. 22. 67 Vgl. OVG Berlin NVwZ-RR 2006, 403, wonach der aus Art. 7 Abs. 1 GG abgeleitete staatliche Erziehungsauftrag ein wichtiges Gemeinschaftsgut ist, zu dessen Schutz Grundrechte eingeschränkt werden dürfen. 68 BVerfGE 108, 282 (303).
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chender Wahrscheinlichkeit den Schulfrieden stören,69 ist dem Gesetzgeber erlaubt.70 Im Ergebnis genauso verhält es sich bei der durch § 68 Abs. 2 S. 2 HBG bezweckten Abwehr abstrakter Gefahren für den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Dienstfrieden. Das Berufsbeamtentum ist durch Art. 33 Abs. 5 GG institutionell garantiert und damit zugleich eine verfassungsrechtliche Institution. Gesetzliche Regelungen zur Aufrechterhaltung des reibungslosen Dienstbetriebes und zur Abwehr von Störungen des Dienstfriedens finden ihre verfassungsrechtliche Rechtfertigung in der Befugnis, wenn nicht gar in der Pflicht des Gesetzgebers zur Gewährleistung eines effektiven Berufsbeamtentums.71 Tragen oder verwenden Beamte im Dienst Kleidungsstücke, Symbole oder andere Merkmale, die eine politische, religiöse oder weltanschauliche Botschaft vermitteln, kann dieses Verhalten sowohl von Bürgern als auch von Kollegen, die mit diesen Beamten in Kontakt treten, als indoktrinierend, zumindest aber als störend empfunden werden. Reibereien bis hin zu handfesten Streitigkeiten zwischen den Bürgern und Beamten, aber auch innerhalb der Beamtenschaft und eine dadurch bewirkte Störung des Dienstfriedens und -ablaufs wären zu befürchten. c) Die Beschränkung auf Lehrkräfte und Beamte Nicht unproblematisch ist die Beschränkung des gesetzlichen Verbots auf die Beamtenschaft und die Ausklammerung der sonstigen öffentlichen Bediensteten mit Ausnahme der Lehrkräfte. Anstatt das HSchG und das HBG wie geschehen durch das Gesetz zur Sicherung der staatlichen Neutralität vom 18. 10. 200472 um die oben genannten Bestimmungen zu ergänzen, hätte der hessische Gesetzgeber den großen Wurf wagen und ein Neutralitätsgesetz für sämtliche hessische Landesbedienstete erlassen können. An der Gesetzgebungskompetenz wäre ein solches Vorhaben nicht gescheitert. Zwar fällt auch der öffentliche Dienst unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG.73 Eine die Länderkompetenz ausschließende bundesgesetzliche Regelung zur Sicherstellung der Neutralität (auch) der Landesbediensteten existiert jedoch nicht. Der mögliche Einwand, die Tarifautonomie des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG stehe einer nicht auf die Schulen beschränkten gesetzlichen Neutralitätsregelung für sämtliche nicht verbeamtete Bedienstete entgegen,74 wäre jedenfalls aus der Sicht desjenigen, der sich an einer gesetzlichen Regelung der Vergütung für diesen Personenkreis75 nicht durch Art. 9 Abs. 3 GG gehindert sieht, inkonsequent.76 Zu diesem Begriff der abstrakten Gefahr BVerwG DVBl. 2002, 1564. BVerfGE 108, 282 (303); Engelken, VBlBW 2006, 210; a.A. Walter / Ungern-Sternberg, DÖV 2008, 491 f. 71 BVerwGE 84, 292 (294); vgl. auch BVerfGE 119, 247 (261 f.). 72 HessGVBl. 2004 – I S. 306. 73 Degenhart, in: Sachs, GG, 4. Aufl. 2007, Art. 74 Rn. 53. 74 So Adam, ZTR 2004, 453 f. 69 70
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Auch durch seine nicht verbeamteten Bediensteten wird der Staat repräsentiert. Auch sie müssen im Dienst die Neutralität wahren. Trägt ein Angestellter ein politisch symbolhaftes Kleidungsstück, kann dies die staatliche Neutralitätspflicht ebenso verletzen und den Dienstfrieden in gleicher Weise stören wie ein entsprechendes Verhalten eines Beamten. Sollte es tatsächlich mit dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG kaum zu vereinbaren sein, ein Verbot signifikanter politischer, religiöser oder weltanschaulicher Gegenstände oder Symbole im Dienst nur in das Schul- und nicht auch in das Landesbeamtengesetz aufzunehmen,77 wäre es nicht weniger gleichheitsfragwürdig, von diesem Verbot nicht verbeamtete öffentliche Bedienstete in außerschulischen Bereichen auszunehmen. Indes verstoßen weder eine Beschränkung der spezifizierten politischen, religiösen und weltanschaulichen Neutralitätspflicht auf Lehrkräfte noch eine Ausdehnung dieser Pflicht auf alle Beamte unter Ausnahme der nicht verbeamteten öffentlichen Bediensteten in den außerschulischen Bereichen gegen den Gleichheitsgrundsatz. Eine Beschränkung auf Lehrkräfte – wie in den meisten Bundesländern – lässt sich durch die schulische Sondersituation rechtfertigen.78 Schüler befinden sich zum einen im Reifungsprozess und sind zum anderen dem äußeren Eindruck, den die Lehrkräfte vermitteln, besonders intensiv ausgesetzt. Eine Ausdehnung der spezifizierten Neutralitätspflicht auf alle Landesbeamte unter Ausnahme der nicht verbeamteten öffentlichen Bediensteten in den außerschulischen Bereichen, wie sie durch § 68 Abs. 2 HBG erfolgt ist, mag zwar rechtspolitisch nicht glücklich sein, lässt sich jedoch ebenfalls verfassungsrechtlich rechtfertigen.79 Zum einen darf der Gesetzgeber auf das bestehende Tarifvertragsrecht verweisen. Ihm unterliegen die nicht verbeamteten öffentlichen Bediensteten. Sie haben sich im Dienst so zu verhalten, dass das Vertrauen der Staatsbürger zu ihnen und zu ihrem öffentlichen Arbeitgeber nicht beeinträchtigt wird.80 Schon diese Verhaltenspflicht rechtfertigt ein Verbot des Tragens oder Verwendens von Gegenständen i. S. v. § 68 Abs. 2 S. 2 HBG.81 Anders als bei den Beamten müssen 75 Hessisches Gesetz über Einkommensverbesserungen für Tarifbeschäftigte im öffentlichen Dienst des Landes Hessen vom 15. 11. 2007, GVBl. I – S. 751. 76 Demgemäß hat der baden-württembergische Gesetzgeber § 7 Kindertagesbetreuungsgesetz um die Absätze 6 u. 7 ergänzt, GBl. 2006, S. 30. Sie statuieren ein Verbot, das den Regelungen des § 38 Abs. 2-5 BWSchulG entspricht, und (fast) ausschließlich für nicht verbeamtete Bedienstete gilt; für Verfassungswidrigkeit von § l7 Abs. 6 u. 7 KiTaG Engelken, VBlBW 2006, 213 f. 77 So BVerfGE 108, 282 (338) – diss. op. 78 Insoweit zutreffend Klein / Falk / Giani / v. Plottnitz, NVwZ 2008, 207 – diss. op.; Battis / Bultmann, JZ 2004, 584. 79 Dazu im einzelnen HessStGH NVwZ 2008, 205 f. 80 Vgl. BAG, AP Nr. 1 zu § 54 BAT; LAG Berlin ZTR 1990, 29; Uttlinger / Breier / Kiefer / Hoffmann / Dassau, BAT, 192. Lfg. 2007, § 8 BAT Anm. 2.3.1, 2.3.3 u. 2.3.8; Dahlem, in: Ramdohr / Crisolli / Tiedke, Das Tarifrecht der Angestellten im Öffentlichen Dienst, 271. Lfg. 2007, § 8 Rdn. 11 ff. 81 Vgl. Uttlinger u. a. (Fn. 80), § 8 BAT Anm. 4.2.
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die spezifischen Verhaltenspflichten der sonstigen öffentlichen Bediensteten auch nicht spezialgesetzlich geregelt werden. Sie ergeben sich vielmehr vorrangig aus den allgemeinen arbeitsrechtlichen Vorschriften, den einschlägigen Bestimmungen des BGB sowie den tarifvertraglichen Regelungen.82 Sollten all diese Bestimmungen es den öffentlichen Arbeitgebern gleichwohl nicht ermöglichen, gegenüber ihren nicht verbeamteten Bediensteten Verbote unter vergleichbaren Voraussetzungen auszusprechen, wie sie § 68 Abs. 2 HBG nennt,83 könnten die öffentlichen Arbeitgeber zunächst versuchen, eine entsprechende Ergänzung des Tarifvertragsrechts durchzusetzen. Letztlich findet die Beschränkung der in § 68 Abs. 2 HBG spezifizierten Neutralitätspflicht auf Beamte – mit Ausnahme des hochsensiblen schulischen Bereichs – ihre Rechtfertigung in der grundlegend unterschiedlichen dienstrechtlichen Stellung von Beamten und nicht verbeamteten öffentlichen Bediensteten.84 Auch eine Unterscheidung zwischen den verschiedenen Ämtern und Tätigkeitsbereichen der Lehrkräfte und Beamten ist nicht erforderlich.85 Jeder öffentliche Bedienstete repräsentiert den Staat und muss die staatliche Neutralitätspflicht erfüllen. Den Beamten in der Registratur ohne jeglichen Außenkontakt mag es geben. Auch er hat aber – hoffentlich – Kontakt zu Kollegen. Außerdem muss der Beamte vielseitig einsetzbar sein und hat keinen Anspruch auf eine dauerhafte Zuweisung von im Verborgenen zu verrichtenden Tätigkeiten. Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht verpflichtet, den Dienstherrn zu zwingen, bei der Entscheidung über die Vergabe von Dienstposten ohne Außenkontakt den Wunsch des Bewerbers, Gegenstände i. S. v. § 68 Abs. 2 S. 2 HBG zu tragen oder zu verwenden, nicht zu seinem Nachteil zu berücksichtigen oder ein solches Verhalten bei einer entsprechenden dienstlichen Tätigkeit zu dulden. Eine nach den verschiedenen Beamtengruppen oder den einzelnen Tätigkeiten differenzierende Regelung trüge die Gefahr vieler (Rechts-)Streitigkeiten zwischen Beamten und Dienstherren in sich. d) Die Berücksichtigung der christlich und humanistisch geprägten abendländischen Tradition Manche Landesgesetze ordnen nicht nur an, dass es verboten ist, Kleidungsstücke, Symbole oder andere Merkmale zu tragen oder zu verwenden, die objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die Neutralität der Amtsführung zu beeinträchtigen oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schul- bzw. Dienstfrieden Vgl. BVerfGE 88, 103 (114). So Adam, ZTR 2004, 453. 84 Vgl. BVerfGE 88, 103 (114); Scholz, in: Maunz / Dürig, 48 Lfg. 2006, Art. 9 Rn. 362. 85 So aber Klein / Falk / Giani / v. Plottnitz, NVwZ 2008, 206 ff. – diss. op.; Battis / Bultmann, JZ 2004, 587; ebenso Sicko (Fn. 2), S. 146 f., die sich für eine diesbezügliche verfassungskonforme Auslegung von § 68 Abs. 2 HBG ausspricht; vgl. auch Mückl, Der Staat 40 (2001), 123. 82 83
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zu gefährden. Sie enthalten darüber hinaus auch Bestimmungen, die den gesetzesanwendenden Behörden und Fachgerichten vorschreiben, welche Umstände sie bei der Entscheidung, ob ein bestimmtes Kleidungsstück, Symbol oder Merkmal unter die Verbotsvorschrift fällt, zu berücksichtigen haben. Gegen derartige gesetzliche Auslegungsrichtlinien ist nichts einzuwenden. Dies gilt auch dann, wenn sie – wie die §§ 86 Abs. 3 S. 3 HSchG, 68 Abs. 2 S. 3 HBG oder Art. 59 Abs. 2 S. 3 BayEUG86 – vorschreiben, dass der christlich und humanistisch geprägten abendländischen Tradition des Landes angemessen Rechnung zu tragen ist. Solche Vorschriften privilegieren nicht gleichheitswidrig den christlichen Glauben gegenüber anderen Glaubensrichtungen.87 Vielmehr drücken sie nur eine tatsächliche und verfassungsrechtliche Selbstverständlichkeit aus. Zum einen gilt es, folgende mittlerweile verschiedentlich in Vergessenheit geratene oder als unpassend empfundene Feststellung des BVerfG in Erinnerung zu rufen: „Die gesamte abendländische Kultur [dazu gehört auch die deutsche] ist weitgehend vom Christentum geprägt worden“.88 Das Tragen oder Verwenden christlicher Kleidungsstücke, Symbole oder Kennzeichen reflektiert deshalb diese auch heute (noch) bestehende Tradition. Es ließe sich deshalb nicht begründen, weshalb etwa das Tragen eines kleinen, dezenten christlichen Kreuzes eines Amtsträgers in Deutschland objektiv geeignet sein sollte, das Vertrauen in die Neutralität seiner Amtsführung zu beeinträchtigen oder den religiösen Schul- bzw. Dienstfrieden zu gefährden – auch nicht aus der Sicht von Menschen nichtchristlichen Glaubens. Freilich gibt es auch hier Grenzen. Das Tragen eines überdimensionierten Kreuzes etwa könnte durchaus als Zeichen von Indolenz oder gar christlichen Fundamentalismus verstanden werden.89 Vor allem aber ist es völlig zutreffend, den Begriff des Christlichen im Sinne der Beschlüsse des BVerfG vom 17. 12. 1975 auszulegen.90 Zumal aus seiner Verwendung im Kontext von Formulierungen wie „humanistisch geprägter abendländischen Tradition“91 erhellt, dass mit ihm nicht die religiösen Glaubenssätze und Inhalte der christlichen Religion gemeint sind.92 Vielmehr bezeichnet er „eine von 86 Bayerisches Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen i. d. F. vom 26. 7. 2006 (BayGVBl. 2006, S. 397); vgl. auch § 38 Abs. 2 S. 3 BaWüSchG i. d. F. vom 1. 4. 2004 (BaWüGVBl. 2004, S. 178). 87 So aber Giani / v. Plottnitz / Lange, NVwZ 2008, 208 f. – diss. op.; Walter / UngernSternberg, DÖV 2008, 492 ff.; Engelken, VBlBW 2006, 215 Fn. 49; vgl. auch VGHBW VBlBW 2008, 441 f.; Hufen, NVwZ 2004, 578: „verfassungsrechtliches Risiko“; zutreffend demgegenüber Sicko (Fn. 2), S. 119 f., 150. 88 BVerfGE 41, 65 (84); dazu der ausführliche bestätigende Befund von Hillgruber, Festschrift D. Merten, 2007, S. 23 ff. 89 Vgl. HessStGH NVwZ 2008, 203; Hufen, NVwZ 2004, 577; Engelken, BayVBl. 2004, 100 Fn. 29. 90 BVerfGE 41, 29 (51 f.); 41, 65 (84); bestätigt von BVerfGE 93, 1 (23). 91 So §§ 86 Abs. 3 S. 3 HSchG, 68 Abs. 2 S. 3 HBG; ganz ähnlich Art. 59 Abs. 2 S. 3 BayEUG u. § 38 Abs. 2 S. 3 BaWüSchG. 92 BVerfGE 41, 29 (52); 41, 65 (84).
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Glaubensinhalten losgelöste, aus der Tradition der christlich-abendländischen Kultur hervorgegangene Wertewelt, die erkennbar auch dem Grundgesetz zu Grunde liegt . . . Hierzu gehört etwa die Auffassung von der unverfügbaren und unantastbaren Menschenwürde (Art. 1 GG), von der Gleichheit aller Menschen und Geschlechter (Art. 3 GG) und von der Religionsfreiheit einschließlich der negativen Glaubensfreiheit (Art. 4 GG). Weiter umfasst der Begriff humane Werte wie Hilfsbereitschaft, Sorge für und allgemeine Rücksichtnahme auf den Nächsten sowie Solidarität mit den Schwächeren.“93 Auch grundgesetzliche Prinzipien wie Parlamentarismus, republikanisches Prinzip, Rechts- und Sozialstaatlichkeit sowie Gleichberechtigung von Mann und Frau stehen für den Begriff des Christlichen,94 wenn er in dem oben genannten Zusammenhang verwendet wird. In dieser Auslegung kommt Vorschriften wie denen der §§ 86 Abs. 3 S. 3 HSchG, 68 Abs. 2 S. 3 HBG nur deklaratorische Bedeutung zu.95 Denn die Grundrechte und Verfassungsprinzipien des Grundgesetzes und der Landesverfassungen wären bei der Entscheidung, ob bestimmte Kleidungsstücke, Symbole oder Kennzeichen unter den gesetzlichen Verbotstatbestand fallen, auch ohne eine entsprechende einfachgesetzliche Anordnung maßgeblich zu berücksichtigen. Völlig überflüssig ist sie indes nicht. In Anbetracht mancher Tendenz zur Relativierung der westlichen Werte und Traditionen, die auch die grundgesetzliche Wertordnung erfasst, war es gerade in dem hier interessierenden Zusammenhang angebracht, die Maßstäblichkeit dieser christlich-humanistisch geprägten verfassungsrechtlichen Wertordnung zu betonen. Selbstverständlich hätten die Landesgesetzgeber auf die Verwendung der Begriffe christlich, humanistisch und abendländisch verzichten und durch die dahinterstehenden verfassungsrechtlichen Begriffe ersetzen können. Verfassungsrechtlich zwingend geboten – zumal vor dem Hintergrund der beiden Beschlüsse des BVerfG vom 17. 12. 1975 –96 war dies indes nicht. Eine Gesetzgebung und Gesetzesauslegung, die diesen bundesverfassungsgerichtlichen Vorgaben Rechnung trägt, ist weder verfassungswidrig noch sprengt sie die Grenzen zulässiger verfassungskonformer Auslegung.97 Ebensowenig ist es verfassungsrechtlich zu beanstanden, wenn solche Kleidungsstücke, Symbole oder Merkmale, die der christlich und humanistisch geprägten abendländischen Tradition entsprechen, grundsätzlich erlaubt sind, während andere Gegenstände, die mit dieser Tradition unvereinbar sind, grundsätzlich verboten sind.98 Wenn damit christlich motivierte Kleidungsstücke, Symbole oder Merkmale (eher) erlaubt und 93 BVerwGE 121, 140 (151) – unter Bezugnahme auf BVerfGE 41, 29 (52); BayVerfGH BayVBl. 2007, 237 – unter Bezugnahme auf BVerfGE 41, 65 (84); Hillgruber (Fn. 88), S. 29, 35; insoweit zustimmend auch Böckenförde, JZ 2004, 1183. 94 HessStGH NVwZ 2008, 203. 95 Insoweit auch Hufen, NVwZ 2004, 578. 96 BVerfGE 41, 29 (51 f.); 41, 65 (84). 97 So aber Giani / v. Plottnitz / Lange, NVwZ 2008, 208 f. – diss. op. 98 HessStGH NVwZ 2008, 203 f.; Sicko (Fn. 2), S. 119 f., 150; Hufen, NVwZ 2004, 576; a.A. Giani / v. Plottnitz / Lange, NVwZ 2008, 208 f. – diss. op.; VGHBW VBlBW 2008, 441 f.
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andere Gegenstände, die konträr zur christlich-abendländischen Tradition stehen, verboten sind, beruht dies nicht auf einer pauschalen und unreflektierten gesetzlichen Privilegierung des christlichen Glaubens, sondern auf der Verbindlichkeit der grundgesetzlichen und landesverfassungsrechtlichen Werte, die in den einfachgesetzlichen Regelungen oder zumindest in ihrer Auslegung zum Ausdruck gelangt sind.99 Kleidungsstücke, Symbole oder Merkmale, die diesen verfassungsrechtlichen Werten entsprechen, sind prinzipiell nicht objektiv geeignet, das Vertrauen in die Neutralität der Amtsführung ihres Trägers oder Verwenders zu beeinträchtigen oder den Schul- bzw. Dienstfrieden zu stören. Eine Verbannung solcher religiös motivierter Kleidungsstücke, Symbole oder Kennzeichen, die objektiv den Eindruck von Ablehnung dieser Werte vermitteln, aus den öffentlichen Schulen und Amtsstuben richtet sich nicht gezielt gegen ganz bestimmte Religionen, sondern stellt die verfassungsrechtlich geforderte Neutralität der Amtsträger sicher, mit der es unvereinbar ist, dass im Dienst derartige Kleidungsstücke, Symbole oder Merkmale getragen oder verwendet werden.100
VI. Das Offenlassen der Kopftuchfrage durch den HessStGH 1. Die prozessuale Zulässigkeit Die Frage, die sowohl die juristische Auseinandersetzung um die gesetzlichen Neutralitätsvorschriften beherrscht als auch die Medienöffentlichkeit ausschließlich interessiert hat, betrifft das sog. islamische Kopftuch. Ob es unter die hessischen und bayerischen Neutralitätsvorschriften fällt, hat weder das hessische noch das bayerische Verfassungsgericht geprüft und entschieden.101 Der Vorwurf, die Landesverfassungsgerichtsbarkeit sei damit ihrer Aufgabe nicht nachgekommen,102 ist zwar harsch, aber durchaus nachvollziehbar. Richtig ist er indes nicht. Erklärter Wille der Mehrheit in den Volksvertretern der Länder war es, gesetzliche Regelungen zu schaffen, die es Lehrerinnen und ggf. allen Beamtinnen verbieten, im Dienst das islamische Kopftuch zu tragen. Solch ein ausdrückliches Verbot wurde jedoch in keinem einzigen Gesetz formuliert. Ob der Gesetzgeber tatsächlich ein solches Verbot angeordnet hat, bedarf deshalb ebenso der behördlichen und fachgerichtlichen Auslegung wie ggf. die Beantwortung der Frage, ob jedes Kopftuch unter das Verbotsgesetz fällt. Fällt auch das von einer streng katholischen Fuldaer Postbeamtin getragene Kopftuch unter § 68 Abs. 2 HBG? Oder das von 99 Ebenso Sicko (Fn. 2), S. 122; Hufen, NVwZ 2004, 577; Gassner (Fn. 46), S. 78 f.; ebenso unter Benennung eines anderen Beispiels Engelken, BayVBl. 2004, 100 Fn. 25; ders., VBlBW 2006, 211 f. 100 Goerlich, NJW 1999, 2930. 101 HessStGH NVwZ 2008, 200; BayVerfGH BayVBl. 2007, 236. 102 So zur Entscheidung des HessStGH Klein / Falk / Giani / v. Plottnitz, NVwZ 2008, 206 – diss. op. und im Ergebnis auch Lange, NVwZ 2008, 208 – diss. op.
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einem Berliner Lehrer zu Ohrschmuck getragene Kopftuch nach Piratenart unter § 2 des Gesetzes zu Art. 29 BerlVerf.? Oder die von einer streng islamisch gläubigen nordrhein-westfälischen Sozialpädagogin getragene Baskenmütze unter § 57 Abs. 4 SchGNRW?103 Einigkeit besteht nicht einmal über den Begriff des islamischen Kopftuchs. Wird nur das in der Türkei als „Türban“ bezeichnete Kopftuch, das Haar, Nacken, Hals und Brust streng verdeckt, erfasst104 oder auch das „Bandanna-Kopftuch“, welches das Haar zum Teil sichtbar lässt,105 von modernen muslimischen Frauen getragen wird und auch als durchaus hübsch anzusehender modischer Farbtupfer optisch anzusprechen vermag? Soll ein deutsches Verfassungsgericht rechtlich verpflichtet sein, im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle auch über die Bedeutung der Bindetechnik eines Kopftuches für dessen einfachgesetzliche Tatbestandsmäßigkeit zu judizieren?106 Sollte die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit tatsächlich rechtlich verpflichtet sein, im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle die Reichweite der auf den Prüfstand gestellten Neutralitätsvorschriften auszuloten und hierbei auch die Kopftuchfrage zu beantworten, wäre es nur konsequent, auch auf die Beantwortung der Frage zu drängen, ob die jüdische Kippa, die bhagwan-typische Kleidung, das Nonnenhabit, ein überdimensioniertes christliches Kreuz oder andere religiöse oder weltanschauliche Kleidungsstücke oder Symbole dem gesetzlichen Verdikt unterfallen. All diese Fragen betreffen die konkrete Gesetzesanwendung im Einzelfall. Ihre Beantwortung obliegt zunächst den gesetzesanwendenden Behörden und den Fachgerichten. Im Verfahren einer abstrakten Normenkontrolle ist die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht verpflichtet zu entscheiden, wie unbestimmte Rechtsbegriffe (ohne Beurteilungsspielraum)107 im einzelnen auszulegen sind und welche der vielen potentiellen zukünftigen Einzelfälle unter diese Rechtsbegriffe subsumiert werden dürfen und welche nicht. Die Frage, welches Kleidungsstück objektiv geeignet ist, das Vertrauen in die Neutralität der Amtsführung ihres Trägers zu beeinträchtigen, muss die Verfassungsgerichtsbarkeit erst im Rahmen von Verfassungsbeschwerden gegen behördliche Vollzugsakte und klageabweisende fachgerichtliche Entscheidungen sowie ggf. auch im Rahmen konkreter Normenkontrollen beantworten. In allen Fällen ist eine eingehende fachgerichtliche Vorprüfung der Gesetze und ihrer Tatbestandsmerkmale erfolgt. Selbstverständlich ist das Verfassungsgericht auch im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle zur verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen und unbeBejahend LAG Düsseldorf, Urt. v. 10. 4. 2008 – 5 Sa 1836 / 07. Ötztürk, DÖV 2007, 995. 105 Ötztürk, DÖV 2007, 997. 106 Vgl. Ötztürk, DÖV 2007, 999, der deutschen Richtern die Teilnahme an einem Lehrgang bei türkischen Richtern, die mit dieser Problematik vertraut seien, empfiehlt. 107 Die „objektive Eignung“ i. S. v. §§ 86 Abs. 3 S. 2 HSchG, 68 Abs. 2 S. 2 HBG ist ein unbestimmter Rechtsbegriff ohne Beurteilungsspielraum, vgl. OVG Bremen NVwZ-RR 2006, 404, das von „Beurteilungsermessen“ spricht. 103 104
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stimmten Rechtsbegriffen berechtigt und ggf. verpflichtet. Deshalb hat der HessStGH ähnlich wie der BayVerfGH den unbestimmten Rechtsbegriff der christlich und humanistisch geprägten abendländischen Landestradition verfassungskonform ausgelegt.108 Allerdings handelte es sich um keine einzelfallbezogene Gesetzesauslegung und um keine vorweggenommene Gesetzessubsumtion, sondern um eine abstrakte Bestimmung und verfassungsrechtlich gebotene abstrakte Begrenzung der Wortbedeutung dieser Rechtsbegriffe. Ob das islamische Kopftuch der christlich und humanistisch geprägten abendländischen Landestradition entspricht – und zwar nicht in der zu Recht abgelehnten religiösen, sondern in der verfassungskonformen Wortbedeutung –, hat der HessStGH wiederum offengelassen. Und genau dies kennzeichnet den Unterschied zwischen verfassungsrechtlich gebotener verfassungskonformer Auslegung und dem eigentlichen Ziel der Kritiker der Hüter des hessischen und bayerischen Landesverfassungsrechts: Der Sache nach geht es ihnen um keine verfassungskonforme abstrakte Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe der „objektiven Eignung“, wie sie in den §§ 86 Abs. 3 S. 2 HSchG, 68 Abs. 2 S. 2 HBG genannt ist, sondern um eine vorweggenommene Gesetzessubsumtion potentieller Einzelfälle und die verfassungsgerichtliche Anordnung eines präventiven Vollzugsverbots. Ein Antrag auf Durchführung einer abstrakten Normenkontrolle, der auf die verfassungsgerichtliche Feststellung gerichtet ist, dass ein Gesetz auf bestimmte Fälle nicht anwendbar sei, ist unzulässig. Bei einem solchen Antrag handelte es sich nicht einmal um einen Antrag auf eine bestimmte verfassungskonforme Gesetzesauslegung.109 In Rede steht vielmehr ein Antrag auf eine verfassungsorientierte Auslegung110 unbestimmter Rechtsbegriffe, die den Behörden und Fachgerichten möglichst genaue Vorgaben für die künftige Gesetzesanwendung und die Entscheidung der Frage machen soll, unter welchen Voraussetzungen ein Kopftuch unter die angegriffenen Verbotsgesetze fällt bzw. nicht fällt. Allerdings ist nicht zu verkennen, dass die Grenze zwischen verfassungskonformer Auslegung und vorweggenommener Einzelfallentscheidung fließend ist. Dies zeigt sich deutlich in Fällen der hier in Rede stehenden Art: Der Normgeber schneidet ein Gesetz erklärtermaßen auf eine bestimmte Fallgruppe zu, will diese also erfassen, benennt sie aber im Gesetz nicht ausdrücklich, sondern bedient sich statt dessen eines unbestimmten Rechtsbegriffs in der Überzeugung, er erfasse auch diese Fallgruppe. Bei einem solchen Gesetz betrifft die Frage, ob gerade die Fallgruppe, auf die es erklärtermaßen zugeschnitten werden sollte, aus verfassungsrechtlichen Gründen Oben V. 3. d). Selbst er wird z. T. für unzulässig gehalten, so Rozek, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG, § 76 Rn. 49; a.A. Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG, § 31 Rn. 260; M. Graßhof, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 76 Rn. 26; Roth, NVwZ 1998, 564; zur Problematik auch Lerche, Festschrift G. Jauch, 1990, S. 121 ff. 110 Dazu Bethge (Fn. 109), § 79 Rn. 32 f.; M. Graßhof (Fn. 109), § 79 Rn. 21. 108 109
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gleichwohl nicht unter das Gesetz subsumiert werden darf, nicht lediglich einen singulären zukünftigen Einzelfall. Vielmehr geht es um den eigentlichen, primären gesetzlichen Anwendungsbereich. Auch wenn keine verfassungsrechtliche oder einfachgesetzliche Pflicht der Verfassungsgerichtsbarkeit besteht, ist sie im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle gleichwohl berechtigt, über die Frage der Verfassungsmäßigkeit eines gesetzlichen Verbots im Hinblick auf solche Fallkonstellationen zu entscheiden, die nach der Entstehungsgeschichte und dem erklärten Willen des Gesetzgebers vom Anwendungsbereich des Gesetzes erfasst sein sollen, nach Auffassung des Antragstellers aber nicht erfasst sein dürfen. Eben dies ist bei der Frage, ob §§ 86 Abs. 3 HSchG, 68 Abs. 2 HBG ein Verbot des Tragens von islamischen Kopftüchern statuieren, der Fall. Dem HessStGH und dem BayVerfH wäre es deshalb nicht verwehrt gewesen, in den Entscheidungsgründen festzustellen, dass Kleidungsstücke, die ein islamisches Kopftuch darstellen, (grundsätzlich) in den Anwendungsbereich der überprüften Gesetze fallen oder – weil ihre (ausnahmslose) Subsumtion unter die gesetzlichen Bestimmungen verfassungswidrig wäre – nicht fallen. Die Frage der Bindungswirkung einer solchen verfassungsgerichtlichen Entscheidung ist nur akademischer Natur.111 Faktisch gebunden wäre die Rechtspraxis allemal.
2. Die materiell-rechtliche Antwort Die §§ 86 Abs. 3 HSchG, 68 Abs. 2 HBG und ähnlich formulierte Vorschriften verbieten es grundsätzlich, im Dienst ein Kopftuch zu tragen. Abgesehen von seltenen Ausnahmen ist das Tragen eines Kopftuches objektiv geeignet, das Vertrauen in die Neutralität der Amtsführung des Trägers zu beeinträchtigen oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Dienstfrieden zu gefährden. Der Subsumtion des Kopftuches unter die einschlägigen schul- und ggf. beamtenrechtlichen Vorschriften steht weder Bundes- noch Landesverfassungsrecht entgegen.112 Das von Anhängerinnen des Islam getragene Kopftuch hat ohne Zweifel auch eine religiöse Bedeutung. Von nicht unerheblichen Teilen der in Deutschland lebenden Bevölkerung – gleiches gilt in weitaus größerem Maße für andere Staaten –113 wird das sog. islamische Kopftuch aber auch als „ein politisches Symbol des islamischen Fundamentalismus gesehen, das die Abgrenzung zu Werten der westlichen Gesellschaft, wie individuelle Selbstbestimmung und inbesondere Emanzipation der Frau, ausdrückt“.114 In der Wahrnehmung dieser Teile der Bevölkerung 111 Einer verfassungskonformen Auslegung einfachgesetzlicher Vorschriften durch das BVerfG wird ganz überwiegend Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG zuerkannt, BVerfGE 40, 88 (94); 42, 258 (260); 72, 119 (121); Löwer, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 70 Rn. 111; a.A. Sachs, NJW 1979, 347 f.; z. T. wird ihr auch Gesetzeskraft zuerkannt, Bethge (Fn. 109), § 31 Rn. 273 f.; Lange, JuS 1978, 7. 112 BVerwGE 121, 140 (144 ff.) zu § 38 BaWüSchG; OVG Bremen NVwZ 2006, 402 ff. zu § 59 b Abs. 4 BremSchulG; Sicko (Fn. 2), S. 107 f. 113 Ötztürk, DÖV 2007, 995 ff. zur Türkei.
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setzt das Tragen des islamischen Kopftuchs ein sichtbares, starkes Zeichen, das mit dem im Grundgesetz und in allen deutschen Landesverfassungen zum Ausdruck gelangten Gebot der Toleranz, der Achtung des anderen und der Nichtdiskriminierung kaum vereinbar ist.115 Dass diese Einschätzung nicht unbedingt von der Mehrheit der Bevölkerung geteilt wird, ist irrelevant. Es genügt, wenn sie von „einer nicht unerheblichen Zahl von Betrachtern“ geteilt wird.116 Auch den persönlichen Beweggründen, aus denen ein Kopftuch getragen wird – ob etwa religiöse, politische oder nur modische Zwecke verfolgt werden –, kommt grundsätzlich keine Bedeutung zu. Entscheidend ist der objektive Empfängerhorizont,117 also der Eindruck, den das Kopftuch auf diejenigen macht, die mit ihm konfrontiert werden, wobei der Eindruck einer nicht unerheblichen Zahl potentieller Betrachter genügt. Das nur aus modischen Gründen getragene Kopftuch ist dann ein islamisches Kopftuch, das von einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung als Zeichen der Intoleranz und Unterdrückung verstanden wird, wenn es dem neutralen und unvoreingenommenen Betrachter den Eindruck eines islamischen Kopftuchs vermittelt. Den verschiedenen Bindetechniken und Farbgestaltungen kommt keine große Bedeutung zu. Nicht nur der Türban wird in Deutschland als islamisches Kopftuch verstanden. Anders verhält es sich etwa bei einem (Piraten-)Kopftuch, das von einem Mann getragen wird. Einem unbefangenen Beobachter stellt es sich nicht als ein islamisches Kopftuch dar. Ausnahmsweise auf die persönlichen Motive abzustellen ist etwa bei einem medizinisch oder biologisch indizierten Kopftuchtragen. Eine Frau, die an Haarausfall leidet, ist nicht gezwungen, eine Perücke oder eine unverfängliche Kopfbedeckung zu tragen. Sie darf ein Kopftuch tragen. In einem solchen Fall geht das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Kopftuchträgerin den Verfassungswerten, die durch die Neutralitätsgesetze der Länder geschützt werden sollen, vor. In solchen seltenen Extremfällen sind diese Gesetze verfassungskonform auszulegen bzw. zu reduzieren. Im Normalfall stellt eine als islamisches Kopftuch verstandene Kopfbedeckung dagegen eine abstrakte Gefahr für das Vertrauen in die Neutralität der Amtsführung der Trägerin oder den Schul- bzw. Dienstfrieden dar. Gerade deshalb hat das BVerfG für den schulischen Bereich ein gesetzliches Kopftuchverbot für zulässig erachtet.118 Zum außerschulischen Bereich hat sich das BVerfG nicht 114 BVerfGE 108, 282 (304); ausführlich Bertrams, DVBl. 2003, 1232 f.; vgl. dazu auch die Einschätzung von Czermak / Hilgendorf, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, Rn. 315; Mückl, Der Staat 40 (2001), 118 f. 115 So nahezu wörtlich EGMR NJW 2001, 2873 zu einem in der Schweiz spielenden Fall, wobei diese Formulierung ganz allgemein gehalten ist und nicht speziell auf die Schweizer Wertvorstellungen abstellt, die sich nicht grundlegend von den deutschen unterscheiden dürften; bestätigt von EGMR NVwZ 2006, 1389 Rn. 111. 116 BVerwGE 121, 141 (145); vgl. auch Hufen, NVwZ 2004, 576 f. 117 BVerfGE 108, 282 (305). 118 BVerfGE 108, 282 (303), das eine abstrakte Gefahr für den Schulfrieden konstatiert; a.A. die Gefahrenprognose von Lange, NVwZ 2008, 209 – diss. op.
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geäußert, weil es lediglich über die Verfassungsbeschwerde einer Lehrerin zu entscheiden hatte. Aus diesem Schweigen darf deshalb nicht auf die Unzulässigkeit eines außerschulischen Kopftuchverbotes geschlossen werden.119 In den anderen Bereichen der Verwaltung provoziert das Tragen eines islamischen Kopftuches ebenfalls abstrakte Gefahren für das Vertrauen in die Amtsführung und den Dienstfrieden, wenn auch nicht in gleicher Intensität wie in der Schule.120 Das in der Hessischen Verfassung für die Schule ausdrücklich formulierte Prinzip der Duldsamkeit und Rücksichtnahme (Art. 56 Abs. 3 und 4 HV) verbietet nicht die Subsumtion des islamischen Kopftuches unter die Neutralitätsvorschrift des § 86 Abs. 3 HSchG.121 Das Gegenteil ist der Fall. Der in Art. 56 Abs. 3 S. 1 HV genannte Unterrichtsgrundsatz der Duldsamkeit nimmt den Lehrer in die Pflicht. Art. 56 Abs. 3 S. 2 HV verpflichtet ausdrücklich den Lehrer, auf die religiösen und weltanschaulichen Empfindungen der Schüler Rücksicht zu nehmen. Auch das in Art. 56 Abs. 4 HV genannte Ziel der Erziehung zur Duldsamkeit richtet sich an den Lehrer. Diese Vorschriften gewähren kein Lehrergrundrecht und noch viel weniger ein Pädagogenrecht auf politische, religiöse oder weltanschauliche Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung im Unterricht. Vielmehr statuieren sie Dienstpflichten des Lehrers.122 Eine hessische Lehrerin, die sich beharrlich weigert, auf das Tragen eines Kleidungsstückes im Unterricht zu verzichten, das von einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung als Zeichen der Intoleranz und Unterdrückung verstanden wird, missachtet deshalb ihre Verfassungspflicht zur Duldsamkeit und Rücksichtnahme.123
119 In diese Richtung aber Klein / Falk / Giani / v. Plottnitz, NVwZ 2008, 206 – diss. op.; zutreffend Sicko (Fn. 2), S. 145. 120 Dazu näher oben V 3 b. 121 So aber Lange, NVwZ 2008, 209 – diss. op.; der Sache nach auch Böckenförde, NJW 2001, 726; Morlok / Krüger, NJW 2003, 1021. 122 Stein, in: Zinn / Stein, Verfassung des Landes Hessen, 15. Lfg. 1990, Art. 56 Anm. 9 zu Art. 56 Abs. 3 HV; überzeugend Bertrams, DVBl. 2003, 1228 f., 1233 f.; Mückl, Der Staat 40 (2001), 122 f.; vgl. auch Isensee, ZBR 2004, 6, 8. 123 Vgl. auch Hufen, NVwZ 2004, 577.
Der Zugang zum Insolvenzverwalterberuf – eine grundrechtliche Problemskizze Von Wolfram Höfling
I. Problemaufriß: Das Berufsrecht des Insolvenzverwalters unter verfassungsrechtlichem Veränderungsdruck Die gerichtliche Bestellung von Insolvenzverwaltern steht seit langem im Mittelpunkt des Interesses von Wissenschaft und Praxis, aber auch – insbesondere bei spektakulären Unternehmensinsolvenzen – der Medienöffentlichkeit. Als „Schicksalsfrage des Konkurses“1 bestimmt sie maßgeblich das weitere Verfahren. Spätestens seit Inkrafttreten der neuen Insolvenzordnung zum Jahresanfang 1999 zählt die Problematik der Verwalter(vor)auswahl zu den wohl am heftigsten diskutierten Themen des Insolvenzrechts. Mitte des Jahres 2004 mischte sich dann nachhaltig das Verfassungsrecht ein: Die Zweite Kammer des Ersten Senats2 des Bundesverfassungsgerichts erkannte in der Verweigerung einer gerichtlichen Kontrolle des sog. Vorauswahlverfahrens einen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG. Der Interessent an einer Tätigkeit als Insolvenzverwalter werde bereits durch die Entscheidung über die Vorauswahl geeigneter Bewerber in seinen Rechten aus Art. 12 Abs. 1 GG berührt. Die grundrechtliche Gewährleistung gebiete, daß bei der Bewerbung um eine Tätigkeit im Rahmen von Insolvenzverfahren jeder Bewerber eine faire Chance haben müsse, entsprechend seiner Eignung berücksichtigt zu werden. Die Komplementärfunktion des Verfahrensrechts verlange insofern eine angemessene Verfahrensgestaltung schon im Vorfeld der Bestellungsentscheidung. Darüber hinaus müsse die Chancengleichheit der Bewerber gerichtlicher Überprüfung zugänglich sein. Mit dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die ein vielstimmiges Echo fand,3 war das Berufsrecht der Insolvenzverwalter einer erheblichen Entwicklungsdynamik ausgesetzt. In der sich anschließenden intensiven Diskussion ist sogleich die These vertreten worden, ein konsequentes Fortdenken der Kammerentschei1 So das viel zitierte Diktum von Jaeger, Konkursordnung mit Einführungsgesetzen, 6. / 7. Aufl. 1936, § 78 Rn. 7. 2 BVerfGK 4, 1 ff. = NJW 2004, 2725 ff. 3 Siehe bspw. Frind, ZInsO 2004, 897 ff.; Graeber, NZI 2004, 546 ff.; Vallender, NJW 2004, 3614 ff.; Wieland, ZIP 2005, 233 ff.
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dung zwinge auch dazu, den konkreten Akt der Insolvenzverwalterbestellung selbst dem Rechtsschutzregime der §§ 23 ff. EGGVG zu unterwerfen.4 Bereits im Mai 2006 nahm sich der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts dieser Frage an.5 Der Senat stellte fest, daß Art. 3 Abs. 1 GG dem Bewerber um das Amt eines Insolvenzverwalters einen Rechtsanspruch auf fehlerfreie Ausübung des Auswahlermessens nach § 56 Abs. 1 InsO vermittelte. Allerdings sei es mit dem grundgesetzlichen Gebot effektiven Rechtsschutzes vereinbar, eine Anfechtung der Bestellung zum Insolvenzverwalter durch Mitbewerber und einen vorläufigen Rechtsschutz zur Verhinderung der Bestellung zu versagen. Im Blick auf die besonderen Strukturen des Insolvenzverfahrens – insbesondere: Schutz der Gläubigerrechte und Eilbedürftigkeit – müsse das Verfahren und der Rechtsschutz den „Besonderheiten der hier gegebenen multipolaren Konfliktlage“6 gerecht werden. Im übrigen überantwortete das Bundesverfassungsgericht es den Fachgerichten, Kriterien für die Feststellung der Eignung eines Bewerbers sowie für eine sachgerechte Ausübung des Auswahlermessens zu entwickeln. Soweit Auswahllisten geführt würden, bleibe auch deren Gestaltung den Fachgerichten überlassen.7 Die Grundlinien der Senatsentscheidung sind dann in weiteren Kammerbeschlüssen bestätigt und zum Teil konkretisiert worden.8
II. Die jüngste reformpolitische Diskussion – eine Anfrage an die berufsgrundrechtliche Dogmatik 1. Die jüngste reformpolitische Debatte Die skizzierten Interventionen des Bundesverfassungsgerichts9 haben die reformpolitische Debatte erneut intensiviert. Bereits im Herbst 2006 trat unter dem Vorsitz von Wilhelm Uhlenbruck eine Gruppe von Insolvenzverwaltern, InsolvenzSiehe knapp zusammenfassend Höfling, NJW 2005, 2341 ff. Siehe BVerfGE 116, 1 ff. 6 Vgl. dazu meine für den VID für das Verfahren vor dem Ersten Senat erstellte Stellungnahme, Kurzfassung in NJW 2005, 2341 ff. 7 BVerfGE 116, 1 (17) – wobei allerdings einige begrenzende Vorgaben formuliert werden; zum Modell einer „geschlossenen Liste“ siehe noch weiter unten sub III.3.a); zu dieser Entscheidung siehe etwa Pape, NZI 2006, 665 ff.; Uhlenbruck, NZI 2006, 489 ff.; Vallender, NJW 2006, 2597 ff.; Messen, DZWiR 2006, 326 ff. 8 Siehe BVerfGK 8, 368 ff. = ZIP 2006, 1954 ff.; BVerfGK 8, 372 ff. = ZIP 2006, 1956 f.; BVerfGK 8, 418 ff. = ZIP 2006, 1541 f.; zu diesen Kammerbeschlüssen Laws, ZInsO 2006, 1123 ff.; zusammenfassende Darstellung der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur auch durch (den Richter des Bundesverfassungsgerichts) Gaier, ZInsO 2006, 1177 ff. 9 Weitere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum (Berufs-)Recht des Insolvenzverwalters sind: BVerfG (K) ZIP 2005, 537 ff. = BVerfGK, 5, 91 ff. (dazu die Anmerkung von Lüke, ZIP 2005, 539 f.); Berg-Grünenwald / Herzog, BVerfG EWiR, § 57 InsO 1 / 05, 507 f.; BVerfGK 6, 164 ff. = ZIP 2005, 1694 ff.; BVerfGK 6, 399 ff. = ZIP 2006, 86 f. 4 5
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richtern und Insolvenzrechtspflegern zusammen (sog. Uhlenbruck-Kommission), um im Auftrag des Bundes und der Länder Qualitätsmerkmale für die Auswahl der Insolvenzverwalter zu entwickeln. Am 7. Juli 2007 hat die Kommission ihre Arbeit abgeschlossen und ihre Empfehlungen vorgelegt.10 Diese sind ihrerseits wieder Gegenstand lebhafter Erörterungen geworden.11 Schließlich hat auch der Gesetzgeber mit seinem Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung und Vereinfachung der Aufsicht in Insolvenzverfahren (GAVI) sich u. a. der „Effizienzsteigerung im Insolvenzverfahren (Verwalterauswahl)“ zugewandt.12 Neben Überlegungen der Qualitätssicherung mittels Zertifizierungsverfahren13 kommt einem reformpolitischen Vorschlag besondere Bedeutung zu, nämlich der quantitativen Beschränkung der Vorauswahlliste. So hat die sog. Uhlenbruck-Kommission folgende Empfehlung formuliert: „Eine Beschränkbarkeit der Vorauswahlliste ist dringend geboten, wenn eine sorgfältige Abwägung der multipolaren Interessen aller Verfahrensbeteiligten ergibt, daß wegen der Vielzahl der Bewerber eine professionelle und optimale Verfahrensabwicklung mangels dauerhafter Befassung mit Insolvenzverfahren nicht mehr gewährleistet ist. Die Kommission ist der Auffassung, daß eine Beschränkung der Zahl der zu listenden Bewerber nach derzeitiger Rechtslage nur aufgrund der Anwendung von Qualitätskriterien möglich ist. Sie empfiehlt eine Gesetzesänderung, aufgrund derer es den Insolvenzgerichten zusätzlich erlaubt wird, die Zahl der zu berücksichtigenden Bewerber und gelisteten Verwalter nach Maßgabe des Geschäftsanfalls bei dem jeweiligen Insolvenzgericht zu beschränken.“14
10 Siehe Empfehlungen der „Uhlenbruck-Kommission“ zur Vorauswahl und Bestellung von InsolvenzverwalterInnen sowie Transparenz, Aufsicht und Kontrolle im Insolvenzverfahren, ZIP 2007, 1432 ff.; siehe auch die redaktionell redigierte Zusammenfassung der Empfehlungen, ZInsO 2008, 107 ff. 11 Siehe zunächst den „Selbstkommentar“: Uhlenbruck / Mönning, ZIP 2008, 157 ff.; ferner Frind, ZInsO 2006, 1250 ff.; ders., ZInsO 2007, 850 ff.; Haarmeyer, ZInsO 2007, 729 ff. Etwa zeitgleich wurde der „Bundesarbeitskreis Insolvenzgerichte“ (BAK-InsO) als Zusammenschluß von Richter(innen) und Rechtspfleger(innen) gegründet, der ebenfalls Empfehlungen zur Vorauswahl und Auswahl von Insolvenzverwaltern formuliert hat (siehe ZInsO 2007, 256 f.). Daneben hat auch der Verband der Insolvenzverwalter Deutschlands (VID) Grundsätze vorgelegt (abrufbar unter www.vid.de). 12 Siehe BT-Drs. 16 / 7251 und die öffentliche Anhörung vom 9. April 2008; in diesem Zusammenhang insbesondere die Stellungnahme von Beck, namentlich S. 11 ff.; vgl. auch den Gesetzesvorschlag von Haarmeyer, ZInsO 2008, 367 ff. 13 Dazu siehe bspw. Haarmeyer, NZI 2007, 635 ff.; ders., ZInsO 2007, 169 ff.; Hess, ZIP 2007, 1042 ff.; Bergner, NZI 2007, 642 ff. 14 Siehe Empfehlungen der „Uhlenbruck-Kommission“ zur Vorauswahl und Bestellung von InsolvenzverwalterInnen sowie Transparenz, Aufsicht und Kontrolle im Insolvenzverfahren, ZIP 2007, 1432.
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2. Berufsgrundrechtliche Problemaspekte Der kursorische Blick auf die Diskussion der vergangenen Jahre macht deutlich, daß die Insolvenzverwaltertätigkeit – trotz ihrer Bedeutung – lange Zeit ein verfassungsrechtliches Schattendasein geführt hat. Erst die bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen haben – über den „Umweg“ des Art. 19 Abs. 4 GG – erste grundrechtliche Konturen des Berufsbildes sichtbar werden lassen. Doch weiterer Regulierungsbedarf ist unabweisbar. Vor diesem Hintergrund sollen im folgenden einige zentrale berufsgrundrechtliche Aspekte näher betrachtet werden – was nicht fernliegt angesichts der Umstände, daß der verehrte Jubilar seit mehr als vier Jahrzehnten der Berufsfreiheit immer wieder seine scharfsinnige Aufmerksamkeit geschenkt hat.15 III. Der berufs(grund)rechtliche Status des Insolvenzverwalters 1. Der Insolvenzverwalter als eigenständiger Beruf „Man kann sich nicht als Konkursverwalter ,niederlassen‘ und wird auch nicht als Konkursverwalter ,zugelassen‘, sondern man wird vom Gericht mit Konkursverwaltungen beschäftigt.“ Unter Berufung auf dieses viel zitierte Diktum von Leopold Levy16 ist lange Zeit die Vorstellung eines eigenständigen Berufsbildes des Insolvenzverwalters kritisch bis ablehnend betrachtet worden.17 Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings im Beschluß vom 3. August 200418 hervorgehoben, die Tätigkeit von Insolvenzverwaltern könne angesichts der Entwicklung der letzten beiden Jahrzehnte „nicht mehr als bloße Nebentätigkeit der Berufsausübung von Rechtsanwälten oder von Kaufleuten angesehen werden“. Vielmehr sei „die Betätigung als Insolvenzverwalter zu einem eigenständigen Beruf geworden, der vielen Personen maßgeblich zur Schaffung und Aufrechterhaltung der Lebensgrundlage dient, sei es als alleiniger Beruf oder neben einem anderen Beruf“.19 Diese Beurteilung wird inzwischen in der Literatur und Fachgerichtsbarkeit weitestgehend geteilt.20 15 Es sei hier nur erinnert an Bethges Dissertation „Der verfassungsrechtliche Standort der ,staatlich gebundenen‘ Berufe“ von 1968 einerseits und – zuletzt – an Bethge, WiVerw 2008, 77 ff. 16 Levy, Konkursrecht, 2. Aufl. 1926, S. 32. 17 Zur Diskussion siehe Uhlenbruck, KTS 1989, 241 f.; dens., KTS 1998, 14 und 26 f.; ferner etwa Preuß, Zivilrechtspflege durch externe Funktionsträger, 2005, S. 429 ff.; Holzer / Kleine-Cosack / Prütting, Die Bestellung des Insolvenzverwalters, 2001, S. 11 f., 19 f. 18 NJW 2004, 2725 ff.; dazu etwa Wieland, ZIP 2005, 33 ff. 19 BVerfG (K) NJW 2004, 2727; ebenda heißt es weiter: „Rechtsanwälte bilden sich beispielsweise spezialisiert zum Fachanwalt für Insolvenzrecht fort. Kanzleien halten in erheblichem Umfang geschultes Personal vor, um den Arbeitsanfall bei Großinsolvenzen bewältigen zu können. Es hat sich insoweit ein neuer ,Markt‘ für Rechtsanwälte, Steuerberater und Kaufleute gebildet“.
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2. Die Insolvenzverwalter(vor)auswahl als Element funktionsgerechter Justizgewährleistung Die zentrale berufsgrundrechtliche Perspektive auf die Insolvenzverwaltertätigkeit darf allerdings nicht den Blick auf ihre institutionell-organisatorischen Bedingungen und Einbindungen verstellen.21 Zwar übt der Insolvenzverwalter kein „öffentliches Amt“ im Sinne des Art. 33 Abs. 2 GG aus,22 doch ist er (externer) Funktionsträger der staatlichen Zivilrechtspflege.23 Das ist im folgenden näher zu entfalten. Elementares Bauprinzip des Rechtsstaats ist die unbestreitbare Pflicht des Staates zur Justizgewährung, d. h. die Vorhaltung qualifizierter Verfahren verbindlicher und öffentlicher Streitentscheidungen.24 Dies gilt auch für die allgemeine Justizgewährung als Zivilrechtspflege.25 Staatliche Zivilrechtspflege bedeutet (u. a.) Wahrnehmung einer Rechtskontrolle, die nicht unbedingt mit der Ausübung von Entscheidungs- und Zwangsgewalt einhergehen muß, sondern auch institutionalisiert sein kann, um den Rechtsuchenden die Abwicklung und Gestaltung seiner privaten Rechtsbeziehungen nach Maßgabe der Privatrechtsordnung zu ermöglichen. Überwiegend liegt die Durchführung von Zivilverfahren in der Hand von Funktionsträgern, die dem staatlichen Justizapparat unmittelbar eingegliedert sind (wie Richter, Rechtspfleger, Gerichtsvollzieher usw.). Neben diesen „internen“ Funktionsträgern sieht das Zivilverfahrensrecht indes auch Verfahrensarten vor, in denen nicht in diesem Sinne in die staatliche Justizorganisation eingegliederten Personen bestimmte Aufgaben zur selbständigen Erledigung zugewiesen sind. In Abgrenzung zur bloßen Hilfstätigkeit im Kontext der Justizgewährung, wie sie etwa von Sachverständigen wahrgenommen werden (vgl. etwa §§ 402 ff. ZPO), ist für derartige „externe“ Funktionsträger charakteristisch die Teilhabe an der Verfahrenshoheit.26 Zu diesen externen Funktionsträgern zählen insbesondere Notare, aber auch die Siehe z. B. Pape, NZI 2006, 666. Siehe auch schon BVerfG (K) NJW 2004, 2727, wo darauf hingewiesen wird, daß „der Beruf des Insolvenzverwalters nur aufgrund der Zuteilung durch einen Träger öffentlicher Gewalt wahrgenommen werden kann“. 22 Siehe BVerfGE 116, 1 (13); näher Höfling, in: Bonner Kommentar, Art. 33 Abs. 1-3 (2007) Rn. 88 ff. m. w. N.; siehe demgegenüber aber auch OLG Hamm NZI 2007, 659: „Der Beruf des Insolvenzverwalters stellt einen [ . . . ] staatlich gebundenen Beruf dar, da der Betreffende ähnlich wie der Notar ein öffentliches Amt ausübt, so daß ergänzend auch die Grundsätze des Art. 33 Abs. 2 GG Anwendung finden“. 23 Dazu eingehend Preuß (Fn. 17), passim. 24 Siehe hier nur Schmidt-Aßmann, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 26 Rn. 70, der unter Bezugnahme auf Roman Herzog von den „Schichten eines rechtsstaatlichen ,Urgesteins‘“ spricht. 25 Siehe nur BVerfGE 54, 277 (291 f.); 80, 103 (107); 85, 337 (345); 93, 99 (107); siehe auch den Überblick bei Papier, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 1989, § 153; Maurer, Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 492 f. 26 Eingehend hierzu Preuß (Fn. 17), S. 8 ff. 20 21
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Insolvenz-, Zwangs- und Nachlaßverwalter. Während dem Notar eine verfahrensübergreifende Zuständigkeit eingeräumt und zur Ausübung seiner Kompetenzen ein öffentliches Amt verliehen ist,27 tritt der (Insolvenz-)Verwalter lediglich für ein einzelnes Verfahren in eine staatliche Funktionseinheit ein und übt in diesem Rahmen Hoheitsfunktionen aus.28 In beiden Konstellationen kommt institutionellen Grundpflichten wie Unparteilichkeit, Unabhängigkeit usw. eine wesentliche Bedeutung zu.29 Durch die Einbeziehung des Insolvenzverwalters (als eines „originär“ privaten Rechtssubjekts) in die für die Durchführung eines konkreten Verfahrens zuständige Funktionseinheit „Gericht und Verwalter“ wird er gleichsam auf Zeit „Angehöriger“ des staatlichen Justizpersonals.30 Da der Staat bei der Einbeziehung externer Funktionsträger in die Zivilrechtspflege sich partiell seiner eigenen Wahrnehmungsverantwortung begibt, muß kompensatorisch eine Gewährleistungsverantwortung31 übernommen werden. Diese bedeutet ganz wesentlich Verantwortung für die Rekrutierung angemessenen „externen“ Personals sowie Kontrollverantwortung. Die (personelle) Gewährleistungsverantwortung betrifft nicht nur (und erst) die Bestellung des Insolvenzverwalters für ein konkretes Verfahren, sondern bereits die „Vergabe von Amtsprätendentenstellen“.32 Hier werden die Weichen für die spätere Konstruktion der für das einzelne Verfahren zuständigen Funktionseinheit gestellt. Die Vorauswahlentscheidung erweist sich deshalb als ein (auch) justizorganisatorischer Akt, der den rechtsstaatlichen Anforderungen an die Schaffung von Einrichtungen der staatlichen Justizgewährung zu genügen hat.33 Hierzu zählen Transparenz, Rationalität und Funktionsadäquanz. Daß die derzeitige Praxis des Vorauswahlverfahrens diesem Anforderungsprofil wirklich gerecht wird – und unter den geltenden normativen Umständen gerecht werden kann –, unterliegt erheblichen Zweifeln. Vor diesem Hintergrund erscheint es durchaus sinnvoll, ein denkbares Alternativmodell, nämlich kontingentierte Insolvenzverwalter-Vorausauswahllisten, auf den Prüfstand des Verfassungsrechts zu stellen.33a
Dazu auch Höfling (Fn. 22), Art. 33 Abs. 1 – 3 Rn. 97 ff. m. w. N. Vgl. hierzu wiederum näher Preuß (Fn. 17), S. 302, 468 f. und in den einzelnen Darstellungen der externen Funktionsträger. 29 Näher zu diesen Preuß (Fn. 17), S. 354 ff., siehe ferner 481 f. 30 Eingehend Preuß (Fn. 17), S. 330 ff. 31 Allgemein zum Konzept des Gewährleistungstaates bzw. der Gewährleistungsverantwortung Schulze-Fielitz, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2006, § 12 Rn. 1 ff., 51 ff., 148 ff. m. w. N. 32 Formulierung bei Preuß, KTS 2005, 170. 33 Siehe eingehend Preuß (Fn. 17), S. 417 ff. 33a Die nachfolgenden Überlegungen beruhen auf einem Rechtsgutachten, das Verf. dem VID im Jahr 2008 erstattet hat. 27 28
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IV. Zur Frage der Grundrechtskonformität kontingentierter Insolvenzverwalter-Vorauswahllisten 1. Das berufsgrundrechtliche „Prüfprogramm“ – eine Skizze Der Qualifizierung der Insolvenzverwaltertätigkeit als eines eigenständigen Berufs34 kommt Bedeutung vor allem im Blick auf die traditionelle Bereichsdogmatik des Art. 12 Abs. 1 GG zu. Soweit die insolvenzrechtliche Literatur sich mit den grundrechtlichen Aspekten der Insolvenzverwaltervorauswahl bzw. Insolvenzverwalterbestellung befaßt, steht die in Art. 12 Abs. 1 GG gewährleistete Berufsfreiheit im Zentrum der Überlegungen. Reglementierungen der Insolvenzverwaltertätigkeit werden dabei regelmäßig am Schema der sog. DreiStufen-Theorie „abgearbeitet“. 35 Dies gilt insbesondere auch im Blick auf quantitative Begrenzung der Insolvenzverwaltervorauswahl.36 Indes eignet sich die seit dem Apothekenurteil von 195837 geradezu kanonisierte Drei-Stufen-Theorie38 nur noch bedingt für die Prüfung der Rechtfertigung eines Eingriffs in die in Art. 12 Abs. 1 GG gewährleistete Berufsfreiheit. Ihre Unterscheidung von bloßen Berufsausübungsregeln, subjektiven Berufszugangsbeschränkungen sowie objektiven Zugangshürden kommt zwar einem Bedürfnis nach typisierender Betrachtung entgegen und war vor einem halben Jahrhundert zweifelsohne ein wichtiger Beitrag zur Effektuierung des Grundrechtsschutzes. Gleichwohl vermag sie (heute) lediglich die Funktion eines orientierenden Grobrasters zu übernehmen.39 Der nach wie vor aktuelle Kern der sog. Drei-Stufen-Lehre besteht allerdings darin, daß die materiellen Rechtfertigungsanforderungen an Eingriffe in die Berufsfreiheit gleichsam dynamisch an die Intensität des jeweiligen Eingriffs angepaßt werden. Damit ist das Konzept einer Fixierung auf intensitätsindizierende Schutzebenen heute weitgehend einer situationsbezogenen Einzelfallbewertung gewichen.40 Hieraus resultiert eine Flexibilisierung der Rechtfertigungsanforderungen auf den jeweiligen „Stufen“ – und zwar in beide Richtungen.41 ZusammenDazu oben bei Fn. 19, 20. Siehe bspw. Mönning, in: Arbeitskreis für Insolvenz- und Schiedsgerichtswesen e. V., Köln, Kölner Schrift zur Insolvenzordnung, 2. Aufl. 2000, S. 398 f. 36 Siehe bspw. Kruth, Die Auswahl und Bestellung des Insolvenzverwalters, 2006, S. 261: Eine qualitative Beschränkung „unterläge als objektive Berufszugangsregelung [ . . . ] sehr hohen Rechtfertigungsanforderungen“; siehe ferner etwa Mönning (Fn. 35), S. 398. 37 BVerfGE 7, 377 ff. 38 Zu ihren Problemen siehe bereits Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987, S. 156 ff. 39 Näher m. zahlr. N. hierzu etwa Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV / 1, 2006, S. 1892 ff.; Manssen, in: von Mangold / Klein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 12 Rn. 142 ff. 40 Dazu zutreffend m. w. N. Dietlein (Fn. 39), S. 1892. 34 35
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fassend spricht das Gericht davon, „Eingriffszweck und Eingriffsintensität (müßten) stets in einem angemessenen Verhältnis stehen“.42 Damit ist – im Ergebnis zu Recht – ein Übergang zu einer „normalen“ Übermaßprüfung und eine „Kompatibilisierung“ mit der allgemeinen Grundrechtsdogmatik erreicht. 2. Kontingentierte Berufszugangsbeschränkungen – ein vergleichender Blick auf andere Berufe Bevor nachstehend quantitative Berufszugangshürden für die Insolvenzverwaltertätigkeit den Maßstabsdirektiven der skizzierten Bereichsdogmatik des Art. 12 Abs. 1 GG unterstellt werden sollen, erscheint ein vergleichender Blick auf kontingentierende Berufszugangsbeschränkungen in anderen Berufen durchaus sinnvoll. a) Der öffentlich bestellte Sachverständige einerseits und der Notarberuf andererseits Aufschlußreich ist insoweit vor allem eine erste Gegenüberstellung von zwei Berufen, die man vor dem Hintergrund der rechtsgutachtlich zu erörternden Grundsatzfrage – vergröbernd – als die beiden Pole einer Regulierungsskala charakterisieren könnte: die Tätigkeit des öffentlich bestellten Sachverständigen einerseits und der Notarberuf andererseits. (1) Die dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 25. März 1992 zugrundeliegende Verfassungsbeschwerde43 betraf die Frage, ob die öffentliche Bestellung eines Sachverständigen gemäß § 36 GewO mit der Begründung abgelehnt werden darf, die Zahl der bereits tätigen öffentlich bestellten Sachverständigen sei ausreichend. Zunächst verneint das Bundesverfassungsgericht im Blick auf die Tätigkeit des öffentlich bestellten Sachverständigen einen eigenständigen Beruf44 und qualifiziert § 36 GewO als Berufsausübungsregelung, die zwar noch nicht einer Beschränkung der Berufswahl nahekomme, aber erheblich über eine wettbewerbsneutrale Ausübungsregelung hinausgehe.45 Eine allgemeine abstrakte Bedürfnisprüfung sieht das Bundesverfassungsgericht als unproblematisch an, wenn damit lediglich der Aufwand für Ermittlung, Prüfung und Bestellung von Sachverständigen erspart werden solle, soweit spezialisierter Sachverstand nicht nachgefragt werde.46 Anders sei dies allerdings hinsichtlich einer vom Bundesver41 Siehe bspw. aus der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 33, 125 (161) und 77, 84 (106) einerseits sowie BVerfGE 102, 197 (215) andererseits; weitere Hinweise bei Dietlein (Fn. 39), S. 1893 ff. 42 So BVerfGE 103, 172 (183) unter Bezugnahme auf BVerfGE 101, 331 (347). 43 Siehe BVerfGE 86, 28 ff. 44 BVerfGE 86, 28 (38). 45 BVerfGE 86, 28 (39). 46 BVerfGE 86, 28 (40 f.).
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fassungsgericht so genannten „konkreten Bedürfnisprüfung“. Zum einen sei der gesetzlichen Regelung des § 36 GewO insoweit kein Hinweis zu entnehmen. Zum anderen greife eine solche auch „unverhältnismäßig stark in die Freiheit der Berufsausübung ein“.47 Selbst wenn man von der Eignung der Regelung für die Qualifikationssicherung ausgehe, müsse die Erforderlichkeit der Beschränkung der Berufsfreiheit verneint werden.48 (2) Ganz anders sind demgegenüber die Stellungnahmen des Bundesverfassungsgerichts zum (Zugang zum) Notarberuf akzentuiert.49 Im Zentrum der Judikatur stand von Beginn an die quantitative Begrenzung der Notarstellen nach Maßgabe der Erfordernisse einer geordneten Rechtspflege50 und – vermehrt in den letzten Jahren – die grundrechtskonforme Ausgestaltung des Auswahl- sowie Bestellungsverfahrens.51 Dabei geht das Gericht vom Notarberuf als einem öffentlichen Amt aus.52 Bereits in seiner Grundsatzentscheidung vom 5. Mai 1964 hat es hervorgehoben, auch wenn der Notar nicht zum öffentlichen Dienst im engeren Sinne gehöre, erfülle er doch Aufgaben der ,vorsorgenden Rechtspflege‘. Seine Aufgaben seien für den Rechtsverkehr zwischen den Bürgern und damit für den Rechtsfrieden in der Gemeinschaft von hoher Bedeutung. Der Staat könnte und müßte sie selbst durch seine Behörden erfüllen, wenn er sie nicht den Notaren übertragen hätte. Insofern stehe der Beruf des Notars „nach der Eigenart der ihm übertragenen Aufgaben wie nach der positiven Ausgestaltung des Berufsrechts dem öffentlichen Dienst sehr nahe“, so daß Sonderregelungen in Anlehnung an Art. 33 GG grundsätzlich möglich seien.53 Vor diesem Hintergrund seien quantitative Begrenzungen für Notarstellen mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar.54 Hieran hat das Gericht grundsätzlich auch später festgehalten.55 Beanstandet hat das Bundesverfassungsgericht allerdings die unzulänglichen Rechtsgrundlagen für die Eingriffe und die inadäquate Verfahrensausgestaltung.56 BVerfGE 86, 28 (41 f. [Zitat: S. 42]). BVerfGE 86, 28 (43 f.), wo auch weitere Argumente verworfen werden. 49 Siehe überblickartig etwa Stern, Festschrift Rudolf, 2001, S. 367 ff.; Löwer, Mitteilung der Rheinischen Notarkammer 1998, 310 ff.; Ronellenfitsch, DNotZ 1990, 75 ff. 50 Vgl. § 4 BNotO (in der heute geltenden Fassung): „Es werden so viele Notare bestellt, wie es den Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege entspricht. Dabei ist insbesondere das Bedürfnis nach einer angemessenen Versorgung der Rechtsuchenden mit notariellen Leistungen und die Wahrung einer geordneten Altersstruktur des Notarberufs zu berücksichtigen“. 51 Siehe z. B. BVerfGE 17, 371 ff.; 73, 280 ff.; 110, 304 ff.; BVerfG (K) DNotZ 2002, 891; BVerfG (K) NJW 2006, 2395 f. 52 Siehe schon BVerfGE 17, 371 (377); vgl. ferner m. w. N. Höfling (Fn. 22), Rn. 97 ff. 53 BVerfGE 17, 371 (378 f.); zu den frühen Notarentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts siehe bereits Bethge (Fn. 15), S. 18 ff. 54 BVerfGE 17, 371 (379 ff.). 55 BVerfGE 73, 280 (292) unter Bezugnahme auf BVerfGE 17, 371 (376 ff.). 56 BVerfGE 73, 280 (294 ff.); siehe ferner BVerfGE 110, 304 ff.; BVerfG (K) NJW 2003, 420 und NJW 2006, 2395 f. 47 48
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b) Die Begrenzung der Zahl der BGH-Anwälte Als ein weiteres aufschlußreiches Referenzproblem erweist sich die Begrenzung der Zahl der Rechtsanwälte beim BGH gemäß § 168 Abs. 2 BRAO – eine seit mehr als einem Jahrzehnt überaus kontrovers diskutierte Thematik.57 Die 2. Kammer des 1. Senats des Bundesverfassungsgerichts hat nunmehr mit Beschluß vom 27. Februar 200858 festgestellt: (1) Mit der Begrenzung der bei dem BGH zugelassenen Rechtsanwälten gemäß § 168 Abs. 2 BRAO verfolge der Gesetzgeber ein gewichtiges Gemeinwohlziel, das die Beschränkung der Berufsausübung legitimieren könne.59 (2) Sowohl das Auswahlverfahren als auch insbesondere die Zulassungsbegrenzung seien im Blick auf die Förderung und Verbesserung der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Zivilsachen verhältnismäßig, d. h. geeignet, erforderlich und zumutbar.60 Ausgehend von der Annahme, der BGH-Anwalt übe keinen eigenständigen Beruf aus, qualifiziert das Bundesverfassungsgericht die einschlägigen Vorschriften insbesondere über die Begrenzung der Zahl der BGH-Anwälte als „Berufsausübungsregelung, die Elemente enthält, die einer Einschränkung der Berufswahl nahekommen“.61 Die „Zulassungskontigentierung nach § 168 S. 2 BRAO [wirke] wie eine objektive Zugangssperre“ und weise damit Elemente auf, die einer Beschränkung der Berufsfreiheit nahekämen, blieben aber im Blick auf die begrenzte Bedeutung des forensischen Tätigkeitsfeldes hinter dem Gewicht zurück, das typischerweise Berufswahlregelungen zukomme.62 Das Bundesverfassungsgericht sieht sodann § 168 Abs. 2 BRAO bei der verfassungsrechtlich gebotenen Auslegung als hinreichende Grundlage für den Grundrechtseingriff.63 Mit dieser Begrenzung verfolge der Gesetzgeber auch ein „gewichtiges Gemeinwohlziel“ bzw. einen „Gemeinwohlbelang von besonderem Gewicht“, ja: ein „überragend wichtiges Gemeinschaftsgut“. Die Förderung der Rechtspflege sei schon allgemein ein wichtiges Gemeinschaftsgut, so daß die Funktionsfähigkeit der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Zivilsachen insbesondere wegen ihrer Aufgabe, die Fortbildung des Rechts und die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu sichern, als überragend 57 Siehe bspw. Hartung, JZ 1994, 117 ff.; Henssler, JZ 2001, 337 ff.; Droege, NJW 2002, 175 ff.; Prütting / Krämer, JZ 2003, 239 ff.; Kleine-Cosack, NJW 2007, 1142 f. 58 BVerfG (K) NJW 2008, 1293. Siehe schon den Beschluß eines Vorprüfungsausschusses vom 24. März 1982, BeckRS 2007, 21620; dazu Kirchberg, BRAK-Mitteilungen 2002, 273. 59 Unter Bezugnahme auf BVerfGE 117, 163 (182). 60 BVerfG (K) NJW 2008, 1293 ff. – Zu der mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidung BGH NJW 2007, 1136 siehe die Anmerkung von Kleine-Cosack, NJW 2007, 1142. Die Verfassungskonformität der Singularzulassung von Rechtsanwälten beim BGH schon zuvor bejahend: BVerfGE 106, 216 ff. 61 BVerfG (K) NJW 2008, 1293. 62 BVerfG (K) NJW 2008, 1294. 63 BVerfG (K) NJW 2008, 1294.
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wichtiges Gemeinschaftsgut anzusehen sei.64 Zur Förderung und Verbesserung der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Zivilsachen sind das Auswahlverfahren und insbesondere die Zulassungsbegrenzung – so das Bundesverfassungsgericht – „auch verhältnismäßig, also geeignet, erforderlich und zumutbar“.65 Dabei hebt das Gericht zum einen den weiten Beurteilungsspielraum hervor, der dem Gesetzgeber zustehe. Bei der Beurteilung der Erforderlichkeit einer Maßnahme sei dieser Beurteilungsspielraum „erst dann überschritten, wenn die gesetzgeberischen Erwägungen so fehlsam sind, daß sie vernünftigerweise keine Grundlage“ für die ergriffenen Maßnahmen abgeben könnten.66 Zum anderen betont das Bundesverfassungsgericht: Auch strenge Eignungsprüfungen mit entsprechend hohen subjektiven Voraussetzungen seien für sich allein nicht in gleicher Weise geeignet, den Rechtsanwälten bei dem BGH einen ausreichenden Geschäftsanfall zu sichern und eine ausreichende Erfahrung im Revisionsverfahren zu garantieren, wie es die quantitative Zulassungsbegrenzung bewirke.67 c) Kurze vergleichende Würdigung Nimmt man die skizzierten Referenzgebiete vergleichend in den Blick, so verdienen vier Aspekte der Heraushebung: (1) Berufszugangsgrenzen bzw. -kontigentierungen werden vom Bundesverfassungsgericht einer grundsätzlich strengen Grundrechtskonformitätsprüfung unterzogen, können aber durch entsprechend gewichtige Gemeinwohlbelange verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden. (2) Als besonders hochrangiges Gemeinwohlziel wird die (Funktionalität der) Rechtspflege eingestuft, das durchaus derartige Berufsfreiheitsbeschränkungen zu legitimieren vermag. (3) Dem Gesetzgeber wird bei der Einschätzung der Frage, welche Instrumente zur Realisierung der Gemeinwohlbelange erforderlich sind, ein großer Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum eingeräumt. (4) Vor diesem Hintergrund können etwa subjektive (Eignungs- / Qualifikations-) Zugangskriterien gegenüber quantitativen Berufszugangsbegrenzungen keineswegs als prinzipiell gleich geeignete Maßnahmen eingestuft werden.
BVerfG (K) NJW 2008, 1295. BVerfG (K) NJW 2008, 1295. 66 BVerfG (K) NJW 2008, 1296 unter Bezugnahme auf BVerfGE 110, 141 (157 f.); 117, 163 (189). 67 BVerfG (K) NJW 2008, 1296 f. 64 65
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3. Proportionalität von Eingriffszielen und Eingriffsintensität bei der quantitativen Beschränkung des Zugangs zum Insolvenzverwalteramt Überträgt man die vorstehend skizzierten Überlegungen auf die hier zu untersuchende Problematik, so läßt sich folgendes feststellen: a) Zur Bestimmung der Eingriffsintensität kontingentierender (gesetzlicher) Insolvenzverwalter-Vorauswahllisten Auch wenn – mit dem Bundesverfassungsgericht – der Insolvenzverwalter als eigenständiger Beruf qualifiziert wird,68 ist insoweit zunächst zu berücksichtigen, daß eine Person nicht als Insolvenzverwalter ins Berufsleben „startet“, sondern auf der Basis einer anderweitigen Qualifikation – als Rechtsanwalt, als Wirtschaftsprüfer, als Steuerberater etwa – sich diesem Berufsfeld zuwendet.69 Nicht wenige (potentielle) Insolvenzverwalter sind überwiegend oder daneben auch in ihrem „originären“ Beruf tätig.70 Subjektive wie objektive Berufszugangsbeschränkungen treffen deshalb die Adressaten nicht mit der gleichen Intensität wie etwa „konzentrierte“ Regulierungen für Apotheker71 oder – ein anders gelagertes Beispiel aus neuerer Zeit – Hufpfleger,72 die gleichsam die gesamte berufliche Biographie erfassen. Quantitative Begrenzungen von Insolvenzverwalter-Vorauswahllisten bedeuten allerdings objektive Berufszugangshürden und bewirken eine erhebliche Einbuße an grundrechtlicher Freiheit.73 Dabei wird – naturgemäß – die konkrete Eingriffsintensität durch die spezifische Ausgestaltung des Kontingentierungsmodells bestimmt. Zeitliche Befristungen der „Poolmitgliedschaft“ vor erneuten „Zulassungs“entscheidungen können z. B. das Beschränkungspotential mildern. Entsprechendes gilt für die Koppelung der objektiven Grenzziehung mit subjektiven, d. h. durch die jeweiligen Grundrechtsträger beeinflußbaren Faktoren des Qualitätsprofils. Unterschiedliche, d. h. insolvenzverfahrensspezifische Listen74 mit differenzierenden Zugangsprofilen können ebenfalls eine Milderung des grundrechtsrelevanten „Numerus clausus-Effekts“ bewirken. Dazu bereits oben bei Fn. 19, 20. Das „Quantitätsproblem“ ist nicht zuletzt aber deshalb virulent, weil es an einer objektivierbaren Berufsbildkriteriologie fehlt. Wer sich als „Insolvenzverwalter“ um eine Aufnahme in die Vorauswahlliste „bewirbt“, wird in der Regel in dieser „Insolvenzverwaltereigenschaft“ nicht in Frage gestellt. 70 In gewisser Weise eine Parallele: die Tätigkeit als Vertragsarzt, wenn man diese, was strittig ist, als eigenständigen Beruf ansieht; siehe dazu etwa BVerfGE 103, 172 ff. 71 Siehe dazu BVerfGE 7, 377 ff. 72 Dazu BVerfGE 117, 126 ff. 73 Nach Laws, ZInsO 2006, 1126 Fn. 25, stellt eine vom Insolvenzrichter ermittelte Bedarfszahl „zumindest eine Berufsausübungsschranke“ dar. 74 Dazu etwa Uhlenbruck / Mönning, ZIP 2008, 158. 68 69
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Versucht man, das Begrenzungs- und Eingriffspotential in Anlehnung an das Grobraster der sog. Drei-Stufen-Lehre, zugleich aber in einer weiteren Ausdifferenzierung zu erfassen, so wird man kontingentierte Insolvenzverwalter-Vorauswahllisten als objektive Berufswahlbeschränkungen mit begrenzter Eingriffstiefe einstufen können. Vor diesem Hintergrund wird man als Rechtfertigungsgrund jedenfalls gewichtige, u. U. sogar „überragend wichtige“ Gemeinschaftsbelange fordern müssen. In diesem Zusammenhang ist zunächst in Erinnerung zu rufen, daß die berufsgrundrechtliche Freiheitsrealisierung der Insolvenzverwaltertätigkeit dadurch charakterisiert ist, daß sie sich (auch) als externe Zivilrechtspflege erweist. Der Insolvenzverwalter übernimmt als externer Funktionsträger – und mit dem Insolvenzgericht eine funktionelle Einheit der Zivilrechtspflege bildend – Aufgaben, deren Erfüllung zugleich die Realisierung der verfassungsrechtlichen Pflicht zur Justizgewährleistung durch den Staat bedeutet. Damit geht es bei der Rekrutierung des „Personals“ um die Sicherung einer funktionsadäquaten Rechtspflege.75 Diese Feststellung gilt nicht nur für den konkreten Bestellungsakt selbst, sondern in besonderem Maße für das Vorauswahlverfahren, dem (auch) nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zentrale Bedeutung zukommt.76 Daß die Rechtspflege ganz allgemein bzw. ihre Förderung ein „wichtiges Gemeinschaftsgut“ ist, hat das Bundesverfassungsgericht bereits mehrfach betont77 und jüngst noch einmal bekräftigt.78 In den zitierten Entscheidungen ging es dabei – lediglich – um die (mittelbare) Förderung der Rechtspflege durch Personen, die nicht als externe Funktionsträger der Rechtspflege zu qualifizieren sind und damit auch nicht als personelle Elemente der Justizorganisation.79 Das Insolvenzverwalteramt indes ist unmittelbar in die Justizorganisation eingebunden; der Verwalter fungiert (temporär) als externer Funktionsträger der Zivilrechtspflege. Seine Rekrutierung bedeutet zugleich Ermöglichung der Erfüllung der staatlichen Justizgewährleistungspflicht. Diesen Prozeß funktionsadäquat zu realisieren, erweist sich damit nicht nur als wichtiges, sondern als ein mindestens ebenso bedeutsames Ziel wie die Funktionsfähigkeit der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Zivilsachen, der das Bundesverfassungsgericht attestiert hat, ein „überragend wichtiges Gemeinschaftsgut“ zu sein.80 Ein solches aber vermag prinzipiell auch Beschränkungen der Berufs(wahl)freiheit von größter Eingriffsintensität81 zu rechtfertigen. 75 Daß sich das Auswahlermessen des Insolvenzgerichts an den Erfordernissen des jeweiligen Verfahrens und nicht an der gleichmäßigen Berücksichtigung von Prätendenten auszurichten hat, ist auch vom Bundesverfassungsgericht hervorgehoben worden; siehe BVerfG ZIP 2006, 1362 = BVerfGE 116, 1 (13); ebenso Gaier, ZInsO 2006, 1181. 76 Siehe BVerfGE 116, 1 (17 f.) m. w. N.; ferner etwa Gaier, ZInsO 2006, 1181. 77 Siehe BVerfGE 21, 173 (179); 54, 301 (315); 59, 302 (317). 78 BVerfG (K) NJW 2008, 1295. 79 Nämlich: Aufgaben der steuerberatenden Berufe, BGH-Anwälte. 80 BVerfG (K) NJW 2008, 1295. 81 Notabene: die vorliegend nicht angenommen werden kann.
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b) Zu den Anforderungen des Übermaßverbots Mit der Feststellung, die Gewährleistung eines funktionsadäquaten Insolvenzverfahrens als Teil der Zivilrechtspflege sei ein überragend wichtiges Gemeinschaftsziel,82 ist indes die Frage nach der Verfassungskonformität kontingentierter Insolvenzverwalter-Vorauswahllisten noch nicht abschließend beantwortet. Die Wahl des Instruments einer quantitativen Beschränkung der Zahl der Prätendenten muß auch den Anforderungen des Übermaßverbotes entsprechen, d. h. zur Erreichung des Gemeinwohlbelangs geeignet, erforderlich und angemessen bzw. zumutbar sein. (1) Ein vom Gesetzgeber gewähltes Mittel ist dann geeignet im verfassungsrechtlichen Sinne, wenn mit seiner Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann, wobei bereits die Möglichkeit der Zweckrealisierung genügt.83 Dies ist im vorliegend zu beurteilenden Zusammenhang gegeben. Quantitative Begrenzungen von Vorauswahllisten bewirken zum einen, daß der Insolvenzrichter die Entscheidung über die konkrete Insolvenzbestellung unter Beachtung der der Besonderheit des Verfahrens geschuldeten Eilbedürftigkeit treffen kann, und zum zweiten, daß die erfolgreichen „Poolbewerber“ auf eine professionalitätssichernde Arbeitsauslastung vertrauen können. In seinem Beschluß vom 23. Mai 2006 hat das Bundesverfassungsgericht die „entscheidende Bedeutung“ der Vorauswahlliste im Blick auf eine „schleunige Auswahl unter den Bewerbern“ bzw. „zügige Eignungsprüfung für das konkrete Verfahren“ nachdrücklich hervorgehoben.84 Das Vorauswahlverfahren könne dem Richter „den Rahmen geben, der ihm trotz Eilbedürftigkeit der Bestellungsentscheidung eine hinreichend sichere Tatsachengrundlage für eine sachgerechte Auswahlentscheidung im konkreten Insolvenzverfahren“ vermittele.85 Gerade die Begrenzung der Vorauswahlliste bietet hier nach Einschätzung aus der Praxis ein probates – und erforderliches – Mittel.86 Immer wieder wird in der insolvenzrechtlichen Literatur zu Recht auf den engen Zusammenhang von regelmäßiger Insolvenzverfahrenspraxis und Professionalisierung hingewiesen und die zwingende Notwendigkeit eines dies sichernden Vorauswahlprozesses hervorgehoben.87 Der Vorauswahlliste kommt insofern auch eine wichtige Garantiefunktion zu.88 Dazu vorstehend b). Siehe etwa BVerfGE 67, 157 (175); 103, 293 (307); BVerfG (K) NJW 2008, 1296. 84 Siehe BVerfGE 116, 1 (14 und 17); siehe auch Gaier, ZInsO 2006, 1182. 85 So BVerfGE 116, 1 (17) unter Bezugnahme auf BVerfGK 4, 1 (9). 86 Siehe etwa Messner, DRiZ 2006, 330; ferner etwa Graeber, NZI 2004, 547: nur eine „reduzierte Liste“ könne „im eilbedürftigen Tagesgeschäft überblickt“ werden; siehe ferner Vallender, NZI 2005, 476. 87 Nachdrücklich z. B. Graeber, DZWiR 2005, 186. 88 Zur „Garantiefunktion der Liste“ siehe auch Schmidt, in: Bork / Kubler, Insolvenzrecht 2000, 2001, S. 18. 82 83
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Daß eine regelmäßige Abwicklung etwa von Unternehmensinsolvenzen der Absicherung des dafür erforderlichen Apparats und damit wiederum der Qualitätssicherung der Zivilrechtspflege dient, ist ernsthaft ebensowenig zu bestreiten wie die Eignung einer quantitativen Begrenzung von Vorauswahllisten zur Erreichung des Ziels.89 (2) Zur Verfolgung des überragend wichtigen Gemeinschaftsbelangs ist die Insolvenzverwaltervorauswahlkontingentierung auch erforderlich im Sinne der Anforderungen des Übermaßverbotes. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist ein Eingriff in die durch Art. 12 Abs. 1 GG gewährleistete Berufsfreiheit nur dann erforderlich, wenn ein anderes, in jeder Hinsicht gleich wirksames,90 die Berufsfreiheit aber weniger einschränkendes Mittel nicht zur Verfügung steht. Dem Gesetzgeber steht allerdings bei der Beurteilung dessen, was er zur Verwirklichung der von ihm verfolgten Gemeinwohlzwecke für erforderlich halten darf, ein weiter Einschätzungs- und Prognosespielraum zu, der vom Bundesverfassungsgericht nur in begrenztem Umfang geprüft werden kann.91 Jedenfalls aus der insoweit eingeschränkten Kontrollperspektive des Bundesverfassungsgerichts wäre es nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber den Zugang zum Prätendentenpool quantitativ beschränken würde.92 Nun könnte möglicherweise eingewandt werden, das angestrebte Ziel einer funktionsadäquaten Zivilrechtspflege im Insolvenzrecht unter Einbeziehung externer Funktionsträger sei auch dadurch zu erreichen, daß – unter Verzicht auf eine zahlenmäßige Limitierung – der Zugang zum Insolvenzverwalteramt an eine strenge Eignungsprüfung mit hohen subjektiven Voraussetzungen geknüpft werde.93 Indes wäre damit kein – ebenso wie das Kontingentierungsmodell – gleich geeignetes Zugangsverfahren installiert. Eine derartige Regulierung dürfte nämlich – im Vergleich zu einer quantitativen Begrenzung – zu einer insgesamt höheren Zahl von Prätendenten führen; für diese aber stünde nur die gleiche Zahl von Insolvenzverfahren als Betätigungsfeld offen. Mit anderen Worten: Gerade auf das auch durch den Grad der Auslastung bewirkte Maß an Professionalisierung,94 das für die effektive Bewältigung etwa von Unternehmensinsolvenzen unentbehrSiehe auch Vallender, NZI 2005, 476. Siehe dazu BVerfGE 105, 17 (36). 91 Jüngst in diesem Sinne erneut BVerfG (K) NJW 2008, 1296 unter Bezugnahme auf BVerfGE 110, 141 (157 f.) und 117, 163 (189). 92 Nochmals sei wiederholt, daß im vorliegenden Kontext kein spezifisches, ausgearbeitetes Modell der Kontingentierung zur Überprüfung steht, vielmehr lediglich nur die zentralen verfassungsrechtlichen Argumentationslinien gezogen werden können. 93 Vgl. auch die Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts zu dem entsprechenden Vorbringen des Beschwerdeführers im Verfahren zur Zulassungsbeschränkung bei BGH-Anwälten, BVerfG (K) NJW 2008, 1297. 94 Nämlich: organisatorische und personelle Ausstattung des Insolvenzverwalterbüros; praktische Erfahrungen aufgrund der Durchführung von Verfahren usw.; siehe bereits vorstehend. 89 90
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lich ist, könnte nicht „in jeder Hinsicht gleich wirksam[es]“95 hingewirkt werden.96 Sollte der Gesetzgeber sich zur Einführung einer kontingentierten Insolvenzverwalter-Vorauswahlliste bereit finden, könnte er sich in Ausfüllung seines Beurteilungsspielraums im übrigen auf die sachverständige Einschätzung zahlreicher Praktiker des Insolvenzrechts berufen.97 (3) Schließlich muß eine vom Gesetzgeber eingeführte Kontingentierung der Insolvenzverwalter-Vorauswahlliste nicht nur geeignet und erforderlich sein im Blick auf das angestrebte Ziel, sondern auch angemessen. Voraussetzung hierfür ist, daß das Maß der Belastung des Einzelnen noch in einem vernünftigen Verhältnis zu den der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen steht.98 Insoweit ist eine Abwägung zwischen den angestrebten Gemeinwohlbelangen, zu deren Wahrung der Eingriff erforderlich ist, und den Auswirkungen auf die Rechtsgüter der davon Betroffenen notwendig.99 Hier gewinnt nun der überragende Rang des Regelungsziels Bedeutung: die Sicherung der Funktionsfähigkeit der Zivilrechtspflege100 durch eine – im Interesse der Gläubiger und Schuldner zügigen – professionalitäts- und qualitätssichernde Rekrutierung der externen Funktionsträger „Insolvenzverwalter“. In Relation zu diesem höchstrangigen Gemeinwohlziel ist die Beschränkung der Berufs(wahl)freiheit der Bewerber um Aufnahme in eine kontingentierte Insolvenzverwalter-Vorauswahlliste nicht als unangemessen zu qualifizieren.
V. Schlußbemerkungen: Mittelbarer „Konkurrenzschutz“ als Verfassungsproblem? Gelegentlich wird geltend gemacht, der Staat schulde Angehörigen eines Berufstandes keinen bestimmten Geschäftsumfang, und die Garantie eines Tätigkeitsund Verdienstumfangs bedeute einen „unzulässige[n] Konkurrenzschutz“.101 Mit dieser Argumentation könnten u. U. auch verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine gesetzliche Regelung erhoben werden, die eine professionalitätssichernde Arbeitsauslastung von Insolvenzverwaltern ermöglicht. Indes greift der Einwand Siehe z. B. BVerfGE 105, 17 (36); BVerfG (K) NJW 2008, 1296. Vgl. auch die Überlegungen des BGH NJW 2007, 1136 ff., die das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich jüngst gebilligt hat; siehe BVerfG (K) NJW 2008, 1296. 97 Uhlenbruck / Mönning, ZIP 2008, 158 f. unter Bezugnahme auf Ziffer B I. 4. der Empfehlungen der sog. Uhlenbruck-Kommission (ZIP 2007, 1432); siehe z. B. Vallender, NZI 2006, Heft 4, S. VI. 98 BVerfGE 76, 1 (51). 99 BVerfG (K) NJW 2008, 1297 unter Bezugnahme auf BVerfGE 92, 277 (327); 117, 163 (193). 100 Zu der überragenden Bedeutung dieses Gemeinwohlbelangs: BVerfGE 21, 173 (179); 54, 301 (315); 59, 302 (317); BVerfG (K) NJW 2008, 1295. 101 So im Blick auf die Kontingentierung der Zahl der BGH-Anwälte: Prütting / Krämer, JZ 2003, 244. 95 96
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nicht durch: Zwar ist es zutreffend, daß „Konkurrenzschutz als solcher kein Gemeinwohlbelang ist“.102 Eine andere verfassungsrechtliche Bewertung ist allerdings dann angezeigt, wenn der „Konkurrenzschutz“ seinerseits einem legitimen Gemeinwohlzweck dient.103 Ganz in diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht deshalb in seiner jüngsten Entscheidung zur Beschränkung der Zahl der BGH-Anwälte ausgeführt: „Der Gesetzgeber muß vom überkommenen Gemeinwohlzweck der Förderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht deshalb absehen, weil seine Regelung folglich auch einen Wettbewerbsschutz für einen Teil der Rechtsanwaltschaft bedingt. Diese Folge wäre nur als eigenständiger Regelungszweck als Gemeinwohlbelang zurückzuweisen.“104 Nach diesem Maßstab begegnet eine im Dienste des „eigentlichen“ Gemeinwohlbelangs – nämlich: Sicherung eines funktionsadäquaten Insolvenzverfahrens als Erfüllung der Justizgewährleistungspflicht – stehende Kontigentierung der Insolvenzverwalter-Vorauswahllisten keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, auch wenn dies mittelbar einen gewissen „Konkurrenzschutz“ bewirkt.
102 So BVerfGE 97, 12 (31) unter Bezugnahme auf BVerfGE 7, 377 (408); 94, 372 (395); vgl. ferner Wieland, in: Dreier, GG, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 12 Rn. 76. 103 Siehe auch BVerfGE 97, 12 (31). 104 BVerfG (K) NJW 2008, 1295 unter Bezugnahme auf BVerfGE 93, 362 (370).
Geistesgeschichtliche Grundlagen der Gewissensfreiheit Von Stefan Mückl
Der freiheitliche Verfassungsstaat des Grundgesetzes gewährleistet die „Freiheit des Gewissens“ als „unverletzlich“ (Art. 4 Abs. 1 GG). Die knappe Formulierung des geltenden Verfassungstextes basiert auf einer „lange(n), wechselhafte(n) Geschichte“,1 einer mehr als komplexen geistes-, kultur- und rechtsgeschichtlichen Entwicklung.2 Einige Facetten davon näher zu bedenken, erscheint zu Ehren eines Autors angemessen, der sich in seinem wissenschaftlichen Werk niemals nur auf das geltende positive Recht und seine Auslegung kapriziert hat. Gerade bei der Gewissensfreiheit lohnt eine Betrachtung der geistesgeschichtlichen Tiefenschichten auch aus sachlichen Gründen: Gerade bei ihr läßt sich das geltende Recht ohne Kenntnis der historischen Genese wie insbesondere der ideengeschichtlichen Reflexion nur unzureichend verstehen. Um so mehr gilt dies dann, wenn die juristische Praxis – notgedrungen – die philosophischen, theologischen und psychologischen Bezugspunkte des „Gewissens“-Begriffs bei der Interpretation von Art. 4 Abs. 1 GG ausblendet und den Terminus pragmatisch „im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs“ begreifen will.3 Das Phänomen des Gewissens des einzelnen und die Berücksichtigung seiner Überzeugungen im Sozialverband haben über die Jahrhunderte hindurch Philosophen wie Theologen beschäftigt. Für einen erheblichen Zeitraum lassen sich dabei Gewissen und Glauben kaum trennen. Das Verständnis der Gewissensfreiheit „im Sinne eines säkularen individuellen Freiheitsrechts“ beginnt sich erst im 19. Jahrhundert eine Bahn zu brechen.4 Indes hat bereits die vorchristliche Philosophie entscheidende Grundlegungen vorgenommen, die im weiteren Denken fortgewirkt haben. Im Ausgangspunkt bleibt freilich zu bedenken, daß jene philosophische wie theologische Reflexion sowohl untereinander wie zu den konkreten historischen Ereignissen in überaus komplexen wechselseitigen Beziehungen steht. Sie sind Bethge, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Bd. VI, 2. Aufl. 2001, § 137 Rn. 4. Vertiefend zur historischen Entwicklung Anschütz, in: HdbDStR II, 1932, S. 675 ff.; Heckel, in: ders., Gesammelte Schriften IV, 1997, S. 657 ff. 3 So grdl. BVerfGE 12, 45 (55). 4 Bethge (Fn. 1), § 137 Rn. 4. 1 2
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gleichermaßen geprägt von Kontinuitäten und Brüchen, was ihre Bewertung aus heutiger Sicht so schwierig macht.
I. Gewissen und Gewissensfreiheit im philosophischen Diskurs 1. Antike Philosophie Wesentliche Grundlegungen zu Begriff und Wirkungsweise des Gewissens entstammen der antiken Philosophie. Die Reflexion über das Phänomen setzt mit Sokrates ein: In der Auseinandersetzung mit den Sophisten argumentiert er mit seinem daimonion, jener „Stimme nämlich, welche jedesmal, wenn sie sich hören läßt, mir von etwas abredet, was ich tun will“.5 Hintergrund dessen ist die Frage, ob der Mensch zur Wahrheit fähig ist – sie wird von Sokrates bekanntlich gegen die Sophisten bejaht, welche annahmen, der Mensch selbst schaffe sich seine Maßstäbe.6 Seit Sokrates steht die Frage nach dem Gewissen demnach in engster Verbindung mit der Frage nach der Wahrheit. Den Gedanken führt die Gewissenslehre der stoischen Philosophie weiter. Sie bezeichnet das Phänomen des sokratischen daimonion nun als „Gewissen“ (conscientia) und erblickt darin einen „geheiligte(n) Geist . . . (als einen) Beobachter und Wächter unserer schlechten und guten Taten“.7 Maßstäbe dafür, was gut und was schlecht ist, enthalten die (objektiven) Gesetze des logos. An ihnen hat der die Weisheit Liebende und nach ihr Strebende – eben der Philosoph – durch sein MitWissen (con-scientia) Anteil. Führt der Mensch ein dem entsprechendes Leben (secundum naturam vivere), gelangt er zum Einssein mit sich selbst und damit zum Zielpunkt seines Lebens überhaupt – zum Glück. 2. Scholastische Philosophie Die stoische Konzeption hat sich in den folgenden Jahrhunderten auch unter christlichen Vorzeichen als überaus wirkmächtig erwiesen.8 Herausragende Bedeutung hat insbesondere die Lehre der scholastischen Philosophie erlangt, die klassisch von Thomas von Aquin dargelegt worden ist.9 Demnach umfaßt der Begriff des Gewissens zwei einerseits voneinander zu unterscheidende, gleichwohl aufeinPlaton, Des Sokrates Verteidigung (Apologie), 31 c-e. Zu dieser Auseinandersetzung Pieper, Kümmert euch nicht um Sokrates, 1966. 7 So Lucius Aennaeus Seneca, Epistulae morales ad Lucilium 41, 2. 8 Zu den geistesgeschichtlichen Verbindungslinien Stelzenberger, Die Beziehungen der frühchristlichen Sittenlehre zur Ethik der Stoa, 1933 (Nachdruck 1989). 9 Näher Reiner, in: Ritter, Historisches Wörterbuch der Philosophie III, 1974, Sp. 582 f.; Ratzinger, in: ders., Vom Wiederauffinden der Mitte, 1997, S. 279 ff.; aus staatsphilosophischer Perspektive ferner Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, 2. Aufl. 2006, S. 256 ff. 5 6
Geistesgeschichtliche Grundlagen der Gewissensfreiheit
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ander bezogene Ebenen, synderesis und conscientia. Die erstgenannte betrifft die seinshafte (ontologische) Qualität des Menschen, letztere den auf das konkrete Handeln bezogenen Urteilsakt. Anders gewendet, bezeichnet synderesis den Habitus, conscientia den jeweiligen Akt. Obwohl sich der Habitus aus den Weisungen der lex naturalis (die letztlich ihre Quelle in Gott haben und somit unverrückbar und irrtumsfrei sind) speist, kann dennoch der einzelne Akt irrtumsbehaftet sein. An dieser Stelle des denkbaren Bruches zwischen beiden Ebenen setzt die berühmte (nicht selten missverstandene) Lehre vom „irrenden Gewissen“ an: Thomas von Aquin erklärt es als solches für bindend, um freilich sogleich hinzuzufügen, daß das dem Gewissen folgende Handeln keine hinreichende Bedingungen für die ethisch „gute“ Qualität der entsprechenden Handlung ist.10 Kurz gefaßt: Dem Gewissen muß man stets folgen, auch dann, wenn es irrt. Damit ist dem irrenden Gewissen keineswegs ein Blankett erteilt: Auf moralischer Ebene stellt sich dann die grundsätzlichere Notwendigkeit der rechten, an der Wahrheit ausgerichteten Bildung des Gewissens. In rechtlicher Hinsicht hat der Betreffende die jeweils verwirkten Sanktionen hinzunehmen. Mit Gewissensfreiheit im modernen Sinne hat die Konzeption somit recht wenig gemein, wiewohl spätere Epochen auf die Gedanken zurückgegriffen haben.
3. Entscheidende Wende in der neuzeitlichen Philosophie Betonte die philosophische Reflexion in Antike und Mittelalter die objektive Dimension des Gewissens, offenbart sich seit Beginn der Neuzeit zunehmend eine Wende zum Subjekt hin. Erst damit stellt sich in aller Schärfe die Problematik der „Freiheit“ des Gewissens. Freilich schöpft auch die Neuzeit aus den überlieferten Quellen, indem sie teils dezidiert mit christlichen Gedanken argumentiert, diese teils auf das ihr „vernunftgemäß“ Erscheinende reduziert. Philosophischer und theologischer Diskurs stehen nicht unvermittelt nebeneinander, in der sachlichen wie polemischen Auseinandersetzung löst sich der philosophische Diskurs – selbst in der Ablehnung – nicht von seinem kulturellen, christlichen Entstehungshintergrund ab. Die frühneuzeitliche (Staats-)Philosophie sieht sich vor die Frage gestellt, wie das individuelle Gewissen im sich herausbildenden neuzeitlichen (Territorial- und National-)Staat Berücksichtigung finden kann, der im Zeitalter der Glaubensspaltung durch Konfessionsauseinandersetzungen und -kriege erschüttert ist. Eine einflußreiche und – auch in der langfristigen Perspektive – wirkmächtige, von Thomas Hobbes repräsentierte Richtung propagiert eine eindeutige Parteinahme: die Apotheose des Staates.11 Hier wird die politische Frage der Friedenserhaltung über die 10 Deutlich wird dies bei Thomas von Aquin schon in der Gliederung der Summa theologiae I-II, quaestio 19: An articulus 5 („Muß man einem irrigen Gewissen folgen?“) wird sogleich articulus 6 („Genügt es, seinem Gewissen zu folgen, um gut zu handeln?“) angeschlossen.
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Frage nach der religiösen Wahrheit gestellt, sämtliche politischen wie kirchlichen Rechte sollen sich in der einen Hand des – notabene christlichen – Souveräns vereinigen. Diesem Souverän und seinen Gesetzen als „öffentliches Gewissen“ schuldet der Untertan absoluten Gehorsam. Somit verbleibt für ein „privates Gewissen“ (und damit für die Gewissensfreiheit) kein Raum mehr. Daß die Hobbes’sche Konzeption mitnichten die einzig denkbare Lösung in den Wirren der religiösen Bürgerkriege war, offenbaren die nahezu zeitgleich und vor dem identischen historischen Hintergrund angestellten, inhaltlich indes gänzlich verschiedenen Überlegungen der Levellers.12 Bei ihnen finden sich entscheidende Argumente grundgelegt, die den weiteren philosophischen Diskurs angeregt und befruchtet haben: William Walwyn argumentiert prinzipiell-theologisch mit der den einzelnen treffenden, sich aus der geoffenbarten Schrift ergebenden Pflicht, selbst seinen Glauben zu bilden und zu leben. Eine derartige religiöse Toleranz führe – entgegen der Annahme von Hobbes – nicht zu politischem Aufruhr und zur Schwächung des Staates, sondern im Gegenteil zu dessen Befriedung. Zum staatstheoretischen tritt noch ein pragmatisches Argument: Lasse man verschiedene Bekenntnisse nebeneinander gewähren, ermögliche der Wettstreit unter ihnen das Auffinden der Wahrheit. 4. Philosophie der Aufklärung Verbreitung und Zuspitzung erfahren diese Gedankengänge in der Philosophie der „Aufklärung“. Mit ihr wird sowohl eine Epoche wie (als Sammelbezeichnung) eine Geistesströmung bezeichnet, deren Leit- und Schlüsselbegriff im hier relevanten Zusammenhang derjenige der „Toleranz“ ist. Damit verbunden ist der Kampf gegen alles, was als religiöse Bevormundung empfunden wird. Als deren Ursache erscheint fast durchweg der fehlende Gebrauch der Vernunft (welche nun, die neuzeitliche Wende zum Subjekt verschärfend und in der Sache vielfach recht einseitig, gegen den Glauben gewendet wird). Grosso modo verlaufen die generellen Linien aufklärerischer Kritik und Polemik wohl gegen Offenbarung, Kirche und Dogma, aber in der Mehrheit nicht gegen Religion. Bei aller Ablehnung religiöser Orthodoxie jeglicher Provenienz steht als Ideal das Postulat einer vom „Aberglauben“ gereinigten „natürlichen“ (oder: „Vernunft-“)Religion vor Augen. Den meisten Aufklärern gilt die überlegene Bedeutung des Christentums als ausgemacht,13 wie sie überhaupt überwiegend Christen waren und sich als solche verstanden.14 Thomas Hobbes, Leviathan, 1651, Kap. 42. Näher Forst, Toleranz im Konflikt, 2003, S. 232 ff. 13 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 1748, 24. Buch, Kap. 3-6. 14 Montesquieu sah sich als christlicher Deist (s. Vom Geist der Gesetze, 1. Buch, Kap. 1 sowie 24. Buch, Kap. 10); Rousseau bekannte im Brief an de Beaumont sein deistisches Credo („Ich bin Christ nicht als ein Schüler der Priester, sondern als ein Schüler Jesu 11 12
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Argumentieren diese Philosophen zugunsten der Freiheit des Gewissens (welche auch diejenige des Glaubens umfaßte), lassen sich bei ihren Begründungsansätzen im Kern zwei Linien unterscheiden, von denen die eine mehr intersubjektiv-moralisch, die andere mehr staatsphilosophisch akzentuiert ist:15 – Erstere verweist, ähnlich dem Argumentationsduktus im frühen Christentum, sehr prinzipiell darauf, daß allein Gott über den wahren Glauben richten könne.16 Da sich jeder Mensch selbst vor Gott für sein Handeln verantworten müsse, könne ihm niemand – auch nicht der Staat im Wege der Delegation – diese Sorge abnehmen.17 Ergänzend hinzu tritt der pragmatische Gedanke, daß der Glaube nur auf friedlichem Weg, durch Überzeugen, verbreitet werden könne. Die Wahrheit setze sich von selbst durch und benötige keinen Zwang,18 umgekehrt führe der erzwungene Glaube zur Heuchelei, schlimmstenfalls zum Unglauben. – Die zweite Argumentationslinie betont den gesellschaftlichen Nutzen, der entstehe, wenn die Angehörigen der verschiedenen Bekenntnisse nach ihrem Gewissen leben können und darum wetteiferten, die besseren Angehörigen des Staates zu sein.19 Die Früchte der Gewissensfreiheit seien politischer Friede20 und ökonomische Wohlfahrt.21 Dabei erachten auch aufklärerische Philosophen überwiegend die Religion für notwendig – und zwar um des Staates und der Gesellschaft willen: Religion erhalte und befördere die Moral,22 die Bestimmung der Kirche sei die einer Moralanstalt. Unter dieser Prämisse gilt der Atheist geradezu als Staatsfeind, dem keine Gewissensfreiheit zuzubilligen ist.23
Derartige Positionen lassen deutlich werden, daß auch die Philosophie der Aufklärung noch nicht die Freiheit des Glaubens und des Gewissens im Sinne des Christi“); Voltaire verstand sich gleichfalls als Deist, erfüllte indes seine religiösen Verpflichtungen als Katholik. 15 Umfassende Systematisierung der Ansätze bei Forst (Fn. 12), S. 533 ff.; s. ferner Fritsch, Religiöse Toleranz im Zeitalter der Aufklärung, 2004. 16 Rousseau, in: Ritter, Rousseau, Schriften I, 1978, S. 346; weitergehend die „Ringparabel“ bei Lessing, Nathan der Weise: Nicht einmal mehr Gott vermag unter den drei Ringen den richtigen zu erkennen. 17 John Locke, A Letter concerning Toleration (dt. Übersetzung von Ebbinghaus), 1996, S. 13 ff., 83. 18 Voltaire, in: Mensching, Voltaire, Recht und Politik I, 1978, S. 164. 19 Montesquieu, Persische Briefe 1721, Brief Nr. 85. 20 Locke (Fn. 17), S. 109; Voltaire (Fn. 18), S. 165. 21 Voltaire, ebd., S. 242 ff., unter Hinweis auf die Nachteile der Vertreibung der Hugenotten aus Frankreich. 22 Den Gedanken artikuliert selbst Mendelssohn, in: Thom, Schriften über Religion und Aufklärung, 1989, S. 380 f. 23 Bereits Locke (Fn. 17), S. 95; dezidiert vor allen Voltaire (Fn. 18), S. 227: ein Atheist sei „nicht minder eine Geißel der menschlichen Gesellschaft als ein blutdürstiger Sklav des Aberglaubens“.
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modernen, freiheitlichen Verfassungsstaates verfochten und erstrebt hat. Gewiß wirkten einzelne Begründungselemente katalysatorisch auf spätere Entwicklungsphasen ein. Indes bleiben nicht wenige, fundamentale Widersprüche24 bei den führenden Protagonisten: So zeigt sich gerade bei Rousseau eine kaum zu harmonisierende Divergenz zwischen der Betonung der Subjektivität des Gefühls auf der einen und der Propagierung einer nahezu schon totalitären „Zivilreligion“25 auf der anderen Seite. Die von den meisten Autoren verfochtene Freiheit des Gewissens ist überaus selektiv, von ihr soll nicht nur der fehlende, sondern auch der „falsche“ (weil „unaufgeklärte“) Glaube ausgenommen sein.26 Nicht selten gebärdete sich der Kampf gegen die Dogmatik selbst dogmatisch, wenn die Vernunftreligion als „heilige und einzige Religion“27 ausgerufen und der „Fanatismus der Toleranz“28 herausgestellt wurde. Bereits Zeitgenossen hatten diese und weitere Widersprüche in aller Schärfe herausgearbeitet. So bietet die Philosophie der Aufklärung beides: Zukunftstragende Gedanken für die Entwicklung von Glaubens- und Gewissensfreiheit im freiheitlichen Staat, aber auch ein hinreichendes Arsenal für Erziehungsdiktaturen verschiedenster Ausrichtung. 5. Deutscher Idealismus Eine abermalige, wirkmächtige Zuspitzung erfährt die neuzeitliche Wende zum Subjekt in der ersten Phase des deutschen Idealismus. In seiner Moralphilosophie entfaltet Immanuel Kant den zentralen Gedanken der sittlichen Autonomie des einzelnen. Dabei weist er dem Gewissen die Rolle eines „inneren Gerichtshofs im Menschen“ zu.29 Der berühmte „kategorische Imperativ“ („Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte“30) eröffnet dem einzelnen die Freiheit, seine Verhaltensnormen autonom zu entwickeln. Bezugspunkt bei Kant ist indes die sittliche Verantwortlichkeit, wobei er das Problem einer Divergenz von Rechtsgebot und Gewissenspflicht durchaus gesehen hat: „Die Pflichten nach der rechtlichen Gesetzgebung können nur äußere Pflichten sein, weil diese Gesetzgebung nicht verlangt, daß die Idee dieser Pflicht, welche innerlich ist, für sich selbst Bestimmungsgrund der Willkür des Handelnden sei.“31 Anders gewendet, gebietet nach Kant das Recht 24 Zu ihnen eindrucksvoll Koselleck, in: Trutz Rendtorff, Glaube und Toleranz, 1982, S. 256. 25 Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 1762, 4. Buch, 8. Kapitel. 26 Eingehend Hentges, Schattenseiten der Aufklärung, 1999, S. 31 ff., insbes. S. 38 ff.; s. ferner Brumlik, Deutscher Geist und Judenhaß, 2000. 27 Voltaire, in: Kritische und satirische Schriften, 1970, S. 485. 28 Nachw. bei Forst (Fn. 12), S. 364 Fn. 19. 29 Kant, Metaphysik der Sitten, 1797, Tugendlehre, Einleitung XII b und § 13. 30 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 1788, Erstes Hauptstück, I. (Von der Deduktion), § 7. 31 Kant (Fn. 28), Rechtslehre, Einleitung in die Metaphysik der Sitten, III.
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dem einzelnen unabhängig von der Akzeptanz durch Gewissen. Einer individuellen Gewissensfreiheit heutigen Verständnisses redet auch er nicht das Wort. Zukunftsweisende Wirkung kommt demgegenüber seiner Autonomie-Konzeption unter einem anderen Aspekt zu: Die Gewissensüberzeugung eines jeden hat Anspruch auf gleiche Achtung.32 Diese Vorstellung von einer gleichberechtigten moralischen Kompetenz aller führt in ihrer Konsequenz zu einem Anspruch auf Mitbestimmung und Mitentscheidung und damit in staatstheoretischer Hinsicht zur Demokratie.33 Von beträchtlicher Ausstrahlung auf das Verständnis von Gewissen und Gewissensfreiheit hat sich gerade in Deutschland das Gedankengebäude von Hegel erwiesen.34 Er unterscheidet35 zwischen einer Idee des Gewissens und dem Gewissen eines konkreten Individuums: Ersteres ist das „wahrhafte Gewissen“ („das, was an und für sich gut ist, zu wollen“), das letztere „nur die formelle Seite der Tätigkeit des Willens“. Hegels bekannte und vielzitierte Formel vom Gewissen als „Heiligtum, welches anzutasten Frevel wäre“, bezieht sich allein auf die „Einheit des subjektiven Wissens und dessen, was an und für sich ist“. Denn das „formelle“ Gewissen muß sich am „wahren“ Gewissen messen lassen: Ob „das Gewissen eines bestimmten Individuums der Idee des Gewissens gemäß ist, ob das, was es für gut hält oder ausgibt, auch wirklich gut ist, dies erkennt sich allein aus dem Inhalt dieses Gutseinssollenden.“ Das Spannungsverhältnis zwischen Gesetz und Gewissen löst Hegel also zugunsten des Gesetzes auf. Er scheut sich dabei nicht, die Konsequenz für die Existenz der Gewissensfreiheit in aller Offenheit zu ziehen: „Der Staat kann deswegen das Gewissen in seiner eigentümlichen Form, d. h. als subjektives Wissen, nicht anerkennen“. Diese Konzeption hat neben Gefolgschaft und Einfluß auch vernichtende Kritik erfahren36. 6. Ansatz im zeitgenössischen philosophischen Diskurs in Deutschland Bemerkenswerte Überlegungen hat in der gegenwärtigen Reflexion Habermas angestellt: Den „egalitäre(n) Universalismus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben, von autonomer Lebensführung und Emanzipation, Kant, ebd., Einleitung in die Rechtslehre, Einteilung der Rechtslehre. Näher zu den „demokratietheoretischen Folgerungen“ Zippelius, in: Bonner Kommentar zum GG, 1989, Art. 4 Rn. 13 ff. 34 Eingehend Marcic, Hegel und das Rechtsdenken im deutschen Sprachraum, 1970, insbes. S. 55 ff.; kurze und pointierte Würdigung bei Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 1962, S. 179. 35 Zum folgenden Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, § 137. 36 Schonungslos vor allem Welzel (Fn. 34), S. 179 „Ein Gewissen, das nicht ein subjektivindividuelles, sondern ein objektiv-allgemeines ist, ist ein Widerspruch in sich selbst.“ Weiter: Hegel lasse das Gewissen „im Meere der substantiellen Allgemeinheit, nämlich im Staate untergehen“. 32 33
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von individueller Gewissensmoral, Menschenrechten und Demokratie entsprungen sind“, charakterisiert er „unmittelbar (als) Erbe der jüdischen Gerechtigkeits- und der christlichen Liebesethik“. Von diesem in seiner Substanz unveränderten Erbe zehre nicht nur die moderne Gesellschaft, es gebe zu ihm auch keine Alternative.37 In ihrer politischen Dimension sieht Habermas in der grundrechtlichen Gewährleistung der Glaubens- und Gewissensfreiheit die Legitimation für die Gläubigen, ihre religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen auch im politischen Diskurs geltend zu machen.38 Den größeren Rahmen bildet bei Habermas ein komplementärer Lernprozeß in der „postsäkularen Gesellschaft“: Einerseits müsse die Religion von den Regeln eines liberalen und demokratischen Staates, dieser seinerseits aber auch von der Religion lernen.
II. Gewissen und Gewissensfreiheit im theologischen Diskurs 1. Prägende Unterscheidung von weltlicher und geistlicher Gewalt Die Gewissens- wie die Glaubensfreiheit heutigen Zuschnitts hat sich in Deutschland und Europa in einem langen Prozeß des Ringens zwischen weltlicher und geistlicher Macht herausgebildet. Maßgeblicher geistlicher Akteur war dabei das Christentum; für die geistesgeschichtliche Auseinandersetzung und Begründung spielen andere Religionen keine ins Gewicht fallende Rolle. Für das Christentum charakteristisch und prägend ist dabei eine Spannungslage zwischen weltlich-staatlicher und geistlich-kirchlicher Macht, die schon im Neuen Testament aufscheint.39 Jedenfalls im lateinisch geprägten Westen bildet sie eine durchgehende Konstante in der historischen Entwicklung: Wohl sind weltliche Macht und Kirche seit dem Konstantinischen Zeitalter eng verbunden, was dann im Mittelalter im Leitbild des unum corpus Christianorum kulminiert. Doch diese Einheitsvorstellung ist im Unterschied zum vorchristlichen Römischen Weltreich wie zum oströmischen Kaiserreich (erst recht zum Islam) nicht identitär, sondern bipolar. So ist das gesamte Mittelalter vom Grundkonflikt zweier christlicher Ordnungsgrößen mit jeweils universalem Anspruch durchzogen – der „Heiligen Römischen Kirche“ und dem „Heiligen Römischen Reich“.
Habermas, in: ders., Zeit der Übergänge, 2001, S. 174 f. Habermas, in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion, 2005, S. 119 ff., dabei insbes. Auseinandersetzung mit der Konzeption von Rawls, A Theory of Justice, 1971, §§ 33 ff. 39 Mt 22, 15-22; Mk 12, 13-17; Lk 20, 20-26 („Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“, sog. Zinsgroschenparabel); sowie einerseits Apg 5,29 („Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen“) und andererseits Röm 13, 1-7 („Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den schuldigen Gehorsam“). 37 38
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2. Christlicher Humus der Gewissensfreiheit Die Frage nach einer (gegen die weltliche Macht gerichteten) „Freiheit“ des Gewissens (worunter auch der Glauben gefaßt wurde) stellt sich letztlich erst in der Neuzeit, zumal seit dem Zeitalter der Glaubensspaltung. Gleichwohl wurden bereits in der Spätantike von christlichen Autoren Gedanken entwickelt, welche die Frage von theologischer Warte her beleuchten. Nun haben diese Gedanken im historischen Verlauf in ganz unterschiedlichem Ausmaß auch praktische Beachtung gefunden; es ist hilfreich, generell zwischen christlich geprägtem Gedankengut, den Lehraussagen und Handlungsanweisungen christlicher Institutionen und schließlich der tatsächlichen geübten Praxis zu unterscheiden. Bei allen Irrungen und Wirrungen, Verwerfungen und widerstrebenden Entwicklungslinien ist indes der Befund unabweisbar, daß der Gedanke der Gewissensfreiheit auf christlichem Humus entstanden ist:40 In den vom Christentum geprägten Ländern Europas und Nordamerikas, gefordert und erstritten von Christen, gestützt mit christlich inspirierten Argumenten (freilich auch, teilweise erbittert, bekämpft von christlichen Institutionen). Der Kontrast zeigt sich deutlich, betrachtet man die Thematik in universaler Perspektive: In keiner anderen Weltreligion und in keiner anderen Weltregion wurde über die Freiheit des Glaubens und Gewissens eine vergleichbar lang andauernde wie tiefgehende intellektuelle Reflexion angestellt und diese letztlich in vergleichbarem Umfang realisiert.41 3. Theologische Begründungsansätze der Freiheit des Gewissens (wie des Glaubens) Die theologische Reflexion setzt bereits in der Frühzeit des Christentums ein. Prominente christliche Autoren wie Tertullian und Laktanz42 verfechten – mit durchaus naturrechtlicher Begründung – die Notwendigkeit der freien Gesinnung bei der Gottesverehrung. Der zeitgenössische Hintergrund dabei ist evident; es ging ihnen darum, der weltlichen Macht (dem heidnischen Rom) Einwirkungsrechte auf das individuelle Gewissen abzusprechen. Die in jener Epoche grundgelegten Argumente werden auch in späteren Zeiten aufgegriffen und lassen sich in zwei Begründungsansätze strukturieren, von denen der eine anthropologisch-individuellen, der andere geistlich-strukturellen Charakter aufweist: – Nach christlicher Glaubenslehre hat Gott den Menschen als freies Wesen geschaffen und ihn mit einem freien Willen ausgestattet. Gott hat, endgültig in 40 Eine abgewogene Bilanz des christlichen Erbes hat unlängst Angenendt, Toleranz und Gewalt, 2007, passim, insbes. S. 122 ff., 190 ff., 232 ff., 391 ff., 460 ff., vorgelegt. 41 Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, 1991, S. 119 ff., 133 ff., 229 ff.; ferner wichtig Mitterauer, Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, 2003, S. 152 ff. 42 Näher Lecler, Geschichte der Religionsfreiheit im Zeitalter der Reformation I, 1965, S. 94 ff.
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Jesus Christus, dem Menschen seinen Bund angeboten, um ihn auf ewig zu retten. Dies will Gott freilich mit und nicht ohne (oder gar gegen) den Menschen erreichen. Dann aber wäre es ein Selbstwiderspruch Gottes, wollte er den von ihm frei geschaffenen Menschen mit Zwang oder Gewalt zu sich führen. Er will vielmehr, daß sich der Mensch aus freien Stücken ihm zuwendet und die Antwort auf den Ruf Gottes – den Glauben – als eigene und freie Entscheidung gibt. Kurz: Der erzwungene Glaube hat vor Gott keinen Wert. – Hinsichtlich des Glaubens – erst recht des Gewissens – verfügt die weltliche Macht nach christlicher Überzeugung über keinerlei Bestimmungsbefugnis: „Mein Königtum ist nicht von dieser Welt.“43 Die Kirche der Spätantike verwahrt sich wiederholt gegen die Bestrebungen des bereits christlich gewordenen (west)römischen Kaiserreiches zur Regelung genuin kirchlicher Angelegenheiten, dezidiert und historisch nachwirkend in der von Papst Gelasius I. (492 – 496) formulierten Zwei-Schwerter-Lehre.44
4. Gegenläufige Positionsbestimmungen in Theologie und Kirchenpraxis Unbeschadet ihrer theologischen Stringenz vermochten diese Begründungsansätze über Jahrhunderte hindurch nicht immer auch die Praxis zu bestimmen und zu prägen. Vielmehr brach sich vielfach, zumal unter den Vorzeichen einer christlich mutierten weltlichen Macht, die Versuchung Bahn, geistliche Zielsetzungen mit weltlichen Mitteln durchzusetzen. Sowohl für die ursprüngliche wie für die entgegengesetzte Sicht wurde das Neue Testament herangezogen – auf der einen Seite das Gleichnis vom Unkraut und vom Weizen („Laßt beides wachsen bis zur Ernte“),45 auf der anderen Seite das Gleichnis vom Festmahl („Nötige die Leute zu kommen“).46 Überdies firmierte bis weit in die Neuzeit hinein der Staat als weltlicher Arm (bracchium saeculare) der Kirche, der es – freilich im Zuge zunehmender Säkularisierungsprozesse – als seine ureigene Aufgabe ansah, mit weltlichen Mitteln sicherzustellen, daß seine Untertanen die wahre Religion beobachteten.47 Diesen engen Konnex mit dem Staat aufzugeben, vermochten sich die christlichen Kirchen lange nicht durchzuringen: Wohl hatte das kanonische Recht seit dem frühen 12. Jahrhundert den urchristlichen Grundsatz, demzufolge niemand zum Glauben gezwungen werden dürfe (ad fidem nullus est cogendus) zum Rechtssatz erhoben.48 Der einzelne war damit vor So die Worte Christi gegenüber dem römischen Statthalter Pontius Pilatus (Joh 18, 36). Abdruck bei Rahner, Kirche und Staat im frühen Christentum, 1961, S. 255 ff. 45 Mt 13, 24-30. 46 Lk 14, 16-24. 47 Hierzu der bekannte wie bedeutende Aufsatz von Böckenförde, in: ders., Der säkularisierte Staat, 2007, S. 43. 48 Gratian, Decretum, pars II, c. 23 q. 5, c. 33. – Ebenso die großen kirchenrechtlichen Kodifikationen des 20. Jahrhunderts: can. 1351 CIC / 1917 sowie can. 748 § 2 CIC / 1983. 43 44
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der zwangsweisen Beeinflussung seines Gewissens geschützt, rechtliche Nachteile im Sozialverband hatte er aber hinzunehmen. Die Gewissensfreiheit im Sinne eines staatsgerichteten Abwehrrechts war gerade nicht gewährleistet. Im Gegenteil: Mit der Erwägung, daß allein die Wahrheit, nicht aber der Irrtum ein (auch und gerade vom Staat zu schützendes) Existenzrecht besäße, hat sich namentlich das kirchliche Lehramt im 19. Jahrhundert prononciert gegen die Gewährung dieser Rechtspositionen durch den Staat gewandt.49 Bemerkenswert freilich ist, daß gerade im gemischtkonfessionellen Deutschland die diametral entgegen gesetzte Position artikuliert wurde: Frhr. von Ketteler, seit 1850 Bischof von Mainz (und sowohl Abgeordneter des Paulskirchenparlaments 1848 / 49 wie des Reichstags 1871), propagierte die von der Staatsgewalt zu gewährende „volle Religionsfreiheit“.50
5. Theologische und lehramtliche Konzeption seit dem II. Vatikanischen Konzil Die Auseinandersetzungen speziell des 19. Jahrhunderts sind heute historische Reminiszenz. Von Seiten der christlichen Theologie erfährt die Idee der Glaubensund Gewissensfreiheit inhaltliche Bekräftigung und praktische Unterstützung. Schlüsseltext für die Katholische Kirche51 ist die vom II. Vatikanischen Konzil am 7. Dezember 1965 verabschiedete „Erklärung über die Religionsfreiheit“ (Dignitatis Humanae).52 Darin greift die Kirche den ursprünglichen Gedanken vom Wert des freien und der Wertlosigkeit des erzwungenen Glaubens abermals auf und verankert überdies die Freiheit des Glaubens und des Gewissens dezidiert in der „Würde der menschlichen Person“.53 Konsequenterweise hat sich die Kirche in den vergangenen Jahrzehnten weltweit als engagierte Fürsprecherin der Glaubensund Gewissensfreiheit profiliert.54 Gegenüber den vorgängigen lehramtlichen Ver49 Maßgebliche Dokumente: Pius VI., Breve Quot aliquantum vom 10. März 1791; Gregor XVI., Enzyklika Mirari vos vom 15. August 1832; Pius IX., Enzyklika Quanta cura vom 8. Dezember 1864 (im Anhang: Syllabus errorum – Zusammenstellung zeitgemäßer Irrtümer); abgeschwächt bereits Leo XIII., Enzyklika Libertas praestantissimum vom 20. Juni 1888. – Eingehende Darstellung und Analyse: Isensee, Keine Freiheit für den Irrtum, ZRG 104 Kan. Abt. 73, 1987, 296. 50 Frhr. von Ketteler, Freiheit, Autorität und Kirche, 1862, S. 132 ff. – Zusammenfassend Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht, 2005, S. 164 ff. 51 S. zum Diskurs in der protestantischen Theologie Heckel, in: ders., Gesammelte Schriften II, 1989, S. 1159 ff.; Robbers, in: Merten / Papier, HGR I, 2004, § 9 Rn. 27 ff., 31 ff., 41 ff. 52 Abdruck: AAS (= Acta Apostolicae Sedis) 58 (1966), 929. – Die Erklärung handelt ausdrücklich von der Religionsfreiheit, indessen lassen sich die Erwägungen mutatis mutandis auch auf die Gewissensfreiheit übertragen. 53 II. Vatikanisches Konzil, Erklärung Dignitatis Humanae, Nr. 2 sowie 9. 54 Dazu Wuthe, Für Menschenrechte und Religionsfreiheit in Europa. Die Politik des Hl. Stuhls in der KSZE / OSZE, 2002; zur prominenten Bedeutung in der kirchlichen Soziallehre s. Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre der Kirche, 2006, Tz. 97, 155.
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urteilungen stellt die auf dem II. Vatikanischen Konzil eingenommene Position – Verabschiedung eines „Rechts der Wahrheit“ und Zuwendung zu einem „Recht der Person“ – eine „Kopernikanische Wende“ dar.55 Nicht minder bedeutsam ist in staatsrechtlicher wie staatstheoretischer Perspektive die (wohl endgültige) Absage an eine Vermischung von geistlicher und weltlicher Macht in Glaubens- und Gewissensfragen: Die Kirche trennt – anders als noch im 19. Jahrhundert56 – unzweideutig zwischen moralischer Wahrheit und rechtlicher Freiheit. Indem sie erstere (unverändert) für sich in Anspruch nimmt57 und letztere bejaht, ist früheren Verschränkungen in Gestalt des Mechanismus der weltlichen Durchsetzung religiöser Wahrheit der Boden entzogen. In der Sache wird der tradierte Grundsatz, demzufolge niemand gegen seinen Willen zur Annahme des Glaubens gezwungen werden dürfe,58 bekräftigt und dahin geweitet, daß allen Menschen und Gemeinschaften „das bürgerliche Recht“ zukommen muß, „daß sie nach ihrem Gewissen leben dürfen und nicht darin gehindert werden“.59 Die Religionsfreiheit ist sowohl Recht der (einzelnen) Person wie der religiösen Gemeinschaften. Für die staatsrechtliche Ordnung fordert die Erklärung den Erlaß entsprechender Gesetze sowie den Einsatz anderer geeigneter Mittel, um auch die tatsächliche Ausübung der Religionsfreiheit zu gewährleisten. Die Wertigkeit des Rechts kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, daß die Kirche es für alle Bürger und religiöse Gemeinschaften auch dort fordert, wo lediglich eine religiöse Gemeinschaft in der staatlichen Rechtsordnung eine besondere Anerkennung genießt.60
III. Folgerungen für den freiheitlichen Verfassungsstaat Das Phänomen „Gewissen“ ist (ebenso wie das des Glaubens) eine fundamentale anthropologische Gegebenheit. Mit der rechtlichen Gewährleistung, ein solches überhaupt haben zu können und nach seinen Geboten handeln zu können,61 nimmt 55 Isensee, ZRG 104 Kan. Abt. 73, 1987, 336. – Ferner Uertz (Fn. 50), S. 480 ff.; Listl, Kirche und Staat in der neueren katholischen Kirchenrechtswissenschaft, 1978, S. 208 ff.; sowie der 1965 erschienene Beitrag von Böckenförde, in: ders., Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit, 2007, S. 197. 56 Rhonheimer, in: ders., Verwandlung der Welt, 2006, S. 119. 57 Dazu II. Vatikanisches Konzil, Erklärung Dignitatis Humanae, Nr. 1. 58 Siehe bereits oben Fn. 48, nunmehr: II. Vatikanisches Konzil, Erklärung Dignitatis Humanae, Nr. 10; ferner Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche Ad Gentes, Nr. 13. 59 II. Vatikanisches Konzil, Erklärung Dignitatis Humanae, Nr. 13. 60 II. Vatikanisches Konzil, Erklärung Dignitatis Humanae, Nr. 6. – Um die Dimension des Passus recht würdigen zu können, ist zu bedenken, daß im Zeitpunkt der Verkündung der Erklärung der Katholizismus noch in zahlreichen (auch europäischen!) Staaten Staatsreligion war. 61 Zu dieser – früher wie heute bestrittenen – Dimension der Gewissensfreiheit Bethge (Fn. 1), § 137 Rn. 14.
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es der Staat nicht nur einfach zur Kenntnis. Noch weniger liegt darin eine konstitutive „Zuerkennung“ jener Freiheit durch eine rechtlich verfaßte Gemeinschaft. Vielmehr wird durch die verfassungskräftige Verbürgung etwas Vorgegebenes in verbindliche Rechtsform gegossen: Ausgangs- wie Bezugspunkt einer Verfassungsordnung, die den Anspruch der Freiheitlichkeit erhebt, ist die menschliche Person. Damit ist zweierlei über das dergestalt konzipierte Gemeinwesen ausgesagt, in negativer Hinsicht die Absage an Staatszentriertheit und Staatsomnipotenz und in positiver Beziehung die Legitimität des gewissens- (wie glaubens-)geleiteten Handelns im öffentlichen Raum. Mit der Gewährleistung der Gewissens- wie der Glaubensfreiheit (einerlei, ob diese das „Urgrundrecht“ schlechthin darstellt)62 bringt der freiheitliche Verfassungsstaat zum Ausdruck, daß er sich selbst auf weltliche Angelegenheiten und Zwecke beschränkt. Um das Seelenheil seiner Bürger kümmert er sich ebenso wenig wie darum, ob sie im rechten Glauben sind oder über das richtige Gewissen verfügen. Er ist „sektoraler Staat“,63 für den der geistlich-religiöse Bereich von vornherein außerhalb seines Befugniskreises liegt. Seine Zielsetzung ist geradezu demütig: Er will in dieser sektoralen weltlichen Ordnung das gedeihliche Zusammenleben der Menschen organisieren, befriedend, regelnd, integrierend. Er nimmt den Menschen so, wie er ist, nicht, wie er – nach wessen Maßstäben auch immer – sein soll. Er weiß um die Grenzen seiner Möglichkeiten und überläßt die Schaffung eines neuen Himmels und einer neuen Erde anderen Instanzen. Gerade dadurch schafft der Staat Freiräume für den Menschen, um dessentwillen er besteht, und eröffnet ihm das weite Feld der Erprobung und Bewährung seiner Werte, sofern sie nicht schlechthin gemeinschaftsschädlich sind. Der Staat als solcher hat nicht nur kein Gewissen und keine Religion, er ist auch selbst nicht Religion oder deren Surrogat. Einer prominenten Formulierung des BVerfG zufolge ist der Staat „Heimstatt aller Staatsbürger“.64 Eben deshalb verbietet sich gleich wie die Staatsreligion auch die „Staatsweltanschauung“.65 Eine solche läge nicht erst dann vor, wenn der Staat zur Entwicklung, Verkündung und Durchsetzung eigener „Wahrheiten“ schritte. Da – wie bei allen Grundrechten – primärer Adressat auch der Gewissens- und Glaubensfreiheit der Staat ist, liegt darin zugleich die Möglichkeit begründet, daß die Faktoren „Gewissen“ und „Glauben“ im Einzelfall auch gegenüber dem Staat durchgreifen. Dies gilt für den engeren Bereich der persönlichen Lebensführung ebenso wie für den Bereich des Öffentlichen: Es ist geradezu Ausdruck eines freiheitlichen Staates wie einer offenen Gesellschaft, daß 62 So die bekannte These von Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 1919, S. 42 ff., bzgl. der Glaubensfreiheit; ähnlich Bethge (Fn. 1), § 137 Rn. 4, bzgl. der Gewissensfreiheit: „das erste Grundrecht im Sinne eines säkularen individuellen Freiheitsrechts“. 63 Isensee, in: ders. / Kirchhof, HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 15 Rn. 69, 75 ff. 64 BVerfGE 19, 206 (219). 65 Statt aller Mückl, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Bd. VII, 3. Aufl. 2009, § 155 Rn. 65.
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unterschiedlich fundierte und akzentuierte Positionen auf dem Forum der Öffentlichkeit dargeboten und in ihm wirksam werden können. Genau in dieser Offenheit für das legitime Wirken von Gewissen, Glauben und Religion über den rein privaten Bereich hinaus hebt sich der freiheitliche Verfassungsstaat entscheidend von den doktrinären Konzepten des Altliberalismus („Religion ist Privatsache“) wie des Totalitarismus („Religion ist Opium für das Volk“) ab. Speziell in seiner grundgesetzlichen Konzeption erfährt die Leitnorm der Verfassung ihre Bekräftigung: Die Würde des Menschen.66 Idee wie juridische Form der Gewissens- und Glaubensfreiheit sind noch in weit tiefer gehender Weise mit der verfassungsmäßigen Ordnung des Staates verflochten. Ihr Anspruch wie ihre Gewährleistung waren in Vergangenheit wie Gegenwart ein maßgebliches Moment für die Entwicklungen hin zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. In historischer Sicht illustriert namentlich die nordamerikanische Verfassungsentwicklung im ausgehenden 18. Jahrhundert eindrucksvoll den Zusammenhang zwischen der von der gewissens- und glaubensgeleiteten Ablehnung eines strikten Staatskirchentums im britischen Mutterland und der Konstituierung einer freiheitlich(er)en politischen Ordnung.67 Rechtliche Zubilligung wie praktische Verwirklichung der Gewissens- und Glaubensfreiheit entfalten überdies positive Rückwirkungen auf die Ebene der Gesellschaft. Alle Bürger genießen unabhängig von ihrem Glauben und Bekenntnis die gleichen Rechte und vermögen so Staat und Gesellschaft als die ihrigen zu betrachten. Konsequenz dieser erfahrbaren und erfahrenen Integration ist zum einen der politische und gesellschaftliche Friede, zum anderen die Bereitschaft der einzelnen Bürger, für Staat und Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen. Kurzum, die Gewissens- und Glaubensfreiheit befruchtet und stärkt die Werte der Gerechtigkeit und des Friedens. Sie zeitigt für die Gesellschaft insgesamt förderliche Auswirkungen: Dergestalt erfahren kontrovers geführte Sachdebatten, zumal in den Grenzbereichen menschlicher Existenz (etwa: Schutz des Lebens, Fragen der Bioethik) regelmäßig einen grundsätzlichen Zugriff, der vor allzu schnellen Machbarkeitslösungen des tagespolitischen Pragmatismus zu bewahren vermag.
Dazu zuletzt eingehend Isensee, AöR 131 (2006), 173. Theoretische Durchdringung bei de Tocqueville; dazu Novak, in: Rauscher, Die Bedeutung der Religion für die Gesellschaft, 2004, S. 71. 66 67
Bindung Privater an Grundrechte? Zur Wirkung der Grundrechte auf Privatrechtsbeziehungen Von Sebastian Müller-Franken
I. Fragestellung und Maßstab Die Höhepunkte der Auseinandersetzung um die Bindung Privater an Grundrechte liegen zurück. Nachdem das Bundesverfassungsgericht seine langjährige Rechtsprechung zur „Drittwirkung der Grundrechte“, womit dieses Thema nach wie vor umschrieben wird,1 zum Ende des vergangenen Jahrhunderts mit einem neuartigen Ansatz verbunden hat,2 hat sich in der Lehre eine im Wesentlichen einhellige Auffassung gebildet, auf deren Grundlage die Problematik seither im rechtlichen Alltag abgehandelt wird. In den grundsätzlichen Punkten ist die Diskussion jedoch nicht beendet. Die herrschende Meinung wird vielmehr immer wieder von Teilen der Wissenschaft in Frage gestellt.3 Es ist daher angezeigt, mit einem gewissen zeitlichen Abstand zur Neuausrichtung von Rechtsprechung und Mehrheitsmeinung in der Lehre den gefundenen Konsens auf seine verfassungsrechtliche Tragfähigkeit hin zu untersuchen.4
1 Für viele: Papier, in: Merten / ders., HGR, Bd. II, 2006, § 55 Rn. 1. Der Begriff „Drittwirkung der Grundrechte“ geht, soweit ersichtlich, zurück auf H. P. Ipsen, in: Neumann / Nipperdey / Scheuner, Die Grundrechte, Bd. II, 1954, S. 111, 143. 2 Leitentscheidung: BVerfGE 7, 198 ff. („Lüth“); aus jüngerer Zeit etwa BVerfGE 112, 332 ff. („Pflichtteilsrecht“); 114, 339 ff. („Stolpe“); Neuausrichtung: BVerfGE 81, 242 ff. („Handelsvertreter“); 89, 214 ff. („Bürgschaft“); Zusammenführung der beiden Ansätze: BVerfGE 103, 89 ff. („Eheverträge“). 3 Depenheuer, ThürVBl. 1996, 270 ff.; Isensee, Festschrift Kriele, 1997, S. 5 ff.; ders., Festschrift Großfeld, 1999, S. 485 ff.; ders., in: ders. / Kirchhof, HStR, Bd. V, 2. Aufl. 2000, § 111 Rn. 128 – 136; ders., DNotZ 2004, 754 ff.; Hillgruber, AcP 191 (1991), 69 ff.; ders., ZRP 1995, 6 ff.; Kempen, DZWir 1994, 502; Lerche, Festschrift Steindorff, 1990, S. 897 ff.; Roellecke, NJW 1992, 1653 ff.; Jestaedt, VVDStRL 64 (2005), 331 – 334; J. Ipsen, Staatsrecht II, 11. Aufl. 2008, Rn. 69. Neben den Einwänden aus dem Staatsrecht gibt es zum Teil massive Kritik auch aus dem Zivilrecht: Hager, JZ 1994, 373 ff.; Diederichsen, Jura 1997, 57 ff.; ders., AcP 198 (1998), 171 ff.; Windel, Der Staat 37 (1998), 385 ff. 4 Zur Forderung nach nicht nur einer einhelligen, sondern auch tragfähigen Auffassung in der Frage der Drittwirkung: Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, 1977, S. 387.
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Maßstab ist hierbei das Grundgesetz. Zwar kommt in Zeiten von Europäisierung und Internationalisierung grundrechtlichen Themenstellungen eine den nationalen Rahmen transzendierende Dimension zu, sei es durch Rezeption auswärtiger Standards, sei es durch die Verbreitung nationaler Grundsätze.5 Die „Extrovertiertheit“, die aufgrund dieser Zusammenhänge in der Herangehensweise gefordert wird,6 entbindet jedoch nicht davon, sich über den eigenen dogmatischen Standpunkt im Klaren zu sein. Dies nicht nur deshalb, weil die Öffnung des Grundgesetzes zu überstaatlichen wie auch internationalen Rechtsordnungen hin stets unter dem Vorbehalt steht, den Wesensgehalt der nationalen Grundrechtsordnung zu wahren.7 Sich über den eigenen Standpunkt zu vergewissern ist vor allem auch deshalb notwendig, weil die Grundrechtsdogmatik des Grundgesetzes überhaupt nur dann in der Lage ist, an dem geforderten „Dialog“ der verschiedenen Rechtsverständnisse teilzunehmen.
II. Unterscheidung von Normadressaten Die Fragestellung bezieht sich auf die Wirkung der Grundrechte für die privaten Rechtssubjekte untereinander; gemeint sind sowohl deren deliktische Zusammenstöße als auch ihre vertraglichen Rechtsbeziehungen. Sie ist damit ein Ausschnitt aus dem weitergreifenden Thema der „Wirkung der Grundrechte in der Privatrechtsordnung“, das zudem die Bedeutung der Grundrechte für die Gesetzgebung auf dem Gebiete des privaten Rechts miterfasst. Für diesen zweiten, weiter gehenden Bindungsaspekt hat sich unterdessen zu Recht die Ansicht durchgesetzt, dass die Rechtsetzung im Bereich des Privatrechts von der Bindung an die Grundrechte nicht ausgenommen werden kann. Auch die Privatrechtsgesetzgebung ist „Gesetzgebung“, und das Grundgesetz bindet diese staatliche Funktion generell an die Grundrechte; Sachbereichsausnahmen formuliert es nicht, Art. 1 Abs. 3 GG.8 Die Bindung des Gesetzgebers an Grundrechte ist dabei notwendig „unmittelbar“; Raum für eine (nur) „mittelbare“, d. h. über andere Normen vermittelte, Bindung, 5 Giegerich, EuGRZ 2004, 773; siehe auch Rengeling / Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004, Rn. 538. 6 Giegerich, EuGRZ 2004, 773. 7 Für das Gemeinschaftsrecht: BVerfGE 89, 155 (179); dazu: Lindner, Theorie der Grundrechtsdogmatik, 2005, S. 38 f.; Dederer, ZaöRV 66 (2006), 596 f.; für die Europäische Menschenrechtskonvention: BVerfGE 111, 307 (319); dazu: E. Klein, JZ 2004, 1777 f.; Mückl, Der Staat 44 (2005), 428; scharfe Kritik: Frowein, Liber amicorum Delbrück, 2005, S. 279 ff. 8 Diese Aussage findet sich bereits im „Lüth“-Urteil des BVerfG. Wenn es dort heißt, dass Recht, das gesetzt wird, nicht in Widerspruch zu den Grundrechten stehen dürfe, BVerfGE 7, 198 (205), so bedeutet dies, dass der Privatrechtsgesetzgeber an Grundrechte gebunden sein soll. Die jahrelange Diskussion über diese Frage ist also, jedenfalls was den Standpunkt des BVerfG anlangt, unnötig gewesen; umfassend dazu aus jüngerer Zeit: Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 22-28.
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wie dies über die Privatpersonen selbst hinaus9 verschiedentlich auch für die Gesetzgebung behauptet wird,10 kann es aus normtheoretischen Gründen nicht geben:11 Zwischen der Verfassung und dem parlamentarischen Gesetz besteht keine Rechtsschicht, der diese Vermittlungsaufgabe zufallen könnte. Auch eine im Vergleich zu anderen Bereichen eingeschränkte Bindung lediglich an die „erkennbaren allgemeinen Wertvorstellungen und Wertungen“,12 eine bloße „Ausstrahlungswirkung“ der Grundrechte13 u. ä. lässt sich nicht begründen.14 Inhaltlich hat sich die Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte zwar an die zu ordnende Materie, das Privatrecht, anzupassen, so dass sich die Wertungen, die hier vorzunehmen sind, von denen im öffentlichen Recht unterscheiden können;15 es ist etwas anderes, ob, wie etwa in zahlreichen Materien des Besonderen Verwaltungsrechts, im Allgemeininteresse grundrechtlich geschützte Freiheiten zu beschneiden oder aber, wie etwa im Familienrecht, mit dem Erziehungsrecht der Eltern und dem Recht auf Selbstbestimmung des Kindes zwei grundrechtlich geschützte Sphären einander zuzuordnen sind. Diese Verschiedenheit in der Themenstellung ändert jedoch nichts daran, dass die Grundsatzfrage einer Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte auf dem Gebiete des Privatrechts ohne eine Einschränkung in einem bejahenden Sinne geklärt ist. Umstritten ist allein die zweite Frage, die Wirkung der Grundrechte für die Privatpersonen „unter sich“.16 Mit der rechtstheoretischen Aussage, bei den Grundrechten handele es sich um „geltende“ Normen, die daher allein schon aus diesem Grunde auch von Privaten zu beachten seien,17 lässt sich das Problem nicht lösen. Eine Norm „gilt“, wenn sie den Anspruch erhebt, befolgt zu werden.18 Die Rechtsordnung besteht indes aus Rechtsverhältnissen und Rechtsbeziehungen zwischen jeweils verschiedenen Personen, woraus sich eine Relativität normativer GeltungsZu dieser Frage siehe unter IV.1. So noch Dürig, in: Maunz / ders., GG, Art. 3 Abs. I (1973) Rn. 506. 11 Lerche (Fn. 3), S. 905 mit Fn. 30; Dreier, Jura 1994, 509; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 254. 12 So etwa noch Kopp, Festschrift Wilburg, 1975, S. 141, 145, 147 – 149. 13 So heute noch Maurer, Staatsrecht, 5. Aufl. 2007, § 9 Rn. 40; Topos der „Ausstrahlungswirkung“ der Grundrechte „auf das bürgerliche Recht“: BVerfGE 7, 198 (207). 14 Zuletzt eingehend Poscher (Fn. 11), S. 203 – 210. 15 Pietzcker, Festschrift Dürig, 1990, S. 351 – 353; Jarass, AöR 110 (1985), 377 Fn. 76; Lerche (Fn. 3), S. 905 mit Fn. 30; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 92. Es gibt allerdings Bereiche, in denen öffentlich-rechtliche und privatrechtliche Normen austauschbar sind, dazu: Manssen, Privatrechtsgestaltung durch Hoheitsakt, 1994, S. 104 f. Hier unterscheiden sich die Abwägungen im Privatrecht nicht von denen im öffentlichen Recht. 16 So präzise Schäffer, Verfassungsinterpretation in Österreich, 1971, S. 170. 17 Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, 1971, S. 9 Fn. 2; im Anschluss: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1, 1988, S. 1512 Fn. 1, ferner S. 1575; in diese Richtung auch Hager, JZ 1994, 376 f. 18 Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, 1979, S. 112. 9
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ansprüche ergibt.19 Eine Norm kann in einem Rechtsverhältnis – etwa hier: dem vertikalen zwischen Staat und Bürger – zu beachten sein, ohne dass dies zugleich auch in einem anderen Verhältnis – etwa hier: dem horizontalen Verhältnis zwischen den Bürgern – der Fall sein müsste. Um eine Beachtenspflicht Privater zu begründen, bedarf es daher materialer Überlegungen. Die Verfassung regelt das Problem nicht ausdrücklich. Die Bestimmung des Art. 1 Abs. 3 GG, die Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung an die Grundrechte bindet, lässt es offen, ob auch Private an die Grundrechte gebunden sein sollen. Die Norm des Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG, die Abreden, die auf eine Beeinträchtigung des Grundrechts der Koalitionsfreiheit hinauslaufen, die Wirksamkeit versagt und damit eine Bindung Privater an dieses Grundrecht anordnet,20 kann diese Frage ebenfalls nicht umfassend beantworten. Sie würde überlastet, wollte man allein auf ihrer Grundlage das Problem der Bindung Privater an die Grundrechte entweder im Wege des Umkehrschlusses oder der Analogie in die eine oder andere Richtung beantworten.21 Immerhin lassen sich die historische Bedeutung und die Geschichte der Grundrechte insgesamt sowie die Entstehungsgeschichte der Grundrechte des Grundgesetzes eher gegen als für eine Anwendung der Grundrechte auf Private ins Feld führen.22 Eine abschließende Entscheidung lässt sich hieraus jedoch nicht gewinnen.
III. Keine „unmittelbare Drittwirkung“ 1. Konsens im Ausgangspunkt Im Ausgangspunkt besteht Konsens: Eine „unmittelbare Drittwirkung“ der Grundrechte soll es nicht geben. Die Ansicht Nipperdeys23 sowie in dessen Ge19 VGH Kassel NJW 1977, 455; Achterberg, Die Rechtsordnung als Rechtsverhältnisordnung, 1982, S. 104 – 119; ders., Allgemeines Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 1986, § 20 Rn. 1; Henke, DÖV 1984, 1; bereits Dürig, Festschrift Nawiasky, 1957, S. 167 – 176, sowie Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, 2. Aufl. 1991, S. 15 – 18, 224. 20 So die heute überwiegende Meinung, Bauer, in: Dreier, GG, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 9 Rn. 82 f. m. N.; Gegenposition: Ipsen (Fn. 3), Rn. 707 f. 21 Maurer (Fn. 13), § 9 Rn. 37. Die Schranke der „Rechte anderer“, die in Art. 2 Abs. 1 GG der allgemeinen Handlungsfreiheit gesetzt ist, ordnet keine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte unter Privaten an; so aber Bleckmann, DVBl. 1988, 942. Das GG weist hier vielmehr auf die stets präsente Notwendigkeit hin, Gefahren für die subjektiven Rechte der Bürger, die sich aus dem allen zustehenden Freiheitsgebrauch ergeben, ausgleichen zu müssen. Die hier notwendigen Schranken zu ziehen obliegt jedoch aufgrund des rechtsstaatlichen Vorbehaltes des Gesetzes dem Parlament. Auch der Versuch von Lücke, JZ 1999, 377 ff., durch eine analoge Anwendung des Art. 19 Abs. 3 GG die Drittwirkungsfrage aus dem Normtext des GG zu beantworten, ist gescheitert. Art. 19 Abs. 3 GG hat eine freiheitserweiternde, keine -beschränkende Funktion; Dreier, in: ders., GG, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 19 Rn. 27 m. N. 22 Pieroth / Schlink, Staatsrecht II. Grundrechte, 24. Aufl. 2008, Rn. 175.
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folge des Bundesarbeitsgerichts24 aus den Fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, eine Reihe bedeutsamer Grundrechte enthielten „Ordnungsgrundsätze für das soziale Leben“, die durch eine „unmittelbare“, d. h. nicht über Gesetze oder andere interpretative Zwischenschritte vermittelte, eigene Bindung von Privaten an sie zu entfalten seien, konnte sich nicht durchsetzen. Das Bundesverfassungsgericht25 wie auch die überwältigende Mehrzahl der Stellungnahmen in der Wissenschaft, die sich mit diesem Thema befassten, lehnten die Position Nipperdeys ab.26 2. Begrenzte Direktivkraft des Prinzips der Privatautonomie Das Kernargument, das dieser Lehre entgegengestellt wird, bezieht sich auf die Folgen, die sich aus einer Bindung Privater an Grundrechte für das Prinzip der Privatautonomie ergäben.27 Der Einzelne besitze hiernach die Freiheit, seine Rechtsverhältnisse nach seinem eigenen Willen zu gestalten. Bänden die Grundrechte auch die Privaten, könnte der Einzelne nicht mehr nach seinem Belieben über seine rechtlichen Beziehungen entscheiden; das Prinzip der Privatautonomie träte außer Kraft.28 Außerdem würde so jeder Zivilrechtsfall zu einem Grundrechtsfall, die Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit des Privatrechts gingen verloren;29 Rechtsunsicherheit und Knebelung der Vertragspartner wären die Konsequenz.30 Doch der Hinweis auf die Privatautonomie allein ist zur Widerlegung der Lehre Nipperdeys nicht hinreichend. Die Grundrechte des Grundgesetzes gewährleisten dem Einzelnen zwar auch das Recht, selbstbestimmt seine rechtlichen Verhältnisse zu gestalten; dieses Recht ergibt sich aus einem speziellen Freiheitsrecht, wenn sich der Gegenstand der jeweiligen Regelung dessen Schutzbereich zuordnen lässt, oder, falls dies zu verneinen ist, aus dem Auffanggrundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG.31 Das Grundgesetz gewährleistet grund23 Nipperdey, RdA 1950, 125; ders., DVBl. 1958, 447; ders., in: Enneccerus / Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Erster Halbband, 15. Aufl. 1959 S. 93 – 97; ders., Grundrechte und Privatrecht, 1961, S. 14 f.; ebenso Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1961, S. 332 – 335, 356 – 361. Einen erneuten Anlauf zur Begründung einer unmittelbaren Bindung Privater an die Grundrechte unternimmt Hager, JZ 1994, 373 ff., besonders 376 f.; zuvor Bleckmann, DVBl. 1988, 942 ff. 24 BAGE 1, 185 (193); 1, 258 (262); 4, 274 (276); siehe später etwa BAGE 13, 168 (174 f.). 25 BVerfGE 7, 198 (220). 26 Darstellung: Stern (Fn. 17), S. 1524 – 1533, 1538 – 1550. 27 Berg, Staatsrecht, 5. Aufl. 2007, Rn. 439; Maurer (Fn. 13), § 9 Rn. 38; Oldiges, Festschrift Friauf, 1996, S. 281; Guggelberger, JuS 2003, 1153. 28 Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, 1988, S. 25; Dürig (Fn. 19), S. 158 ff. 29 Dreier, Jura 1994, 510; Bethge, Verfassungsrecht, 3. Aufl. 2007, S. 109 f.; bereits Dürig (Fn. 19), S. 164. 30 Hesse (Fn. 28), S. 24.
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rechtliche Freiheit und so auch die Privatautonomie jedoch nicht unbeschränkt, sondern nur im Rahmen eines differenzierten Schrankenregimes.32 Innerhalb dieses Schrankenregimes können auch Grundrechte anderer herangezogen werden, um den Grundsatz der Privatautonomie zu begrenzen. Auf welchem Wege sich diese Begrenzungen rechtskonstruktiv geltend machen können und auf welchem nicht, kann mit dem Hinweis auf die Garantie der Privatautonomie allein nicht beantwortet werden. 3. Notwendigkeit von Verfassungstheorie Die Entscheidung zwischen den Alternativen einer „historisierend-formalen“, eine Drittwirkung ablehnenden, sowie einer „dynamisch-materialen“, eine Drittwirkung bejahenden, Deutung der Grundrechte33 lässt sich vielmehr nur erschließen aus dem grundsätzlichen Verständnis der Funktion, welche die Grundrechte unter dem Grundgesetz zu erfüllen haben.34 Die Funktion der Grundrechte in einer Verfassung wiederum ist eine Frage der Verfassungstheorie, d. h. der grundlagenbezogenen Arbeit auf dem Gebiete des Verfassungsrechts.35 Der vorliegenden Thematik bieten sowohl formelle als auch materielle Kategorien der Theorie einer freiheitlichen Verfassung eine Orientierung: in formeller Hinsicht ihre grundlegenden rechtstechnischen Regelungsprinzipien, in materieller Hinsicht die fundamentalen Unterscheidungen, welche die freiheitliche Verfassung trifft: die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, von Amt und Freiheit, von Legalität und Moralität.36 Diese Regelungsprinzipien und Unterscheidungen wirken als Kategorien der Verfassungstheorie zwar nicht selbst normativ; sie helfen jedoch bei der Findung eines dem „Geist der Verfassung“ entsprechenden Ergebnisses im Prozess der Gewinnung von Verfassungsrecht. Eine Verfassung vom Typus der rechtlichen Rahmenverfassung, dem das Grundgesetz zuzuordnen ist,37 hat die Aufgabe, das Recht und die Freiheit des Einzelnen 31 Erichsen, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Bd. VI, 2. Aufl. 1992, § 152 Rn. 56 – 59; für die Vertragsfreiheit als Teilaspekt der Privatautonomie: Höfling, Vertragsfreiheit, 1991, S. 9 – 11; zuletzt Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005, S. 165-167. 32 Zur Konstruktion: Isensee, in: ders., Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 2007, S. 255 – 259. 33 Gegenüberstellung: Novak, EuGRZ 1984, 135. 34 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 352. 35 Zur Notwendigkeit von Verfassungstheorie in dieser Frage: Lerche (Fn. 3), S. 901 f. mit Fn. 22; Rupp, Grundgesetz und Wirtschaftsverfassung, 1974, S. 11 Fn. 17. Wenn andere hier statt von Verfassungstheorie von Grundrechtstheorie sprechen, ist dies kein Gegensatz, da diese in jene eingebettet ist, dazu: Böckenförde, NJW 1974, 1529. 36 Isensee (Fn. 3), S. 12. 37 Analyse des Grundgesetzes: Isensee, Vom Stil der Verfassung, 1999, S. 17, 57 – 58, 64 – 66 und passim. Verfassungstheorie und auszulegende Verfassung sind einander zuzuord-
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zu gewährleisten. Dazu nimmt sie eine klare Rollenverteilung vor: Der Bürger ist Inhaber von Freiheit, der Staat Träger von Pflichten. Nach dem „rechtsstaatlichen Verteilungsprinzip“, das sich hieraus ergibt, steht auf der einen Seite der als grundsätzlich unbegrenzt gedachte Bereich der privaten Freiheit, auf der anderen Seite der stets und notwendig als begrenzt gedachte Bereich staatlicher Herrschaft.38 Die Verfassung normiert allein die Pflichten des Staates. Aus der Verfassung selbst ergeben sich die Aufträge an seine Gesetzgebung, seine Aufgaben und Ziele. Dem freiheitlichen Rechtsstaat ist es dagegen versagt, unmittelbar auf der Grundlage seiner Verfassung den Bürger mit Rechtspflichten zu überziehen.39 Hierzu bedarf es notwendig eines Gesetzes, das vom Parlament beschlossen ist. Erst das Gesetz verleiht dem Eingriff in die Freiheit des Bürgers Berechenbarkeit und Bestimmtheit; die Verfassung könnte dies als solche nicht leisten. Mit diesen Regelungsprinzipien wären Handlungs- und Unterlassungspflichten bezogen auf die grundrechtlich geschützten Freiheiten und Güter, die sich ohne eine Gesetz unmittelbar aus den Grundrechten für den Bürger ergeben sollen, bereits formell nicht zu vereinbaren. Um ihrer Freiheitlichkeit willen unterscheidet die Verfassung Sphären und Rollen der verschiedenen Akteure des Gemeinwesens.40 Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in der dies zum Ausdruck kommt, markiert eine grundlegende Divergenz in den System- und Rechtsstrukturen der hiermit gekennzeichneten Sphären, ohne die eine freiheitliche Ordnung nicht gedacht werden kann:41 Der Staat ist auf gemeinwohlbestimmende Herrschaft, auf demokratische Gewinnung und Begründung von Allgemeinverbindlichkeit angelegt; für ihn gilt das Prinzip des Amtes. Die Gesellschaft als der Inbegriff aller nichtstaatlichen Beziehungen ist dagegen keinen vorgegebenen Zielen verpflichtet, sondern empfängt ihre Impulse aus der individuellen Selbstbestimmung ihrer Mitglieder;42 für sie gilt das Prinzip der Freiheit. Staatliches Handeln legitimiert sich allein aus Verfassung und Gesetz, gesellschaftliches Handeln aus der grundrechtlich geschützten persönlichen Freiheit des Einzelnen.43 Die Grundrechte verlangen ihrem Adressaten zu diesem Zweck eine Rechtfertigung ab: Eine Beeinträchtigung der von ihnen geschützten Güter und Freiheiten durch den Verpflichteten bedarf der rationalen Begründung und ist beschränkt durch die Vorgaben des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Der nen, dazu: Böckenförde, NJW 1974, 1536 – 1538; ders., NJW 1976, 2097 – 2098; Isensee, in: ders. / Kirchhof, HStR, Bd. II, 2. Aufl. 2004, § 15 Rn. 20. 38 Kategorie: Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 126. 39 Isensee, DÖV 1982, 612; ders. (Fn. 3), S. 13 – 14; H. H. Klein, Der Staat 14 (1975), 157 – 158; auch zum Folgenden. 40 Isensee (Fn. 37), § 15 Rn. 6. 41 Rupp, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Bd. II, 2. Aufl. 2004, § 31 Rn. 26, 27 f., 29 ff.; Böckenförde, Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung individueller Freiheit, 1973, S. 7, 29 f., 31 f., 44; Isensee, in: ders. / Kirchhof, HStR, Bd. V, 2. Aufl. 2000, § 115 Rn. 121 ff. 42 Isensee, Der Staat 20 (1981), 166; Rupp (Fn. 41), § 31 Rn. 26, 29 ff. 43 Rupp (Fn. 41), § 31 Rn. 30, 33, 39.
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grundrechtlich geschützten Freiheit Privater ist ein Denken in diesen Kategorien jedoch gerade fremd: Der Einzelne braucht sich nicht dafür zu rechtfertigen, in welcher Weise er seine grundrechtlich geschützten Güter und Freiheiten gebraucht.44 Grundrechte entbinden das Recht zu privater Willkür. Sie schaffen einen Raum, in dem das Erfordernis der Rationalität, das für die staatliche Herrschaft bestimmend ist, nicht besteht und in dem es dem Einzelnen überlassen ist, sein Handeln nach seinen eigenen, von ihm selbst festgelegten Zielen und Maßstäben auszurichten;45 Grundrechte unterliegen einem Rationalisierungsverbot.46 Die Verfassung legt schließlich die Art, in der die Bürger von der ihnen gewährleisteten Freiheit Gebrauch machen, nicht positiv fest. Ihr Freiheitskonzept ist „negativ“ im Sinne eines Fehlens von staatlichem Zwang: Der Einzelne soll entscheiden, ob er von seiner Freiheit einen sozialen oder asozialen, einen moralischen oder unmoralischen usf. Gebrauch machen will.47 Recht und Moral sind im freiheitlichen Staat grundsätzlich getrennt; allein das ethische Minimum wird von ihm durch das Recht erzwungen. Dabei ist die Kategorie der Moral für das Gelingen des freiheitlichen Staates nicht unerheblich; er ist vielmehr davon abhängig, dass die Menschen ihre Freiheit auf moralische Weise gebrauchen.48 Der Staat erwartet daher von seinen Bürgern einen moralischen Gebrauch ihrer Freiheit; diese Erwartung versieht er jedoch nicht mit rechtlichem Zwang, moralische Gebote richtigen Verhaltens liegen vielmehr außerhalb seines Zugriffs.49 Die Verfassung überlässt es der Entscheidung des Privaten, ob er dieser Erwartung genügt; recht44 Isensee, DNotZ 2004, 758; a.A. Schlink, EuGRZ 1984, 464, der die Frage nach der Legitimität des Zwecks, der mit einer Handlung verfolgt wird, auch beim Privaten stellen, und bei diesem lediglich „großzügiger“ als beim Staat beantworten will; diese Tendenz findet sich auch in BVerfGE 86, 122 (129 f.); kritische Analyse: Hillgruber, ZRP 1995, 7, 9; Oldiges (Fn. 27), S. 294. 45 Canaris, Festschrift Lerche, 1993, S. 875, im Anschluss an das Konzept der Privatrechtsgesellschaft von Böhm, ORDO 17 (1966), 89 f.; siehe dazu auch: Meinel, Humboldt Forum Recht, 2004, Beitrag 12, S. 14; Merten, in: ders. / Papier, HGR, Bd. II, 2006, § 42 Rn. 42. 46 Depenheuer, „Der Staat ist um des Menschen willen da“. Kölner Humor als Quelle staatsphilosophischer Erkenntnis, Kölner Antrittsvorlesung vom 31. Januar 2001, herausgegeben vom Verein zur Förderung der Rechtswissenschaft, 2001, S. 19 f.; Jestaedt, VVDStRL 64 (2005), 333. 47 Isensee (Fn. 32), S. 249 – 251; auch zum Folgenden. 48 Isensee (Fn. 3), S. 15. 49 BVerfGE 42, 312 (332). Gegen dieses Grundprinzip des freiheitlichen Staates verstößt das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz vom 14. August 2006, BGBl. I, S. 1897, geändert durch Art. 8 Abs. 1 des Gesetzes vom 2. Dezember 2006, BGBl. I, S. 2742. Das Gesetz hebt die Scheidung der Konstitutionsprinzipien von Staat und Gesellschaft für seinen Anwendungsbereich auf und unterstellt gesellschaftliche Bereiche dem staatlichen Ordnungsprinzip der Rechtfertigung. Der Staat erhebt das tugendhafte Leben und die sittliche Vollendung der Bürger zu seinem Ziel; die Unterscheidung von Recht und (in einer bestimmten Weise verstandenen) Moral, von geistiger und weltlicher Sphäre, die mit dem Christentum in die politische Welt gekommen ist, wird rückgängig gemacht; dazu: Isensee (Fn. 32), S. 241 – 243.
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liche Pflichten des Einzelnen zu moralisch richtigem Verhalten begründet sie um ihrer Freiheitlichkeit willen deshalb nicht. Die Annahme einer Bindung Privater an die Grundrechte und damit die Begründung von Rechtspflichten des Einzelnen zu einem moralischen Verhalten höbe alle diese Unterschiede auf: Sie verstaatlichte die private Gesellschaft, beseitigte private Freiheit durch die Begründung privater Ämter und dehnte die Legalität aus in den Bereich der Moralität. Eine Bindung Privater an Grundrechte ist damit auch unvereinbar mit materiellen Grundprinzipien, von denen die freiheitliche Verfassung getragen ist. Hiergegen lässt sich nicht einwenden, Private an Grundrechte zu binden sei notwendig, um Freiheitsschutz vor „sozialen Gewalten“ (Hugo Sinzheimer) zu gewährleisten.50 Die Kategorie der sozialen Gewalt, in der viele eine weitere, wenn nicht die eigentliche Begründung der Drittwirkung sehen,51 ist zu gestaltlos, um aus ihr konkrete Rechtsfolgen abzuleiten.52 Auch bestehen Unterschiede zwischen staatlicher Gewalt und der Macht, wie immer definierter, sozialer Gewalt:53 Der Staat hat die Befugnis, einseitig Regelungen zu setzen und deren Befolgung mit Zwangsgewalt durchzusetzen. Private Akteure sozialer Gewalt können nur im Rahmen des staatlichen Rechts tätig werden und bedürfen der Organe des Staates, wollen sie ihre Ansprüche durchsetzen. Zudem befinden sich Private, anders als der Staat, in vielfältigen Konkurrenz- und Abhängigkeitsverhältnissen zueinander. Vor allem aber ist soziale Gewalt immer auch eine solche, die ihrerseits grundrechtlichen Schutz genießt.54 Das jedoch unterscheidet sie fundamental vom Staat, der nur grundrechtsgebunden, nie aber grundrechtsberechtigt ist.55 Man mag aufgrund von freiheitsbedrohenden Ungleichgewichtslagen zwischen Privaten, wie sie in der Realität vorkommen, die Kategorie der sozialen Gewalt als „antreibenden Hintergrundbegriff“ verstehen, dem eine Ordnung des Privatrechts einen freiheitsverträglichen Rahmen zu setzen hat.56 Eine rechtliche Zähmung sozialer Macht hätte jedoch dabei nicht pauschal durch eine Inpflichtnahme der Privaten schlechthin, sondern nur in Abhängigkeit von dem jeweiligen Bedrohungspotenzial zu gesche50 Der Begriff stammt von Sinzheimer, Stenographische Berichte über die Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 328, 1920, S. 1749; vgl. auch die ähnliche Begriffsbildung bei Katzenstein, Anlage Nr. 391 zu den Stenographischen Berichten über die Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 336, 1920, S. 377: „sozialer Machthaber“. 51 Huber, ZSR N.F. 74 (1955), 197 – 199; Gamillscheg, AcP 164 (1964), 407 ff.; Nipperdey, DVBl. 1958, 447; Bleckmann, Staatsrecht II – Grundrechte, 4. Aufl. 1997, § 10 Rn. 92; tendenziell auch Hesse (Fn. 34), Rn. 357; Stern (Fn. 17), S. 1586 – 1595. 52 Canaris, AcP 184 (1984), 206 f.; Badura, Festschrift Molitor, 1988, S. 3 f.; Lerche (Fn. 3), S. 899 – 900 Fn. 18. 53 Dazu: Maurer (Fn. 13), § 9 Rn. 39; Stern (Fn. 17), S. 1591. 54 Rupp, Schriften des Vereins für Socialpolitik n.F. Bd. 74 / II, S. 1251, 1266. 55 Isensee, in: ders. / Kirchhof, HStR, Bd. V, 2. Aufl. 2000, § 118 Rn. 24; eingehend: Bethge, Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen nach Art. 19 Abs. 3 Grundgesetz, 1985, S. 61 – 131. 56 Lerche (Fn. 3), S. 899 – 900 Fn. 18.
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hen. Zuständig für die notwendige Brechung eines solchen Begriffs ist allein der Gesetzgeber; eine Entfaltung des Themas durch die Gerichte in der Anwendung von Grundrechten im Einzelfall kommt aufgrund der im Grundgesetz vorgenommenen Gliederung der Gewalten nicht in Betracht.
IV. Bindung des Richters an die Wertordnung der Grundrechte 1. Die Lehre von der „mittelbaren Drittwirkung“. Aussagen und Begründung Über die Schwächen der Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung besteht, wenn nicht in der Begründung, so doch im Ergebnis, Einigkeit. Unbeschadet dessen war es gleichwohl immer nahezu einhellige Auffassung in Rechtsprechung und Literatur, dass sich die Grundrechte im Privatrecht nicht allein auf die Gesetzgebung, sondern auch auf die Rechtsverhältnisse zwischen Privaten auswirken sollen. „Besonders vor dem Hintergrund zweier verlorener Kriege und der dadurch bedingten Veränderungen im Menschenbild und im Sozialgefüge der Industriegesellschaft“ sei es „unbestreitbar“ ein Verdienst der Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung gewesen, so wird gesagt, „die Eindimensionalität des Grundrechtsverständnisses durchbrochen zu haben“.57 Es gelte allerdings, die Wirkung der Grundrechte unter Privaten in einer Weise zu konstruieren, welche die Mängel der unmittelbaren Drittwirkung vermeide. Dies ist die Geburtsstunde der Lehre von der „mittelbaren Drittwirkung“: Grundrechte sollen zwischen Privaten nicht unmittelbar, sondern nur „mittelbar“ zu beachten sein.58 Dem Attribut der „Mittelbarkeit“ kommt dabei eine zwiefache Bedeutung zu: Zum einen wurde die Bedeutung der Grundrechte für die Rechtsbeziehungen zwischen Privaten nicht unmittelbar auf die Verfassung gestützt, sondern sie wurde 57 Stern (Fn. 17), S. 1552. Ähnlich Dürig (Fn. 19), S. 178, mit seiner These von der „Einheit des Gesamtrechts in der Rechtsmoral“, die gewahrt werden müsse; ders., in: Maunz / ders., GG, Art. 1 Abs. III (1958) Rn. 131; für Österreich seinerzeit Spanner, JBl. 100 (1978), 286-288. 58 BVerfGE 7, 198 (205 – 207) – ohne Verwendung des Begriffs; 73, 261 (269); 89, 1 (13); 104, 65 (73); Bydlinski, ÖZöR N.F. XII (1962 / 63), 442 – 448; Hesse (Fn. 34), Rn. 356; Stern (Fn. 17), S. 1531 m. N.; zur entsprechenden Rechtsauffassung in Österreich: Holoubek, ZÖR 54 (1999), 65 – 68. Die Unterschiede zwischen den beiden Spielarten der Drittwirkung sind in ihren Ergebnissen allerdings nicht so groß, wie oft angenommen. Nipperdey sprach nie davon, dass die Grundrechte einschränkungslos, sondern lediglich „in einem näher aus dem Grundrecht zu entfaltendem Umfang“ zwischen den Privaten zu gelten hätten. Diese Einschränkung eröffnet Spielraum für Differenzierungen; dazu: Bydlinski, ÖZöR N.F. XII (1962 / 63), 439 – 441. Letztlich kann sich die Bindung Privater an die Freiheitsrechte ohnehin nur in deren Bindung an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz äußern; Poscher (Fn. 11), S. 224. Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Spielarten der Drittwirkungslehre besteht daher nur in der konstruktiven Frage, ob der Bürger selbst oder nur der Richter an die Grundrechte gebunden ist. Ob dieser Unterschied wirklich besteht, dazu sogleich unter IV.2.
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mediatisiert durch die Generalklauseln des Zivilrechts; hierdurch sollte die Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit des Rechtsgebiets gewahrt werden. Zum anderen sollten die Normen des bürgerlichen Rechts, durch welche die Grundrechte in die privatrechtlichen Rechtsbeziehungen einflössen, die Privaten nicht selbst binden, sondern es sollte lediglich der Richter, der einen Privatrechtsfall zu entscheiden habe, an die von den privatrechtlichen Normen resorbierten Gehalte des jeweiligen Grundrechts gebunden sein;59 auf diese Weise sollte die Freiheit der Privaten selbst, so weit es geht, geschont werden. Die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte verwirkliche sich, so wurde gesagt, für die Privaten auf diese Weise allein über das „Medium“60 der Entscheidungen der Gerichte. Die Erklärung, warum Grundrechten mittelbar Bedeutung für privatrechtliche Rechtsbeziehungen zukommen soll, ähnelt allerdings der Begründung der unmittelbaren Drittwirkung: Das Grundgesetz enthalte in seinem Grundrechtsabschnitt nicht nur Abwehrrechte, sondern es habe hierin auch eine „objektive Wertordnung“ aufgerichtet.61 Konstruktiv „strahlten“ die Grundrechte auf das Privatrecht „aus“62 und machten sich vor allem bei der Interpretation seiner Generalklauseln geltend.63 Zudem, so wird weiter gesagt, sei eine mittelbare Bindung Privater aufgrund der Einheit der Rechtsordnung sowie des Vorranges der Verfassung geboten.64 2. Kritik Gegen die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung erheben sich Bedenken. Zunächst ist die Terminologie irreführend.65 Drittwirkung heißt: „Geltung der Grundrechte über das klassische Zweierverhältnis zwischen Einzelnen und Staat hinaus 59 BVerfGE 52, 171 (173) abw. Meinung; Hesse (Fn. 34), Rn. 353; affirmativ: Jarass, Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. II, 2001, S. 41; Stern (Fn. 17), S. 1556; Rüfner, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Bd. V, 2. Aufl. 2000, § 117 Rn. 59; Gostomzyk, JuS 2004, 951. 60 Kategorie des „Mediums“: BVerfGE 7, 198 (205). 61 BVerfGE 7, 198 (205). Das BVerfG verwendet verschiedene Bezeichnungen. So spricht es auch von Grundrechten als „wertentscheidenden Grundsatznormen“, BVerfGE 30, 173 (188), „objektiven Wertentscheidungen“, BVerfGE 10, 302 (322), „objektiven Grundentscheidungen“, BVerfGE 81, 242 (254 f.) oder von „verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen“, BVerfGE 73, 261 (269). Rechtliche Unterschiede verbinden sich hiermit nicht; Überblick und Analyse: Jarass (Fn. 59), S. 37 und passim. 62 BVerfGE 7, 198 (207); Maurer (Fn. 13), § 9 Rn. 40; Rüfner (Fn. 59), § 117 Rn. 60 – 64; ähnlich Hager, JZ 1994, 376. 63 Pieroth / Schlink (Fn. 22), Rn. 180; Sachs, in: ders., GG, 4. Aufl. 2007, vor Art. 1 Rn. 32; Rupp, NVwZ 1991, 1038; Dreier, Jura 1994, 510; Pietzcker (Fn. 15), S. 363; Rüfner (Fn. 59), § 117 Rn. 73; Berg (Fn. 27), Rn. 79, 441, 443; weitergehend Stern (Fn. 17), S. 1557 f.: alle wertausfüllungsbedürftigen Begriffe und Generalklauseln; ebenso Stein / Frank, Staatsrecht, 20. Aufl. 2007, § 27 V, S. 224: Auslegung einfachen Rechts. 64 Maurer (Fn. 13), § 9 Rn. 40. 65 Kritik: Bethge (Fn. 4), S. 397 mit Fn. 520.
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auch im Verhältnis des einen zum anderen Einzelnen“ als zu einem Dritten.66 Zu einer solchen Geltung gegenüber Privaten soll es indes gerade nicht kommen, auch nicht „mittelbar“. Der Begriff erweckt so Fehlvorstellungen über die rechtlichen Zusammenhänge. Gegen die These einer mittelbaren Bindung erhebt sich jedoch nicht nur terminologische Kritik. Die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung ist in sachlicher Hinsicht dem Einwand ausgesetzt, ihrer Prämisse, die objektive Wirkung der Grundrechte „verstärke“ die Geltungskraft der Grundrechte,67 zu widersprechen. Der Staat soll durch die objektive Wertordnung der Grundrechte gerade ermächtigt werden, in grundrechtlich geschützte Güter und Freiheiten einzugreifen.68 In einer solchen Eingriffsermächtigung liegt indes keine Verstärkung der freiheitsschützenden Wirkung der Grundrechte, sondern eine Mutation in ihr funktionales Gegenteil: Von Instrumenten der Eröffnung und des Schutzes von Freiheit verwandeln sich die Grundrechte zu Schranken der Freiheit; das staatsbegrenzende Element entfällt.69 Vor allem aber besitzt die Bezeichnung der Grundrechte als „Grundsatznormen“ keinen Erklärungsgehalt. Wenn Grundrechte primär Abwehrrechte gegen den Staat sein sollen, was ausdrücklich unterstrichen wird,70 bleibt unklar, woraus sich deren „mittelbare“ Bedeutung für die Rechtsbeziehungen zwischen Privaten ergeben soll. Die Herleitung bleibt diffus und verweist mit Kategorien wie „Ausstrahlung“, „Wert“ etc. auf außerjuristische Begriffe und Vorstellungen.71 Diese sind aber ungeeignet, rechtliche Entscheidungen zu stützen.72 Die Aussage, Grundrechte stellten Werte dar, „die gegen alle denkbaren Eingriffe – ganz gleich aus welcher Richtung – umfassend geschützt“ seien,73 vermag ebenfalls eine Bindung Privater an diese Rechte nicht zu begründen. Grundrechte sind subjektive öffentliche Rechte, so dass sie von ihrer Normstruktur her eben nicht gegenüber jedermann wirken, sondern nur gegen Beeinträchtigungen durch den Verpflichtungsadressaten des öffentlichen Rechts, den Staat. Sie sind absolute Rechte allein insoweit, als sie gegenüber dem Staat in jeder Gestalt, in der er auftritt, und in jeder Art und Weise, in der er geschützte Freiheit beeinträchtigen kann, Wirkung entfalten.74 Eine Ausdehnung auf Private ergibt sich hieraus jedoch nicht. Pieroth / Schlink (Fn. 22), Rn. 173. BVerfGE 7, 198 (205); zur Verstärkungsthese zuvor: BVerfGE 6, 55 (72). 68 Lerche, AfP 1973, 499. 69 Götz, in: Heyde / Starck, Vierzig Jahre Grundrechte in ihrer Verwirklichung durch die Gerichte, 1990, S. 78; Isensee (Fn. 32), S. 263; ders. (Fn. 3), S. 511. 70 BVerfGE 7, 198 (204 f.). 71 Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 27 f.; Lerche, AfP 1973, 499; ders., Festschrift Odersky, 1996, S. 223; Henke, DÖV 1984, 2, 8 („frei erfundene, unjuristische Begriffe“); insoweit auch Bleckmann, DVBl. 1988, 939; zur Terminologie: Jarass, AöR 110 (1985), 367 – 369. 72 Henke, DÖV 1984, 6, 8; Lerche (Fn. 71), S. 223. 73 Bleckmann, DVBl. 1988, 941. 66 67
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Schließlich kann auch der Gedanke der Einheit der Rechtsordnung sowie des Vorrangs der Verfassung aus sich heraus nicht erklären, warum Grundrechte auf Rechtsverhältnisse zwischen Privaten ausstrahlen sollen. Die maßgebende Frage lautet, welchen Geltungsanspruch das einzelne Grundrecht für die Privaten erhebt.75 Will die Grundrechtsnorm Wirkungen für Private entfalten, dann ist es eine Konsequenz des Vorrangs der Verfassung, dass dem Grundrecht diese Wirkung zugesprochen wird. Will sie dies nicht, darf ihr eine entsprechende Bedeutung auch nicht beigelegt werden. Entweder dem einen oder dem anderen Gebot ist dann aufgrund des Vorrangs der Verfassung Rechnung zu tragen. Entscheidend ist also stets die Auslegung der jeweiligen Verfassungsnorm, nicht der Vorrang der Verfassung für sich.76 Für die These, die Ausstrahlung der Grundrechte sei von der Einheit der Rechtsordnung geboten, gilt Entsprechendes: Das Gebot der Einheit der Rechtsordnung verlangt, Widersprüche in der Rechtsordnung zu vermeiden.77 Für die vorliegende Frage heißt dies, die Aussagen der Verfassung zu beachten, die sie hierfür trifft. Auch diese Forderung verweist mithin auf den sachlichen Gehalt der einzelnen Verfassungsbestimmung zurück.78 Entweder ordnet sie eine Drittwirkung an oder sie tut dies nicht. Die Einheit der Rechtsordnung trägt dazu nichts bei. Der Gedanke der „Allbezüglichkeit“, die dem Grundgesetz zukommt (Hollerbach)79 und an die man hier außerdem denken könnte, führt ebenso zu keinem anderen Ergebnis: Er meint nicht eine Erstreckung des Geltungsanspruchs der Verfassung auf jedwede Person, sondern nur auf die Bereiche, die von der Zwecksetzung der Verfassung her von ihrer Geltung erfasst sein sollen.80 Nähme man den zweiten Aspekt der Mittelbarkeitslehre, keine Bindung von Privaten, sondern Bindung nur von Richtern,81 beim Wort, verstieße diese Lehre zu74 Henke, DÖV 1984, 3. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob die von den Grundrechten geschützten Güter „absolut“ existieren, dazu: Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 94, 96; Stern (Fn. 17), S. 948, sowie hier unter VI.2. 75 Lerche (Fn. 71), S. 215 – 217. 76 Lerche (Fn. 71), S. 216 f. 77 Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 1935, S. 68; Jarass, VVDStRL 50 (1991), 260; Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 142 – 146. Zur Bedeutung des Gebots aus ideengeschichtlicher Perspektive Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, 1995, passim. 78 Lerche (Fn. 71), S. 217. 79 Hollerbach, in: Maihofer, Ideologie und Recht, 1969, S. 51 f. 80 Jestaedt, VVDStRL 64 (2005), 331 f. 81 Für viele zuletzt ausdrücklich: Herdegen, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 1 Abs. 3 (2005) Rn. 99. Die These, bei der mittelbaren Drittwirkung ergäben sich aus den Grundrechten keine Verhaltensregeln für Private, lässt sich nicht auf das „Lüth“-Urteil des Bundesverfassungsgerichts stützen. Das Gericht spricht dort vielmehr ausdrücklich von „einem Streit zwischen Privaten über Rechte und Pflichten aus solchen grundrechtlich beeinflussten Verhaltensnormen des bürgerlichen Rechts“ und geht mithin davon aus, dass sich aus den Grundrechten Regeln ergeben, welche die Einzelnen über die privatrechtlichen Verhaltsnormen erreichen und binden, BVerfGE 7, 198 (205). Dies entspricht auch dem sonst üblichen Verständnis der Wirkung der guten Sitten im Privatrecht, das den §§ 138 Abs. 1, 242, 826 BGB ebenfalls
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dem gegen die Kernfunktion des Rechts: Recht hat die Aufgabe, dem Handeln der Rechtsgenossen Grenzen zu setzen und so deren Verhalten eine Orientierung zu geben.82 Dazu ist es notwendig, das der Einzelne überhaupt wissen kann, was er darf und was er zu unterlassen hat.83 Die Vorstellung einer mittelbaren Drittwirkung, die sich für die Beteiligten allein über den Richter offenbaren soll, ohne dass jene, mediatisiert über das einfache Gesetz, „mittelbar“ selbst an die Grundrechte gebunden sind, wird dieser Funktion des Rechts nicht gerecht. Der Einzelne soll gerade keinem Verhaltensbefehl ausgesetzt sein, an den er sich halten und an dem er sein Handeln ausrichten kann. Vielmehr erfährt er erst ex post, welche Grenzen seinem Handeln gesetzt sind.84 Ein Bürger, der seinem Verhalten nicht hinterher die Rechtswidrigkeit attestiert bekommen möchte, müsste sich prophylaktisch zurücknehmen und in seinem Handeln einschränken, ohne zu wissen, wie weit er dies wirklich muss. Ein Freiheitsgewinn liegt hierin nicht. Bei näherer Betrachtung lässt sich diese, für sie zentrale, Aussage der Lehre von der mittelbaren Drittwirkung indes nicht durchhalten. Das Kernanliegen dieser Lehre besteht darin, die Bedeutung der Grundrechte zu erweitern: Über ihre Dimension als Normen im Sinne von Sollenssätzen, die über einen bestimmten Kreis von Verpflichteten verfügen, verkörperten Grundrechte „Werte“, die nicht an bestimmte Adressaten gerichtet seien, sondern sich ohne genaue Grenzen über die gesamte Rechtsordnung legten.85 Diese Geltungserweiterung hat jedoch zur Folge, dass zwischen den Bürgern, die unter der Rechtsordnung leben, Wertbeziehungen konstruiert werden, denen sie Rechnung zu tragen haben.86 Der Wert verwandelt einen Verweis auf Verhaltensgebote entnimmt, die sich für den Einzelnen aus der Sittenordnung ergeben; stets geht es also um sittliche Normen, siehe: Armbrüster, in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 1, 5. Aufl. 2006, § 138 Rn. 11; Hefermehl, in: Soergel, BGB, Bd. 2, 13. Aufl. 1999, § 138 Rn. 3; Heinrichs, in: Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, § 138 Rn. 2; Sack, in: Staudinger, BGB, Allgemeiner Teil 4, Neub. 2003, § 138 Rn. 17, 19 – 22, 92 – 105. Fließt die grundrechtliche Wertordnung in die Auslegung des Verweisungsbegriffs der guten Sitten ein, liegt es in der Konsequenz dieser Anknüpfung, dass sich hieraus dementsprechend ebenso Verhaltenspflichten für die Einzelnen ergeben. Über diese zentrale Passage im „Lüth“Urteil geht Poscher (Fn. 11), S. 238 – 239, 245 – 266, 272 – 289, in seinen Analysen der Entscheidung hinweg. Eine Absage an Regeln für Private findet sich ausdrücklich erst in dem Sondervotum in BVerfGE 52, 171 (173), ansonsten kann sie zwischen den Zeilen aus dem Gesamtzusammenhang der Entscheidungsbegründung entnommen werden, vgl. etwa BVerfGE 73, 261 (269); 84, 192 (195). 82 Bierling, Juristische Prinzipienlehre, Bd. I, 1894, S. 21; Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1977, S. 117 f., 267; Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 31 f. 83 Trzaskalik, Die Rechtsschutzzone der Feststellungsklage im Zivil- und Verwaltungsprozeß, 1978, S. 23 f. 84 Zur Unvorhersehbarkeit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts über die „Wechselwirkung“ zwischen Grundrecht und einschränkendem Gesetz: Oeter, AöR 119, (1994), 539 – 540. 85 Ress, DÖV 1994, 494; auch zum Folgenden.
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sich so unbemerkt in eine Norm, aus der eine Verpflichtung des Einzelnen entspringt, ihn zu beachten. Statuieren die in den Grundrechten verkörperten Werte nach der Lehre von der mittelbaren Drittwirkung konsequenterweise doch Rechtspflichten für die Bürger,87 entfällt zwar der Vorwurf, dieses Erklärungsmodell verfehle die Funktion des Rechts, den Rechtsgenossen Grenzen zu setzen. Es erhebt sich hierdurch aber der Einwand einer Missachtung des rechtsstaatlichen und demokratischen Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes: Das Grundgesetz als eine freiheitliche Verfassung nimmt, wie gezeigt, den Einzelnen nicht unmittelbar in Pflicht. Es verlangt vielmehr, dass der Gesetzgeber die Pflichten der Bürger begründet.88 Zwar stützt sich die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung mit den zivilrechtlichen Generalklauseln formal auf das Gesetz.89 Die Bestimmungen der §§ 138, 242 BGB, die als „Einbruchstellen“ der Grundrechte in das bürgerliche Recht herangezogen werden,90 genügen den Anforderungen an den Vorbehalt des Gesetzes jedoch nicht materiell.91 Sie sind viel zu unbestimmt, als dass sie die Maßstäbe, anhand derer eine Vertragskorrektur vorgenommen werden könnte, erkennen ließen.92 So entscheidet über den Gehalt der objektiven Wertordnung letztlich nicht der Gesetzgeber, sondern das Gericht im jeweiligen Einzelfall. Durch diesen Zuwachs an Entscheidungsmacht der Judikative wird, neben dem Grundsatz der Gewaltengliederung, das rechtstaatliche Prinzip der Rechtssicherheit gefährdet:93 Die Entscheidungen der Gerichte sind, weil von nicht berechenbaren Wertungen abhängig, schwer vorhersehbar.94 Das Bundesverfassungsgericht, auf das so jeder zivilrechtliche Streit zulaufen kann, ermächtigt sich auf diesem Wege selbst, das bürgerliche Recht nach seinem Bilde zu formen und umzugestalten.95 Es erhebt sich zu einem Motor des Wandels des Privatrechts,96 der den parlamentarischen Gesetzgeber aus 86 Siehe auch Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, Neudruck 2006, S. 490 – 493, und Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 11, 19. 87 Ress, DÖV 1994, 494; vgl. dazu auch Forsthoff, Festschrift Carl Schmitt, 1959, S. 45 – 47; H. H. Klein, Der Staat 10 (1971), 149; Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, 5. Aufl. 2005, Art. 1 Abs. 3 Rn. 303; i. E. auch Isensee (Fn. 71), S. 35; Classen, AöR 122 (1997), 68; Volkmann, Staatsrecht II, Grundrechte, 2007, § 10 Rn. 15. 88 Krause, JZ 1984, 659 – 660; Rüfner, Gedächtnisschrift Martens, 1987, S. 228 f.; Götz (Fn. 69), S. 60; vgl. auch BVerfGE 64, 208 (214). 89 Rüfner (Fn. 88), S. 228 f. 90 BVerfGE 7, 198 (206 f.); 42, 143 (148); 89, 214 (229 f., 233); BVerfGK 3, 112 (118). 91 Auch dann, wenn man nicht nur die Generalklauseln, sondern im Lichte der Erkenntnisse der heutigen Methodenlehre – siehe dazu bereits Bethge (Fn. 4), S. 404 – alle Gesetze im Lichte der Grundrechte auslegen wollte, so etwa Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, 9. Aufl. 2007, Vorb. vor Art. 1 Rn. 59, ändert dies nichts daran, dass der Vorbehalt des Gesetzes hier nicht eingehalten wird. 92 Isensee (Fn. 3), S. 502; ders., DNotZ 2004, 765. 93 Ehmke, Wirtschaft und Gesellschaft, 1961, S. 79; zuletzt Erichsen, Jura 1997, 530. 94 Rüfner (Fn. 88), S. 228 f.; Ossenbühl, DVBl. 1995, 908. 95 Isensee, DNotZ 2004, 766.
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seiner ihm in der Verfassung zugeordneten Rolle verdrängt. Die Idee, das bürgerliche Recht werde durch die Verfassung konkretisiert,97 führt zu einer „Verbestimmung“ des Rechts (Böckenförde), das bis in seine Details hinein als verfassungsrechtlich vorgezeichnet erscheint.98 Der Wegfall des politischen Handlungsraums des Gesetzgebers, der Selbständigkeit der Instanzgerichte sowie der spezifischen Rationalität und Eigengesetzlichkeit des bürgerlichen Rechts ist die Folge.99 In verfahrensrechtlicher Hinsicht kommt hinzu, dass es dann praktisch kaum eine Grenze mehr für die Verfassungsbeschwerde gäbe.100 Das Bundesverfassungsgericht möchte die Fachgerichte zwar nur korrigieren, wenn diese die Grundrechte nicht gesehen oder grundsätzlich unrichtig angewandt haben;101 das Gericht wendet diesen Maßstab jedoch flexibel an, so dass sich seine Entscheidungstätigkeit kaum vorherbestimmen lässt.102 Eine Auslegung des Begriffs der guten Sitten am Maßstab der Grundrechte überspielt den erwähnten Unterschied zwischen staatlicher Bindung und privater Freiheit und sollte daher aufgegeben werden.103 Die zivilrechtlichen Generalklauseln bedürfen keiner „grundrechtlichen Aufladung“, um angewendet werden zu können. Der Gehalt dieser Normen ergibt sich vielmehr aus den Sachgesetzlichkeiten und Wertungen des bürgerlichen Rechts selbst:104 Das bürgerliche Recht bestimmt nach seinen eigenen Wertmaßstäben, welche Rechtspflichten den Bürgern untereinander obliegen und welche außerrechtlichen Verhaltensgebote als Bestandteil des Sittengebotes von ihnen beachtet sowie mit welchen Rechtsfolgen hiermit unvereinbare Rechtsgeschäfte und Verhaltensweisen sanktioniert werden sollen.105 Die Frage etwa, ob sich Private untereinander vertraglich zu einer Verlegung ihres Wohnsitzes verpflichten können, lässt sich nicht pauschal unter Hinweis auf die „Wertung, die der Verfassungsgeber dem Grundrecht der Freizügigkeit beigemessen hat“, in einem ablehnenden Sinne beantworten.106 Vielmehr bedarf es einer differenzierten Abwägung der Interessen der privaten Vertragsparteien, bei der durchaus verschiedene Möglichkeiten, sich in der Frage seiner Wohnsitzwahl In diese Richtung Hesse (Fn. 28), S. 41. So etwa Bleckmann, DVBl. 1988, 942. 98 Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 29; ähnlich Ossenbühl, DVBl. 1995, 910. 99 Oeter, AöR 199 (1994), 531; bereits Ehmke (Fn. 93), S. 79. 100 Hesse (Fn. 28), S. 25. 101 BVerfGE 19, 303 (310). 102 Depenheuer, ThürVBl. 1996, 271, 273 f. 103 Isensee (Fn. 32), S. 262; a.A. Dreier, Jura 1994, 510. 104 Isensee (Fn. 3), S. 511; Ipsen (Fn. 3), Rn. 69. 105 Götz (Fn. 69), S. 68 f. So hatte schon das Reichgericht eine Rechtsprechung zu eigenständigen Gleichbehandlungsgeboten und Missbrauchsverboten, wie das Verbot missbräuchlicher Ausnutzung einer Monopolstellung, entwickelt; vgl. RGZ 62, 264 (266); 99, 107 (108 f.); 102, 396 (397); näher: Schmidt, in: Staudinger, BGB, 13. Bearb., 1995, § 242 Rn. 76 – 81. 106 So BGH NJW 1972, 1414. 96 97
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selbst zu binden, anzuerkennen sind.107 Die Grundrechte geben den Bürgern gerade die Möglichkeit, sich über das, was für den Staat bindend ist, unter ihresgleichen hinwegzusetzen. Private können untereinander Bindungen eingehen, die ihnen der Staat nie auferlegen dürfte. Im Vertragsschluss geht es nicht um eine Beschränkung grundrechtlich geschützter Freiheit, Grundrechtsverzicht, Grundrechtsverbrauch108 o.ä., sondern um ihre Ausübung.109 Die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte führt dagegen zu einem Gleichlauf der Handlungsmöglichkeiten des Staates mit denen der Privaten.
V. Privatrechtliche Beeinträchtigungen als Ausdruck staatlicher Macht 1. Grundrechte in ihrer Abwehrfunktion. Die Position Schwabes Den Einwänden gegen die verschiedenen Drittwirkungslehren sucht die von Schwabe begründete Auffassung zu entgehen, die die Grundrechte in ihrer gegen den Staat gerichteten Abwehrfunktion für privatrechtliche Rechtsverhältnisse fruchtbar machen will. Ihre Kernthese lautet wie folgt: Privatrechtliche Beeinträchtigungen grundrechtlich geschützter Güter und Freiheiten gingen niemals von einer staatsunabhängigen privaten Gewalt aus, sondern stets von der Rechtsmacht des Staates.110 Dies gelte gleichermaßen für privatrechtliche Beschränkungen, die auf einem Vertrag beruhen, wie für solche, die dem gesetzlichen Bereich entstammen. Das staatliche Gesetz, das die privatrechtliche Freiheitsbeeinträchtigung trage, sei als Gesetzgebung nach Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar an die Grundrechte gebunden. Statt um eine Drittwirkung gehe es um die Grundrechtsbindung des hier stets involvierten Staates; das Thema der Wirkung der Grundrechte unter Privaten betreffe ein „Scheinproblem“.111 107 Merten, NJW 1972, 1799; ausführlich Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 151 – 156. 108 So Oldiges (Fn. 27), S. 291; für eine Ambivalenz des Vertragsschlusses: Poscher (Fn. 11), S. 353 f. 109 Hesse (Fn. 34), Rn. 356; Rüfner (Fn. 59), § 117 Rn. 68; Götz (Fn. 69), S. 64; Höfling (Fn. 31), S. 51 f.; Isensee (Fn. 3), S. 499. Das BVerfG sieht den Vorgang dagegen ambivalent; es spricht beim Handelsvertretervertrag von „Beschränkung beruflicher Mobilität“, die „aber zugleich Ausübung individueller Freiheit“ sei, BVerfGE 81, 242 (254). 110 Schwabe (Fn. 17), S. 16 f., 56, 154; ders., Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 213; zuvor bereits: Rill, ÖJZ 1962, 446 f. Zustimmung zu den Thesen Schwabes: Griller, ZfV 8 (1983), 4 – 7; ders., JBl. 1992, 206 – 211; Schlink, EuGRZ 1984, 464; Murswiek (Fn. 74), S. 95; Oeter, AöR 119, (1994), 534 f.; Roth, in: Wolter / Riedel / Taupitz, Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, 1999, S. 233 – 238; Hufen, Staatsrecht II, Grundrechte, 2007, § 7 Rn. 9; siehe auch Bethge (Fn. 4), S. 397 f. mit Fn. 520, 401 f. 111 Schwabe, AöR 100 (1975), 470; ders., DVBl. 1971, 690 (Drittwirkung von Grundrechten als „Phantom“); Zustimmung: Hufen (Fn. 110), § 7 Rn. 9.
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2. Kritik Die Aussage, dass privatrechtliche Ansprüche ihre Rechtsgeltung auf das staatliche Gesetz zurückführen, ist zutreffend, beschreibt jedoch eine Selbstverständlichkeit. Recht bedarf zu seiner Geltung der Zugehörigkeit zu einer tatsächlich beachteten und in ihrer Verbindlichkeit allgemein garantierten Rechtsordnung.112 Über die Zuordnung eines Rechtsbefehls zur Rechtsordnung entscheidet deren Garant, der Staat. Den „Rechtgeltungsbefehl“, der für die Zuordnung privat gesetzten Rechts zur staatlichen Rechtsordnung notwendig ist, erteilt der Staat abstrakt, indem er in den Vorschriften des bürgerlichen Rechts das Rechtsinstitut des Vertrages zur Verfügung stellt.113 Das vertraglich Vereinbarte „gilt“ für die Partner des Vertrages, weil die Rechtsordnung diese Rechtsform anerkennt. In der Begrifflichkeit der Merkl / Kelsen’schen Wiener Schule gesprochen: Im Stufenbau der Rechtsordnung sind hoheitliche und privatrechtliche Rechtserzeugung formal wesensgleich.114 Für die zweite Kategorie privatrechtlicher Ansprüche – die Forderungsrechte, die nicht auf einem Rechtsgeschäft, sondern ausschließlich auf dem Gesetz beruhen, – ergibt sich die Geltung bereits daraus, dass hier der Staat als Garant der Rechtsordnung die Rechtsregel selbst erlassen hat. Aus dieser rechtstheoretischen Einsicht folgt indes nicht, dass gegenüber der Durchsetzung privatrechtlicher vertraglicher oder gesetzlicher Ansprüche die Grundrechte in ihrer Abwehrfunktion anzuwenden sind. Für vertragliche Ansprüche ist zu bemerken, dass es einen fundamentalen Unterschied ausmacht, ob der Staat aus eigener Zuständigkeit und in kompetenzieller Pflichtigkeit Recht setzt oder Private aufgrund ihrer grundrechtlichen Freiheit für- und untereinander Rechtsfolgen vereinbaren.115 Die Rolle des Staates beschränkt sich, wie gezeigt, darauf, den Privaten die Rechtsform des Vertrages abstrakt zur Verfügung zu stellen. Machen die Privaten hiervon Gebrauch, ist allein ihnen und nicht dem Staat das Ergebnis zuzurechnen. Das von den Privaten gesetzte Recht bleibt privates Recht. Die Bindung an Grundrechte erfasst allein das Handeln der staatlichen Organe; das Handeln Privater legitimiert sich vielmehr aus den Grundrechten und genießt deren Schutz. Private Rechtsetzung setzt zwar die staatliche Anerkennung im einfachen Recht voraus; diese Abhängigkeit berührt jedoch nicht das Vorhandensein grundrechtlich geschützter Freiheit.116 Auch mit dem Umstand, dass privatrechtliche Ansprüche hoheitlich durch staatliche Gerichte und Vollstreckungsorgane durchgesetzt werden und die dabei tätig F. Kirchhof, Private Rechtsetzung, 1987, S. 46, 48; auch zum Folgenden. Vgl. zu dieser Methode, den Rechtsgeltungsbefehl zu erteilen: F. Kirchhof (Fn. 112), S. 138 – 141. 114 Rill, ÖJZ 1962, 447; zum Stufenbau der Rechtsordnung: Kelsen (Fn. 82), S. 228 – 282, hier bes. 261 f.; Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1927, S. 172 f., 299 f. 115 Novak, EuGRZ 1984, 137; Isensee (Fn. 3), S. 491; Mayer, JBl. 1990, 769 – 771; ders., JBl. 1992, 769 – 770; Rupp, DVBl. 1972, 67; ders. (Fn. 34), S. 12 Fn. 19. 116 Isensee (Fn. 3), S. 491. 112 113
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werdenden staatlichen Instanzen nach Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebunden sind, lässt sich die Anwendbarkeit der Grundrechte für das Rechtsverhältnis zwischen Privaten in ihrer Abwehrfunktion hier ebenfalls nicht begründen.117 Gewiss haben Gerichte bei der Entscheidung eines Streits zwischen Privaten die Grundrechte zu beachten; die von ihnen wahrgenommene Aufgabe der Rechtsprechung ist grundrechtsgebundene staatliche Gewalt. So haben sie die Ansprüche des Bürgers auf den gesetzlichen Richter, auf rechtliches Gehör sowie auf eine rechtsstaatliche Gestaltung des Verfahrens zu erfüllen (Art. 101 Abs. 1 S. 2, 103 Abs. 1, 2 Abs. 1 i. V. m. 20 Abs. 1 GG), die direkt ihre Tätigkeit ordnen und formen.118 Doch auf die prozessbezogenen grundrechtsgleichen Garantien kommt es im vorliegenden Zusammenhang nicht an. Im Fokus steht hier allein das sachliche Recht, d. h. die materiell-rechtliche Beziehung zwischen den Privaten. In dieser Hinsicht hat der Richter indes lediglich das Recht anzuwenden, das zwischen den Streitbeteiligten gilt und Rechte und Pflichten zwischen ihnen begründet. Die Grundrechte gelten zwischen den Beteiligten jedoch nicht deshalb, weil ein Gericht als ein staatliches Organ den Rechtsstreit zu entscheiden hat. Das Gericht hat vielmehr die Einwirkung der Grundrechte nur zu beachten, soweit sie reicht (Doehring).119 Die Frage ist nicht, wer das Recht anwendet, sondern welchen Inhalt das Recht hat, um dessen Anwendung es geht.120 Es kommt also allein an auf den Gehalt des jeweiligen Grundrechts.121 Der Hinweis auf die Grundrechtsbindung des Richters führt in dieser Frage nicht weiter.122 Für die Durchsetzung von Ansprüchen, die allein im Gesetz begründet sind, gilt im Ergebnis nichts anderes. Strukturell stellt eine zivilrechtliche Norm, die dem einen Privaten einen Anspruch gegen den anderen etwa auf Unterlassung eines grundrechtlich geschützten Verhaltens einräumt, zwar einen staatlichen Eingriff in das jeweilige Grundrecht dar.123 Eine Anwendung der Grundrechte bei der Durchsetzung einer solchen Norm allein aus der Perspektive ihrer Abwehrfunktion124 übersähe jedoch, dass hier nicht nur grundrechtlich geschützte Güter und Freiheiten des Anspruchsgegners, sondern auch solche des Anspruchsstellers zur Debatte stehen.125 Bei der Verfolgung eines privatrechtlichen gesetzlichen Anspruchs, wie etwa eines Unterlassungsanspruchs wegen einer Verletzung des allgemeinen Per117 So aber Schwabe (Fn. 17), S. 105 f.; ders., AöR 1975, 448 f.; Lübbe-Wolf, Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 177 f.; Poscher (Fn. 11), S. 215 – 222; ähnlich Sachs, in: ders., GG, 4. Aufl. 2007, Art. 1 Rn. 107. 118 Dazu: BVerfGE 52, 203 (207); Henke, DÖV 1984, 9. 119 So die klassische Wendung von Doehring, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 1984, S. 209; siehe auch bereits Dürig (Fn. 19), S. 157 f. 120 Lerche, AfP 1973, 500; Jarass, AöR 110 (1985), 376; Papier (Fn. 2), § 55 Rn. 5. 121 Merten, NJW 1972, 1799. 122 Maurer (Fn. 14), § 9 Rn. 37. 123 Pietzcker (Fn. 15), S. 351; Poscher (Fn. 11), S. 204. 124 So, neben Schwabe, aus neuerer Zeit vor allem Poscher (Fn. 11), S. 215 – 219. 125 Oldiges (Fn. 27), S. 289; Isensee (Fn. 3), S. 5, 30 – 32.
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sönlichkeitsrechts durch eine Beleidigung, geht es nicht um einen staatlichen Eingriff in die grundrechtlich geschützte Freiheit der Meinungsäußerung (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) zur Durchsetzung des Wohls der Allgemeinheit, sondern um einen Eingriff zur Verwirklichung eines seinerseits grundrechtlich geschützten Gutes, des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Betroffenen (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG).126 Dem hier bestehenden grundrechtlichen Dreieck, das sich aus den Beziehungen zwischen zwei Bürgern und jedes dieser Bürger zum Staat zusammensetzt,127 wird eine rechtliche Bewertung nur aus der Perspektive der grundrechtlichen Abwehrfunktion nicht gerecht.128 Die Abwehrfunktion ist auf die beiden Pole des eingreifenden Staates auf der einen und des eingriffsbetroffenen Bürgers auf der anderen Seite beschränkt und kann so die Einbeziehung des grundrechtlichen Status des Dritten in die Betrachtung nicht leisten. Das vereinfachende Modell Schwabes trägt der Ambivalenz grundrechtlicher Betroffenheit nicht Rechnung.
VI. Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten 1. Die Konstruktion. Grundsätzliches Die Wirkung der Grundrechte für Private betrifft, wie gesehen, ein Dreiecksverhältnis zwischen dem Staat und zwei verschiedenen Grundrechtsträgern, dem Angreifer und dem Opfer. Damit tritt eine weitere Dimension der Grundrechte in den Blick: die grundrechtliche Schutzpflicht. Grundrechte haben nicht nur die Bedeutung von Abwehrrechten des Bürgers gegen den Staat, sondern sie begründen für den Staat auch die Pflicht, sich schützend und fördernd vor die in den Grundrechten gewährleisteten Güter und Freiheiten zu stellen.129 Die Rechtsfigur der grundrechtlichen Schutzpflicht wurde vor allem von der Rechtsprechung entwickelt130 und zwar ursprünglich u. a. für das Wächteramt des Staates über die Ausübung des Elternrechts,131 den Schutz des ungeborenen Kindes vor Abtreibung132 sowie die 126 Krause, JZ 1984, 657; Oldiges (Fn. 27), S. 289. Das Gemeinwohl des Verfassungsstaates umschließt zwar den Schutz der Interessen des Individuums, Rupp, Wohl der Allgemeinheit und öffentliche Interessen, 1968, S. 116, 117 f. Zwischen Gemeinwohl und Partikularwohl besteht jedoch eine Spannung, die der Institution des Staates bedarf, um sie aufzulösen und in eine verbindliche Entscheidung zu überführen; Isensee, in: ders. / Kirchhof, HStR, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 37. 127 Pietzcker (Fn. 15), S. 345. 128 Oldiges (Fn. 27), S. 289; Isensee (Fn. 3), S. 30-32. 129 BVerfGE 39, 1 (41 f.); zur Herleitung der Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte Isensee (Fn. 3), § 111 Rn. 25 – 36, 77 – 82, 83 – 85. 130 Wegbereitungen in der Wissenschaft: Dürig, in: Maunz / ders., GG, Art. 1 Abs. I (1958) Rn. 2; Herzog, JR 1969, 443 – 445 (für das ungeborene Leben). 131 BVerfGE 24, 119 (144). 132 BVerfGE 39, 1 (42).
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Sicherheitsvorkehrungen gegen die Gefahren des Terrorismus.133 Rechtsprechung und Lehre halten den Staat darüber hinaus auch im Hinblick auf die privatrechtlichen Beziehungen der Bürger untereinander für verpflichtet, die grundrechtlich geschützten Güter des einen vor Übergriffen des anderen zu bewahren.134 Die Schutzpflichtenlehre gilt unterdessen so als der „dogmatisch ,sauberste‘ Ansatzpunkt“, grundrechtliche Vorgaben unter Privaten wirksam werden zu lassen.135 Die Anwendung der Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte auf private Rechtsverhältnisse verpflichtet nicht die Privaten, ihre grundrechtlich garantierten Güter wechselseitig zu schützen; allein der Staat wird in Pflicht genommen, die Güter des einen vor Schaden durch das Verhalten des anderen zu bewahren. Die Schutzpflichtenlehre hat also mit der Kategorie „Drittwirkung“, verstanden als eine Bindung der Bürger,136 nichts zu tun, sondern es geht um staatliche Sorge für die grundrechtlichen Güter und Freiheiten.137 Bei der Beurteilung dieser Lösung des Problems der Grundrechtswirkung für Private sind zwei Konstellationen auseinander zu halten, in denen Private mit ihren Freiheiten und Gütern untereinander in Kontakt geraten: die deliktischen auf der einen und die vertraglichen auf der anderen Seite. 2. Deliktische Rechtsbeziehungen Deliktischen Rechtsbeziehungen liegt ein Übergriff eines Privaten auf die Rechtssphäre eines anderen zugrunde. Dieser Umstand allein genügt jedoch noch nicht, um Grundrechte in ihrer Funktion als Schutzpflichten anwenden zu können. Notwendig ist hierfür der Eingriff eines Privaten in das Gut eines anderen,138 der BVerfGE 46, 160 (164 f.). BVerfGE 81, 242 (256); 89, 214 (232); 103, 89 (100); Badura, Staatsrecht, 3. Aufl. 2003, C Rn. 22 f.; Canaris, AcP 184 (1984), 232, 245 f.; ders., Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 38 – 51; Epping, Grundrechte, 3. Aufl. 2007, Rn. 306 – 310; Gallwas, Grundrechte, 2. Aufl. 1995, Rn. 113, 122, 361 – 366; Hermes, NJW 1990, 1766 – 1768; Jarass (Fn. 59), S. 40; ders., AöR 120 (1995), 351 – 353; Höfling (Fn. 31), S. 52 – 55; E. Klein, NJW 1989, 1640; Papier (Fn. 2), § 55 Rn. 10; Pieroth / Schlink (Fn. 22), Rn. 183; Stern (Fn. 17), S. 1572 – 1586; Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008, § 18 Rn. 21; umfassend zuletzt Ruffert (Fn. 15), S. 247 f., 250 f. 135 So Stern (Fn. 17), S. 1572. 136 Zu dem Begriff siehe oben unter IV.2. 137 Bezieht man die Kategorie der „mittelbaren Drittwirkung“ mit der herrschenden Meinung dagegen nicht auf eine Bindung der Bürger, sondern allein auf eine Bindung der Gerichte, dazu oben IV.2, besteht eine konstruktive Gemeinsamkeit zwischen dieser und der Schutzpflichtenlehre; zur folgerichtigen Zusammenführung der beiden Ansätze in der Rechtsprechung des BVerfG siehe oben Fn. 2. 138 Auch hier gilt es auf die Terminologie zu achten: Es geht nicht um den Eingriff eines Privaten in „das Grundrecht“ eines anderen, sondern um die Einwirkung auf dessen im Grundrechtsteil der Verfassung geschützten Rechte, Freiheiten oder Lebensgüter, Murswiek (Fn. 74), S. 95; Götz (Fn. 69), S. 58; Ipsen (Fn. 3), Rn. 126. 133 134
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als rechtswidrig einzustufen ist.139 Der Maßstab des hier notwendigen rechtlichen Unwerturteils ergibt sich aus der Verfassung, nicht aus dem einfachen Recht; dieses kann Wertungen auf verfassungsrechtlicher Ebene nicht begründen, sondern lediglich nachzeichnen und ausgestalten.140 Um das hierfür erforderliche „Eingriffsverbot“ Privater zu fundieren, bedarf es indes keiner Drittwirkungslehren.141 Ein solches Verbot ist vielmehr die andere Seite des grundrechtlichen Abwehrrechts, das sich gegen den Staat richtet.142 Nur wenn die Integrität der gewährleisteten Güter auch gegen Übergriffe von Privaten verteidigt werden muss, kann der Freiheitsschutz der Grundrechte seinen Zweck erfüllen: Die Verfassung missbilligt auch den privaten Eingriff in die grundrechtliche Sphäre eines anderen. Nimmt das Grundgesetz den Einzelnen wegen des Vorbehaltes des Gesetzes, wie gezeigt, jedoch nicht selbst in Pflicht, bedarf diese verfassungsrechtliche Wertung der Umsetzung im einfachen Recht. Ihre notwendige gesetzliche Konkretisierung findet das apriorische Gebot „neminem laedere“, das dieser Vorgabe zugrunde liegt, in den einschlägigen Normen des bürgerlichen Rechts, des Strafrechts sowie des Polizei- und Ordnungsrechts.143 Damit handelt es sich bei den deliktischen Rechtsbeziehungen zwischen Privaten um einen klassischen Anwendungsfall der grundrechtlichen Schutzpflicht: die Abwehr eines widerrechtlichen Angriffs eines Privaten auf die grundrechtlich gewährleisteten Güter eines anderen.144 Ein Gericht kann sich allerdings nicht unmittelbar auf den Gesichtspunkt der grundrechtlichen Schutzpflicht stützen, um in die Rechtssphäre des Störers einzugreifen.145 Vielmehr ist es primär Sache des Parlaments, durch Gesetz die Schutzpflicht des Staates für die Rechtsgüter des Einzelnen zu konkretisieren und so zu erfüllen.146 Denn Abwehrrechte und Schutzpflichten unterscheiden sich grundlegend: Das Abwehrrecht fordert ein in Zielsetzung und Inhalt bestimmtes staatliches Verhalten; die Schutzpflicht dagegen ist grundsätzlich unbestimmt. Das Grundgesetz lässt es offen, wie der Schutzpflicht nachzukommen ist. Grundsätzlich bestehen mehrere Möglichkeiten, wie dies geschehen kann, lediglich ausnahmsweise gibt es nur ein zulässiges Mittel, die Schutzpflicht zu erfüllen. Die rechtsstaatlichen Gebote des Vorbehaltes des Gesetzes sowie der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Privatrechtsordnung verlangen deshalb, dass nicht der Richter von Fall zu Fall entscheidet, auf welche Weise der Schutzpflicht zu genügen ist, sondern der Gesetzgeber diese Fragen einer allIsensee (Fn. 3), § 111 Rn. 89, 103; insoweit auch Bleckmann, DVBl. 1988, 939. Isensee (Fn. 3), § 111 Rn. 100. 141 So aber Bleckmann, DVBl. 1988, 940, 942; Badura (Fn. 52), S. 9; E. Klein, NJW 1989, 1639; Götz (Fn. 69), S. 58; wohl auch Jarass, AöR 120 (1995), 362 – 363. 142 Isensee (Fn. 3), § 111 Rn. 85, 103 f., 134. 143 Dazu: Isensee (Fn. 3), § 111 Rn. 5, 102 – 104. 144 Isensee, DNotZ 2004, 765; Stern (Fn. 17), S. 1577; siehe bereits auch Spanner, JBl. 1978, 288. 145 So aber Bleckmann, DVBl. 1988, 942. 146 Badura (Fn. 52), S. 5 f.; ders. (Fn. 134), C Rn. 22; Erichsen, Jura 1996, 531. 139 140
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gemeinen Lösung zuführt:147 Die Erfüllung der Schutzpflichten ist mediatisiert durch das Gesetz. Der Gehalt eines solches Gesetzes ist janusköpfig: Greift es in ein grundrechtlich geschütztes Gut des Störers ein, muss es einerseits die Schrankenregelung des Grundrechts sowie das Übermaßverbot beachten; als grundrechtliche Schutzmaßnahme hat es jedoch andererseits nicht minder die Belange des Opfers nach den Regeln des Untermaßverbots zu wahren.148 Hat der Gesetzgeber es unterlassen, die Schutzpflicht zu konkretisieren, kann der Richter nicht aus eigener Kompetenz abhelfen und die Schutzlücke schließen. Der Richter hat vielmehr das, seiner Ansicht nach, defizitäre Recht dem Bundesverfassungsgericht zur Kontrolle vorzulegen (Art. 100 Abs. 1 GG).149 Nur im Extremfall einer evident unzureichenden gesetzlichen Erfüllung der Schutzpflicht kommt der Rückgriff unmittelbar auf das jeweilige Grundrecht in Frage.150 Grundrechtliche Schutzpflichten des Staates sind gleichwohl nicht allein ein Auftrag an die Gesetzgebung. Auch die Rechtsprechung hat dem Schutzgebot im Rahmen des geltenden Rechts durch Nutzung von Auslegungsspielräumen Rechnung zu tragen,151 wie etwa mit der Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als ein „sonstiges Recht“ im Recht der unerlaubten Handlung;152 Gerichte haben hierbei nicht den Vorbehalt des Gesetzes missachtet, da sie nicht das in der Verfassung garantierte Grundrecht unmittelbar gegen Private gewendet, sondern parallel zu diesem ein Rechtsinstitut des Zivilrechts herausgebildet haben.153 3. Vertragliche Rechtsbeziehungen Fraglich ist, ob die Lehre von den Grundrechten als Quelle staatlicher Schutzpflichten auch auf vertragliche Beziehungen unter Privaten anzuwenden ist. Habe einer der Vertragsteile ein „so starkes Übergewicht“, so sagt es das Bundesverfassungsgericht, dass er den „Inhalt des Vertrages faktisch einseitig bestimmen“ könne, bewirke dies für den anderen Vertragsteil „Fremdbestimmung“.154 Handele 147 Zu diesem Grundsatz BVerfGE 96, 56 (64); Isensee (Fn. 3), § 111 Rn. 8, 151 – 161; Dreier, Jura 1994, 513; Oeter, AöR 119 (1994), 547; Classen, AöR 122 (1997), 85; Enders, in: Friauf / Höfling, Berliner Kommentar zum GG, C vor Art. 1 Rn. 132; einschränkend zu Gunsten einer Kompetenz der Gerichte zur Rechtsfortbildung auf dem Gebiete der Schutzpflichten jedoch BVerfGE 84, 212 (226 f.). 148 Isensee (Fn. 3), § 111 Rn. 90 f., 165, 168. 149 E. Klein, NJW 1989, 1640; Höfling (Fn. 31), S. 55; Oeter, AöR 119 (1994), 550; vgl. dazu allgemein auch Wahl / Masing, JZ 1990, 558 – 563. 150 BVerfGE 46, 160 (164 f.); Isensee (Fn. 3), § 111 Rn. 161; ders. (Fn. 3), S. 497. 151 Lerche (Fn. 71), S. 228 – 230; Höfling (Fn. 31), S. 55. 152 Stern (Fn. 17), S. 1577. 153 Götz (Fn. 69), S. 39 – 40, 62 – 63; Henke, DÖV 1984, 11; Krause, JZ 1984, 660; Oldiges (Fn. 27), S. 283; siehe dazu auch Canaris, AcP 184 (1984), 231. 154 BVerfGE 81, 242 (255); ähnlich BVerfGE 89, 214 (234) – „Mittel der Fremdbestimmung“.
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es sich um eine „typisierbare Fallgestaltung“, die eine „strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils“ erkennen lasse, und seien die Folgen des Vertrages für den unterlegenen Teil „ungewöhnlich belastend“, müsse die Zivilrechtsordnung „darauf reagieren und Korrekturen ermöglichen“.155 Für die Zivilgerichte folge daraus die Pflicht, bei der Auslegung und Anwendung der Generalklauseln darauf zu achten, dass Verträge nicht als Mittel der Fremdbestimmung dienen.156 Die Richter hätten zu klären, ob die Regelung eine Folge strukturell ungleicher Verhandlungsstärke ist, und gegebenenfalls im Rahmen der Generalklauseln des geltenden Zivilrechts korrigierend einzugreifen. Es ist eine alte Erkenntnis, dass Vertragsfreiheit in tatsächlicher Hinsicht einen Zustand annähernder sozialer Gleichheit der Beteiligten voraussetzt.157 Hat ein Partner des Vertrages ein so erdrückendes Übergewicht, dass er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann, bleibt für dessen Gegenüber an vertraglicher Mitgestaltung nichts übrig. Vertragsparität als eine tatsächliche Voraussetzung vertraglicher Einigung ist jedoch rechtlich ohne Belang für die Beurteilung der Wirksamkeit von Verträgen. Forderte man für die Geltung eines Vertrages ein Gleichgewicht zwischen den Vertragspartnern und machte dies auch noch von Verhandlungen über den Vertragsinhalt abhängig, wäre dies nicht nur unvereinbar mit den Bedürfnissen einer modernen Markt- und Wettbewerbsgesellschaft.158 Die Erhebung dieser tatsächlichen zu einer rechtlichen Voraussetzung der Vertragswirksamkeit stünde auch nicht im Einklang mit der rechtsstaatlich gebotenen Rechtssicherheit, zu deren Kernelementen die Verbindlichkeit vertraglicher Vereinbarungen gehört159; sie bedeutete deren Ende. Letztlich führte die These, Verträge hingen von der realen Gleichheit der Beteiligten ab, zu einer Suspendierung dieses Rechtsinstituts, bis seine realen Voraussetzungen hergestellt sind.160 Damit aber kann für die Wirksamkeit des Vertrages nur maßgebend sein, ob sich dieser aus der Selbstbestimmung des Einzelnen begründet: Es ist der freie Wille, der den Vertrag legitimiert.161 Das bürgerliche Recht hält eine Reihe Normen bereit, die die Selbstbestimmung des Einzelnen in der Phase des Vertragsschlusses gewährleisten.162 Krankt der Vertrag an keinem der dort geregelten Mängel, steht er im Einklang mit BVerfGE 89, 214 (232). BVerfGE 89, 214 (234). 157 Vgl. zu Beispielen aus der historischen Geschichtsschreibung Griechenlands Isensee (Fn. 3), S. 503. 158 Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, 1997, S. 49 f. 159 Depenheuer, ThürVBl. 1996, 274; insoweit auch Höfling (Fn. 31), S. 54. 160 Depenheuer, ThürVBl. 1996, 271, 274; Isensee (Fn. 3), S. 504. 161 Flume, Allgemeiner Teil des BGB, 4. Aufl. 1992, S. 7 f.; ders., Festschrift Deutscher Juristentag 1860-1960, Bd. I, 1960, S. 141. 162 Für Willensmängel gelten die §§ 119, 123 BGB, für massive Verzerrungen des Vertragsinhaltes § 138 BGB; zu weiteren Bestimmungen aus diesem Bereich Jestaedt, VVDStRL 64 (2005), 337 f. m. N. 155 156
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dem Prinzip freiheitlicher Selbstbestimmung des Einzelnen und ist aus diesem Grunde rechtlich anzuerkennen. Die Unerheblichkeit der sozialen Gleichheit der Vertragspartner für die Vertragswirksamkeit sollte dabei nicht als „soziale Kälte“ des 19. Jahrhunderts denunziert werden. Die Allgemeinheit bürgerlicher Gesetze, die hierin liegt, bedeutet vielmehr einen „ungeheuren Gewinn an rechtlicher Freiheit und Selbstbestimmung“, die „allenfalls eine reine Klassenkampfoptik“ auszublenden vermöchte.163 Vor allem aber fehlt es für eine Aktivierung der Schutzfunktion der Grundrechte an der hierfür notwendigen Gefahrenlage: Der „überlegene“ Vertragspartner greift bei Abschluss des Vertrages nicht in ein grundrechtlich geschütztes absolutes Recht des „unterlegenen“ Vertragspartners ein, sondern dieser führt durch eigenes Handeln eine Bindung seiner selbst herbei.164 Die Zustimmung des Betroffenen schließt einen Grundrechtseingriff aber aus, denn ein solcher muss – unabhängig davon, ob man den „klassischen“ oder einen modernen Eingriffsbegriff zugrunde legt – in jedem Fall gegen den Willen des Betroffenen erfolgen.165 Der Sinn grundrechtlicher Schutzpflichten besteht nicht darin, den Grundrechtsträger vor „sich selbst“ zu schützen.166 Wegen des Fehlens eines Eingriffs kann damit etwa die Erfüllung eines Vertrages nicht unter dem Aspekt der grundrechtlichen Schutzpflicht abgewehrt167 oder gar der Abschluss eines Vertrages erzwungen werden.168 Die Frage des tatsächlichen Ungleichgewichts zwischen den Privatrechtssubjekten ist allein ein sozialstaatliches Thema.169 Das soziale Staatsziel (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 S. 1 GG) gibt dem Staat auf, sich die realen Voraussetzungen angelegen sein zu lassen, von denen die Ausübung grundrechtlicher Freiheit, wie hier der Privatautonomie, abhängig sind.170 Zur Bezeichnung der sozialstaatlichen Vorkehrungen auf diesem Felde passt damit die Kategorie der grundrechtlichen Schutzpflicht nicht. Indes sollte man auch darauf verzichten, von einer Schutzpflicht in Hofmann, JZ 2001, 7. Isensee (Fn. 3), § 111 Rn. 131; Tettinger, DVBl. 1999, 684; Murswiek, in: Sachs, GG, 4. Aufl. 2007, Art. 2 Rn. 37a; a.A. der Sache nach BVerfGE 81, 242 (255); 89, 214 (232); im Schrifttum: Canaris, AcP 184 (1984), 224 ff.; Hermes, NJW 1990, 1767; Oldiges (Fn. 27), S. 304 f.; Singer, JZ 1995, 1138 – 1141; i.E. auch Di Fabio, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1 (2001) Rn. 115; zuletzt ausführlich Ruffert (Fn. 15), S. 247-251. 165 Isensee (Fn. 3), § 111 Rn. 60, 131; umfassend dazu: Bethge, VVDStRL 57 (1998), 37-42, 44. 166 Kategorie: v. Münch, Festschrift H. P. Ipsen, 1977, S. 114 und passim; eingehend Hillgruber (Fn. 107), S. 147 f., 153 f.; zugespitzt: Isensee, VVDStRL 57 (1998), 110 f. 167 Oldiges (Fn. 27), S. 304 ff. 168 Hillgruber, ZRP 1995, 8; Oldiges (Fn. 27), S. 303; a.A. in der Tendenz aber BVerfGE 86, 122 (132). 169 Das BVerfG begründet die These einer Pflicht zur Vertragskorrektur nicht nur mit dem Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), in dem es die Privatautonomie verortet, sondern auch mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG), BVerfGE 89, 214 (232); ähnlich bereits BVerfGE 81, 242 (255). 170 Isensee (Fn. 3), § 111 Rn. 131 f.; ders. (Fn. 41), § 115 Rn. 158; ders. (Fn. 32), S. 266. 163 164
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einem „sozialstaatlich erweiterten“ Sinne zu sprechen, da es sachlich nicht zu rechtfertigen ist, beide Fälle mit der gleichen Bezeichnung zu versehen. Das Begriffsmerkmal der Schutzpflicht verdeckt vielmehr wesentliche Aspekte der hier zu beurteilenden Kollisionslage und lenkt eine sachgerechte Lösung so in eine falsche Richtung:171 Zum einen wirkt das Sozialstaatsprinzip weder unmittelbar zwischen den Menschen, noch begründet es unmittelbar Rechte und Pflichten des Einzelnen, sondern ist stets angewiesen auf ein Gesetz.172 Den Gerichten ist es versagt, ohne gesetzliche Grundlage nach eigenen Vorstellungen sozialgestaltend tätig zu werden und das geltende Recht in einem solchen Sinne umzuformen.173 Zum anderen genießt in der „klassischen“ Schutzpflichtenkonstellation mit dem Angegriffenen nur ein Beteiligter grundrechtlichen Schutz, während der andere Beteiligte, der Angreifer, sich für seine Rechtsverletzung als solche nicht auf Grundrechte berufen kann; entweder bewegt sich sein Verhalten schon außerhalb des Schutzbereichs eines Grundrechts, oder es wird verfassungsgemäß beschränkt.174 Demgegenüber genießen im rechtsgeschäftlichen Bereich beide Beteiligte grundrechtlichen Schutz, und zwar in gleicher Weise. Dies ist ein fundamentaler Unterschied, der zu weitreichenden Folgen in der Beurteilung der jeweiligen Konflikte führen muss: In Abweichung zu den deliktischen Rechtsbeziehungen besteht auf der vertraglichen Ebene keine Grundrechtskollision, die der Auflösung im Wege der Abwägung nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bedarf.175 Die Parteien haben die Kollision ihrer Interessen vielmehr durch die vertragliche Einigung bereits aus der Welt geschafft.176 Eben wegen der Grundrechte verbietet es sich nun, die Wirksamkeit eines Vertrages jeweils von der Frage der Verhandlungsparität seiner Partner abhängig zu machen. Die Schutzpflicht des Staates verlangt in diesen Fällen vielmehr etwas ganz anderes: Sie geht gerade dahin, die Vertragsfreiheit und damit die vertragliche Bindung anzuerkennen.177 Die Idee der Vertragsparität ist damit jedoch nicht ohne jede Bedeutung. Sie hat vielmehr rechtstheoretische Relevanz für die Erklärung der Voraussetzungen, die idealer Weise gegeben sein müssen, damit sich Vertragsfreiheit verwirklichen kann. Auf diesem Wege kann sie rechtspolitische Bedeutung erlangen und staatliches Handeln, das tatsächliche Ungleichheit ausbalancieren will, anstoßen und legitimieren. Über die Ausgestaltung und das Maß des „Schutzes des Schwächeren“ (Weitnauer) im Privatrecht hat jedoch allein der Gesetzgeber zu entscheiden.178 Es Isensee (Fn. 3), S. 502 f. BVerfGE 27, 253 (283); 59, 231 (263). 173 Krause, JZ 1984, 660. 174 Isensee (Fn. 3), S. 502; ders. (Fn. 3), § 111 Rn. 171 – 181. 175 Isensee (Fn. 3), S. 509 – 511; a.A. Schlink, EuGRZ 1984, 464; Poscher (Fn. 11), S. 351. 176 Isensee (Fn. 3), S. 509. 177 Hillgruber (Fn. 107), S. 153 f., 176; ders., AcP 191 (1991), 75 f., 85; Kempen, DZWir 1994, 503 f. 178 Hesse (Fn. 28), S. 27 ff.; Badura (Fn. 52), S. 5. 171 172
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bedarf gesetzlicher Regeln und Maßstäbe, die das Problem des sozialen Ungleichgewichts der Vertragspartner aufnehmen und, differenziert für die verschiedenen Lagen und Bedürfnisse, abstrakt generell ausgestalten.179 Der Richter dagegen überschritte, wie dargelegt, seine Kompetenz, wollte er, gestützt allein auf den Sozialstaatsgrundsatz, in bestehende Verträge eingreifen und eigenmächtig inhaltliche Korrekturen vornehmen.
VII. Ordnungsaufgabe des Gesetzgebers. Selbstregulierung der Gesellschaft Die Verwirklichung grundrechtlicher Freiheit auf dem Gebiet des Privatrechts hängt damit ab von den Entscheidungen des Gesetzgebers. Ihn trifft dabei nicht nur die sozialstaatliche Aufgabe, die Voraussetzungen der Grundrechtsausübung zu schaffen und zu gewährleisten. Darüber hinaus geben die Grundrechte dem Gesetzgeber auf, den Freiheitsgebrauch der Menschen verträglich zu ordnen und damit das größtmögliche Maß an Freiheit für alle zu organisieren.180 Da nahezu alle privatrechtlichen Handlungen und Berechtigungen auf Grundrechte zurückgeführt werden können, geht es in einer freiheitlichen Gesellschaft permanent um Kollisionen grundrechtlich geschützter Güter und Freiheiten der Bürger untereinander, die der Auflösung bedürfen.181 Die Rechtssphären der Menschen sind abzumessen, einander zuzuordnen und wechselseitig zu begrenzen.182 Es geht dabei nicht nur um Schrankenziehung, sondern auch um Ausformung und Sicherung individueller Freiheitsverbürgungen,183 bei der in weiten Bereichen vielfältige Möglichkeiten denkbar sind.184 Mit Kant: Der Rechtsstaat hat die „Bedingungen“ zu setzen, „unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“.185 Auf diesem Wege entwickelt sich die Wirkung der Grundrechte unter Privaten aus dem unterverfassungsrechtlichen Recht von selbst und ist in dieses eingebettet.186 Doch ist es in einem freiheitlichen Staat nicht allein Sache des Gesetzgebers, grundrechtliche Freiheit zu entfalten sowie Konflikte zwischen den GrundrechtsHesse (Fn. 28), S. 27 – 29; E. Klein, NJW 1990, 1640; Höfling (Fn. 31), S. 54. Isensee (Fn. 3), S. 496; Rupp, AöR 101 (1976), 171. 181 Bethge (Fn. 4), S. 431. 182 Hesse (Fn. 28), S. 24 f.; Lerche (Fn. 71), S. 223; Rüfner (Fn. 88), S. 221 f.; ders. (Fn. 59), § 117 Rn. 66; Stern (Fn. 17), S. 1513, 1553 ff.; Götz (Fn. 69), S. 46 f. 183 Rupp (Fn. 126), S. 118 f. 184 Lerche (Fn. 11), S. 903 f. 185 Kant, Metaphysik der Sitten, 1797, Teil 1, Einleitung in die Rechtslehre, § B, in: ders., Werke, hrsg. von Weischedel, Bd. VIII, 1977, S. 337. 186 Lerche (Fn. 71), S. 222. 179 180
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trägern zu vermeiden und zu schlichten.187 Das Grundgesetz setzt vielmehr voraus, dass die Bürger im Umgang miteinander auch von sich aus Normen bilden, die einen verträglichen Gebrauch ihrer Freiheit ermöglichen. Gefragt sind Fähigkeiten und Haltungen der Menschen wie Takt, Stil und Moral. Es ist eine erfahrungsgesättigte Erkenntnis der Theorie rechtsstaatlich-demokratischer Verfassungen, dass das Gelingen eines freiheitlichen Staates nicht gedacht werden kann ohne das Ethos seiner Bürger.
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Isensee, AfP 1993, 929; auch zum Folgenden.
Nichtraucherschutz in Gaststätten vor dem Bundesverfassungsgericht Von Michael Sachs
An einer Festschrift mitwirken zu dürfen, ist stets eine Freude; wenn sie einem Weggefährten der ersten Stunde gewidmet ist, gilt dies ganz besonders. Nachdem in den letzten Jahren für andere Mitschüler zweimal Beiträge zu Gedächtnisschriften1 verfasst werden mussten, macht es darüber hinaus einfach froh zu wissen, dass der zu ehrende Kollege noch lebt und die ihm gewidmeten Beiträge wird lesen, ggf. auch darüber streiten können. Herbert Bethge blickt mit seinen nunmehr 70 Jahren auf ein so umfangreiches Werk zurück wie kaum ein anderer; beim jahrzehntelangen Austausch von Sonderdrucken hat er jedenfalls den Verfasser stets eindrucksvoll zu übertrumpfen gewusst. Trotz der bemerkenswerten Breite seines Schaffens lassen sich aber wohl zwei zentrale Bereiche identifizieren, die neben dem Medien- und insbesondere Rundfunkrecht weitere Schwerpunkte seiner Forschungstätigkeit ausmachen, nämlich die allgemeinen Grundrechtslehren einerseits, das Verfassungsprozessrecht andererseits.2 Zu beidem liefert die (bei der Abfassung dieses Beitrags) gerade ergangene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Nichtraucherschutz in Gaststätten3 aktuellen Diskussionsstoff, der hoffentlich das Interesse des Jubilars findet, der sich wiederholt mit den berührten Grundsatzfragen und – schon in seiner Dissertation4 – auch mit Fragen des in dem Urteil speziell berührten Grundrechts der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG befasst hat.
1 Gedächtnisschrift Burmeister, 2005, einerseits, Gedächtnisschrift Tettinger, 2007, andererseits. 2 Auf Einzelnachweise soll an dieser Stelle verzichtet werden; im Rahmen des Beitrags werden exemplarisch einige Beiträge des Jubilars aufgegriffen werden. 3 BVerfG, Urt. v. 30. 07. 2008, – 1 BvR 3262 / 07, 402 / 08 und 906 / 08 – NJW 2008, 2409. 4 Bethge, Der verfassungsrechtliche Standort der „staatlich gebundenen“ Berufe, Diss. Köln 1968.
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I. Probleme der allgemeinen Grundrechtslehren Wie viele grundrechtliche Grundsatzfragen ein so lapidarer Vorgang wie das Rauchen von Tabakwaren in einer Gaststätte exemplarisch aufwerfen kann, ist nach jahrzehntelangen Bemühungen um Grundstrukturen einer Grundrechtsdogmatik schon erstaunlich. Einige davon, mit denen sich Herbert Bethge besonders befasst hat, seien nachfolgend angesprochen. 1. Grundrechtskollisionen Grundrechtskollisionen waren vor mehr als 30 Jahren, als Bethge die Problematik in seiner Habilitationsschrift 5 aufgriff, zwar keine terra incognita senso strictu mehr, aber doch ein Phänomen, zu dem der Jubilar feststellen konnte, es sei „bislang meist nur kursorisch und sporadisch zur Kenntnis genommen, nur selten aber in seiner spezifisch verfassungsrechtlichen Bedeutung erkannt“ worden.6 Die dabei erst für „neuere Tendenzen in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts“ angeführten Entscheidungen setzen 19707 ein und enden mit einem Beschluss von Anfang 1974;8 das (erste) Abtreibungsurteil von Anfang 19759 mit der Erfindung oder Entdeckung der grundrechtlichen, für die Kollisionsproblematik zentral bedeutsamen Schutzpflichten war noch so frisch, dass es in einem gesonderten Abschnitt eingehend zu würdigen war.10 Bethge zog den Kreis der „Grundrechtskollisionen“ weit, ging über die in der Rechtsprechung zuerst so angesprochenen Ausgangsfälle der Begrenzung vorbehaltloser Grundrechte durch andere Grundrechte11 hinaus und bezog auch Fälle ein, in denen es darum ging, dass Grundrechte des einen zugunsten grundrechtlicher Belange anderer auf der Grundlage von Gesetzesvorbehalten beschränkt 5 Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, 1977, nach dem Vorwort auf dem „Stand von 1976 belassen“. 6 Bethge (Fn. 5), S. 1. 7 Bethge (Fn. 5), S. 1 Fn. 4, nennt zuerst BVerfGE 28, 243 (244 LS 2, 260), wo „kollidierende Grundrechte Dritter“ allerdings nur in einem obiter dictum als gegenüber Art. 4 Abs. 3 S. 1 GG begrenzungstauglich angesprochen wurden, weil dem Grundrecht im entscheidungserheblichen Zusammenhang allein die Einrichtung und Funktionstauglichkeit der Bundeswehr gegenüber gestellt wurde. 8 BVerfGE 36, 264 (281). 9 BVerfGE 39, 1 (36 ff.). 10 Bethge (Fn. 5), S. 408 ff. 11 Namentlich bezog sich Bethge (Fn. 5), S. 1 Fn. 4, auf BVerfGE 30, 173 (193) – Mephisto: Kunstfreiheit gegen Persönlichkeitsrecht (hier: Art. 1 Abs. 1 GG zugeordnet); BVerfGE 32, 98 (108) – Gesundbeter: Glaubensfreiheit gegen Lebensgrundrecht; BVerfGE 33, 23 (32) – Eideszwang – betraf zwar auch die als vorbehaltlos garantiert angesehene Glaubensfreiheit, prüfte aber deren Begrenzung durch das „Interesse an einer funktionstüchtigen Rechtspflege“, wobei auf Art. 92 GG verwiesen wurde und – damit aber nur sehr mittelbar – darauf, dass „jede Rechtsprechung letztlich der Wahrung der Grundrechte dient“.
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wurden;12 er vermied es aber, die spezifische Problematik13 dadurch konturenlos werden zu lassen, dass er außerdem die Kollision von Grundrechten mit Verfassungsrechtspositionen anderer Art einbezogen hätte.14 Dennoch umfassten die Grundrechtskollisionen auch nach seinem Verständnis noch ein weites und vielgestaltiges Feld von Erscheinungen, unter denen Bethge damals „als eines der jüngsten Produkte einer um Neubesinnungen und Adaptionen nie verlegenen Rechtsfindungsapparatur . . . das Verhältnis zwischen Raucher und Nichtraucher“ ansprach15 – näher analysiert hat er diese doch wohl ein bisschen spöttisch aufgegriffene spezielle Problematik damals nicht, so dass sie jedenfalls die nächsten 30 Jahre weitgehend ungelöst überstanden hat.16 Das jetzt ergangene Urteil des Bundesverfassungsgerichts und der im Nachgang folgende Kammerbeschluss zum bayerischen Gesundheitsschutzgesetz17 dokumentieren, dass auch nach all dieser Zeit trotz mancher dogmatischer Fortentwicklungen „definitive Antworten“ oder gar „eine allgemeine Formel, die als global wirkender Schlichtungstitel zu figurieren im Stande wäre“, nicht gefunden worden sind.18 Einige Berührungspunkte zu Überlegungen aus Bethges natürlich sehr viel breiter angelegten Habilitationsschrift und späteren Abhandlungen verdienen es, aufgegriffen zu werden. a) Zur tatbestandlichen Reichweite vom Verbot betroffener Grundrechte Eine besonders elegante Auflösung der Problematik besteht natürlich darin, durch entsprechende Eingrenzung des Schutzgegenstandes der vom gesetzlichen Verbot möglicherweise betroffenen Grundrechte dafür zu sorgen, dass sie von vornherein gar nicht beeinträchtigt werden, so dass es zu Grundrechtskollisionen erst gar nicht kommen kann. 12 So schon im Rahmen der Ausgangsliste einschlägiger Judikate mit BVerfGE 35, 202 (219) Rundfunkfreiheit gegen Persönlichkeitsrecht und BVerfGE 36, 264 (281), wo die abw. Meinung meinte, die Freiheit der Person sei mit „dem Grundrecht Dritter auf Schutz (sic!) ihres Lebens, ihrer Gesundheit, ihrer körperlichen Integrität abzuwägen.“ 13 Die Problematik der Begrenzung vorbehaltlos garantierter Grundrechte ist zugleich weiter und enger als die Frage der Grundrechtskollisionen, weil sie nur einige und nicht alle Grundrechtsbestimmungen betrifft, aber auch Fälle erfasst, in denen nicht Grundrecht gegen Grundrecht steht. 14 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 2, 1994, S. 607, zitiert denn auch die Begriffsbestimmung, auf die Bethge (Fn. 5), S. 1 f., zurück greift, für die echte Grundrechtskollision und grenzt sie von Konflikten mit anderen Verfassungsrechtspositionen als unechten Grundrechtskollisionen ab, ebda., S. 608, 657 ff. 15 Bethge (Fn. 5), S. 28. 16 S. allerdings schon BVerfGE 95, 173 (183 ff.), zur Verpflichtung der Produzenten und Händler von Tabakerzeugnissen zu deren Kennzeichnung mit Warnhinweisen. 17 BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, Beschluss v. 6. 8. 2008, – 1 BvR 3198 / 07, 1 BvR 1431 / 08 –, zit. nach www.bverfg.de. 18 Beides hat Bethge (Fn. 5), S. 28, 29, hellsichtig für nicht erreichbar erklärt.
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Im Nichtraucherschutz-Urteil schlägt die abw. Meinung des Richters Bryde diesen Weg vor; dort heißt es: „Es ist Teil der Berufsfreiheit, sich im Rahmen der bestehenden Gesetze das Suchtverhalten des Publikums wirtschaftlich zu Nutze zu machen, aber Art. 12 Abs. 1 GG schützt nicht davor, dass der Gesetzgeber solches Verhalten zum Schutz von Leben und Gesundheit erfolgreich bekämpft.“ Dies erinnert an die klassische Bestimmung des Berufsbegriffs dahin, dass es sich um „nicht verbotene“ (bzw. „erlaubte“) Tätigkeiten handeln müsse,19 eine Einengung, die heute weitgehend verworfen wird,20 weil sie der Bindung auch des Gesetzgebers an die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 3 GG nicht entspreche,21 die aber bei rechtem Verständnis im Sinne nicht durch allgemeines, unabhängig von der beruflichen Qualität der Ausübung eingreifendes Gesetz verbotener Tätigkeiten durchaus sinnvoll sein könnte.22 Bethge hat sich zu dieser Problematik mehrmals geäußert, ohne dass sich sein Standpunkt ganz eindeutig festlegen lässt. So hat er in seiner Habilitationsschrift 23 19 S. etwa BVerfGE 7, 377 (397); 48, 376 (388); 68, 272 (281); 81, 70 (85); BVerwGE 2, 110 (111); 4, 294 (295 f.); 71, 183 (189); 87, 37 (40 f.); OVG NRW NJW 1986, 2783; BayVGH NJW 1987, 727; ausdrücklich Pieroth / Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 23. Aufl. 2007, Rn. 810; wohl auch Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu / Klein, Grundgesetz, 10. Aufl. 2004, Art. 12 Rn. 26 („jede sinnvolle, erlaubte Tätigkeit“); Burghart, in: Leibholz / Rinck / Hesselberger, Grundgesetz, Bd. I, Art. 12 (1999) Rn. 46; differenzierend Langer, JuS 1993, 206; s. auch schon v. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, 1953, Art. 12 Anm. 3, S. 93 mit dem Beispiel der Vornahme gewerbsmäßiger Abtreibungen; ähnlich Klein, in: v. Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, 2. Aufl. 1957, Art. 12 Anm. III 2 a, der als Kriterium „Sozialwertigkeit des angestrebten Tätigkeitserfolgs“ fordert, mit den Beispielen professioneller Taschendiebe und Totschläger aber eben doch „an sich verbotene“ Tätigkeiten nennt; für die Beschränkung auf „rechtmäßige“ Tätigkeiten Uber, Die Freiheit des Berufs, 1952, S. 99 ff.; vgl. auch bereits vor dem Grundgesetz zum Gewerbebegriff etwa PrOVGE 81, 410 (412); PrOVG GewArch 1916, 3; Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1931, S. 493. 20 Ausdrücklich im Allgemeinen offen gelassen allerdings in BVerfGE 98, 265 (297), wo rechtswidrige Schwangerschaftsabbrüche (jedenfalls deshalb) zum Gegenstand der durch Art. 12 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützten ärztlichen Berufstätigkeit gezählt wurden, weil sie einen Teil eines gesetzgeberischen Konzepts zum Schutz des ungeborenen Lebens darstellten; offen auch BVerfGE 102, 197 (213 f.) – Spielbanken. 21 Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV / 1, 2006, S. 1789 f.; Papier, Festschrift Stern, 1997, S. 553; kritisch bis ablehnend auch Mann, in: Sachs, Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, Art. 12 Rn. 52; Breuer, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 2. Aufl. 2001, § 147 Rn. 44; Wieland, in: Dreier, Grundgesetz, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 12 Rn. 57; Gubelt, in: v. Münch / Kunig, Grundgesetz, Bd. I, 5. Aufl. 2000, Art. 12 Rn. 9; Suerbaum, DVBl. 1999, 1691 ff.; Gassner, NVwZ 1995, 449 f.; ferner bereits Bachof, in: Bettermann / Nipperdey / Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III / 1, 1958, S. 190 f., der aber dann doch „schlechthin unrechtmäßige“ Tätigkeiten ausnimmt; Rupp, AöR 92 (1967), 218 f. 22 Näher Sachs, Verfassungsrecht II, Grundrechte, 2. Aufl. 2003, B 12 Rn. 6 ff., auch ebda., Rdn. 26, zum parallel wirksamen Erfordernis eines Eingriffs, der gerade gegen die Berufsfreiheit gerichtet ist oder doch eine zumindest objektiv berufsregelnde Tendenz aufweist. 23 Bethge (Fn. 5), S. 409 ff., 410, nimmt eine „genuine Grundrechtskonfliktlage zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Frau und dem Recht des nasciturus auf Leben“ an.
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wie später in seinem Vortrag vor der Staatsrechtslehrervereinigung24 in aller Klarheit25 das Tun der abtreibungswilligen Frau als grundrechtlich geschützt eingestuft; andererseits hat er in einem erst kürzlich erschienenen Beitrag der These Isensees zugestimmt, „daß es schon auf der Tatbestandsebene keine ,Freiheit zur Verletzung der Grundrechte anderer‘“ gebe.26 Ist die zweite Aussage nicht nur der Courtoisie geschuldet, die einem Festschriftenbeitrag jedenfalls gut zu Gesicht steht, sondern tatsächlich das letzte und damit jetzt maßgebliche Wort Bethges in dieser Frage,27 dann müsste er heute jedenfalls die Tötung Ungeborener vom Grundrechtsschutz von vornherein, tatbestandlich, und nicht erst „auf der Schrankenebene“ ausnehmen, aber wohl auch die Schädigung anderer Menschen durch das Rauchen von Tabakwaren in ihrer Gegenwart oder auch das Verkaufen derselben,28 und zwar beim gegenwärtigen Erkenntnisstand selbst dann, wenn man die Absage an die Freiheit zur Grundrechtsverletzung auf Vorsatzfälle beschränken würde. b) Kollisionsauflösung zwischen Gesetzgebung und Verfassungsrechtsprechung Sieht man das Rauchen,29 die Produktion und den Verkauf von Tabakwaren sowie auch das Betreiben von Gaststätten ohne Rauchverbot als Grundrechtsbetätigungen und nimmt an, dass durch das Einatmen von tabakrauchgeschwängerter 24 Bethge, VVDStRL 57 (1998), 24, wonach die Position der abtreibenden Frau „freiheitsrechtlich fundiert“ sei. 25 Dies gilt freilich nur für die Aussage zum Schwangerschaftsabbruch selbst sowie für das als Grundsatz vorangestellte und weitgehend konsequent durchgeführte „Gebot umfassenden Grundrechtsschutzes“ (Bethge VVDStRL 57, (1998), 20 und ff.), im Übrigen wendet sich Bethge aber auch schon hier (ebda.), S. 24 f., gegen die „Entgrenzung . . . der Grundrechte auf der Tatbestandsseite“, lehnt deshalb etwa den Grundrechtsschutz der unfriedlichen Versammlung über Art. 2 Abs. 1 GG ebenso ab wie den Grundrechtsschutz der beruflichen Betätigung des Ausländers über Art. 2 Abs. 1 GG, den der zitierte Kammerbeschluss (Fn. 17) dem beschwerdeführenden ausländischen Gastwirt ganz selbstverständlich zusprach. 26 Bethge, Festschrift Isensee, 2007, S. 615 m. Nachw. in Fn. 35. Nach dem Kontext kommt eine immerhin denkbare Auslegung dieser Aussage dahin, dass es diese Freiheit allein deshalb nicht gibt, weil Private mangels Grundrechtsbindung Grundrechte gar nicht verletzen können, nicht ernstlich in Betracht, folgt die zitierte Passage doch unmittelbar einer Absage an „exzessive bzw. schrankenlose Freiheitsgewährleistung“. 27 Dafür spricht auch, dass Bethge, in: Sachs (Fn. 21), Art. 5 Rn. 35, „Friedlichkeit und Gewaltlosigkeit . . . (als) Tatbestandsvoraussetzungen jeglicher Grundrechtsbetätigung“, auch der nach Art. 5 Abs. 1 GG sieht; krit. zu dieser Sichtweise zuletzt etwa Schaefer, Grundlegung einer ordoliberalen Verfassungstheorie, 2007, S. 140 ff. m. w. N. 28 Zum Grundrechtsschutz des Gaststättenbetriebs unter Duldung des Rauchens noch unten zu 2. 29 Unter anderem die Verfassungsbeschwerde einer Raucherin hatte der erwähnte Kammerbeschluss (Fn. 17) zum Gegenstand; das vorangegangene Urteil (Fn. 3, Rn. 121) hatte – ohne entsprechenden prozessualen Anlass – zu den durch das Rauchverbot beeinträchtigten Freiheitsrechten neben der Berufsfreiheit der Gastwirte auch die „Verhaltensfreiheit der Raucher“ gezählt.
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Luft Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit und Gefährdungen des Lebens der Passivraucher eintreten, ist eine (echte) Grundrechtskollision im Bethge’schen Sinne gegeben. Sie bedarf der Auflösung, wobei Bethge mit Recht schon in seiner Habilitationsschrift ausführlich dargelegt hat, dass die Problembewältigung zunächst der Gesetzgebung aufgegeben ist und dass auf dieser Grundlage die Rechtsanwendung im Einzelfall gefordert sein kann, dass aber all diese Bemühungen um die Auflösung der Grundrechtskonflikte auf der abstrakten wie der konkreten Ebene der verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterworfen bleiben.30 Nach dem heutigen Stand der Grundrechtsdogmatik geht es dabei darum, dass die Gesetzgebung einerseits grundrechtliche Schutzpflichten31 zu erfüllen hat, dadurch andererseits nicht von der Achtung der freiheitsgrundrechtlichen Sphäre der Personen freigestellt ist, die er zum Schutz der Grundrechte der anderen zu bestimmten Verhaltensweisen verpflichtet. Das Bundesverfassungsgericht wird mit derartigen Konstellationen regelmäßig, so auch bei der Problematik des Passivrauchens, über Verfassungsbeschwerden nicht derjenigen, die ausbleibenden Grundrechtsschutz beanstanden,32 sondern der von den gesetzlichen Verpflichtungen Betroffenen befasst. Betreffen die angegriffenen Freiheitsbeschränkungen kein vorbehaltloses Grundrecht, besteht für das Verfassungsgericht keine Notwendigkeit, die grundrechtlichen Schutzpflichten als solche zu thematisieren; der Gesetzesvorbehalt, der dadurch andernfalls substituiert werden müsste, steht ja de constitutione scripta auch ohnedies zur Verfügung. Die durch das Verbotsgesetz zu schützenden Grundrechtsbelange erscheinen im Rahmen der Prüfung des Gesetzes aber immerhin bei der Frage des Gemeinwohlzieles, auf das sich die vorzunehmende Prüfung der Wahrung der Anforderungen der Verhältnismäßigkeit bezieht, sowie ggf. als Abwägungsposten bei der Frage nach der Proportionalität der angeordneten Beschränkungen. Damit kann der Verfassungsrang auch der durch das Verbotsgesetz geschützten Belange angemessen berücksichtigt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Nichtraucherschutz-Urteil denn auch in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf grundrechtliche Schutzpflichten des Staates zugunsten der körperlichen Unversehrtheit und sogar des Lebens der Passivraucher abgehoben.33 Den zugleich bewirkten Schutz der Raucher, die durch das Rauchverbot in Gaststätten nicht ganz unwahrscheinlicherweise auch dazu gebracht werden, insgesamt weniger zu rauchen, stellt das Bundesverfassungs30 Bethge (Fn. 5), S. 272 ff.; auch im Lichte neuerer Entwicklungen noch einmal ders., Gedächtnisschrift Tettinger, 2007, S. 369 ff. 31 In der Habilitationsschrift Bethges (Fn. 5) ist dieser Gedanke zwar bereits präsent, hat sich aber noch nicht in einem Sachregistereintrag niedergeschlagen. 32 Zu den Gründen näher Bethge (Fn. 26), S. 622. Zustimmung verdient jedenfalls sein Hinweis auf die weitreichenden Gestaltungsspielräume der zum Schutz verpflichteten Gesetzgebung; zur recht apodiktischen Ablehnung subjektiver Rechte s. noch unten II. 33 BVerfG NJW 2008, 2409 (2413 ff. = Rn. 119 f., 129).
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gericht nicht in die Abwägung ein;34 vielmehr wird für sie nur das Freiheitsinteresse, rauchen zu dürfen, angeführt – der mitbewirkte Gesundheitsschutz auch der Raucher selbst erscheint nur negativ, wird als vom Gesetz nicht angestrebte Nebenwirkung ausgeblendet, um dem Vorwurf der Bevormundung durch einen aufgedrängten Grundrechtsschutz gegen sich selbst zu entgehen. Ob die günstigen Auswirkungen auf die Gesundheit der Raucher nicht auch unabhängig von der Intention des Gesetzgebers hätten beachtlich sein können, spielte im Entscheidungskontext keine Rolle mehr. Dass weiter gehende Rauchverbote (auch) zum Schutz der Gesundheit der Raucher selbst verfassungswidrig wären, ist damit natürlich nicht entschieden; immerhin kommen auch für diesen Fall zusätzliche Gemeinwohlinteressen, wie etwa eine Entlastung der Sozialversicherung von durch Rauchen bedingten Krankheitskosten, in Betracht.35 Der aufgedrängte Grundrechtsschutz wird auch für die Nichtraucher thematisiert, allerdings ohne dass gegenüber dieser Personengruppe irgendein Grundrechtseingriff zur Debatte stand.36 Eine Aufdrängung wird verneint, weil Nichtraucher ohne das Gesetz unter den bestehenden Gegebenheiten keine andere Wahl hätten, als gesundheitsgefährdend verrauchte Gaststätten aufzusuchen37 – die Möglichkeit, auf den Gaststättenbesuch zu verzichten, wird (als gänzlich unzumutbar?) ausgeblendet; bezieht man sie gedanklich ein, wandelt sich das gesetzlich geschützte Gut, weil nicht eigentlich die Gesundheit der Nichtraucher, sondern ihre Möglichkeit zum unbeschadeten Gaststättenbesuch gefördert würde, was eine wohl doch nicht gar so hochrangige Grundrechtsposition darstellen dürfte.38 Die Bereitschaft der Nichtraucher, sich den Gefahren des Passivrauchens auszusetzen, war zuvor bereits bei der Frage eines vernünftigen Gemeinwohlsziels behandelt worden; dabei wurde die Freiwilligkeit des Besuchs verrauchter Gaststätten nicht in Zweifel gezogen, aber nicht als „Einverständnis mit einer Gesundheitsgefährdung durch Passivrauchen“ anerkannt, sondern als „faktisch unvermeid34 Nicht berücksichtigt wurden die jedenfalls auch berührten Absatzinteressen der Tabakwarenindustrie bzw. des Handels oder – ferner liegend – die Interessen von Kindern, deren Eltern in Zukunft statt in Gaststätten in den Räumen der Familienwohnung (verstärkt) rauchen könnten. 35 Vgl. zu dieser Argumentationslinie entsprechend bereits den Beschluss zur Schutzhelmpflicht, BVerfGE 59, 275 (279), den das Bundesverfassungsgericht jetzt wieder in Bezug genommen hat. 36 Immerhin wäre durchaus daran zu denken gewesen, dass Nichtraucher trotz aller Gesundheitsgefahren ein über Art. 2 Abs. 1 GG geschütztes Interesse daran haben könnten, gemeinsam mit befreundeten, verwandten, mit ihnen verheirateten Rauchern Gaststätten aufsuchen zu können, in denen das Rauchen nicht verboten ist, oder dass einige Nichtraucher gar einfach den lieb gewordenen Kneipenmief oder den Wohlgeruch von Pfeifen oder dicken Zigarren nicht missen wollen. 37 BVerfG NJW 2008, 2409 (2414 f. = Rn. 127). 38 Auch wenn nach der Entscheidung zum Reiten im Walde, BVerfGE 80, 137 ff., selbst ein Sondervotum gegen die Erstreckung von Art. 2 Abs. 1 GG auf die Freiheit zum Gaststättenbesuch ausscheiden dürfte.
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bare Inkaufnahme dieses Risikos, um uneingeschränkt am gesellschaftlichen Leben . . . teilnehmen zu können“, qualifiziert. An ein Einverständnis der Geschützten, das ein vernünftiges Gemeinwohlanliegen ausschließen könnte, stellt das Bundesverfassungsgericht damit hohe Anforderungen, die wohl noch über die bei einem sog. Grundrechtsverzicht39 hinausgehen dürften; ob es ggf. – mangels anderer Legitimationsgrundlagen – von vornherein ein schützendes Gesetz ausschließen würde, ist offen. Bethge ist in seinen Aussagen zur Problematik stets für „weitreichende Gestaltungsmöglichkeiten und Einschätzungsprärogativen“ des Gesetzgebers eingetreten.40 Dem entspricht es bezogen auf die Spielräume zur Grundrechtsbeschränkung sicherlich, dass das Bundesverfassungsgericht strikt verbindliche Rauchverbote hingenommen hätte41 bzw. dann für Bayern auch hat. Umgekehrt soll der Spielraum des Gesetzgebers gegenüber den berührten staatlichen Schutzpflichten auch ausreichen, um einen (zumindest partiellen) Verzicht auf Nichtraucherschutzgesetze zu rechtfertigen. Überraschend war dann aber schon die Annahme der Verfassungswidrigkeit eines sogar noch stringenter möglichen, weniger weit reichenden Verbotsgesetzes mit Rücksicht auf die Berufsfreiheit besonders gravierend betroffener Gastwirte, die bei einheitlich gefasstem strikten Verbot des Rauchens in allen Gaststätten hätte zurücktreten müssen. Zu erklären ist diese Wendung nur mit dem im ersten Teil des Urteils etwas verschämt nachgetragenen Aspekt des Gleichheitssatzes.42 Dieser erlangt entscheidendes Gewicht, ohne dass die Gleichheitsinteressen in eine Abwägung mit den durch die Gesetzgebung zu schützenden Grundrechtsbelangen gestellt worden wären. Dies mag daran liegen, dass die Qualität des Gleichheitssatzes als ein echtes Grundrecht43 oder doch die Eigenwertigkeit seines Schutzgegenstandes nicht erkannt oder ernst genommen worden sind. Es erklärt sich aber schon daraus, dass eine Beeinträchtigung der angesprochenen Gleichheitsinteressen vermieden werden kann, ohne die zu wahrenden Schutzinteressen anderer Grundrechte aufzugeben. Ein Zurücktreten des Gleichheitssatzes im Rahmen einer Interessenabwägung zur Auflösung von Grundrechtskollisionen wird nur notwendig, wenn ohne die an sich verbotene Ungleichbehandlung die Erfüllung der Schutzpflicht in ihrem unabdingbaren Minimalgehalt ausgeschlossen wäre. Eine andere Frage ist es, ob die Konzentration des Urteils auf das vom Gesetzgeber beschränkt gewählte Regelungsziel und die Forderung nach seiner folgerichtigen Umsetzung gleichheitsrechtsdogmatisch haltbar ist. Die abw. Meinung des Dazu bei berechtigter Kritik an diesem Ausdruck nur Bethge, VVDStRL 57 (1998), 44. Vgl. neben den o. in Fn. 30 genannten Belegstellen für das Zitat namentlich Bethge (Fn. 26), S. 622, dort bezogen auf Schutzpflichten. 41 Ablehnend allerdings die abw. Meinung des Richters Masing, NJW 2008, 2409 (2421 f. = Rn. 186 ff.). 42 BVerfG NJW 2008, 2409 (2414 = Rn. 124). 43 Dafür explizit schon Bethge (Fn. 5), S. 234 ff. 39 40
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Richters Masing weist (im Rahmen von Überlegungen zur Verhältnismäßigkeit bei Art. 12 Abs. 1 GG) darauf hin, dass „das verfassungsrechtliche Gewicht des Gesundheitsschutzes . . . nicht Folge gesetzlicher Wertungen, sondern deren Maßstab“ sei.44 Entsprechend ließe sich bei der Bestimmung des maßgeblichen tertium comparationis für die Gleichbehandlungsfrage argumentieren. Die Lösung der Senatsmehrheit, eine Regelung als verfassungswidrig zu verwerfen, die einerseits die betroffenen Freiheitsrechte (auch der Eckkneipiers) weniger als an sich möglich einschränkt, andererseits aber auch nicht hinter den Anforderungen der Schutzpflicht zurückbleibt, ist jedenfalls in einer oft ausgeprägt kompromisslerischen Judikatur auffällig. Beide Sondervoten protestieren denn auch gegen die Absage an den Kompromiss (Bryde) und den daraus resultierenden Zwang zur Extremlösung (Masing). Sie treffen sich damit mit Bethges Grundansatz, der schon 1976 / 1977 für die Bewältigung der Probleme der Grundrechtskollisionen in der Praxis zu „einer Grundrechtshandhabung des mittleren Maßes und der maßvollen Mitte“ geraten hatte.45 2. Zum Grundrechtseingriff Zum Grundrechtseingriff, dem der Jubilar seinen brillanten Vortrag vor der Staatsrechtslehrervereinigung46 gewidmet hat, steuert das NichtraucherschutzUrteil einen eigenwilligen Ansatz bei. Ohne dass dies angesichts der praktisch allseitigen Anerkennung der Relevanz auch anderer Grundrechtsbeeinträchtigungen als nur „klassischer Eingriffe“47 angezeigt gewesen wäre, qualifiziert das Bundesverfassungsgericht die Beeinträchtigung der beruflichen Betätigung der Gastwirte durch das an die Raucher adressierte Verbot, in Gaststätten zu rauchen, dahin, dass es nicht dessen „bloßer Reflex“ sei, sondern einen „unmittelbaren Eingriff“ darstelle;48 die abw. Meinung des Richters Bryde meint gerade umgekehrt, (selbst) die (allein in Betracht gezogenen) „wirtschaftlichen Auswirkungen“ eines allgemeinen Rauchverbots würden für die Gastwirte „grundrechtlich nur Reflex“ sein. Der Senat hätte die von ihm angeschnittene Problematik wohl so gar nicht aufwerfen müssen. Denn die angegriffenen Gesetze enthielten neben den an die Raucher gerichteten Verboten ergänzende Unterbindungspflichten der Gastwirte selbst, die in jedem Fall „unmittelbare Eingriffe“ in deren berufliche Freiheit im Umgang mit ihren Gästen bedeuteten. Ob diese Unterbindungspflicht des Gastwirts – wie BVerfG NJW 2008, 2409 (2421 = Rn. 179). Bethge (Fn. 5), S. 34 f. 46 Bethge, VVDStRL 57 (1998), insbes. S. 37 ff. 47 Zur Ablösung dieses Begriffs durch einen erweiterten Ansatz und zu den Problemen des letzteren näher Bethge, VVDStRL 57 (1998), insbes. S. 38 ff. 48 BVerfG NJW 2008, 2409 (2410 = Rdn. 94); der Annahme eines Eingriffs ohne nähere Ausführungen folgend auch das Sondervotum des Richters Masing (ebda., S. 2421 = Rn. 179). 44 45
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der Senat meint hinzufügen zu müssen – wirklich „zwangsläufig voraus(setzt), dass ihn das Gesetz bereits an der Bewirtung von Rauchern hindert“ – wobei unter „Rauchern“ hier offenbar nur die Personen verstanden werden, die während der Bewirtung in Gaststätten diesem ihrem Laster frönen –, ist fraglich; es dürfte sich genau genommen nicht um eine Voraussetzung, sondern umgekehrt um eine Konsequenz der Unterbindungspflicht handeln, die natürlich deren grundrechtliche Bewertung hätte mit beeinflussen können. Blendet man die an die Gastwirte adressierte Unterbindungspflicht aus, kann das Verbot, in der Gaststätte zu rauchen, soweit es sich an die Gäste richtet,49 nur schwerlich als „unmittelbarer“ Eingriff in die Freiheit der Gastwirte eingestuft werden. Denn die Wirkungen des an die Gäste gerichteten Rauchverbots treffen die Gastwirte doch vermittelt (also im Wortsinne „mittelbar“) durch das Verhalten der von dem Verbot angesprochenen Raucher, die wegen des Verbots die Gaststätten weniger oder kürzer aufsuchen und damit für Umsatzeinbußen der Gastwirte sorgen. Ob letzteres als grundrechtlich relevant eingestuft werden sollte, was etwa der Richter Masing explizit bezweifelt, der nur eine nicht vom Grundrechtsschutz erfasste Änderung der Marktchancen der betroffenen Gastwirte annimmt,50 steht auf einem anderen Blatt und ist hier nicht zu klären. Folgt man diesen Bedenken nicht, hätte es bei gleichzeitiger Anerkennung der nur mittelbaren Natur der Einwirkung näherer Prüfung bedurft, ob diese Konsequenzen dem Staat als rechtfertigungsbedürftige Grundrechtsbeeinträchtigungen zugerechnet werden können, was trotz aller bis heute fortbestehenden Probleme in diesem Zusammenhang angesichts der Kausalität des Rauchverbots für das Verhalten der Gäste und dessen Vorhersehbarkeit nicht wirklich fraglich sein sollte.51 3. Zur „Elfes-Konstruktion“ In einem weiteren Punkt, der den Jubilar wiederholt beschäftigt hat, folgt das Nichtraucherschutz-Urteil, wenn man kleinere Unstimmigkeiten ausblendet, altbewährten Pfaden, wenn es verlangt, dass Beschränkungen der Berufsfreiheit durch Gesetz nur durch „ein kompetenzgemäß erlassenes Gesetz“ erfolgen können.52 Die 49 Soweit das Rauchverbot auch die Gastwirte selbst beim Aufenthalt in ihrer Gaststätte anspricht, ist natürlich ein klassischer Eingriff gegeben, der aber wohl eher dem Art. 2 Abs. 1 GG zuzuordnen ist. 50 Sondervotum des Richters des BVerfG Masing, NJW 2008, 2409 (2421 = Rn. 180). 51 Wie Bethge dies beurteilen würde, ist nach seinen Ausführungen in VVDStRL 57 (1998), 40 f., wo er die Begrenzung auf Finalität – die u.U. schon bei Vorhersehbarkeit erfüllt ist – nur für die Unterstellung unter der Vorbehalt des Gesetzes forderte, nicht ganz eindeutig. Zur Frage einer spezifischen Ausrichtung gerade gegen die Berufsfreiheit s. o. Fn. 22. 52 BVerfG NJW 2008, 2409 (2411 = Rn. 96); das Bundesverfassungsgericht spricht allerdings (auch schon in Rn. 95) davon, dass Eingriffe auf einer u. a. gesetzlichen Grundlage beruhen müssen, obwohl es zuvor (ebda., S. 2410 Rn. 91 ff.) die gesetzliche Regelung selbst
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Bezugnahme (nur) auf einige speziell einschlägige Präjudizien aus neuerer Zeit kann nicht verdecken, dass hier allgemeine Anforderungen an grundrechtsbeschränkende Gesetze überhaupt angesprochen sind, wie sie das Bundesverfassungsgericht zuerst in seinem berühmten Elfes-Urteil zu Art. 2 Abs. 1 GG formuliert hat.53 Bethge steht dieser Entscheidung seit jeher skeptisch gegenüber, spricht in seiner Habilitationsschrift von „der schon verfassungsprozessual alles andere als stimmigen und bedenkenfreien ,Elfes-Konstruktion‘“54, macht aber später deutlich, dass sich seine Bedenken weniger gegen diese allerdings weiterhin so apostrophierte „Konstruktion“ richten, als vielmehr gegen denkbare (und gelegentlich wohl auch vorkommende) Missverständnisse und Fehlanwendungen.55 Tatsächlich ist aus der Rückschau die Einsicht, „daß nur ein kompetenzgemäßes Gesetz einen grundrechtsgemäßen Eingriff vermitteln kann,“ in der Tat eher eine „Banalität“, die gleichwohl der „Faszination“ nicht entbehrt.56 Bethge betont mit Recht, dass „die Elfes-Konstruktion nicht vom Erfordernis der persönlichen Betroffenheit (Beschwer) des Grundrechtsträgers befreit, sondern den vom Akt öffentlicher Gewalt ausgehenden Grundrechtseingriff voraussetzt“.57 Ist dieser aber gegeben, kann er nur „durch ein in jeder – auch in formeller – Hinsicht verfassungsgemäßes Gesetz“ erfolgen oder zugelassen werden,58 eine Einsicht, die heute zwar grundsätzlich fast allgemein Anerkennung findet, deren Geltung auch für Fälle der (zusätzlich gegebenen) Grundrechtsverletzungen Dritter aber in wenig konsequenter Weise bestritten bleibt.59 als den Eingriff qualifiziert hat; die in Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG ja auch ausdrücklich betonte Möglichkeit, dass Eingriffe nicht nur auf Grund eines Gesetzes, sondern auch durch Gesetz erfolgen können, ist hier offenbar aus dem Blickfeld geraten. Zur Bewertung der Ausführungen zur Gesetzgebungskompetenz im Einzelnen, die in beiden Sondervoten angezweifelt werden (Bryde, ebda., S. 2420 = Rn. 173; Masing, ebda., S. 2422 = Rn. 189), ist hier nicht Stellung zu nehmen. 53 BVerfGE 6, 32 (40 f.). 54 Bethge (Fn. 5), S. 381; zur verfassungsprozessualen Seite s. noch unten II. 55 S. namentlich Bethge, VVDStRL 57 (1998), 25, mit der Zwischenüberschrift: „Die Ambivalenz der ,Elfes-Konstruktion‘“, und ders. (Fn. 26), S. 613, wo er dem Untertitel nach „zum aktuellen Stellenwert der Elfes-Konstruktion“ Stellung nimmt; im Sachverzeichnis seiner Kommentierung des § 90 (Februar 2007) in: Maunz u. a., Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Stand April 2008, ist die „Elfes-Konstruktion“ als Stichwort mit neun angegebenen Stellen aufgegriffen. 56 Alles Zitierte bei Bethge, VVDStRL 57 (1998), 25. 57 Bethge (Fn. 26), S. 618; auch ders., VVDStRL 57 (1998), 25. 58 Bethge (Fn. 26), S. 619. 59 Näher Sachs, in: ders., Grundgesetz (Fn. 21), vor Art. 1 Rn. 135 am Ende m. w. N.; ausführlich im Sinne der hier abgelehnten Sichtweise noch Frotz, Die Reichweite des grundrechtlichen Abwehranspruchs, 2006, S. 191 ff. Wenn Bethge (Fn. 55), § 90 Rn. 360, jede Berufung auf Grundrechte Dritter ausschließt, steht das (zumal angesichts der Berufung auf Pestalozza) mit dem Text nicht in Widerspruch, weil ja der durch ein etwa wegen Verstoßes
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II. Verfassungsprozessuale Fragestellungen Verfassungsprozessrechtliche Fragen wirft das Nichtraucherschutz-Urteil zumal in zwei Beziehungen auf. Zum einen stellt sich die Frage, wie die vom Bundesverfassungsgericht aus der angenommenen Verfassungswidrigkeit des Gesetzes gezogenen Konsequenzen zu bewerten sind (unten 1.), zum anderen könnte es etwa bei Untätigkeit der betroffenen Landesgesetzgeber wichtig werden, ob nicht auch Nichtraucher die Möglichkeit haben, über das Bundesverfassungsgericht die Einhaltung der ihnen gegenüber bestehenden Schutzpflichten einzufordern (2.).
1. Das Bundesverfassungsgericht als Ersatzgesetzgeber Das Nichtraucherschutzurteil hält die angegriffenen Bestimmungen für unvereinbar mit Art. 12 Abs. 1 (teils: i. V. mit Art. 3 Abs. 1) GG, erklärt sie aber nicht für nichtig, „da den Landesgesetzgebern für die Neuregelung mehrere Möglichkeiten zur Verfügung stehen“.60 Warum diese bei Gleichheitsverletzungen seit langem verwendete Begründung61 die Abweichung von der Nichtigerklärung, die § 78 S. 1 BVerfGG nach wie vor vorschreibt, rechtfertigen soll, wird nicht erläutert, ist auch nicht erkennbar, da die Nichtigerklärung die (sonst gern zur Begründung angeführte) Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in keiner Weise verkürzt hätte.62 Dies gilt vor allem für die Zeit nach dem Wirksamwerden einer Neuregelung, weil es insoweit mit deren (prinzipiell gebotenen)63 Rückwirkung keine Probleme gibt.64 Für die Zwischenzeit soll nach der Konzeption, die das Bundesverfassungsgericht für die Wirkungen bloßer Unvereinbarerklärungen entwickelt hat, die vergegen Gleichheitsrechte seiner Arbeitnehmerinnen nichtiges Gesetz beeinträchtigte Arbeitgeber als Normadressat sein eigenes Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 oder Art. 2 Abs. 1 GG geltend machen kann (vgl. BVerfGE 85, 191 [205 f.]). Warum allerdings gesetzliche Einschränkungen der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie nicht ebenfalls in jeder Beziehung verfassungsgemäß sein müssen, so Bethge (Fn. 26), S. 620, leuchtet nicht ein; denn das Erfordernis voller Verfassungsmäßigkeit beschränkender Gesetze ist von den Unterschiedlichkeiten der betroffenen Rechtspositionen unabhängig. Auch die in ihrem geschützten Rechtskreis gesetzlich beschränkte Kommune macht die durch das Gesetz bewirkte Beeinträchtigung ihres subjektiven Rechts geltend, nicht die Verletzung der anderen Grundgesetzbestimmungen als solche. 60 BVerfG NJW 2008, 2409 (2419 = Rn. 161). 61 S. etwa BVerfGE 22, 349 (361 f.) m. w. N.; bereits von einer „ständigen Rechtsprechung“ spricht BVerfGE 27, 391 (399). 62 Zur Variante einer Teilnichtigerklärung s. insoweit noch unten nach Fn. 79. 63 Zur prinzipiellen verfassungsrechtlichen Notwendigkeit einer auch rückwirkenden Beseitigung eines festgestellten Verfassungsverstoßes schon BVerfGE 55, 100 (110); ferner etwa BVerfGE 100, 104 (136 f.); 101, 54 (105); ferner – in concreto abweichend – BVerfGE 87, 114 (136 f.); 87, 153 (178 ff.); 99, 280 (298 ff.). 64 Zum Ausschluss rückwirkender Neuregelung etwa BVerfGE 115, 81 (94) m. w. N.
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fassungswidrige Norm ihre Rechtswirkungen nicht mehr entfalten können,65 sollen die rechtsanwendenden Stellen ihre Verfahren bis zur gesetzlichen Neuregelung aussetzen müssen.66 Diese Grundform der Unvereinbarerklärung wird allerdings seit einiger Zeit zunehmend ergänzt durch eine meist befristete Fortgeltungsanordnung zugunsten der verfassungswidrigen Bestimmung,67 die sich im Grundsatz dadurch rechtfertigt, dass die Folgen der (zeitweiligen) Nichtanwendung den Anforderungen der Verfassung noch weniger gerecht werden als die ihrer (vorübergehenden) Weiteranwendung.68 Von einer Wahrung gesetzgeberischer Möglichkeiten für die dem alten Recht überlassene Zwischenzeit kann bei dieser Lösung jedenfalls nicht die Rede sein. Das Nichtraucherschutzurteil geht demgegenüber einen Schritt weiter; es ordnet die weitere Anwendung der für verfassungswidrig erklärten Rauchverbotsbestimmungen schon „wegen der hohen Bedeutung des Schutzes der Bevölkerung vor den Gefahren des Passivrauchens“ an.69 Dass die Nichtanwendung der Vorschriften (schlimmere) verfassungswidrige Konsequenzen hätte, insbes. mit den grundrechtlichen Schutzpflichten unvereinbar wäre, wird in dem Urteil jedenfalls (sonst) nicht festgestellt; dass andererseits bei den Ausführungen zur Zulässigkeit des weniger stringenten Schutzkonzepts der landesgesetzlichen Regelungen70 nicht (ausdrücklich) gesagt wird, dass auch ein vollständiger Verzicht auf die Rauchverbote in Gaststätten mit den grundrechtlichen Schutzpflichten noch in Einklang zu bringen wäre, ersetzt nicht die Feststellung einer Schutzpflichtverletzung für diesen Fall, die allein erlauben würde, die Nichtanwendung der Bestimmungen für verfassungswidrig zu halten. Eine solche Aussage in die andernfalls kaum zureichend begründete Fortgeltungsanordnung hineinzulesen, wäre dem Gewicht des Vorgangs nicht angemessen. 65 Vgl. aus neuerer Zeit etwa BVerfGE 99, 280 (298); auch BVerfGE 107, 133 (149); 108, 82 (121); eine auf § 35 BVerfGG gestützte ausdrückliche Unanwendbarerklärung findet sich in BVerfGE 115, 1 (25). 66 S. etwa schon BVerfGE 28, 324 (362 f.); 37, 217 (261); aus neuerer Zeit BVerfGE 100, 59 (103); 100, 104 (136); 100, 226 (248); 106, 166 (181); 107, 150 (186); entsprechend bei gesetzgeberischem Unterlassen BVerfGE 115, 259 (276); 116, 96 (135). Klageabweisung bei bloßer Unvereinbarkeit untergesetzlicher Normen billigt BVerfGE 115, 81 (93 ff.), im Hinblick auf fehlende (Rechtskraft-) Bindung des Normsetzers. 67 BVerfGE 87, 153 (177 ff.); 93, 121 (148); 93, 165 (178 f.); 99, 216 (244); 102, 68 (98); 102, 127 (145 f.); 103, 1 (9, 19 f.); 103, 242 (270); 105, 73 (134); 107, 133 (134, 148 f.); 109, 64 (95 f.); 109, 190 (235 ff.); 111, 191 (224 f.); 111, 289 (306); 115, 381 (393); 116, 243 (270); 117, 1 (70); 117, 163 (199 ff.); 117, 202 (243); 118, 45 (78 f.); 118, 168 (211); BVerfG NJW 2008, 1868 (1875). 68 Vgl. z. B. BVerfGE 33, 303 (305, 347 f.); 83, 130 (154); 84, 9 (21); 87, 153 (177 f.); 89, 381 (394). 69 BVerfGE 37, 217 (261), ging – wenn auch nicht mit letzter Klarheit – davon aus, dass ein Verfassungsverstoß vermieden werden müsse („Die entscheidende Bedeutung der Staatsangehörigkeit für den gesamten Status der betroffenen Kinder läßt es jedoch nicht zu . . .“ (Hervorhebung nicht im Original). 70 BVerfG NJW 2008, 2409 (2415, 2419 = Rn. 128 ff., 134, 163).
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Das Nichtraucherschutzurteil belässt es indes nicht bei einer bloßen Fortgeltungsanordnung, sondern entwickelt unter Berufung auf „ein unabwendbares Bedürfnis nach einer Zwischenregelung durch das Bundesverfassungsgericht auf der Grundlage des § 35 BVerfGG“71 eine besondere, neue Lösung, die bis zur gesetzlichen Neuregelung in den beiden betroffenen Ländern als maßgeblich in Geltung gesetzt wird. Bethge hat zur damals beispiellosen, „im Interesse der Rechtsklarheit“ ohne nähere Begründung getroffenen Vollstreckungsanordnung des ersten Abtreibungsurteils, die eine positive Neugestaltung der Strafbarkeit der Abtreibung vornahm,72 deutliche Bedenken artikuliert, „ob das Bundesverfassungsgericht hierbei nicht im Wege einer Ersatzvornahme die Funktion einer interimistischen Superlegislatur in Anspruch nahm . . . .“73 Vorsichtig abwägend hat er zwar „im Notfall“, der durch eine existentielle Staatskrise und die Notwendigkeit weiteren Verfassungsbruchs gekennzeichnet sein sollte, dem Bundesverfassungsgericht das Recht einräumen wollen, „in den Funktionsbereich der Legislative über(zu)greifen“, hat diese Schwelle aber damals als nicht erreicht angesehen und auch eine – offenbar alternativ als Legitimation erwogene – „auf anderem Wege nicht zu beseitigende Gefährdung von Grundrechtsgütern“ verneint.74 Der Jubilar hat sich allerdings in der Zwischenzeit der normativen Kraft der Praxis der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur doch gebeugt75 und will „normvertretende Maßnahmen des Bundesverfassungsgerichts“ wohl nur mehr an das Kriterium der „Erforderlichkeit“ binden, wobei nicht ganz klar ist, welchen Anforderungen das jeweils anzustrebende Ziel entsprechen muss,76 insbesondere ob bereits „das Gemeinwohl“ dafür ausreichen soll.77 Bei diesem Ansatz kann dann allerdings in der Tat „der neuerliche Trend des Bundesverfassungsgerichts, demzufolge auf § 35 BVerfGG gestützte Maßnahmen unter größtmöglicher Schonung des aktuellen gesetzgeberischen Willens zu geschehen hätten“,78 nur Zustimmung erfahren, weil die Bestimmung dessen, was „das Gemeinwohl“ ausmacht, jenseits verfassungsrechtlicher Vorgaben der Gesetzgebung überlassen werden muss. 71 BVerfG NJW 2008, 2409 (2419 = Rn. 167); von den beiden angeführten Präzendenzfällen erwähnt BVerfGE 84, 9 (21), den § 35 BVerfGG jedenfalls nicht ausdrücklich. 72 BVerfGE 39, 1 (2 f., 68). 73 Bethge (Fn. 5), S. 424. 74 Bethge (Fn. 5), S. 429. 75 Die Anordnung des (ersten) Abtreibungsurteils letztlich billigend inzwischen Bethge (Fn. 55), § 35 Rn. 35 ff., auch begründet mit der existentiellen Bedeutung jedes Schwangerschaftsabbruchs. 76 Bethge (Fn. 55), § 35 Rn. 42; auch § 31 Rn. 187 ff. 77 So Bethge (Fn. 55), § 35 Rn. 45. 78 Bethge (Fn. 55), § 35 Rn. 42, unter zutreffendem Hinweis auf BVerfGE 93, 37 (85). Wenn das Nichtraucherschutzurteil „größtmögliche Schonung der Gestaltungsfreiheit des Landesgesetzgebers geboten“ sieht, BVerfG NJW 2008, 2409 (2419 = Rn. 167), geht der Verweis auf BVerfGE 103, 111 (141 f.) doch wohl fehl, weil es dort um die „Schonung der den Ländern zustehenden staatsorganisatorischen Gestaltungsfreiheit im Bereich des Wahlprüfungsrechts ging“, die in der Eigenstaatlichkeit der Länder materiell besonders fundiert war.
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Die Konsequenzen der Vollstreckungsanordnung des Nichtraucherschutzurteils bleiben in der Sache freilich begrenzt, hätten auch durch eine andere – allerdings ebenfalls nicht bedenkenfreie, weil nur scheinbar rein kassatorische – Tenorierungsvariante ersetzt werden können, die qualitative Teilnichtigerklärung.79 Dazu hätten die angegriffenen Verbotsnormen lediglich insoweit für nichtig erklärt werden müssen, als sie – unter den näher spezifizierten Bedingungen der jetzt getroffenen Vollstreckungsanordnungen – auch für Eckkneipen Geltung beanspruchen. Auf diese Weise wäre das gesetzliche Verbot, soweit es verfassungswidrigerweise zu weit ging, ausgeräumt, im Übrigen aber als solches bestehen geblieben. Die Möglichkeit der Gesetzgebung, daraufhin sämtliche Ausnahmen des Gesetzes oder umgekehrt das Verbot selbst insgesamt aufzuheben, wäre damit in keiner Weise verkürzt worden.80
2. Verfassungsbeschwerde wegen Nichterfüllung der Schutzpflicht der Gesetzgebung? Die vom Bundesverfassungsgericht betonte prinzipielle Legitimation des (sogar ausnahmslos durchgreifenden) Rauchverbots durch grundrechtliche Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG wirft umgekehrt die Frage auf, ob nicht (zumindest) die Passivraucher als Nutznießer dieser Schutzpflichten die Möglichkeit hätten, mit der Verfassungsbeschwerde das Bundesverfassungsgericht einzuschalten, wenn ein durch das Nichtraucherschutzurteil unmittelbar (in Baden-Württemberg und Berlin) oder mittelbar (in den Ländern mit vergleichbaren Regelungen81) zur Neuregelung aufgerufener Landesgesetzgeber82 oder auch der Bundesgesetzgeber, sofern ihm denn eine entsprechende Gesetzgebungskompetenz zusteht,83 untätig bleibt oder ein (allzu weit) zurückgenommenes Passivraucherschutzkonzept realisiert.
Vgl. nur Bethge (Fn. 55), § 31 Rn. 176. S. für den Fall einer Gesamtnichtigerklärung bereits oben zu Fn. 62. 81 Diese Qualifikation findet sich bei BVerfG NJW 2008, 2409 (in der dort nicht genannten Rn. 34). 82 Für die Länder mit vergleichbaren Gesetzen folgt diese Pflicht aus dem materiellen Verfassungsrecht, die Gesetzeskraft des Nichtraucherschutzurteils als solche erfasst die Parallelnormen anderer Länder nicht, s. nur Bethge (Fn. 55), § 31 Rn. 165; eine Bindung an die Verfassungsinterpretation, die das Bundesverfassungsgerichts in den tragenden Gründen seines Nichtraucherurteils entwickelt hat, wäre nach der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, vgl. zustimmend Bethge (Fn. 55), § 31 Rn. 96 ff., grundsätzlich aus § 31 Abs. 1 BVerfGG abzuleiten; wer allerdings mit dem Bundesverfassungsgericht den Wiedererlass eines für verfassungswidrig erklärten Gesetzes durch denselben Gesetzgeber bei unveränderten Umständen für zulässig hält, wird erst recht die von Rechts- und Gesetzeskraft nicht erfasste Parallelgesetzgebung von einer Aufhebungspflicht qua Bindungswirkung freistellen müssen, vgl. zum Ganzen Bethge (Fn. 55), § 31 Rn. 69 ff., 121, 166, 195 ff. 83 S. schon oben Fn. 52 am Ende. 79 80
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Ausführungen des Jubilars in seiner Kommentierung der Verfassungsbeschwerde84 und in einem aktuellen Festschriftenbeitrag 85 könnten diese Möglichkeit in Frage stellen, heißt es dort doch apodiktisch: „Der subjektiv einklagbare ,Leistungsanspruch‘ auf parlamentarische Gesetzgebung existiert nicht.“ Gestützt wird diese Aussage u. a. darauf, dass die grundrechtlichen Schutzpflichten „objektivrechtlicher Natur“ seien, dass sie „nicht self-executing“ wirkten, sondern „der Gesetzesmediatisierung“ bedürften. Dem ist ohne Bedenken zuzustimmen,86 es trägt den Ausschluss des subjektiven Rechts auf Gesetzeserlass aber nicht, denn die Notwendigkeit eines Gesetzes wird durch einen möglichen Anspruch auf Gesetzeserlass ja nicht in Frage gestellt, und der objektivrechtlichen Pflicht der Träger der Staatsgewalt kann durchaus ein subjektives Recht des Begünstigten entsprechen. Dies scheint eine weitere Aussage Bethges in Frage zu stellen, allerdings nur auf den ersten Blick: „Der objektivrechtlichen Pflicht des Gesetzgebers zum Handeln korrespondieren keine einklagbaren subjektiven Rechte von Grundrechtsträgern auf Tätigwerden des Gesetzgebers.“87 Denn genau betrachtet wird nur ausgeschlossen, dass notwendigerweise der objektiven Schutzpflicht auch ein subjektiver Schutzanspruch entsprechen muss; die Möglichkeit einer solchen Gestaltung wird nicht negiert, im Gegenteil wenige Sätze später ausdrücklich anerkannt, wenn auch nur „in evidenten Ausnahmefällen“. Die Kommentierung nennt als Bedingungen der nicht von vornherein als ausgeschlossen eingestuften Beschwerdebefugnis explizit „eine dieser objektiven Pflicht korrespondierende hinreichend individualisierbare konkrete Rechtsposition des Verfassungsbeschwerdeführers und die Plausibilität gerade seiner (behaupteten) Rechtsverletzung“.88 Diese Bedingungen sollten im Falle des Schutzes vor Passivrauchen bei allen Menschen, die zumindest gelegentlich in Gaststätten verrauchter Luft ausgesetzt sind, gegeben sein, weil ihre individuelle Gesundheit und letztlich ihr Leben den damit verbundenen Gefahren ausgesetzt sind, die zu bekämpfen ja Inhalt der Schutzpflicht ist. Dass die grundrechtlichen Schutzpflichten darauf angelegt sind, gerade die gefährdeten Grundrechtsträger zu schützen und für sie auch durchsetzbare Rechtspositionen zu begründen, so dass auch die Anforderungen der Schutznormlehre an die Begründung subjektiver Rechte erfüllt sind, kann eigentlich auch nicht fraglich sein. Allerdings reichen die subjektiven Rechtspositionen nicht weiter als die ihnen zugrunde liegende Verpflichtung der Staatsgewalt; sie werden erst dann verletzt, Bethge (Fn. 55), § 90 Rn. 220 ff., 224. Bethge (Fn. 26), S. 622 f. 86 Auch Bethges Absage an die „Elfes-Konstruktion“ (s. oben Fn. 84, Rn. 224, auch Fn. 85, S. 622) trifft zu, weil sie jedenfalls eine grundrechtseingreifende Norm voraussetzt, die dann in jeder Hinsicht verfassungsgemäß sein muss; auf ein Unterlassen des Gesetzgebers passt das nicht. 87 Bethge (Fn. 26), S. 622. 88 Bethge (Fn. 55), § 90 Rn. 224. 84 85
Nichtraucherschutz in Gaststätten vor dem Bundesverfassungsgericht
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wenn auch die Schutzpflicht verletzt wird, also erst dann, wenn die Staatsgewalt untätig bleibt oder nur völlig unzulängliche Maßnahmen ergreift89 – dies dürfte den „evidenten Ausnahmefällen“ entsprechen, auf die Bethge abstellt. Nur wenn die genannten Voraussetzungen behauptet werden können, kann eine Verfassungsbeschwerde zulässig sein und ggf. Erfolg haben. Ob dies beim Nichtraucherschutz anzunehmen ist, könnte das Bundesverfassungsgericht noch zu klären, der Jubilar ggf. zu kommentieren haben.
89 Vgl. etwa BVerfGE 56, 54 (80 ff.); 79, 174 (202); 92, 26 (46); zum weiten Spielraum der Gesetzgebung auch BVerfGE 115, 118 (159 f.) m. w. N.
III. Der verwaltende Sozialstaat
Zwischen Gütegarantie und Professorenpranger: Die Evaluation der Hochschullehre Von Christian von Coelln
I. Erscheinungsformen und Problematik der Lehrevaluation „Evaluation“1 ist heute an der Hochschule ein geläufiges Phänomen. Durch interne und externe Bewertungen soll die Qualität des Studiums, der Forschung und der Lehre sichergestellt werden. Die Evaluation macht vor keiner Facette der Tätigkeit einer Hochschule mehr Halt. Kritiker sprechen bereits von der „Evaluationitis“2 oder der „Evaluitis“ als einer ansteckenden Krankheit.3 Beurteilt werden die Arbeitsweise ganzer Universitäten, die Forschungsleistung von Fakultäten,4 aber auch die Arbeit des einzelnen Wissenschaftlers. Im Mittelpunkt der Evaluation steht die Qualität der Lehre.5 Für ihre Beurteilung wird wie selbstverständlich auf studentische Bewertungen zurückgegriffen. Das war nicht immer so: Lange Zeit rief schon die bloße Forderung nach einer institutionalisierten Befragung der Belehrten über ihren Eindruck von der Qualität des akademischen Unterrichts bei den Gelehrten allenfalls Amüsement, wenn nicht sogar schroffe Ablehnung hervor. Nicht nur Studenten schienen häufig auf verlorenem Posten zu kämpfen,6 wenn sie mit plakativen Aktionen wie „Prüf ’ den Prof“ ein vermeintliches Gegenstück zum Prüfungs- und Benotungsrecht der Hochschullehrer herstellen und einen Beitrag zur Qualitätskontrolle und -verbesserung in der Hochschullehre leisten wollten. Erst seit Mitte der 1990er-Jahre sind verstärkte Evaluationsaktivitäten auch von Seiten der Hochschulen zu verzeichnen.7 1998 hat sich der Bundesgesetzgeber des 1 Der Begriff hat sich heute als Oberbegriff nicht nur für das Bewertungsergebnis, sondern auch für den Bewertungsvorgang durchgesetzt, obwohl insofern „Evaluierung“ präziser wäre. 2 Dazu Weinert, Die evaluierte Universität, 2001, S. 9, der die Evaluation insgesamt freilich eher positiv bewertet. 3 Frey, in: Matthies / Simon, Wissenschaft unter Beobachtung, 2008, S. 125. 4 Zum Forschungsranking des Wissenschaftsrats Gerhards / Wagner, FuL 2008, 532 f. 5 Dazu u. a. Rindermann, in: Altrichter / Schratz / Pechar, Hochschulen auf dem Prüfstand, 1997, S. 179 ff. 6 Zu negativen Erfahrungen nach der Publikation eines evaluationsfreundlichen Artikels im Jahre 1981 Curtius, Festschrift Leuze, 2003, S. 112 ff.
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Themas angenommen und die regelmäßige Bewertung der Arbeit der Hochschulen u. a. in Forschung und Lehre und die Veröffentlichung der Bewertungsergebnisse – wenn auch nur als Sollvorschrift – durch das vierte HRG-Änderungsgesetz8 in § 6 HRG aufgenommen. 2006 hat die Bildungsevaluation Eingang in Art. 91 b Abs. 2 GG gefunden. In den Hochschulgesetzen der Länder ist die Evaluation längst etabliert.9 Schon angesichts einer gewissen Begeisterung in der Politik für dieses „Instrument aus dem Werkzeugkasten des ,New Public Management‘“10 steht nicht zu erwarten, dass sich daran durch den Wegfall der bundesrechtlichen Vorgabe – das HRG soll nach dem Willen der Bundesregierung aufgehoben werden –11 etwas ändern wird. Dass u. a.12 die „Bologna-Erklärung“13 die „Förderung der europäischen Zusammenarbeit bei der Qualitätssicherung im Hinblick auf die Erarbeitung vergleichbarer Kriterien und Methoden“ anstrebt, kommt hinzu. Propagiert wird die Evaluation der Lehre als Mittel zur Sicherung der Unterrichtsqualität. Konkret soll sie Grundlagen schaffen für die Information der Studienbewerber, für die Fortentwicklung von Inhalten und Formen der Lehre im Rahmen der Studienreform sowie für die staatliche Hochschulfinanzierung und hochschulinterne Mittelverteilung nach erfolgsorientierten Kriterien.14 Und in der Tat: Ein gesellschaftliches, aber auch ein staatliches Interesse an einer qualitativ hochwertigen Hochschullehre lässt sich schlechterdings nicht bestreiten. Auch dass es einzelne Dozenten gab und gibt, deren Fähigkeit in der Lehre, vor allem 7 Zum Verbund Norddeutscher Universitäten, der 1994 u. a. mit dem Ziel gegründet wurde, die Evaluation von Studium und Lehre gemeinsam zu erproben, Battis, Festschrift Schiedermair, 2001, S. 683 ff. Zu ähnlichen etwa zur gleichen Zeit gegründeten Einrichtungen: Hochschulrektorenkonferenz, Evaluation – Sachstandsbericht zur Qualitätsbewertung und Qualitätsentwicklung in deutschen Hochschulen, 1998, S. 8 f. Eine frühe Bestandsaufnahme unternimmt Müller-Böling, in: Altrichter / Schratz / Pechar, Hochschulen auf dem Prüfstand, 1997, S. 88 ff. 8 Gesetz v. 20. August 1998, BGBl. I S. 2190. 9 Nur beispielhaft die Sollvorschrift des Art. 10 Abs. 1 BayHG und die verpflichtende Norm des § 7 Abs. 2 HG NRW. S. näher unten Fn. 91 sowie die Darstellung einzelner landesrechtlicher Regelungen bei Seidler, in: Hailbronner / Geis, HRG, Loseblatt, Stand Juni 2007, § 6 Rn. 3 ff. 10 Seidler (Fn. 9), § 6 Rn. 7. Allgemein zum „New Public Management“ im Hochschulbereich Schencker-Wicki, Evaluation von Hochschulleistungen, 1996, S. 152 ff. 11 Die Aufhebung war ursprünglich zum 1. Oktober 2008 geplant. S. dazu den Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung des HRG, BT-Drucks. 16 / 6122 v. 23. Juli 2007. Der Gesetzesbeschluss steht jedoch derzeit (November 2008) nach wie vor aus. Näher dazu Rux, in: Bonner Kommentar, Loseblatt, Stand Oktober 2008, Art. 74 Abs. 1 Nr. 33 Rn. 40 mit Fn. 81. 12 S. außerdem die Empfehlung des Rates der EU v. 24. September 1998, Amtsblatt der EU Nr. L 270 v. 7. Oktober 1998, S. 56 ff. Dazu näher Herberger, in: Haug, Das Hochschulrecht in Baden-Württemberg, 2001, Rn. 620 f. 13 Abrufbar beispielsweise unter http: // www.bmbf.de/pub/bologna_deu.pdf, Stand 30. November 2008. 14 Begründung der Bundesregierung zum Entwurf des 4. HRGÄndG, BT-Drucks. 13 / 8796, S. 16.
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aber deren Interesse an der Lehre überschaubar erscheint, ist kein Geheimnis. Die Fragen, ob die Evaluation in ihrer heutigen Form ein geeignetes Mittel zur Behebung derartiger Missstände ist und welche unerwünschten Begleiterscheinungen die Evaluation und die Verwendung ihrer Ergebnisse mit sich bringen können, sind damit freilich noch nicht beantwortet. Speziell die Einbeziehung der Studenten begegnet prinzipiellen Einwänden. Sind Studenten in der Lage, Lehrqualität umfassend zu bewerten? Lehre vermittelt Inhalt, den sie in einer bestimmten Form präsentiert. Nur wer beides zu beurteilen vermag, kann ein fundiertes Urteil über die Qualität der Lehre fällen. Sind Studenten dazu – so ließe sich einwenden – nicht frühestens ex post in der Lage? Beschränkt sich ihre Evaluationskompetenz während des Studiums nicht in Wahrheit auf die didaktische Oberfläche einer Veranstaltung?15 Vor allem aber: Welche Konsequenzen hat die unrichtige, womöglich gerade in schädigender Absicht abgegebene Beurteilung? Speziell die Veröffentlichung von Evaluationsergebnissen birgt ein erhebliches Gefahrenpotential. Dass der Bund diesem Problem größere Aufmerksamkeit geschenkt hat, lässt sich nicht sagen. Die Entwurfsbegründung zu § 6 HRG (demnächst wohl: a.F.) betonte lediglich, die Länder könnten den Umfang der Publikationspflicht näher bestimmen, um beispielsweise der Gefahr der Schönfärberei begegnen zu können.16 Die gegenläufige Gefahr eines Verstoßes gegen die Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) und gegen das Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. 1 Abs. 1 GG) der Beurteilten, auf die nicht zuletzt Herbert Bethge seit mehreren Jahren hinweist,17 wurde seinerzeit offenbar nicht gesehen. Eine Erweiterung hat diese Problematik erfahren, seit sich Private der Lehrevaluation in besonders öffentlichkeitswirksamer Weise annehmen, indem sie sich der spezifischen Möglichkeiten des Internets bedienen. Vor dem Blick auf die hochschulintern durchgeführte Evaluation soll im Folgenden zunächst dieser Bereich näher betrachtet werden.
15 Instruktiv dazu Weinert (Fn. 2), S. 11 ff. Allgemein zur häufig zweifelhaften Kompetenz derer, die zur Veranstaltungskritik aufgerufen werden, Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 3. Aufl. 2004, Rn. 327. S. weiter Hartmer, in: Hartmer / Detmer, Hochschulrecht, 2004, Kapitel IV Rn. 118: Evaluierung von wissenschaftlichen Leistungen fällt in die Zuständigkeit des Fachbereichsrats, da über Fachfragen nur Fachleute befinden können. Zur generellen Problematik fehlender Maßstäbe für die Evaluation wissenschaftlicher Leistungen Hufen, Staatsrecht II – Grundrechte, 2007, § 34 Rn. 48. 16 Begründung der Bundesregierung zum Entwurf des 4. HRGÄndG, BT-Drucks. 13 / 8796, S. 16. 17 Bethge, in: Sachs, GG, 5. Aufl. 2009, Art. 5 Rn. 207 (erstmals in der 3. Aufl. 2003).
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II. Die privat verantwortete Evaluation 1. „www.meinprof.de“ als Beispiel für personenbezogene Bewertungsportale im Internet Bewertungsplattformen im Internet erfreuen sich generell wachsender Beliebtheit. Als besonders populär, zugleich aber auch als besonders brisant erweisen sich Seiten, deren Bewertungsobjekt zumindest mittelbar 18 einzelne Menschen sind. Rechtliche Fragen werfen sie vor allem mit Blick auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG) der Bewerteten auf. Die Heterogenität derartiger Angebote zeigt freilich, dass sie keinesfalls über einen rechtlichen Kamm geschoren werden dürfen: „Die eine“, in jedem Fall zutreffende Antwort auf die Frage nach der Zulässigkeit entsprechender Plattformen wird es auch in Zukunft nicht geben. Soweit Gegenstand der Bewertungen allein oder zumindest in erster Linie Leistungen sind, die beruflich erbracht wurden – das ist z. B. auf den Seiten „www.aerzte-bewerten.de“, „www.handwerkerpoint.de“ oder „www.anwaltsnote. de“ der Fall –, ist die Sozialsphäre der Beurteilten angesprochen. Dagegen berührt eine Seite, auf der Verflossene vor ehemaligen Partnern warnen („www.dontdate himgirl.com“) oder auf der jedermann seine unliebsamen Nachbarn öffentlich anschwärzen kann („www.rottenneighbor.com“), zumindest die Privat-, womöglich sogar die Intimsphäre des Bewerteten.19 Dementsprechend unterschiedlich fällt – die Anwendbarkeit deutschen Rechts jeweils unterstellt – der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus. Zu den Angeboten, die berufsbezogene Bewertungen ermöglichen, zählt auch die dem amerikanischen Vorbild „www.ratemyprofessors.com“ nachgebildete Seite „www.meinprof.de“. Seit Ende 2005 ermöglicht sie jedermann, Lehrveranstaltungen an deutschen Hochschulen zu bewerten. Das geschieht in Form von Noten z. B. für die Fairness des Dozenten, für sein Material und für die Verständlichkeit der Darstellung, außerdem durch frei formulierte Bemerkungen. Die für eine Veranstaltung abgegebenen Bewertungen werden zusammengefasst und können von jedermann einzeln oder eingeordnet in „Rankings“ eingesehen werden, in denen man z. B. nach dem spannendsten Unterricht in Deutschland oder nach der am wenigsten verständlichen Anglistikveranstaltung in Kiel suchen kann. Aktuell befinden sich auf der Seite mehr als 300.000 Bewertungen für fast 40.000 Dozenten. Rechtlich problematisch sind besonders die frei formulierten, teils äußerst kritischen20 Kommentare. Aber auch die vergebenen Noten werfen Fragen auf. Beant18 Zur Differenzierung zwischen mittelbaren und unmittelbaren Bewertungen von Personen sowie zu denkbaren Mischformen Ballhausen / Roggenkamp, K&R 2008, 404. 19 Weitere Beispiele für die Publikation personenbezogener Daten im Internet bei Dorn, DuD 2008, 99. 20 Hier nur zwei – vergleichsweise harmlose – Beispiele: „Diesen Professor würde ich meinen Feinden nicht gönnen!“; „Diese Vorlesung ist einfach nur schlecht . . . präsentiert und unverständlich erklärt. Und über allem ein Professor, den das offensichtlich kalt lässt.“
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wortet werden müssen sie spätestens dann, wenn sich betroffene Dozenten dem Grunde nach gegen ihre Berücksichtigung auf einer Bewertungsplattform oder zumindest gegen einzelne Beurteilungen zur Wehr setzen.
2. Die grundrechtliche Konfliktlage Im Vordergrund der insofern denkbaren Reaktionsansprüche steht der auf die Abwehr zukünftiger Beeinträchtigungen gerichtete quasi-negatorische Unterlassungsanspruch aus § 1004 BGB analog (i. V. m. § 823 BGB). Er setzt in der hier interessierenden Konstellation eine drohende Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts voraus. a) Die konfligierenden Grundrechtspositionen aa) Der grundrechtliche Schutz vor öffentlichen Darstellungen der eigenen Person durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht Dieses in Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG verbürgte Grundrecht, dem die §§ 823, 1004 BGB zivilrechtlichen Ausdruck verleihen,21 schützt die Selbstbestimmung, -bewahrung und -darstellung des Einzelnen.22 Unter dem Aspekt der Selbstdarstellung kann es ihm ermöglichen, unerwünschte Darstellungen der eigenen Person in der Öffentlichkeit zu unterbinden. Wie weit dieser Schutz reicht, lässt sich freilich nicht abstrakt, sondern nur im Einzelfall entscheiden. In jedem Fall schützt das allgemeine Persönlichkeitsrecht vor entstellenden und verfälschenden Beschreibungen sowie vor solchen Darstellungen, die die Persönlichkeitsentfaltung erheblich beeinträchtigen können.23 Umgekehrt verleiht das Grundrecht jedoch keinen Anspruch darauf, nur so in der Öffentlichkeit präsentiert zu werden, wie es dem eigenen Selbstbild entspricht.24 Ob das Persönlichkeitsrecht verletzt ist, hängt regelmäßig von der Abwägung mit kollidierenden Grundrechten ab. Zumindest eine Hilfestellung für die Gewichtung des Persönlichkeitsrechts im Rahmen dieser Abwägung bietet die bundesverfassungsgerichtliche Sphärentheorie, die zwischen Intim-, Privat- und Sozialsphäre als Bereichen abnehmender Schutzbedürftigkeit des Persönlichkeitsrechts unterscheidet.25
BVerfGE 97, 391 (403). Pieroth / Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, 24. Aufl. 2008, Rn. 373 ff. 23 BVerfGE 97, 125 (149); 97, 391 (404); 119, 1 (24). 24 BVerfGE 97, 125 (149); 97, 391 (404). 25 Murswiek, in: Sachs, GG, 5. Aufl. 2009, Art. 2 Rn. 104. Exemplarisch etwa BVerfGE 6, 32 (41); 35, 35 (39); 35, 202 (220); 80, 367 (374); 119, 1 (29 f.). 21 22
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bb) Der grundrechtliche Schutz der Bewertungen und der Bewertungsseiten durch die Kommunikationsgrundrechte Die Bewertung selbst ist als Werturteil regelmäßig von der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1 HS 1 GG geschützt. Das gilt nicht nur für die frei formulierten Kommentare, sondern auch für die „Noten“, die die Studenten ihren Dozenten geben. Im Gegensatz zu Zensuren, die ein Professor in seiner Funktion als Inhaber von Hoheitsgewalt für die Leistung eines Studenten vergibt, handelt es sich um Privatmeinungen ohne jeden amtlichen Charakter. Aus dem Schutz der Meinungsfreiheit heraus fallen allein bewusst oder erwiesenermaßen unwahre Tatsachenbehauptungen,26 die in den frei formulierten Bewertungen vorstellbar sind. Bei den Namen der Professoren und der Bezeichnung ihrer Veranstaltungen handelt es sich hingegen um wahre Tatsachenangaben, die einen Anknüpfungspunkt für die Abgabe von Werturteilen bilden und die insofern ebenfalls von der Meinungsfreiheit umfasst werden.27 Soweit man nicht auf den einzelnen Kritiker, sondern auf die Plattformbetreiber abstellt, genießt ihr Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung richtigerweise den Schutz der Medienfreiheiten des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG – konkret: den der Rundfunkfreiheit.28 b) Die Gewichtung der jeweiligen Grundrechtspositionen aa) Der eingeschränkte Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Bei der Gewichtung dieser Positionen ist zunächst zu berücksichtigen, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht generell für Aktivitäten in der Sozialsphäre einen geringeren Schutz verleiht als für private oder gar für intime Angelegenheiten. Besonders stark ist der Schutz desjenigen beschränkt, der öffentliche Ämter ausübt. Insofern gilt gerade für Professoren nichts anderes als für Richter: Sie sind der Öffentlichkeit Rechenschaft schuldig und müssen es grundsätzlich dulden, von den Medien bei ihrer Arbeit beobachtet zu werden.29 Nicht von vornherein abwegig wäre sogar die Überlegung, ob das Persönlichkeitsrecht überhaupt einschlägig ist. Die Tätigkeit im Hörsaal und im Seminarraum übt der Professor nicht als Privatperson aus, sondern als Amtswalter. Generell ist Dazu allgemein BVerfGE 99, 185 (197). Dazu allgemein Degenhart, in: Bonner Kommentar, Loseblatt, Stand Oktober 2008, Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 103 ff. 28 Zum Schutz von WWW-Seiten durch die Rundfunkfreiheit Bethge (Fn. 17), Art. 5 Rn. 90 b. Um Rundfunk i. S. d. einfach-rechtlichen Rundfunkbegriffs des § 2 Abs. 1 RStV handelt es sich freilich nicht. 29 Wyss, EuGRZ 1996, 16; ebenso im Hinblick auf Amts- und Mandatsträger in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen Bräcklein, ZRP 2003, 352; von Coelln, Zur Medienöffentlichkeit der Dritten Gewalt, 2005, S. 428 f. 26 27
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in dieser Funktion die Rechtsstellung des Handelnden durch das ausgeübte Amt geprägt, nicht durch die agierende Person. Das Handeln der Amtsinhaber ist rechtlich Handeln der jeweiligen Körperschaft. Dieser Grundsatz durchzieht das gesamte öffentliche Recht.30 Daher kann sich auch der jeweilige Amtsinhaber als solcher regelmäßig nicht auf Rechtspositionen berufen, die ihm als natürliche Person zustehen. Das Rederecht des Bundestagsabgeordneten beispielsweise wurzelt in seiner organschaftlichen Stellung aus Art. 38 Abs. 1 GG, nicht im Grundrecht der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 HS 1 GG;31 entsprechende Beschränkungen sind im Wege des Organstreits, nicht der Verfassungsbeschwerde geltend zu machen.32 Auf derselben Linie liegt die Auffassung des BVerwG, die Einschränkung der Pressefreiheit durch das Verbot von Tonbandaufnahmen in einer Gemeinderatssitzung könne nicht durch das Persönlichkeitsrecht der Ratsmitglieder, sondern allein durch das öffentliche Interesse an der ordnungsgemäßen Aufgabenerfüllung gerechtfertigt werden.33 Nach dieser Betrachtungsweise, die auch für den Persönlichkeitsschutz von Richtern vertreten wird,34 käme es in den hier interessierenden Fällen auf das Persönlichkeitsrecht nicht an. Letztlich zu überzeugen vermag diese Sichtweise freilich nicht. Die Lehrtätigkeit eines Professors lässt sich nicht exklusiv dem amtlichen Bereich zuordnen. Vielmehr wird der akademische Unterricht wesentlich stärker durch die Persönlichkeit des jeweiligen Dozenten geprägt, als dies in anderen Bereichen staatlicher Tätigkeit der Fall sein muss. Die öffentlich vorgenommene Beurteilung der Lehrqualität tangiert nicht nur den im Hintergrund stehenden Rechtsträger, sondern auch und gerade die Darstellung des Menschen, der das öffentliche Amt ausübt.35 Rügt beispielsweise ein Student die vermeintlich fehlende Eloquenz und die mangelnde rhetorische Gewandtheit eines Dozenten – eine Kritik, die dem Jubilar mit Sicherheit stets erspart geblieben ist –, so trifft dieser Vorhalt offensichtlich den Professor, nicht die Universität. Der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts steht Hochschullehrern daher im hier interessierenden Kontext dem Grunde nach zur Verfügung. Erst bei der Abwägung mit kollidierenden Grundrechten ist zu berücksichtigen, dass sie ein öffentliches Amt wahrnehmen.36 Arndt, NJW 2001, 2949. BVerfGE 60, 374 (379 f.). Anders freilich BVerfG, Beschl. v. 5. Dezember 2008, 1 BvR 1318 / 07, für den Zwischenruf („Dummschwätzer“) eines Ratsmitglieds: Schutz durch die Meinungsfreiheit. 32 Bedenklich daher BVerfGE 108, 251 (266 ff.). Zu Recht kritisch Sachs, JuS 2004, 72. 33 BVerwGE 85, 283 (286). 34 So offenbar Gündisch / Dany, NJW 1999, 259, die mit Blick auf Rundfunkaufnahmen im Gerichtssaal annehmen, das Persönlichkeitsrecht des Richters könne nicht beeinträchtigt werden, weil dieser ein öffentliches Amt wahrnehme. 35 Ebenso für Lehrer Dorn, DuD 2008, 101. 36 Wie hier zur Möglichkeit von Gerichtspersonen (Richter, Staatsanwälte etc.), sich auf das Recht am eigenen Bild zu berufen, von Coelln (Fn. 29), S. 427 f. Ebenso BVerwGE 116, 104 (112), zum Persönlichkeitsschutz der Inhaber höchster Staatsämter, die vermeintlich nur in ihrer Eigenschaft als Amtsträger ausspioniert wurden. Wenn das Gericht die Unterschei30 31
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Exakt auf dieser dogmatischen Linie bewegt sich auch die Rechtsprechung des BVerfG zum Schutz von Richtern und anderen Gerichtspersonen vor der Aufnahme und Veröffentlichung von Bildern: Das Gericht nimmt an, Personen, die infolge ihres öffentlichen Amtes im Blickpunkt der Öffentlichkeit stünden, hätten nicht in gleichem Ausmaß einen Anspruch auf Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte wie Privatpersonen. Auch ihnen stünde jedoch ein Anspruch auf Schutz zu, der im Falle persönlicher Gefährdung das Veröffentlichungsinteresse überwiegen könne.37 bb) Das große Gewicht der Meinungs- und der Rundfunkfreiheit Umgekehrt ist mit Blick auf die angesprochenen Kommunikationsgrundrechte zu berücksichtigen, dass die Lehrqualität an Hochschulen eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage darstellt, was eine Vermutung für die Zulässigkeit der jeweiligen Äußerung begründet.38
c) Die Abwägung im Fall von „meinprof.de“ Für die Beantwortung der Frage, ob Hochschullehrer öffentlich bewertet werden dürfen, ergibt sich danach das folgende Bild: aa) Keine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch die Tatsache der Bewertung Jedenfalls bei „meinprof.de“ und ähnlich strukturierten Plattformen erscheint es ausgeschlossen, dass ein Professor bereits durch die Tatsache der Bewertung an sich persönlich gefährdet wird oder dass durch seine Berücksichtigung auf der Seite Umstände entstehen, die einer solchen Gefährdung gleich zu achten wären.39 Anders könnten unter Umständen Angebote zu beurteilen sein, die gezielt der Verunglimpfung von Professoren dienten oder die sich nicht mit der Qualität der Lehre befassten, sondern die gerade die privaten Lebensumstände des Lehrpersonals im Blick hätten. Dass derartige Seiten denkbar sind, belegt „www.rottenneighbor. dung zwischen der amtlichen und der persönlichen Rechtsstellung allerdings als Sondersituation namentlich des Staatshaftungsrechts bezeichnet, so verkennt es die übergreifende Geltung dieses Gedankens. Zu Recht kritisch insofern Kirste, JuS 2003, 339. – Auch BVerwGE 85, 283 (286 f.), weist auf das während der Ratssitzung fortbestehende Persönlichkeitsrecht der Ratsmitglieder hin, das beispielsweise durch beleidigende Zwischenrufe beeinträchtigt werden kann. 37 BVerfGE 119, 309 (323 f.). S. zuvor bereits BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats) NJW 2000, 2891; NJW-RR 2007, 1416 f. 38 Allgemein BVerfGE 7, 198 (212); 85, 23 (34); 93, 266 (294 f.). 39 Anders im Ergebnis Dorn, DuD 2008, 101 f., der für die Lehrerbewertungsseite „spickmich.de“ (dazu sogleich) die Grundrechte der Lehrer höher bewertet als die Meinungsfreiheit der Plattformbetreiber sowie der Bewertenden.
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com“ unerfreulich deutlich: Das Angebot ermöglicht die gezielte Anprangerung der eigenen Nachbarn. Im Hochschulbereich existieren derartige „Verunglimpfungsplattformen“ glücklicherweise (noch?) nicht. Je nach konkreter Ausgestaltung der Seite und unter der Voraussetzung, dass deutsches Recht zur Anwendung kommt, wäre es möglich, dass jeder Professor, der dort nicht behandelt werden wollte, einen Unterlassungsanspruch hätte und damit die „Beurteilung“ insgesamt unterbinden könnte. Bei „meinprof.de“ ist das – vorbehaltlich der anschließenden Überlegungen zum Datenschutzrecht – aus rein grundrechtlicher Perspektive heraus nicht der Fall. Jeder Professor muss seine Bewertung dem Grunde nach hinnehmen. Diese Einschätzung entspricht der bislang in der Rechtsprechung einhellig vertretenen Linie. Geklagt hatten insbesondere Lehrer gegen ihre Benotung auf „www.spickmich.de“. Diese Plattform ermöglicht Schülern (u. a.) die Bewertung ihrer Lehrer. Während das Pariser Tribunal de Grande Instance Anfang März 2008 die Benotung einzelner Lehrer auf der Seite „www.note2be.com“ – einem französischen Pendant zu „spickmich.de“ – unter Hinweis auf die Störung des Bildungsbetriebs untersagt und lediglich eine Gesamtbenotung der Schule für zulässig erachtet hat,40 vertreten deutsche Gerichte bisher durchweg die hier vertretene grundrechtliche Konzeption. Den Klagen der Lehrer gegen ihre Benotung auf „spickmich.de“ blieb der Erfolg versagt; die Gerichte gehen bislang ausnahmslos von der Zulässigkeit der Beurteilungsplattform aus.41 Erfolglos blieb auch die Klage eines Hochschullehrers gegen bestimmte Beurteilungen auf „meinprof.de“.42 Sie wurde freilich – entgegen anfänglichen Pressemeldungen – gerade nicht mit der Begründung abgewiesen, Dozenten an Hochschulen müssten sich kraft ihrer Funktion öffentlicher Kritik stellen. Das LG Berlin verneint vielmehr die Störerqualität der Seitenbetreiber mit dem Hinweis, eine Pflicht zur Vorabprüfung jedes Kommentars vor seiner Veröffentlichung sei ihnen nicht zuzumuten. Auf die vorstehend skizzierte grundrechtliche Dogmatik geht die Entscheidung nicht ein. Immerhin lässt sie aber erkennen, dass das Gericht einer dem Grunde nach gegen jede Beurteilung gerichteten Klage wohl erst recht nicht stattgegeben hätte. Vor dem Hintergrund der Entscheidungen in Sachen „spickmich.de“, die sämtlich nach dem „meinprof.de“-Urteil gefällt wurden, spricht viel dafür, dass auch ein Hochschullehrer seine vollständige Streichung vor Gericht kaum mit Aussicht auf Erfolg verlangen könnte. Vom Standpunkt der bisher angestellten Erwägungen aus43 verdient dies Zustimmung: Aus § 823 BGB, § 1004 40 Näher Greve / Schärdel, MMR 2008, 645 f. Gegen die Zulässigkeit von „spickmich.de“ Ladeur, RdJB 2008, 16 ff., auf der Grundlage einer schulspezifischen Grundrechtsabwägung. 41 LG Köln MMR 2007, 729 ff.; OLG Köln NJW-RR 2008, 203 ff.; LG Köln K&R 2008, 188 ff.; OLG Köln MMR 2008, 672 ff.; LG Köln RDV 2007, 252 ff.; LG Duisburg MMR 2008, 691 ff. Zu Unterschieden in der Begründung s. unten II.3.b)bb)(3)(b) mit Fn. 88, 89. 42 LG Berlin DuD 2007, 784. Offenbar unveröffentlicht ist die Entscheidung der Vorinstanz: AG Berlin-Tiergarten, Urteil v. 22. Januar 2007, Az. 7 C 208 / 06. 43 Zum Datenschutzrecht sogleich II. 3.
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BGB analog, Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 GG vermag der einzelne Hochschullehrer keinen Unterlassungsanspruch abzuleiten, der ihm die zukünftige Nichtberücksichtigung auf Seiten wie „meinprof.de“ gewährleisten würde. bb) Die Möglichkeit einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch die einzelne Bewertung Damit ist freilich noch nichts über die Zulässigkeit der einzelnen Bewertungen gesagt. Diese können durchaus Abwehransprüche der betroffenen Dozenten begründen. (1) Kein absoluter Vorrang der Meinungsfreiheit vor dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht Der Meinungsfreiheit kommt – selbstverständlich – kein absoluter Vorrang vor dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht zu. Welches der beiden Grundrechte überwiegt, hängt vielmehr von sämtlichen Umständen des Einzelfalles ab. Das sind im hier interessierenden Zusammenhang insbesondere der konkrete Inhalt der Bewertung sowie ihre Form, ggf. aber auch die Vorgeschichte eventueller Kritik wie z. B. Bemerkungen des Dozenten in der Vorlesung. Als Werturteil, das die Wahrnehmung eines öffentlichen Amtes betrifft, ist Veranstaltungskritik zwar regelmäßig zulässig.44 Grundsätzlich muss die Meinungsfreiheit jedoch zumindest dort hinter den Persönlichkeitsschutz zurücktreten, wo sie sich als Formalbeleidigung darstellt oder wo sie als Schmähkritik den Rahmen einer sachlichen Auseinandersetzung mit der Veranstaltung verlässt und allein darauf abzielt, den betroffenen Hochschullehrer in seinem Ansehen herabzuwürdigen.45 Wo dieser unzulässige Bereich im Einzelfall beginnt, darüber kann man sicherlich häufig geteilter Meinung sein. Dass aber die Bezeichnungen eines Professors auf „meinprof.de“ als „Psychopath“ und „echt das Letzte“ die Grenze zur Schmähkritik noch nicht überschreiten sollen, sondern zulässige Meinungsäußerungen seien, wie es das LG Berlin annimmt,46 dürfte das Gewicht des Art. 5 Abs. 1 S. 1 HS 1 GG zu Lasten des Persönlichkeitsschutzes erheblich überbewerten. (2) Die Möglichkeit der Inanspruchnahme des Plattformbetreibers Ein Unterlassungsanspruch47 steht dem Hochschullehrer zum einen gegenüber demjenigen zu, der eine rechtswidrige Bewertung abgegeben hat. Zum anderen 44 Zur Vermutung zugunsten der Freiheit der Rede bei einer Äußerung, die einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung darstellt, BVerfGE 7, 198 (212); 85, 23 (34); 93, 266 (294 f.). 45 BVerfGE 93, 266 (294); 99, 185 (196). 46 So aber explizit LG Berlin DuD 2007, 784. 47 Darüber hinaus natürlich auch andere äußerungsrechtliche Reaktionsansprüche.
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kann er sich auch an den Betreiber der Beurteilungsseite halten. Insofern kommen die allgemeinen Regeln über die Störerhaftung im Internet zum Tragen, deren Darstellung den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde. Aus Gründen der thematischen Nähe zu den hier untersuchten Fragen sei lediglich auf eine aktuelle Entscheidung des BGH verwiesen, nach der sich der Unterlassungsanspruch desjenigen, der von einer ehrverletzenden Meinungsäußerung in einem Internetforum betroffen ist, auch dann gegen den Forenbetreiber richten kann, wenn dem Verletzten die Identität des Autors bekannt ist.48 Zwar ging es in dem Urteil um ein sog. Meinungsforum, in dem sich der Beleidigte selbst und freiwillig durch eigene Beiträge an Diskussionen beteiligt hatte. Der BGH hebt jedoch zu Recht hervor, dass sich trotz der bekannten Gefahr anonymer Beleidigungen in derartigen Foren niemand allein durch seine Teilnahme mit einer Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte einverstanden erklärt. Der Betreiber kann folglich erst recht in Anspruch genommen werden, wenn sich ein Betroffener nicht selbst in die Debatte einbringt, wie es typischerweise bei den im Internet bewerteten Dozenten der Fall ist. Der Seitenbetreiber vermag einen gegen ihn gerichteten Anspruch also nicht durch die „Enttarnung“ des ihm potentiell bekannten Autors der Beurteilung abzuwehren. Freilich begründet nicht jede Verletzung des Persönlichkeitsrechts durch einen Beitrag automatisch einen Unterlassungsanspruch gegen den Verantwortlichen für das Internetangebot. Auf Unterlassung kann der Betreiber eines Meinungsforums – und damit auch der Betreiber eines Bewertungsportals – aber zumindest49 dann in Anspruch genommen werden, wenn er rechtswidrige Beiträge, die ihm als solche bekannt sind, nicht entfernt. Zu Recht verweigert der BGH den Betreibern von Meinungsforen die Berufung auf eine Haftungsprivilegierung, die er dem Fernsehen in einer früheren Entscheidung mit Blick auf dessen spezifische Möglichkeiten und Zwänge zugestanden hatte: Danach kann ein Fernsehveranstalter nicht auf Unterlassung oder Widerruf in Anspruch genommen werden, wenn sich während der Live-Übertragung z. B. einer Diskussion ein Dritter ehrverletzend äußert oder wenn das Fernsehen die kritische Äußerung eines Dritten aufgreift, ohne sich mit ihr zu identifizieren.50 Nunmehr stellt der BGH klar, dass diese Privilegierung nicht für Wiederholungen im Fernsehen gilt, bei denen der Veranstalter anders als bei zeitgleicher Ausstrahlung die erneute Verbreitung von Äußerungen Dritter verhindern kann. Entsprechendes gilt für Meinungsforen: Zwar ist es dem Betreiber – 48 BGH NJW 2007, 2558 f.; dazu Osterloh, jurisPR-BGHZivilR 26 / 2007 Anm. 1. – Zur fehlenden Anwendbarkeit der Privilegierungstatbestände aus §§ 8-10 TMG auf Unterlassungsansprüche s. BGH NJW 2007, 2636 ff. 49 Neuere Entscheidungen, die eine Haftung des Betreibers auch ohne Kenntnis einzelner Rechtsverletzungen bejahen, beziehen sich auf Fälle, in denen Rechtsverletzungen durch die Benutzer der Seite – anders als hier – zumindest naheliegen. Begrenzt werden die Kontrollpflichten des Betreibers jedenfalls insofern, als ihm die jeweiligen Sicherungsmaßnahmen zumutbar sein müssen. S. beispielhaft LG Hamburg MMR 2007, 726 ff.; OLG Hamburg ZUM-RD 2008, 527 ff.; OLG Hamburg AfP 2008, 304 ff. 50 BGHZ 66, 182 (188 ff.), mit der einprägsamen Formulierung, das Fernsehen trete insofern lediglich als Markt der unterschiedlichen Ansichten in Erscheinung.
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wie dem Fernsehveranstalter bei einer Live-Sendung – regelmäßig nicht möglich, sämtliche Beiträge präventiv zu kontrollieren. Die fehlende Entfernung eines bekannten rechtswidrigen Beitrags freilich perpetuiert die Persönlichkeitsrechtsverletzung; sie ist einer TV-Wiederholung vergleichbar.51 Sofern die Verantwortlichen rechtswidrige Beiträge, von denen sie Kenntnis erhalten, unverzüglich löschen, können sie daher nicht auf Unterlassung in Anspruch genommen werden. So stellt sich zumindest derzeit die Situation bei „meinprof.de“ dar: Die Betreiber sichern zu, entsprechende Bewertungen, auf die sie hingewiesen werden, umgehend zu entfernen. 3. Die Anforderungen des Datenschutzrechts Mit dem Befund, dass Bewertungsforen nicht dem Grunde nach gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht der betroffenen Hochschullehrer verstoßen, ist noch kein abschließendes Urteil über ihre Rechtmäßigkeit gefällt. Als einfach-gesetzlicher Prüfungsmaßstab ist vielmehr das Datenschutzrecht zu berücksichtigen. Ein Verstoß gegen seine Anforderungen würde nach allgemeinen Regeln zu einem Unterlassungsanspruch des betroffenen Dozenten aus § 1004 BGB analog, § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 4 Abs. 1 BDSG führen,52 dem freilich der Löschungs- und Sperrungsanspruch des § 35 Abs. 2 BDSG in seinem speziellen Anwendungsbereich vorgeht.53 a) Die Anwendbarkeit des BDSG aa) Die Subsumtion unter die Anwendungsvoraussetzungen Bei den Bewertungen handelt es sich um Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse bestimmter natürlicher Personen und damit nach § 3 Abs. 1 BDSG um personenbezogene Daten i. S. v. § 1 BDSG. Zwar stellen die Beurteilungen – abgesehen von der Bezeichnung des Dozenten sowie der Veranstaltung – reine Werturteile dar:54 Gleichwohl sind sie richtigerweise als personenbezogene Daten zu qualifizieren, weil sie zukünftiges Verhalten gegenüber dem Beurteilten beeinflussen können.55 Im Beschaffen der Daten, das – wie hier – auch in Form BGH NJW 2007, 2559. S. auch Greve / Schärdel, MMR 2008, 646. 53 Näher zum Verhältnis der einzelnen Anspruchsgrundlagen Dix, in: Simitis, Bundesdatenschutzgesetz, 6. Aufl. 2006, § 35 Rn. 69 ff.; Gola / Schomerus, BDSG, 9. Aufl. 2007, § 35 Rn. 25 f. 54 Dazu schon oben II.2.a)bb). 55 Dammann, in: Simitis, Bundesdatenschutzgesetz, 6. Aufl. 2006, § 3 Rn. 12. Ebenso Dorn, DuD 2008, 99, zu „spickmich.de“. Vorsichtiger zu Werturteilen als Angaben über persönliche Verhältnisse Gola / Schomerus (Fn. 53), § 3 Rn. 6. Gegen die Einstufung von Werturteilen als personenbezogene Daten Härting, CR 2009, 26. 51 52
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der Befragung Dritter geschehen kann,56 liegt nach § 3 Abs. 3 BDSG eine Datenerhebung; die Speicherung und die beim Abruf der im Internet publizierten Daten vorgenommene Übermittlung57 der Daten stellen nach § 3 Abs. 4 BDSG58 eine Datenverarbeitung dar. Beide Vorgänge, die Erhebung und Verarbeitung also, eröffnen gem. § 1 Abs. 2 BDSG den Anwendungsbereich des BDSG. Damit unterstehen sie dem von § 4 Abs. 1 BDSG59 statuierten Verbot mit Erlaubnisvorbehalt: Zulässig sind sie nur, sofern der Betroffene eingewilligt hat oder falls sie durch das BDSG oder andere Rechtsvorschriften erlaubt sind. bb) Verfassungsrechtlich veranlasste Korrekturen? Insofern ist es jedenfalls in der dogmatischen Begründung nicht richtig, wenn die Evaluation von Lehrveranstaltungen gelegentlich als in einer datenschutzrechtlichen Grauzone angesiedelt gesehen wird.60 Bewertet werde – so diese Auffassung – die Wahrnehmung eines dem Betroffenen anvertrauten Amtes. Damit zusammenhängende Angaben müssten ohne Rücksicht auf die Einstellung des Funktionsträgers zugänglich sein. Die informationelle Selbstbestimmung werde erst dort zur Verarbeitungsbarriere, wo die Angaben in keiner Beziehung zur spezifischen Funktion stünden. So plausibel diese Überlegung ist: Eine Grauzone begründet sie nicht. Angesichts des klaren Wortlauts von § 4 Abs. 1 BDSG handelt es sich entweder um eine rechtspolitische Forderung, die de lege lata keine Berücksichtigung finden kann. Oder aber der Begriff der personenbezogenen Daten ist verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass er Werturteile jedenfalls dann nicht erfasst, wenn sich diese auf die Wahrnehmung öffentlicher Ämter beziehen. Eine dritte Lösung gibt es nicht.61
b) Die Zulässigkeit der Datenerhebung und -übermittlung In den Vordergrund rückt damit die Frage nach einer Einwilligung in die bzw. nach einer Rechtsgrundlage für die Erhebung und Verarbeitung der Bewertungen.62
Gola / Schomerus (Fn. 53), § 3 Rn. 24. Plog / Bandehzadeh, K&R 2008, 45; Dorn, DuD 2008, 99; Gola / Schomerus (Fn. 53), § 3 Rn. 33. 58 Konkret: § 3 Abs. 4 S. 2 Nr. 3 lit. b BDSG. Dazu Dix, DuD 2006, 330. 59 Ebenso für den Bereich der Telemedien § 12 Abs. 1 TMG. 60 So Simitis, in: Simitis, Bundesdatenschutzgesetz, 6. Aufl. 2006, § 4 a Rn. 12. 61 Letzteres konstatiert auch Simitis (Fn. 60), § 4 a Rn. 11. 62 Mittlerweile wird zusätzlich diskutiert, ob „meinprof.de“ gegen die Benachrichtigungspflicht des § 33 Abs. 1 BDSG verstößt. Darauf soll der Berliner Datenschutzbeauftragte kürzlich einen Bußgeldbescheid nach § 43 Abs. 1 Nr. 8 BDSG gestützt haben. Dazu Greve / Schärdel, MMR 2008, 647, die ebenfalls einen derartigen Verstoß annehmen. Härting, CR 2009, 27, verneint eine Benachrichtigungspflicht. 56 57
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aa) Regelmäßig keine Einwilligung des Betroffenen Eine Einwilligung des Betroffenen – gemeint ist die vorherige Einverständniserklärung – 63 liegt im Fall von „meinprof.de“ oder ähnlichen Angeboten typischerweise nicht vor. Fälle, in denen einzelne Hochschulen erfolgreich die Löschung sämtlicher Angaben über ihre Dozenten vorbehaltlich einer individuell erteilten Erlaubnis verlangt haben,64 sind allenfalls regelbestätigende Ausnahmen: Im Normalfall werden Professoren in die Beurteilung aufgenommen, ohne dies vorab gestattet zu haben. bb) Gesetzliche Erlaubnis zur Übertragung? (1) Keine einschlägigen Erlaubnisnormen außerhalb des BDSG Erlaubnisnormen, die zur Datenverarbeitung berechtigen, finden sich nicht nur im BDSG selber. Jedoch greifen die übrigen prinzipiell in Betracht kommenden Regelungswerke bei Portalen zur Professorenbewertung nicht ein. Das betrifft zunächst die datenschutzrechtlichen Bestimmungen der §§ 91 ff. TKG. Sie gelten für den Schutz personenbezogener Daten der Teilnehmer und Nutzer von Telekommunikation (§ 91 Abs. 1 S. 1 TKG). Ihr Anwendungsbereich ist also der technische Kommunikationsvorgang, nicht dessen Inhalt. Zudem sind die beurteilten Hochschullehrer mit Blick auf die Verarbeitung ihrer Daten keine Teilnehmer oder Nutzer irgendwelcher Kommunikationsvorgänge, sondern allenfalls deren Objekt. Aus entsprechenden Gründen scheidet auch die Anwendung der §§ 14, 15 TMG aus. Die Vorschriften befassen sich mit der Verarbeitung personenbezogener Daten eines Nutzers, einer Person also, die Telemedien nutzt, insbesondere um Informationen zu erlangen oder zugänglich zu machen (§ 2 S. 1 Nr. 3 TMG). Zu dieser Gruppe zählen die bewerteten Professoren nicht. (2) § 29 BDSG als einzig anwendbare Erlaubnisnorm Damit können sich Erlaubnisnormen allein aus dem BDSG ergeben.65 Sein dritter Abschnitt (§§ 27 ff. BDSG) regelt gem. § 27 Abs. 1 BDSG die DatenverarbeiGola / Schomerus (Fn. 53), § 4 Rn. 15. Bekannt wurde das u. a. von der mittlerweile offenbar wieder berücksichtigten RWTH Aachen. 65 Im Ergebnis ebenso Ballhausen / Roggenkamp, K&R 2008, 407, mit dem Vorschlag, das „Drei-Schichten-Modell“ zur Abgrenzung zwischen dem TKG (anwendbar auf die „Transportebene“), dem TMG (anwendbar auf die „Interaktionsebene“) und dem BDSG (anwendbar auf die Inhaltsdaten) für Fälle, in denen auch die „Leistungsdaten“ personenbezogen sind, um eine „Leistungsebene“ als „vierte Schicht“ zu ergänzen, auf die das BDSG Anwendung finden soll. 63 64
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tung nicht-öffentlicher Stellen. Das sind nach § 2 Abs. 4 BDSG nicht dem Staat zuzurechnende natürliche und juristische Personen, Gesellschaften und andere Personenvereinigungen des privaten Rechts. Dazu zählt „MeinProf e.V.“ als Anbieter der hier betrachteten Seite ebenso, wie es bei anderen privaten Betreibern entsprechender Angebote der Fall ist bzw. wäre. Von den somit potentiell einschlägigen Erlaubnisnormen der §§ 28 ff. BDSG verdienen die §§ 28 und 29 BDSG nähere Betrachtung. § 28 BDSG erlaubt unter bestimmten Umständen die Erhebung, Speicherung und Übermittlung personenbezogener Daten für eigene Geschäftszwecke. Damit sind Fälle gemeint, in denen die Datenverarbeitung wie beispielsweise im Versandhandel Mittel zu einem anderen Zweck ist. Die Anwendbarkeit des § 28 BDSG hängt im Wesentlichen davon ab, ob die betreffende Stelle an den Daten ein eigenes Interesse hat, weil sie mit den Betroffenen in Kontakt steht bzw. treten will.66 Das ist bei „meinprof.de“ nicht der Fall. Die Erhebung und Verbreitung der Daten sind bereits der Zweck des Angebots, nicht nur Mittel zu einem solchen; der Kontakt zum bewerteten Hochschullehrer ist für die Betreiber letztlich nicht von Bedeutung. § 28 BDSG vermag Angebote wie das hier in Rede stehende daher nicht zu legitimieren.67 § 29 Abs. 1 BDSG gestattet unter näher normierten Voraussetzungen die geschäftsmäßige Erhebung und Speicherung zum Zweck der Übermittlung, „insbesondere wenn dies der Werbung, der Tätigkeit von Auskunfteien, dem Adresshandel oder der Markt- und Meinungsforschung dient“; § 29 Abs. 2 BDSG regelt die Übermittlung „im Rahmen der Zwecke nach Absatz 1“. Ob bzw. wie Angebote wie etwa „meinprof.de“ auf pekuniären Profit angelegt sind, ist für die Anwendbarkeit des § 29 BDSG unerheblich. Eine „geschäftsmäßige“ Datenverarbeitung i. S. v. § 29 Abs. 1 DSG liegt bereits dann vor, wenn sie auf eine gewisse Dauer angelegt ist, wenn also Wiederholungsabsicht besteht; auf die Entgeltlichkeit des Angebots oder die Gewinnerzielungsabsicht der Betreiber kommt es nicht an.68 Die Erhebung und Speicherung der Daten werden auch, wie es § 29 Abs. 1 BDSG voraussetzt, zum Zwecke der Übermittlung vorgenommen. Jedoch dienen sie keinem der in § 29 Abs. 1 BDSG explizit genannten Tätigkeitsfelder (Werbung, Tätigkeit von Auskunfteien etc.). Zwar ist diese Aufzählung schon ausweislich des klaren Gesetzeswortlauts („insbesondere“) nicht abschließend. Immerhin weist sie aber darauf hin, dass die Vornahme „zum Zweck der Übermittlung“ für die Zulässigkeit der Datenerhebung und -speicherung lediglich eine notwendige, nicht jedoch eine hinreichende Bedingung darstellt.69 Den exem66 67 68
Gola / Schomerus (Fn. 53), § 28 Rn. 4. So auch Dix, DuD 2006, 330; a. A. Härting, CR 2009, 26. Ausführlich Ehmann, in: Simitis, Bundesdatenschutzgesetz, 6. Aufl. 2006, § 29 Rn. 49,
51. 69
Ehmann (Fn. 68), § 29 Rn. 97.
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plarisch aufgeführten Branchen ist gemein, dass die gezielte Gewinnung von Daten über natürliche Personen bezweckt wird, um diese in einer Vielzahl von Fällen zu übermitteln. Zumindest diese Voraussetzung muss daher jeder erfüllen, der sich auf die Befugnis des § 29 BDSG berufen will.70 „meinprof.de“ und ähnliche Angebote weisen diese Merkmale auf. § 29 BDSG ist daher anwendbar.71 Die Plausibilität dieses Ergebnisses lässt sich mit der Überlegung absichern, dass das Tätigkeitsmodell derartiger Plattformen den Aktivitäten von Auskunfteien72 bzw. der Markt- und Meinungsforschung73 immerhin ähnelt, die der Gesetzgeber selber exemplarisch als Anwendungsfälle der Vorschrift benennt. (3) Die Voraussetzungen des § 29 BDSG (a) Die Voraussetzungen für die Erhebung und Speicherung der Daten nach § 29 Abs. 1 BDSG Die Voraussetzungen, von denen § 29 BDSG die Zulässigkeit der Datenverarbeitung abhängig macht, sind nicht für alle Verarbeitungsstadien identisch. § 29 Abs. 1 BDSG betrifft allein die Erhebung und Speicherung der Daten, deren Übermittlung von § 29 Abs. 2 BDSG gesondert geregelt wird. Erhoben und gespeichert werden dürfen die Daten, wenn kein Grund zu der Annahme besteht, dass der Betroffene ein schutzwürdiges Interesse an dem Ausschluss der Erhebung, Speicherung oder Veränderung hat (§ 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BDSG), oder die Daten aus allgemein zugänglichen Quellen entnommen werden können oder die verantwortliche Stelle sie veröffentlichen dürfte, es sei denn, dass das schutzwürdige Interesse des Betroffenen an dem Ausschluss der Erhebung bzw. Speicherung offensichtlich überwiegt (§ 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BDSG).
Die Voraussetzungen der Nr. 1 werden für die eigentlichen Bewertungen – die Noten ebenso wie die frei formulierten Beurteilungen – relevant. Obwohl der Gesetzeswortlaut dies nicht mit letzter Klarheit zum Ausdruck bringt, bedarf es hier richtiger Ansicht nach einer Abwägung zwischen dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG einerseits und dem Erhebungs70 Eingehend Ehmann (Fn. 68), § 29 Rn. 97 f., der plastisch vom „kleinsten gemeinsamen Nenner“ der ausdrücklich genannten Branchen spricht. Zusätzlich verlangt er vorhandene Organisationsstrukturen, die eine Berücksichtigung der materiellen Datenschutzanforderungen ermöglichen: Es sei ein Verstoß gegen Treu und Glauben, wenn sich eine Stelle auf § 29 BDSG beruft, ohne Vorkehrungen für die Einhaltung dieser Pflichten zu treffen. Insofern wird man jedoch keine allzu hohen Anforderungen stellen dürfen: Letztlich relevant ist allein, ob die Anforderungen tatsächlich eingehalten werden. 71 S. dazu auch Dorn, DuD 2008, 100. 72 Darauf weist Dix, DuD 2006, 330 hin. 73 Auf die Nähe zur Demoskopie stellen Ballhausen / Roggenkamp, K&R 2008, 407 f., ab.
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interesse andererseits.74 Auch an dieser Stelle lässt sich der zuvor angesprochene Gedanke heranziehen: Ein Hochschullehrer muss es nicht nur hinnehmen, dass sich die Fachöffentlichkeit mit seinen Publikationen auseinandersetzt. Auch über seinen Unterricht darf diskutiert werden. Kritik an der Lehre ist von der Meinungsfreiheit geschützt. Dass die Zugehörigkeit der Studenten zur Hochschule kein grundrechtsreduzierendes Sonderstatusverhältnis begründet, das deren Meinungsfreiheit begrenzt, bedarf heute keiner weiteren Erklärung mehr. Damit ist auch an dieser Stelle nichts über die Zulässigkeit der einzelnen Äußerung gesagt. Die Erhebung und die Speicherung der Daten aber sind dem Grunde nach zulässig.75 In jedem Fall unproblematisch sind die Erhebung und die Speicherung der Dozentennamen und der Veranstaltungsbezeichnungen. Sie fallen unter § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BDSG, da diese „Stammdaten“ den allgemein zugänglichen Personenund Vorlesungsverzeichnissen entnommen werden können bzw. dort zumindest hätten publiziert werden dürfen.76 Bei der Abwägung zwischen dem Erhebungsund Speicherungsinteresse einerseits und einem womöglich im Einzelfall bestehenden Geheimhaltungsinteresse andererseits kann von einem Überwiegen des letzteren keine Rede sein. Wenn das Geheimhaltungsinteresse nicht einmal im Hinblick auf die Werturteile überwiegt, hat der Betroffene erst recht die Verarbeitung dieser (wahren) Tatsachen hinzunehmen. (b) Die Voraussetzungen für die Verbreitung der Daten nach § 29 Abs. 2 BDSG Problematischer ist die Verbreitung der Daten. Als Übermittlung i. S. v. § 29 Abs. 2 BDSG setzt ihre Zulässigkeit voraus, dass beide Nummern des § 29 Abs. 2 S. 1 BDSG kumulativ erfüllt sind. Nach Nr. 2 darf kein Grund zu der Annahme bestehen, dass der Betroffene ein schutzwürdiges Interesse an dem Ausschluss der Übermittlung hat. Damit verlangt das Gesetz auch hier eine Interessenabwägung: Um zu ermitteln, ob ein Geheimhaltungsinteresse des Betroffenen schutzwürdig ist, muss es den Interessen desjenigen gegenübergestellt werden, dem die Daten übermittelt werden. Dieser muss nach § 29 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 lit. a BDSG77 ein berechtigtes Interesse an der Kenntnis der Daten glaubhaft dargelegt haben. Zwar wird im Rahmen der Abwägung schon auf Grund der oben angestellten ÜberEhmann (Fn. 68), § 29 Rn. 157 ff., mit Nachweisen auch zur Gegenauffassung. A.A. Dix, DuD 2006, 331, der unter Hinweis auf die fehlende Vorabkontrolle der Bewertungen, fehlende objektive Bewertungsmaßstäbe und die weltweite Abrufbarkeit der Daten von einem Vorrang des Geheimhaltungsinteresses ausgeht. 76 Zur prinzipiell bestehenden Befugnis der Beschäftigungsbehörde, die Namen und e-mail-Adressen der Bediensteten mit Außenkontakten in ihrem Internetauftritt auch gegen den Willen der Betroffenen zu veröffentlichen, BVerwG ZTR 2008, 406; zuvor bereits OVG Koblenz MMR 2008, 635 f. 77 Das „Listenprivileg“ des § 29 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 lit. b BDSG ist hier nicht anwendbar, so dass es im Rahmen der Nr. 1 gerade auf die Voraussetzungen unter lit. a ankommt. 74 75
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legungen konsequenterweise das Übermittlungsinteresse überwiegen. Wenn und weil „meinprof.de“ jedoch von jedermann ohne irgendeine Zugriffskontrolle aufgerufen werden kann, findet die gesetzlich geforderte glaubhafte Darlegung eines berechtigten Interesses (und damit zwangsläufig auch die von § 29 Abs. 2 S. 3 BDSG verlangte Aufzeichnung seiner Gründe sowie der Art und Weise ihrer glaubhaften Darlegung) schlicht nicht statt.78 Daran würde auch das Erfordernis einer vorherigen Registrierung der Benutzer jedenfalls dann nichts ändern, wenn diese faktisch jedermann möglich ist, ohne dass ein individuell vorhandenes Übermittlungsinteresse dargelegt werden muss. Das ist freilich alles andere als ein singuläres Phänomen. Die Anforderungen des Gesetzes haben mit der Rechtswirklichkeit vielfach nichts gemein. Kreditauskunfteien wie die Schufa übermitteln ihre Informationen an Banken beispielsweise auf Grund standardisierter Kürzel; das berechtigte Interesse überprüfen sie lediglich anhand weniger Stichproben.79 Das mag eine pragmatische Vorgehensweise sein, die dafür sorgt, die massenhafte Zahl von Anfragen bewältigen zu können.80 Den gesetzlichen Vorgaben entspricht sie nicht. Es handelt sich – daran vermag die offenbar vorhandene behördliche Billigung nichts zu ändern – jedenfalls aus der Sicht des einfachen Rechts um eine Rechtsentwicklung extra legem.81 Dieses Verdikt trifft auch die freie, praktisch anonyme und von keiner individuellen Voraussetzung abhängige Abrufmöglichkeit bei „meinprof.de“.82 Vermeiden ließe es sich de lege lata nur, wenn man die Restriktionen des § 29 Abs. 2 BDSG, an denen die Zulässigkeit von Plattformen wie „meinprof.de“ zu scheitern droht, im Wege der verfassungskonformen Auslegung für unbeachtlich erklären wollte. Dafür ließe sich anführen, dass § 29 Abs. 2 BDSG auf Angebote zugeschnitten ist, bei denen die übermittelten personenbezogenen Daten gerade tatsächlicher Natur sind, während sie hier im Wesentlichen aus Werturteilen bestehen. Das verändert die grundrechtlichen Rahmenbedingungen der Vorschrift insofern, als damit in den hier betrachteten Fällen für die Zulässigkeit der Übermittlung zusätzlich die Meinungsfreiheit der Bewertenden (und außerdem die Rundfunkfreiheit der Plattformbetreiber) streitet, auf die es in den vom Gesetzgeber bewusst geregelten Fällen nicht ankommt. Daraus zieht eine offenbar im Vordringen befindliche Auffassung den Schluss, das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Bewerteten, konkret: sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung, Zur fehlenden Aufzeichnung auch Dorn, DuD 2008, 100. Ehmann (Fn. 68), § 29 Rn. 245 ff. 80 Duhr, in: Roßnagel, Handbuch Datenschutzrecht, 2003, Teil 7.5 Rn. 58, hält die Standardisierung der berechtigten Interessen für akzeptabel, wenn durch geeignete Kontrollverfahren Missbrauchsmöglichkeiten weitgehend verhindert werden. 81 So deutlich Ehmann (Fn. 68), § 29 Rn. 248. Näher zu aufsichtsbehördlichen Anforderungen hinsichtlich der nachträglichen Überprüfung durch Stichproben Gola / Schomerus (Fn. 53), § 29 Rn. 23. 82 Für die Unzulässigkeit der Übermittlung daher Dix, DuD 2006, 331. 78 79
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müsse in diesen Fällen zurücktreten. Die Einschränkungen des § 29 Abs. 2 BDSG seien auf Angebote wie „meinprof.de“ nicht anzuwenden.83 Zwingend ist diese Sichtweise freilich nicht. Wenn Werturteile personenbezogene Daten im Sinne des BDSG sind, weil sie Gefahren für das informationelle Selbstbestimmungsrecht eines Menschen begründen, erscheint es konsequent, sie auch dem Regelungsregime des BDSG zu unterwerfen. Hinzu kommt: Eine konsequente Anwendung des § 29 Abs. 2 BDSG unterbindet die Äußerung von Werturteilen über Professoren im Internet nicht dem Grunde nach. Sie betrifft allein Bewertungsplattformen, die eine Vielzahl von Bewertungen gesammelt zur Verfügung stellen. Das reduziert die Intensität, mit der § 29 Abs. 2 BDSG im Falle seiner Anwendung auf derartige Angebote in die Meinungsfreiheit eingreift, erheblich.84 Zwar gibt Art. 5 Abs. 1 S. 1 HS 1 GG dem Einzelnen nicht nur das Recht, seine Meinung überhaupt kundzutun. Der Äußernde darf vielmehr auch die Umstände wählen, von denen er sich die größte Verbreitung oder die stärkste Wirkung seiner Meinungskundgabe verspricht.85 Daraus wird man sicherlich ableiten können, dass der zur Lösung der grundrechtlichen Kollisionslage berufene einfache Gesetzgeber den Kommunikationsgrundrechten den Vorrang vor dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung einräumen darf, indem er die Konzentration von Bewertungen auf internetgestützten Plattformen zulässt. Ob er dies auf Grund verfassungsrechtlicher Vorgaben tun muss, so dass gegenläufige gesetzgeberische Entscheidungen im Wege der verfassungskonformen Auslegung zu korrigieren sind, erscheint bei näherer Betrachtung86 zweifelhaft. In der mittlerweile recht umfangreichen Rechtsprechung zu den Bewertungsportalen „meinprof.de“ und „spickmich.de“87 findet die Problematik des § 29 Abs. 2 BDSG keine Beachtung. Die Entscheidungen erachten entweder § 28 BDSG als die maßgebliche Vorschrift (und halten dessen Voraussetzungen für erfüllt).88 Oder 83 So Ballhausen / Roggenkamp, K&R 2008, 408 f. Ebenso Braun, jurisPR-ITR 11 / 2007 Anm. 4; Plog, CR 2007, 669 (verfassungskonforme Auslegung oder entsprechende Anwendung des datenschutzrechtlichen „Medienprivilegs“); Plog / Bandehzadeh, K&R 2008, 46. Letztere plädieren sogar für eine verfassungskonforme Auslegung bereits des § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BDSG (a. a. O., S. 45 f.). Nach hier vertretener Auffassung gestattet diese Vorschrift die Erhebung und Speicherung der Daten aber ohnehin, so dass es einer verfassungskonformen Auslegung nicht bedarf. – Für die Nichtanwendung des BDSG wegen des „Medienprivilegs“ in § 41 BDSG auch Greve / Schärdel, MMR 2008, 647 f., die jedoch von einer tatsächlich so nicht gegebenen Gleichheit bzw. Ähnlichkeit von Bewertungsplattformen und klassischer Presse ausgehen. 84 Anders Plog / Bandehzadeh, K&R 2008, 45 f.: einschneidender Eingriff. 85 BVerfGE 93, 266 (288); Bethge (Fn. 17), Art. 5 Rn. 26 a. 86 Mit vorsichtiger Sympathie für die Lösung der verfassungskonformen Auslegung ohne detaillierte Überlegung noch von Coelln, Juris AnwaltZertifikatOnline IT-Recht, Nr. 19 / 2008 Anm. 2. 87 Dazu bereits oben II.2.c)aa). 88 LG Köln K&R 2008, 190; OLG Köln MMR 2008, 675; OLG Köln NJW-RR 2008, 206; LG Duisburg MMR 2008, 694.
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sie stellen zwar auf § 29 BDSG ab, befassen sich insofern jedoch nur mit § 29 Abs. 1, nicht aber mit dem nach der hier vertretenen Auffassung problematischen § 29 Abs. 2 BDSG.89 Ob die Rechtsprechung zu einer einheitlichen Zuordnung findet und wie sie die Zulässigkeit der hier einschlägigen Bewertungsportale ggf. sub specie § 29 Abs. 2 BDSG beurteilen wird, bleibt daher abzuwarten. c) Ergebnis Im Ergebnis spricht viel dafür, dass die Seite „meinprof.de“ mit der Evaluierung von Professoren, deren Einwilligung nicht vorliegt, gegen §§ 4 Abs. 1, 29 Abs. 2 BDSG verstößt. III. Die staatlich bzw. durch die Hochschule verantwortete Evaluation Andere Fragen stellen sich im Hinblick auf staatlich bzw. hochschulintern verantwortete Evaluationen.90 1. Die gesetzlich vorgesehene Evaluation der Lehre Die Lehrevaluation ist heute in nahezu allen Landeshochschulgesetzen vorgesehen.91 In Ermangelung näherer Festlegungen im HRG weichen die Regelungen relativ stark voneinander ab. Einige grundlegende Fragen stellen sich jedoch länderübergreifend. Dazu zählt das Problem, ob die Bewertung einer Lehrveranstaltung durch Organe der Hochschule überhaupt zulässig ist,92 zu welchen Zwecken die von vielen Gesetzen angeordnete Befragung der Studenten herangezogen werden darf, ob sie anonym erfolgen darf und in welchem Umfang die Publikation von Evaluationsergebnissen zulässig ist.93 89 LG Köln RDV 2007, 253 f.; LG Köln MMR 2007, 731; LG Berlin DuD 2007, 784. Die beiden Entscheidungen des LG Köln enthalten zusätzlich eine Hilfsbegründung über § 28 BDSG. 90 Zu Möglichkeiten der Differenzierung zwischen hochschulinternen und staatlichen Evaluationen s. Hufen, Rechtsfragen der Lehrevaluation an wissenschaftlichen Hochschulen, 1995, S. 23 ff. bzw. S. 32 ff. 91 § 5 Abs. 1 LHG BW; Art. 10 Abs. 1 BayHG; § 25 BbgHG; § 33 LHG MV; § 5 Abs. 1 Nds. HG; § 7 Abs. 2 HG NRW; § 27 Abs. 4 HessHG; § 8 Abs. 1 ThürHG. Unter anderen Bezeichnungen finden sich inhaltlich vergleichbare Regelungen in § 69 Abs. 4 BremHG; § 3 Abs. 2, 3 HambHG; § 7 HG SA; § 5 RhPfHG; § 5 Abs. 1 HG SH; § 5 Abs. 1 SrlUG; § 9 SächsHSG. – § 6 Abs. 1 Nr. 4 BerlHG regelt die Erhebung und Speicherung sowie die Nutzung von personenbezogenen Daten im Rahmen der Evaluation von Studium und Lehre. Die Vorschrift regelt die Evaluation nicht, setzt sie aber voraus. 92 Im Folgenden III. 2.a). 93 Zu diesen Aspekten unten III. 2.b).
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2. Die Frage nach der Rechtmäßigkeit einer amtlichen Lehrevaluation Unter dem Blickwinkel der in Art. 5 Abs. 3 GG garantierten Wissenschaftsfreiheit94 sieht sich die Evaluation der Lehre durch Organe der Hochschule schon dem Grunde nach Bedenken ausgesetzt. Klarstellend sei vorausgeschickt, dass sich diese Vorbehalte nicht gegen die von einzelnen Studenten(gruppen) durchgeführte private Veranstaltungskritik richten, die a priori nicht in die Wissenschaftsfreiheit einzugreifen vermag.95 a) Die Lehrevaluation durch Organe der Hochschule aa) Die grundrechtliche Ausgangslage (1) Der Schutz der Hochschullehre durch die Wissenschaftsfreiheit Wissenschaft i. S. d. Art. 5 Abs. 3 GG ist ein Oberbegriff, der Forschung und Lehre umfasst.96 Ungeachtet der Frage, ob gerade das Humboldt’sche Ideal der Einheit von Forschung und Lehre97 den Schutz des Grundrechts genießt,98 erfasst der Tatbestand der Wissenschaftsfreiheit neben dem Prozess der Erkenntnisgewinnung auch die Erkenntnisvermittlung: Wissenschaftsfreiheit ist Forschungsfreiheit und Lehrfreiheit.99 Die beiden Bereiche der Wissenschaft stehen dabei nicht unverbunden nebeneinander. Wissenschaftliche Lehre ist allein die forschungsbezogene Lehre, also die Weitergabe von eigenen oder kritisch reflektierten fremden wissenschaftlichen Erkenntnissen.100 Im Zentrum der so konturierten Lehrfreiheit 94 Die Wissenschaftsfreiheit als „Persönlichkeitsrecht des Hochschullehrers“ (Hufen [Fn. 90], S. 6) verdrängt dessen allgemeines Persönlichkeitsrecht nicht vollständig. Bei der Antwort auf die Frage, ob eine amtliche Lehrevaluation dem Grunde nach zulässig ist, steht jedoch Art. 5 Abs. 3 GG deutlich im Vordergrund, da insofern in erster Linie die spezifische Rechtsstellung des Dozenten als Wissenschaftler angesprochen ist. – Zur Frage der Vereinbarkeit einer amtlichen Evaluation mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht s. Tinnefeld, DuD 2001, 21 ff. 95 Krüger, in: Flämig / Kimminich / Krüger / Meusel / Rupp / Scheven / Schuster / Graf Stenbock-Fermor, Handbuch des Wissenschaftsrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 1996, S. 320; Hufen (Fn. 90), S. 15 ff.; Karpen, in: Hailbronner / Geis, HRG, Loseblatt, Stand Juni 2007, § 5 Rn. 73. Zur Unbedenklichkeit der Äußerungen einzelner Studenten s. auch BVerfGE 55, 37 (67 f.). 96 BVerfGE 35, 79 (113); Fehling, in: Bonner Kommentar, Loseblatt, Stand Oktober 2008, Art. 5 Abs. 3 Rn. 57. Zum Schutz auch der Lehrfreiheit s. zudem BVerfGE 55, 37 (68). Höchst unglücklich ist der aktuelle Wortlaut des Art. 91 b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GG: „Vorhaben der Wissenschaft und Forschung“. 97 Dazu BVerfGE 35, 79 (109). 98 In diese Richtung Oppermann, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Bd. VI, 2. Aufl. 2001, § 145 Rn. 37; Ridder / Stein, DÖV 1962, 362; ablehnend Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, Loseblatt, Stand Mai 2008, Art. 5 Abs. III Rn. 103; Fehling (Fn. 96), Art. 5 Abs. 3 Rn. 95. 99 Michael / Morlok, Grundrechte, 2008, Rn. 244.
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steht die universitäre Lehre.101 Zu ihren begriffsnotwendigen Merkmalen gehört, dass sie eigenverantwortlich, selbstständig und frei von Weisungen durchgeführt wird.102 Konkret schützt Art. 5 Abs. 3 GG sowohl die Entscheidung, welche Inhalte behandelt werden, als auch die Wahl bestimmter Veranstaltungsformen und Lehrmethoden sowie die Festlegung des äußeren Ablaufs einer Lehrveranstaltung.103 (2) Schranken im kollidierenden Verfassungsrecht Die Wissenschaftsfreiheit ist vorbehaltlos gewährleistet. In ihrem internen Bereich verbürgt sie daher einen von staatlicher Ingerenz freien Raum autonomer Verantwortung.104 Außerhalb des internen Bereichs aber, wo die wissenschaftliche Tätigkeit Sozialkontakte auslöst und Dritte betrifft, muss ihre Freiheit an Grenzen stoßen. Insofern gilt für Art. 5 Abs. 3 GG nichts anderes als für andere vorbehaltlos, aber eben nicht schrankenlos gewährleistete Grundrechte: Sie finden ihre Schranken in kollidierendem Verfassungsrecht,105 also in Grundrechten Dritter sowie in sonstigen Rechtsgütern von Verfassungsrang. Das gilt auch und gerade für die Freiheit der Lehre. Im Gegensatz zur Forschung, die je nach ihrem Gegenstand und ihrer Methode nicht zwingend zu Außenkontakten führen muss, ist die Lehre gezielt auf das Zusammentreffen und die Interaktion mit Studenten angelegt, deren Grundrechte folglich mit der Lehrfreiheit kollidieren können. Insofern kommt zunächst die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) in Betracht.106 Neben der im Verfassungstext genannten freien Wahl der Ausbildungsstätte, zu der auch Universitäten zählen,107 schützt das Grundrecht die Freiheit der berufsbezogenen Ausbildung umfassend.108 Für den speziellen Fall einer Berufsausbildung gerade in Form eines wissenschaftlichen Studiums ist freilich umstritten, ob Art. 12 Abs. 1 GG die normative Grundlage einer studentischen „Lernfreiheit“ ist109 oder ob die Studenten insofern an der Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG partizipieren.110 Ungeachtet der Frage ihrer 100 Fehling (Fn. 96), Art. 5 Abs. 3 Rn. 83; enger Wendt, in: v. Münch / Kunig, GG, Bd. I, 5. Aufl. 2000, Art. 5 Rn. 102. 101 Schemmer / Kempen, in: BeckOK GG, Stand 1. Oktober 2008, Art. 5 Rn. 181. 102 Wendt (Fn. 100), Art. 5 Rn. 102, unter Hinweis auf BVerwGE 62, 45 (51 f.). 103 BVerfGE 55, 37 (68); näher Geck, VVDStRL 27 (1969), 161; Kaufhold, Die Lehrfreiheit – ein verlorenes Grundrecht?, 2006, S. 214 ff. 104 BVerfGE 35, 79 (112); 47, 327 (367); 111, 333 (354). 105 Bethge (Fn. 17), Art. 5 Rn. 223. 106 Für eine Rechtfertigung des Eingriffs durch Art. 12 Abs. 1 GG etwa Fehling, Die Verwaltung 35 (2002), 413. 107 Vgl. BVerfGE 33, 303 (329). 108 Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG, 9. Aufl. 2007, Art. 12 Rn. 70. 109 Scholz (Fn. 98), Art. 12 Rn. 183, 449.
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exakten normativen Verortung steht die Ausbildungs- und Lernfreiheit der Studenten der Lehrfreiheit der Professoren jedoch nicht in dem Sinne gleichrangig gegenüber, dass beide Gruppen gleichberechtigt über die angebotenen Lehrveranstaltungen oder gar über deren konkreten Inhalt zu entscheiden hätten. Insofern kommt der Lehrfreiheit der Vorrang zu. Treffend zum Ausdruck bringt das die Formulierung, Lernfreiheit bestehe nur nach Maßgabe des vorhandenen Ausbildungsangebots und an Universitäten allein im Rahmen der Freiheit der Lehre.111 Sie darf freilich nicht im Sinne eines ausschließlich akzessorischen Charakters der Lernfreiheit missverstanden werden, der selbst fehlende Lehre als grundrechtlich unproblematisch erscheinen lassen würde. Eine derartige Sichtweise würde jedenfalls das Anliegen praktischer Konkordanz (Konrad Hesse) verfehlen. Die Lernfreiheit setzt die Existenz wissenschaftlicher Lehre voraus, einer Lehre also, die qualitativen Mindestansprüchen genügt. Als Ausbildungsfreiheit verlangt das Grundrecht einen Unterricht, der zur späteren Berufstätigkeit befähigt. Wo diese Grenze unterschritten wird, tritt die Lehrfreiheit zumindest hinter den Grundrechten der Studenten zurück – sofern man sie denn überhaupt noch für einschlägig erachten will: Näher liegt es sogar, sie in dieser Konstellation bereits tatbestandlich zu verneinen. Lehre, die den Rahmen der Wissenschaftlichkeit verlässt, wird von Art. 5 Abs. 3 GG nicht geschützt. Zu entsprechenden Resultaten führt die Überlegung, dass die Berufsbildung schon aus Sicht des objektiven Verfassungsrechts eine strukturbestimmende Universitätsaufgabe ist. Der Staat besitzt insofern eigene Organisationskompetenz, die – unabhängig davon, ob man sie eher in Art. 12 Abs. 1 GG oder ebenfalls in Art. 5 Abs. 3 GG angesiedelt sieht – die gerade nicht von gesellschaftlichen Nützlichkeitserwägungen geprägte112 Freiheit der Wissenschaft zu begrenzen vermag und die es beispielsweise rechtfertigt, Hochschullehrer im Staatsdienst in einem bestimmten Umfang zur Lehre zu verpflichten. Die Berufsbildungskompetenz des Staates wird freilich umgekehrt durch die Wissenschaftsfreiheit begrenzt.113 Wie zuvor gilt jedoch auch hier, dass diese wenn nicht tatbestandlich ausscheidet, so doch zumindest im Wege der Abwägung zurücktritt, sofern akademischer Unterricht nicht stattfindet oder falls er zur Vermittlung beruflicher Bildung offenkundig untauglich ist. Sowohl die Grundrechte der Studenten als auch der Ausbildungszweck der Universität begrenzen daher die Freiheit des Hochschullehrers zur Gestaltung seiner 110 Bethge (Fn. 17), Art. 5 Rn. 208; ders., Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, 1977, S. 198 f.; Fehling (Fn. 96), Art. 5 Abs. 3 Rn. 96 ff. In diese Richtung auch BVerfGE 55, 37 (67 f.), „zumindest“ für den Fall, dass ein Student zur aktiven Teilnahme an der wissenschaftlichen Lehre bereit und in der Lage ist. 111 Scholz (Fn. 98), Art. 12 Rn. 183, 449. 112 Dazu BVerfGE 111, 333 (354). 113 Eingehend zum Verhältnis zwischen Wissenschaftsfreiheit und Berufsbildungskompetenz des Staates Scholz (Fn. 98), Art. 5 Abs. III Rn. 136, der hinsichtlich der berufsbezogenen Bildung auf Art. 12 Abs. 1 GG abstellt.
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Lehrveranstaltungen, wobei diese Freiheit angesichts des skizzierten Verlaufs der Begrenzungslinie gleichwohl weit reicht.114 Dagegen ist es im hier interessierenden Kontext unerheblich, dass sich die Hochschule ihrerseits gem. Art. 19 Abs. 3 GG ebenfalls auf Art. 5 Abs. 3 GG berufen kann.115 Der individuellen Wissenschaftsfreiheit des einzelnen Hochschullehrers steht kein Grundrecht der Hochschule gegenüber, das diese zur Bewertung seiner wissenschaftlichen Tätigkeit berechtigen würde.116 bb) Die Konsequenzen für die Befassung der Hochschule mit der Lehre einzelner Professoren Diese Überlegung schließt eine Beschäftigung der Hochschule mit dem Unterricht eines Dozenten freilich nicht aus. Der Staat hat für einen funktionsfähigen Wissenschaftsbetrieb zu sorgen. Dabei muss er berücksichtigen, dass hochschulinterne Kontrolle gegenüber externer staatlicher Kontrolle wissenschaftsadäquater und daher vorzugswürdig ist.117 (1) Der grundrechtliche Blick auf Umfang und Grenzen hochschulinterner Kontrolle im Bereich der Forschung Daraus hat das BVerwG für die Forschung gefolgert, den zuständigen Hochschulorganen müsse die Kompetenz eingeräumt werden, konkreten Anhaltspunkten für gravierendes Fehlverhalten nachzugehen und zu überprüfen, ob ein Wissenschaftler seine Freiheit missbraucht, deren Grenzen überschritten oder verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter Dritter gefährdet oder verletzt hat. Sei der Boden der Wissenschaft verlassen, dürfe dies festgestellt und kritisiert werden; bei Gefährdungen Dritter dürften Maßnahmen zu deren Schutz ergriffen werden. Jedoch besitze die Fakultät nicht das Recht, Forschungsarbeiten „– gleichsam von Amts wegen – fachlich zu bewerten und einer wissenschaftlichen Kritik zu unterziehen“. Eine Verletzung der Wissenschaftsfreiheit sah das BVerwG namentlich in der Bewertung der Arbeitsweise des betroffenen Hochschullehrers und in dem Versuch, auf diese Einfluss zu nehmen, sei es auch nur durch faktischen oder moralischen Druck. Die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Leistungen sei im wissenschaftlichen Diskurs auszutragen.118 114 Im Ergebnis ebenso Schemmer / Kempen (Fn. 101), Art. 5 Rn. 181: Einschränkungen, die sich aus dem Ausbildungszweck der Universität oder Rechten Dritter ergeben, sind nicht per se ausgeschlossen. 115 Dazu näher Bethge, Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen nach Art. 19 Abs. 3 Grundgesetz, 1985, S. 80 ff. Zur Wissenschaftsfreiheit als „Grundrecht der deutschen Universität“ Köttgen, Das Grundrecht der deutschen Universität, 1959. 116 BVerwGE 102, 304 (309). Zur Relevanz von Art. 5 Abs. 3 GG für die Rechtsstellung der Hochschulmitglieder eingehend Fink, WissR 27 (1994), 133 ff. 117 BVerwGE 102, 304 (308 f.).
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(2) Die Konsequenzen für die Bewertung der Lehre Diese Überlegungen lassen sich auf die Lehre übertragen. Die angewandte Lehrmethode ist die Arbeitsweise im Bereich der Lehre. Die Entscheidung für eine bestimmte Form der Darstellung steht der Frage nach dem richtigen methodischen Vorgehen in der Forschung an Bedeutung nicht nach. Wenn die amtliche Bewertung der Arbeitsweise im Bereich der Forschung unzulässig ist, kann für die Lehre nichts anderes gelten.119 Dass die Hochschullehre notwendigerweise detaillierteren Vorgaben genügen muss als die Forschung, steht dieser prinzipiellen Parallele nicht entgegen.120 Natürlich lassen sich Überlegungen zur Freiheit der Forschung auf die Freiheit der Lehre nur mutatis mutandis übertragen. Bei Beachtung dieser Voraussetzung aber ist die Übertragung ohne weiteres möglich: Entscheidet sich ein Hochschullehrer zur Durchführung einer Übung ohne Möglichkeit zum Erwerb eines Leistungsnachweises oder steht er in einer Vorlesung ausschließlich schweigend am Pult, so wird er regelmäßig den Boden der Wissenschaftlichkeit verlassen. Zudem gefährdet er das seinerseits grundrechtlich umhegte Studium der Teilnehmer. Das berechtigt die Fakultät zu Kritik und ggf. zum Schutz der Studenten. Die Qualität des Vortrags, die Aktualität der Themen oder der didaktische Wert von Beispielen hingegen sind offizieller Bewertung der Fakultät notwendigerweise entzogen. Als wissenschaftsadäquates Regulativ, das dem wissenschaftlichen Diskurs im Bereich der Forschung entspricht, steht den Studenten (im Rahmen der organisatorischen Möglichkeiten ihrer Hochschule) der Besuch anderer Veranstaltungen offen;121 didaktisch kompetenteren Dozenten steht es theoretisch frei, thematisch parallele Veranstaltungen anzubieten. (3) Die Bedeutung der Vorgaben des HRG Gegen den Willen des einzelnen Dozenten darf seine Lehre also nur auf die Einhaltung der skizzierten äußersten Grenzen kontrolliert werden. Eine weitergehende Qualitätsbewertung hingegen ist bzw. wäre unzulässig. Diesem Gedanken trägt § 4 Abs. 3 HRG Rechnung, der die inhaltliche und methodische Gestaltung von Lehrveranstaltungen bislang122 deklaratorisch der Freiheit der Lehre zuordnet und der Organentscheidungen in Fragen der Lehre auf die Festlegung organisatorischer Rahmenbedingungen beschränkt. Die Vorschrift bestätigt die Richtigkeit eines vom Wortlaut des § 6 HRG („Die Arbeit der Hochschulen . . . soll regelmäßig beBVerwGE 102, 304 (310 ff.). Ebenso Krüger (Fn. 95), S. 321: Evaluation kann sich nur auf die Erfüllung der äußeren Lehrverpflichtung erstrecken. 120 So aber Bauer, BayVBl. 1999, 460. 121 Zur freien Wahl des Hochschullehrers als Teil des Grundrechts auf Lernfreiheit BVerwG NJW 1999, 1728 f. 122 Zur intendierten Aufhebung des HRG oben I. mit Fn. 11. 118 119
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wertet werden.“) bereits nahegelegten Normverständnisses:123 Objekt einer Qualitätsbewertung kann nur die Arbeit der Hochschule oder Fakultät als solche sein.124 Auf einzelne Veranstaltungen oder Dozenten darf hingegen nicht abgestellt werden. Hochschullehrer sind durch Art. 5 Abs. 3 GG nicht nur weisungsfrei, sondern auch beurteilungsfrei gestellt.125 Ihre Bewertung kann lediglich ein – notwendiger – vorbereitender Schritt zur Gesamtevaluation des Fachbereiches bzw. der Hochschule sein. In diesem Sinne sind namentlich diejenigen Vorschriften der Landeshochschulgesetze zu interpretieren, die vorsehen, dass Studenten durch die Bewertung individueller Lehrveranstaltungen an der Bewertung der Lehre mitwirken.126 In der Bewertung der einzelnen Veranstaltungen mehr zu sehen als einen bloßen Vorbereitungsakt, wäre nicht nur grundrechtlich fragwürdig. Jedenfalls soweit, wie die betreffenden Vorschriften vor der Föderalismusreform 2006 erlassen wurden, so dass sie nicht auf die nunmehr bestehende Befugnis der Länder zur Ersetzung des fortgeltenden Bundesrechts nach Art. 125 a Abs. 1 S. 2 GG gestützt werden können, würden sie in diesem Fall mit Blick auf § 6 HRG zusätzlich kompetenzrechtlichen Bedenken begegnen. cc) Zur Relevanz von Sanktionen In der Konsequenz der zuvor skizzierten Konzeption liegt es, dass die Sanktionierung negativer Evaluationsergebnisse des einzelnen Dozenten die Rechtswidrigkeit nicht begründet, sondern lediglich intensiviert.127 Die Gegenauffassung, die die Qualitätsbewertung einzelner Dozenten noch für zulässig hält und die erst die staatlich verantwortete Mittelkürzung auf Grund negativer Ergebnisse als Verletzung der Wissenschaftsfreiheit ansieht,128 bemisst den Schutz des Grundrechts zu eng. Art. 5 Abs. 3 GG schützt nicht erst vor Mittelkürzungen oder vergleichbaren Konsequenzen einer negativen Bewertung, sondern schon vor administrativen Negativurteilen als solchen. 123 Vorsichtig in diese Richtung auch Fehling (Fn. 96), Art. 5 Abs. 3 Rn. 154 Fn. 431: § 6 HRG meine nicht zwingend die Bewertung einer konkreten Veranstaltung eines individuellen Hochschullehrers. 124 Wie hier Reich, Hochschulrahmengesetz, 10. Aufl. 2007, § 6 Rn. 1: Bewertung der Lehre des einzelnen Hochschulmitglieds in der Regel nicht erlaubt. Dagegen aber Seidler (Fn. 9), § 6 Rn. 16. 125 Krüger (Fn. 95), S. 321, der auch auf die (regelbestätigende) Ausnahme des Berufungsverfahrens hinweist. 126 § 5 Abs. 3 S. 1 SrlUG; § 8 Abs. 3 ThürHG. 127 Anders Seidler, in: Hartmer / Detmer, Hochschulrecht, 2004, Kapitel X Rn. 81: Rechtliche Grenze liegt erst da, wo einem Wissenschaftler auf Grund negativer Leistungsbewertung die Grundausstattung entzogen wird. Dabei fordert Seidler freilich die Beurteilung gerade durch andere Wissenschaftler. 128 Seidler (Fn. 9), § 6 Rn. 31, der im Übrigen sogar eine Mittelkürzung für zulässig hält, sofern sie hochschulintern erfolgt und an strenge Voraussetzungen geknüpft ist (Rn. 34).
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Zulässig sind allenfalls positive Anreize für einzelne besonders gut evaluierte Dozenten.129 Völlig frei von Bedenken sind freilich auch sie nicht, weil sie letztlich ebenfalls eine amtliche Bewertung wissenschaftlicher Tätigkeit voraussetzen. Zumindest dürfen Belohnungen wie z. B. Preisgelder nicht dazu dienen, das Verbot der Mittelkürzung wegen negativer Evaluationsergebnisse zu umgehen: Die Auszeichnung aller Hochschullehrer eines Fachbereichs mit Ausnahme des am schlechtesten bewerteten wäre unzulässig. Daraus aber erhellt zugleich, dass die Unterscheidung zwischen Mittelkürzungen einerseits und finanziellen Anreizen andererseits nicht immer gelingen muss; sie kann auch rein terminologischer Natur sein. Insofern ließe sich die Unzulässigkeit monetärer Einbußen eben doch als Argument für die Rechtswidrigkeit auch pekuniärer Anreize heranziehen. Die Berücksichtigungsfähigkeit leistungsbezogener Parameter bei der Mittelverteilung wird damit keinesfalls dem Grunde nach in Frage gestellt. Zu fordern ist freilich, dass insofern allein quantitative Kriterien herangezogen werden. Zusätzliche Mittel dürfen entstehendem Mehraufwand Rechnung tragen, der etwa bei einer größeren Hörerzahl durch die Menge zusätzlich zu bewältigender Korrekturen entsteht.130 Nicht vollständig zu überzeugen vermag danach die Argumentation des BVerfG, das die an die Evaluation u. a. der Lehre anknüpfende leistungsbezogene Mittelvergabe in Brandenburg trotz fehlender Bewertungsmaßstäbe im Gesetz unbeanstandet gelassen hat. Die Gefahr der Orientierung an wissenschaftsfremden Maßstäben sei durch die ausreichende Präsenz von Wissenschaftlern in den beteiligten Organen gebannt; genauere Vorgaben könnten vom Gesetzgeber jedenfalls aktuell noch nicht verlangt werden. Lediglich ein die wissenschaftliche Betätigung gerade noch ermöglichendes Mindestmaß an Ausstattung sei verfassungsrechtlich geboten.131 Bedenkt man freilich, dass die mitentscheidenden Wissenschaftler tendenziell selbst mit ihren zu bewertenden Kollegen um die Verteilung der Mittel konkurrieren, lässt sich das Risiko wissenschaftsinadäquater Entscheidungen durchaus höher gewichten. Erst recht besteht dieses Risiko im Übrigen dann, wenn den Hochschullehrern in Entscheidungsgremien, die sich mit der Bewertung der Lehre befassen, nicht einmal die Hälfte der Stimmen gesichert ist. Eben dies ist die Folge der seit 1998 geltenden Fassung des § 37 Abs. 1 S. 4 HRG. Die von Herbert Bethge aufgeworfene Frage nach der Verfassungswidrigkeit der Vorschrift132 ist richtigerweise zu bejahen.133
So auch Seidler (Fn. 9), § 6 Rn. 31. S. dazu auch Seidler (Fn. 9), § 6 Rn. 33. 131 BVerfGE 111, 333 (358 ff.). 132 Bethge, in: Achterberg / Püttner / Würtenberger, Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. I, 2. Aufl. 2000, § 13 Rn. 179. 133 A.A. Herberger (Fn. 12), Rn. 624 mit Fn. 342; ebenso – freilich ohne Bezugnahme auf § 37 HRG – Fehling, Die Verwaltung 35 (2002), 413 f. 129 130
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b) Die Einbeziehung studentischer Bewertungen Zusätzliche Probleme entstehen durch die Einbeziehung von Studenten in die Evaluation der Lehre. Abgesehen von potentiellen Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch den konkreten Inhalt derartiger Evaluationen erhöht der Rückgriff auf studentische Voten schon dem Grunde nach die Gefahr wissenschaftsinadäquater und damit der Wissenschaftsfreiheit zuwiderlaufender Bewertungen. aa) Die Beurteilungskompetenz als Grenze zulässiger Evaluation Zwar hat schon das BVerfG darauf hingewiesen, auf dem Gebiet der Lehre könnten sachgerechte Entscheidungen vielfach nur getroffen werden, wenn Erfahrungen von Lehrenden und Lernenden berücksichtigt würden.134 Dabei ist jedoch der eingeschränkten Beurteilungskompetenz der Studenten Rechnung zu tragen: Sie dürfen nur zu Dingen befragt werden, die sie tatsächlich zu bewerten vermögen: Im Gegensatz zur Frage nach der Verständlichkeit der Darstellung und dem Eindruck von der Vorbereitung des Dozenten wäre die Frage nach der Vertretbarkeit der dargebotenen Lehrmeinungen nicht mehr wissenschaftsadäquat und damit unzulässig. bb) Die Verwendung der Bewertungen durch die Teilnehmer Selbst die Antworten auf die danach zulässigen Fragen aber dürfen nicht in beliebigem Umfang verwertet werden. Wenn es Organen der Hochschule versagt ist, die Lehrqualität inhaltlich zu bewerten, dürfen sie dieses Verbot nicht umgehen, indem sie sich studentische Bewertungen zu eigen machen und ihnen durch eine Ausflaggung als Bericht zur Situation der Lehre quasi-amtlichen Charakter verleihen. Soweit die Landeshochschulgesetze lediglich eine Beteiligung der Studenten fordern,135 ist das ernst zu nehmen. Die Bewertung der einzelnen Veranstaltung darf dem evaluierten Professor zur Verfügung gestellt werden. Es steht ihm frei, ob er sie zur Kenntnis nimmt oder nicht. Im Übrigen kann sie z. B. der Studiendekan als Informationsquelle für den von ihm zu erstellenden Bericht über die Lehrsituation an der Gesamtfakultät heranziehen. cc) Insbesondere: Keine Publikation der Befragungsergebnisse Das hat Konsequenzen: Gegenstand der vom HRG sowie von etlichen Landeshochschulgesetzen vorgesehenen Veröffentlichung darf ebenfalls nur der zusamBVerfGE 35, 79 (131). So z. B. in § 5 Abs. 1 S. 3 LHG BW; § 25 Abs. 2 S. 2 BbgHG; § 5 S. 2 RhPfHG; § 33 S. 2 LHG MV; § 5 Abs. 1 S. 2 Nds. HG; § 3 Abs. 2 S. 2 HambHG. 134 135
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menfassende Bericht sein, nicht aber die Bewertung einzelner Veranstaltungen. Weder ein dem Dozenten eingeräumtes Recht zur Stellungnahme noch eine Beschränkung der Zugänglichkeit auf die Fachbereichs- bzw. Hochschulöffentlichkeit – beides sieht z. B. die bayerische Regelung vor – vermögen die Bedenken auszuräumen, die gegenüber der Offenlegung für Dritte bestehen. Insofern kann einmal mehr auf die angesprochene Entscheidung des BVerwG verwiesen werden. Ihr zufolge sollte ein hochschulinternes Kontrollverfahren, so es denn überhaupt zulässig ist, so ausgestaltet sein, dass nicht schon ungesicherte Vorwürfe gravierender Art die Öffentlichkeit erreichen.136 Nichts anderes aber würde die Publikation studentischer Einzelvoten bewirken. dd) Die Unzulässigkeit vollständig anonymer Evaluation Wissenschaftsinadäquat und damit grundrechtswidrig ist schließlich eine vollständig anonyme Evaluation.137 Ohne zu verkennen, dass die überwältigende Mehrheit der Studenten angemessen bewertet, darf doch nicht übersehen werden, dass das nicht immer der Fall sein muss. Missbrauchsgefahren bestehen namentlich dann, wenn freie Formulierungen möglich sind und wenn diese von Dritten eingesehen werden können. Man stelle sich nur vor, mehrere Studenten, die sich für eine vermeintlich zu schlecht benotete Klausur rächen möchten, berichten in ihren freien Bemerkungen übereinstimmend und wahrheitswidrig, der Professor erzähle in der Vorlesung regelmäßig ausländerfeindliche, sexistische oder antisemitische Witze.138 Spätestens im Wiederholungsfall wird das seine Wirkung nicht verfehlen. Eine anonyme Evaluation setzt den Betroffenen also der Gefahr aus, sachwidrig angegriffen zu werden. Gleichzeitig schneidet sie ihm sogar den ultima-ratioSchutz des Strafrechts ab. Dass damit eine wissenschaftsinadäquate Lage geschaffen wird, liegt einerseits auf der Hand.139 Andererseits hat der sachlich kritisierende Student ein anerkennenswertes Interesse am Schutz seiner Anonymität. Wie sich dieses Problem angemessen lösen lässt, demonstriert der baden-württembergische Gesetzgeber. § 5 Abs. 2 S. 3 LHG BW lässt die Befragung von Studenten nur in der Form zu, dass deren Antworten nicht oder nur mit einem unverhältnismäßig großen Aufwand bestimmten oder bestimmbaren Befragten zugeordnet werden können. Die Vorschrift ist verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass eine Zuordnung im Normalfall ausgeschlossen erscheint, dass sie jedoch für den Fall strafbarer Äußerungen möglich bleiben muss.
BVerwGE 102, 304 (315). Explizit vorgesehen ist sie in § 7 S. 2 HG SA. 138 Zu falschen Tatsachenbehauptungen auch Hufen (Fn. 90), S. 21 f. 139 A.A. Fehling (Fn. 96), Art. 5 Abs. 3 Rn. 169, der eine strikte Anonymität für verfassungsgemäß hält. Ebenso offenbar Bauer, BayVBl. 1999, 461. 136 137
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IV. Fazit Abschließend mag man sich fragen: Führt die restriktive Haltung gegenüber hochschulinternen Evaluationen nicht dazu, dass die Professoren machen können, was sie wollen, und das auf Kosten des Steuerzahlers? Auf diese Frage hat der frühere sächsische Datenschutzbeauftragte Giesen geantwortet „Ja, so ist es. Die Verfassung will es so und sie hat damit großen Erfolg: Um das Niveau der Universitäten werden wir von denen beneidet, die ihren Lehrbetrieb staatlich verordnen, die Lehrveranstaltungen überwachen und die Gelder nur für Konformisten bereitstellen.“140 So weit muss man freilich nicht einmal gehen. „meinprof.de“ belegt exemplarisch, dass es durchaus Kontrollmöglichkeiten gibt. Der Bewertung durch die Öffentlichkeit stehen keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken entgegen. Eventuelle datenschutzrechtliche Hindernisse – insbesondere: § 29 Abs. 2 BDSG – vermag der einfache Gesetzgeber auszuräumen. Dieser Vorrang der privaten vor der staatlichen Kontrolle ist allenfalls auf den ersten Blick erstaunlich. In Wahrheit trägt er der spezifischen Qualität des akademischen Unterrichts Rechnung. Wissenschaftliche Lehre ist zwar Erfüllung staatlicher Aufgaben, aber eben durch Gebrauch grundrechtlicher Freiheit. Über guten oder schlechten Freiheitsgebrauch aber kann nur die Gesellschaft entscheiden. Das muss der Staat hinnehmen – und der einzelne Hochschullehrer aushalten.
140 3. Tätigkeitsbericht des Sächsischen Datenschutzbeauftragten („Schutz des Persönlichkeitsrechts im öffentlichen Bereich“), SächsLT-Drucks. 2 / 930, S. 30.
Finanzielle Zwangspatenschaft privat Pflegeversicherter für gesetzlich Pflegeversicherte? Zur Zulässigkeit eines Finanzausgleichs zwischen privater und gesetzlicher Pflegeversicherung Von Otto Depenheuer
I. Das Projekt eines systemübergreifenden Finanzausgleichs Das Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung ist vielen rechtspolitisch ein Dorn im Auge. Eine alle Bürger umfassende „Bürgerversicherung“ wird als Alternative propagiert, ist aber derzeit als grundsätzlicher Paradigmenwechsel politisch nicht durchsetzbar. Um so mehr zielen politische Initiativen darauf ab, durch Einzelmaßnahmen die Existenz der privaten Krankenversicherungsunternehmen zu schwächen: durch stetige Erhöhungen der Versicherungspflichtgrenze,1 durch Ermöglichung von Wahltarifen für die gesetzlichen Versicherungen,2 durch Zugriff auf die Alterungsrückstellungen der privaten Krankenversicherungsunternehmen.3 Ganz oben auf der rechtspolitischen Agenda steht derzeit die Etablierung eines Finanzausgleichs zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung. Schon der Koalitionsvertrag4 zielte in diese Richtung, wenn er – gleichsam als Probebohrung – einen Finanzausgleich zwischen gesetzlicher und privater Pflegeversicherung vorsah: „Im Gegensatz zur Krankenversicherung haben gesetzliche und private Pflegeversicherung einen einheitlichen Leistungsumfang. Die Kalkulationsgrundlagen für die Beiträge der Versicherten und die Risikostrukturen sind jedoch unterschiedlich. Beide Versicherungssysteme sollen auch in Zukunft die Pflegeversicherung anbieten. Zum Ausgleich der unterschiedlichen Risikostrukturen wird ein Finanzausgleich zwischen gesetzlicher und privater Pflegeversicherung eingeführt. Der Kapitalstock wird dafür nicht angegriffen.“ Das zwischenzeitliche politische Scheitern des geplanten Finanzausgleichs in der 1 Vgl. Bethge, Die gesetzliche Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze in der Gesetzlichen Krankenversicherung als möglicher Verstoß gegen die Grundrechte privater Krankenversicherungsunternehmen (mit von Coelln), VSSR 2004, 199 ff. 2 Vgl. dazu Isensee, NZS 2007, 449 ff. 3 Vgl. dazu Depenheuer, Festschrift Scholz, 2007, S. 205 ff. 4 Vom 11. 11. 2005 unter der Gliederungsziffer B IV. 8.1 („Sicherung einer nachhaltigen und gerechten Finanzierung“).
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Pflegeversicherung hat das Problem nur vertagt. Die verfassungsrechtliche Herausforderung indes bleibt, ob ein Finanzausgleich zwischen gesetzlicher und privater Pflegeversicherung verfassungsrechtlich überhaupt zulässig ist. Ausgangspunkt nachfolgender Überlegungen bildet die gesetzliche Ausgestaltung der Versicherung gegen das Risiko des Pflegefalls und seine Finanzierung (II.). Vor diesem Hintergrund erweist sich ein systemübergreifender Finanzausgleich verfassungsrechtlich als Problem einer rechtfertigungsbedürftigen Sonderabgabe (III.). Vor dem Hintergrund einer insoweit gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (IV.) läßt sich eine Sonderabgabe zugunsten der gesetzlichen Krankenversicherungen bzw. der dort gesetzlich Versicherten durch private Versicherungsunternehmen oder Privatversicherte nicht rechtfertigen (V.). Vielmehr bedeutet die Etablierung eines Finanzausgleichs zwischen gesetzlicher und privater Pflegeversicherung die Einführung einer Bürgerversicherung für das Pflegerisiko „durch die Hintertür“. Die gegenwärtige duale Struktur der Pflegeversicherung aber sperrt sich gegen einen systemübergreifenden Finanzausgleich prinzipiell. II. Organisation und Finanzierung der Pflegeversicherung 1. Pflichtversicherung Die „Soziale Pflegeversicherung“5 ist als eine im Grundsatz alle Bürger erfassende Volksversicherung konzipiert.6 Die Versicherungspflicht besteht unabhängig von der Organisationsform des Versicherungsträgers sowohl für gesetzlich wie für privat Versicherte.7 Nach dem Grundsatz „Pflegeversicherung folgt Krankenversicherung“ sind die gesetzlich Krankenversicherten bei einer gesetzlichen Pflegekasse, die privat Krankenversicherten bei einem privaten Pflegeversicherungsunternehmen versichert. Für die privaten Versicherungsinstitute besteht ein Kontrahierungszwang, ohne daß sie eine Risikoselektion vornehmen dürfen.8 Anders als in den Risikobereichen Krankheits-, Alters- und Unfallschutz muß der privat Versicherte gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit eine Versicherung abschließen. Auf der Leistungsebene muß die private Pflegeversicherung nach § 23 Abs. 1 S. 2 SGB XI Leistungen vorsehen, die nach Art und Umfang denen der öffentlichrechtlichen Pflegekassen gleichwertig sind. Allerdings ist die Pflegeversicherung vom Leistungsumfang her nicht als Vollversicherung konzipiert,9 so daß höherwer5 Sozialgesetzbuch, Elftes Buch vom 26. 5. 1994, BGBl. I 1994, S. 1014; Zum folgenden vgl. Isensee, Festschrift Gitter, 1995, S. 401 ff.; Möller, ZFSH / SGB 2006, 464 ff. 6 BVerfGE 103, 197 (Leitsatz 2) (221). Rechtstechnische Umsetzung: §§ 20-27 SGB XI. Vgl. Isensee (Fn. 5), S. 402 f. 7 § 23 Abs. 1 S. 1 SGB XI. 8 § 110 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI. 9 BVerfGE 103, 242 (244) m. w. N.
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tige Leistungen durch private Zusatzversicherung auf freiwilliger Basis erbracht werden könnten. 2. Finanzierung a) Gesetzliche Pflegeversicherung Die Finanzierung der gesetzlichen Pflegeversicherung erfolgt gemäß § 54 Abs. 1 SGB XI durch bundeseinheitlich festgesetzte Beiträge, die jeweils zur Hälfte von den Versicherten sowie deren Arbeitgebern zu tragen sind.10 Die Beiträge sind unabhängig vom versicherten Risiko und bewirken dadurch einen sozialen Ausgleich unter den Versicherten.11 Die gesetzliche Pflegeversicherung ist nach dem Umlageverfahren konzipiert, so daß die aktuellen Leistungsausgaben und sonstigen Ausgaben unmittelbar aus dem Beitragaufkommen gezahlt werden. Die jeweiligen Beitragszahler tragen die finanzielle Last der jeweiligen Leistungsberechtigten.12 Zudem besteht ein Finanzausgleich zwischen den gesetzlichen Pflegekassen,13 dessen Kernstück ein Ausgleichsfonds nach § 65 SGB XI ist.14 b) Private Pflegeversicherung In der privaten Pflegeversicherung werden die Beiträge grundsätzlich ebenso kalkuliert wie in jeder anderen privaten Versicherung. Es herrscht das Prinzip der Risikoäquivalenz, d. h. je höher das jeweils zu versichernde Risiko ist, desto höher ist der Beitrag des Versicherungsnehmers. Weiterhin wird aus den Beiträgen der Versicherten ein Kapitalstock gebildet, der gemeinsam mit den daraus fließenden Erträgen für die Leistungen zur Verfügung steht. Kernelemente der privatwirtschaftlichen Versicherungsfinanzierung sind das Prinzip des Anwartschaftsdeckungsverfahrens sowie die Altersrückstellungen für jeden Versicherten.15 Allerdings bestehen gesetzliche Besonderheiten, die die private Pflegeversicherung der gesetzlichen angleichen: ein Kontrahierungszwang, das Verbot einer 10 § 55 Abs. 1 SGB XI, § 58 Abs. 1 S. 1 SGB XI. – Kinderlose nach Vollendung des 23. Lebensjahres zahlen einen Beitragszuschlag von 0,25 Beitragssatzpunkten (§ 55 Abs. 3 SGB XI). 11 Ebsen, Jura 2002, 401. 12 Als weiteres Element des sozialen Ausgleichs sieht die Pflegeversicherung nach § 56 SGB XI eine Beitragsfreiheit in den dort genannten Sachverhalten vor. 13 §§ 65-68 SGB XI. Vgl. dazu Peter, in: Kasseler Kommentar, 48. Ergänzungslieferung, 2005, § 66 SGB XI Rn. 2. – Zu den systeminternen Ausgleichssystemen sowohl in der gesetzlichen Krankenversicherung als auch in der gesetzlichen Rentenversicherung vgl. Engelhard, in: Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 4, Pflegeversicherung, 1996, § 29 Rn. 3-6. 14 Vgl. Engelhard (Fn. 13), § 29 Rn. 13 ff. Zu dessen verfassungsrechtlicher Zulässigkeit vgl. ebda § 25 Rn. 83-87 m. w. N. 15 BVerfGE 103, 271 (292).
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Risikoselektion (Versicherungspflicht auch bei Vorliegen einer Pflegebedürftigkeit), die Begrenzung der Beiträge auf den Höchstbetrag der gesetzlichen Pflegeversicherung.16 Diese Modifikationen machen es Versicherungsunternehmen unmöglich, risikogerechte Beiträge zu kalkulieren.17 Ferner weisen die Unternehmen eine verschiedenartige Struktur der Versichertenbestände auf: Langjährig am Markt tätige Unternehmen haben einen tendentiell älteren Versichertenbestand als neu am Markt tätige Unternehmen. Da sich mit höherem Lebensalter das Risiko des Eintritts der Pflegebedürftigkeit erhöht, wären diese Altunternehmen ohne Einführung eines Finanzausgleichs finanziell benachteiligt. Zudem kann der Kontrahierungszwang auch in bezug auf Versicherte mit sog. „schlechten Risiken“ zu unterschiedlichen Risikostrukturen führen, die zusammen mit den anderen Faktoren Unternehmen im Einzelfall finanziell überfordern könnten. Vor diesem Hintergrund müssen sämtliche Versicherungsunternehmen einem dauerhaften und wirksamen Ausgleichssystem beitreten.18 Die gemeinsame Kalkulationsgrundlage im Rahmen des Ausgleichssystems ermöglicht allen Versicherern eine einheitliche Prämienkalkulation.19 III. Verfassungsrechtliche Rahmendaten Anders als die schon im geltenden Recht angelegten Finanzausgleichssysteme soll das rechtspolitisch anvisierte Ausgleichssystem systemübergreifend angelegt sein: Zum Ausgleich unterschiedlicher Risikostrukturen soll die private Pflegeversicherung zu finanziellen Ausgleichsleistungen an die gesetzliche Pflegeversicherung verpflichtet werden.
1. Abgabepflicht für privat Pflegeversicherte Ein systemübergreifender Finanzausgleich könnte rechtlich entweder an die Versicherungsunternehmen oder aber an die Versicherten selbst anknüpfen, die eine wie auch immer bezeichnete zusätzliche „Solidarabgabe“ zu leisten hätten. In dieser Form würden die Versicherungsunternehmen nur die Organisation des Beitragseinzugs und der Abführung der Finanzmittel übernehmen. Wie immer man es aber organisationsrechtlich dreht und wendet: Letztlich sind und können es stets nur die 16 § 110 SGB XI Abs. 1-3, vgl. Ebsen, Jura 2002, 402. – Kritisch zu dieser Anpassung der Privatversicherung an die Sozialversicherung: Isensee (Fn. 5), S. 403 f. 17 BT-Drucks. 12 / 5952, S. 49 f.; Gürtner, in: Kasseler Kommentar, § 111 SGB XI Rn. 3. 18 § 111 Abs. 1 SGB XI. 19 Vgl. Möller, ZFSH / SGB, 467 f. m. w. N. – In Erfüllung der Verpflichtung zur Schaffung eines Risikoausgleichssystems haben die Versicherungsunternehmen eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts gebildet.
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einzelnen privat Versicherten sein, die die Lasten des Ausgleichssystems finanziell zu tragen haben. Genau das ist auch politisch gewollt: Die politischen Begründungen für einen systemübergreifenden Finanzausgleich verweisen auf die bessere Risikostruktur und der daraus angeblich folgenden Privilegierung der privat Versicherten. Es handelt sich dann um eine – unmittelbare oder mittelbare – Belastung der privat Pflegeversicherten mit einer „Solidarabgabe“ zum Vorteil der gesetzlich Pflegeversicherten.20 2. Verfassungsrechtlicher Rechtfertigungsbedarf a) Eigentumseingriff durch Abgabenbelastung Die Auferlegung einer zusätzlichen finanziellen Bürde für die privat Pflegeversicherten stellt sich als rechtfertigungsbedürftiger Grundrechtseingriff dar. Insbesondere die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG schützt den Bürger gegen ungerechtfertigte Abgabenlasten.21 Allerdings ist die Solidarabgabe eine unmittelbare Folge der Mitgliedschaft in einer Pflichtversicherung. Ist diese gerechtfertigt, dann ist es im Prinzip auch die daraus rechtmäßig folgende Abgabenbelastung. b) Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 GG Der gesetzliche Oktroi einer Pflichtversicherung gegen das Risiko der Pflege ist in erster Linie an der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG zu messen. Am Maßstab dieses Grundrechts hat das Bundesverfassungsgericht diesen Eingriff als gerechtfertigt angesehen.22 Privat Krankenversicherte können selbst dann verpflichtet werden, bei einem privaten Versicherungsunternehmen eine Pflegepflichtversicherung abzuschließen, wenn eine Mitgliedschaft in einer gesetzlichen Pflegekasse hinsichtlich der Beiträge günstiger wäre. Der Grundsatz, daß die Pflegeversicherung der Krankenversicherung folgt, trage diese Unterscheidung in sachgerechter Weise.23 Auch die zum Zwecke des sozialen Ausgleichs in die 20 Im übrigen bleibt das verfassungsrechtliche Problem in seiner Kernstruktur unberührt von der konkreten organisatorischen Ausgestaltung des Ausgleichssystems. Ob die Solidarabgabe alle oder nur die privaten Krankenversicherungsunternehmen betrifft, ob sie nur die privat Pflegeversicherten oder potentiell auch die gesetzlich Pflegeversicherten trifft, die nach abstrakten Parametern Solidarabgaben zum Risikostrukturausgleich zu tragen hätten – stets muß es sich um Abgaben handeln, die nicht systemimmanent nur innerhalb der privaten bzw. innerhalb der gesetzlichen Pflegeversicherung, sondern systemübergreifend von der privaten zur gesetzlichen bzw. ggf. umgekehrt angelegt sind. Gerade in dieser, die duale Organisation der Pflegeversicherung unterlaufenden Wirkung der Solidarabgabe, liegt aber das verfassungsrechtliche Problem. 21 BVerfGE 87, 153 (169); 93, 121 (136); zu Einzelheiten m. w. N. Depenheuer, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 14 Rn. 160 ff. 22 BVerfGE 103, 197 (222 ff.). 23 BVerfGE, 103, 271 (273, 286 ff.).
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private Pflegepflichtversicherung eingefügten Elemente hat das Gericht als verhältnismäßigen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG angesehen.24 Darüber hinausgehend hat das Gericht den Staat sogar dazu verpflichtet, allen Bürgern eine Beitrittsmöglichkeit in die Pflegeversicherung zu schaffen.25 Ist demnach die pflichtige Mitgliedschaft in der privaten Pflegeversicherung verfassungskonform, so gilt dies grundsätzlich auch für daraus fließende finanzielle Abgabelasten. Allerdings müssen diese ihrerseits mit dem Gleichheitsgrundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar sein. c) Grundsatz der staatsbürgerlichen Lastengleichheit, Art. 3 Abs. 1 GG Im Kern geht es denn auch bei dem in Aussicht genommenen systemübergreifenden Finanzausgleich um ein Gleichheitsproblem. Nur privat Pflegeversicherte werden mit einer Solidarabgabe belastet; nur gesetzlich Pflegeversicherte werden begünstigt. Die Solidarabgabe stellt sich dar als eine fremdnützige Abgabe. Insoweit stellt sich das Gleichheitsproblem in seiner elementarsten Form: Wird durch eine derartige fremdnützige Abgabe der Grundsatz der staatsbürgerlichen Lastengleichheit in verfassungswidriger Weise durchbrochen? Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG hat in und durch die grundgesetzliche Finanzverfassung eine deutliche, seine normative Wirkung konkretisierende bereichsspezifische Sonderdogmatik ausgebildet. Im finanzverfassungsrechtlichen Abgabenrecht verdichten sich die materiellrechtlichen Anforderungen an eine gleichheitsgerechte Abgabenbelastung des Bürgers. 3. Einordnung der Solidarabgabe im System des Abgabenrechts Das Verfassungsrecht des staatlichen Finanzwesens ist in seinen Grundzügen und Grundsätzen von bemerkenswerter Klarheit und Stringenz. Neben der Steuer als dem Regelinstrument staatlicher Einnahmenerzielung stehen Gebühren, Beiträge und Sozialversicherungsbeiträge.26 Die projektierte Abgabenbelastung der privat Pflegeversicherten mit einer Solidarabgabe paßt indes unter keinen der regulären Abgabentypen, so daß allein die Auffangkategorie der Sonderabgabe mit ihren allerdings sehr spezifischen und hohen Rechtfertigungslasten in Betracht kommt. BVerfGE, 103, 197 (221 ff.). BVerfGE, 103, 225 (238). Das Gericht sah in der Tatsache, daß trotz der Konzeption der sozialen Pflegeversicherung als Volksversicherung etwa 2 v. H. der Bevölkerung nicht in diese Versicherung einbezogen waren, einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG, weil für diese keine Beitrittsmöglichkeit vorgesehen war. Diesem Monitum hat der Gesetzgeber mit Einfügung des § 26a SGB XI (Gesetz vom 14. 12. 2001 [BGBl. I, S. 3728]) Rechnung getragen. 26 Überblick: Kirchhof, in: Isensee / ders., HStR, Bd. IV, 1990, § 88; Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973; ders., in: Schriftenreihe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht 4, 1980, S. 462 ff. 24 25
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a) Weder Gebühr noch Beitrag Eine Solidarabgabe der privat Pflegeversicherten zugunsten der gesetzlich Pflegeversicherten ist weder Gebühr noch Beitrag, weder korporativer noch Sozialversicherungsbeitrag. Gebühren und Beiträge sind Vorzugslasten und durch einen staatlichen Aufwand bedingt.27 Die Gebühr schöpft den Vorteil einer individualdienlichen staatlichen Leistung ab; der Beitrag fordert eine individuelle Mitfinanzierung einer öffentlichen Einrichtung, die auch dem Beitragsschuldner zur individuellen Benutzung zur Verfügung steht. Die ausschließlich fremdnützige Solidarabgabe der privat Pflegeversicherten entgilt indes keinerlei staatliche Gegenleistung. Die Qualifikation als korporativer Beitrag28 scheidet schon wegen der korporationsfremden Zweckverwendung der Solidarabgabe aus. Schließlich läßt sich die geplante Solidarabgabe der privat Pflegeversicherten auch nicht als Sozialversicherungsbeitrag qualifizieren. Diesem ist zwar eine umverteilungswirksame Komponente eigen, weil er nach Leistungsfähigkeit des Beitragspflichtigen erhoben wird, der aber nur nach Bedarf selber Gegenleistungen erhält. Die daraus folgenden Umverteilungsströme innerhalb der Sozialversicherung von den Singles zu den Familien, den Jungen zu den Alten, den Einkommensstärkeren zu den Einkommensschwächeren ist unmittelbarer Ausfluß und charakteristisches Merkmal des Sozialversicherungsbeitrages. Als Sozialversicherungsbeitrag kann die hier zu untersuchende Solidarabgabe aber schon deswegen nicht gerechtfertigt werden, weil sie ihre Grundlage nicht in einem Sozialversicherungsverhältnis findet, sondern in einem privaten Pflegeversicherungsverhältnis; nur das Beitragsaufkommen soll für die soziale Pflegeversicherung wirksam werden. Zudem ist die Solidarabgabe der privat Pflegeversicherten nicht einmal in Ansätzen eigennützig, sondern ausschließlich fremdnützig.29 Die gesetzliche Angleichung der privaten Pflegeversicherung an die gesetzliche vermag an diesem Befund nichts zu ändern: Zwar hat die Privatversicherung im Bereich des Pflegerisikos Privatautonomie eingebüßt, doch hat der Gesetzgeber den Dualismus von Privat- und Sozialversicherung im Grundsatz fortgeschrieben. Damit bleibt die private Pflegeversicherung trotz aller Irregularitäten Privatversicherung. Das schließt eine Qualifikation der Beiträge als Sozialversicherungsbeiträge aus. b) Keine Steuer Aber auch als Steuer läßt sich die Solidarabgabe nicht rechtfertigen. Die Steuer ist das Regelinstrument der staatlichen Einnahmeerzielung, an der sich der Idee nach alle Bürger beteiligen müssen. Sie ist damit als Gemeinlast zugleich primärer Ausdruck und praktische Realisierung staatsbürgerlicher Solidarität und Belastungsgleichheit. Schon deswegen kann die Solidarabgabe, die nur die privat 27 28 29
Vgl. näher Kirchhof (Fn. 26), Rn. 181 ff. Näher Kirchhof (Fn. 26), Rn. 217. Im Ergebnis ebenso Giesen, NZS 2006, 453.
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Pflegeversicherten belastet, nicht als Steuer qualifiziert werden. In der Form einer Versicherungssteuer verstieße sie in evidenter Weise gegen den Grundsatz der Lastengleichheit: Nur die privat Pflegeversicherten würden belastet, nur die gesetzlich Pflegeversicherten begünstigt. Daß diese Umverteilung politisch gewollt ist, ist nur die Formulierung, nicht aber die Lösung des verfassungsrechtlichen Problems. Dieser doppelte Gleichheitsverstoß – bei der Abgabenerhebung und bei der Aufkommensverwendung – erscheint auch nicht überbrückbar. Der Staat, der nahezu alle Bürger zwingend einer – entweder gesetzlichen oder privaten – Pflegeversicherung zuweist, kann nicht an diesen gleichen Lebenssachverhalt unterschiedliche steuerliche Belastungen anknüpfen, d. h. die einen belasten und die anderen von Lasten freistellen. Die Unterscheidung zwischen privater und gesetzlicher Pflegeversicherung bietet schon deswegen keinen sachgerechten Ansatzpunkt für die Ungleichbehandlung, weil diese Zuweisung vom Steuerpflichtigen nicht wählbar war. Die Steuer darf aber nur an freiwillige Vermögensdisposition anknüpfen.30 Wird dem Bürger die Freiheit genommen, seiner Versicherungspflicht bei einem Versicherer seiner Wahl nachzukommen,31 bleibt als steuerlicher Anknüpfungstatbestand allein die Tatsache der Pflichtversicherung. Die Rechtsnatur des Versicherungszweigs ist demgegenüber für die Frage der Belastungsgleichheit der Bürger rechtlich irrelevant. Alle Pflichtversicherten sind in der Pflicht zur Versicherung ebenso wie in Art und Umfang des versicherten Risikos gleich. An diese allen Versicherten gemeinsame und gleiche Pflicht könnte der Staat steuerliche Belastungstatbestände anknüpfen. Eine Versicherungssteuer nur für die privat Pflegeversicherten in der Form einer nur sie treffenden Versicherungssteuer wäre hingegen eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung und verstieße gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Unabhängig davon scheitert die Qualifikation der Solidarabgabe der privat Pflegeversicherten als Steuer auch deshalb, weil und wenn deren Aufkommen den gesetzlichen Pflegeversicherungen zugewiesen werden sollte. Denn über Steuerhoheit verfügen nur die Gebietskörperschaften. Das Grundgesetz duldet daneben keine intermediären Steuergewalten. Den gesetzlichen Krankenversicherungen stehen als Körperschaften des öffentlichen Rechts daher weder das Recht der Steuererhebung noch eine Ertragshoheit zu. Sie finanzieren sich aus den Sozialversicherungsbeiträgen ihrer Mitglieder und ergänzend aus dem allgemeinen steuerfinanzierten Haushalt. Eine wie auch immer konzipierte Versicherungssteuer könnte also nicht unmittelbar der gesetzlichen Pflegeversicherung zugewiesen werden. Allenfalls wäre eine Zwecksteuer denkbar, deren Zweckbindung freilich auch keine Garantie auf Dauer böte; mit jedem Haushaltsgesetz könnte der Gesetzgeber die Zweckbindung für die Zukunft aufheben. Damit wird einmal mehr deutlich, daß eine Solidarabgabe der privat Pflegeversicherten – als Steuer qualifiziert – eine offensichtlich ungleiche Belastung am untauglichen Tatbestand darstellt und 30 31
Kirchhof (Fn. 26), Rn. 74. Zur verfassungsrechtlichen Legitimation vgl. BVerfGE 103, 271 (288 ff.).
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deshalb wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Belastungsgleichheit verfassungswidrig wäre.32
IV. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Sonderabgaben Die geplante finanzielle Zwangspatenschaft der privat Pflegeversicherten zugunsten der gesetzlich Pflegeversicherten führt zu Umverteilungswirkungen jenseits von Steuer und Sozialversicherungsbeiträgen. Da die Solidarabgabe der privat Pflegeversicherten weder als Vorzugs- noch als Gemeinlast gerechtfertigt werden kann, könnte sie allenfalls als Sonderabgabe verfassungsrechtlich legitimiert werden. Sonderabgaben sind eine Auffang- und Ausnahmekategorie im Ensemble staatlicher Abgaben, die vom Bundesverfassungsgericht unter besonderen Voraussetzungen grundsätzlich für zulässig gehalten werden, aber in jüngster Zeit immer konturierter und einschränkender konkretisiert wurden.33
1. Der Rechtfertigungsbedarf Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Sonderabgaben ist die verfassungsrechtliche Antwort auf die Frage, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen der Gesetzgeber Abgaben erheben darf, die nicht in die klassische Typologie von Steuer, Gebühr und Beitrag passen. Wären derartige Abgaben unbegrenzt zulässig, würde die bundesstaatliche Kompetenzverteilung im Bereich des Haushaltswesens umgangen: „Die grundgesetzliche Finanzverfassung verlöre ihren Sinn und ihre Funktion, wenn unter Rückgriff auf die Sachgesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern daneben beliebig Abgaben unter Umgehung der bundesstaatlichen Verteilung der Gesetzgebungs- und Ertragskompetenzen für das Steuerwesen erhoben werden könnten.“34 Auch „der Verfassungsgrundsatz der Vollständigkeit des Haushaltsplans (Art. 110 Abs. 1 GG) ist berührt, wenn der Gesetzgeber Einnahmen- und Ausgabenkreisläufe außerhalb des Budgets organisiert.“35 Ferner muß bei der Erhebung von Sonderabgaben in besonderer Weise sichergestellt bleiben, daß der Grundsatz der staatsbürgerlichen Lastengleichheit gewahrt bleibt: „Die Erhebung einer nichtsteuerlichen Abgabe muß der Belastungsgleichheit der Abgabepflichtigen Rechnung tragen. Der Schuldner einer nichtsteuerlichen Abgabe ist regelmäßig zugleich auch Steuerpflichtiger und wird schon als solcher zur Finanzierung der Lasten herangezogen, die die Gemeinschaft 32 Abweichend, dabei das Problem der steuerlichen Belastungsgleichheit aber souverän ignorierend Giesen, NZS 2006, 454 f. 33 Übersicht über die Rechtsprechung: Staudacher, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Sonderabgaben, 2004; ferner Kirchhof (Fn. 26), Rn. 223 ff. jeweils m. w. N. 34 BVerfGE 55, 274 (300); 91, 186 (202); 93, 319 (342). 35 BVerfGE 113, 128 (147).
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treffen. Neben dieser steuerlichen Inanspruchnahme bedürfen nichtsteuerliche Abgaben, die den Einzelnen zu einer weiteren Finanzleistung heranziehen, einer besonderen Rechtfertigung.“36 Typologisch lassen sich verschiedene Typen von Sonderabgaben abschichten:37 Finanzierungs- bzw. Förderabgaben,38 Lenkungs- bzw. Kompensationsabgaben39 sowie Abschöpfungsabgaben.40 Die Solidarabgabe der privat Pflegeversicherten soll weder Lenkungswirkungen entfalten noch staatlich vermittelte Vorteile abschöpfen, sondern allein der Mitfinanzierung der gesetzlichen Pflegeversicherung dienen. Sie ist damit Sonderabgabe in der Form einer Finanzierungsabgabe. 2. Rechtfertigungskriterien Auszugehen ist von dem finanzverfassungsrechtlichen Grundsatz, daß sich Sonderabgaben deutlich von der Steuer unterscheiden müssen. Die Steuer ist als Gemeinlast charakterisiert. Sonderabgaben werden demgegenüber nicht der Allgemeinheit, sondern einer bestimmten „Gruppe“ auferlegt.41 Während die Steuerpflicht an individuelle Gegebenheiten anknüpft und insoweit zwar nicht „voraussetzungslos“, wohl aber „gegenleistungsunabhängig“ begründet wird, knüpfen die Sonderabgaben an Gegebenheiten einer bestimmten Gruppe an und sind gruppenorientiert und „gruppennützig“ ausgestaltet. Die Abgrenzungskriterien zur Steuer, die zugleich die Zulassungsvoraussetzungen der Sonderabgaben umschreiben, werden also gewonnen sowohl aus dem verfassungsrechtlichen Steuerbegriff wie auch aus dem überkommenen Sinn und Zweck der Steuer als staatlichem Finanzierungsinstrument, d. h. dem der Steuer inhärenten Verwendungszweck und ihrer Einbindung in das parlamentarische Budgetrecht. Als Finanzierungsabgabe schlägt die Solidarabgabe der privat Pflegeversicherten die Brücke zwischen der Belastung der Finanzierungspflichtigen und der BeBVerfGE 113, 128 (147). Überblick Kirchhof (Fn. 26), Rn. 221 ff. 38 Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet diese Sonderabgaben als „Sonderabgaben mit Finanzierungszweck“ bzw. als „Sonderabgaben im engeren Sinne“, vgl. BVerfGE 108, 186 (217). 39 Die Lenkungsabgabe dient der Durchsetzung einer öffentlich-rechtlichen Verhaltenspflicht, z. B. Bereitstellung von Arbeitsplätzen für Schwerbehinderte, vgl. z. B. BVerfGE 57, 139 (139 f.) – Schwerbehindertenabgabe. 40 Abschöpfungsabgaben korrigieren eine durch staatliche Intervention bewirkte Belastungsungleichheit, vgl. z. B. BVerfGE 18, 315 – Ausgleichsabgabe nach dem Milch- und Fettgesetz. 41 Zwar repräsentiert die durch eine Sonderabgabe belastete Gruppe ebenso wie auch die Steuerpflichtigen faktisch nicht die „Allgemeinheit“. Tatsächlich sind sowohl die Steuerpflichtigen wie auch die Sonderabgabepflichtigen nur Schnittmengen aus der Allgemeinheit der Bürger. Unterschiedlich sind aber die rechtlichen Anknüpfungen für das Entstehen der Steuerpflicht einerseits und der Sonderabgabenpflicht andererseits. So zutreffend Ossenbühl, DVBl. 2005, 669. 36 37
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günstigung der Finanzierungsempfänger. In der Form der Sonderabgabe ist eine solche umverteilungswirksame Förderung nur zulässig, wenn die Abgabenschuldner eine besondere Finanzverantwortlichkeit für die Förderungsempfänger trifft. Das Bundesverfassungsgericht hat Kriterien für die verfassungsrechtliche Prüfung von Sonderabgaben als Gruppenlast mit Finanzierungszweck erstmals in der Ausgangsentscheidung zur Berufsausbildungsplatzabgabe entwickelt,42 in der Folgezeit mehrfach ausgebaut und zuletzt in zwei Entscheidungen aus den Jahren 2004 und 2005 präzisiert und verschärft.43 Danach bestehen folgende vier Zulässigkeitsvoraussetzungen: Gruppenhomogenität, eine spezifische Sachnähe der Gruppe zu der zu finanzierenden Aufgabe, eine Finanzierungsverantwortung der abgabepflichtigen Gruppe sowie die Gruppennützigkeit der Verwendung des Abgabenaufkommens. Im einzelnen bedeutet dies: Eine gesellschaftliche Gruppe darf mit einer Sonderabgabe nur belastet werden, wenn sie durch eine gemeinsame, in der Rechtsprechung oder gesellschaftlichen Wirklichkeit vorgegebene Interessenlage oder durch besondere Gemeinsamkeiten von der Allgemeinheit und anderen Gruppen abgrenzbar ist: Kriterium der Gruppenhomogenität.44 Nicht nur die Homogenität selbst, sondern auch die „Gruppenbildung“ selbst ist verfassungsrechtlich rechtfertigungsbedürftig. In seiner Entscheidung „Solidarfonds Abfallrückführung“ ließ das Bundesverfassungsgericht insbesondere bloß ökonomische Vorteile eines bestimmten Kreises von Abgabepflichtigen nicht ausreichen, um eine homogene Gruppe im sonderabgabenrechtlichen Sinne anzunehmen. Vielmehr differenzierte es innerhalb einer von der Bundesregierung vorgegebenen Gruppe an Hand rechtlicher Kriterien.45 Gesetzliche Differenzierungen stehen der Annahme einer – differenzaufhebenden bzw. -unterlaufenden – „homogenen Gruppe“ entgegen. Ferner muß „die mit der Abgabe belastete Gruppe dem mit der Abgabenerhebung verfolgten Zweck evident näher stehen als jede andere Gruppe oder die Allgemeinheit der Steuerzahler“.46 Es muß „eine spezifische Sachnähe der Abgabepflichtigen zu der zu finanzierenden Aufgabe“ bestehen.47 Zudem muß aus der vorgenannten „Sachnähe der Abgabepflichtigen“ zum Erhebungszweck eine besondere Gruppenverantwortung für die Erfüllung der mit der außersteuerlichen Abgabe zu finanzierenden Aufgabe entspringen.48 Schließlich setzt „die nichtBVerfGE 55, 274. BVerfGE 110, 370 (389 ff.) – Klärschlamm. Kritische Würdigung: Ossenbühl, DVBl. 2005, 670 ff.; BVerfGE 113, 128 – Solidarfonds Abfallrückführung. Vgl. dazu auch Jochum, Steuer und Wirtschaft 2006, 134 ff. 44 Das Bundesverfassungsgericht spricht insoweit von „homogenen Gruppen“, vgl. BVerfGE 55, 274 (305 ff.); 82, 159 (180); 108, 186 (222). 45 Im konkreten Fall zwischen Exporteuren, die ihren Notifizierungspflichten nachkommen, einerseits und andererseits solchen, die dies nicht tun, vgl. BVerfGE 113, 128 (152). 46 BVerfGE 55, 274 (306). 47 BVerfGE 82, 159 (180). 48 BVerfGE 82, 159 (180). 42 43
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steuerliche Belastung von Angehörigen einer Gruppe voraus, daß zwischen den von der Sonderabgabe bewirkten Belastungen und den mit ihr finanzierten Begünstigungen eine sachgerechte Verknüpfung besteht. Diese Verknüpfung wird hergestellt, wenn das Abgabenaufkommen im Interesse der Gruppe der Abgabepflichtigen, also gruppennützig verwendet wird.“49 In Bezug auf diese drei Kriterien betont das Bundesverfassungsgericht jüngst die „besonders enge Verbindung“,50 die zwischen dem Kreis der Abgabepflichtigen und dem Sachzweck einerseits und der Finanzierungsverantwortung der Abgabepflichtigen und der gruppennützigen Verwendung andererseits bestehen muß.51 Unabhängig von der begünstigenden Wirkung für eine bestimmte Gruppe darf der Sachzweck der Abgabe weder ausschließlich noch auch nur „primär“ der Erfüllung von Aufgaben der Allgemeinheit dienen.52 Andernfalls entfielen Sachnähe und Finanzierungsverantwortung der bezeichneten Gruppe. Ohne Homogenität der Gruppe entfällt auch jegliche Finanzierungsverantwortung. Im übrigen sind diese Kriterien nicht nur im Einzelfall „strikt auszulegen und anzuwenden“,53 sondern sie müssen im Ergebnis auch dazu führen, daß Sonderabgaben allgemein eine „seltene Ausnahme“ von der Regelfinanzierung durch die allgemeine Steuer bleiben.54
V. Verfassungswidrigkeit einer Sonderabgabe der privat Pflegeversicherten Vor dem Hintergrund dieser klaren und gefestigten Rechtsprechung läßt sich eine wie auch immer ausgestaltete Solidarabgabe der privat Pflegeversicherten zugunsten der gesetzlich Pflegeversicherten selbst bei äußerster Dehnung der entscheidungsleitenden Kriterien nicht legitimieren. Im Gegenteil: Alle entscheidungserheblichen Parameter sprechen gegen die Zulässigkeit dieser Sonderlast.
1. Weder Gruppe noch Gruppenhomogenität Um Abstand zur Steuer zu wahren, kann die Sonderabgabe nur als Gruppenlast konzipiert und nur als solche legitimiert werden. Gesetzlich und privat Pflegeversicherte sind indes keine von der Allgemeinheit abgrenzbare Gruppe, sondern bilden eben diese Allgemeinheit ab. Die Pflegeversicherung war schon von Anfang BVerfGE 67, 256 (275); 82, 159 (180). BVerfGE 113, 128 (150). 51 BVerfGE 113, 128 (150 f.). 52 BVerfGE 113, 128 (153). 53 BVerfGE 55, 274 (308). 54 BVerfGE 55, 275 (308); 108, 186 (217); 113, 128 (150). Generell und mit überzeugenden Gründen Förderabgaben grundsätzlich ablehnend Staudacher (Fn. 33), S. 83 ff., 121 ff. 49 50
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an eine im Grundsatz alle Bürger als Volksversicherung erfassende Einrichtung.55 Seit Inkrafttreten des „Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung“56 ist die Gesetzliche Krankenversicherung – und damit auch die an sie rechtstechnisch anknüpfende Pflegeversicherung – auch rechtlich als allgemeine, wenn auch dual organisierte Volksversicherung ausgestaltet.57 Damit besteht eine Identität der steuerrechtlichen Allgemeinheit und der in den beiden Zweigen der Pflegeversicherung Versicherten. Begrifflich kann die Allgemeinheit aber nicht zugleich als Gruppe ihrerselbst konstruiert werden. Schon deswegen scheitert die Rechtfertigung der Solidarabgabe als Sonderabgabe. Zudem besteht zwischen gesetzlicher und privater Pflegeversicherung keine übergreifende Homogenität ihrer Mitglieder, sondern faktisch gegebene und rechtlich unterfangene Heterogenität. Obwohl das SGB XI die Pflegeversicherung als Volksversicherung konzipiert hat und die Leistungen im wesentlichen gleich sind, ist sie nicht als organisatorische Einheitsversicherung ausgeformt. Vielmehr knüpft die Pflegeversicherung an die Organisation der Krankenversicherung an, die sich organisatorisch in den gesetzlichen Krankenkassen einerseits und den privaten Krankenversicherungen andererseits spiegelt: Die duale Organisation der Pflegeversicherung folgt der dualen Organisation der Krankenversicherung. Privat und gesetzlich Pflegeversicherte bilden daher schon kraft gesetzlicher Strukturentscheidung keine einheitliche Gruppe. Zwischen ihnen besteht auch keine Gruppenhomogenität. Vielmehr handelt es sich um zwei unabhängige Versicherungszweige mit unterschiedlichen Mitgliedschaftsbedingungen und unterschiedlichen Finanzierungsregelungen. Diese gesetzlich formierte duale Struktur knüpft ihrerseits an vorgegebene Realien an. In der gesetzlichen Krankenversicherung sind nur diejenigen Bürger zwangsversichert, die entweder in besonderem Maße sozial schutzbedürftig oder die zur Bildung einer leistungsfähigen Solidargemeinschaft erforderlich sind.58 Auch wenn die gesetzliche Krankversicherung ca. 90% der Bevölkerung erfaßt, weist sie diesen Gruppenbezug im Kern immer noch auf, ist jedenfalls nicht mit der staatlichen Allgemeinheit identisch und deswegen auch nicht als Volksversicherung konzipiert. Die Heterogenität der beiden versicherten Gruppen spiegelt sich in einem elementar unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Status beider Zweige der Pflegeversicherung: Die gesetzlichen Pflegekassen sind als Körperschaften des öffentlichen Rechts grundrechtsgebunden, die privaten Krankenversicherungsunternehmen grundrechtlich geschützt. Diese rechtliche Differenzierung zwischen gesetzlicher und privater Pflegeversicherung ist auch keine qualité négligeable, sondern zeitigt unterschiedliche 55 BVerfGE 103, 197 (221). Tatsächlich standen nur rund 2% der Bevölkerung außerhalb der Pflegeversicherung, vgl. BVerfGE 103, 225 (228). 56 Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKVWettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG, v. 26. 03. 2007, BGBl. I S. 378). 57 § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V. 58 BVerfGE 29, 221 (235 ff.); 44, 70 (89 f.); 76, 256 (235 ff.); 79, 223 (236 f.); 103, 172 (184 f.); 103, 197 (221).
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rechtliche Konsequenzen: Was für die gesetzliche Pflegeversicherung verfassungsrechtlich geboten sein kann, gilt deshalb nicht notwendig auch für die private Pflegeversicherung – und umgekehrt. So hat das Bundesverfassungsgericht das verfassungsrechtliche Gebot, die Beiträge zur Pflegeversicherung so zu gestalten, daß Familien, in denen Kinder erzogen und betreut werden, gegenüber Personen, die keine Kinder erziehen, begünstigt werden müssen, nur für die gesetzliche Pflegeversicherung statuiert,59 nicht aber für die private Pflegeversicherung.60 Die Begründung enthüllt die Heterogenität der beiden Gruppen von Versicherten: Kindererziehende in der gesetzlichen Pflegeversicherung leisteten einen generativen Beitrag zusätzlich zu ihrer Beitragszahlung, die Kinderlose nicht erbringen. Dieses Ungleichgewicht müsse ausgeglichen werden, da der generative Gleichgewichtszustand wegen des Geburtenrückgangs gestört sei. Auszugleichen sei diese Ungleichbehandlung im Beitragsrecht während der Erwerbsphase, da die Belastung die Kindererziehenden in dieser Phase treffe. Für die private Pflegepflichtversicherung gilt dies aber gerade nicht, weil aufgrund der Prämienkalkulation nach dem Anwartschaftsdeckungsverfahren und der in diesem System stattfindenden Altersrückstellungen für jeden Versicherten nach seinem individuellen Risiko die typischerweise im Alter anfallenden Pflegeleistungen von den Versicherten der Generation angespart werden müssen, die sie auch später erhalten. Anders als bei der gesetzlichen Pflegeversicherung entfalle in diesem System eine auf dem Umlageverfahren basierende intergenerative Umverteilung.61 Ebenfalls unter Rekurs auf die Dualität der Pflegeversicherung rechtfertigte das Bundesverfassungsgericht auch den Versicherungszwang privat Krankenversicherter, bei einem privaten Versicherungsunternehmen eine private Pflegepflichtversicherung abzuschließen. Der tragende Grundsatz „Pflegeversicherung folgt Krankenversicherung“ sei auch für die soziale Pflegeversicherung sachgerecht.62 Eine daraus erwachsende höhere Beitragslast rechtfertige sich aus der Gruppenzugehörigkeit des privat Krankenversicherten. In beiden Fällen bildet die Gruppenhomogenität der privat Pflegeversicherten Grund wie Grenze der nur sie betreffenden Regelungen. Gesetzlich und privat Pflegeversicherte bilden eben keine homogene Gruppe, sondern sind faktisch und rechtlich unterfangen von elementarer Heterogentiät gekennzeichnet. Diese Verschiedenheit beider Pflegeversichertengruppen muß auch bei rechtlichen Regelungen der Finanzierung der Pflegeversicherung respektiert werden. Beide Versicherungszweige können deshalb auch finanzverfassungsrechtlich nicht gleichgeschaltet werden, sondern sind nach Maßgabe ihrer unterschiedlichen Systemprinzipien fortzuentwickeln. Die Einführung einer Solidarabgabe der privat Pflegeversicherten würde die gesetzliche Grundentscheidung unterlaufen, das Risiko der Pflege zweispurig, d. h. sowohl durch gesetzliche Krankenkassen wie durch private Ver59 60 61 62
BVerfGE 103, 242 (257 ff.). BVerfGE 103, 271 (291 f.); kritisch Ebsen, Jura 2002, 407. BVerfGE 103, 271 (292 f.). BVerfGE 103, 271 (288 ff.).
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sicherungsunternehmen abzusichern. Sie führte im Ergebnis zur Einführung einer allgemeinen Bürgerpflegeversicherung „durch die Hintertür“. Gegenüber fehlender Gruppenhomogenität von gesetzlich und privat Pflegeversicherten sind die bestehenden faktischen Unterschiede zwischen beiden Versicherungszweigen, insbesondere unterschiedliche Risikostrukturen in beiden Zweigen der Pflegeversicherung rechtlich ohne Relevanz.63 Faktische Unterschiede sind konsequente Folge der gesetzlich differenzierten Konstruktion der Pflegeversicherung. Da diese aber vom Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen als verfassungskonform beurteilt worden ist, sind die sich daraus ergebenden faktischen Wirkungen rechtlich legitimierte Rechtsfolge. Diesem Ergebnis kann der Hinweis auf den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG gerade nicht entgegengehalten werden. Das Gleichheitsgrundrecht entfaltet seine Wirksamkeit nur innerhalb einer rechtlich formierten Solidargemeinschaft, wirkt aber nicht unterschiedslos über sie hinweg. So wie der Gleichheitssatz föderal gebrochen ist,64 ist er es auch sozialversicherungsrechtlich. Was innerhalb der Sozialversicherung ein Problem der Gleichheit sein kann,65 ist im Verhältnis der Sozialversicherung zur privaten Krankenversicherung unerheblich.66 Systemprägende Unterschiede bilden keinen rechtlich tragfähigen Titel für die Auferlegung von Sonderlasten, sondern sind allenfalls Anlaß für politischen Reformbedarf bei Achtung verfassungsrechtlicher Grenzen.67 2. Keine spezifische Nähe zur Sachaufgabe Der Staat hat die gesetzliche Pflegeversicherung eingeführt, ihr im SGB XI die zu erfüllenden Aufgaben zugewiesen und ihr das rechtliche Instrumentarium an die Hand gegeben, die Aufgaben zu erfüllen. Er trägt somit die Verantwortung dafür, daß die Beiträge der gesetzlich Pflegeversicherten die Kosten der Pflegeleistungen decken. Wenn die dazu erforderliche Beitragshöhe etwa aus sozialpoliti63 Der Anteil der Pflegefälle an der Gesamtversichertenzahl in der privaten Pflegepflichtversicherung beträgt 1,3 v. H. und in der gesetzlichen Pflegeversicherung 2,7 v. H. Aufgrund der Pflichtversicherungsgrenze kommt es zu Risikoentmischungstendenzen, weshalb die private Pflegepflichtversicherung eine bessere Risikostruktur der Versicherten aufweist, vgl. Jahresgutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2004 / 2005, Ziffer 545. 64 Vgl. nur BVerfGE 16, 6 (24); 33, 231 (352); 36, 314 (323); 42, 20 (27); 52, 42 (57 f.). 65 Etwa unterschiedlich hohe Beitragssätze, vgl. BVerfGE 89, 365 (376 ff.). 66 So ausdrücklich BVerfGE 103, 271 (290). 67 Die nicht bestehende Gruppenhomogenität von privat und gesetzlich Pflegeversicherten sperrt sich gegen jeden – rechtstechnisch wie auch immer ausgestalteten – gruppenübergreifenden Finanzausgleich. Das heißt: Auch wenn die Solidarabgabe alle – gesetzlich wie privat – Pflegeversicherten beträfe und an abstrakte und allgemeine Kriterien anknüpfte, durchbräche diese Form des Finanzausgleichs die verfassungsrechtlich vorgegebene Heterogenität beider Gruppen und wäre deswegen verfassungswidrig. Gruppenheterogenität sperrt sich gruppenübergreifendem Finanzausgleich.
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schen Gründen als nicht angemessen erscheint, kann ein gegebenenfalls eintretendes Finanzierungsdefizit nur im Wege eines Staatszuschusses aus Steuermitteln ausgeglichen werden. Finanzieller Ausfallgarant und sachlich Einstandspflichtiger ist allein der Staat. Der staatlich organisierten Allgemeinheit obliegt die Funktionsgarantie für die gesetzliche Pflegversicherung, nicht aber einer anderen Gruppe, auch nicht der Gruppe der privat Pflegeversicherten. Diese sind rechtlich selbständig organisiert und tragen insoweit und deshalb auch nur für die ihnen zugewiesenen Belange eine spezifische Sachverantwortung.68
3. Keine Finanzierungsverantwortung Mangels spezifischer Sachnähe der Privatversicherten gibt es auch keine Finanzierungsverantwortung der privat Pflegeversicherten für die gesetzlich Versicherten. Die gesetzgeberische Konstruktion zweier Solidargemeinschaften zeitigt auch hier ihre Konsequenzen: Sie hindert die Annahme einer einheitlichen Gruppe von gesetzlich und privat Pflegeversicherten mit wechselseitigen Finanzierungsverantwortlichkeiten. Ist aber die Konstruktion einer gemeinsamen Gruppe von – privat und gesetzlich – Pflegeversicherten ausgeschlossen, greift das prinzipielle Verbot der Fremdnützigkeit von Sonderabgaben. Zum gleichen Ergebnis gelangt man auch, wenn man umgekehrt beide Gruppen zusammenfaßt und darin – cum grano salis – die „Allgemeinheit“ der Staatsbürger sähe. Auch dann wäre eine allein die privat Pflegeversicherten treffende Sonderabgabe unzulässig, da Aufgaben der Allgemeinheit gerade nicht durch Sonderabgaben, sondern nur durch Steuern finanziert werden dürfen. Alle denkbaren Ziele von Umverteilungsmaßnahmen von privat zu gesetzlich Pflegeversicherten sind solche, die der Allgemeinheit zu dienen bestimmt sind: Die Entlastung des Arbeitsmarktes durch Beitragsstabilisierung oder die Bereitstellung medizinischer Versorgung für breite Schichten der Bevölkerung sind jedenfalls keine Aufgaben, die primär oder überhaupt in die Finanzierungsverantwortung der Mitglieder der privaten Pflegeversicherung fallen. Es handelt sich vielmehr um die politische Konkretisierung von Gemeinwohlvorstellungen, die von der Allgemeinheit durch Steuern zu finanzieren sind.
4. Keine Gruppennützigkeit des Abgabenaufkommens Schließlich steht die Tatsache von zwei rechtlich selbständigen und voneinander unabhängigen Gruppen a limine der Annahme entgegen, die Solidarabgabe der privat Pflegeversicherten könnte gruppennützig verwendet werden. Zwar ist auch die private Pflegeversicherung nach § 110 SGB XI teilweise umlagefinanziert, könnte auch in Zukunft noch stärker von Umlageelementen geprägt werden und sich dergestalt der gesetzlichen Pflegeversicherung angleichen. Aber diese Umlagefinan68
Ebenso im Ergebnis: Giesen, NZS 2006, 453.
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zierung erfolgt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts notwendig nur innerhalb der Gruppe der privat Pflegeversicherten, nicht aber systemübergreifend auch die gesetzlich Pflegeversicherten einschließend.69 Die Solidarabgabe der privat Pflegeversicherten zugunsten der gesetzlich Pflegeversicherten bewirkt – und soll auch bewirken – gruppenübergreifende Umverteilungen und ist damit per definitionem nicht gruppennützig im sonderabgabenrechtlichen Sinne. Sie belastet eine Gruppe finanziell, um Leistungen für eine andere Gruppe finanzieren zu können. Das Gebot der gruppennützigen Verwendung von Sonderabgaben entspricht einem verfassungsrechtlichen Verbot, Sonderabgaben zu Umverteilungszwecken von einer Gruppe zu einer anderen einzusetzen. Auch an dieser Hürde scheiterte ein imperativer Finanztransfer von der privaten zur gesetzlichen Pflegeversicherung.
5. Ergebnis Das Ergebnis ist eindeutig: Eine Solidarabgabe der privat Pflegeversicherten zugunsten der gesetzlich Pflegeversicherten ist verfassungswidrig. Sie unterläuft die gesetzliche Grundentscheidung, die Risiken des Pflegefalls sowohl durch gesetzliche Krankenkassen wie auch durch private Versicherungsunternehmen abzusichern. Damit führte sie im Ergebnis zur Einführung einer allgemeinen Bürgerpflegeversicherung „durch die Hintertür“. Durch einen gruppenübergreifenden Finanzausgleich würde die rechtliche Trennung beider Versicherungszweige unterlaufen. Jedenfalls solange eine allgemeine Bürgerversicherung für das Pflegerisiko nicht gesetzlich etabliert ist, sperren sich die gegenwärtigen Strukturen der Pflegeversicherung gegen einen Finanzausgleich der vorgesehenen Art. Insbesondere bilden faktisch unterschiedliche Risikostrukturen keinen verfassungsrechtlich legitimen Titel für die Forderung nach einem Finanzausgleich.
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BVerfGE 103, 271 (292 f.).
Schiedsstellen im Sozialrecht – geeignete Instrumente der Streitschlichtung? Eine kritische Analyse am Beispiel der Schiedsstelle nach § 18a Abs. 1 KHG Von Dagmar Felix
I. Einführung Die außergerichtliche Streitlösung hat in den letzten Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung gewonnen. Nicht nur die Mediation ist für Juristen zu einem wichtigen Aspekt ihrer Arbeit geworden;1 in nahezu allen Rechtsgebieten finden sich so genannte Schlichtungs-, Gutacher- , Schieds- oder Einigungsstellen, die dazu dienen, eine gerichtliche Auseinandersetzung zu vermeiden.2 Auch in einigen Bereichen des Sozialrechts haben Schiedsämter und Schiedsstellen eine lange Tradition. Erstmals eingerichtet wurden Schiedsämter im Bereich des Kassenarztrechts bereits im Jahre 1913.3 Gerade in jüngerer Zeit lässt sich aber auch in vielen anderen Bereichen des Sozialrechts ein zunehmender Trend hin zur außergerichtlichen Streitschlichtung feststellen. In den vergangenen 20 Jahren hat der Gesetzgeber im kooperativen Sozialstaat4 eine Vielzahl von Schiedsstellen und Schiedsämtern in den verschiedensten Bereichen des Sozialrechts etabliert.5 Jüngste Beispiele sind hier die im Jahr 2008 erfolgte Neufassung 1 Die juristische Ausbildung umfasst daher heute auch Kenntnisse in diesem Bereich (vgl. etwa § 1 Abs. 2 S. 2 HmbJAG). Auch wenn § 7a der Berufsordnung für Rechtsanwälte (BORA) bestimmt, dass Rechtsanwälte sich nur dann als Mediatoren bezeichnen dürfen, wenn sie eine geeignete Ausbildung nachweisen können, ist unanhängig von dieser Frage der Titelführungsberechtigung anerkannt, dass jeder Rechtsanwalt mediatorisch tätig werden darf und auch sollte. 2 Manche dieser Stellen sind gesetzlich vorgeschrieben, andere agieren auf freiwilliger Basis (grundlegend Niklisch, Festschrift Bülow, 1981, S. 159 ff.). 3 Grundlage war das zwischen den Spitzenverbänden der Krankenkassen und der Ärzteschaft geschlossene Berliner Abkommen vom 23. Dezember 1913 (Ministerialblatt der Preußischen Handels- und Gewerbeverwaltung 1914, Beilage Nr. 5, S. 85 ff.); ausführlich zur historischen Entwicklung Düring, Das Schiedswesen in der gesetzlichen Krankenversicherung, 1992, S. 39 ff. 4 Plagemann, Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, S. 65.
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des § 76 SGB XI durch das Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung6 oder die Schaffung einer Schiedsstelle zur Festsetzung eines Vertrags über die Versorgung mit Hebammenhilfe im Jahre 2006.7 Sozialrechtliche Schiedsstellen sollen Konflikte an einem für die Sicherung der Leistungsansprüche der Versicherten charakteristischen Schnittfeld des Sozialrechts lösen. Immer dann, wenn der Sozialstaat dem Bedürftigen keine Geldleistung gewährt, sondern eine persönliche Dienstleistung zur Verfügung stellt, bedürfen die sozialrechtlichen Leistungsträger externer Partner, die diesen Anspruch unmittelbar gegenüber dem Versicherten erfüllen. In nahezu allen Rechtsgebieten des Sozialrechts ist das so genannte Vergütungsgeschehen zwischen den Krankenkassen und diesen Leistungserbringern durch Verträge geregelt und gesteuert. Die Modalitäten der Leistungserbringung und die Vergütung der Leistungen werden damit nicht ausschließlich hoheitlich vorgegeben; vielmehr sind die Betroffenen aufgerufen, ihre Beziehungen konsensual zu regeln.8 Kennzeichnend für diesen Bereich des Sozialrechts ist der Abschluss öffentlich-rechtlicher Verträge der Parteien im Spannungsfeld zwischen Ressourcenknappheit auf der einen und betriebswirtschaftlichen Rentabilitätsentwicklungen auf der anderen Seite. Hier treten naturgemäß Konflikte auf, die die Kompromissbereitschaft der Beteiligten gelegentlich überfordern – und genau diese Konflikte sollen die vom Gesetzgeber etablierten Schiedsstellen9 lösen. Sie ermöglichen eine adäquate Form der Streitschlichtung, die sich am Leitprinzip der Selbstverwaltung orientiert und durch eine größere Sachnähe und eine schnelle Reaktionszeit gekennzeichnet ist10 – insofern überrascht es nicht, dass Schiedsstellen sich beim Sozialgesetzgeber zunehmender Beliebtheit erfreuen. Dass die positivrechtlichen Vorgaben für die konkrete Aufgabenstellung der Schiedsstelle, ihrer Besetzung oder des maßgeblichen Verfahrensrechts mehr als lückenhaft und unabgestimmt erscheinen,11 ist als Konsequenz der allzu hekti5 Vgl. die Auflistung nur der wichtigsten Schiedsstellen im Sozialrecht bei Becker, SGb 2003, 665; eine aktuelle Übersicht der wichtigsten Schiedsstellen findet sich auch bei Schütte, NDV 2005, 249. 6 Pflege-Weiterentwicklungsgesetz vom 28. Mai 2008 (BGBl. I, S. 874); gemäß § 76 Abs. 6 SGB XI in der ab 1. Juli 2008 geltenden Fassung können die Parteien der Pflegesatzvereinbarung gemeinsam eine unabhängige Schiedsperson bestellen, die innerhalb von 28 Kalendertagen nach ihrer Bestellung die Pflegesätze und den Zeitpunkt des Inkrafttretens festsetzt. 7 § 134a Abs. 3 und 4 SGB V; die Vorschrift wurde eingefügt durch Gesetz vom 15. Dezember 2004 (BGBl. I, S. 3429). Zum Inkrafttreten von Abs. 3 und 4 vgl. Art. 7 Abs. 3 dieses Gesetzes. Schon länger wurde Kritik an dem für Hebammen geltenden Sonderweg geübt (vgl. etwa Schimmelpfennig-Schütte, NZS 1997, 506). 8 Manssen, ZFSH / SGB 1997, 81. 9 Auch ohne eine gesetzliche Regelung wäre eine Lösung des Konflikts nach zivilrechtlichem Vorbild (§ 61 S. 2 SGB X i.V. m. §§ 317 – 319 BGB) durchaus möglich; diese wäre jedoch rein fakultativ. 10 Schütte, NDV 2005, 246.
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schen Tätigkeit des Gesetzgebers allgemein bekannt und soll hier nicht vertieft werden. Vielmehr soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, welche rechtlichen Probleme auftreten, wenn der Gesetzgeber den Schritt in die Selbstverwaltung nicht vollständig vollzieht, sondern sowohl für die zwischen den Parteien getroffene Vereinbarung als auch für die gegebenenfalls von der Schiedsstelle getroffene Entscheidung die Genehmigung einer staatlichen Behörde vorsieht. Diesen Weg hat der Gesetzgeber im ökonomisch äußerst bedeutsamen Kontext der Krankenhausfinanzierung gewählt: Gemäß § 18 Abs. 5 KHG12 bedürfen die maßgeblichen Festsetzungen der Schiedsstelle der Genehmigung der zuständigen Landesbehörde. Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber einen Basiskonflikt zwischen Verhandlungsprinzip und staatlicher Steuerung13 geschaffen, der sich wie ein roter Faden durch das Schiedsstellenverfahren im Krankenhausfinanzierungsrecht zieht.
II. Die Schiedsstelle nach § 18a Abs. 1 KHG 1. Allgemeines Für die Krankenhäuser sind drei Arten von Verträgen von besonderem Interesse. Nach § 112 SGB V werden Verträge über die allgemeinen Bedingungen der Krankenhausbehandlung geschlossen, um sicherzustellen, dass Art und Umfang der Krankenhausbehandlung den Anforderungen des SGB V entspricht.14 Gemäß § 115 SGB V sind dreiseitige Verträge zwischen den Landesverbänden der Krankenkassen und den Ersatzkassen, der kassenärztlichen Vereinigung und der Landeskrankenhausgesellschaft bzw. den Vereinigungen der Krankenhäuser zu schließen – Gegenstand ist hier primär die enge Zusammenarbeit zwischen dem ambulanten und dem stationären Bereich, um eine nahtlose Behandlung der Versicherten sicherzustellen. Kommen die in den §§ 112 und 115 genannten Verträge nicht zustande, wird der Vertragsinhalt durch die Landesschiedsstelle nach § 114 SGB V festgesetzt.15 In der Praxis erweist sich jedoch eine andere Schiedsstelle als weitaus bedeutsamer16 – sie befasst sich mit der Vergütung der im Krankenhaus erbrachten Leis11 Zutreffend Schütte, NDV 2005, 247; vgl. auch die Stellungnahmen der Vorsitzenden und Geschäftsstellenleiter / innen der Schiedsstellen nach § 76 SGB XI und § 80 SGB XII in NDV 2006, 302. 12 Vgl. auch § 14 KHEntgG und § 20 BPflV. 13 So Kisker, in: Heinze / Wagner, Die Schiedsstelle des Krankenhausfinanzierungsgesetzes, 1989, S. 26. 14 Zu den Einzelheiten, insbesondere zu den Vertragspartnern vgl. im einzelnen § 112 Abs. 1 und 2 SGB V. 15 Hierzu Manssen, ZFSH / SGB 1997, 82; vgl. im Einzelnen auch SchimmelpfennigSchütte, NZS 1997, 504 f.
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tungen. Das überaus kompliziert geregelte so genannte Krankenhausentgeltrecht, das von der in der Zuständigkeit der Länder liegenden Krankenhausplanung zu unterscheiden ist,17 ist normiert in §§ 16 – 20 KHG, dem Krankenhausentgeltgesetz18 sowie der Bundespflegesatzverordnung.19 Der nach wie vor teuerste Bereich der Gesundheitsversorgung,20 der vom Gesetzgeber seit Jahren beständig durch Maßnahmegesetze reglementiert wird, befindet sich im Umbruch; die ehemals staatliche Vergütungsfestsetzung21 wurde zunehmend durch Handlungsspielräume der Beteiligten ersetzt. Auch in diesem Bereich gilt nunmehr das Vereinbarungsprinzip – Krankenhäuser und Krankenkassen sollen sich über die Vergütung der Krankenhausleistungen einigen.22 Gelingt dies nicht, entscheidet die Schiedsstelle nach § 18a Abs. 1 KHG,23 die aus einem neutralen Vorsitzenden sowie aus Vertretern der Krankenkassen und Krankenhäuser in gleicher Zahl besteht. Die Mitglieder der Schiedsstelle führen ihr Amt als Ehrenamt; sie sind an Weisungen nicht gebunden. Die Entscheidungen werden mit der Mehrheit der Mitglieder getroffen; ergibt sich keine Mehrheit, gibt die Stimme des Vorsitzenden den Ausschlag.24 Weitere Details regeln die nach Maßgabe von § 18a Abs. 4 KHG erlassenen Rechtsverordnungen.25
16 So auch Quaas, in: Schnapp, Handbuch des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, 2004, S. 90. 17 § 6 KHG. 18 KHEntgG vom 23. April 2002 (BGBl. I, S. 1412, 1422) mit späteren Änderungen. Das Gesetz wurde im Zuge der Umstellung auf das DRG-System geschaffen (zur Entstehungsgeschichte der Krankenhausfinanzierung grundlegend Tuschen / Trefz, Krankenhausentgeltgesetz, 2004, S. 14 ff.) und spielt heute bei der Krankenhausfinanzierung die zentrale Rolle. 19 BPflV vom 26. September 1994 (BGBl. I, S. 2750) mit späteren Änderungen; die Verordnung betrifft lediglich diejenigen Leistungen der Krankenhäuser, die nach § 17b Abs. 2 S. 1 2. HS KHG nicht in das DRG-Vergütungssystem einbezogen sind. Ausführlich zur Einführung des DRG-Systems und der Konsequenzen für das Krankenhausfinanzierungsrecht Quaas (Fn. 16), S. 91 ff. 20 Die GKV bringt etwa ein Drittel ihrer Leistungsausgaben für die Krankenhauskosten auf (Schütte, NDV 2005, 252). 21 Bis 1984 wurden die Pflegesätze für Krankenhausleistungen von der Gesundheitsbehörde des Landes definiert; vgl. Tuschen / Trefz (Fn. 18), S. 14 ff. 22 Dabei geht es zum einen um die Vereinbarung auf Landesebene (§ 10 KHEntgG – Landesbasisfallwert) und zum anderen um die Vereinbarung für das einzelne Krankenhaus (§ 11 KHEntgG). 23 Nicht näher betrachtet werden soll im vorliegenden Kontext die Bundesschiedsstelle nach § 18a Abs. 6 KHG – hierzu Quaas (Fn. 16), S. 129 ff. 24 Zu den Details vgl. § 18a Abs. 2 und 3 KHG. 25 In Hamburg ist die „Verordnung über die Schiedsstelle nach § 18a Abs. 1 des Krankenhausfinanzierungsgesetzes (Pflegesatz-Schiedsstellenverordnung – PflSchVO) vom 11. Mai 1993 (HmbGVBl., S. 93) maßgeblich.
Schiedsstellen im Sozialrecht
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2. Die Unverbindlichkeit der Schiedsstellenentscheidung Nach der Konzeption des Krankenhaus-Neuordnungsgesetzes (KHNG) vom 20. Dezember 198426 sollte durch die Stärkung der Selbstverwaltung im stationären Bereich eine gewisse Annäherung an den ambulanten Bereich erfolgen. Die Bundesregierung verfolgte im Gesetzgebungsverfahren das Ziel, die Selbstverwaltungskompetenz der beteiligten Parteien gerade auch durch Schaffung einer Schiedsstelle zu stärken27 – sie wurde von manchen als „Kernpunkt der Reform“ gesehen.28 Dem Bestreben nach mehr Selbstverwaltung hätte es entsprochen, wie in anderen Bereichen des Sozialrechts verbindliche Schiedsstellenentscheidungen vorzusehen; dies war nach dem Regierungsentwurf des KHNG auch vorgesehen.29 Da die Länder jedoch um ihren Einfluss auf die Höhe der Pflegesätze fürchteten30 und bis heute ihren Einfluss geltend machen wollen,31 wurde das Schiedsstellenverfahren als Kompromisslösung im Sinne eines vertragsvorbereitenden Schiedsverfahrens ausgestaltet. Verbindlich werden die Pflegesätze erst mit der behördlichen Genehmigung, so dass die zuständigen Landesbehörden tatsächlich das letzte Wort über die Höhe der Pflegesätze haben. In diesem zentralen Punkt unterscheidet sich die Tätigkeit der Schiedsstelle nach § 18a KHG von allen anderen sozialrechtlichen Schiedsstellen, deren Entscheidungen unmittelbar verbindlich sind. Der Gesetzgeber hat seine Entscheidung damals wie folgt begründet: „Diese Regelung trägt einerseits dem Grundsatz der Selbstverwaltung der Krankenhäuser und Krankenkassen im Pflegesatzverfahren Rechnung, anerkennt andererseits aber auch die Verantwortung der Länder für die Rechtmäßigkeit der Pflegesatzfestlegung.“32 Die letztlich beschlossene Ausgestaltung der Schiedsstelle hat manch heftige Kritik hervorgerufen. Ob es sich bei den maßgeblichen Vorschriften tatsächlich um „. . . ein Musterbeispiel für eine von der Zielsetzung her richtige, aber im GesetzBGBl. I, S. 1716. Zur Entstehungsgeschichte Manssen, ZFSH / SGB 1997, 82 m. w. N. 28 Hierzu Gitter, in: Heinze / Wagner, Die Schiedsstelle des Krankenhausfinanzierungsgesetzes, 1989, S. 88 m. w. N. 29 Dietz / Bofinger, Krankenhausfinanzierungsgesetz, Bundespflegesatzverordnung und Folgerecht, Loseblatt, § 18 KHG Anm. VI.1. 30 Jung, in: Heinze / Wagner, Die Schiedsstelle des Krankenhausfinanzierungsgesetzes, 1989, S. 15. 31 Dies zeigt die jüngste Auseinandersetzung um das 2. Fallpauschalen-Änderungsgesetz vom 15. Dezember 2004 (BGBl. I, S. 3249). Die Anpassung der Krankenhauspflegesätze an das vom Gesetzgeber in § 17b KHG vorgesehene neue Vergütungssystem der diagnoseorientierten Fallpauschalen („DRG“) ist politisch äußerst konfliktgeladen, weshalb etwa um die Ausgestaltung der so genannten „Konvergenzphase“ lange gestritten wurde. Auch die so genannten landesweiten Basisfallwerte, die für die Vergütung von zentraler Bedeutung sind (vgl. § 10 KHEntgG), unterliegen der behördlichen Genehmigung – dies war zunächst anders geplant – hierzu auch Quaas (Fn. 16), S. 112. 32 BT-Drs. 10 / 2565, S. 30. 26 27
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gebungsverfahren infolge politischer Kompromisse, die zudem unter Zeitdruck ausgehandelt worden sind, gesetzestechnisch völlig verunglückte Regelung“ handelt,33 mag dahingestellt sein; jedenfalls wirft die aktuelle Konzeption eine Reihe faktischer und rechtlicher Probleme auf.
III. Faktische Konsequenzen der Unverbindlichkeit Die Entscheidung des Gesetzgebers, die Wirksamkeit der Schiedsstellenentscheidung von einer behördlichen Genehmigung abhängig zu machen, hat zunächst faktische Konsequenzen, die eine erfolgreiche Zusammenarbeit von Krankenhäusern und Krankenkassen deutlich erschweren.
1. „Der lange Weg zum Geld“ Zu nennen ist hier zunächst der schlichte Zeitfaktor. „Der Weg zum Geld“ kann sich für Krankenhäuser in der Tat als sehr lang erweisen.34 Kommt es – nach oft monatelangen Verhandlungen zwischen Krankenkassen und Krankenhäusern35 – nicht zu einer vollständigen Einigung,36 muss von einer Partei die Schiedsstelle angerufen werden. Diese entscheidet – so die gesetzliche Vorgabe37 – innerhalb von sechs Wochen über die Gegenstände, über die keine Einigung erreicht werden konnte. Bereits diese Sechs-Wochen-Frist erweist sich in der Praxis häufig als Illusion, weil den Parteien hinreichend Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben ist und Terminfindungsprobleme zu weiteren Verzögerungen führen können. Ein Verstoß gegen die Frist führt unstreitig nicht zur Rechtswidrigkeit der Schiedsstellenentscheidung; es handelt sich insoweit lediglich um eine Ordnungsvorschrift, auch wenn dies mit dem Gesetzeswortlaut nicht so leicht in Einklang zu bringen ist.38 Entscheidet die Schiedsstelle erst nach Ablauf der Sechs-Wochen-Frist, kann die Genehmigungsbehörde nicht allein deshalb die Genehmigung versagen.39 So Jung (Fn. 30), S. 1 ff. mit ausführlicher Erläuterung der Entstehungsgeschichte. So das Bild von Möller, das Krankenhaus 2008, 610. 35 Die Schiedsstelle kann allerdings schon dann angerufen werden, wenn innerhalb von sechs Wochen nach Aufforderung einer Vertragspartei zur Aufnahme von Pflegesatzverhandlungen keine Einigung erzielt wurde (§ 18 Abs. 4 KHG); in der Praxis ziehen sich Verhandlungen allerdings oft über Monate hin, wenn nicht – auch dies geschieht – die Schiedsstelle frühzeitig als eine Art „Druckmittel“ im Rahmen der Verhandlungen angerufen wird. 36 Erforderlich ist eine – schriftliche (§ 13 KHEntgG bzw. § 19 BPflV) – vollständige Einigung über den gesetzlich vorgegebenen Vereinbarungsinhalt; vgl. Dietz / Bofinger (Fn. 29), § 18 Anm. 2. 37 § 13 Abs. 2 KHEntgG; § 19 Abs. 2 BPflV. 38 Leber, in: Robbers / Steiner, Berliner Kommentar zur Finanzierung zugelassener Krankenhäuser, 2004, S. 187. 39 Tuschen / Trefz (Fn. 18), S. 308 f. 33 34
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Die nach Durchführung des Schiedsstellenverfahrens vorliegende Entscheidung der Schiedsstelle bedarf nun ihrerseits der Genehmigung der zuständigen Behörde. Diese wird lediglich auf Antrag einer der Vertragsparteien tätig, d. h. ein Handeln von Amts wegen ist ihr versagt. Die Schiedsstelle selbst ist nicht antragsberechtigt, d. h. sie hat keinerlei Handhabe, um ihrer Festsetzung Wirksamkeit zu verleihen – dies liegt allein in den Händen der Vertragsparteien. Obwohl etwa § 14 Abs. 1 S. 1 KHEntgG davon spricht, dass die Genehmigung von einer der Vertragsparteien zu beantragen „ist“, besteht insoweit keinerlei Verpflichtung der Vertragsparteien. Die Regelung ist vielmehr dahingehend zu verstehen, dass eine Vertragspartei, die einen neuen Pflegesatz will, dessen Genehmigung beantragen muss – geschieht dies nicht, verbleibt es aufgrund der fehlenden Wirksamkeit der Schiedsstellenfestsetzung beim alten Pflegesatz. Es ist den Vertragsparteien auch unbenommen, nach Abschluss des Schiedsstellenverfahrens erneut in Verhandlungen einzutreten, nunmehr eine von der Schiedsstellenfestsetzung abweichende Vereinbarung zu treffen und für diese Vereinbarung die behördliche Genehmigung zu beantragen. Selbst eine erneute Anrufung der Schiedsstelle nach weiteren Verhandlungen ist denkbar; das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat hierzu ausdrücklich festgestellt: „Es bleibt den Pflegesatzparteien auch nach Ergehen der Festsetzung der Schiedsstelle unbenommen, keinen Antrag auf Genehmigung dieser Festsetzung zu stellen, sondern eine anderweitige Vereinbarung zu treffen oder die Schiedsstelle nochmals anzurufen.“40 Letzteres dürfte allerdings nur möglich sein, wenn zwischendurch neu verhandelt wurde; eine wiederholte Befassung der Schiedsstelle mit derselben Problematik gleichsam im Wege einer „Endlosschleife“ erscheint wenig sachgerecht.41 Wird nach der Schiedsstellenfestsetzung durch Antragstellung einer der Vertragsparteien die zuständige Behörde in das Verfahren eingeschaltet, ist entgegen dem Gesetzeswortlaut, der allein von der „Genehmigung“ der von der Schiedsstelle festgesetzten Werte spricht, auch die Beantragung der Versagung der Genehmigung zulässig. Mit anderen Worten: Eine Vertragspartei, die mit der Festsetzung der Schiedsstelle nicht zufrieden ist, kann bei der zuständigen Behörde beantragen, die Genehmigung dieses Schiedstellenbeschlusses zu versagen.42 Anders als für die Schiedsstelle selbst hat der Gesetzgeber für die Behörde keine konkreten zeitlichen Vorgaben für die Genehmigung bzw. Versagung der Festsetzung gemacht; lediglich über die Genehmigung des landesweit geltenden Basisfallwerts entscheidet die Behörde gemäß § 14 Abs. 1 S. 3 KHEntgG innerhalb von vier Wochen nach Eingang des Antrags. Für alle anderen Festsetzungen gilt allein § 18 Abs. 5 S. 1 BVerwGE 94, 301 (306). In diesem Sinne auch Dietz / Bofinger (Fn. 29), § 14 KHEntgG Anm. I.3. 42 Etwas anderes gilt im Fall eines vereinbarten Pflegesatzes – hier können die Vertragsparteien keine Vereinbarung abschließen, um dann im anschließenden Genehmigungsverfahren zu versuchen, diese Vereinbarung wieder zu Fall zu bringen. Dies würde dem Vereinbarungsprinzip des Pflegesatzrechts zuwiderlaufen; vgl. Dietz / Bofinger (Fn. 29), § 14 KHEntgG Anm. I. 4. 40 41
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KHG; danach ist die Genehmigung „unverzüglich“ zu erteilen. Um die erforderliche Rechtskontrolle vornehmen zu können,43 benötigt die Behörde die notwendigen Unterlagen und Auskünfte, die ihr die Vertragsparteien und die Schiedsstelle zur Verfügung stellen. Unter Berücksichtigung angemessener Anhörungsfristen nimmt das behördliche Genehmigungsverfahren in der Praxis daher häufig viele Monate in Anspruch. Genehmigt die Behörde die Entscheidung der Schiedsstelle, steht den Vertragsparteien der Rechtsweg offen. Gemäß § 18 Abs. 5 S. 2 KHG ist gegen die Genehmigung – und im Übrigen auch gegen die Versagung – der Verwaltungsrechtsweg eröffnet. Ein Vorverfahren findet nicht statt; die Klage hat keine aufschiebende Wirkung. Hier vergehen bekanntermaßen oft Jahre, bis eine abschließende Entscheidung vorliegt – und diese Unsicherheit hat aufgrund der Systematik des Krankenhausfinanzierungsrechts Auswirkungen auch für die Folgejahre:44 Da während der Konvergenzphase sämtliche Entgeltvereinbarungen aufeinander aufbauen, können auch die Folgejahre keiner abschließenden Genehmigung zugeführt werden. Weitere zeitliche Verzögerungen sind denkbar, wenn die zuständige Behörde die Genehmigung der Schiedsstellenfestsetzung versagt. In diesem Fall ist die Schiedsstelle auf Antrag verpflichtet, unter Beachtung der Rechtsauffassung der Behörde erneut zu entscheiden. Ruft also eine der Vertragsparteien erneut die Schiedsstelle an, ergeht zunächst eine erneute Schiedsstellenentscheidung, die dann wiederum von der Behörde zu genehmigen ist,45 um anschließend gegebenenfalls gerichtlich überprüft zu werden. Insgesamt führt die Erforderlichkeit einer behördlichen Genehmigung zu einer deutlichen zeitlichen Verzögerung im Kontext der Festsetzung neuer Pflegesätze. Diese zeitliche Verzögerung wird auch nicht etwa – so ließe sich einwenden – durch den gesetzlich normierten Wegfall des Widerspruchsverfahrens kompensiert. Ein Vorverfahren ist in den meisten Verfahrensregelungen für Schiedsstellen unabhängig von der Frage der Genehmigungsbedürftigkeit ohnehin nicht vorgesehen: Entweder ist es ausdrücklich46 oder mittelbar47 ausgeschlossen oder aber der Ausschluss ergibt sich aus der Tatsache, dass es für die verschiedenen Schiedsstellen keine Widerspruchsstelle im Sinne des SGG oder der VwGO gibt und der Sinn des Widerspruchsverfahrens daher nicht erfüllt werden kann.48
Zum Prüfungsumfang ausführlich unter V.3. Hierzu Möller, das Krankenhaus 2008, 610. 45 Auch dies ist keinesfalls ein Automatismus, sondern hängt vielmehr davon ab, ob die Behörde ihre Entscheidung hinreichend konkret und hinreichend ausführlich begründet hat (hierzu V.4.). 46 Vgl. etwa, § 85 Abs. 5 S. 4 SGB XI oder § 115 Abs. 3 S. 4 SGB XI. 47 So etwa bei § 89 SGB V, wo nur die Rede ist von der fehlenden aufschiebenden Wirkung der Klage. 43 44
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2. Konsequenzen der Unverbindlichkeit für die Verhandlungstaktik Ganz unabhängig von der zeitlichen Verzögerung darf ein weiterer tatsächlicher Effekt des Genehmigungserfordernisses nicht unterschätzt werden. Wenn die Vertragsparteien wissen, dass es nach dem eigentlichen Schiedsstellenverfahren gleichsam eine „zweite“ Verhandlungsrunde bei der Behörde gibt und der Schiedsspruch allein unmittelbar keinerlei rechtliche Wirkungen herbeiführen kann, mag dies ein Grund für mögliches taktisches Verhalten aller Beteiligten sein. Das Engagement für einen erfolgreichen Abschluss des Schiedsstellenverfahrens wird zwangsläufig deutlich reduziert: Was hier nicht gelingt, kann im anschließenden – und eigentlich entscheidenden – behördlichen Verfahren schließlich noch korrigiert werden.49 Nicht selten wird dann über eine Einflussnahme auf die Genehmigungsbehörde versucht, die Entscheidung der Schiedsstelle nicht zur Wirksamkeit gelangen zu lassen. Die Genehmigungsbehörde, die im Krankenhausfinanzierungsrecht eine entscheidende Rolle spielt, muss sich daher äußerst neutral verhalten und darf unter keinen Umständen „in die Nähe der Vertragsparteien rücken“.50 Vor diesem Hintergrund kann es im Übrigen zu einem gleichsam doppelten „Abschiebungseffekt“ kommen: Die Vertragsparteien schieben die Verantwortung auf die Schiedsstelle und diese wiederum auf die Behörde.51
IV. Rechtliche Konsequenzen der Unverbindlichkeit Das im Krankenhausfinanzierungsrecht vorgesehene Genehmigungserfordernis hat jedoch auch unmittelbare rechtliche Konsequenzen; hier spannt sich der Bogen von grundlegenden dogmatischen Fragestellungen des Allgemeinen Verwaltungsrechts bis hin zur Amtshaftung.
1. Zur Rechtsnatur der Schiedsstelle und ihrer Entscheidung Nicht wirklich überzeugend geklärt ist aufgrund des Genehmigungserfordernisses zunächst die Rechtsnatur der Schiedsstelle selbst sowie der von ihr getroffenen Entscheidungen. Während Rechtsprechung und Literatur in anderen Bereichen des Sozialrechts seit jeher die Verwaltungsaktsqualität des Schiedsspruchs bejahen,52 wurde über die Rechtsqualität der Festsetzung der Pflegesätze im Krankenhaus48 Es überrascht daher nicht, dass das BSG auf die Durchführung eines Vorverfahrens als Klagevoraussetzung „verzichtet“ hat (SozR 3-2500 § 109 Nr. 2, S. 17). Dogmatisch korrekt ergibt sich diese Ansicht wohl eher aus dem Rechtsgedanken des § 78 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGG. 49 Zutreffend daher Schütte, NDV 2005, 250. 50 So zu Recht Möller, das Krankenhaus 2008, 610. 51 So Gitter (Fn. 28), S. 97. 52 Vgl. nur BSGE 87, 199 ff. m. w. N.; ausführlich auch Becker, SGb 2003, 718.
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finanzierungsrecht lange gestritten. Zwar hat das BVerwG schon 1993 festgestellt, dass es sich bei der Festsetzung der Pflegesätze durch die Schiedsstelle um einen nicht anfechtbaren, internen Mitwirkungsakt handele, der dem maßgeblichen Genehmigungsakt nach § 18 Abs. 5 KHG vorgeschaltet sei.53 Dabei hat das Gericht ausdrücklich offen gelassen, ob die Schiedsstelle als Behörde im Sinne der §§ 1 Abs. 4, 35 VwVfG angesehen werden kann – jedenfalls fehle es am Merkmal der „unmittelbaren Rechtswirkung nach außen“. Da die neuen Pflegesätze erst mit der Genehmigung der Schiedsstellenvereinbarung durch die Behörde Verbindlichkeit erlangten, komme allein dieser Genehmigung die den Verwaltungsakt kennzeichnende Außenwirkung zu.54 Diese Einschätzung, die naturgemäß seit 1993 die Rechtspraxis prägt, bedarf jedoch einer näheren Überprüfung. Beginnen wir zunächst mit der Rechtsnatur der Schiedsstelle selbst. Diese hat unmittelbare Auswirkungen auf die Rechtsnatur der Schiedsstellenentscheidung und damit auch für das maßgebliche Verfahrensrecht. Einig ist man sich darin, dass eine Schiedsstelle keine juristische Person und auch kein Organ einer Körperschaft ist.55 Auch ist die Schiedsstelle keine Behörde im organisationsrechtlichen Sinne.56 Nicht so einfach dürfte der Schiedsstelle jedoch die Eigenschaft als Behörde im Sinne des Verwaltungsverfahrensgesetzes abzusprechen sein.57 Gemäß § 1 Abs. 4 VwVfG ist Behörde jede Stelle, die Aufgaben öffentlicher Verwaltung wahrnimmt. Das VwVfG geht von einem weiten Behördenbegriff aus. Ohne Rücksicht auf die konkrete Bezeichnung als Behörde sind alle vom Wechsel der in ihnen tätigen Personen unabhängigen, mit hinreichender organisatorischer Selbständigkeit58 ausgestatteten Einrichtungen erfasst, die nach außen hin Aufgaben öffentlicher Verwaltung wahrnehmen.59 Kaum jemand wird wirklich bestreiten wollen, dass die Schiedsstelle Aufgaben öffentlicher Verwaltung wahrnimmt – schließlich handelt es sich bei ihr um eine vom Gesetzgeber staatlich vorgegebene Konfliktlösungsstelle, die sich mit öffentlich-rechtlichen Vorschriften auseinander setzen muss.60 Da eine zivilrechtliche Deutung der Pflegesatzvereinbarung nicht mehr ernsthaft zur Diskussion steht,61 darf auch die Beschreibung der Schiedsstelle als sachnahes und unabhängiges Gremium, das einen Interessenausgleich vornimmt,62 nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich nicht wirklich um eine BVerwGE 94, 301. BVerwGE 94, 301. 55 Gitter, Gedächtnisschrift Heinze, 2005, S. 257 zur Schiedsstelle im Pflegeversicherungsrecht. 56 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl. 2006, § 21 Rn. 32. 57 Zu dieser Thematik auch Düring (Fn. 3), S. 66 ff. 58 Auch diese wird man angesichts der Tatsache, dass die Schiedsstelle von einer eigenen Geschäftsstelle betreut wird, bejahen müssen. 59 Vgl. nur Kopp / Ramsauer, VwVfG, 10. Aufl. 2008, § 1 Rn. 51 m. w. N. 60 Tuschen / Trefz (Fn. 18), S. 310. 61 Vgl. hierzu nur BSGE 51, 108. 62 BSGE 87, 202. 53 54
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vertragliche Schlichtungsstelle handelt und die Schiedsstelle schon gar nicht in das Gleichordnungsverhältnis der Parteien zueinander eintritt.63 Die Schiedsstelle trifft im Rahmen der Anträge und unter Beachtung des maßgeblichen öffentlichen Krankenhausfinanzierungsrechts eine eigenständige Festsetzung, und diese Festsetzung erfolgt unter Umständen nicht nur gegen den Willen einer, sondern möglicherweise auch beider Vertragsparteien. Insofern hat sie sich von einem reinen Vertragshilfeorgan zu einem quasi-gerichtlichen Spruchkörper entwickelt.64 Allenfalls das in der Legaldefinition jedenfalls nach überwiegender Ansicht65 enthaltene Kriterium der Außenwirkung66 scheint angesichts der Genehmigungsbedürftigkeit des Schiedsstellenbeschlusses Probleme zu bereiten. Es ist sicherlich zutreffend, dass sich das VwVfG nicht mit den interna der Verwaltung befasst; andererseits geht es bei der Schiedsstellentätigkeit, die nach der Gesetzeskonzeption von einer Vertragspartei beantragt werden muss, trotz der erforderlichen Genehmigung um weit mehr als nur intern wirkende Weisungen.67 Zwar erlangt der Schiedsspruch ohne Genehmigung keine Rechtswirksamkeit, andererseits ist die Behörde – wenn sie denn eingeschaltet wird – an das Genehmigungssubstrat Schiedsspruch gebunden.68 Man wird daher der Schiedsstelle die Anerkennung als Behörde kaum verweigern können;69 ob die von ihr vorgenommene Festsetzung der Pflegesätze als Verwaltungsakt klassifiziert werden kann, ist eine Frage, die nicht am Maßstab des § 1 Abs. 4 VwVfG, sondern unter Zugrundelegung der in § 35 VwVfG enthaltenen Kriterien zu entscheiden ist. Mit der Qualifizierung der Schiedsstelle als Behörde im Sinne des § 1 Abs. 4 VwVfG ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die Bewertung ihrer Festsetzung als Verwaltungsakt erfüllt. Im Kontext des § 35 VwVfG bestehen Bedenken gegen das Merkmal der „unmittelbaren“ Außenwirkung der Schiedsstellenfestsetzung. Da diese Rechtswirksamkeit – ihre Wirkung nach außen nach dem eben Gesagten unterstellt – erst dann eintritt, wenn die zuständige Landesbehörde die Festsetzung genehmigt, könnte der Eindruck entstehen, dass die Schiedsstelle der Behörde allenfalls eine Art „Vorschlag“ unterbreitet. In diesem Sinne ließe sich auch die Rechtsprechung des BVerwG deuten, das von einem „internen Mitwirkungsakt“70 spricht. Allerdings wäre eine solche Einschätzung nur schwerlich 63 In diesem Sinne allerdings von Boetticher / Tammen, in: Beiträge zum Recht der Sozialen Dienste und Einrichtungen, Heft 54, 2003, S. 35 im Kontext des Sozialhilferechts. 64 Tuschen / Quaas, Bundespflegesatzverordnung, 5. Aufl. 2001, S. 383. 65 Nur am Rande sei bemerkt, dass die Norm des § 1 Abs. 4 VwVfG hier bereits teleologisch reduziert wird – als Behörde soll letztlich nur das gelten, auf was die Vorschriften des VwVfG „passen“; kritisch daher zu Recht Kisker (Fn. 13), S. 25. 66 Kopp / Ramsauer (Fn. 59), § 1 Rn. 52 sprechen vom „außenwirksamen Handeln“. 67 Düring (Fn. 3), S. 69. 68 Hierzu auch V.2. 69 So auch die wohl h. M. (vgl. Becker, SGb 2003, 718 m. w. N.; vgl. auch Gottlieb, NDV 2001, 261 m. w. N. zum Sozialhilferecht). 70 BVerwGE 93, 301.
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mit dem Verhältnis von Schiedsstelle und Behörde, insbesondere mit dem noch näher zu erörternden Beurteilungsspielraum der Schiedsstelle zu vereinbaren,71 der nach herrschender Ansicht die Kontrolldichte sowohl der Behörde als auch der Verwaltungsgerichte deutlich beschränkt. Auch die Terminologie des § 18 Abs. 4 KHG deutet auf den Erlass eines Verwaltungsakts hin – mit genau demselben Wortlaut („setzt . . . fest“) wurde bis 1984 die Festsetzung durch die Landesbehörde beschrieben – und diese war unstreitig ein Verwaltungsakt. Im Übrigen steht es der Anerkennung von Außenwirkung nicht entgegen, dass eine Entscheidung als Verwaltungsakt der Genehmigung einer anderen Behörde bedarf – hierbei handelt es sich um eine Rechtsfigur, die dem deutschen Verwaltungsrecht keinesfalls fremd ist.72 Dass dem Schiedsstellenspruch fast einhellig die Verwaltungsaktsqualität abgesprochen wird, dürfte deshalb vor allem den gesetzlichen Aussagen zum Rechtsschutz geschuldet sein. Wenn § 18 Abs. 5 S. 2 KHG bestimmt, dass gegen die Genehmigung der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist, führt dies zu dem Schluss, dass der Rechtsschutz nur gegen die Genehmigung bzw. Versagung der Festsetzung durch die Behörde zulässig sein soll. Wenn dem so ist – und vieles spricht ganz unabhängig von der Verwaltungsaktsqualität der Schiedsstellenfestsetzung gegen eine auch ökonomisch unsinnige Verdoppelung der Rechtsschutzmöglichkeiten –, dann kann daraus doch nur gefolgert werden, dass der Gesetzgeber davon ausgegangen ist, dass die Festsetzung selbst kein Verwaltungsakt sein kann. Auf die Sinnhaftigkeit dieser Argumentation ist an dieser Stelle nicht weiter einzugehen – schließlich ist es nicht die Vorstellung des Gesetzgebers, sondern die Legaldefinition des § 35 VwVfG, die über die Verwaltungsaktsqualität der Schiedsstellenfestsetzung entscheidet. Letztlich ließe sich die Schiedsstellenfestsetzung daher – entgegen der herrschenden Auffassung in Rechtsprechung und Literatur – durchaus als Verwaltungsakt qualifizieren.73
2. Das maßgebliche Verfahrensrecht; insbesondere: der Untersuchungsgrundsatz Folgt man der herrschenden Auffassung, nach der es sich bei der Schiedsstellenentscheidung aufgrund der fehlenden unmittelbaren Außenwirkung nicht um einen Verwaltungsakt und im Übrigen auch nicht um den Abschluss eines öffentlichrechtlichen Vertrags74 handelt, scheiden die denkbaren Verwaltungsverfahrensgesetze als maßgebliches Verfahrensrecht für die Schiedsstelle aus. Die Verwaltungsverfahrensgesetze definieren als „Verwaltungsverfahren im Sinne dieses Hierzu unter V.3. Hierzu Maurer (Fn. 56), § 9 Rn. 30. 73 So auch schon Kisker (Fn. 13), S. 30; zur Doppelnatur der Entscheidung auch Quaas (Fn. 16), S. 110. 74 Die Vertragsparteien schließen bei entsprechender Einigung einen öffentlich-rechtlichen Vertrag; die Schiedsstelle dagegen trifft – auch gegen den Willen einer oder beider Parteien – eine Festsetzung. 71 72
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Gesetzes“ die nach außen wirkende Tätigkeit der Behörden, die auf die Prüfung der Voraussetzungen, die Vorbereitung und den Erlass eines Verwaltungsakts oder auf den Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrags gerichtet ist.75 Die weite Auslegung der zitierten Vorschriften, die das eigentliche Verfahren vom Erlass des Verwaltungsakts trennt,76 überzeugt nicht. Faktisch trifft das förmliche Gesetz damit nur sehr begrenzte Aussagen zu den zu beachtenden Verfahrensgrundsätzen.77 Allerdings verweisen die aufgrund von § 18a Abs. 4 KHG erlassenen Rechtsverordnungen in der Regel auf das jeweilige Verwaltungsverfahrensgesetz – so etwa § 9 Abs. 6 der Hamburgischen Pflegesatz-Schiedsstellenverordnung,78 der bestimmt: „Im Übrigen finden auf das Verfahren vor der Schiedsstelle die Vorschriften des Hamburgischen Verwaltungsverfahrensgesetzes . . . in der jeweils geltenden Fassung Anwendung.“ In Konsequenz dessen sind im Schiedsstellenverfahren – unabhängig von der vermeintlich fehlenden Verwaltungsaktsqualität der Schiedsstellenfestsetzung – die Vorschriften des VwVfG, etwa zur Befangenheit der Schiedsstellenmitglieder, zu beachten.79 Insoweit überrascht es nicht, dass über viele Jahre hinweg gerade auch der das Verwaltungsverfahrensrecht prägende Untersuchungsgrundsatz als maßgeblich für das Schiedsstellenverfahren gewertet wurde.80 Gemäß § 24 VwVfG ermittelt die Behörde den Sachverhalt von Amts wegen; sie bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen und ist an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden. Die Behörde hat alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch für die Beteiligten günstigen Umstände zu berücksichtigen. Nach dieser Auffassung müsste die Schiedsstelle sämtliche von den Beteiligten streitig gestellten Punkte im Einzelnen aufklären, um dann eine Festsetzung vornehmen zu können. Eine jüngst ergangene Entscheidung des BVerwG hat hier jedoch eine überraschende Wende gebracht, wobei das Urteil im Detail mehr Fragen als Antworten gebracht haben dürfte. Das BVerwG hat ausdrücklich festgestellt, dass der UntersuchungsVgl. etwa § 9 HmbVwVfG. In diesem Sinne Quaas (Fn. 16), S. 102 – die Schiedsstelle würde schließlich in einem Verfahren tätig, das später in einem Verwaltungsakt – nämlich der Genehmigung – ende. Diese Sichtweise erscheint schon deshalb zweifelhaft, weil die Anrufung der Behörde nicht zwingend ist und auch in der Praxis keineswegs immer erfolgt. Insofern zielt die Tätigkeit der Schiedsstelle – auch bei einem weiten Verständnis – nicht auf den Erlass eines Verwaltungsakts. 77 Ebenso Manssen, ZFSH / SGB 1997, 83. Vereinzelte Aussagen finden sich dabei nur in den Fachgesetzen. So ist etwa in § 13 Abs. 1 KHEntgG geregelt, dass die Schiedsstelle nur auf Antrag tätig werden darf; § 13 Abs. 2 KHEntgG enthält – wenn auch nur als Sollvorschrift – eine Sechs-Wochen-Frist. 78 Vom 11. Mai 1993 (HmbGVBl. S. 93). 79 Im Einzelnen zum Verfahren vgl. auch Heinze, in: Heinze / Wagner, Die Schiedsstelle des Krankenhausfinanzierungsrechts, 1989, S. 64 ff. 80 Beispielhaft Quaas (Fn. 16), S. 104 f. oder Manssen, ZFSH / SGB 1997, 85 f.; allerdings hat es auch hier bereits früh berechtigte Kritik gegeben – vgl. etwa Heinze (Fn. 79), S. 77 mit Blick auf § 8 Abs. 2 der Hamburgischen Pflegesatz-Schiedsstellenverordnung. 75 76
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bzw. Amtsermittlungsgrundsatz auf das Schiedsstellenverfahren nicht anwendbar sei.81 Die rechtliche Struktur des Schiedsstellenverfahrens schließe es aus, § 24 VwVfG zur Anwendung zu bringen; das gesamte Verfahren sei vielmehr seiner ganzen Anlage nach durch den Beibringungsgrundsatz geprägt. Bereits die paritätische Zusammensetzung der Schiedsstelle mit Vertretern der Krankenhaus- und der Krankenkassenseite mit einem neutralen Vorsitzenden weise in diese Richtung;82 der Interessengegensatz, der die Pflegesatzverhandlungen präge, würde damit auch in der Zusammensetzung der Schiedsstelle sichtbar. Hieraus müsse gefolgert werden, dass auch im Schiedsstellenverfahren jede Seite ihre Position darlegen müsse, wenn sie Gehör finden wolle. Hinzu kommt nach Auffassung des BVerwG die Bindung der Schiedsstelle an die für die Vertragsparteien geltenden Rechtsvorschriften. Hieraus sei zu folgern, dass auch die den Pflegesatzparteien im Verhandlungsverfahren auferlegten Vorlage- und Mitwirkungspflichten im Schiedsstellenverfahren zu beachten seien.83 Schließlich entscheide die Schiedsstelle nur über die streitig gebliebenen Punkte – auch dies verlange daher eine substantiierte Darlegung – und müsse dies innerhalb von nur sechs Wochen tun. Dies sei ausgeschlossen, wenn die Schiedsstelle das medizinisch leistungsgerechte Budget ohne substantiierte Darlegung der Parteien selbst ermitteln müsse. Unabhängig von der Frage, ob die Argumentation in allen Punkten überzeugt,84 dürfte diese Rechtsprechung für die Schiedsstellen zunächst eine erhebliche Arbeitserleichterung bedeuten. In Schiedsstellenverfahren geht es häufig um sehr komplexe Zusammenhänge, deren Kenntnis mitunter nur einem begrenzten Personenkreis überhaupt bekannt ist.85 Mitunter gelingt es selbst mit Hilfe der parteiischen Mitglieder nicht, den Sachverhalt vollständig aufzuklären, so dass der letztlich allein entscheidende Vorsitzende in gewissem Umfang mit Vermutungen arbeiten muss. In rechtlicher Hinsicht ist die Kenntnis der maßgeblichen verfahrensrechtlichen Vorgaben für die Rechtmäßigkeit der Schiedsstellenfestsetzung jedenfalls dann von entscheidender Bedeutung, wenn die Verfahrensgrundsätze disharmonieren oder miteinander kollidieren.86 Auch wenn sich die jeweiligen, von unterschiedlichen Prinzipien geprägten Verfahrensordnungen nach jüngsten Gesetzesreformen verstärkt aufeinander zubewegen – man denke an verstärkte Präklusionsvorschriften wie § 87b VwGO einerseits und verstärkte Hinweispflichten etwa in § 139 ZPO andererseits – und in der Praxis die Grenzen mitunter bis zur UnkenntlichBVerwGE 124, 209 ff. BVerwGE 124, 209 (213). 83 Maßgebend war im konkreten Verfahren § 19 Abs. 1 S. 2 BPflV. 84 Zustimmend Möller, das Krankenhaus 2008, 613. 85 Zu Recht Manssen, ZSFH / SGB 1997, 85: Je komplexer der Sachverhalt, je höher sind die Mitwirkungspflichten. 86 Vgl. auch Wagner, in: Heinze / Wagner, Die Schiedsstelle des Krankenhausfinanzierungsrechts, 1989, S. 108. 81 82
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keit87 verschwimmen,88 stellt sich aufgrund der jüngsten Rechtsprechung des BVerwG die Frage, ob das bislang eher vom öffentlichen Recht her gedachte Schiedsstellenverfahren doch zu modifizieren ist. Von praktischer Relevanz wäre hierbei etwa die Frage, ob das Vorbringen einer Partei als verspätet zurückgewiesen werden kann, ohne dass die Versagung der Genehmigung wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs zu befürchten ist.89 Angesichts der Tatsache, dass im Verlaufe eines Schiedsstellenverfahrens Sachverhalte streitig gestellt werden, die im Rahmen der Verhandlungen und unter Umständen auch zu Beginn des Verfahrens vor der Schiedsstelle konsentiert waren, wäre eine Beantwortung dieser Frage überaus hilfreich. Im Detail ist hier noch vieles ungeklärt – das Urteil des BVerwG kann hier aber wertvolle Anregungen für weitere Überlegungen geben. 3. Kein Rechtsschutz gegen die Schiedsstellenfestsetzung Kraft gesetzlicher Anordnung ist der Schiedsspruch von den Vertragsparteien nicht anfechtbar. § 18 Abs. 5 S. 2 und 3 KHG bestimmt: „Gegen die Genehmigung ist der Verwaltungsrechtsweg gegeben. Ein Vorverfahren findet nicht statt; die Klage hat keine aufschiebende Wirkung.“ Auch wenn mit dieser Formulierung der Rechtsschutz gegen die Festsetzung der Schiedsstelle nicht wirklich ausdrücklich ausgeschlossen ist, dürfte die Regelung nach ihrem Sinn und Zweck und auch unter Berücksichtigung ihrer Entstehungsgeschichte 90 dahingehend auszulegen sein, dass nur gegen die Genehmigung der Rechtsweg eröffnet ist. Eine Verdoppelung des Rechtsschutzes dahingehend, dass sowohl gegen die Festsetzung selbst als auch gegen die Genehmigung bzw. Versagung geklagt werden könnte, wäre nicht nur in ökonomischer, sondern auch rechtlicher Hinsicht wenig sinnvoll. Die Beschränkung des Rechtsschutzes auf die behördliche Entscheidung ist mit verfassungsrechtlichen Vorgaben vereinbar. Insbesondere Art. 19 Abs. 4 GG ist nicht verletzt, weil jedenfalls hinsichtlich der behördlichen Genehmigung oder Versagung der Rechtsweg zu den Gerichten offen steht. Hier drängt sich eine Parallele zu § 44a VwGO förmlich auf: Wenn Verfahrenshandlungen – unabhängig von ihrer Verwaltungsaktsqualität – nicht selbständig anfechtbar sind, bestehen keine Bedenken dahingehend, den vom BVerwG als „internen Mitwirkungsakt“ bezeichneten Schiedsstellenspruch als unanfechtbar anzusehen.91 Zu beachten ist zudem die genaue Wortwahl des Gesetzgebers: Klagegegenstand ist die Genehmigung als solche, nicht etwa die „genehmigte Festsetzung“. Klagegegner im gerichtlichen Verfahren ist damit nach dem Rechtsträgerprinzip92 der 87 88 89 90 91 92
So Manssen, ZFSH / SGB 1997, 86. So zutreffend Becker, SGb 2003, 713. Hierzu auch schon Heinze (Fn. 79), S. 74; Wagner (Fn. 86), S. 114. Manssen, ZFSH / SGB 1997, 88. Hierzu auch Manssen, ZFSH / SGB 1997, 88. § 78 VwGO; hierzu Kopp / Schenke, VwGO, 15. Aufl. 2007, § 78 Rn. 3.
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Träger der Landesbehörde, die die Festsetzung der Schiedsstelle genehmigt hat bzw. die Genehmigung versagt hat. Die Schiedsstelle selbst ist aufgrund des Genehmigungserfordernisses – anders als in anderen Bereichen des Sozialrechts – am gerichtlichen Verfahren gar nicht beteiligt. Nicht überzeugen kann vor diesem Hintergrund im Übrigen die in der Praxis häufig anzutreffende Beiladung der Schiedsstelle gemäß § 65 VwGO: Weder hat die Schiedsstelle rechtliche Interessen, die von der Gerichtsentscheidung berührt werden könnten, noch ist sie als Dritte am streitigen Rechtsverhältnis derart beteiligt, dass die Entscheidung auch ihr gegenüber nur einheitlich ergehen könnte.93 Denkbar ist allenfalls die Klage auf Erlass einer Schiedsentscheidung. Da ein Genehmigungsantrag an die zuständige Landesbehörde nur bei vereinbarten oder festgesetzten Pflegesätzen erfolgen kann, wären die Vertragsparteien im Fall fehlender Einigung und einer Verweigerung der Schiedsstelle ansonsten rechtsschutzlos gestellt. In diesem – wohl nur theoretischen – Fall stünde den Parteien die allgemeine Leistungsklage auf Verpflichtung der Schiedsstelle zum Tätigwerden offen.94 4. Amtshaftung Erstaunlich wenig Beachtung gefunden hat im Kontext der sozialrechtlichen Schiedsstellenthematik die Frage der Amtshaftung.95 Die Bewertung der Schiedsstellenentscheidung als „interner Mitwirkungsakt“96 könnte zu der Einschätzung verleiten, dass diese Thematik für die Schiedsstelle nach § 18a KHG ohne Bedeutung sei. Angesichts der Tatsache, dass die Schiedsstelle Aufgaben öffentlicher Verwaltung wahrnimmt und dabei hoheitlich agiert,97 dürfte jedoch außer Frage stehen, dass die Mitglieder der Schiedsstellen – unabhängig von der Verwaltungsaktsqualität der Festsetzung – Amtspflichten wahrnehmen, deren Beachtung auch und gerade dem Schutz Dritter, nämlich der Vertragsparteien, dient. Schadensersatzpflichten sind deshalb nicht nur für den Fall denkbar, dass ein Mitglied den Sitzungen unentschuldigt fernbleibt;98 auch die – schuldhafte – rechtswidrige Festsetzung der Pflegesätze könnte Ansprüche aus § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG auslösen. Da die Vertragsparteien gegen die sich anschließende Genehmigung bzw. der Versagung der Festsetzung durch die Behörde Rechtsmittel einlegen können, dürfte eine Schadensersatzklage gegen die Träger der Schiedsstelle, d. h. gegen 93 Quaas (Fn. 16), S. 122; vgl. auch Gottlieb, NDV 2001, 261 im Kontext des Sozialhilferechts; vgl. aber auch Düring (Fn. 3), S. 146. 94 Zutreffend Manssen, ZFSH / SGB 1997, 88. 95 Vgl. etwa die Anmerkungen von Düring (Fn. 3), S. 96 und 99; Quaas (Fn. 16), S. 101 f. 96 BVerwGE 94, 301. 97 Hierzu schon oben IV.1. 98 Vgl. etwa Becker, SGb 2003, 669.
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den jeweiligen Landesverband der Krankenkassen und die Landeskrankenhausgesellschaft, in den meisten Fällen jedoch bereits an § 839 Abs. 3 BGB scheitern.99
V. Im Besonderen: Das Verhältnis der Schiedsstelle zur Genehmigungsbehörde 1. Allgemeines Aufgrund der Genehmigungsbedürftigkeit der Schiedsstellenfestsetzung im Krankenhausfinanzierungsrecht ist das Verhältnis zwischen Schiedsstelle einerseits und Behörde andererseits von entscheidender Bedeutung. Zu klären sind zunächst die gesetzlichen Kompetenzen der Behörde im Genehmigungsverfahren, wobei auch die Frage der Kontrolldichte, die sich im Übrigen auch im Verhältnis zum Verwaltungsgericht stellt, zu beantworten ist. In der Praxis bedeutsam ist aber auch der Umgang mit der Vorschrift des § 14 Abs. 3 KHEntgG, die die Schiedsstelle verpflichtet, nach Versagung der Genehmigung auf Antrag unter Beachtung der Rechtsauffassung der Genehmigungsbehörde erneut zu entscheiden.
2. Keine Ersatzvornahme durch die Genehmigungsbehörde Gemäß § 18 Abs. 5 KHG werden die festgesetzten Pflegesätze von der zuständigen Landesbehörde genehmigt, wenn sie den Vorschriften dieses Gesetzes und sonstigem Recht entsprechen. Der Genehmigungsbehörde ist damit nur die Alternative zugebilligt, die Pflegesatzfestsetzung, sofern diese geltendem Recht entspricht, zu genehmigen oder aber die Genehmigung wegen Rechtswidrigkeit der Festsetzung zu versagen. Eine Korrekturbefugnis der Landesbehörde, eine aus ihrer Sicht fehlerhafte Festsetzung „nachzubessern“, sieht das Gesetz damit nicht vor.100 Dies war bis zur Entscheidung des BVerwG aus dem Jahr 1993101 umstritten; bis dahin wurde vereinzelt die Auffassung vertreten, dass aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes auch die Genehmigung eines vom Schiedsstellenbeschluss abweichenden Pflegesatzes möglich sein sollte.102 Für eine derartige „Ersatzvornahme“ lässt der eindeutige Gesetzeswortlaut jedoch keinen Raum103 – weder eine abweichende Gestaltung der Entscheidung noch die Erteilung einer Teilgenehmigung sind zulässig. Dies gilt auch dann, wenn sich die Rechtswidrigkeit nur auf einzelne Gegenstände erstreckt – auch in diesem Fall ist die Genehmigung der Festsetzung insgesamt zu versagen. Hierzu Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl. 1998, S. 92 ff. BVerwGE 91, 363 (368). 101 BVerwGE 91, 363 ff. 102 So noch VGH Baden-Württemberg DVBl. 1990, 996 als Vorinstanz. 103 Dietz / Bofinger (Fn. 29), § 14 KHEntgG Anm. I.7. 99
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3. Rechtskontrolle und Beurteilungsspielraum der Schiedssstelle Bei der Kontroll- und Prüfungskompetenz der Behörde handelt es sich um eine reine Rechtskontrolle im Rahmen gebundener Verwaltungstätigkeit. Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn der Schiedsspruch dem geltenden Recht entspricht; ist dies nicht der Fall, ist die Genehmigung zu versagen. Im Basiskonflikt zwischen Selbstverwaltung und staatlicher Steuerung kommt damit der Kontrolldichte der Behörde entscheidende Bedeutung zu. Gemäß § 19 Abs. 1 S. 2 BPflV und § 13 Abs. 1 S. 2 KHEntgG ist die Schiedsstelle bei der Festsetzung der Pflegesätze „an die für die Vertragsparteien geltenden Rechtsvorschriften gebunden“. Die Schiedsstelle hat also dieselben rechtlichen Grenzen zu beachten, die auch für die Pflegesatzparteien selbst im Fall der Regelung durch Vereinbarung gelten. Innerhalb dieser Grenzen hat die Schiedsstelle aber auch die ansonsten den Vertragsparteien zukommenden Gestaltungsmöglichkeiten,104 mit anderen Worten: Was von den Vertragsparteien selbst rechtmäßig hätte vereinbart werden dürfen, ist als Festsetzung durch die Schiedsstelle ebenso rechtmäßig. Im Ergebnis billigt die Rechtsprechung der Schiedsstelle damit einen weiten Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum zu, der sich allerdings – dies ist selbstverständlich –im Rahmen der gesetzlichen Regelungen und der gestellten Anträge bewegt. In sämtlichen Bereichen der Entgelt-, der Budget- und der Pflegesatzermittlung, welche die budget- und pflegesatzrelevanten Kosten als Ausgangsbasis und die darauf bezogene Überzeugungsbildung zum Gegenstand haben, ist die Schiedsstelle deshalb ebenso frei in ihrer Einschätzung wie es die Vertragsparteien im Fall einer vertraglichen Vereinbarung wären.105 Diese Einschätzung ist schon vor dem Hintergrund gerechtfertigt, dass es sich bei Pflegesatzvereinbarungen – und damit auch den Festsetzungen der Schiedsstelle – häufig um so genannte Paketlösungen handelt, bei der die einzelnen Bereiche nicht losgelöst voneinander betrachtet werden dürfen. Hinzu kommt, dass die Schiedsstelle – wie die Vertragsparteien – in erheblichem Umfang Prognoseentscheidungen treffen muss; für solche in die Zukunft gerichtete Entscheidungen muss zwangsläufig ein gewisser Beurteilungsspielraum eingeräumt werden. Die Genehmigungsbehörde – und ggf. ihr nachfolgend das Verwaltungsgericht – ist daher darauf beschränkt, das ihr vorliegende Genehmigungssubstrat daraufhin zu überprüfen, ob es den in den Fachgesetzen vorgeschriebenen verfahrensrechtlichen und materiell-rechtlichen Vorschriften genügt. Die von der Sache her zutreffende Gewährung eines weiten Gestaltungs- und Beurteilungsspielraums bereitet nicht nur in der Praxis mitunter erhebliche Probleme. So manche Landesbehörde mag hier – zu Recht – ihren Einfluss auf die Krankenhausfinanzierung schwinden sehen und deshalb zu einer Überschreitung der Kontrollgrenzen neigen – ein solches Vorgehen ist jedoch vom 104 105
BVerwGE 105, 97 (100). Möller, das Krankenhaus 2008, 615.
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Gesetz nicht gedeckt und müsste jedenfalls vom Verwaltungsgericht korrigiert werden. In dogmatischer Hinsicht zeigt sich an dieser Stelle erneut das grundlegende Dilemma zwischen gesetzlich gewollter Selbstverwaltung und der noch im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens durchgesetzten staatlichen Kontrolle. Wer der Festsetzung durch die Schiedsstelle als „internen Mitwirkungsakt“ deklassiert, gleichzeitig aber die Kontrolldichte der Behörden und Gerichte derart begrenzt, gerät jedenfalls in Rechtfertigungszwang. Aufgrund des Beurteilungsspielraums kommt der Entscheidung der Schiedsstelle letztlich doch eine so erhebliche Bedeutung zu, dass von einer „internen Mitwirkung“ nicht wirklich die Rede sein kann. 4. Im Besonderen: Die Bindung der Schiedsstelle im Verfahren nach § 14 Abs. 3 KHEntgG Wird die Genehmigung von der Behörde versagt, bestimmt § 14 Abs. 3 KHEntgG, dass die Schiedsstelle auf Antrag verpflichtet ist, unter Beachtung der Rechtsauffassung der Behörde erneut zu entscheiden. Diese Regelung, die vom BVerwG im Übrigen auf die gerichtliche Überprüfung entsprechend angewandt wird,106 dient der Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens, bereitet in der Praxis allerdings mitunter Probleme. Ruft eine der Vertragsparteien nach Versagung der Genehmigung erneut die Schiedsstelle an, so soll die von der Behörde „entschiedene“ Rechtsfrage im neuen Verfahren kein Streitpunkt mehr sein. § 14 Abs. 3 KHEntgG stellt eine Ausnahme von der grundsätzlich gegebenen Weisungsfreiheit der Schiedsstellenmitglieder dar – die Schiedsstelle muss die Auffassung der Behörde im neuen Verfahren auch dann zugrunde legen, wenn sie diese Rechtsauffassung nicht teilt.107 Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn der Versagungsbescheid an so schwerwiegenden Fehlern leidet, dass er als nichtig angesehen werden müsste. Das vom Gesetzgeber angestrebte Beschleunigungsziel kann allerdings nur dann erreicht werden, wenn die Genehmigungsbehörde die Festsetzung umfassend prüft und die von ihr als rechtswidrig erachteten Aspekte konkret benennt. Bei den in der Praxis mitunter anzutreffenden Hinweisen im Versagungsbescheid dergestalt, dass „schon aus diesem Grunde“ die Genehmigung zu versagen oder „jedenfalls dieser Teil der Festsetzung“ als rechtswidrig zu beanstanden sei, sind dritte und sogar weitere Verhandlungsrunden nicht auszuschließen.108 Es ist daher von ent106 BVerwG NZS 2003, 674; die Rechtsauffassung des Gerichts tritt dann an die Stelle der Rechtsauffassung der Genehmigungsbehörde im Sinne des § 20 Abs. 3 BPflV. 107 Die Bindung gilt dabei nicht für die Vertragsparteien selbst – einigen sie sich ohne erneute Anrufung der Schiedsstelle, können sie also auch eine anderweitige Vereinbarung treffen. Selbstverständlich ist auch das Verwaltungsgericht an die Rechtsauffassung der Behörde nicht gebunden. 108 Dietz / Bofinger (Fn. 29), § 14 KHEntgG Anm. III.4.
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scheidender Bedeutung, dass die Behörde ausdrücklich klarstellt, dass die Festsetzung im Übrigen rechtlich nicht zu beanstanden ist.
VI. Fazit Schiedsstellen sind aus dem Sozialrecht nicht mehr wegzudenken. Je härter der Verteilungskampf wird, umso öfter werden sie in Anspruch genommen.109 Dabei geht es nicht primär darum zu entscheiden, was Recht ist, sondern die Schiedsstelle soll interessengeleitete Lösungen finden und dabei innerhalb der vom Recht bereit gestellten Spielräume autonomes, für die Betroffenen „passendes“ Recht schaffen.110 Dies kann nur gelingen, wenn der Gesetzgeber eine in sich geschlossene und konsequente Selbstverwaltungslösung schafft. Der 1984 als politischer Kompromiss zustande gekommene Sonderweg im Krankenhausfinanzierungsrecht, der zu Recht als „gesetzestechnisch völlig verunglückt“ beschrieben wird111 und der eine Vielzahl von faktischen und rechtlichen Problemen aufwirft, sollte beendet werden. Insbesondere der der Schiedsstelle vom BVerwG eingeräumte weite Gestaltungs- und Beurteilungsspielraum hat den Einfluss der Länder auf die Pflegesätze ohnehin auf eine begrenzte Rechtskontrolle beschränkt; es wäre nur konsequent, den fehlenden Schritt in die vollständige Selbstverwaltung nunmehr endlich auch gesetzlich zu verankern und das Genehmigungserfordernis aufzuheben. In der Tat spricht im Übrigen vieles für eine Vereinheitlichung der maßgeblichen Regelungen und die Schaffung von Schiedsstellennormen „aus einem Guss“.112 Diese könnten als allgemeine Vorschriften in das SGB X und das VwVfG aufgenommen werden.113
Schimmelpfennig-Schütte, NZS 1997, 508. Gottlieb, NDV 2001, 261 m. w. N. 111 Jung (Fn. 30), S. 1. 112 Hänlein, ZFSH / SGB 2001, 334. 113 Becker, SGb 2003, 719; zu konkreten Formulierungsvorschlägen vgl. die Stellungnahme der Vorsitzenden und Geschäftsstellenleiter der Schiedsstellen nach § 76 SGB XI und § 80 SGB XII, NDV 2006, S. 302 ff. 109 110
Zum Fortentwicklungsbedarf des Verwaltungsvertragsrechts Von Hans-Detlef Horn
I. Das Verwaltungsvertragsrecht im Werden und im Wandel 1. Einseitiger Verwaltungsakt und kooperativer Verwaltungspakt Seit den Natur- und Vernunftrechtslehren der Neuzeit stützt sich die Begründung und Legitimation politischer Herrschaft auf den Vertragsgedanken. Die Idee des Gesellschafts- und Staatsvertrages gründet alle Herrschaftsgewalt des Staates letzten Endes auf die kontraktualistische Selbstverpflichtung seiner Mitglieder. Damit freilich, so der Kommentar von Gustav Radbruch, scheint „die Auflösung alles öffentlichen in privates Recht geglückt“,1 und es dürfte eigentlich auch keine Irritationen hervorrufen, wenn Staat und Bürger innerhalb eines derart konstituierten Gemeinwesens ihre Rechtsbeziehungen vertraglich regeln. Doch die frühere Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft vertrat insofern bekanntlich eine ablehnende Haltung. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein erfuhr die wirkmächtige These Otto Mayers Gefolgschaft, wonach der Staat als Hoheitsträger nicht mit Privaten paktieren dürfe.2 Seine hoheitliche Natur, kraft derer er einseitig Recht setze und Pflichten begründe, schließe die im Begriff des Vertrages liegende Rechtsgleichheit aus. Doch gerade der Gleichordnung der beteiligten Subjekte, die der Vertrag konstituiert und perpetuiert, ist es wohl vor allem zuzuschreiben, dass ihm seine eigentümliche Anziehungskraft als Form der Begründung von Rechtsverbindlichkeit erhalten geblieben ist – weniger der Labandschen Lehre, wonach der Staat, weil er Herrschaftsträger ist, sich nach Belieben jeder Handlungsform bedienen könne.3 Heute steht die prinzipielle Legitimität der vertraglichen Rechtsbegründung auch im Staat-Bürger-Verhältnis nicht mehr in Frage. In der HandRadbruch, Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973, S. 240. Mayer, AöR 3 (1888), 1 ff.; ders., AöR 40 (1921), 244 ff.; zur Entwicklungsgeschichte (der Anerkennung) des Vertrages zur Regelung öffentlich-rechtlicher Rechtsbeziehungen zwischen Staat und Verwaltung s. übersichtlich Bonk, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 6. Aufl. 2001, § 54 Rn. 1; Henneke, in: Knack, VwVfG, 4. Aufl. 2004, Vor § 54 Rn. 13 ff.; Maurer, DVBl. 1989, 799 ff. m. w. N.; Bauer, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2008, § 36 Rn. 1 ff. 3 Laband, AöR 2 (1887), 159. 1 2
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lungsrealität der öffentlichen Verwaltung gehört sie neben dem einseitig verfügenden Verwaltungsakt zur „Normalität“. 4 Die Anerkennung steht nicht im Widerspruch zur Eigenart des öffentlichen Rechts, bedeutet also nicht dessen Auflösung ins Privatrecht. Im demokratischen Verfassungsstaat ist jede obrigkeitliche Staatsvorstellung, der zufolge der Bürger im öffentlichen Recht nur als „Untertan“ der staatlichen Gewalt und daher nicht als mitgestaltender (Vertrags-)Partner begriffen werden kann, unhaltbar. Zudem ändert die vertragsförmliche Gestaltung der StaatBürger-Beziehung nichts daran, dass der Staat hierbei nicht auf der Grundlage privater Vertragsfreiheit, sondern, wie auch sonst, nur auf Grundlage rechtsgebundener Kompetenz und im Rahmen des Gesetzmäßigkeitsgrundsatzes (Art. 20 Abs. 3 GG) handelt.5 Schon die durchaus nicht geringe Zahl der Autoren, die in der Vertragslehre gegen Otto Mayer Position bezogen hatte,6 wusste indes um die Notwendigkeit, die Vertragsfigur im Verwaltungsrecht entsprechend systemgerecht auszuformen. Seitdem bestätigt sich die Feststellung Schmidt-Aßmanns, dass die Lehre von den Formen des Verwaltungshandelns „nie eine fertige, sondern stets eine zu reformierende Lehre“ ist.7 Erkennt man in der erstmaligen gesetzlichen Kodifikation des öffentlich-rechtlichen Vertrages in den §§ 54 ff. VwVfG eine erste, markante Entwicklungsstufe, so steht in jüngerer Zeit ein zweiter Entwicklungsschub von ebensolcher Bedeutung in Rede: Die vor etwa 30 Jahren in Kraft getretenen §§ 54 ff. VwVfG sind noch stark von der Vorstellung durchdrungen, dass der Vertrag vorwiegend verwaltungsaktersetzend, mithin in einer subordinatorisch geprägten Konstellation zum Einsatz kommt und unter diesem Gesichtspunkt der rechtsstaatlichen Bändigung bedarf. Doch diese Vorstellung reibt sich zunehmend an neuartigen Begegnungsweisen, in denen Verwaltung und Private auf „gleicher Augenhöhe“ und in komplementärer oder paralleler Interessenlage zusammentreffen, miteinander kooperieren und paktieren. Zu den Vorgängen solcher Art zählt zumal das, was in dem Begriff der Public Private Partnership (PPP) zusammengefasst wird. Die Sache, die damit gemeint ist, ist zwar nicht neu, wohl aber der Begriff und vor allem das Ausmaß ihres Auftretens. Höchst allgemein gehalten geht es um die Fälle, in denen Private an der Erfüllung öffentlicher Aufgaben beteiligt werden. Die Vielfalt der Inhalte und die Unterschiedlichkeit der Formalisierungsgrade solcher öffentlich-privaten Kooperationen sind zu groß, um sie in konturenscharfe Begriffe zu fassen. Eine einheitliche Terminologie oder auch nur weiterführende Typologie hat sich bis jetzt nicht gefunden und wird sich auch kaum finden lassen. Solche Versuche sind – nach Schuppert – nichts anderes als „Versuche, einen Pudding an die Wand zu nageln“.8 Das Spektrum reicht je nach Verständnis – abge4 Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2006, S. 342; Überblick von Anwendungsfeldern bei Bauer (Fn. 2), § 36 Rn. 31 ff. 5 Schmidt-Aßmann (Fn. 4), S. 343. 6 Nachw.: Stern, VerwArch. 49 (1958), 114 ff.; Bullinger, Vertrag und Verwaltungsakt, 1962, S. 237 ff.; Maurer, DVBl. 1989, 799 f. 7 Schmidt-Aßmann, DVBl. 1989, 541; ders. (Fn. 4), S. 324.
Zum Fortentwicklungsbedarf des Verwaltungsvertragsrechts
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sehen von bloß informellen Varianten einer Zusammenarbeit – von den Beleihungs- und Verwaltungshelferverträgen über die verschiedenartigen Konzessionsverträge zur Durchführung einer Aufgabe, wie sie vor allem in den Referenzgebieten des Bau-, Umwelt- und Sozialrechts auftreten, und den öffentlichen Auftragsvergaben bis hin zu jenen „Kooperationsverträgen“ in einem engeren Sinne, in denen Verwaltungsbehörden und Private eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zur gemeinsamen Förderung oder Erledigung einer Gemeinwohlaufgabe verabreden.9 Die hergebrachte Formenlehre des Verwaltungshandelns als Teil des allgemeinverwaltungsrechtlichen Ordnungssystems trifft hier auf eine neue Herausforderung. Der schon seit längerem erkannte Entwicklungsrückstand des geltenden Verwaltungsvertragsrechts10 erfährt praktische Aktualität. Die bisher unternommenen Bemühungen um eine dogmatische Strukturierung der variantenreichen öffentlichrechtlichen Vertragspraxis nach Voraussetzungen und Folgen, Gestalt und Verfahren haben deutlich gemacht, dass der vorhandene Rechtsrahmen der §§ 54 ff. VwVfG zu dürftig ist, um die dabei vielfältig involvierten Schutz- und Interessenrelationen adäquat zu erfassen und zu repräsentieren. Jenseits spezialgesetzlicher und richterrechtlicher Ausformungen begegnet hier eine von juristischem Nebel umhüllte „Grauzone des Rechts“.11
2. Die Reformvorschläge zum Verwaltungskooperationsvertrag Der Diagnose entspringt das Anliegen zur Therapie. Es lässt sich in die eingängige Formulierung fassen, der „ausgefeilten Verwaltungsaktdogmatik eine jedenfalls ansatzweise adäquate Verwaltungspaktdogmatik“ zur Seite zu stellen.12 Sie artikuliert den Bedarf, das Verwaltungsvertragsrecht über seine normativen Vorordnungen der ersten Generation hinaus in die zweite Generation eines „Verwaltungskooperationsrechts“ fortzuentwickeln. Unter diesem Stichwort geht es der Verwaltungs- und Verwaltungsrechtswissenschaft seit etwa Anfang der 1990er Jahre darum, die Möglichkeiten einer Optimierung des rechtlichen Handlungsrahmens für die vertragsförmige Gestaltung von Kooperationsverhältnissen zwischen 8 Schuppert, Grundzüge eines zu entwickelnden Verwaltungskooperationsrechts. Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums des Innern, Juni 2001, S. 4 f.; veröffentlicht in: Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verwaltungskooperationsrecht, 2002. 9 Überblick: Bonk, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 7. Aufl. 2008, § 54 Rn. 43 ff.; ders., DVBl. 2004, 142 ff. 10 Schmidt-Aßmann, DVBl. 1989, 535, hatte bezeichnenderweise von einem an „hausbackenen Verhältnissen orientierten Regelungsmodell“ gesprochen; s. ferner Schmidt, VerwArch. 91 (2000), 158 f. m. w. N.; Hoffmann-Riem, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Schuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts. Grundfragen, 1993, S. 155: „stiefmütterliche“ Behandlung der Verwaltungsverträge. 11 Wolff / Bachof / Stober, Verwaltungsrecht, Bd. 3, 5. Aufl. 2004, § 92 Rn. 33. 12 Dreier, VVDStRL 52 (1993), 336.
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Staat und Privaten auszuloten, konkreter: eine dementsprechende rechtliche Angebotsordnung zu schaffen.13 Der Fortentwicklungsbedarf hat auch regierungsamtlich Anerkennung gefunden: im Programm der Bundesregierung „Moderner Staat – Moderne Verwaltung“ von 1999.14 Dem widmete sich sodann der schon Ende 1997 beim Bundesminister des Innern eingesetzte Beirat „Verwaltungsverfahrensrecht“, bestehend aus Fachreferenten der Innenministerien von Bund und Ländern sowie Praktikern (insbes. aus Anwaltschaft und Justiz) und Wissenschaftlern. Bei ihm bzw. bei der von ihm eingesetzten Arbeitsgruppe zur (simultanen15) Novellierung der (Bund- und Länder-)Vorschriften über den öffentlich-rechtlichen Vertrag konzentrierten sich in der Folgezeit die rechtspolitischen Reformüberlegungen. Diese wurden durch die beiden, vom Bundesinnenministerium vergebenen Gutachten von Schuppert16 und Ziekow17 wissenschaftlich begleitet und vertieft. Im Mittelpunkt der ersten Reformempfehlungen des Beirats vom 30. April 200218 stand die Aufnahme einer Grundsatznorm, mit der die Figur des Kooperationsvertrages als erste allgemeine Vertragsart vor dem Vergleichsvertrag (§ 55 VwVfG) und dem Austauschvertrag (§ 56 VwVfG) ausdrücklich festgeschrieben wird: § 54 a VwVfG-E: „Kooperationsverträge können auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts geschlossen werden, um Private an der Erledigung öffentlicher Aufgaben zu beteiligen.“
Daneben wurden u. a. Lockerungen der Nichtigkeitsfolge bei (geringfügigen) Verstößen gegen das Angemessenheitsprinzip und das Koppelungsverbot (zu § 56 i. V. m. § 59 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG), Flexibilisierungen bei den Vorschriften zur Schriftform (zu § 57 VwVfG) und zur Hinzuziehung privater Drittbetroffener (zu § 58 VwVfG) für wünschenswert erachtet. Indessen sprach sich der Beirat dagegen aus, weitergehende detaillierte Regelungen zu Kooperationsverhältnissen vorzuVgl. zfssd. Bauer (Fn. 2), § 36 Rn. 8 ff., 16 ff. Unter Nr. II 2 b des Programms heißt es: „Die Bundesregierung wird rechtliche Rahmenbedingungen für kooperative Vertragsverhältnisse schaffen. Der Verwaltung steht für die Kooperation mit Privaten derzeit nur der öffentlich-rechtliche Vertrag in seiner überkommenen Form zur Verfügung. Für eine weiterführende Zusammenarbeit im Sinne des aktivierenden Staates und die Gestaltung einer neuen Verantwortungsteilung ist dies nicht mehr ausreichend. Deshalb werden für die Ausgestaltung von Kooperationsbeziehungen taugliche Vertragstypen und Vertragsklauseln im Verwaltungsverfahrensrecht verankert.“ 15 Vgl. Schmitz, DVBl. 2005, 19. 16 Schuppert (Fn. 8). 17 Ziekow, Verankerung verwaltungsrechtlicher Kooperationsverhältnisse (Public Private Partnership) im Verwaltungsverfahrensgesetz. Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums des Innern, Juni 2001; veröffentlicht in: Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verwaltungskooperationsrecht, 2002. 18 Abgedruckt in: NVwZ 2002, 834 f.; s. auch Schmitz, NVwZ 2000, 1240 ff.; ders., in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verwaltungsverfahren und Verwaltungsverfahrensgesetz, 2002, S. 140 f.; Bonk, DVBl. 2004, 147 ff.; Henneke (Fn. 2), Vor § 54 Rn. 40 ff. 13 14
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sehen. Mit dieser sogenannten „kleinen Lösung“ vermochte sich der Beirat „zum jetzigen Zeitpunkt“ nicht den beiden Gutachtern anzuschließen, die demgegenüber eine „große Lösung“ befürworten. Danach sollte der normativen Festschreibung der grundsätzlichen Zulässigkeit die Regelung spezifischer Anforderungen an das Verfahren und die Gestaltung solcher Vertragskooperationen folgen (etwa zur Auswahl des Vertragspartners, zu Qualitäts- und Verfahrensanforderungen). Diese Detailregelungen sollten für alle Verträge der Verwaltung gelten, unabhängig davon, ob sie zivilrechtlich, öffentlich-rechtlich, vergaberechtlich und / oder gesellschaftsrechtlich geprägt sind. Sowohl Konkretisierungen als auch Modifizierungen der „kleinen Lösung“ lieferte sodann der zweite Vorschlag des Beirats bzw. der von ihm eingesetzten Arbeitsgruppe vom 23. Januar 2004. Dieser wurde auf der Konferenz der Verwaltungsverfahrensrechtsreferenten des Bundes und der Länder am 21. / 22. April 2004 beraten und mit geringfügigen Abweichungen als „Bund-Länder-Musterentwurf“ beschlossen. Die wichtigsten Änderungsvorschläge lauten:19 § 54 Abs. 3 VwVfG-ME: „Die Behörde kann einen öffentlich-rechtlichen Vertrag auch schließen, um Private an der Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben zu beteiligen; hoheitliche Befugnisse können nur übertragen werden, soweit dies durch Rechtsvorschrift vorgesehen ist.“ § 56 a VwVfG-ME – Kooperationsvertrag: „Ein öffentlich-rechtlicher Vertrag im Sinne des § 54 Abs. 3 kann geschlossen werden, wenn die Behörde sicherstellt, dass ihr ein hinreichender Einfluss auf die ordnungsgemäße Erfüllung der öffentlichen Aufgabe verbleibt. Die Behörde darf nur einen Vertragspartner auswählen, der fachkundig, leistungsfähig und zuverlässig ist.“ § 57 S. 2 VwVfG-ME: „Der Schriftform genügt der Austausch übereinstimmender schriftlicher Erklärungen.“ § 59 Abs. 2a VwVfG-ME: „Ein Vertrag im Sinne des § 54 Abs. 3 ist ferner nichtig, wenn die Behörde bei dessen Abschluss nicht sichergestellt hat, dass ihr ein hinreichender Einfluss auf die ordnungsgemäße Erfüllung der öffentlichen Aufgabe verbleibt.“ § 59 Abs. 4 VwVfG-ME: „Ist ein Vertrag nach Absatz 2 Nr. 4 oder Absatz 2a nichtig, kann jede Vertragspartei anstelle der Rückabwicklung die Anpassung des Vertrages verlangen, soweit die nichtige durch eine angemessene wirksame Regelung ersetzt werden kann.“ § 59 Abs. 5 VwVfG-ME: „Für die Rückabwicklung nichtiger Verträge gelten die §§ 818 bis 822 des Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechend.“
Obgleich sich damit im politischen Raum eine doch schon recht fortgeschrittene kodifikatorische Verdichtung abgezeichnet hatte,20 ist seither die weitere Gesetz19
Vgl. die Wiedergabe des Textes bei Schmitz, DVBl. 2005, 21 ff.
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gebungsarbeit ins Stocken geraten. Der Novellierungsvorschlag hat es (bisher) nicht zu einem Regierungsentwurf „geschafft“. So ist es – nach intensivem Auftakt – um die Reform des Verwaltungsvertragsrechts still geworden.21 Da das Vorhaben, soweit ersichtlich, nicht irgendwie offiziell ad acta gelegt wurde, muss davon ausgegangen werden, dass zur Zeit weder über die Notwendigkeit einer Novellierung noch über deren Ausgestaltung im Detail ein Konsens erreichbar ist. Gleichwohl lohnt es sich, die Fragen in der Debatte zu halten. Ihnen will im Folgenden mit einigen Anmerkungen nachgegangen sein. Sie widmen sich erstens der Frage nach dem „Ob“, d. h. den Erwägungen, die den Bedarf an einer Novellierung des Verwaltungsvertragsrechts begründen, zweitens der Frage nach dem „Wo“, d. h. dem gesetzlichen Regelungsort, und drittens der Frage nach dem „Wie“, d. h. einzelnen Facetten der näheren Ausgestaltung. II. Befund und Bedarf gesetzlicher Ausgestaltung 1. Der Auftrag zu einer Angebotsordnung paktierter Verantwortungsteilung Aus verwaltungswissenschaftlicher Sicht handelt es sich beim Verwaltungsvertrag um die „rechtliche Gussform“22 eines spezifischen Verwirklichungsmodus kooperativer Staatlichkeit.23 Die den „kooperativen Staat“ prägende, administrativgesellschaftliche Verbundproduktion bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben und Optionen erfährt hier kontraktuelle Verdichtung und Verbindlichkeit. Dabei ersetzt das Vertragsmodell nicht, sondern ergänzt den überkommenen hierarchischen Steuerungsansatz des Verwaltungsrechts. Neben die einseitig verfügende und regulatorische Entscheidung tritt die zwei- oder mehrseitig verhandelte, konsensuale Abstimmung. Die Dichotomie – wie sie dem Verwaltungsakt zugrunde liegt – von staatlicher Gestaltung einerseits und privater Gestaltungserwartung andererseits,24 von verantwortlichem Staat und entlastetem Markt, wird hier überwunden. An die Stelle der einseitigen Verteilung der Verantwortung für die Verwirklichung einer Verwaltungsangelegenheit tritt eine – wie auch immer konfigurierte und dimensionierte – intermediäre Teilung. Andere sprechen von kooperativer Verantwortung oder einem Verantwortungsverbund.25 20 Vgl. den zfssd. Bericht von Schmitz, ebd., sowie Bonk (Fn. 9), § 54 Rn. 13 ff.; ferner Reicherzer, DÖV 2005, 603 ff.; Stelkens, NWVBl. 2006, 1 ff. 21 In dem vom Bundeskabinett am 13. September 2006 verabschiedeten Regierungsprogramm „Zukunftsorientierte Verwaltung durch Innovationen“ ist das Thema des Verwaltungskooperationsrechts nicht, jedenfalls nicht ausdrücklich angeführt. 22 Pauly, in: Becker-Schwarze / Köck / Kupka / von Schwanenflügel (Hrsg.), Wandel der Handlungsformen im Öffentlichen Recht, 1991, S. 32. 23 Schmidt-Aßmann (Fn. 4), S. 341; Krebs, VVDStRL 52 (1993), 253; Schmitz (Fn. 18), S. 140. 24 Schmidt-Aßmann (Fn. 4), S. 336. 25 Vgl. Voßkuhle, VVDStRL 62 (2003), 285.
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Das macht zunächst deutlich, dass sich hier kein Rückzug des Staates ereignet, sondern man es – „jenseits von Privatisierung und schlankem Staat“26– mit einem Formenwandel des Staatshandelns zu tun hat, d. h. mit einem Wandel in der Modalität der verwaltenden Gemeinwohlkonkretisierung. Der Staat bleibt als der klassische Gemeinwohlakteur präsent, indes er als „aktivierender Staat“ – zumal in Anbetracht seiner latenten sozialstaatlichen Überforderung – der Einsicht folgt, dass in arbeitsteiligen Arrangements die Eigenlogiken und Leistungspotentiale des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Sektors gewinnbringend zur Entfaltung gebracht werden können. Verantwortungsteilung bedeutet daher nicht, dass die entstehenden Verantwortungssphären auf beiden Seiten der öffentlich-privaten Kooperation von gleicher Wesensart sind. Der verfassungsrechtlich ausgeführten Unterscheidung von freiheitsverpflichtetem Staat und freiheitsberechtigter Gesellschaft korreliert die Unterscheidung zwischen originärer und abgeleiteter, zwischen geborener und gekorener Verantwortungsteilhabe. Ihre Zusammenführung in und unter der „lex contractus“ begründet eine „asymmetrische Partnerschaft“, die im dogmatischen Ordnungsrahmen der Rechtsverhältnislehre erfasst werden kann.27 Will nun das Verwaltungsrecht seinem „Doppelauftrag“28 gerecht werden, die Verwaltungswirklichkeit sowohl ordnend zu limitieren als auch steuernd zu legitimieren, muss es sein Handlungssystem insofern aufnahme- und anschlussfähig halten. Für die Rechtsformenlehre bedeutet das, ihre Bereitstellungs- und Speicherfunktion, d. h. ihre Aufgabe zu aktivieren, die kooperative Handlungspraxis hinreichend instrumentell zu versorgen und zu formen, um sie auf diese Weise rechtlich fassbar und kalkulierbar zu machen.29 Das in der Verwaltungswissenschaft ausgebaute Konzept der Verantwortungsteilung erbringt hier eine erste, ordnungsbildende Vorleistung. Seine Erhebung in den Rang eines Schlüsselbegriffs30 folgt aus seiner funktionalen Zuordnung zur Verwaltungsrechtslehre. Die Verantwortungsteilung markiert danach den Ausgangs- wie den Fluchtpunkt der rechtlichen Strukturierungsaufgabe: Um den Verwaltungsvertrag im Handlungssystem zu einem ähnlich verlässlichen Instrument zu profilieren wie den Verwaltungsakt, bedarf es sachgerechter Parameter zur Bestimmung und Sicherung der durch ihn ge- und verteilten Handlungs- und Verantwortungssphären. Insofern kann von einer „Strukturverschaffungspflicht“31 für eine eigen geartete instrumentelle Angebotsordnung gesprochen werden, um in der paktierten Aufgabenverteilung eine undurchsichtige und legitimationswidrige Verantwortungsteilung zu verhindern, vielmehr die GeGleichnamig die von Schuppert herausgegebene Aufsatzsammlung, 1999. Krebs, VVDStRL 52 (1993), 260 ff. 28 Dazu Schmidt-Aßmann (Fn. 4), S. 19 f. 29 Zu den Aufgaben der Rechtsformenlehre s. Schmidt-Aßmann (Fn. 4), S. 297 ff.; ders., DVBl. 1989, 533 ff.; Schuppert, Verwaltungswissenschaft, 2000, S. 144 ff. 30 Trute, in: Schuppert (Hrsg.), Jenseits von Privatisierung und „schlankem“ Staat, 1999, S. 13 ff.; Hoffmann-Riem, Festschrift Vogel, 2001, S. 47 ff. 31 Burgi, NZBau 2002, 57 ff. 26 27
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setzmäßigkeit und Gemeinwohlverträglichkeit der öffentlich-privaten Kooperation zu gewährleisten. Dem sucht die wissenschaftliche Ausdifferenzierung von verschiedenen Verantwortungsstufen „vorzuarbeiten“. Diese typologisieren auf einer mittleren dogmatischen Ebene zwischen dem Fachrecht der konkreten Vertragsmaterie und der Höhe eines allgemeinen Verwaltungsvertragsrechts jenes Maß der Steuerungs- und Einflussintensität, das dem staatlichen Vertragspartner in der Kooperationsbeziehung gewährleistet sein muss. So kann etwa unterschieden werden: eine volle Erfüllungsverantwortung, z. B. in den Verwaltungshelferfällen, sodann eine – freilich vielschichtige – Gewährleistungsverantwortung mit ihren Elementen der Bereitstellungs-, Beratungs-, Regulierungs- und Überwachungs- bzw. Kontrollverantwortung (wie etwa in den Bereichen der Regulierungsverwaltung oder der Durchführungskonzessionen) und schließlich eine Auffang- oder Einstandsverantwortung.32 Auf der Folie solcher (Vor-)Strukturierungen können dann, entlang der rechtsstaatlich-demokratischen Leitmaxime wie Distanz, Transparenz und Drittschutz, bestimmte vertypte Mindeststandards modelliert werden, die die paktierte Verantwortungsteilung formal rationalisieren, verfahrensrechtlich kanalisieren und inhaltlich binden. Dabei ist freilich auch den ganz spezifischen Gefahren und Chancen, die in der Eigendynamik vertraglicher Gestaltungssituationen liegen, d. h. sowohl den Stabilitäts- wie den Flexibilitätsbedürfnissen Rechnung zu tragen, die das Vertragshandeln von der Regelungssituation durch Verwaltungsakt unterscheiden.33 Insgesamt kommt es darauf an, ein umfassend funktions- und interessengerechtes, die Potentiale ebenso ausschöpfendes wie begrenzendes Ordnungsgefüge für eine „gesetzesdirigierte Vertragsgestaltung“34 bereitzustellen. Das Steuerungsziel eines derart allgemeinen Vertragsrechts kann allerdings nur erreicht werden, wenn es zu den Referenzgebieten des Fachverwaltungsrechts Tuchfühlung behält und dementsprechend seine Normsetzungen auf eine vermittelnde Abstraktionshöhe einstellt.35 Es ist darauf Bedacht zu nehmen, dass die Problemsituationen des konkreten Vertragseinsatzes auf der allgemeinen Ebene reflektiert werden und dass umgekehrt die rationalisierende Kraft der allgemeinen Regeln in den konkreten Einsatzfeldern aufgenommen werden kann.36
32 Prägend Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Schuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts. Grundfragen, 1993, S. 43 f.; w. N. bei Voßkuhle, VVDStRL 62 (2003), 285 f. mit Fn. 63, 65. 33 Vgl. Schmidt-Aßmann (Fn. 4), S. 344; Bauer, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, S. 274 ff. 34 Schmidt-Aßmann (Fn. 4), S. 342. 35 Vgl. in diesem Sinne zur Funktion des allgemeinen Verwaltungsrechts grundlegend Schmidt-Aßmann (Fn. 4), S. 1 ff.; ferner Kahl, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verwaltungsverfahren und Verwaltungsverfahrensgesetz, 2002, S. 89 ff. 36 Krebs, VVDStRL 52 (1993), 259.
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2. Zweifelhafte Leistungsfähigkeit der §§ 54 ff. VwVfG Unternimmt man unter dem Eindruck dieser „Bedarfsanmeldung“ eine rechtsformenkritische Betrachtung des in den §§ 54 ff. VwVfG vorhandenen Normenmaterials, dann zeigt sich ein unzureichendes Bild: Nach der Grundentscheidung des § 54 S. 1 VwVfG zugunsten der Zulässigkeit öffentlich-rechtlicher Verträge verengt sich die Perspektive in Satz 2: Insbesondere könne die Verwaltung so genannte „subordinationsrechtliche“ Verträge schließen. Die legislatorische Hervorhebung reagiert auf die vor 30 Jahren noch verbreitet bestehende Skepsis gegenüber einem behördlichen Vertragshandeln.37 Dementsprechend tragen die daran anknüpfenden Regelungen (zur Zulässigkeit der Handlungsform und / oder dem Vertragsinhalt) dem Anliegen Rechnung, dem im Schatten administrativer Anordnungsmacht kontrahierenden Bürger besonderen Schutz zu gewähren; zudem soll die Behörde davor bewahrt werden, sich Hoheitsbefugnisse gleichsam abhandeln oder abkaufen zu lassen. Doch erweist sich diese Perspektive offensichtlich als zu eng, um die vielfältigen kooperativen Vertragssituationen heutiger Verwaltungspraxis aufzunehmen, in denen weder ein Verwaltungsakt noch eine sonstige einseitige hoheitliche Leistung in einer – synallagmatischen oder als Geschäftsgrundlage vorausgesetzten – Austauschbeziehung zu einer Leistung des Privaten steht, sondern bei denen es darum geht, durch verabredete Handlungs- und Verantwortungsbeiträge beider Seiten ein Gemeinwohlziel zu erreichen. Diese unzureichende Passform spiegelt sich in den Versuchen der Rechtsprechung, das subordinationsrechtliche Schutzrechtsregime auf alle Verträge auszuweiten, die sich unabhängig von ihrem konkreten Gegenstand in einem Gebiet bewegen, das nur typischerweise, aber nicht im konkreten Fall von behördlichen Hoheitsbefugnissen geprägt wird. Das viel beklagte Beispiel bietet hier die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Mai 2000,38 die die Vereinbarung einer Gemeinde mit einem Bürger, dass dessen Grundstück gegen Zahlung eines Betrages (zur Instandhaltung von Kinderspielplätzen) in den Bebauungsplan einbezogen werden soll, als einen Fall des § 54 S. 2 VwVfG qualifiziert hat. Solche Rechtsfortbildung muss auf Kritik stoßen. Sie löst den subordinationsrechtlichen Vertrag nicht nur aus seiner gesetzlichen Eindeutigkeit und büßt damit jede Abgrenzungsfunktion gegenüber anderen öffentlich-rechtlichen Verträgen ein. Vielmehr kann eine solche Ausdehnung im Blick auf die an diesen anknüpfenden Schutzregeln zu funktional inadäquaten Zuordnungen führen, weil und wenn sich die Schutzwürdigkeitsrelationen im Einzelfall verschieben – etwa dann, wenn der Vertragsinhalt weit über das hinausgeht, was einseitig-hoheitlich festgesetzt wer37 Der Novellierungsvorschlag des Beirats Verwaltungsverfahrensrecht vom April 2004 (s. oben, bei Fn. 19) sieht folgerichtig vor, das Wörtchen „insbesondere“ zu streichen und den subordinationsrechtlichen Vertrag als eine Vertragsvariante neben dem Kooperationsvertrag auszuweisen, indem er den Satz 2 des § 54 VwVfG in den Abs. 2 des § 54 VwVfG-ME überführt. 38 BVerwGE 111, 162 (165 ff.).
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den könnte, und sich dadurch für den Privaten überschießende Vorteile ergeben, oder wenn der Vertrag Realisierungschancen eröffnet, die andernfalls mangels behördlicher Leistungsfähigkeit ausblieben. Reiches Anschauungsmaterial hierfür liefern die städtebaulichen Verträge. In solchen Fällen agieren die Vertragspartner nicht in einer Lage unter administrativer Anordnungs- oder sonstiger Übermacht. Für die ganz eigenen Schutz- wie Entlastungsbedürfnisse, die hier hervortreten, fehlen aber in den §§ 54 ff. VwVfG die funktional adäquaten Apparaturen. Will man daher an der eigenständigen Kategorie des subordinationsrechtlichen Vertrages festhalten, sollte seine Deutung auf jene Verträge zurückgefahren werden, die ihrem konkreten Inhalt nach zum Erlass eines Hoheitsakts in Bezug stehen. Damit würde der Weg frei gelegt, den Kooperationsvertrag aus dem Prokrustesbett des § 54 S. 2 VwVfG zu befreien und als eigenständige Vertragskategorie zu etablieren. Dem müsste freilich die Konsequenz folgen, dann auch für die verfahrens- und gestaltungsrechtlichen Standards Sorge zu tragen, die ihn gesetzlich dirigieren und limitieren sollen. Denn in seinem bisherigen Regelungsmodell stellt der Verwaltungsvertrag aufgrund der verschiedenen „Nichtigkeitsfallen“39 ein allzu starres Instrument dar. Namentlich die strenge Nichtigkeitsfolge bei Verstößen gegen das Angemessenheitsprinzip und das Koppelungsverbot (§§ 56, 59 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG) ist wenig geeignet, zwischen den Gestaltungsbedürfnissen von Vertragskooperationen einerseits und den dabei beachtlichen Schutzbelangen andererseits eine attraktive Lösung zu bieten.40
III. Mögliche Regelungsorte Bejaht man daher einen Regelungsbedarf, so erhebt sich die Frage nach dem Regelungsort. Die Ergänzung der §§ 54 ff. VwVfG liegt auf den ersten Blick nahe, ist aber bei näherem Hinsehen nicht alternativlos. In Betracht kommt auch eine Neukodifikation in einem gesonderten Verwaltungskooperationsgesetz. Der Entwurfsvorschlag des Beirats Verwaltungsverfahrensrecht, ihm folgend der BundLänder-Musterentwurf, lehnt dies ab. Er sieht (lediglich) eine Anpassung des Verwaltungsverfahrensgesetzes vor. Prämisse dieser Haltung ist allerdings die vorerwähnte „kleine Lösung“. Der Kooperationsvertrag soll zwar als allgemeine Vertragsart „auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts“ gesetzliche Anerkennung erfahren. Ins Detail gehende Folgeregelungen nach Art der „großen Lösung“ seien hingegen nicht empfehlenswert. Die Begründung ist nicht von der Hand zu weisen. Neben der Gefahr einer Überfrachtung des Verwaltungsverfahrensgesetzes sind mit der großen Option zahlreiche Probleme und offene Fragen verbunden, wie u. a. das Verhältnis solcher Regelungen zum Vergaberecht und die Erstreckung des Verwaltungsverfahrensgesetzes auch auf zivil- und gesellschaftsrechtliche Verträge Schmitz, DVBl. 2005, 19; ders., NVwZ 2000, 1241. Dazu auch Bauer (Fn. 33), S. 275 f., der hier vom „Spannungsverhältnis von Flexibilität und Stabilität“ spricht. 39 40
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der Verwaltung einschließlich der Frage, inwieweit der Staat dabei durch einseitiges öffentliches Recht eine Zugriffsmöglichkeit haben soll.41 Zudem erscheint bei einer Anwendung verwaltungsverfahrensgesetzlicher Bestimmungen auf zivil- und gesellschaftliche Verträge des Staates eine systemfremde Verschiebung der zuständigen Gerichtsbarkeit von den Zivil- zu den Verwaltungsgerichten impliziert. Zieht mithin der beschränkte Anwendungsbereich für die allein öffentlich-rechtliche Tätigkeit der Verwaltung (§ 1 VwVfG) einer umfassenden Verfahrensregelung des Verwaltungsvertragsrechts im Verwaltungsverfahrensgesetz systembedingte Grenzen, so kann in der Konsequenz der Ruf nur nach einem eigenständigen Verwaltungskooperationsgesetz gehen. Auch der Beirat Verwaltungsverfahrensrecht gibt dies ausdrücklich zu erkennen, sieht freilich ein derartiges Vorhaben derzeit als noch nicht entscheidungsreif bzw. nicht in vertretbarer Zeit realisierbar an. Eine den zuvor erläuterten Regelungsbedarf erschöpfende (Neu-)Kodifikation kann aber sinnvollerweise nicht auf öffentlich-rechtliche Verträge beschränkt sein, sondern muss rechtsformübergreifend ansetzen und also die handelnde Verwaltung als Hoheitsträger in den Vordergrund stellen. Denn die besonderen Regelungsbedürfnisse, die bei Vertragsschlüssen der Verwaltung auftreten, liegen zumeist quer zur Rechtsnatur des Vertragsgegenstands. Auch zeigt sich in der Praxis, dass die Vertragsgestaltungen häufig sowohl von öffentlich- als auch von zivilrechtlichen Elementen durchwirkt sind; hier manifestiert sich der Begriff der beiden Teilrechtsordnungen als „wechselseitige Auffangordnungen“:42 Einerseits gilt es, die Verwaltung, auch wenn sie sich zur Erfüllung ihrer Aufgaben der Privatrechtsform bedient, in den Bindungen und Verantwortungslasten des öffentlichen Rechts zu halten (so genanntes Verwaltungsprivatrecht – „keine Flucht ins Privatrecht“). Andererseits vermögen die zivilrechtlichen Normwerke sach- und interessengerechte Gestaltungsoptionen zu eröffnen oder gar bereichsweise (im Sinne eines Verbots der „Flucht aus dem Privatrecht“43) beachtliche Gestaltungsgebote vorzugeben. Und schließlich ist es gerade die Vertragssituation im Kooperationsbereich, die die Frage aufwirft, ob und inwieweit von dem privaten Vertragspartner bestimmte, ihrer Eigenart nach öffentlich-rechtliche „Vorsorgeleistungen“ verlangt werden müssen, wie z. B. fachliche Zuverlässigkeit, pluralistische Organisation oder willkürfreies Verhalten, m.a.W. inwieweit aus den Bindungen des Verwaltungsprivatrechts weitergehende Anforderungen eines „Privatverwaltungsrechts“ erwachsen.44 Derart spezifische Verflechtungen vermag nur ein rechtsformunabhängiges Verwaltungsvertragsgesetz aufzunehmen und im Wege einer dogmatischen Annäherung öffentlich-rechtlicher und zivilrechtlicher FormeleVgl. Beirat, NVwZ 2000, 834; Schmitz, DVBl. 2005, 20 f. Hoffmann-Riem, DVBl. 1994, 1386; Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem / SchmidtAßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1996, S. 7 ff.; Hoffmann-Riem, in: ebd., S. 261 ff.; Schmidt-Aßmann (Fn. 4), S. 294 ff. 43 Krebs, VVDStRL 52 (1993), 274. 44 Schmidt-Aßmann (Fn. 4), S. 296. 41 42
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mente in ein interessengerechtes Normprogramm umzusetzen. Die Frage nach dem für Streitigkeiten eröffneten Rechtsweg kann dann dem Einzelfall überlassen bleiben oder mittels einer gesetzgeberischen Sonderzuweisung entschieden werden. Insgesamt ist daher zu Recht wiederholt ein solches einheitliches Vertragsgesetz gefordert worden. Es hat alle dogmatische Konsequenz für sich und wirkt einer Rechtszersplitterung entgegen. Allerdings ist nicht zu verkennen, dass die Notwendigkeit, die – hier nur angedeuteten – makrodogmatischen Einsichten auf die Mikroebene kodifikationstauglicher Regelungsbausteine herunterzubrechen, ein immenses Arbeitsprogramm vorgibt. Diesem Umstand ist gewiss auch die Zurückhaltung geschuldet, die hier auf Seiten der an der Gesetzgebungsarbeit Beteiligten vorherrscht.45 Der systemübergreifende Ausbau des administrativen Vertragsrechts bleibt gleichwohl aufgegeben – auch wenn es große Kodifikationsideen heute generell schwer haben, Wirklichkeit zu werden, wie etwa am Beispiel des Umweltgesetzbuchs abgelesen werden kann.46
IV. Inhalte und Defizite der einzelnen Novellierungsansätze Der große Wurf scheint freilich um so ferner zu liegen, als auch der bescheidenere Bund-Länder-Musterentwurf von 2004 bislang keinen legislatorischen Eifer ausgelöst hat. Zieht man in Erwägung, dass schon die Geburtswehen des Verwaltungsverfahrensgesetzes bis zu seinem Inkrafttreten am 1. Januar 1977 viele Jahre andauerten – der (erste) Bund-Länder-„Musterentwurf eines Verwaltungsverfahrensgesetzes“ stammt aus dem Jahr 1963 (EVwVfG 1963; Münchner Fassung von 1966) –, so mag die gegenwärtig anhaltende Zurückhaltung in der Reform der §§ 54 ff. VwVfG noch nicht hinreichen, um in endgültige Resignation zu verfallen. Gleichwohl vernimmt man den Stillstand mit einiger Verwunderung, hat doch die vertragliche Zusammenarbeit zwischen Verwaltung und Privatunternehmer im Zuge der Privatisierungswellen der letzten Jahre eine erhebliche Zunahme und Aufwertung erfahren und damit nachhaltige Fragen seiner Einordnung in das vorhandene Verwaltungsvertragssystem aufgeworfen,47 die eher früher denn später einer Antwort harren. So wollen die einzelnen „Aufmerksamkeitsfelder“ (Hoffmann-Riem), denen sich der Musterentwurf zuwendet, nachfolgend noch einmal aufgegriffen und die dazu gebotenen Antworten hinterfragt werden. Während Hartmut Maurer den Vorschlägen nicht allzu viel abzugewinnen vermag,48 weil sich ihre Regelungen zum Kooperationsvertrag ohne weiteres aus allgemeinen Bestimmungen oder aus bereits 45 Freilich wird man nicht fehlgehen, hier auch anhaltende Ressentiments im Schatten Mayers für mitursächlich zu halten; so etwa Bauer (Fn. 2), § 36 Rn. 6 f. m.N. 46 Vgl. auch Kahl (Fn. 35), S. 105 ff. 47 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 17. Aufl. 2008, § 14 Rn. 17a. 48 Maurer (Fn. 47), sowie ders., Festschrift Püttner, 2006, S. 54 f.
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bestehenden gesetzlichen Vorschriften für ähnlich gelagerte Fälle ableiten ließen, entdeckt die Gegenansicht mehrere Aufmerksamkeitslücken und behauptet folglich Nachbesserungsbedarf. 1. Festschreibung des Kooperationsvertrages Hervorstechend ist sicherlich, dass die verwaltungsrechtliche Vertragskooperation zwischen Staat und Bürger als gleichwertiger Typus neben dem subordinationsrechtlichen Vertrag – in § 54 Abs. 3 VwVfG-ME – gesetzlich verankert werden soll. Die Vorschrift hat freilich eher klarstellenden Charakter, weil der Kooperationsvertrag schon bisher – nach § 54 S. 1 VwVfG – zulässig war. Doch in der eigenständigen Benennung verfolgt sie eine edukatorische oder appellative Funktion: Der Verwaltung soll ein gewisser „normativer Rückenwind“ gegeben, d. h. sie soll darin bestärkt werden, den Vertrag als Mittel der Aufgabenwahrnehmung häufiger zu nutzen.49 Außerdem zieht sie die Notwendigkeit nach sich, den subordinationsrechtlichen Vertrag klar abzugrenzen, so dass dieser an begrifflicher Schärfe wiedergewinnen und folglich der Anwendungsbereich der an ihn anknüpfenden Schutzregeln enger gezogen wird.50 Der damit eingefangene praktische Horizont bleibt allerdings beschränkt. Ausdrücklich erfasst die Vorschrift allein öffentlich-rechtliche Verträge, also lediglich Kooperationsverträge in Ausübung öffentlich-rechtlicher Verwaltungstätigkeit von Bundes-, Landes- oder Kommunalbehörden. Darunter fallen unstreitig nur die Beleihungsverträge51 und die so genannten Verwaltungssubstitutionsverträge52. Nicht ganz so eindeutig liegen die Dinge schon bei den Verwaltungshelferverträgen im Zuge funktionaler Privatisierung. Wohl spricht mehr dafür, diese dem öffentlichen Recht zuzuordnen,53 aber ganz zweifelsfrei ist das nicht.54 Jedenfalls aber bleiben die praktisch wichtigen zivil- und gesellschaftsrechtlichen Vertragskonstellationen zwischen Verwaltung und Bürger ebenso wie die (Vertrags-)Fälle des Verwaltungsprivatrechts, somit namentlich der Bereich der PPP-Verträge,55 von vornherein außen vor. Insofern stellt sich also nach wie vor die ungeklärte Frage, ob und inBonk (Fn. 9), § 54 Rn. 15: „Signal- und Symbolwirkung“. S. oben bei Fn. 38. – Eine Ausdifferenzierung verschiedener Typen des Kooperationsvertrags erscheint hingegen – entgegen mancher literarischer Vorschläge – wenig hilfreich; ein weiterführender ordnungsbildender Ertrag wäre damit kaum verbunden. 51 Diese setzen allerdings eine sondergesetzliche Beleihungsbefugnis voraus; dass sich daran nichts ändern soll, macht der zweite Halbsatz des § 54 Abs. 3 VwVfG-ME deutlich; dazu Schmitz, DVBl. 2005, 22. 52 Zur Figur der Verwaltungssubstitution Wolff / Bachof / Stober (Fn. 11), § 90a Rn. 23. 53 Vgl. z. B. Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe, 1999, S. 167 ff. 54 Siehe Stelkens, NWVBl. 2006, 2 f. 55 Dazu allerdings unlängst das Gesetz zur Beschleunigung der Umsetzung von Öffentlich Privaten Partnerschaften und zur Verbesserung gesetzlicher Rahmenbedingungen für Öffentlich Private Partnerschaften vom 1. 9. 2005 – ÖPP-Beschleunigungsgesetz, BGBl. I, S. 2676. 49 50
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wieweit die §§ 54 ff. VwVfG analog oder als allgemeine Rechtsgrundsätze herangezogen werden können.56 Auch hinsichtlich der spezifischen Maßgaben, denen die Handlungsform des Kooperationsvertrages unterworfen werden soll, fällt der Befund zwiespältig aus. Die in § 56 a VwVfG-ME enthaltene Regelung verpflichtet die vertragsschließende Behörde dazu sicherzustellen, dass ihr ein hinreichender Einfluss auf die ordnungsgemäße Erfüllung der Aufgabe verbleibt. Zwar ist unverkennbar, dass dies – nach anfänglicher Zurückhaltung im Beirat Verwaltungsverfahrensrecht – die Überlegungen zur Verantwortungsteilung im öffentlich-privaten Zusammenwirken aufnimmt; bei der Behörde sollen dementsprechend Rückhol- und Steuerungsmöglichkeiten verbleiben.57 Doch ist ebenso unverkennbar, dass mit dem schlichten oder pauschalen Sicherstellungsgebot dem öffentlichen Vertragspartner weder eine praktisch handhabbare Anleitung gegeben noch eine fest umrissene Bedingung vorgegeben wird. Ohnehin ist unklar, ob die Sicherstellung in dem Vertrag selbst erfolgen muss. In Anbetracht dieser Vagheit der Formel nimmt sich der Boden unter den Füßen ziemlich treibsandig aus; die Konkretisierung der Einflussformel wird letztlich der kontrollierenden Gerichtsbarkeit überantwortet. Nicht nur, dass sich der Entwurf damit hart an dem Reformziel einer „gesetzlichen Dirigierung“ der Vertragspraxis reibt. Hinzu kommt auch, dass sich hier für den privaten Vertragspartner schwer kalkulierbare, je nach der vorbehaltenen oder – um einer (vermeintlichen) Nichtigkeit des Vertrages vorzubeugen (§ 59 Abs. 2a VwVfG-ME) – beanspruchten Einflussintensität unter Umständen hohe Risiken auftun.58 Natürlich sind sich die Verfasser des Novellierungsvorschlags dieser Vagheit bewusst. Gelegentlich war gar von einer „Verlegenheitslösung“ zu hören: Einerseits wollen die rechtsstaatlichen Anforderungen an Kooperationsverträge irgendwie normativ eingefangen werden,59 andererseits mahnt die Vielfalt der Verwaltungswirklichkeit zu legislatorischer Zurückhaltung, weil sich die praktischen Auswirkungen nur schwer, jedenfalls nicht hinreichend abschätzen lassen. Gleichwohl bliebe zu überlegen, ob nicht das Sicherstellungserfordernis in einen konkreteren verfahrenrechtlichen Rahmen einzubetten wäre. So wäre der Vorschlag Ziekows, dem Vertragsschluss ein Verfahren der Verantwortungsbilanzierung vorzuschalten, aus Gründen der Verwaltungsdisziplinierung sicher weiterhin des Nachdenkens wert. In die gleiche Richtung zielt die Erwägung, gesetzlich bestimmte Klauseln zu Vertragsmindestinhalten vorzugeben.60 Vgl. auch Bonk (Fn. 9), § 54 Rn. 16. Schmitz, DVBl. 2005, 22. 58 Ähnlich Bonk (Fn. 9), § 54 Rn. 19. 59 Jedenfalls bei den Verwaltungshelferverträgen wird ein hinreichender Einfluss der Behörde auf die ordnungsgemäße Erfüllung der Verwaltungsaufgabe freilich ohnehin als ungeschriebene Rechtsmäßigkeitsvoraussetzung angesehen, vgl. Stelkens, NWVBl. 2006, 5 m. w. N. 60 Vgl. Ziekow (Fn. 17). 56 57
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2. Vertragspartnerauswahl und Transparenz Überhaupt muss es erstaunen, wie wenig Aufmerksamkeit auf Verfahrensfragen der Vertragsanbahnung gelegt wird. Insbesondere das bei Kooperationsverträgen virulente Auswahlproblem, wer denn der unter mehreren „Anbietern“ geeignete Partner für die arbeits- und verantwortungsteilige Aufgabenerledigung ist, wird nicht angegangen; und ebensowenig die damit verbundenen Probleme der Transparenz und der Diskriminierungsfreiheit der Auswahlentscheidung. Doch dass sich die Verwaltung ganz und gar freihändig, um nicht zu sagen: freirechtlich, und hinter verschlossenen Türen ihren Kooperationspartner aussucht, bricht sich an grundlegenden rechtsstaatlich-demokratischen Maximen, die auch in der allgemeinen Öffentlichkeit zunehmend sensibler Beobachtung unterliegen. Zwar soll die Behörde gemäß § 56 a S. 2 VwVfG-ME nur einen Vertragspartner auswählen, der fachkundig, leistungsfähig und zuverlässig ist. Doch wird dadurch das genuine Auswahlproblem nicht gelöst. Auch der Hinweis, dass hier gegebenenfalls das Vergaberecht (§§ 97 ff. GWB i. V. m. VgV oder VOL / VOB / VOF oder kommunales Haushaltsrecht) eingreift, befriedigt nicht. Zwar ist es kaum mehr umstritten, dass öffentlich-rechtliche Verträge auch öffentliche Aufträge im Sinne des § 99 GWB sein können, also im Einzelfall dem Regime des Vergaberechts unterfallen.61 Jedoch bleibt das Problem unterschiedlicher Anforderungen oberund unterhalb der Schwellenwerte des § 2 VgV,62 ebenso die ungeklärten Fragen des Verhältnisses zwischen den §§ 9 ff., 54 ff. VwVfG einerseits und den §§ 97 ff. GWB andererseits bzw. der Zuständigkeiten von Verwaltungsgerichten einer- und Vergabekammern und -senaten andererseits. Schließlich entfällt überhaupt die vergaberechtliche Steuerung bei Beleihungsverträgen und (wohl auch) in den Fällen so genannter Dienstleistungskonzessionen, bei denen die Gegenleistung des öffentlichen Auftraggebers nicht in einem bestimmten Entgelt besteht, sondern in der Gewährung eines Rechts des privaten Auftragnehmers, seine Leistung eigenhändig zu verwerten. Es sollte nach alldem erwogen werden, die normativen Vorgaben für den Kooperationsvertrag zumindest (und generell) um eine Pflicht zur Veröffentlichung des Vertragsschlusses wie auch des vorangehenden Vertragsentwurfs (nach Paraphierung) zu ergänzen. Gewiss ist nicht zu verkennen, dass ein Zuviel an Verfahrensbindungen in der Praxis allzuleicht Vermeidungsstrategien hervorrufen und damit das Bemühen unterwandern kann, den Kooperationsvertrag zu einem attraktiven Handlungsinstrument auszubauen. Dem kann jedoch entgegen gehalten werden, dass die genannte Publizitätspflicht gerade geeignet erscheint, die Akzeptanz zu erhöhen. Mit der Transparenz, die sie schafft, wird dem Vertragshandeln weitere Burgi, NZBau 2000, 57 ff.; Stelkens, NWVBl. 2006, 4 m. w. N. Zur Notwendigkeit der Durchführung des Vergabeverfahrens nach §§ 97 ff. GWB für oberschwellige öffentliche Aufträge vgl. grundsätzlich EuGH, Urt. v. 12. 7. 2001 – Rs. C-399 / 98, Slg. 2001, I-5409 Rn. 73 ff. 61 62
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Legitimation zugeführt und ein Wettbewerb um die private Vertragspartnerschaft ermöglicht, der nicht zuletzt auch der Redlichkeit und Wirtschaftlichkeit der Verwaltung zugute kommt. Zudem erführe hiermit der gebotene Rechtsschutz Drittbetroffener eine verfahrensrechtliche Verstärkung. Die Veröffentlichung des Vertragsentwurfs eröffnete die Möglichkeit, frühzeitig dem Vertrag entgegenstehende Rechte Dritter zu kommunizieren.63 3. Abhängigkeit von der Zustimmung Dritter In materieller Hinsicht wird den Schutzinteressen Dritter nach geltendem Recht dadurch Rechnung getragen, dass § 58 Abs. 1 VwVfG die Wirksamkeit eines in Rechte Dritter eingreifenden Verwaltungsvertrages von dessen Zustimmung abhängig macht. Dabei soll es nach dem VwVfG-ME auch zukünftig bleiben. Die damit eintretende schwebende Unwirksamkeit des Vertrages läuft freilich dann, wenn der betroffene Personenkreis unübersehbar ist, den Interessen der Vertragsparteien zuwider, möglichst bald über den Bestand ihres Vertrages Gewissheit zu haben. Daher war von Ziekow die Umstellung auf eine schwebende Wirksamkeit, d. h. ein befristetes Einspruchsrecht Drittbetroffener, vorgeschlagen worden.64 Der Beirat Verwaltungsverfahrensrecht befürchtete hier indessen rechtsstaatliche Einbußen für die Rechtsstellung Dritter, die durch den Ertrag an praktischer Vertragssicherheit nicht aufgewogen würden. 4. Verzicht auf die Urkundeneinheit Zur Schriftformregelung des § 57 VwVfG begnügt sich der Novellierungsvorschlag mit dem Verzicht auf die Urkundeneinheit. Dies kommt gewiss den dringlichen Praxisbedürfnissen insbesondere bei standardisierten Massenverträgen etwa im Kommunalbereich (z. B. Anstaltsbenutzungsverhältnisse) entgegen. Ob freilich in diesen Fällen nicht überhaupt vom Schriftformerfordernis abgewichen werden kann, wird man im Blick auf die strenge Nichtigkeitsfolge des § 126 Abs. 2 BGB (i. V. m. § 59 Abs. 1 VwVfG) noch weitergehend diskutieren können. Im Übrigen aber erscheint die Beibehaltung der notwendigen Schriftform – das ist mit der Formulierung „Austausch übereinstimmender Erklärungen“ in § 57 S. 2 VwVfGME impliziert – wegen ihrer Beweis- und Warnfunktion nach wie vor sachgerecht. 5. Die Änderungen im Fehlerfolgenrecht Nach dem Musterentwurf bleibt es zunächst bei den Regelungen des § 59 Abs. 1 und Abs. 2 VwVfG und bei der Differenzierung, dass nicht jeder Rechtsfehler des 63 64
So schon Krebs, VVDStRL 52 (1993), 261 f. Vgl. Ziekow (Fn. 17).
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Vertrages zu dessen Unwirksamkeit führen soll. Das stellt sich ganz allgemein als das Ergebnis einer Abwägung dar zwischen den Verfassungsprinzipien der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, der Rechtssicherheit und – auf Seiten des Privaten – des Vertrauensschutzes. Speziell für den Kooperationsvertrag soll sodann als zusätzlicher Nichtigkeitsgrund hinzutreten, dass die Behörde beim Abschluss des Vertrages nicht sichergestellt hat, dass ihr ein hinreichender Einfluss auf die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung verbleibt. Ob das überzeugt, erscheint indes zweifelhaft. Zunächst nimmt es sich wenig einleuchtend aus, dass die Notwendigkeit einer (sonder)gesetzlichen Grundlage für eine vertragsförmliche Beleihung noch in § 54 Abs. 3 HS. 2 VwVfG-ME betont wird, für eine Verletzung dieses Vorbehalts jedoch eine ausdrückliche Rechtsfolge nicht bestimmt wird65 – mag sich auch insofern eine Nichtigkeitsfolge aus § 59 Abs. 1 VwVfG i. V. m. § 134 BGB herleiten lassen. Vergleichbares gilt in Bezug auf das Gebot in § 56 a S. 2 VwVfG-ME, Kooperationsverträge nur mit einem fachkundigen, leistungsfähigen und zuverlässigen Vertragspartner zu schließen, und das damit in sachlichem Zusammenhang stehende Verbot der Diskriminierung von Mitbewerbern an der Kooperation. Überdies erheben sich im Detail wie im Grundsätzlichen Nachfragen: So soll durch die Regelung ersichtlich ein Nichtigwerden des Vertrags im Verlaufe seines Vollzugs ausgeschlossen sein. Maßgebend für die Rechtsfolge ist allein, ob zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses alles absehbar Erforderliche getan wurde, um den behördlichen Einfluss zu sichern.66 Dies trägt in sachgerechter Weise dem Bedürfnis nach Bestandssicherheit Rechnung. In der Konsequenz dessen vermisst man aber dann eine Verpflichtung zur regelmäßigen Evaluation und zur Nachbesserung, wenn sich nachträglich herausstellt, dass die behördlichen Einflussinstrumente nicht hinreichen. Eine entsprechende Ergänzung müsste jedenfalls im Dienste einer andauernden Qualitätssicherung der Aufgabenerfüllung noch erwogen werden. Des weiteren: Wenn schon zuvor die Vagheit des Gebots der Einflusssicherung kritisch betrachtet werden musste, so potenziert sich jetzt das Problem in der Härte, die die Nichtigkeit als Fehlerfolge bedeutet. Hier liegt eine absehbare Quelle für entstehende Unsicherheit und fehlende Praktikabilität. Die Vertragsgestaltung wird belastet durch ein nur schwer kalkulierbares Damoklesschwert, zumal sich nicht nur die Behörde, sondern selbstredend auch der private Vertragspartner auf diesen Nichtigkeitsgrund berufen könnte, etwa um seine Loslösung aus dem ihm aus welchen Gründen auch immer lästig gewordenen Vertrag zu betreiben.67 Weil sich dies zu der Absicht, die Handlungsform des Kooperationsvertrages zu befördern, kontraproduktiv verhält, wird man hier über eine Nachbesserung, entweder an den Voraussetzungen oder an der Fehlerfolge, noch nachzudenken haben. 65 66 67
So zu Recht Stelkens, NWVBl. 2006, 5. Insofern nicht differenzierend Stelkens, NWVBl. 2006, 5. Vgl. auch Stelkens, NWVBl. 2006, 5.
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Ein wichtiger Schritt, diese „Nichtigkeitsfalle“ zu entschärfen und zugleich den Flexibiltätsbedürfnissen der Vertragspartner Rechnung zu tragen, ist die Entwurfsregelung des § 59 Abs. 4 VwVfG-ME. Sie gewährt jeder Partei eines Kooperations-, ebenso eines Austauschvertrages nach § 56 VwVfG, den Anspruch, im Falle einer an sich nichtigen Vertragsgestaltung anstelle einer Rückabwicklung eine Anpassung des Vertrages zu verlangen. Diese Vertragserhaltungsnorm gehört zu den praktisch bedeutsamsten Elementen des Reformpakets68 und sucht auf nahe liegende praktische Anliegen ebenso zu reagieren wie auf manche, als unbefriedigend empfundene Rechtsprechung. Letzteres hat insbesondere wiederum die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Mai 2000 im Auge:69 Nichtigkeit eines Austauschvertrages wegen Verstoßes gegen das Koppelungsverbot, indem anstelle eines nicht mehr festsetzbaren Erschließungsbeitrages die Zahlung eines Geldbetrages zur Unterhaltung städtischer Kinderspielplätze im Gegenzug gegen die Änderung eines Bebauungsplanes (nachträgliche Ausweisung des Außenbereichsgrundstückes als Wohngebiet) vereinbart worden war (und sich der Grundstückseigentümer nach Realisierung des Bauvorhabens – ohne Verstoß gegen Treu und Glauben – auf die Nichtigkeit beruft, um die Rückerstattung des gezahlten Geldbetrages zu erlangen).70 In solchen Fällen bietet sich die – von jeder Vertragspartei einforderbare – Verpflichtung zur Vertragsanpassung als alternative Lösung geradezu an. Klar muss freilich sein, dass es dann – ebenso wie für den Fall des § 59 Abs. 2a VwVfG-ME – ausgeschlossen ist, die Nichtigkeitsfolge (der Verletzung des Koppelungsverbots oder des Gebots der Sicherstellung hinreichenden behördlichen Einflusses) stattdessen „über“ § 59 Abs. 1 VwVfG (i. V. m. § 134 oder § 138 BGB) zu begründen, um die Anwendung der Vertragsanpassungsregel zu umgehen.71 Allerdings bleibt zu erwägen, ob nicht die Auflockerung der Nichtigkeitsfolge auch in den Fällen des § 59 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG – wenn ein Verwaltungsakt mit gleichem Inhalt nichtig wäre –, des § 59 Abs. 2 Nr. 2 VwVfG – bei kollusivem Herbeiführen eines rechtswidrigen Zustands – und des § 59 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG – wenn das gegenseitige Nachgeben bei einem Vergleichsvertrag nicht durch eine Ungewissheit bedingt war – vorgesehen werden sollte.
V. Fazit Die positiv-rechtliche Anerkennung, die die vertragliche Beteiligung Privater an der Erfüllung öffentlicher Aufgaben nach dem VwVfG-ME erfahren soll, ist alles in allem zu begrüßen. Gleiches gilt namentlich für die prinzipielle Fehlerfolgenalternative der Vertragsanpassung. Hingegen besteht bei den handlungsanleitenden Eingehend dazu Schmitz, DVBl. 2005, 23 f. BVerwGE 111, 162 ff. 70 Kritisch dazu Butzer, DÖV 2002, 881 ff. 71 Die insofern vorgetragenen Einwände von Stelkens, NWVBl. 2006, 6, gegen die praktische Bedeutung der Vertragsanpassungsregel dürften also nicht durchgreifen. 68 69
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Voraussetzungen für die Verwendung des Kooperationsvertrags weiterer Diskussions- und Nachbesserungsbedarf. Hier sollte die „kleine Lösung“ nicht ganz so klein ausfallen. Es bleibt dem Reformvorhaben zu wünschen, dass es auf seinem weiteren Weg noch etwas mehr Mut findet.
Das Instrumentarium des Bundes zur Steuerung der Auftragsverwaltung der Länder Am Beispiel der Revision des Kerntechnischen Regelwerks Von Josef Isensee
I. Die kompetenzrechtliche Basis „Auch die Bundesauftragsverwaltung (Art. 85 GG) stellt echte Landesverwaltung dar“, schreibt Herbert Bethge.1 Die These versteht sich nicht von selbst. Der Wortlaut des Grundgesetzes scheint dafür zu sprechen, daß die Länder doch nur als Werkzeuge des Bundes fungieren, wenn sie die Bundesgesetze ausführen. Immerhin handelt es sich hier nicht um eine „eigene Angelegenheit“ wie die Bundesaufsichtsverwaltung gemäß Art. 84 GG. In der Auftragsverwaltung stehen dem Bund umfassende Befugnisse zu, um Inhalt und Verfahren des Gesetzesvollzugs zu steuern. Diese reichen weiter als die der Aufsichtsverwaltung nach Art. 84 GG. Nach Art. 85 Abs. 4 GG beschränkt sich die Bundesaufsicht nicht auf die Rechtmäßigkeit; vielmehr erfaßt sie auch die Zweckmäßigkeit. Die Landesbehörden sind, ohne daß es einer besonderen gesetzlichen Ermächtigung bedürfte, von Verfassungs wegen auf ganzer Linie den Weisungen der obersten Bundesbehörden unterstellt. Der Bund gewinnt Einfluß auf das Personalwesen der Länder durch Regelung der einheitlichen Ausbildung sowie durch den Zustimmungsvorbehalt für die Bestellung der Leiter der Mittelbehörden. Er kann sogar die Einrichtung der Behörden gesetzlich regeln. Bei der Ausübung all dieser Befugnisse stößt der Bund auf keine inhaltlichen Barrieren, die ein Eigenrecht der Länder absicherten, ihn unter Rechtfertigungszwang setzten und an das Übermaßverbot bänden. Das Übermaßverbot ist von vornherein nicht anwendbar, weil ein vorgegebener, prinzipiell zu schonender Schutzbereich fehlt. Das Grundgesetz schützt hier nicht die Verwaltungsautonomie der Länder und ihre Eigenverantwortlichkeit.2 Zwar kommt ihnen zunächst die umfassende Verwaltungshoheit im Geltungsbereich des Art. 85 GG zu; sie deckt Verfahren wie Inhalt, Erlaß und Vorbereitung von Entscheidungen. Doch die Kompe1 Herbert Bethge, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon (StL), 1. Bd., 7. Aufl. 1985, Sp. 1019 (Sp. 1022). 2 So aber Rudolf Steinberg, Bundesaufsicht, Länderhoheit, Atomgesetz, 1990, S. 27 ff.
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tenznorm des Art. 85 GG bietet keinen Bestandsschutz. Sie unterscheidet sich von der institutionellen Garantie, wie sie das Grundgesetz für die kommunale Selbstverwaltung vorsieht (Art. 28 Abs. 2 GG).3 Die kompetenzrechtlichen Generalklauseln der Art. 30 und 83 GG haben nur die regelungstechnische Auffangfunktion, um etwaige Kompetenzlücken zu füllen.4 Insofern regeln sie die Kompetenzverteilung. Doch sie regeln nicht die Kompetenzausübung, etwa dahin, daß sie den Ländern den Vorrang im Handeln und dem Bund nur eine subsidiäre Rolle zuwiesen. Die allgemeinen Kompetenzverteilungsregeln zeitigen auch nicht inhaltliche Wirkungen dahin, daß Ausnahmen eng auszulegen seien, daß eine Kompetenzvermutung zugunsten der Länder bestehe oder gar, daß den Ländern ein subjektives Recht auf Kompetenz zukomme.5 Dabei mag die dogmatische Grundsatzfrage dahinstehen, ob die Kategorie des subjektiven Rechts nicht dem Außenrecht von Staat und Bürger vorbehalten und im Innenrecht von Bund und Ländern schlechthin unanwendbar ist,6 oder ob die Kategorien des subjektiven Rechts und der Kompetenz konvertibel sind.7 Die Kompetenzordnung ist flächendeckend konzipiert. Die einzelnen Kompetenznormen beanspruchen strikte Geltung. Sie widersetzen sich der interpretatorischen Aufweichung und Abwägung.8 Eine Kompetenzausübungssperre, wie sie das Grundgesetz für die konkurrierende Gesetzgebung in Art. 72 Abs. 2 vorsieht, besteht für die Ingerenzrechte der Bundesauftragsverwaltung nicht. Auch das Prinzip des bundesfreundlichen Verhaltens taugt nicht dazu, einen kompetenziellen Schutzbereich aufzubauen und Kautelen gegen die Ausübung der Ingerenzrechte des Bundes zu deduzieren.9 Vollends schützen die Grundrechte die Länder nicht vor „Eingriffen“ des Bundes, weil sie, selber nicht grundrechtsfähig, auch nicht dazu berufen sind, Grundrechte Drittbetroffener zu verteidigen. Die Grundrechte, die im Außenverhältnis Staat – Bürger gelten, greifen nicht in die bundesstaatlichen Innenbeziehungen ein.10 Die verschiedenen Ansätze des Schrifttums, den Ingerenzrechten des Bundes durch Konstrukte von inhaltlichen Eigen- und Gegenpositionen der Länder Maß und Grenze zu setzen, haben sich nicht durchgesetzt. Über sie ist die Judikatur hinweggegangen. Für das heutige Kompetenzverständnis sind sie belanglos, seit das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1990 die Richtungsentscheidung getroffen hat.11 Josef Isensee, in: ders. / Kirchhof, HStR, Bd. VI, 3. Aufl. 2008, § 133 Rn. 56 ff. Isensee (Fn. 3), § 133 Rn. 47. 5 Letztere These vertritt Walter Pauly, Anfechtbarkeit und Verbindlichkeit von Weisungen in der Bundesauftragsverwaltung, 1989, S. 97 ff., 179 ff. 6 Siegfried Broß, in: v. Münch / Kunig, GG, 5. Aufl. 2003, Vorbem. Art. 83-87 Rn. 4; Ulrike Müller / Karl-Georg Mayer / Ludwig Wagner, AöR 127 (2002), 587 ff. 7 Dafür Herbert Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Bethge, BVerfGG, Stand 2002, § 63 Rn. 7 – im Anschluß an Wolfgang Roth, Verwaltungsgerichtliche Organstreitigkeiten, 2001, bes. S. 94 ff., 117 f. 8 Isensee (Fn. 3), § 133 Rn. 49 ff., 75 f., 77 ff. 9 Anders aber Steinberg (Fn. 2), S. 37 ff. 10 BVerfGE 61, 82 (103 f.); 81, 310 (334); anders noch Steinberg (Fn. 2), S. 34 f.; Pauly (Fn. 5), S. 209 ff. 3 4
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Nunmehr ist klargestellt: Die Kompetenzverteilung nach Art. 85 GG folgt der Unterscheidung zwischen staatsinterner Entscheidungsmacht (Sachkompetenz) und Ausführung nach außen (Wahrnehmungskompetenz). Nur letztere ist den Ländern unentziehbar vorbehalten. Erstere kommt zwar genuin den Ländern zu; doch steht sie von vornherein unter dem Vorbehalt ihrer Inanspruchnahme durch den Bund. Solange die Sachkompetenz bei dem jeweiligen Land verbleibt, trägt dieses die volle Verwaltungsverantwortung. Es unterliegt lediglich der aufsichtlichen Rechtmäßigkeits- und Zweckmäßigkeitskontrolle des Bundes (Art. 85 Abs. 4 GG). Dieser kann jedoch die Sachkompetenz für sich beanspruchen, indem er sein Weisungsrecht ausübt. „Diese Inanspruchnahme ist nicht auf Ausnahmefälle begrenzt und auch nicht weiter rechtfertigungsbedürftig; sie ist, wie Art. 85 Abs. 3 GG erkennen läßt, als reguläres Mittel gedacht, damit sich bei Meinungsverschiedenheiten das hier vom Bund zu definierende Gemeinwohlinteresse durchsetzen kann. Mithin steht die Sachkompetenz dem Land von vornherein nur unter dem Vorbehalt ihrer Inanspruchnahme durch den Bund zu.“12 Der Bund kann die umfassende Geschäftsleitungsbefugnis aktualisieren, die den Verfahrensgang wie den Letztentscheid über die Sache einschließt (Art. 85 Abs. 3 GG). Wenn er seine Weisungsbefugnis berechtigterweise in Anspruch nimmt, entfällt die eigene Sachkompetenz des Landes. Daher wird es nicht in einem eigenen Recht betroffen, wenn eine Weisung des Bundes inhaltlich gegen die Verfassung verstößt. Es hat die Weisung zu befolgen, von Grenzsituationen abgesehen, in denen die Weisung grob gegen die Verfassung verstößt, die Allgemeinheit in Leben und Gesundheit unmittelbar gefährdet oder sonst die Grenze des Verantwortbaren überschreitet.13 Das Land muß für den nach außen wirkenden Weisungsvollzug als Folge seiner Wahrnehmungskompetenz in der Rolle als Beklagter einstehen. Doch trägt es darüber hinaus keine eigene Verantwortung für die Sachentscheidung, die es aufgrund der Weisung getroffen hat. Die parlamentarische Verantwortung liegt beim zuständigen Bundesminister. Die finanziellen Lasten trägt letztlich der Bund (Art. 104a Abs. 2 und Abs. 5 S. 1 GG). Wenn der Bund seine Sachkompetenz ausschöpft, bleibt dem Land nicht viel mehr als die Fassade der Macht, indes die Macht selber, wenn auch nach außen unsichtbar, beim Bund liegt. So kann der Bund das Land anweisen, wider dessen eigene politische Intentionen einen Prozeß gegen einen Dritten zu führen; als Prozeßpartei kann das Land nicht die Aktionen des Prozeßvertreters beeinflussen, dem es doch förmlich das Mandat erteilt hat. Gleichwohl stößt der Bund auf eine unübersteigbare Grenze: Die Wahrnehmungskompetenz ist tabu. Außenwirksame Akte kann er selber auch nicht im Wege der Ersatzvornahme treffen. Seine Direktiven bedürfen stets der Umsetzung durch das Land. 11 BVerfGE 81, 310 (331 ff.) – Kalkar II; vgl. auch BVerfGE 104, 249 (264 ff.) – Biblis. Dazu Friedrich Loschelder, Die Durchsetzbarkeit von Weisungen in der Bundesauftragsverwaltung, 1998, S. 85 ff. Didaktische Folgerungen: Herbert Bethge / Jochen Rozek, Jura 1995, 213 ff.; kritisch Fritz Ossenbühl, Festschrift Badura, 2004, S. 978 ff. 12 BVerfGE 81, 310 (332). 13 BVerfGE 81, 310 (333 f.).
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Eine erste kompetenzrechtliche Bilanz: Das „Hausgut“, das dem Land in der Auftragsverwaltung verbleibt, fällt kärglich aus. Doch wenn das Land infolge der Ingerenz des Bundes nicht mehr Inhalt und Verfahren seines außenwirksamen Handelns bestimmen kann, so kann es wenigstens auf Einhaltung von Form, Verfahren und Zuständigkeiten der Ingerenzen des Bundes bestehen. Diese formellen Voraussetzungen bilden den Gegenstand der folgenden Untersuchung.
II. Revision des Kerntechnischen Regelwerks als Exempel 1. Problemzentrum Kernenergie Die Frage nach Form und Möglichkeiten der Einwirkungen des Bundes und nach einer rechtlich gesicherten Position der Länder erhebt sich immer wieder beim Vollzug des Atomgesetzes. Dieser gehört zur (fakultativen) Auftragsverwaltung (§ 24 Abs. 1 S. 1 AtG i. V. m. Art. 87c GG).14 Auf dem Feld der Kernenergie finden die politischen Machtproben zwischen Bund und Ländern statt, seit in den Achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts der Konsens über die zivile Nutzung zerbrach. Wo die Politik sich nicht mehr einigen kann, tritt die Jurisprudenz auf den Plan. Ihr fällt die Aufgabe zu, die kompetenzrechtlichen Grenzen innerhalb der Auftragsverwaltung genau zu bestimmen. Der Streit um die Kernenergie hat zu reichem Ertrag an richterrechtlichen und verfassungsdogmatischen Erkenntnissen geführt.15 Diese haben sich immer wieder an neuartigen Fragen zu bewähren, hier und heute an der Frage, in welcher Form und in welchem Verfahren der Bund die von ihm betriebene Revision des Kerntechnischen Regelwerkes erreichen kann. 2. Konvolut praktischer Standards von Sicherheit und Technik Das Kerntechnische Regelwerk ist ein Bündel disparater, zumeist informeller Bestimmungen, die unmittelbar oder mittelbar die Sicherheitsanforderungen für Kernkraftwerke nach dem „Stand von Wissenschaft und Technik“ betreffen. Das Atomgesetz bedient sich dieser Formel, um zu erwirken, daß die Genehmigungsbehörde in ihren Sicherheitsanforderungen mit der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung Schritt hält und diejenige Vorsorge trifft, die nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen als erforderlich gelten.16 Das Bundesverfassungsgericht hält diese unbestimmten Rechtsbegriffe, ungeachtet der Erkenntnis14 Entstehungsgeschichte: Christian Heitsch, Die Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder, 2001, S. 297 ff. 15 Norbert Janz, Das Weisungsrecht nach Art. 85 Abs. 3 GG, 2003, S. 116 ff.; Janbernd Oebbecke, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Bd. VI, 3. Aufl. 2008, § 136 Rn. 57. 16 BVerfGE 49, 89 (136) – Kalkar I – zu § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG.
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probleme, die sie aufwerfen, für vereinbar mit dem Erfordernis rechtsstaatlicher Bestimmtheit. Denn deren in die Zukunft offene Fassung diene einem dynamischen Grundrechtsschutz und helfe, den Schutzzweck des Atomgesetzes jeweils bestmöglich zu verwirklichen.17 Doch die Feststellung der maßgeblichen Tatsachen gestaltet sich für Behörden und Gerichte schwierig. Sie müssen in die Meinungsstreitigkeiten der Techniker eintreten, um zu ermitteln, was technisch notwendig, geeignet, angemessen und vermeidbar ist.18 Hier soll das Regelwerk abhelfen, das die Aufgabe von typisierten Sachverständigenauskünften übernimmt.19 Die Regeln, die hier gesammelt sind, entspringen nicht politischer Entscheidung. Vielmehr sind sie Niederschlag des technischen Sachverstandes, als solche Ausdruck des „technischen Staates“, wie Helmut Schelsky ihn beschreibt.20 Das Regelwerk ist ein Konvolut von Texten, die Sicherheitsstandards formulieren. Sie unterscheiden sich nach Herkunft, Inhalt, Abstraktionshöhe und rechtlicher Bedeutung. Erhebliche Teile des Regelwerks stammen aus den Siebziger und Achtziger Jahren. Es handelt sich um einen „weiten Kranz von Regelwerken, Maßstabsetzungen und Prüfungshinweisen mit unterschiedlichem Konkretisierungsgrad und diffuser Bindungswirkung“.21 Das Konvolut enthält unter anderem – Sicherheitsstandards des Bundesinnenministers (als Rechtsvorgänger des Bundesumweltministers) mit Sicherheitskriterien und Störfall-Leitlinien, – Sicherheitskriterien für Kernkraftwerke, die vom Länderausschuß für Atomkernenergie verabschiedet werden und ursprünglich als „fachtechnischer Teil“ für eine künftige Allgemeine Verwaltungsvorschrift vorgesehen waren, mit Definitionen und Grundsätzen, – Empfehlungen, Stellungnahmen und Leitlinien von Expertengremien wie der Reaktorsicherheits- und der Strahlenschutzkommission, – Sicherheitsstandards des Kerntechnischen Ausschusses.
Nach Auffassung des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) sind die „in der Praxis so wesentlichen Standards“ des Regelwerks mittlerweile veraltet; in weiten Teilen spiegelten sie nicht mehr den aktuel17 BVerfGE 49, 89 (137) – zu § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG; allgemein zu den materiell- und formellrechtlichen Kriterien: Hans-Werner Rengeling, Der Stand der Technik bei der Genehmigung umweltgefährdender Anlagen, 1985, S. 9 ff., 45 f., 81 ff., 90 ff. 18 BVerfGE 49, 89 (136) – unter Berufung auf Rüdiger Breuer, AöR 101 (1976), 68. 19 Vgl. BVerwGE 72, 300 (320); Hans-Werner Rengeling, Probabilistische Methoden bei der atomrechtlichen Schadensvorsorge, 1986, S. 84 ff.; Hans Schneider, Gesetzgebung, 3. Aufl. 2002, Rn. 404 (Nachw.). 20 Helmut Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, 1961, S. 20 ff. 21 Fritz Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 104 Rn. 9 – mit Übersicht über den Bestand. Vgl. auch Rengeling (Fn. 19), S. 23 ff.; Dieter Rauscher, in: Koch / Roßnagel, 12. Deutsches Atomrechtssymposium, 2004, S. 378 ff.
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len Stand von Wissenschaft und Technik.22 Das Bundesministerium beabsichtigt, wesentliche Teile des Kerntechnischen Regelwerks „entsprechend dem heutigen Stand von Wissenschaft und Technik zu aktualisieren“ und zu diesem Zwecke die zeitgemäßen Sicherheitsanforderungen für Kernkraftwerke auszuformulieren und bekanntzugeben.23 Nach den Vorstellungen des Ministeriums soll das neue Regelwerk die Sicherheitsanforderungen für Kernkraftwerke systematisch auf dem Abstraktionsniveau der bisherigen Sicherheitskriterien und RSK-Richtlinien darstellen.24 Das BMU würde es an sich begrüßen, wenn sich Bund und Länder darauf verständigen könnten, das Regelwerk im Rahmen einer Allgemeinen Verwaltungsvorschrift festzuschreiben. Doch hält es eine solche Förmlichkeit nicht für nötig.25 Für den Fall, daß eine Einigung nicht zustande kommen sollte, behält es sich den einseitigen Erlaß vor. Seiner Meinung nach ist es legitimiert, ein Regelwerk ohne Konsens mit den Ländern auszuarbeiten und in Form einer Bekanntmachung im Bundesanzeiger zu veröffentlichen.26 Damit erhebt sich die Frage, ob das Grundgesetz ein solches einseitiges Vorgehen ermöglicht. 3. Normative Qualität des Regelwerks a) Unverbindliche Handlungsanweisungen? Das kerntechnische Regelwerk fügt sich nicht ohne weiteres in das juristische Normen- und Formensystem. Es heißt sogar, daß ihm überhaupt die Qualität einer Rechtsnorm abgehe. Wäre das richtig, so erübrigte sich von vornherein die juristische Diskussion. In der Tat erheben sich Zweifel am Rechtscharakter. Das Regelwerk bildet ein Konvolut disparater Texte unterschiedlicher Herkunft, die Sicherheitsstandards formulieren und einschlägige Erfahrungen und Erkenntnisse speichern:27 ein Depot an handlungsgerecht aufbereiteten wissenschaftlichen, technischen und rechtlichen Daten. Man findet in ihm „Kochrezepte zur Reduktion von Komplexität anstehender Entscheidungen“28 und charakterisiert es als „antezipiertes Sachverständigengutachten“.29 22 Nach Auffassung des BMU besteht darüber Einigkeit zwischen Bund, Ländern und Beteiligten (Vorlage für die Sitzung des Länderausschusses für Atomkernenergie – Hauptausschuß am 19. 1. 2006, RS I 3 – 13310 / L1, S. 3). 23 BMU (Fn. 22), S. 2; dazu Dieter Rauscher, Sicherheitsanforderungen für Kernkraftwerke aus rechtlicher und praktischer Sicht, Vortrag am 4. / 5. 12. 2007, Typoskript, S. 1 ff. 24 BMU (Fn. 22), S. 2; grundsätzlich zur Fortschreibung des Standes der Technik und Anpassung von Anlagen Rengeling (Fn. 17), S. 70 ff. 25 BMU, Schreiben vom 29. 6. 2006 an die Betreiber der Kernkraftwerke, S. 5. 26 BMU (Fn. 22), S. 8 f. 27 Ossenbühl (Fn. 21), § 104 Rn. 9; vgl. auch Rengeling (Fn. 19), S. 23 ff.; Rauscher (Fn. 21), S. 378 ff. 28 Rauscher (Fn. 21), S. 380.
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Nach Auffassung des BMU bedürfen die neuen Sicherheitsanforderungen für Kernkraftwerke nicht der Form des Gesetzes, der Rechtsverordnung oder der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift. Sie bildeten nämlich „keine verbindlichen Handlungsanweisungen“ für den Vollzug des Atomgesetzes. Als kerntechnisches Regelwerk seien sie „Referenz für ausführungsunabhängige Anforderungen nach dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik, die Betreibern, Herstellern, Sachverständigen und Behörden sowie der interessierten Öffentlichkeit einen umfassenden Maßstab für die Beurteilung der kerntechnischen Sicherheit von Kernkraftwerken bieten soll“.30 Sie beschrieben die Sicherheitsstandards in ihrem konkreten Bezug auf die in Deutschland bestehenden Anlagen: „einen am Maßstab realisierter Kraftwerkstypen idealen Anlagenzustand oder Anlagenbetrieb nach dem Stand von Wissenschaft und Technik“.31 In ihnen mache das BMU die Maßstäbe transparent, denen es in der Ausübung der Bundesaufsicht folgen wolle.32 Anders gewendet: Das Regelwerk enthalte das Programm des BMU, wie es seine Sachkompetenz auszuüben gedenke. Aus seiner Sicht ändert die Neufassung des Regelwerks nicht das von Rechts wegen gebotene Niveau der Sicherheit. Vielmehr stellten die vorgeschlagenen Anforderungen für Kernkraftwerke „eine regulatorische Fortentwicklung im Rahmen des gesetzlichen Sicherheitsstandards auf der Grundlage der geltenden Sicherheitsphilosophie dar“. Diese werde nicht revidiert. Die Verwaltung ändere nicht bei unverändertem Erkenntnisstand ihre Auffassung vom Umfang der notwendigen Schadensvorsorge und erlasse keine nachträglichen Auflagen auf der Grundlage einer solchen neuen Bewertung. Vollends enthalte die Neufassung keine Änderungen, die sich lediglich realisieren ließen, wenn neue Anlagen mit veränderter Konzeption errichtet würden.33 Daher rühre die Neufassung auch nicht an die Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Energieversorgungsunternehmen vom 14. Juni 2000 („Atomkonsens“).34 „Die Sicherheitsanforderungen enthalten als Beurteilungsreferenz für die Sachverhaltsermittlung keine Maßstäbe für die Ermessensausübung, ob und inwieweit Nachrüstungen bzw. Änderungen der Anlagen erforderlich sind.“35 Doch das Argument ist nicht plausibel. Es reicht nicht aus, um die Rechtsverbindlichkeit der Standards auszuschließen. Immerhin sollen sie fachliche Rückendeckung bieten bei der Beurteilung des Sachverhalts. Damit gewinnen sie Einfluß auf die Entscheidung darüber, ob der gesetzliche Tatbestand erfüllt ist oder nicht, mithin auch 29 Schneider (Fn. 19), Rn. 404. Die Kategorie geht zurück auf BVerwGE 119, 168 (170 f.). Kritisch Steffen Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl. 2008, Rn. 878 ff. (Nachw.). 30 BMU (Fn. 25), S. 5. Zu den Interpretationsansätzen der Regelwerke: Hans-Werner Rengeling (Fn. 19), S. 24 ff. (Nachw.). 31 BMU (Fn. 25), S. 6; BMU (Fn. 22), S. 11. 32 BMU (Fn. 22), S. 8. 33 BMU (Fn. 25), S. 3, 4, 6. 34 BMU (Fn. 25), S. 2. 35 BMU (Fn. 25), S. 6 f.
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auf die Feststellung der Rechtsfolge. Der Tatbestand ist die Bedingung der Möglichkeit der Rechtsfolge, gleich, ob diese im Ermessen der Behörde steht oder nicht. Denn die Sachverhalte werden nicht um ihrer physikalischen oder sonst empirischen Bedeutung willen beurteilt, sondern um ihrer normativen Bedeutung willen: ob und wieweit sie einen Tatbestand des Atomgesetzes erfüllen. Im „Hin- und Herwandern des Blickes“ zwischen Lebensrealität und Norm36 bereitet der Rechtsanwender den Sachverhalt nach den Merkmalen des Normtatbestandes auf. Zugleich konkretisiert er den Normtatbestand auf das reale Substrat hin, so daß am Ende Sachverhalt und Tatbestand zusammenstimmen. 37 Das Regelwerk hat also Normqualität. b) Konsensuale Geltung Das Bundesverfassungsgericht spricht von dem „Regelwerk konsentierter Vorgaben für die Handhabung des Atomgesetzes . . . , die auf Übereinstimmung zwischen den zuständigen Landesbehörden und dem zuständigen Bundesministerium beruhen.“38 In der Tat handelt es sich um konsentierte Vorgaben. Sie beruhen auf dem Einvernehmen zwischen Bund, Ländern und Betreibern.39 Von den Ländern waren freilich nur jene beteiligt, auf deren Gebiet Kernkraftwerke arbeiten. Herkömmlich akzeptierten diese die heterogenen Standards und wandten sie an, ohne die rechtliche Legitimation zu hinterfragen und ohne über die rechtliche Verbindlichkeit zu raisonieren. So mochte lange Zeit offenbleiben, ob und wieweit die Länder autonom oder heteronom agierten, wenn sich ihre Verwaltungspraxis am Regelwerk ausrichtete. Das zuständige Bundesministerium (anfänglich das des Innern, später das für Umwelt) publizierte die Komponenten des überkommenen Regelwerks zumeist im Bundesanzeiger und nahm sie auf in das „Handbuch Reaktorsicherheit“. Den Gerichten gilt das Regelwerk als Rechtserkenntnisquelle für den Stand von Wissenschaft und Technik. Sie sprechen ihm die Vermutung der Richtigkeit zu. Die Strahlenschutzverordnung (StrlSchVO) verweist in § 49 Abs. 1 S. 3 sogar ausdrücklich auf eine Komponente des Regelwerks, Sicherheitskriterien und Leitlinien für Kernkraftwerke („Störfall-Leitlinien“). 40 Der Bund stützt seine Auffassung vom Stand der Wissenschaft und Technik auf das Regelwerk, wenn er seine aufsichtlichen Maßnahmen begründet.41 Der Rückgriff auf das Regelwerk Karl Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 1943, S. 15. Dazu Martin Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1967, S. 47 ff., 195 ff.; Joachim Hruschka, Die Konstitution des Rechtsfalls, 1965, S. 20 ff.; Josef Isensee, Die typisierende Verwaltung, 1976, S. 55 ff. 38 BVerfGE 100, 249 (259). 39 Dazu Rauscher (Fn. 21), S. 378 f. 40 Dazu BMU, Vorlage für die Sitzung des Länderausschusses für Atomkernenergie – Hauptausschuß – am 19. 1. 2006, R S I 3-13310 / L 1, S. 3 ff.; Rengeling (Fn. 19), S. 99 ff.; Fritz Ossenbühl, atw 51 (2006), 306. 41 So zur herkömmlichen Bedeutung des Regelwerks des BMU (Fn. 25), S. 3. 36 37
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entlastet die Akteure im Vollzug des Atomgesetzes von eigenen Erhebungen im Einzelfall. Die Länder vermeiden Einzelweisungen des Bundes, wenn sie sich freiwillig an das Regelwerk halten. Der Bund erspart sich diese, weil er sich darauf verlassen kann, daß die Länder die Sicherheitsstandards wahren, die sie selber mit dem Bund vereinbart haben. Auf diese Weise stabilisiert sich die Verwaltungspraxis, und es bildet sich zur Erleichterung beider Seiten eine Routine heraus, die Reibungen verringert. Das Regelwerk ist Bestandteil des staatlichen Rechts. Die Staatlichkeit wird nicht dadurch in Frage gestellt, daß am Entwurf private Sachverständige und Betreiber von Kernkraftwerken mitgewirkt haben. Dieser Umstand reicht nicht aus, um das Regelwerk als private Norm zu werten, als Ausdruck privatautonomer, gesellschaftlicher Selbstregulierung.42 Auch handelt es sich nicht um eine Form des selbstregulativen Gesetzesvollzugs.43 Vielmehr geht es um die Steuerung der Landesauftragsverwaltung durch den Bund, also um innerstaatliche Regulierung. Es handelt sich um exekutivisches Binnenrecht, das zwischen Bund und Ländern gilt, das also keine Verbindlichkeit für Dritte zeitigt. Doch kann sich im Außenverhältnis gegenüber den Drittbetroffenen, etwa Betreibern von Anlagen oder deren Anliegern, über das Medium des Gleichheitssatzes Selbstbindung ergeben, mit ihr die Möglichkeit von Vertrauensschutz.44 Dem Geltungsniveau nach liegt Bundesrecht vor. Als solches bietet es Entscheidungsmaßstäbe sowohl für den Bund als auch für die Länder. Es wird abgedeckt durch die Sachkompetenz, die der Bund für sich aktiviert hat. Der Qualität als Bundesrecht entspricht die Publikation im Bundesanzeiger. Diese Qualität wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, daß die Länder am Zustandekommen des Regelwerks beteiligt waren. Der Geltungsgrund des Regelwerks liegt also im Einvernehmen des Bundes mit den Ländern, die in seinem Auftrag das Atomgesetz ausführen. Die konsensuale Schaffung von föderalem Innenrecht stößt auf keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Zwar kommt dem Bund gegenüber den Ländern im Bereich der Auftragsverwaltung die übergeordnete Position und die Rechtsmacht zu einseitig-hoheitlichen Anordnungen zu. Doch ist er darum nicht gehindert, mit den Ländern einvernehmliche Lösungen zu suchen und sich mit ihnen abzustimmen.45 Die kompetenzrechtliche Trennung der Handlungs- und Verantwortungsbereiche bildet kein verfassungsrechtliches Hindernis für den kooperativen Föderalismus, wie er sich im Zustandekommen des derzeitigen Regelwerks bewährt hat.46 Dieses wird kompeDazu Matthias Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 202 ff. Zu diesem Phänomen Udo Di Fabio, VVDStRL 56 (1997), 242 f., 245. 44 Dazu Ossenbühl, atw 51 (2006), 312; Rauscher (Fn. 21), S. 379 ff.; allgemein: Hartmut Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 17. Aufl. 2008, § 24 Rn. 20 ff.; Detterbeck (Fn. 29), Rn. 870 ff. 45 Näher Isensee (Fn. 3), § 126 Rn. 102 ff.; Jost Pietzcker, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Bd. VI, 3. Aufl. 2008, § 134 Rn. 31 ff.; Walter Rudolf, in: ebenda, § 141 Rn. 4 ff., 18 ff., 31 ff. 46 Allgemein zur Legitimation des kooperativen Föderalismus Bethge (Fn. 1), Sp. 998. 42 43
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tenzrechtlich abgedeckt durch den Titel für die Bundesauftragsverwaltung in Art. 87c GG. c) Rechtliche Bedeutung einer Revision des Regelwerks aa) Indirekte Rechtsverbindlichkeit In seinem Reformvorhaben folgt das BMU nicht akademischen, sondern politisch-praktischen Interessen. Das Regelwerk bedeutet ihm nicht ein bloßes Kompendium von Theorien, Vorschlägen und Diskussionsbeiträgen oder ein Nachschlagewerk und Informationsspeicher. Vielmehr bildet es das handlungsrelevante Sicherheitskonzept der Auftragsverwaltung, den praktischen Leitfaden für die Ausführung des Atomgesetzes. Daher schöpft die Kennzeichnung des Regelwerks als „antezipiertes Sachverständigen-Gutachten“ die rechtliche Relevanz nicht aus. Das Regelwerk soll nach seiner Revision auch jene praktischen Wirkungen zeitigen, die es bereits in seinem jetzigen Stand erbringt, also die Grundlage für die Verwaltungspraxis der Länder und für die Kontrolle der Gerichte abgeben sowie kraft einer Verweisung den Inhalt des § 49 Abs. 1 S. 3 StrlSchVO füllen. Das BMU geht ausdrücklich davon aus, daß die zuständigen Landesbehörden die neuen Sicherheitsanforderungen nach deren amtlicher Bekanntgabe als Bewertungsmaßstab heranziehen, wenn sie bei der Genehmigung wesentlicher Änderungen von Kernkraftwerken oder ihres Betriebes prüfen, ob die Anlagenteile oder Verfahrensabschnitte, die zu ändern sind oder auf die sich die Änderung auswirkt, dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik entsprechen (§ 7 Abs. 1 S. 1 und Abs. 3 AtG). Wenn die Genehmigungsbehörden das Regelwerk heranzögen, spreche die tatsächliche und rechtliche Vermutung dafür, daß sie „treffend anhand des Standes von Wissenschaft und Technik“ entschieden.47 Überdies bilde der Stand von Wissenschaft und Technik einen Beurteilungsmaßstab für die Entscheidung, ob behördliche Maßnahmen nach § 17 AtG geboten seien, desgleichen für die Aufsicht nach § 19 AtG sowie für die Sicherheitsüberprüfung nach § 19a AtG.48 Nach Auffassung des BMU besteht zwar keine unmittelbare Rechtspflicht der Länder, sich an das Regelwerk zu halten. Es nimmt Abweichungen hin, doch nur wenn und soweit sie sich als Ausnahme von der Regel rechtfertigen lassen: „Abweichungen können begründet toleriert werden, wenn der sichere Betrieb auch nach Auffassung der Behörde nicht in Frage gestellt ist und eine Nachrüstung unverhältnismäßig wäre.“49 Im Falle der Abweichungen stehe die Landesbehörde in einer „objektiven Begründungspflicht“. Das gelte insbesondere für gerichtliche Verfahren bei Anfechtungen Drittschutzberechtigter.50 Im staatsinternen Verhältnis 47 48 49 50
BMU (Fn. 22) S. 9, 10; BMU (Fn. 25), S. 5 f. BMU (Fn. 25), S. 11. BMU (Fn. 25), S. 6. BMU (Fn. 22), S. 10.
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zwischen Bund und Ländern zeitigt das Regelwerk seine eigentliche, die vom Bund intendierte Wirkung, den Vollzug des Atomgesetzes durch die Länder zu regulieren. Dazu ist es auch geeignet. Denn ob das Land dem Regelwerk gemäß handelt oder von ihm abweicht, das entscheidet kraft seiner hierarchischen Überordnung der Bund. Seine Sachkompetenz schließt die Interpretationshoheit über das Regelwerk ein.51 Der Bund entscheidet auch, ob das Land im Falle einer Abweichung seiner „objektiven“ Begründungspflicht genügt. Er vermag, seine Interpretation des Regelwerks und sein Urteil über ein Ungenügen der Begründung beliebig durch hoheitliche Maßnahmen zu sanktionieren. Die Geltungsweise, die das Ministerium dem Regelwerk zuspricht, ist nicht die von Rechtssätzen, sondern die von Rechtsgrundsätzen, nicht eines strikten Normbefehls, sondern einer Direktive, die nur im Regelfall Anwendung fordert und nur für den Ausnahmefall Abweichungen zuläßt. Es handelt sich also um eine Regeloder Sollvorschrift.52 Diese stellt es nicht in das Belieben des Anwenders, ob er einen Ausnahmefall annimmt, ob und wieweit er vom Prinzip abweicht. Vielmehr setzt sie ihn, wenn er abweichen will, unter Rechtfertigungszwang. Auf diese Weise wahrt die Regel ihre Prävalenz über die Ausnahme. Insoweit bildet das Werk nach der Intention seines Urhebers eine verbindliche, unverrückbare Vorgabe für die zuständige Landesbehörde. Entscheidend ist, daß der Bund im Regelwerk seine Sachkompetenz aktualisiert, die der Länder insoweit verdrängt und ihre Wahrnehmungskompetenz steuert. Daher ist es folgerichtig, daß er es als Bundesrecht behandelt und die Neufassung im Bundesanzeiger publizieren will. bb) Rechtliche Sanktion durch Mitteilungspflicht Das BMU „bittet“ die zuständigen Landesministerien, ihm rechtzeitig Mitteilung zu machen, wenn sie beabsichtigten, von den Grundsätzen des Regelwerks in Verwaltungsverfahren nach § 7 Abs. 1 AtG abzuweichen, sowie die entsprechenden Entscheidungsentwürfe vorzulegen, um ihm Gelegenheit zur bundesaufsichtlichen Stellungnahme zu geben.53 Das BMU stützt die Mitteilungspflicht auf das Verfassungsgebot bundesfreundlichen Verhaltens und leitet sie so aus der Verfassung ab.54 Die Formulierung als Bitte spricht nicht gegen den imperativen Charakter. Die Bitte ist lediglich Ausdruck föderaler Courtoisie, der Höflichkeit im Umgang des Bundes mit den Ländern. Er stellt es ihnen nicht frei, ob sie der „Bitte“ folgen oder nicht. Auch begnügt er sich nicht damit, an ihren guten Willen und 51 Vgl. BVerfGE 81, 310 (336); zur Überordnung des Bundes in der Auftragsverwaltung: Fritz Ossenbühl, Der Staat 28 (1989), 36; Broß (Fn. 6), Art. 85 Rn. 18a; Müller / Mayer / Wagner, AöR 127 (2002), 587. 52 Zu dieser Kategorie Schneider (Fn. 19), Rn. 622. 53 BMU, Schreiben vom 15. Juli 2003, RSI 3-10 100 / 0, S. 3. 54 BMU (Fn. 22), S. 9.
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ihre Kooperationsbereitschaft zu appellieren. Vielmehr fordert er die rechtzeitige Mitteilung als Rechtspflicht ein. In eine Bitte gekleidet, ergeht ein normativer Befehl in Gestalt einer Weisung Dieser Befehl bezieht sich auf das ganze Regelwerk und sanktioniert so das Konvolut materieller Standards durch eine formelle Rechtspflicht. Diese erfaßt das Regelwerk en bloc in allen Fällen, in denen eine Abweichung in Betracht kommt. Mithin bezieht sich die Mitteilungspflicht nicht auf einen Einzelfall. Sie ergeht nicht ad hoc. Vielmehr knüpft sie an den abstrakt gefaßten Tatbestand, den der Erlaß des BMU formuliert, nämlich die geplante Abweichung vom Regelwerk. Sie hat daher den Charakter eines generellen (organisationsinternen) Rechtssatzes. Die Frage ist jedoch, ob ein generelles Gebot über eine Weisung erlassen werden kann. cc) Dreistufige Organisation rechtlicher Verbindlichkeit Das Regelwerk ist bei isolierender Betrachtung keine sanktionsbewehrte Norm, sondern lediglich eine lex imperfecta. Doch es erlangt den Charakter der lex perfecta im Konnex mit der Mitteilungspflicht und der Möglichkeit aufsichtlicher Maßnahmen. Damit zeigt sich ein dreistufiges Konzept seiner Normativität: – Das Regelwerk als solches ist materiellrechtlicher Natur, aber ohne unmittelbaren Verbindlichkeitsanspruch. – Die Mitteilungspflicht, die an das Regelwerk anknüpft, füllt diese normative Lücke teilweise, nämlich in formeller Hinsicht. – Sie schafft die Informationsgrundlage für verbindliche Maßnahmen des Bundes für Lösungen, die im Einzelfall einen regelwerkkonformen Gesetzesvollzug erzwingen können.
Das Zusammenspiel dieser drei Instrumente (ihre rechtliche Zulässigkeit unterstellt) erzeugt den gleichen Regelungseffekt, den ein förmliches Gesetz mit ausdrücklichem Befehlscharakter erzeugen könnte. 4. Novellierung im energiepolitischen Dissens An sich läge es nahe, daß Bund und Länder das Regelwerk einvernehmlich erneuern, also dasselbe konsensuale Verfahren wählen, in dem es drei oder zwei Jahrzehnte zuvor zustande kam. Doch angesichts des energiepolitischen Dissenses, der seither aufgerissen ist, erscheint eine Einigung unwahrscheinlich. Die Materie ist politisiert. Jedwede Änderung weckt den Argwohn, daß sich das Regelwerk nicht lediglich den gewandelten wissenschaftlichen und technischen Gegebenheiten anpassen, sondern auch die Bedingungen des Reaktorbetriebs erschweren oder erleichtern will. Der Dissens greift auf das juristische Verständnis des Regelwerkes über. So herrscht Streit, ob Maßnahmen im Vorfeld der obligatorischen Vorsorge (vierte Sicherheitsstufe) nur das Restrisiko mindern sollen (so die Auffassung meh-
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rerer Länder) oder ob sie schon selber zur gebotenen Vorsorge gehören, somit der dritten Sicherheitsstufe gleichstehen (so die des BMU).55 Der Dissens wirkt sich aus auf die Beziehungen von Bund und Ländern wie die von Bundestag und Bundesrat, sogar auf die Beziehungen der betroffenen Ländern zueinander, je nachdem ob die regierende Mehrheit „ausstiegs“- oder kontinuitätsorientiert ist. Somit erheben sich überall, wo eine Einigung der beiden Lager erforderlich wäre, politische Schwierigkeiten. Das gilt nicht nur für die konsensuale Lösung zwischen Bund und Ländern, sondern auch für einseitige Regelungen durch den Bund, soweit diese auf die Mehrheit des Bundestages, auf die Zustimmung des Bundesrates oder auf den kollegialen Beschluß der Bundesregierung angewiesen sind. Übrig bleibt der einseitige Erlaß des neuen Regelwerks durch das BMU. Ob die Verfassung ihm diese Möglichkeit offen hält, ist jedoch die Frage. Die Antwort setzt voraus, das ganze Instrumentarium der Ingerenzen des Bundes (nicht allein des BMU) auf seine Eignung zum Erlaß des Regelwerks zu überprüfen. Bei der Analyse der Handlungsformen werden die politischen Momente, die ihre Anwendung hindern können, vernachlässigt.
III. Außenrechtliche Instrumente 1. Förmliches Gesetz Rein juristisch gesehen, wäre der einfachste Weg, die Erneuerung des Regelwerkes durch förmliches Gesetz zu treffen, etwa über eine Novellierung des Atomgesetzes, weil es darum geht, seine Tatbestandsmerkmale auszufüllen und zu verdeutlichen (vgl. § 4 Abs. 2 Nr. 3, § 6 Abs. 2 Nr. 2, § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG). Die Regelung auf demselben Normniveau garantierte eine authentische Interpretation der unbestimmten Rechtsbegriffe des Standes von Wissenschaft und Technik. Der Vorrang des Gesetzes löste etwaige Normkollisionen auf. Das Gesetz gewährleistete Publizität. Freilich sprechen Gründe der Praktikabilität dagegen, das umfangreiche, disparate Regelwerk en bloc zu Gesetzesrang zu erheben. Jedenfalls wäre das Gesetz der angemessene Ort für eine Rahmen- oder Dachregelung für die wesentlichen Grundsätze, zumal die allgemeinen Standards der Reaktorsicherheit. Die Gesetzgebungszuständigkeit liegt ausschließlich beim Bund (Art. 73 Abs. 1 Nr. 14 GG). Die Zustimmung des Bundesrates ist nicht bei jedweder Gestaltung des Gesetzes notwendig.56 Zwar hatte die Einführung der Bundesauftragsverwaltung, die durch § 24 Abs. 1 S. 1 AtG erfolgte, der Zustimmung des Bundesrates bedurft (Art. 87c GG).57 Doch darum wird nicht jedes spätere Änderungsgesetz Dazu Rauscher (Fn. 21), S. 380, 386. BVerfGE 100, 249 (262). 57 Dazu Hans-Detlef Horn, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 3, 4. Aufl. 2001, Art. 87c Rn. 52; Dieter Hömig, in: ders., GG, 8. Aufl. 2007, Art. 87c Rn. 3. 55 56
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seinerseits zustimmungspflichtig.58 Im vorliegenden Fall sollen lediglich die materiellen Handlungsmaßstäbe der Auftragsverwaltung neu definiert werden. Hier wäre die Zustimmung des Bundesrates nur dann geboten, wenn die Novelle die bisherige Aufgabe der Auftragsverwaltung so umgestaltete oder erweiterte, daß dieser Vorgang der Zuweisung einer neuen Aufgabe gleichkäme und daß die bisherige Bestimmung über die Auftragsverwaltung in § 24 Abs. 1 S. 1 AtG eine wesentlich andere Bedeutung und Tragweite erhielte, die von der ursprünglichen Zuweisung der Auftragsverwaltung nicht erfaßt würde.59 Das Zustimmungserfordernis erhöbe sich auch, falls das Bundesgesetz die Einrichtung der Landesbehörden regeln wollte (Art. 85 Abs. 1 S. 1 GG). Wenn sich die Novellierung aber im hergebrachten Rahmen hielte, löste es den Zustimmungsvorbehalt nicht aus. Von Verfassungs wegen ist ein förmliches Gesetz nicht notwendig. Denn der Vorbehalt des Gesetzes greift nicht, weder als Eingriffs- noch als Wesentlichkeitsvorbehalt. In den förderalen Binnenbeziehungen gelten keine Grundrechte, die eingeschränkt oder verwirklicht werden könnten. 2. Rechtsverordnung Auch die Rechtsverordnung ist eine mögliche, nicht aber die von Verfassungs wegen schlechthin notwendige Handlungsform. Notwendig ist sie nur, soweit sie Rechtsverordnungen aufheben oder ändern soll; das wäre der Fall, wenn sie an den Inhalt der Strahlenschutzverordnung rühren sollte.60 Der Erlaß einer Rechtsverordnung setzt eine formellgesetzliche Grundlage voraus, die Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung determiniert (Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG). Das Atomgesetz enthält mehrere thematisch einschlägige Ermächtigungen, die sich teils an die Bundesregierung, teils an das zuständige Bundesministerium richten (§ 54 AtG). Die Rechtsverordnung, die von den Ländern im Auftrag des Bundes ausgeführt wird, bedarf grundsätzlich der Zustimmung des Bundesrates (Art. 80 Abs. 2 GG, § 54 Abs. 2 S. 1 AtG). Das Grundgesetz gestattet freilich, daß die bundesgesetzliche Grundlage Ausnahmen vom Zustimmungsvorbehalt zuläßt. Davon macht das Atomgesetz Gebrauch, indem es Rechtsverordnungen zustimmungsfrei stellt, die sich darauf beschränken, die in den Rechtsverordnungen nach den §§ 11 und 12 festgelegten physikalischen, technischen und strahlenbiologischen Werte durch andere Werte zu ersetzen (§ 54 Abs. 2 S. 2 AtG). Diese Ausnahmen beschränken sich also auf die Thematik der §§ 11 und 12 AtG. Das zu reformierende Regelwerk geht aber darüber hinaus. Überdies bezieht sich der Ausnahmetatbestand auf die Änderung geltender Rechtsverordnungen. Das Grundsätzlich zur Änderung von Zustimmungsgesetzen BVerfGE 37, 363 (381 ff.). Vgl. die Kriterien zu Art. 84 Abs. 1 und Art. 87b Abs. 2 S. 1 GG in BVerfGE 37, 363 (382); 48, 127 (180). Entsprechend zu Art. 87c GG: Horn (Fn. 57), Art. 87c Rn. 56; Hömig (Fn. 57), Art. 87c Rn. 3. 60 Dazu unten 4. 58 59
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Regelwerk aber erfaßt im wesentlichen Vorschriften unterhalb des Normniveaus der Rechtsverordnung. – Sollte die Reform des Regelwerkes durch eine einzige Rechtsverordnung erfolgen, so löste der Zustimmungsbedarf für eine einzelne Bestimmung den Zustimmungsbedarf für die ganze Rechtsverordnung aus, weil diese als Einheit zu behandeln ist, nicht aber aufgeteilt und unterschiedlichen Prozeduren zugewiesen werden darf. Damit ist die Zustimmung des Bundesrates geboten. 3. Supranationaler Druck zu außenrechtlicher Regelung Das Europarecht kann die Wahl einer Rechtsverordnung, wenn nicht sogar die des Gesetzes erzwingen, wenn nämlich die Europäische Union im Wege der Richtlinie Standards für den sicheren Betrieb von Kernkraftwerken festlegen sollte.61 Käme diese Richtlinie zustande, so könnte sie das supranationale Dach des nationalen Regelwerkes bilden. Die effektive Umsetzung der Richtlinien in nationales Recht verlangt grundsätzlich eine außenwirksame Regelung, wie sie das Gesetz oder die Rechtsverordnung gewährleisten. Bloße Verwaltungsvorschriften reichen durchwegs nicht aus.62 In die gleiche Richtung gehen Impulse der Western European Nuclear Regulators’ Association (WENRA), der Vereinigung der Leiter der Atomschutzbehörden der europäischen Staaten, die über Kernkraftwerke verfügen. Diese drängt darauf, daß die grundlegenden, von ihr festgelegten, kerntechnischen Anforderungen (WENRA-Referenzlevels) nicht durch ein untergesetzliches Regelwerk, sondern durch förmliche, außenwirksame Normen umgesetzt werden. Im Länderausschuß für Atomenergie verständigten sich daher Bund und Länder darauf, daß eine von beiden Seiten getragene Arbeitsgruppe unter Federführung des BMU als Vorarbeit für eine Rechtsverordnung oder zumindest für eine Allgemeine Verwaltungsvorschrift eine Unterlage erarbeite, welche die grundlegenden Sicherheitsanforderungen für Kernkraftwerke unter Berücksichtigung der deutschen und europäischen Standards enthält und die Sicherheitsphilosophie ausformulieren solle.63
61 Die Kommission nahm am 26. 11. 2008 den überarbeiteten Vorschlag für eine Richtlinie über einen Gemeinschaftsrahmen für die nukleare Sicherheit an (COM [2008] 790 / 3). 62 Vgl. EUGH, Rs. C-361 / 88, Slg. 1991, I–2567 – TA Luft. Näher Matthias Herdegen, Europarecht, 10. Aufl. 2008, § 9 Rn. 38 f. 63 S. Protokoll der Sitzung des Länderausschusses für Atomenergie – Hautpausschuß – am 14. / 15. Juni 2007, S. 1 f.; dazu Rauscher (Fn. 21), S. 13 ff.
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4. Inkurs: Bezugnahme der Strahlenschutzverordnung auf Sicherheitskriterien und Leitlinien a) Inkorporation des Inhalts Eine Sonderstellung unter den Komponenten des Regelwerks kommt den Sicherheitskriterien und Leitlinien für Kernkraftwerke zu (im Folgenden: Leitlinien). Diese wurden am 12. Oktober 1977 vom Länderausschuß für Atomkernenergie, einem Koordinationsgremium, das sich aus Vertretern der Genehmigungsbehörden der Länder und des für die Reaktorsicherheit zuständigen Bundesministeriums (damals das Bundesinnenministerium, heute das Bundesumweltministerium) zusammensetzt, verabschiedet und durch das Bundesministerium im Bundesanzeiger veröffentlicht.64 Im konsensualen Verfahren ihres Zustandekommens gleichen sie den übrigen Bestandteilen des Regelwerks. Aus sich heraus erheben sie auch keinen höheren Geltungsanspruch als jene. Doch erlangen sie eine andere Normqualität dadurch, daß die Strahlenschutzverordnung (StrlSchV), eine förmliche Rechtsverordnung also, auf sie Bezug nimmt und sie sich so zu eigen macht. Die Vorschrift des § 49 Abs. 1 StrlSchV, die in Satz 1 die Sicherheitsstandards eines Kernkraftwerks für den ungünstigsten Störfall festschreibt, fügt die Sätze 2 und 3 hinzu: „Maßgebend für eine ausreichende Vorsorge gegen Störfälle nach Satz 1 ist der Stand von Wissenschaft und Technik. Die Genehmigungsbehörde kann diese Vorsorge insbesondere dann als getroffen ansehen, wenn der Antragsteller bei der Auslegung der Anlage die Störfälle zugrunde gelegt hat, die nach den veröffentlichten Sicherheitskriterien und Leitlinien für Kernkraftwerke die Auslegung eines Kernkraftwerkes bestimmen müssen.“
Kraft dieser Bezugnahme geht der Inhalt der Leitlinien in die Rechtsverordnung ein und wird zu deren Bestandteil. Damit hebt er sich auf eine höhere Ebene der Normenhierarchie. Der Inhalt der informellen Regelung wird formell sanktioniert. Das konsensuale Arrangement gewinnt im Kontext der Strahlenschutzverordnung Rechtsverbindlichkeit. Das staatsinterne Innenrecht, das zwischen Bund und Ländern gilt, gewinnt auch außenrechtliche Erheblichkeit für die Kraftwerksunternehmen und für störfallgefährdete Dritte.65 Das bedeutet jedoch nicht, daß die Leitlinien als solche in die Rechtsverordnung aufgenommen würden. Aufgenommen wird lediglich deren Inhalt.66 Die Rechtsverordnung fertigt gleichsam eine Kopie zum eigenen Gebrauch an und macht sie sich zu eigen. Als solche teilt sie nun ihre Normqualität und ihr rechtliches Schicksal. Die Leitlinien als solche bleiben davon unberührt. Sie gelten weiter wie bisher, also als informelles Innenrecht. Sie können in dem Verfahren geändert werden, das ihrem Regelungsgehalt und Regelungsniveau gemäß ist. BAnz Nr. 206 v. 3. November 1977. Dazu Ossenbühl, atw 51 (2006), 306. 66 Vgl. BVerfGE 47, 285 (313): bei einer Verweisung werde der Inhalt der Bezugsnorm zum Bestandteil der Verweisungsnorm. 64 65
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Gegen diese Feststellung könnte sich der Einwand erheben, daß die Vorschrift des § 49 Abs. 1 S. 2 und 3 StrlSchV bloß deklaratorischer Natur sei: Sie verdeutliche nur, was ohnehin schon gelte.67 Denn das Recht, daß die Genehmigungsbehörde die Vorsorge gegen Störfälle dann als getroffen ansehen kann, wenn die publizierten Sicherheitskriterien und Leitlinien eingehalten werden, entspricht der Staatspraxis im Anwendungsbereich des Regelwerks. Was die Verordnung durch ihre Bezugnahme statuiert, wiederholt nur, was das Regelwerk von Haus aus bewirken will.68 Doch das Regelwerk steht auf niederer Ebene im Stufenbau der Rechtsordnung. Es hat den Vorrang der Verordnung zu respektieren, und es kann deren Inhalt nicht authentisch auslegen. Auch wenn die Strahlenschutzverordnung mit ihrer Bezugnahme nur bestätigt, was die Leitlinien von sich aus anstreben, hat sie konstitutive Bedeutung, weil sie sich deren Inhalt einverleibt und an ihrem höheren Rang teilhaben läßt. b) Kriterien und Folgen der Verweisung Die Strahlenschutzverordnung bezieht sich auf die „veröffentlichten“ Sicherheitskriterien und Leitlinien (§ 49 Abs. 1 S. 3). Die Frage ist, ob sie nur die zur Zeit ihres Erlasses veröffentlichte Fassung oder auch die späteren Fassungen meint. Im ersten Fall handelt es sich um eine starre / statische Verweisung, im zweiten um eine gleitende / dynamische Verweisung.69 Erstere bezieht sich ausschließlich auf den Inhalt, den die Bezugsnorm zur Zeit des Inkrafttretens der Verweisungsnorm hatte, beläßt es bei einer Momentaufnahme und koppelt sich ab von der künftigen Entwicklung der Bezugsnorm. Letztere dagegen bezieht sich auf eine Norm in ihrem jeweils geltenden Inhalt, hält sich also künftigen Änderungen und wechselnden Bedeutungen offen. Beide Formen der Verweisung werden vom Bundesverfassungsgericht grundsätzlich für zulässig gehalten, die dynamische allerdings nur unter Vorbehalt,70 weil sich hier verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine „Fahrt ins Blaue“ erheben.71 67 Nach Schneider (Fn. 19), Rn. 379, liegt in einem solchen Falle keine Verweisung im technischen Sinne vor. 68 Nach Auffassung des BMU enthebt diese Verweisungsvorschrift die Landesbehörde der Notwendigkeit, im Genehmigungsverfahren mit Hilfe von Sachverständigen den aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik selbst zu ermitteln und daraus gegebenenfalls selbst ein Vorsorgekonzept zu entwickeln. Ein regelwerkskonformes Vorgehen bedürfe keiner eigenen Begründung, weil das Regelwerk nach der normativen Bewertung des Verordnungsgebers grundsätzlich eine ausreichende Gewähr für die Richtigkeit biete. „§ 49 Abs. 1 S. 3 StrlSchVO ist also eine explizite gesetzliche Beurteilungsermächtigung, die der Exekutive im Verhältnis zur Judikative eine Einschätzungsprärogative gibt.“ Im gerichtlichen Verfahren sei eine Abweichung darlegungs- und begründungsbedürftig. Wenn die Behörde die Sicherheitsanforderungen bei ihrer Prüfung und Abwägung nicht berücksichtige, könne ein Beurteilungsdefizit vorliegen. Die Gerichte aber dürften die Vorgaben des Regelwerks, auf die sich § 49 Abs. 1 S. 3 StrlSchVO bezieht, nur verwerfen, wenn sie erkennbar nicht mehr dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik entsprächen, BMU (Fn. 22), S. 10 f. 69 Zu der Unterscheidung Schneider (Fn. 19), Rn. 385.
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Für die Annahme einer dynamischen Verweisung spricht hier, daß der Stand von Wissenschaft und Technik beweglich ist. Die Folgerung liegt nahe, daß die Verordnung auf die jeweilige Fassung der Leitlinien abstellt, die den Stand möglichst zeitnah anzeigt. Unterstellt, es läge eine dynamische Verweisung vor, so bewirkte die Revision der Leitlinien zugleich eine inhaltliche Änderung der Rechtsverordnung. Deren Text brauchte nicht förmlich umgeschrieben und nicht den Neuerungen des Regelwerks angepaßt zu werden. Wenn das Regelwerk auf dem informellen Wege geändert werden sollte, auf dem es zustande gekommen ist, so würde auch die Verordnung inhaltlich geändert; die Verordnunggebung ginge auf die informellen Bund-Länder-Gremien über, jenseits der formellen Erfordernisse, die Art. 80 GG statuiert. Die Verweisung lässt sich auch nicht als Subdelegation im Sinne des Art. 80 Abs. 1 S. 4 GG deuten. Zwar wäre eine Subdelegation an sich möglich (§ 54 Abs. 3 AtG); doch fehlt die zur Übertragung erforderliche Ermächtigung durch eine Rechtsverordnung (Art. 80 Abs. 1 S. 4 GG).72 Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ist eine dynamische Verweisung durch Gesetz nicht von vornherein ausgeschlossen, wenn die Gesetzgeber der Verweisungs- und der Bezugsnorm nicht identisch sind. Doch sieht es das Risiko der versteckten Verlagerung von Gesetzgebungsbefugnissen; auch nimmt es die bundesstaatlichen, rechtsstaatlichen wie demokratischen Bedenken auf, die in der Literatur vorgetragen werden.73 Soweit die Verfassung eine Delegation von Normgebungsbefugnissen an andere erlaube, dürfe der zuständige Gesetzgeber sich seiner Verantwortung für den Inhalt der Normierung nicht, jedenfalls nicht völlig entäußern.74 Auf die Strahlenschutzverordnung bezogen, ergibt sich, daß schon die Prämisse, die verfassungsrechtlich erlaubte Delegation von Normsetzungsbefugnissen, ausfällt; mithin scheidet die Möglichkeit jedweder Entäußerung dieser Befugnisse aus. Informelle Gremien können die Bundesregierung als verantwortliches Organ der Verordnunggebung nicht ersetzen, ebensowenig den Bundesrat, dessen Zustimmung notwendig ist. Auch wenn die Revision des Regelwerks in der Form der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift erfolgte, also Bundesregierung und Bundesrat gemäß Art. 85 Abs. 2 GG die formelle Entscheidung träfen, erwiesen sich Form und Verfahren nicht als adäquat. Denn die Allgemeine Verwaltungsvorschrift bildet lediglich Innenrecht zwischen Bund und Ländern, die Rechtsverordnung aber Außenrecht. Eine dynamische Verweisung von Innen- auf Außenrecht, vom internen Bund-Länder-Verhältnis auf das externe Staat-Bürger-Verhältnis, vom Geltungsbereich des Art. 85 GG auf den Geltungsbereich des demokratischen und rechtsstaatlichen Gesetzesvorbehalts ist nicht zulässig.75 70 BVerfGE 47, 285 (312); 60, 135 (155). Grundsätzlich Fritz Ossenbühl, in: ders., Freiheit, Verantwortung, Kompetenz, 1994, S. 33 ff. 71 Schneider (Fn. 19), Rn. 385. Zu den analogen rechtlichen Schwierigkeiten im Umweltschutz Jürgen Salzwedel, Festschrift Isensee, 2007, S. 206 ff. 72 Ossenbühl, atw 51 (2006), 307. 73 BVerfGE 47, 285 (312) – unter Hinweis auf Ossenbühl. 74 BVerfGE 47, 285 (315).
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Es bleibt nur die Möglichkeit der starren / statischen Verweisung.76 Hier weiß der Verordnunggeber, „welchen Inhalt das in Bezug genommene Recht hat, und er kann prüfen, ob er es sich mit diesem Inhalt zu eigen machen will; ändert sich das in Bezug genommene Recht . . . , hat dies bei einer statischen Verweisung keinen Einfluß auf den Inhalt der Verweisungsnorm.“77 Die Strahlenschutzverordnung behält also ihren bisherigen Inhalt, auch wenn die Leitlinien, auf die sie verweist, revidiert werden. Freilich erwächst daraus das Risiko, daß die Verordnung an überholten Vorstellungen über den Stand von Wissenschaft und Technik festhält. Um einen solchen „kuriosen Anachronismus“ zu vermeiden, nimmt Hans Schneider an, daß die Verweisung ipso iure obsolet werde; doch hält er den zuständigen Gesetzgeber (hier also den Verordnunggeber) für verpflichtet, seine alte Verweisung anzupassen („Verweisungsverjüngung“).78 Im vorliegenden Fall träte keine empfindliche Rechtslücke für die Strahlenschutzverordnung ein. Gegen diese These Schneiders äußert Ossenbühl Bedenken. Die These stelle nicht genügend in Rechnung, daß die Bezugsnorm Gegenstand und Inhalt des Normsetzungswillens des jeweiligen Gesetzgebers geworden sei. Der der Bezugsnorm entnommene Regelungsgehalt werde unverrückbar, nur durch den Normsetzungswillen des verweisenden Normgebers abänderbar. Nur er könne entscheiden, ob die durch die Verweisung internalisierte Norm überholt und erneuerungsbedürftig sei oder ob es beim Alten bleiben solle. Nur er könne die Verweisung außer Kraft setzen.79 Das ist in der Tat die Logik der starren / statischen Verweisung. Die Strahlenschutzverordnung macht sich durch die Verweisung weder dem Inhalt noch der Geltung nach abhängig vom künftigen Schicksal des Regelwerks. Dessen Änderung hat keinen Einfluß auf den Bestand des § 49 Abs. 1 S. 2 und 3 StrlSchV. Mithin kann sich die Genehmigungsbehörde weiterhin auf die Vermutung stützen, die an die ursprüngliche Fassung des Kerntechnischen Regelwerks anknüpft. Die bloße Änderung der Bezugsnorm ändert nicht die Voraussetzung der Vermutung, und sie läßt diese auch nicht entfallen oder ins Leere greifen. Die Vermutung wird erst dann hinfällig, wenn (unabhängig von einer Neufassung des Regelwerks) sich der Stand von Wissenschaft und Technik inhaltlich erheblich verschoben hat und ein Rückgriff auf die „veröffentlichten Sicherheitskriterien und Kernkraftwerke“ einen materiellen Verstoß gegen das Atomgesetz oder gar darüber hinaus gegen die grundrechtliche Schutzpflicht des Staates bedeutete.80 Freilich 75 Eingehende Begründung Ossenbühl, atw 51 (2006), 307. Gegenposition Schneider (Fn. 19), Rn. 404 zur dynamischen Verweisung auf DIN-Normen eines privaten Vereins. 76 So auch Ossenbühl, atw 51 (2006), 307; Hans-Wolfgang Arndt, Bundesauftragsverwaltung und Sicherheitsanforderungen für Kernkraftwerke, Typoskript, 2006, S. 17 ff., 27. S. 17 ff., 28. 77 BVerfGE 47, 285 (312). 78 Schneider (Fn. 19), Rn. 386. 79 Ossenbühl, atw 51 (2006), 308. 80 Grundlegend zur grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates bei der zivilen Nutzung der Kernenergie BVerfGE 49, 89 (140 ff.); 53, 30 (57 ff.).
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wäre die Genehmigungsbehörde auch nicht durch § 49 StrlSchV gehindert, sich am neugefaßten Regelwerk zu orientieren. Doch wenn sie das täte, käme ihr nicht der Rechtsvorteil des § 49 Abs. 1 S. 3 StrlSchV zugute. Sie könnte sich nicht die interpretatorische Arbeit erleichtern, die Kriterien des Standes von Sicherheit und Technik zu erschließen, dadurch, daß sie auf die im neuen Regelwerk gespeicherten Daten und Handlungsmuster verwiese. Jedenfalls träte keine Rechtslücke ein, welche die Anwendbarkeit der Verordnung beeinträchtigte. Denn der eigentliche Entscheidungsmaßstab, der Stand von Wissenschaft und Technik, bliebe unberührt. Gegen einen normativen Automatismus, den eine Änderung der Bezugsnorm auslösen könnte, spricht auch die Möglichkeit, daß die Genehmigung nachträglich mit Auflagen versehen (§ 17 Abs. 1 S. 3 AtG) oder unter bestimmten Voraussetzungen widerrufen werden kann (§ 17 Abs. 5 AtG).81 Etwaige inhaltliche Änderungen der Sicherheitsstandards des Regelwerks können die Anwendung der Strahlenschutzverordnung nur determinieren, indem sie ihrerseits den Rang einer Rechtsverordnung erhalten, sei es, daß die Strahlenschutzverordnung selbst entsprechend geändert oder eine neue Verordnung als lex posterior neben ihr erlassen wird.
IV. Innenrechtliche Instrumente Eigens auf die Auftragsverwaltung abgestellt sind die innenrechtlichen Instrumente des Bundes: die Allgemeine Verwaltungsvorschrift, die Weisung und die aufsichtliche Maßnahme. Sie binden lediglich das Land und zeitigen keine Außenwirkung auf die Betreiber, Anlieger oder sonstige Externe. 1. Allgemeine Verwaltungsvorschrift gemäß Art. 85 Abs. 2 S. 1 GG Im Innenverhältnis zwischen Bund und Ländern ist die Allgemeine Verwaltungsvorschrift das Pendant zum Rechtssatz des Außenverhältnisses von Staat und Bürgern. Hier wie da geht es um die Regelung einer abstrakt definierten Vielzahl von Fällen. Die Allgemeine Verwaltungsvorschrift wird von der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates erlassen (Art. 85 Abs. 2 S. 1 GG). Die Kompetenz zum Erlaß liegt bei der Bundesregierung als Kollegium, nicht beim einzelnen Ressortminister. Zwar hatte das Bundesverfassungsgericht in einer frühen Entscheidung die Möglichkeit anerkannt, daß durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates ein einzelner Minister zum Erlaß von Allgemeinen Verwaltungsvorschriften ermächtigt werden könne.82 Doch ist das Gericht von dieser Rechts81 Allgemein zur Anpassung von Anlagen an Veränderungen des Standes der Technik: Rengeling (Fn. 17), S. 70 ff. 82 BVerfGE 26, 338 (399).
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auffassung abgerückt. Nunmehr beharrt es, dem Wortlaut des Art. 85 Abs. 2 S. 1 GG gemäß, darauf, daß die Zuständigkeit ausschließlich bei der Bundesregierung insgesamt liege,83 und zwar aus gutem Grund. Denn über Art. 85 Abs. 2 S. 1 GG erlangt der Bund die Kompetenz, über seinen eigenen Bereich hinaus Verwaltungsvorschriften auch für die Landesverwaltung zu erlassen. Seine Einwirkungsmöglichkeiten auf die Länder aber sind, den Grundsätzen der Art. 30 und 83 GG gemäß, strikt auszulegen. Auch mit Zustimmung des Bundesrates kann der Bundesgesetzgeber keinen anderen Ermächtigungsadressaten benennen als den, den das Grundgesetz vorgibt.84 Die Zustimmung des Bundesrates, deren die Verwaltungsvorschrift bedarf, könnte nicht ersetzt werden durch die Zustimmung, die dieser zu dem Gesetz erteilt hat, das die Grundlage der Rechtsverordnung bildet, weil sich sonst der Bundesrat (mittelbar die Länder) der Möglichkeit begäbe, auf den konkreten Inhalt künftiger Verwaltungsvorschriften und damit auf nähere Ausgestaltung ihrer Wahrnehmungskompetenz einzuwirken.85 An sich bietet sich die Allgemeine Verwaltungsvorschrift als geeignete Form für die Neufassung des Regelwerkes an, wenn sie denn nur auf innenrechtliche Geltung angelegt werden soll. Doch die Voraussetzungen – Kollegialentscheid der Bundesregierung und Zustimmung des Bundesrates – sind anspruchsvoll und, angesichts der politischen Aufladung der Materie, nur schwierig zu erreichen. Auch sonst findet diese Form nur geringe Verwendung in der Praxis. Die Frage bleibt, ob das Verfassungsrecht Ausweichmöglichkeiten offenhält. 2. Weisung gemäß Art. 85 Abs. 3 GG a) Organzuständigkeit Weniger anspruchsvoll ist das Lenkungsmittel der Weisung gemäß Art. 85 Abs. 3 GG. Die Organzuständigkeit für den Erlaß liegt bei der zuständigen obersten Bundesbehörde, in der Regel also beim einzelnen Ressortminister,86 also nicht beim Kabinett als ganzem. Im Normalfall richtet sich die Weisung an die nach Landesrecht zuständige oberste Landesbehörde, in praxi zumeist an ein Landesministerium.87 Dieses hat die Weisung an die nachgeordnete, für den Vollzug zuständige Stelle weiterzuleiten und für den Vollzug zu sorgen (Art. 85 Abs. 3 S. 3 BVerfGE 100, 249 (260 f.). BVerfGE 100, 249 (261). Die strikte Handhabung der Organkompetenz entspricht der Auslegung des Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG: Wenn die Bundesregierung durch Gesetz zum Erlaß einer Rechtsverordnung ermächtigt ist, kann an ihrer Statt nicht ein einzelner Bundesminister handeln (BVerfGE 11, 77 [84 ff.]; Fritz Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 103 Rn. 30). 85 BVerfGE 100, 249 (261). 86 Näher Thomas Tschentscher, Inhalt und Schranken des Weisungsrechts des Bundes aus Artikel 85 III GG, Diss. Bonn 1988, S. 76 ff.; Janz (Fn. 15), S. 132 ff. 87 Tschentscher (Fn. 86), S. 103 ff.; Janz (Fn. 15), S. 141. 83 84
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GG). Nur in Fällen, in denen die Bundesregierung, insoweit also doch das Kollegium, es für dringlich erachtet, kann sich der Bund unmittelbar an die nachgeordnete Stelle wenden (Art. 85 Abs. 3 S. 2 GG). Kraft seiner Weisungskompetenz vermag der Bund, das Land einseitig zu verpflichten. Die Weisung ist ihrem Wesen nach ein einseitiger, verbindlicher Hoheitsakt im föderalen Innenverhältnis. Der Bund ist nicht auf das Einvernehmen des betroffenen Landes angewiesen. Er braucht sich noch nicht einmal um Konsens zu bemühen, ehe er zum Mittel der Weisung greift.88 Freilich hat er, wenn kein Eilfall vorliegt, dem Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme entsprechend, dem Land rechtzeitig Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben und dessen Standpunkt zu erwägen.89 Doch dem zu folgen braucht er nicht. In den bisherigen Verhandlungen über die Revision des Regelwerks hat das BMU den Ländern mitgeteilt, daß es sich legitimiert sehe, ein „Regelwerk“ ohne Konsens mit den Ländern zu formulieren und zu publizieren.90 Freilich ist nicht ausdrücklich von einer Weisung die Rede. Der Sache nach macht das BMU den Ländern jedoch klar, daß es, wenn der Dissens sich nicht auflösen sollte, einseitig vorgehen werde. Die Länder wissen also, welche Konsequenzen der Bund zu ziehen bereit ist. Dem Erfordernis der Anhörung ist damit noch nicht Genüge getan; es handelt sich nur um eine Drohung im Vorfeld. Die Verfassungspflicht zur Anhörung bezieht sich auf einen inhaltlich bestimmten Normbefehl. b) Gegenstand Die Weisung kann sich auf jede Gesetzesmaterie beziehen, die vom Land in Auftragsverwaltung auszuführen ist. Sie erfaßt die gesamte Vollzugstätigkeit des Landes:91 den außenwirksamen Sachentscheid wie dessen interne Vorbereitung, inhaltliche wie prozedurale Themen, Rechtsfragen wie Sachfragen, Direktiven künftigen wie Korrekturen bisherigen Verhaltens. Im Schrifttum wird die Auffassung vertreten, die Weisung beschränke sich auf den Sachentscheid, kraft dessen der Bund seine Sachkompetenz realisiere.92 Maßnahmen, die lediglich einen Sachentscheid vorbereiten oder ganz allgemein der Informationsgewinnung und Kontrolle dienen, wie die Anforderung von Berichten oder die Duldung von Augenschein, sollen ausgeklammert werden. Doch eine solche Reduktion der Weisung lässt sich nicht aus der Verfassung ableiten. Die Weisung erfasst alle potentiellen Ingerenzen des Bundes in die Auftragsverwaltung BVerfGE 81, 310 (337); vgl. auch Müller / Mayer / Wagner, AöR 128 (2003), 155. Vgl. BVerfGE 81, 310 (338); Oebbecke (Fn. 15), § 136 Rn. 61. 90 BMU (Fn. 22), S. 8 f. 91 BVerfGE 81, 310 (335); 84, 25 (31); vgl. auch Klaus Lange, Das Weisungsrecht des Bundes in der atomrechtlichen Auftragsverwaltung, 1990, S. 14 ff. 92 Gerrit Niehaus, in: Koch / Roßnagel, 12. Deutsches Atomrechtssymposion, 2004, S. 369 ff. 88 89
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der Länder, also auch jene prozeduralen Maßnahmen, die den Sachentscheid vorbereiten und die Gesetzesauslegung steuern. Diese sind rechtsverbindliche Befehle des Bundes an das Land zur Regelung von Einzelfällen. Der Bund überschreitet hier nicht die Grenze der den Ländern vorbehaltenen Wahrnehmungskompetenz. Die formellen Weisungen unterliegen dem Regime des Art. 85 Abs. 3 GG, der Zuständigkeit der obersten Bundesbehörde wie dem Gebot der Weisungsklarheit.93 Das Ergebnis entspricht der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts, daß die Weisung Mittel ist „zur Steuerung des Gesetzesvollzugs der Länder in allen seinen Phasen, auch jener, in der die Maßstäbe gewonnen werden, nach denen die Verwaltung im vorgegebenen normativen Rahmen den ihr unterbreiteten Sachverhalt einer Entscheidung zuzuführen hat“, und daß Inhalt einer Weisung auch die Festlegung auf eine bestimmte Gesetzesauslegung sein kann: also nicht der Sachentscheid selbst, sondern seine Vorprägung.94 Eben eine solche Vorprägung leistet das Regelwerk. Von seiner Funktion wie von seinem Inhalt her könnte es Gegenstand einer Weisung werden. c) Regelung eines konkreten Verwaltungssachverhalts Der kritische Punkt zeigt sich in der Unterscheidung der Weisung von der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift. Diese Rechtsformen müssen unterschieden werden. Anderenfalls wäre die differenzierende Zuweisung der Organkompetenzen und des Zustimmungsvorbehalts sinnlos. Stünde es im Belieben der obersten Bundesbehörde, eine Regelung als Allgemeine Verwaltungsvorschrift oder als Weisung zu deklarieren, so könnte sie die Kompetenz der Bundesregierung als Kollegium sowie die Mitwirkung des Bundesrates unterlaufen.95 Über die richtige Abgrenzung wird gestritten.96 Nach der Rechtsauffassung der Bundesregierung dürfen einzelne Ministerien aufgrund ihrer Kompetenz aus Art. 85 Abs. 3 GG allgemeine Weisungen erlassen.97 Gleichwohl hat sich im Schrifttum die herrschende Interpretation verfestigt, daß Weisung im Unterschied zur Allgemeinen Verwaltungsvorschrift als Einzelweisung zu verstehen ist.98 Zu letzterem BVerfGE 81, 310 (336 f.). BVerfGE 81, 310 (335 f.). 95 Zutreffend Peter Lerche, in: Maunz / Dürig, GG, Stand 1987, Art. 85 Rn. 50. 96 Nachw. Lerche (Fn. 95), Art. 85 Rn. 50 ff.; Willi Blümel, Festschrift König, 2004, S. 296 ff. 97 Antwort der Bundesregierung in: BT-Drs. 14 / 6716, S. 1 ff. Die Zulässigkeit allgemeiner Weisungen aufgrund von Art. 85 Abs. 3 S. 1 GG nimmt an BVerwGE 72, 300 (320) – normkonkretisierende Richtlinien. Zustimmend Willi Blümel, Festschrift König, 2004, S. 297 ff. 98 Fritz Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 1968, S. 372 f.; Steinberg (Fn. 2), S. 19, 21; Janz (Fn. 15), S. 128; Tschentscher (Fn. 86), S. 62, 65, 216 ff. (Nachw.); Lange (Fn. 91), S. 75 f.; Loschelder (Fn. 11), S. 60, 63; Christian Starck, JZ 2001, 133; Lerche (Fn. 95), Art. 85 Rn. 50 ff.; Georg Hermes, in: Dreier, GG, Bd. III, 2000, Art. 85 Rn. 43; Oebbecke (Fn. 15), § 136 Rn. 60 f.; Hans-Heinrich Trute, in: v. Mangoldt / Klein / 93 94
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Diese Distinktion deckt sich nicht mit der zwischen Verwaltungsakt und Rechtssatz, auch wenn jener als Regelung eines Einzelfalls, dieser als allgemeine Regelung definiert wird. Entscheidend sind dort die Adressaten. Der Verwaltungsakt richtet sich an eine bestimmte, individuelle Person oder doch (in der Spielart der Allgemeinverfügung) an eine im Zeitpunkt seines Erlasses bestimmbare Mehrzahl von Personen, der Rechtssatz dagegen an einen nach abstrakten Merkmalen definierten, offenen Personenkreis.99 Eine solche personenbezogene, individualisierende Definition läßt sich schon deshalb nicht in das Bund-Länder-Verhältnis übertragen, weil die Zahl der Länder von vornherein festliegt und die von aufsichtlichen Maßnahmen betroffenen Länder stets individuell bestimmbar sind, in Sachen Kernkraftwerke sind es gerade einmal fünf, so daß für eine „allgemeine“ Regelung überhaupt kein Raum wäre. Weisungen gegenüber mehreren oder allen Bundesländern sind daher zwar zulässig, bleiben allerdings immer individuelle Akte, sind niemals genereller Natur. Das Kriterium liegt nicht im Adressaten, sondern im Gegenstand der Regelung. Die Weisung bezieht sich auf einen bestimmten Sachverhalt des Verwaltungsgeschehens, während die Allgemeine Verwaltungsvorschrift Fragen des Gesetzesvollzugs in abstrakter Form regelt. Die Weisung ist eine verbindliche Anordnung für einen konkreten Sachverhalt, indes die Allgemeine Verwaltungsvorschrift eine unabsehbare Vielzahl von Fällen regelt.100 Die Weisung ergeht ad hoc. Das schließt aber nicht aus, daß der Bund uno actu gleichlautende Weisungen gegenüber mehreren oder allen Ländern ergehen läßt. Die Einheitlichkeit der Ausgangsentscheidung und die inhaltliche Übereinstimmung stellen den individuellen Charakter des Befehls nicht in Frage. Insofern handelt es sich um ein Pendant zur Allgemeinverfügung im Staat-Bürger-Verhältnis. Auch hier geht der Charakter eines Verwaltungsakts nicht dadurch verloren, daß er gleichzeitig mit inhaltsgleichen Verwaltungsakten ergeht, die sich an andere Adressaten richten.101 – Im Bund-Land-Verhältnis bildet die Weisung eine situationsbezogene Maßnahme, die Allgemeine Verwaltungsvorschrift einen (organisationsinternen) Rechtssatz. Das Bundesverfassungsgericht definiert Allgemeine Verwaltungsvorschriften als solche Regelungen, „die für eine abstrakte Vielheit von Sachverhalten des Verwaltungsgeschehens verbindliche Aussagen treffen, ohne auf eine unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet zu sein.“102 Das Regelwerk hat generellen Charakter. Es bezieht sich nicht auf einen individuellen Sachverhalt. Vielmehr beansprucht es Geltung für alle Sachverhalte, auf die das Atomgesetz mit seinen Sicherheitsanforderungen nach dem gegenwärtigen Starck, GG, Bd. 3, 4. Aufl. 2001, Art. 85 Rn. 21 ff. So auch grundsätzlich Broß (Fn. 6), Art. 85 Rn. 17; Müller / Mayer / Wagner, AöR 127 (2002), 135; Gegenposition: Willi Blümel, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Bd. IV, 1990 (2. Aufl. 1999), § 101 Rn. 60. 99 Vgl. Hans-Uwe Erichsen, in: ders., Allg.VerwR, 10. Aufl. 1995, § 12 Rn. 41 ff.; Detterbeck (Fn. 29), Rn. 458 ff.; Friedhelm Hufen, Verwaltungsprozeßrecht, 6. Aufl. 2005, S. 222 f. 100 Vgl. Lerche (Fn. 95), Art. 85 Rn. 50, 51. 101 § 35 S. 2 VwVG; dazu Detterbeck (Fn. 29), Rn. 464 ff. 102 BVerfGE 100, 249 (258) – im Anschluß an Lerche (Fn. 95), Art. 85 Rn. 96.
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Stand von Wissenschaft und Technik anwendbar ist. Es abstrahiert von den Einzelfällen mit ihren Besonderheiten, stellt auf das Gemeinsame und Typische ab und normiert das Normalbild eines Sachverhalts, an dem die zuständige Landesbehörde den zur Entscheidung anstehenden konkreten Sachverhalt zu messen hat. Das Regelwerk zieht gleichsam die gemeinsamen Faktoren der unabsehbar vielen künftigen Sachverhalte vor die Klammer. Darin aber erweist es sich als abstraktallgemeine Regelung. Für eine solche steht jedoch die Form der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift bereit, nicht die der Weisung.103 Im Schrifttum wird dieser Unterschied verwischt durch die Annahme, daß der Begriff „Weisungen“ in Art. 85 Abs. 3 GG sowohl Einzelweisungen als auch allgemeine Weisungen umfasse.104 Letztere aber lassen sich weder dogmatisch noch praktisch von den Allgemeinen Verwaltungsvorschriften unterscheiden.105 In dieser Auslegung öffnet sich ein zweiter Weg für den Erlaß abstrakt-genereller Normen für die Auftragsverwaltung. Der Bund hätte ein Wahlrecht und könnte so den Bundesrat umgehen, wenn dieser politische Schwierigkeiten erwarten ließe. Freilich verliert damit die differenzierende Kompetenzzuweisung in Art. 85 Abs. 2 und Abs. 3 GG ihren Sinn. Zur Begründung des Nebeneinanders von Allgemeinen Verwaltungsvorschriften und allgemeinen Weisungen wird auf die Staatspraxis und auf Verwaltungsbedürfnisse verwiesen.106 Doch diese haben kein derogierendes Verfassungsgewohnheitsrecht und keine brauchbaren Distinktionen hervorgebracht. Im übrigen hat sich die Staatspraxis unter dem Einfluß der neueren Verfassungsrechtsprechung geändert. Diese nimmt die Kompetenzverteilung des Art. 85 GG beim Wort und verabschiedet eine ältere, laxe Interpretation.107 In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik, solange praktische Harmonie zwischen Bund und Ländern bei der Ausführung der Bundesgesetze waltete, war es nicht erforderlich, daß die verfassungsrechtlichen Fragen bis in die letzten Feinheiten ausgetragen wurden. Das hat sich in der Ära des energiepolitischen Dissenses geändert. Nun wird das Kompetenzgefüge des Art. 85 GG in allen juristischen Nuancen herausgefordert. Heute darf die Interpretation nicht hinter den Stand der bisher erreichten 103 Zutreffend Rudolf Steinberg / Gerhard Roller, in: Hans-Peter Schneider / Rudolf Steinberg, Schadensvorsorge im Atomrecht zwischen Genehmigung, Bestandsschutz und staatlicher Aufsicht, 1991, S. 64; Ossenbühl (Fn. 21), S. 311; Oebbecke (Fn. 15), § 136 Rn. 60 f. 104 So Blümel (Fn. 98), § 101 Rn. 60; ders. (Fn. 97), S. 296 ff.; Janz (Fn. 15), S. 256 ff. (Nachw.); Heitsch (Fn. 14), S. 279 ff. (allgemeine Weisungen bei Gefahr im Verzug und Kenntnis aller Anwendungsfälle bei Erlaß); Hömig (Fn. 57), Art. 85 Rn. 8; Hans-Günther Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Hopfauf, GG, 11. Aufl. 2008, Art. 85 Rn. 8. 105 Vgl. Ossenbühl (Fn. 98), S. 372 f.; Lerche (Fn. 95), Art. 85 Rn. 50 ff.; Thomas von Danwitz, DÖV 2001, 356; vermittelnd Rauscher (Fn. 21), S. 383 f.; Arndt (Fn. 76), S. 29. 106 So Blümel (Fn. 98), § 101 Rn. 60; vermittelnd Broß (Fn. 6), Art. 85 Rn. 17 (zulässig generelle Weisungen mit Bezug auf einen konkreten Sachverhalt); kritisch: Lerche (Fn. 95), Art. 85 Rn. 50. 107 BVerfGE 100, 249 (258 ff.). Zuvor aber auch schon BVerfGE 81, 310 (331 ff.); 84, 25 (31 ff.).
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juristischen Erkenntnis zurückfallen. Zu Recht lehnt die herrschende Lehre die Zulässigkeit genereller Weisungen ab. Daher bildet die Novellierung des Regelwerks keinen tauglichen Gegenstand einer Weisung im Sinne des Art. 85 Abs. 3 GG. Die Kompetenzvorschrift des Art. 85 Abs. 2 S. 1 GG, die den Erlaß von Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Schutz der Länder an die Zustimmung des Bundesrates knüpft, schließt generelle Regelungen durch Weisungen aus. Insoweit wirkt sie als Kompetenzsperre für das BMU.108 3. Repressive Bundesaufsicht gemäß Art. 85 Abs. 4 GG Im Sprachgebrauch wird unter „Bundesaufsicht“ häufig die Gesamtheit der Ingerenzen des Bundes in die Auftragsverwaltung der Länder verstanden.109 Dieser weite Begriff deckt sowohl die Direktionsgewalt (Geschäftsleitung) ab, kraft deren der Bund über Allgemeine Verwaltungsvorschriften und Weisungen seine Sachkompetenz aktualisiert, als auch die „Bundesaufsicht“ im engeren Sinne, die Gegenstand des Art. 85 Abs. 4 GG ist (repressive Bundesaufsicht). Hier ist Unterscheidung geboten. Die Bundesaufsicht im Sinne des Art. 85 Abs. 4 GG bezieht sich auf die Auftragsverwaltung, solange und soweit ein Land sie noch eigenverantwortlich ausübt, der Bund also die Sachkompetenz noch nicht an sich gezogen hat. Insofern hat sie noch gewisse Ähnlichkeit mit der Rechts- und Fachaufsicht, die dem Staat gegenüber Selbstverantwortungsträgern obliegt. Die Bundesaufsicht in diesem engeren Sinne beschränkt sich auf Beobachtung und Überwachung.110 Sie wirkt darauf hin, daß das Land seine Aufgabe, den Vollzug des Bundesgesetzes, in den Bahnen der Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit wahrnimmt (Art. 84 Abs. 4 S. 1 GG). Die Bundesaufsicht dient der Kontrolle, während die Geschäftsleitung der Steuerung dient. Dort werden fremde Angelegenheiten überwacht, hier wird in eigener Sache gehandelt.111 In dieser übernimmt der Bund die Sachkompetenz, in jener beläßt er sie dem Land. Die „repressive“ Aufsicht und die „präventive“ Direktionsgewalt des Bundes stehen nebeneinander und ergänzen sich.112 Das Grundgesetz macht den Unterschied deutlich, indem es die Weisung als Instrument der Geschäftsleitung den obersten Bundesbehörden zuweist, dagegen die spezifischen Befugnisse von Danwitz (Fn. 105), S. 357. So etwa Blümel (Fn. 98), § 101 Rn. 69 ff.; Broß (Fn. 6), Art. 85 Rn. 20 ff.; Armin Dittmann, in: Sachs, GG, 3. Aufl. 2003, Art. 85 Rn. 28 ff.; Niehaus (Fn. 92), S. 363, passim. 110 Loschelder (Fn. 11), S. 53; Hermes (Fn. 98), Art. 85 Rn. 23; Müller / Mayer / Wagner, AöR 127 (2002), 596. 111 Vgl. Ernst Forsthoff, Verwaltungsrecht, 10. Aufl. 1973, S. 478 f. 112 Hermes (Fn. 98), Art. 85 Rn. 20 ff.; Loschelder (Fn. 11), S. 53; Müller / Mayer / Wagner, AöR 127 (2002), 595 f.; dies., AöR 128 (2003), 142. Dagegen nimmt Thomas von Danwitz ein einheitliches Institut der Bundesaufsicht an, DVBl. 1992, 1007. 108 109
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der Bundesaufsicht der Bundesregierung (Art. 85 Abs. 4 S. 2 GG). Die höherstufige Kompetenz der Bundesregierung als Kollegium läßt sich daraus erklären, daß die spezifisch aufsichtlichen Maßnahmen, die Anforderung von Bericht und Aktenvorlage sowie die Entsendung von Beauftragten, die Länder in ihrem eigenverantwortlichen Handeln kontrollieren und gegebenenfalls auch korrigieren, indes die Weisungen als Akte der Geschäftsführung die eigene Sachzuständigkeit des Bundes in Anspruch nehmen und insofern die Länder verdrängen. Im ersten Fall werden die Länder in ihrer eigenstaatlichen Empfindlichkeit getroffen, im zweiten nicht. Im Schrifttum werden die Unterschiede verwischt, wenn es die aufsichtlichen Maßnahmen unter Berufung auf die Staatspraxis als Unterfälle der direktiven Weisungen behandelt und die Zuständigkeit für die aufsichtlichen Maßnahmen entgegen dem Wortlaut des Art. 85 Abs. 4 S. 2 GG den obersten Bundesbehörden zuspricht.113 Auf der anderen Seite wird die Weisung nach Art. 85 Abs. 3 GG als zusätzliche aufsichtliche Maßnahme verstanden, die neben den in Art. 85 Abs. 4 GG genannten Befugnissen eingesetzt werden könne, um die Verwaltung des Landes, solange diesem noch die Sachkompetenz verblieben sei, zu beobachten und gegebenenfalls zu korrigieren.114 Mit dieser Annahme löst sich die Weisung von der Sachkompetenz des Bundes. Dieser kann sie dem Land belassen und auf dem relativ einfachen Wege der ministeriellen Weisung die Ausübung der Sachkompetenz durch das Land kontrollieren und dirigieren, ohne auf die speziellen Instrumente des Art. 85 Abs. 4 angewiesen zu sein und ohne die Bundesregierung als Kollegium zu bemühen. – Doch die Kompetenzzuweisungen des Grundgesetzes müssen beim Wort genommen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat ein Zeichen gesetzt in der Auslegung der Kompetenz der Bundesregierung zum Erlaß Allgemeiner Verwaltungsvorschriften nach Art. 85 Abs. 2 S. 1 GG.115 Wenn die aufsichtlichen Maßnahmen der Weisungskompetenz nach Art. 85 Abs. 3 GG zugeschoben werden oder die Weisungskompetenz zur Nebenaufsicht ausgebaut wird, laufen die Vorschriften über die Bundesaufsicht nach Art. 85 Abs. 4 GG leer. Die „repressive“ Bundesaufsicht gemäß Art. 85 Abs. 4 GG ist also schon von ihrer Zweckbestimmung her nicht dazu geschaffen, das Handlungsprogramm der Auftragsverwaltung zu gestalten und das Regelwerk zu erneuern. Diese Aufgabe fällt in die Direktionsgewalt, also in die Sachkompetenz des Bundes, die dieser für sich in Anspruch nehmen muß. Im übrigen gibt die Bundesaufsicht keine Befugnis zur Setzung und Revision von Innenrecht. Vielmehr beschränkt sie sich auf die Mittel, die der Bundesregierung als Kollegium ausdrücklich zugewiesen sind: Berichte und Aktenvorlage zu verlangen sowie Beauftragte zu entsenden (Art. 85 Abs. 4 S. 2 GG). Auch der Gesetzgeber könnte das Instrumentarium nicht erwei113 So Blümel (Fn. 98), § 101 Rn. 70; Dittmann (Fn. 109), Art. 85 Rn. 28 f.; Trute (Fn. 98), Art. 85 Rn. 39.; Broß (Fn. 6), Art. 85 Rn. 21; zutreffend dagegen Lerche (Fn. 95), Art. 85 Rn. 80. 114 Tschentscher (Fn. 86), S. 62 ff., 207 ff.; Janz (Fn. 15), S. 159. 115 BVerfGE 100, 249 (261).
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tern.116 Die Bundesexekutive darf nicht kraft der Institution Bundesaufsicht die von der Verfassung vorgesehenen Formen der Direktionsgewalt, im vorliegenden Fall das Erfordernis einer Allgemeinen Verwaltungsvorschrift, umgehen oder abbedingen. Aufsichtliche Maßnahmen eignen sich ebenso wenig für den Erlaß des erneuerten Regelwerks wie die Weisung.
V. Instrumente außerhalb des Formenkanons des Art. 85 GG 1. Zulässigkeit informeller Ingerenzen In der Literatur herrscht Streit, ob die Typologie der Ingerenzen, die Art. 85 GG enthält, abschließend ist oder ob sie anderen Typen Raum beläßt. Das Bundesverfassungsgericht macht sich die zweite Auffassung zu eigen: „Das Grundgesetz stellt der vollziehenden Gewalt weder einen abschließenden Katalog bestimmter Handlungsformen zur Verfügung, noch werden ausdrücklich erwähnte Handlungsformen inhaltlich im einzelnen definiert.“117 Für die Wahrnehmung ihrer jeweiligen Kompetenzen dürfen sowohl der Bund als auch das Land „ein Spektrum unterschiedlicher Handlungsformen in Anspruch nehmen. Das gilt vor allem im Vorfeld möglicher Entscheidungen.“118 Neben die förmlichen Prozeduren der Rechtserzeugung, die Art. 85 GG vorsieht, können informelle Prozeduren treten.119 Die Zwecke eines Bundesgesetzes lassen sich auch auf solchem Wege verwirklichen. „Der insoweit eintretende Handlungserfolg kann durch alle auf den Einzelfall bezogenen Maßnahmen erreicht werden, auch wenn sie sich nicht in den herkömmlichen, rechtlich formalisierten Verfahren und Handlungsformen einordnen lassen.“120 In der Praxis der Auftragsverwaltung verdrängen und ersetzen diese weithin die formellen Akte.121 Mit dem Effizienzgewinn setzt aber die Umgehungsgefahr ein.122 Informelle Maßnahmen des Bundes können auf die kompetenzrechtliche Position Lerche (Fn. 95), Art. 85 Rn. 88; Blümel (Fn. 98), Art. 101 Rn. 71. BVerfGE 100, 249 (258). Grundsätzlich zustimmend Oebbecke (Fn. 15), § 136 Rn. 63. 118 BVerfGE 104, 249 (266). 119 Grundsätzlich Herbert Bethge, Jura 2003, 327 ff.; Eberhard Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1998, S. 269 ff. – Belege für die verwirrende Vielfalt des „Informellen“ und das inflationäre Schrifttum: Martin Morlok, VVDStRL 62 (2003), 39 ff. Verbreitet, aber sprachlich inkorrekt ist auch der Gebrauch des Wortes „informal“. Das Bundesverfassungsgericht wechselt zwischen den Wörtern (BVerfGE 104, 249 [266, 271, 272]), ebenso das Sondervotum (ebd., S. 275, 279, 283); zur Terminologie Josef Isensee, DVBl. 1986, 955. 120 So das Sondervotum der Richter Di Fabio und Mellinghoff, BVerfGE 104, 273 (275). Vgl. auch Hans-Werner Rengeling, Das Kooperationsprinzip im Umweltrecht, 1988, S. 45, 64 ff., 142 ff., 196 ff. 121 Steinberg (Fn. 2), S. 19; Rauscher (Fn. 21), S. 385 ff. 122 Allgemein Schmidt-Aßmann (Fn. 119), S. 270. 116 117
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eines Landes, seine Wahrnehmungszuständigkeit, einwirken.123 Sie sind nur unter bestimmten verfassungsrechtlichen Voraussetzungen und innerhalb bestimmter verfassungsrechtlicher Grenzen zulässig. Wenn für sie auch kein Vorbehalt der Verfassung gelten soll,124 so bleibt immer noch der Vorrang der Verfassung. Dieser aber verbietet, daß präter- und subkonstitutionelle Akte der verfassungsrechtlich vorgesehenen Kompetenzordnung widersprechen, sie aushöhlen oder unterlaufen. Die Staatspraxis hat sie aus Gründen der Zweckmäßigkeit praeter constitutionem entwickelt; doch dürfen sie sich nicht contra constitutionem auswirken. Die Ordnung der Verbands- und Organzuständigkeiten nach Art. 83 ff. ist unverrückbar und unverfügbar. „Kompetenzverschiebungen sind auch mit Zustimmung der Beteiligten nicht zulässig.“125 2. Einseitige Akte des Bundes a) Empfehlungen Nach einer Rechtsmeinung im Schrifttum unterliegen bloße Empfehlungen eines Bundesministers nicht dem Formzwang des Art. 85 GG. Sie müssen nicht als Allgemeine Verwaltungsvorschrift oder als Weisung ergehen.126 Ihnen geht der Befehlscharakter ab, der ein Wesenszug der Weisung ist.127 Das gleiche gilt für Informationen wie für alle sonstigen, „schlichten“ Maßnahmen ohne imperativen Charakter. Mit ihnen reguliert der Bund nicht den Gesetzesvollzug der Länder. Er verschiebt nicht die bestehenden Grenzen der Sachkompetenz, verkürzt also nicht das Entscheidungspotential der Länder. Doch das Regelwerk, gleich ob in seiner bisherigen oder in seiner künftigen Fassung, ist keine Empfehlung,128 sondern eine Handlungsdirektive mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit für die Landesbehörden, an die sie sich richtet. Verbindlichkeit aber erlangt sie nur über die von der Verfassung vorgesehene Form. Ein informeller Oktroi scheidet aus.
Sondervotum Di Fabio und Mellinghoff, BVerfGE 104, 273 (275). Dazu allgemein Josef Isensee, Festschrift Leisner, 1999, S. 359 ff.; Fritz Ossenbühl, Festschrift Isensee, 2007, S. 309 ff. 125 Bethge (Fn. 1), Sp. 1020; allgemein zur Normqualität der föderalen Kompetenz Isensee (Fn. 3), § 133 Rn. 48 ff., 64 ff. 126 So zu den „Grundsätzen zur Entsorgungsvorsorge für Kraftwerke“ Blümel (Fn. 98), § 101 Rn. 61. Einschlußweise BVerfGE 100, 249 (259). 127 Loschelder (Fn. 11), S. 66 ff. 128 So auch Arndt (Fn. 76), S. 28. 123 124
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b) Hinweis auf eine bestehende Rechtspflicht Der Hinweis auf eine bestehende Rechtspflicht ist keine Weisung, desgleichen die bloße Anmahnung ihrer Erfüllung. Wesentlich ist nicht der Umstand, daß diese Akte nur deklaratorischer Natur sind, die Pflicht also nicht von sich aus begründen, sondern der Umstand, daß sie keinen Befehl enthalten, also keine Ingerenz in die Verwaltungshoheit des Landes bedeuten. Sie sind nicht an vorgegebene Formen gebunden. Der Erlaß des Regelwerkes jedoch bezieht sicht nicht auf geltende Pflichten, sondern begründet neue und hat so imperativen Charakter.
c) Generelle Mitteilungspflichten, Einvernehmens- und Zustimmungsvorbehalte Das BMU bemüht sich jedoch, das von ihm geschaffene Regelwerk dadurch informell zu sanktionieren, daß es die Befolgungspflicht als a priori gegeben hinstellt: Wenn das Land vom Regelwerk abweichen wolle, sei es verpflichtet, ihm Mitteilung zu machen aufgrund seiner Verfassungspflicht zu bundesfreundlichem Verhalten.129 Das BMU leitet die Pflicht also aus der Verfassung ab, so daß sich die Notwendigkeit erübrigt, sie durch einen eigenen aufsichtlichen Rechtsakt zu statuieren. Eine verfassungsunmittelbar begründete Mitteilungspflicht führte dem Regelwerk mittelbare Rechtsgeltung zu, kraft deren dem BMU die Informationen über den regelwerkskonformen Gesetzesvollzug zu liefern wären, mit ihnen die Basis für Weisungen. Das Argument des bundesfreundlichen Verhaltens soll also eine normative Kettenreaktion auslösen, die dem Regelwerk praktische Rechtswirksamkeit verschafft, ohne daß es sich in den Formenkanon des Art. 85 GG fügen muß. Anders gewendet: Es soll den einseitigen, informellen Erlaß des Regelwerks durch den Bund legitimieren. An sich gilt das ungeschriebene Verfassungsprinzip des bundesfreundlichen Verhaltens auch für die Partner der Auftragsverwaltung.130 Es richtet sich an beide Seiten, und es kommt beiden zugute. Die geläufige Formel bezieht sich nicht auf den Bund als Zentralstaat, sondern auf den Bund im Sinne von foedus, der Zentralstaat und Gliedstaaten zusammenhält. Daher hat das Wort dieselbe Bedeutung wie „Bundestreue“. Der sprachlichen Verdeutlichung als „bundes- / länderfreundliches Verhalten“131 bedarf es nicht. Der Bund muß grundsätzlich dem Land zu erkennen geben, daß er den Erlaß einer Weisung in Betracht zieht, ihm Gelegenheit zur Stellungnahme geben und seinen Standpunkt erwägen.132 Beide Seiten haben bei der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen die gebotene, zumutbare Rücksicht auf das Gesamtinteresse des Bundesstaates und auf die Belange der Länder zu nehmen.133 129 130 131 132
BMU (Fn. 22), S. 9. BVerfGE 81, 310 (337 f.); 104, 249 (269 f.); Blümel (Fn. 98), § 101 Rn. 65. So der Alternativvorschlag von Broß (Fn. 6), Vorbem. zu den Art. 83-87 Rn. 1. BVerfGE 81, 310 (337 f.); Sondervotum BVerfGE 104, 249 (282 ff.).
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Diese Pflichten, die aus dem Gebot bundesfreundlichen Verhaltens abgeleitet werden, bilden keinen Kompetenztitel und keine Handlungsermächtigung. Die Bundestreue konstituiert kein selbständiges Rechtsverhältnis. Vielmehr begründet und begrenzt sie die Ausübung der Rechte und die Einforderung der Pflichten innerhalb eines bestehenden Rechtsverhältnisses.134 Sie bezieht sich auf Stil und Procedere der Kompetenzausübung, ist somit nur „kompetenzmoderierender, nicht kompetenzbegründender Natur“.135 Sie wirkt sich vor allem als Mißbrauchsverbot aus. Gleichsam als das „Schmieröl“ im Kompetenzgetriebe beugt sie Reibungen vor und verhütet Blockaden.136 Die Mitteilungspflicht findet im Regelwerk keine rechtlich fundierte Basis. Im Gegenteil: Sie soll ihrerseits dem Regelwerk eine (partielle) rechtliche Basis verschaffen und ihm somit zu Wirksamkeit verhelfen. Sie soll selbständige, primäre Bedeutung annehmen. Dagegen sind Pflichten, die sich aus der Bundestreue ableiten, nur unselbständige Nebenpflichten, Annexe einer vorgegebenen Rechtsposition. Die ungeschriebenen Derivate der Bundestreue ergänzen das geschriebene Verfassungsrecht,137 aber sie modifizieren und sie korrigieren es nicht. Daher tasten sie die Kompetenzverteilung nicht an. Sie durchbrechen auch nicht die Formvorschriften des Grundgesetzes. Das Prinzip des bundesfreundlichen Verhaltens ergibt kein Argument für einen Erlaß des Regelwerks außerhalb des Formenkanons des Art. 85 GG. Aus dem gleichen Grunde müsste der Versuch des Bundes scheitern, dem Regelwerk auf dem indirekten Wege durch einen allgemeinen Einvernehmens- oder Zustimmungsvorbehalt Geltung zu verschaffen und die Länder anzuweisen, für den Fall, daß sie vom Regelwerk abweichen wollen, das Einvernehmen oder die Zustimmung des Bundes zu erwirken. Die Weisung vermag einen solchen generellen Normbefehl nicht zu tragen.138 Dieser führte statt zu einer punktuellen Bindung der Landesverwaltung zu einer flächendeckenden Bindung. Doch der Bund kann den Ländern nicht auf diesem Wege die letzten Reste von Sachkompetenz entziehen. Das gelänge ihm selbst dann nicht, wenn er das gesamte Formenrepertoire des Art. 85 GG ausschöpfte. Auch nicht auf informellem Wege, indem er etwa die gesamte atomrechtliche Genehmigungs- und Aufsichtstätigkeit der Länder unter den Generalvorbehalt seiner Zustimmung für jedwede Abweichung vom Regelwerk stellte. BVerfGE 104, 249 (270); Bethge (Fn. 1), Sp. 993 (995). BVerfGE 13, 54 (75); 21, 312 (326); 42, 103 (117). 135 Bethge (Fn. 1), Sp. 995; vgl. auch Josef Isensee, in: ders. / Kirchhof, HStR, Bd. IV, 2. Aufl. 1999, § 98 Rn. 157 (Nachw.); Matthias Jestaedt, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 29 Rn. 75; zur Relevanz für die Weisung nach Art. 85 Abs. 3 GG BVerfGE 81, 310 (337 f., 345 f.). 136 Vgl. Jestaedt (Fn. 135), § 29 Rn. 73. 137 Isensee (Fn. 135), § 98 Rn. 157. 138 Im Ergebnis gleich Tschentscher (Fn. 86), S. 135; Lange (Fn. 91), S. 79. A. A. Lerche (Fn. 95), Art. 85 Rn. 56; Hermes (Fn. 98), Art. 85 Rn. 44. 133 134
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d) Vorbereitung einer Sachentscheidung Das Bundesverfassungsgericht hat im Biblis-Urteil dem informellen Handeln des Bundes neuartigen Spielraum eröffnet, soweit er eine Sachentscheidung vorbereiten und die Grundlagen für förmliche Weisungen in der Zukunft legen will: „Der Bund darf im Rahmen der Bundesauftragsverwaltung (Art. 85 GG) alle Aktivitäten entfalten, die er für eine Ausübung seines grundsätzlich unbeschränkten Direktions- und Weisungsrechts für erforderlich hält, soweit er dadurch die Wahrnehmungskompetenz der Länder nicht verletzt.“139 Hier bietet sich Bund und Ländern für die Wahrnehmung ihrer jeweiligen Kompetenzen „ein Spektrum unterschiedlicher Handlungsformen“ an.140 Soweit es den Bund betrifft, ist jedoch Voraussetzung, daß er erst seine zunächst nur potentielle Sachkompetenz aktualisiert, indem er sie ausdrücklich oder konkludent auf sich überleitet.141 Der bisherige Anwendungsfall der These, wenngleich nach der Formulierung des Gerichts nicht der einzig mögliche, sind unmittelbare Kontakte zu (betroffenen) Dritten einschließlich etwaiger „informeller“ Absprachen142 ohne Beteiligung des betroffenen Landes; konkret: die Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Energieversorgungsunternehmen vom 14. Juni 2000 („Atomkonsens“). Das verfassungsrechtliche Problem bestand hier darin, ob der Bund an den Ländern als den Trägern der Auftragsverwaltung vorbei sich mit den Betreibern der Kernkraftwerke arrangieren darf oder ob ein derartiges Vorgehen verfassungsrechtliche Positionen des Landes, insbesondere seine unentziehbare Wahrnehmungskompetenz verletzt. Das Bundesverfassungsgericht verneint die Frage, indes zwei Richter in einem Sondervotum sie bejahen.143 Das Biblis-Urteil will den Bund nicht generell von allen Formerfordernissen freistellen, die er für eine effektive und unbeschränkte Ausübung seines Direktions- und Weisungsrechts für erforderlich hält. Vielmehr äußert es sich nur zu informellen Absprachen mit Dritten. Diese unterliegen ohnehin nicht dem Formenkanon des Art. 85 GG, der sich auf das Bund-Land-Verhältnis bezieht. Problematisch ist denn auch nicht der informelle Charakter einer solchen Absprache, sondern deren verfassungsrechtliche Zulässigkeit wegen ihrer möglichen Rückwirkung auf die Wahrnehmungskompetenz des Landes. Im Biblis-Urteil vollzieht sich eine Wende der Judikatur, indem es an der zuvor strikten Trennung von Innenkompetenz (des Bundes gegenüber dem Land) und Außenkompetenz (des Landes gegenüber den Betreibern) nicht mehr festhält, vielmehr „im Interesse einer funktionsfähigen Bundesauftragsverwaltung“ dem Bund ebenfalls eine (freilich begrenzte) Außenkompetenz zu eigenen Kontakten mit den Betreibern zuerkennt.144 Das ist ein völlig anderes Thema als das hier 139 140 141 142 143 144
BVerfGE 104, 249 (265). Ebenso Broß (Fn. 6), Art. 85 Rn. 18b. BVerfGE 104, 249 (266). BVerfGE 104, 249 (265). BVerfGE 104, 249 (265 f.). Einerseits BVerfGE 104, 249 (264 ff.). Andererseits Sondervotum, ebd., S. 273 ff. Vgl. die Analyse von Broß (Fn. 6), Art. 85 Rn. 18b.
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anstehende. Aus der (an sich überaus prekären) Außenkompetenz des Bundes zu Dritten können keine Rückschlüsse auf die Binnenkompetenz zu den Ländern und auf den für sie geltenden Formenkanon gezogen werden. Das Bundesverfassungsgericht erteilt dem Bund keine Blankoermächtigung zu informellem Handeln gegenüber den Ländern. e) Programmatische Ankündigung künftiger Weisungen Ossenbühl hält es für eine verfassungswidrige Umgehung des Art. 85 Abs. 2 GG und einen Mißbrauch der Weisungsbefugnis gemäß Art. 85 Abs. 3 GG, wenn das BMU in eigener Zuständigkeit neue Sicherheitsstandards formulierte und den Ländern ankündigte, daß seine künftige Weisungspraxis sich nach diesem Regelwerk richten werde. Das Regelwerk, das den Ländern nicht im Wege der (Einzel-)Weisung verbindlich vorgeschrieben werden könne, werde „sozusagen tröpfchenweise durch den Flaschenhals der Einzelweisung“ an den Adressaten weitergeleitet, damit es eine Bindungswirkung erzeuge.145 Der rechtliche Vorwurf geht letztlich dahin, daß der Bund den Effekt einer Allgemeinen Verwaltungsvorschrift durch die Ankündigung einer Vielzahl aufeinander abgestimmter Einzelweisungen erreichen wolle. An sich kann der Bund den Ländern das gesamte Handlungsprogramm vorschreiben, wenn er seine Sachkompetenz in vollem Umfang wahrnimmt. Problematisch ist in diesem Zusammenhang nicht, daß er allgemeine Regeln einseitig aufrichtet, sondern daß er dafür nicht die vorgesehene Form der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift wählt. Über die Form aber kann er kraft seiner Sachkompetenz gerade nicht disponieren. An sich steht es ihm frei, ob er Weisungen trifft, wie häufig er von diesem Mittel Gebrauch macht und wie dicht seine Ingerenzen ausfallen. In einer auf staatliche Rationalität ausgerichteten Verfassungsordnung versteht es sich von selbst, daß der Bund seine Weisungsbefugnisse nach politischem und administrativem Plan ausübt, daß er aus seiner Planung kein Geheimnis machen muß und sie den Ländern mitteilen darf. Die Mißbrauchsgrenze wird aber dann erreicht, wenn die Einzelweisungen über ihre Dichte und Zahl flächendeckend wirken wie eine Allgemeine Verwaltungsvorschrift. Dieser Effekt tritt ein, wenn das einseitig verfügte Weisungsprogramm des Bundes von Maßnahmen sanktioniert wird, welche die Länder zu vorauseilendem Gehorsam gegenüber künftigen Weisungen, faktisch aber zu aktuellem Gehorsam gegenüber dem generellen Programm bewegen sollen. Eine solche Maßnahme ist die Statuierung einer generellen Mitteilungspflicht der Länder für den Fall, daß sie vom Programm abzuweichen gedenken. Eine solche generelle Pflicht könnte jedoch ihrerseits nur durch Allgemeine Verwaltungsvorschrift eingeführt werden, so daß sich die Frage nach der notwendigen Form nur verschiebt. In ihrer Beschränkung auf den Einzelfall ist die Weisung nicht dazu bestimmt, die Auftragsverwaltung flächendeckend 145
Ossenbühl, atw 51 (2006), 312 f.
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zu steuern, die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zu ersetzen und den Bundesrat als Mittler der Länderbelange auszuschalten. Im Ergebnis bildet die Möglichkeit der zuständigen Bundesbehörde, aufeinander abgestimmte Einzelweisungen anzukündigen und durchzuführen, keine zulässige und keine brauchbare Alternative zu einer Allgemeinen Verwaltungsvorschrift. f) Aufbau eines Datendepots Das BMU erwägt, die Länder zu verpflichten, alle Daten der Auftragsverwaltung in Sachen der Kernenergie in ein Depot einzugeben, das ihm selbst voraussetzungslos und vorbehaltlos zugänglich wäre. Gäbe es ein solches, so erübrigten sich einzelne Weisungen, Auskünfte zu erteilen. Durch bloße Einzelweisung ließe sich ein solcher Pool freilich nicht schaffen. Falls er aber in korrekter Form begründet würde, erhöben sich verfassungsrechtliche Bedenken inhaltlicher Art. Denn der Informationsspeicher zielte ab auf totale Transparenz. Die Auftragsverwaltung der Länder kann sich zwar nicht auf den grundrechtlichen Schutz persönlicher Daten berufen. Dennoch ist sie für den Bund nicht gläsern wie eine nachgeordnete Behörde der übergeordneten. Die Länder stehen dem Bund auch in der Auftragsverwaltung als eigene, geschlossene Organisationen gegenüber, als fremde Häuser mit begrenzten Zugangsmöglichkeiten. Hier bestätigt sich, daß Auftragsverwaltung echte Landesverwaltung ist.146 g) Überleitung der Geschäftsbefugnis Das Bundesverfassungsgericht kreiert im Biblis-Urteil die Rechtsfigur der ausdrücklichen oder konkludenten Überleitung der Geschäftsleitungsbefugnis auf den Bund, einer Befugnis, die ihm zunächst nur als „Reservezuständigkeit“ verliehen sei. Er müsse die Sachentscheidungsbefugnis erst aktualisieren; denn diese liege, jedenfalls „zunächst“, beim Land. Erst nach dieser Überleitung könne er alle Aktivitäten entfalten, die er für die Vorbereitung und Ausübung seines grundsätzlich unbeschränkten Direktions- und Weisungsrechts für erforderlich halte.147 Die Geschäftsleitungsbefugnis wird als „umfassende Direktionsmacht“ verstanden.148 Sie erschöpft sich nicht in einer einzelnen Sachentscheidung. Vielmehr erfaßt sie einen ganzen Sachbereich, der eine Vielzahl von Entscheidungsmöglichkeiten umschließt. Es fragt sich, ob der Bund kraft einer solchen Überleitung sich aus den formellen Kautelen des Art. 85 GG lösen und das neugefaßte Regelwerk auf informellem Wege in Kraft setzen kann. Bethge (Fn. 1), Sp. 1022; ebenso Oebbecke (Fn. 15), § 136 Rn. 55. BVerfGE 104, 249 (265). Erläuterungen: Broß (Fn. 6), Art. 85 Rn. 18; Müller / Mayer / Wagner, AöR 127 (2002), 594 f.; Ausgangsthese: Ossenbühl, atw 51 (2006), 36. 148 Lerche (Fn. 95), Art. 85 Rn. 6; Müller / Mayer / Wagner, AöR 127 (2002), 594. 146 147
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Die Kategorie der Überleitung der Geschäftsleitungsbefugnis steht außerhalb des Repertoires der vom Grundgesetz vorgesehenen Ingerenzen und reicht über die Reichweite der einzelfall- und sachentscheidbezogenen Weisung hinaus. Sie soll denn auch „ausdrücklich oder konkludent“ begründet werden,149 also bei Bedarf außerhalb der vorhandenen Formen.150 Die Rechtsfigur der Überleitung, die bisher dem Gericht dazu dient, dem Bund einen kompetenzrechtlichen Freibrief für den „Atomkonsens“ mit den Betreibern auszustellen, hält sich in ihrer dogmatischen Begründung wie ihren Wertungen noch im Dunkel. So erzeugt sie für die Länder Rechtsunsicherheit, ob sie, selbst informell („ausdrücklich oder konkludent“) erlassen, den Bund von der Wahrung des Formenkanons freistellt und im Fall der Kollision mit bisher ergangenen förmlichen Direktiven des Bundes (Allgemeinen Verwaltungsvorschriften) letzteren vorgeht.151 Im Entscheidungsfall Biblis lag jedoch nach Auffassung des Gerichts eine ausdrückliche Weisung vor, mit der die Rechtsfolge der Überleitung konkludent angezeigt worden sei.152 Das Biblis-Urteil nährt jedoch die Rechtsmeinung, daß der Bund die Sachkompetenz auch ohne förmliche Weisung beanspruchen könne, und zwar durch konkludent erklärte Überleitung, die bereits in der unmißverständlichen Ankündigung liege, daß der Bund „die Genehmigungsverfahren maßgeblich im verfassungsrechtlichen Binnenverhältnis zu begleiten gedenkt“, so durch die Anordnung eines Zustimmungsvorbehalts.153 Doch die Anordnung des Zustimmungsvorbehalts ist nicht die Ankündigung einer Weisung, sondern selbst bereits Weisung, und zwar eine solche von materiellem Charakter. Der Bund zeigt dem Land an, daß er beabsichtigt, in einem bestimmten Sachbereich materiell selbst zu entscheiden; er blockiert mit dem Zustimmungsvorbehalt Sachentscheidungen des Landes, ohne aber selbst in der Sache bereits eine Entscheidung zu treffen. Damit entzieht er dem Land die Sachkompetenz, von sich aus und allein Bescheide zu erlassen. Derartige Blockaden beschränken sich immer auf bestimmte Sachverhalte. Sie können nicht die gesamte Verwaltungstätigkeit des Landes erfassen. Versuchte das der Bund, so entstände ein Entscheidungsvakuum, weil es ihm an hinreichender eigener Verwaltungskapazität fehlt, um die Verwaltung des Landes zu ersetzen. Die Kompetenzordnung des Grundgesetzes verwehrt ihm auch, eine solche aufzubauen und eine Paralleladministration zu jener der Länder („Schattenverwaltung“) zu etablieren.154 Das mag erklären, daß das Konstrukt der Überleitung der Geschäftsleitungsbefugnis bisher keine praktische Bedeutung erlangt hat. Das Land büßt seine ursprüngliche Sachkompetenz nur so weit ein, wie sie der Bund kraft einer Weisung beansprucht. Weisungen aber, welche die komplette Sachbeurteilung und 149 150 151 152 153 154
BVerfGE 104, 249 (265). Kritisch zur Möglichkeit konkludenter Überleitung Georg Hermes, JZ 2002, 1163. Kritisch Rauscher (Fn. 21), S. 387 f. BVerfGE 104, 249 (268). BVerfGE 104, 249 (268). BVerfGE 104, 249 (266); Sondervotum, ebd., S. 279.
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-entscheidung eines Verwaltungsverfahrens erfassen, kommen in der Praxis nicht vor.155 Eine entsprechende Wirkung könnte auch nicht durch die aufsichtliche Maßnahme nach Art. 85 Abs. 4 GG der Entsendung eines Beauftragten erreicht werden. Abgesehen davon, daß die Überleitung der Sachkompetenz außerhalb der Zweckbestimmung der Bundesaufsicht liegt, übt der Beauftragte keine flächendeckende Kontrolle aus und fungiert auch nicht als Vormund der Landesverwaltung.156 Da der Bund die Sachkompetenz nicht flächendeckend übernehmen kann, kann er auch das Regelwerk nicht in Kraft setzen, dadurch, daß er über eine (Einzel-)Weisung für jedwede geplante Abweichung den Generalvorbehalt der Zustimmung einführt. Das Konstrukt der Überleitung dient im Biblis-Urteil als kompetenzrechtliche Basis für die Außenkontakte, die der Bund, an den Ländern vorbei, zu Dritten pflegt. In dieser Verbindung macht es gewissen Sinn (auch wenn dieser nicht über alle juristischen Zweifel erhaben ist). Doch kann sich das Konstrukt nicht verselbständigen und dem Bund einen Freibrief zu informellem Handeln in seinen verfassungsrechtlich regulierten Beziehungen zu den Ländern verschaffen. Zwar steht es im Ermessen des Bundes, die zunächst den Ländern zustehende Sachkompetenz an sich zu ziehen. Das Ermessen wird nicht durch grundrechtliche oder objektivrechtliche Vorgaben eingeschränkt.157 Doch bleibt die Ausübung der Sachkompetenz an die Verfahren gebunden, die in Art. 85 GG vorgesehen sind. Die Wahrung der Form erhält gerade deshalb besondere Bedeutung, weil inhaltliche Schranken weitgehend ausfallen. Der Bund ist, wenn er will, Herr über die Sachentscheidung und kann die Länder zwingen, seinen Willen auszuführen. Aber die Länder sind Herren ihrer Verwaltung. Diese bildet für den Bund ein fremdes Haus.158 Er darf es nur durch die Türen betreten, welche die Verfassung ihm öffnet. Die Frage bleibt, ob der Bund die Sachkompetenz bereits an sich zieht, wenn er das Land um nähere Informationen ersucht, ob er damit dessen eigene Entscheidungsmacht blockiert und seinerseits freie Hand gewinnt, um das Regelwerk außerhalb des Formenkanons verbindlich zu machen. Auch die Anforderung von Information ist eine Weisung. Doch sie bewirkt noch nicht die Überleitung der Sachkompetenz. Vielmehr soll sie eine solche nur vorbereiten. Sie dient „lediglich dem Erkenntnisgewinn des Bundes“, ohne einen regulativen, „maßgeblichen“ Anspruch zu erheben.159 Vollends erlangt der Bund keine Regelungsbefugnis genereller Art. Die Weisung, Information zu liefern, zeitigt keine andere Rechtswirkung als eben diese Pflicht zur Information. Niehaus (Fn. 92), S. 369. Lerche (Fn. 95), Art. 85 Rn. 86. 157 BVerfGE 81, 310 (333 f.). 158 Lerche spricht im Kontext von Art. 85 GG von prinzipieller Geschlossenheit der Verfassungs- und Verwaltungskörper der Länder, (Fn. 95), Art. 85 Rn. 5; vgl. auch Broß (Fn. 6), Art. 85 Rn. 18a. 159 Niehaus (Fn. 92), S. 373. 155 156
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Die „Überleitung“ bildet also keine eigenständige Form der Ingerenz des Bundes. Sie steht nicht als gleichartige Kategorie neben der Weisung und der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift. Auch in ihrer konkludenten Erscheinung bildet sie keinen zusätzlichen, informellen Handlungstypus des Bundes. Sie ist überhaupt keine Form der Ingerenz, sondern deren Folge. Welche Form der Ingerenz in Betracht kommt, entscheidet sich nach dem Formenrepertoire des Art. 85 GG. Die Überleitung vollzieht sich über die Nutzung des Formenrepertoires. Sie geht ihm nicht voraus, und sie macht es nicht entbehrlich. Von dieser Prämisse geht auch das Biblis-Urteil aus: Der Bund leitet die Sachkompetenz erst dann auf sich über, wenn er von seinem Weisungsrecht (Art. 85 Abs. 3 GG) und damit von seiner administrativen (Reserve-)Kompetenz Gebrauch macht.160 Fazit: Das Konstrukt der Überleitung der Geschäftsleitungskompetenz hat keine eigenständige Bedeutung für die Formen der Ingerenz des Bundes. Insbesondere zeitigt es keine Relevanz für die Novellierung des Regelwerks. In der Novellierung des Regelwerks aktualisiert der Bund seine Sachkompetenz, indem er sich der von Art. 85 GG vorgesehenen Formen der Rechtsetzung bedient. Für das Regelwerk erlangt die Rechtsfigur der Überleitung also keine Bedeutung. Der Bund kann es nicht auf informellem Wege einseitig in Kraft setzen. 3. Konsensuale Lösung Konsensuale Verfahren sind ständige Praxis in der Auftragsverwaltung.161 Allseitiges Einvernehmen macht einseitiges Vorgehen des Bundes entbehrlich.162 Der Bund braucht nicht zu befehlen, was die Länder aus eigenem Antrieb leisten. Konsensuale Regelungen unterscheiden sich von Allgemeinen Verwaltungsvorschriften, die förmlich und dem Verfahren ihres Erlasses nach einseitig sind. Sie sind aber auch keine öffentlich-rechtlichen Verträge oder Verwaltungsabkommen, weil der beiderseitige Wille zu vertraglicher Bindung und rechtlicher Durchsetzbarkeit fehlt. Dem Bindungswert nach entsprechen sie einem „Gentleman’s Agreement“.163 Beide Seiten binden sich selbst, aber sie verpflichten sich nicht gegeneinander. Daher können sie die Einhaltung der Absprache nicht einklagen. Doch kann eine stetige, stabile Verwaltungspraxis die rechtliche Selbstbindung nach außen erzeugen, gegenüber den Unternehmen wie gegenüber den Anliegern. Basis der externen Selbstbindung ist der Gleichheitssatz.164 160
Müller / Mayer / Wagner, AöR 127 (2002), 595; vgl. auch dies., AöR 128 (2003), 147,
155. 161 Vgl. Lerche (Fn. 95), Art. 85 Rn. 57; Blümel (Fn. 98), § 101 Rn. 39; Tschentscher (Fn. 86), S. 24; von Danwitz (Fn. 112), S. 356. Allgemein zu Formen und Verfahren der Kooperation von Bund und Ländern: Walter Rudolf, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Bd. IV, 2. Aufl. 1999, § 105 Rn. 29 ff.; Winfried Brohm, DÖV 1992, 1025 ff. 162 Lerche (Fn. 95), Art. 85 Rn. 57. Einschlußweise BVerfGE 100, 249 (259). 163 So die Bundesregierung im Verfahren BVerfGE 100, 249 (256).
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Der Bund kann die konsentierten Maßstäbe kraft seines umfassenden Weisungsrechts im Einzelfall einseitig durchsetzen. Die Länder aber wirken auf der Grundlage der Einstimmigkeit an dem Konzept mit, das den möglichen Weisungen des Bundes zugrunde liegt. Die Bundesregierung meint sogar, daß die Länder bei konsentierten Regelungen praktisch wirksamer beteiligt seien als über eine Zustimmung des Bundesrates.165 Die These mag dahinstehen. Das Bundesverfassungsgericht setzt einschlußweise die Zulässigkeit voraus, wenn es von dem „Regelwerk konsentierter Verfahren“ spricht, „die auf Übereinstimmung zwischen den zuständigen Landesbehörden und dem zuständigen Bundesministerium beruhen“.166 Die Zustimmung des Bundesrates, deren eine Allgemeine Verwaltungsvorschrift oder eine Rechtsverordnung bedürfte, entfällt für Bund-Länder-Absprachen und für abgestimmtes Verhalten.167 Dagegen müssen die regulären Verbands- und Organzuständigkeiten eingehalten werden.168 Wenn die Absprache über die Novellierung des Regelwerks an die Stelle einer an sich erforderlichen Allgemeinen Verwaltungsvorschrift tritt, ist auf Seiten des Bundes die Bundesregierung, nicht aber ein einzelnes Ministerium zuständig.169 Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist die informelle Staatspraxis nicht unbedenklich.170 Sie verwischt die kompetenzrechtlichen Grenzen, mit diesen die Erkennbarkeit der rechtlichen wie politischen Verantwortung. Gerade die beweglichen Grenzen der Sachkompetenz in der Auftragsverwaltung fordern Klarheit darüber, ob und inwiefern der Bund seine Zuständigkeit in Anspruch nimmt. Klarheit tritt ein, wenn der Bund sich der Rechtsformen bedient, die ihm das Grundgesetz bereitstellt. Freilich ist er im Verhältnis zu den Ländern nicht rechtlich verpflichtet, Allgemeine Verwaltungsvorschriften (oder auch Gesetze oder Rechtsverordnungen) zu erlassen. Hier gilt auch nicht der Vorbehalt des Gesetzes, wie er im Außenverhältnis des Staates zu den Bürgern besteht.171 Gleichwohl ist es ratsam, konsentierte Sicherheitsstandards in die dafür vorgesehene Rechtsform zu gießen. Wenn die zuständigen Organe des Bundes und der betroffenen Länder einig sind, dürften auch kaum politische Schwierigkeiten auftreten, für das konsentierte Vorhaben die Zustimmung des Bundesrates zu erlangen, so daß es förmliche Gestalt in einer Allgemeinen Verwaltungsvorschrift annehmen kann. Das Kerntechnische Regelwerk verdankt seine Existenz einer normersetzenden oder normvertretenden Absprache, einem heute geläufigen Verfahren der Erzeu164 Vgl. Ossenbühl, atw 51 (2006), 312. Zur möglichen Außenwirkung aufsichtlicher Maßnahmen des Bundes: Lerche (Fn. 95), Art. 85 Rn. 52 sowie Art. 84 Rn. 97, 101. 165 Votum im Verfahren BVerfGE 100, 249 (257). 166 BVerfGE 100, 249 (259). 167 Brohm (Fn. 161), S. 1030. 168 Brohm (Fn. 161), S. 1029; Müller / Mayer / Wagner, AöR 127 (2002), 131 f. 169 Vgl. BVerfGE 100, 249 (260 f.). 170 Brohm (Fn. 161), S. 138 f.; Lerche (Fn. 95), Art. 85 Rn. 42. 171 Zum Gesetzesvorbehalt für Absprachen zwischen Staat und Privaten Brohm (Fn. 161), S. 1082 ff.
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gung von Recht und Rechtssurrogaten.172 Wenn seine Novellierung nicht in der Form des Gesetzes, der Rechtsverordnung oder der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift erfolgen soll, bleibt überhaupt nur das konsensuale Verfahren offen, in dem es zustande gekommen ist: daß der Bund sich mit den betroffenen Ländern einigt; derzeit sind es fünf, auf deren Gebiet Kernkraftwerke betrieben werden (Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein). Im Verfahren der informellen Verständigung zeigt sich, daß die Auftragsverwaltung eben doch echte Landesverwaltung ist.
172 Rauscher (Fn. 21), S. 378 f.; von Danwitz (Fn. 105), S. 355; Arndt (Fn. 76), S. 26 f. Allgemein: Hans-Werner Rengeling, Das Kooperationsprinzip im Umweltrecht, 1988, S. 58 f.; Winfried Brohm, in: Hill, Zustand und Perspektiven der Gesetzgebung, 1989, S. 225 f.; ders., DVBl. 1994, 133 ff.
Staatsaufsicht über den Gemeinsamen Bundesausschuss in der gesetzlichen Krankenversicherung Von Friedrich E. Schnapp
I. Das Dioskurenpaar Selbstverwaltung und Staatsaufsicht zeigt sich auf einem Problemfeld, welches Herbert Bethge und der Verfasser der nachstehenden Zeilen immer wieder einmal beackert haben – nicht immer zur selben Zeit und nicht stets – um im Bilde zu bleiben – mit demselben Pflug in derselben Richtung, aber doch von derselben methodischen Ausgangslage her. Einer dieser gemeinsamen Ansatzpunkte ist der, dass beiden Begriffen ohne Bezug zu einem konkreten Phänomen und ohne Rückgriff auf normative Grundlagen keinerlei rechtliche Relevanz zukommt; ohne derartige Bezüge sind sie „normativ konturlos“.1 Im Hinblick auf die Selbstverwaltung führt das von dem Jubilar zustimmend zitierte Bundessozialgericht insofern aus: „Der allgemeine Begriff der Selbstverwaltung ist nicht geeignet, die personellen Befugnisse der Selbstverwaltungsorgane im einzelnen abzugrenzen; denn dieser Begriff ist ,vielschichtig‘ und selbst im Bereich der Sozialversicherung ,mehrdeutig‘2 . . . Ebenso wenig führt insoweit die Betrachtung der Selbstverwaltung im politischen oder im rechtlichen Sinne als mittelbare Staatsoder gesellschaftliche Selbstverwaltung weiter.“3 Und ähnlich urteilt Gerhard Anschütz mit Blick auf die Staatsaufsicht: „Aufsicht im Sinne des öffentlichen Rechts ist ein Begriff, der zahllose Betätigungsmöglichkeiten der öffentlichen Gewalt zusammenfaßt, die, einzeln betrachtet, jede für sich ihre Eigenart und Besonderheiten aufweist.“4 In Kontrast dazu stehen Versuche, die darauf abzielen, die „wahre Natur“ der Selbstverwaltung zu erkunden, also so etwas wie einen „ontoBethge, VSSR 1980, 238. Ob das Gericht hier wirklich „mehrdeutig“ meint, ist fraglich. Unterscheidet man nämlich zwischen Ausdruck (Terminus) und Begriff (Bedeutung des Terminus), dann gibt es wohl mehrdeutige Ausdrücke, aber keine mehrdeutigen Begriffe. Grundsätzlich hierzu: Kamlah / Lorenzen, Logische Propädeutik, 3. Aufl. 1996, S. 86 ff. Ferner Schnapp, Stilfibel für Juristen, 2004, S. 18 ff.; Schnapp / Schneider, Logik für Juristen, 6. Aufl. 2006, S. 57 ff.; spezifisch zu „Selbstverwaltung“ Schnapp, SGb 1996, 622. 3 BSGE 30, 8 (12). 4 Anschütz, in: Anschütz / Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, 1930, S. 363; siehe auch Bethge, Die Verwaltung 1974, 442 mit Fußnote 10: „Aufsicht“ kein exakt bestimmter Rechtsbegriff. 1 2
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logischen Kern“5 herauszuschälen.6 Das führt dann zur Herausbildung von Idealtypen, etwa nach dem Vorbild der mittelalterlichen Stadt oder Universität, und mündet in die resignierende Feststellung, dass es Selbstverwaltung eigentlich nicht mehr gebe und man der sozialen Selbstverwaltung attestieren müsse, sie liege bereits in der Agonie.7 Ähnliches gilt für Versuche, Dimensionen der Staatsaufsicht vom Wort her auszuloten. Muss man also, um eine verlässliche Ausgangsbasis zu finden, auf den je einschlägigen Normenkomplex zugreifen, dann macht man im Sozialversicherungsrecht die Beobachtung, dass selbst hier das Aufsichtswesen nicht einheitlich für alle Bereiche geregelt ist, sondern für die verschiedenen Teilgebiete seine sachbereichsspezifische Ausformung erfahren hat. Im Mittelpunkt der meisten Betrachtungen und auch des wissenschaftlichen Interesses stehen die §§ 87 bis 90a SGB IV. Hier ist die allgemeine Aufsicht über die Versicherungsträger angesprochen; Subjekte und Objekte, Maßstäbe und Mittel der Aufsicht sind im Einzelnen aufgeführt.8 Nach § 78 Abs. 3 S. 2 SGB V sind die §§ 88 und 89 SGB IV auf die Aufsichtsführung gegenüber den Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen9 entsprechend anwendbar.10 Daneben tritt die spezifisch geregelte Aufsicht im Bereich des Haushalts- und Rechnungswesens, deren Verhältnis zur allgemeinen Aufsicht unklar und ungeklärt ist.11 Sodann findet sich eine Reihe von Sondervorschriften, die eine limitierte Einwirkungsmöglichkeit der Aufsichtsbehörden in einzelnen Bereichen vorsehen. Zu nennen wäre etwa – ohne dass die Aufzählung erschöpfend wäre – die Aufsicht bei Gesamtverträgen (§ 71 Abs. 4 SGB V), die Aufsicht über Schiedsämter (§ 89 Abs. 1a und 5 SGB V),12 über die Prüfungs- und Beschwerdeausschüsse (§ 106 Abs. 7 SGB V) und schließlich über den Gemeinsamen Bundesausschuss (§§ 91 Abs. 10, 93 Abs. 2 und 94 SGB V). Von letzterem Komplex, der literarisch nur spärlich erschlossen ist, soll hier die Rede sein. Dies erscheint nicht zuletzt deshalb reizvoll, weil – wie sich zeigen wird – das Aufsichtswesen in der Sozialversicherung nicht mit einer ähnlichen Selbstverständ5 M.-E. Geis, in: Schnapp, Funktionale Selbstverwaltung und Demokratieprinzip – am Beispiel der Sozialversicherung, Bochumer Schriften zum Sozialrecht, Bd. 8, 2001, S. 67. 6 Dagegen bereits Jesch, DÖV 1960, 739; Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 1968, S. 385. 7 Zu solchen Ansätzen: Schnapp, VSSR 2006, 193 f. 8 Eingehend dazu Schnapp, in: Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd 1: Krankenversicherungsrecht, 1994, § 52. 9 Dazu eingehend: Schnapp, in: ders. / Wigge, Handbuch des Vertragsarztrechts, 2. Aufl. 2006, § 24. 10 Dazu, was „entsprechende Anwendung“ insoweit bedeutet, siehe Schnapp, in: Merten, Die Selbstverwaltung im Krankenversicherungsrecht unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsaufsicht über Kassenärztliche Vereinigungen, 1995, S. 30 f. 11 Zu einigen Detailfragen siehe Schnapp, VSSR 2006, 201 f. 12 Näher dazu Düring, in: Schnapp, Handbuch des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, 2004, S. 229 ff.
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lichkeit gehandhabt wird wie etwa im Bereich der Kommunalaufsicht. Gelegentlich macht man gar die Beobachtung, dass manches, was in der Kommunalaufsicht seit Jahren, ja, seit Jahrzehnten, Gemeingut ist, im Sozialversicherungsrecht erst jetzt entdeckt wird.13 II. Der Gemeinsame Bundesausschuss,14 der an die Stelle der bis zum 31. Dezember 2003 existierenden Bundesausschüsse der Ärzte / Zahnärzte und Krankenkassen getreten ist,15 nimmt eine zentrale Funktion im Gefüge der Einrichtungen des Gesundheitswesens wahr: Er beschließt vor allem die zur Sicherung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten. Im Vordergrund stehen dabei Richtlinien über die ärztliche und zahnärztliche Behandlung, über (neue) Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sowie über Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmittel.16 Da das Gesetz die Leistungsansprüche der Versicherten nicht im Sinne von § 194 BGB normieren, sondern immer nur rahmenhaft umschreiben kann,17 kommt dem Gemeinsamen Bundesausschuss eine Schlüsselfunktion zu: Seine Richtlinien setzen die Verpflichtung der Krankenkassen um, eine ausreichende, wirtschaftliche und zweckmäßige Versorgung der Versicherten sicherzustellen, sie präzisieren damit zugleich den Umfang der Leistungspflicht der Krankenkassen gegenüber den Versicherten.18 Hinzutreten muss dann (lediglich) noch die situationsgebundene ärztliche Entscheidung. Nicht ganz zu Unrecht Ein Beispiel bei Schnapp, MedR 2001, 269. Monographische Darstellung bei Seeringer, Der Gemeinsame Bundesausschuss nach dem SGB V, 2006. Einen Überblick über die Rechtsprechung bietet Engelmann, MedR 2006, 245. Kingreen, NZS 2007, 119, bezeichnet ihn als „verwaltungsorganisationsrechtliche[n] Grenzgänger“. Vor dem Hintergrund des gesetzgeberischen Organisationserfindungsrechts (dazu Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 72; Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund, 2003, S. 218 ff.; Krebs, NVwZ 1985, 614; Jestaedt, in: HoffmannRiem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2006, § 14 Rn. 29; Seeringer, (Fn. 14), S. 74) erscheint er jedoch unbedenklich. Ebenso Rixen, MedR 2008, 26. 15 Aufgrund von Art. 35 § 6 Abs. 1 S. 1 des GKV-Modernisierungsgesetzes vom 14. November 2003 (BGBl. I S. 2190). 16 Insgesamt gibt es derzeit 36 Richtlinien. 17 Grundlegend BSGE 73, 271; das dort präsentierte Konkretisierungskonzept ist von den übrigen Senaten übernommen worden. Dazu auch Schwerdtfeger, NZS 1998, 49; Ebsen, in: Festschrift Krasney, 1997, S. 88; Hänlein, Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, 2001, S. 483; Schnapp, Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 509 f. Kritisch Steege, Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 617. Ein neuer Vorschlag bei Torsten Wagner, Die Einbeziehung der Empfänger von Sozial- und Jugendhilfe in die Gesetzliche Krankenversicherung, 2008, S. 80 ff. 18 Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S. 120; Hase, MedR 2005, 394. 13 14
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wird der Gemeinsame Bundesausschuss daher als der „eigentliche Gesetzgeber innerhalb der GKV“ bezeichnet.19 Anders beleuchtet: Die Richtlinien haben normkonkretisierende Funktion20 und beschränken den ärztlichen Beurteilungsspielraum durch Dezision,21 regeln also die Befugnisse und Verpflichtungen der Vertragsärzte bei der Leistungserbringung22 und wirken im Arzt / Patientenverhältnis als „faktische Behandlungsgrenzen“.23 In Bezug auf die Versicherten haben sie „anspruchsgestaltende Wirkung“24 und zeigen diesen, was das „System“ für sie bereithält.25 Was über den durch die Richtlinien gesetzten Rahmen hinausgeht, können Versicherte also nicht beanspruchen: Es gibt keinen unter Berufung auf ein Grundrecht und mit der Verfassungsbeschwerde verfolgbaren Anspruch auf Bereitstellung bestimmter Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung.26 Die Fragen, über die – auch schon vor dem Auftreten des Gemeinsamen Bundesausschusses – teilweise heftig gestritten wurde und wird, sind vor allem die nach seiner demokratischen Legitimation27 sowie nach Rechtsnatur und Verbindlichkeit der von ihm erlassenen Richtlinien. Davon soll hier nicht gehandelt werden, zumal schon eine einigermaßen erschöpfende Angabe der diesbezüglichen Rechtsprechungs- und Literaturnachweise mit den jeweiligen Lösungswegen den Rahmen sprengen würde. Ersichtlich ist allerdings schon jetzt, dass je nach der Ausgestaltung das Bundesministerium für Gesundheit als Aufsichtsbehörde (mit) darüber entscheidet, was die Versicherten bekommen „sollen“.
Schimmelpfeng-Schütte, in: Schnapp / Wigge (Fn. 9), S. 218. Auktor, in: Kruse / Hänlein, Gesetzliche Krankenversicherung – Lehr- und Praxiskommentar (LPK – SGB V), 2. Aufl. 2003, § 92 Rn. 3. 21 Schwerdtfeger, SDSRV 38 (1993), 41. 22 Ebsen, in: Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 1: Krankenversicherungsrecht, 1994, § 7 Rn. 161. 23 Steffen, Festschrift Geis, 2000, S. 491. 24 Hänlein, Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, 2001, S. 482. 25 Die Auseinandersetzung darum, ob sie für die Versicherten „verbindlich“ sind, ist eine Schein-Debatte; denn Versicherte können die Richtlinien weder befolgen noch beachten; vgl. Schnapp (Fn. 17), S. 510 f. 26 BVerfG NJW 1997, 3085; BSGE 81, 73 (85). Zustimmend Heberlein, VSSR 1999, 136; Thorsten Koch, SGb 2001, 109 ff., 169. BVerfGE 115, 25 ist nur scheinbar eine Ausnahme. Das Ergebnis hätte sich auch auf einfach-gesetzlicher Basis erzielen lassen. Dazu T. Wagner, Die Einbeziehung der Empfänger von Sozial- und Jugendhilfe in die Gesetzliche Krankenversicherung, 2008, S. 84. Wegen der prozessualen Einkleidung (Verfassungsbeschwerde) musste das Gericht allerdings zu einer verfassungsrechtlichen Lösung greifen. Außerdem hat das Bundesverfassungsgericht nicht in den Blick genommen, dass im stationären Sektor für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (anders als im ambulanten Sektor) eine Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt gilt. 27 Ausdrücklich offengelassen in BVerfGE 115, 25 (47). 19 20
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III. 1. Die Staatsaufsicht über den Gemeinsamen Bundesausschuss existiert in zwei Spielarten: Die allgemeine Aufsicht ist in § 91 Abs. 8 SGB V28 angesprochen, der die §§ 67,29 88 und 89 SGB IV für entsprechend anwendbar erklärt.30 Dabei betrifft § 88 SGB IV Prüfung und Unterrichtung, während § 89 SGB IV sich über die Aufsichtsmittel verhält (Beratung, Verpflichtungsbescheid,31 Vollstreckung). Daneben tritt in erster Linie § 94 SGB V (mit der amtlichen Überschrift „Wirksamwerden der Richtlinien“), der sich mit den Einwirkungsmöglichkeiten des Bundesministeriums für Gesundheit im Zusammenhang mit dem Richtlinienerlass durch den Gemeinsamen Bundesausschuss befasst.32 Auf den letzteren Komplex konzentrieren sich die nachstehenden Überlegungen. Dabei sollen vor allem Aufsichtsmittel und Aufsichtsmaßstab einer näheren Betrachtung zugeführt werden. Der Zweckmäßigkeit halber sei hier zunächst die maßgebliche Vorschrift im Wortlaut wiedergegeben: (1) Die vom Gemeinsamen Bundesausschuss beschlossenen Richtlinien sind dem Bundesministerium für Gesundheit vorzulegen. Es kann sie innerhalb von zwei Monaten beanstanden; bei Beschlüssen nach § 35 Abs. 133 innerhalb von vier Wochen. Das Bundesministerium für Gesundheit kann im Rahmen der Richtlinienprüfung vom Gemeinsamen Bundesausschuss zusätzliche Informationen und ergänzende Stellungnahmen anfordern; bis zum Eingang der Auskünfte ist der Lauf der Frist nach Satz 2 unterbrochen. Die Nichtbeanstandung einer Richtlinie kann vom Bundesministerium für Gesundheit mit Auflagen verbunden werden; das Bundesministerium für Gesundheit kann zur Erfüllung einer Auflage eine angemessene Frist setzen. Kommen die für die Sicherstellung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses nicht oder nicht innerhalb einer vom Bundesministerium für Gesundheit gesetzten Frist zustande oder werden die Beanstandungen des Bundesministeriums für Gesundheit nicht innerhalb der von ihm gesetzten Frist behoben, erlässt das Bundesministerium für Gesundheit die Richtlinien. 28 Bis zum 30. Juni 2008: Abs. 10. Durch Art. 2 Nr. 14 GKV-WSG ist § 94 SGB V neu gefasst worden. 29 Diese Vorschrift betrifft den Haushaltsplan. 30 Allerdings fehlt ein Verweis auf § 87 SGB IV, der die (bloße) Rechtsaufsicht statuiert. Zum Aufsichtsmaßstab siehe den Text unter IV. 31 Der Verpflichtungsbescheid kann – zieht man die Kommunalaufsicht als Muster heran – sowohl eine Beanstandung als auch eine Anordnung darstellen. Je nachdem sind die Voraussetzungen andere; das wird leicht übersehen. Näher dazu Schnapp (Fn. 9), § 24 Rn. 43, 44. 32 Diese Bestimmung kann als lex specialis zu § 91 Abs. 8 SGB V qualifiziert werden; ebenso SG Köln GesR 2007, 521 r. Sp.; Seeringer (Fn. 14), S. 219; Vahldiek, in: Hauck / Haines, Sozialgesetzbuch – SGB V (Loseblatt, Stand: März 2000), § 94 Rn. 1. Das ist etwas anderes als eine Modifikation der allgemeinen Regeln über Aufsichtsmittel, wie das BSG (B 1 KR 16 / 07 R, Rn. 41) und das LSG NRW (L 5 KR 9 / 08, Umdruck S. 25) meinen. Bei einer bloßen Modifizierung bleibt ein Rückgriff auf die allgemeinen Vorschriften möglich, während ein Verhältnis der Spezialität einen solchen Rückgriff versperrt. 33 Diese Vorschrift betrifft die Festbeträge bei Arznei- und Verbandmittel.
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(2) Die Richtlinien sind im Bundesanzeiger und deren tragende Gründe im Internet bekannt zu machen. Die Bekanntmachung der Richtlinien muss auch einen Hinweis auf die Fundstelle der Veröffentlichung der tragenden Gründe im Internet enthalten.
Wir haben es hier also mit der Möglichkeit der Beanstandung, der Erteilung von Auflagen im Fall der Nicht-Beanstandung und mit dem ersatzweisen Erlass (Ersatzvornahme) von Richtlinien zu tun. Verglichen mit dem „Standard-Repertoire“, das aus der Kommunalaufsicht geläufig ist, wirkt dieses Maßnahmenbündel etwas unorthodox und trägt möglicherweise dazu bei, dass die Handhabung in der Praxis gelegentlich den Eindruck der Unbeholfenheit erweckt. Das bestätigt die Beobachtung von Herbert Bethge, der schon früh vom „brisanten Thema der Aufsichtsmittel“ gesprochen hat.34 Zum mittlerweile gesicherten Erkenntnisstand dürfte es gehören, dass die jeweilige Aufzählung der Aufsichtsmittel abschließend ist.35 Während ältere Lehre und Rechtsprechung noch der Ansicht waren, die Zuweisung einer Aufgabe (hier: Aufsicht) schließe die Zuweisung der erforderlichen Mittel ein,36 ist es heute Standard, dass eine Befugniseinräumung explizit erfolgen muss: Eine Aufsichtsbehörde hat kein ungebundenes Mittelfindungsrecht.37 2. Die Beanstandung, die immer dann am Platze ist, wenn die beaufsichtigte Institution etwas „in die Welt“ gesetzt hat, während bei einem gesetzwidrigen Untätigsein die Anordnung gegeben ist, verbindet nach allgemeinem Verständnis eine Rüge mit einem Aufhebungsverlangen.38 Dem Gemeinsamen Bundesausschuss wird also eine „Selbstberichtigung“ 39 aufgegeben. Eine Beanstandung beseitigt demzufolge nicht etwa selbst die beanstandete Entscheidung.40 Daher steht die Beanstandung der (vorläufigen) Wirksamkeit des Richtlinienbeschlusses nicht entgegen.41 Das ergibt sich auch aus einer Kontrastierung mit den §§ 72 Abs. 2 a. F. und 89 Abs. 5 S. 6 und 7 a. F. SGB V, die für den Zeitraum der strikten Bethge, Die Verwaltung 1974, 441. Bethge, Die Verwaltung 1974, 448 unter Hinweis auf Salzwedel, VVDStRL 22 (1965), 254 / 255. 36 Ausführlich dazu Schlink, Die Amtshilfe, 1982, S. 85 ff. Weitere Nachweise auch bei Schnapp, SDSRV XXXI (1988), 120 mit Fn. 28. Diesen Schluss hat schon Otto Mayer als „Folgerungsweise des Polizeistaats“ gebrandmarkt; vgl. O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl. 1895, S. 283 f. Anm. 20. Zu § 89 EinlALR als untauglichem Hintergrund für einen Aufgabe-Mittel-Schluss siehe Schnapp (Fn. 36), 123 f. 37 Schnapp (Fn. 9), § 24 Rn. 37. 38 Düring (Fn. 12), S. 233; implizit auch Hencke, in: Peters, Handbuch der Krankenversicherung (Loseblatt, Stand: Juli 2006), § 94 Rn. 4. Für den Bereich der Kommunalaufsicht: Gern, Deutsches Kommunalrecht, 3. Aufl. 2003, S. 528 mit Rechtsprechungsnachweisen. Ein Beispiel für eine Beanstandungsverfügung ebda. S. 529. 39 Dieser Ausdruck bei Triepel, Die Reichsaufsicht, 1917, S. 642. 40 Gleitze, in: GK-SGB IV, 1992, § 89 Rn. 23 mit weiteren Nachweisen aus der Lit. Für diese Ansicht spricht auch, dass das Gesetz (§ 94 Abs. 1 S. 5 SGB V) es als eine Voraussetzung für die Ersatzvornahme ansieht, dass die Beanstandungen des Bundesministeriums für Gesundheit „nicht behoben“ werden. 41 Vgl. BSG SozR 3-2500 § 71 Nr. 1; Düring (Fn. 12), S. 233; Schnapp (Fn. 9), § 24 Rn. 56. 34 35
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Budgetierung (1993-1995) galten:42 Hier hatte es der Gesetzgeber für nötig gehalten, mit der Beanstandung die vorläufige Unwirksamkeit von Vergütungsvereinbarungen zu verbinden (§ 72 Abs. 2 S. 4 a. F. SGB V: Beanstandete Vereinbarungen / Entscheidungen gelten nicht).43 Diese Bestimmungen sind mit Wirkung vom 1. Januar 1996 außer Kraft getreten. Hieraus lässt sich im Umkehrschluss folgern, dass eine Beanstandung selbst immer nur verpflichtende und keine kassatorische oder rechtshemmende Wirkung hat.44 Das wird bestätigt durch einen Blick in das Kommunalrecht: Wo der Gesetzgeber der Aufsichtsbehörde eine Vollstreckungsmaßnahme zur Verfügung stellen wollte, hat er dieser zusätzlich zur Beanstandung das Mittel der Aufhebung an die Hand gegeben.45 Eine eigenartige Unsicherheit besteht in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung bei der rechtlichen Qualifikation der Beanstandung. Während es im allgemeinen Schrifttum und in der höchstrichterlichen Judikatur nahezu als ausgemacht gilt, dass Maßnahmen der repressiven Aufsicht Verwaltungsakte darstellen,46 hält beispielsweise das SG Köln47 in seiner anfänglichen Rechtsprechung die Beanstandung nach § 94 Abs. 1 S. 2 SGB V für keinen Verwaltungsakt, und zwar mit der aufschlussreichen Begründung, das Ministerium übe mit deren Erlass keine Funktion innerhalb eines Über- und Unterordnungsverhältnisses aus.48 Damit ist eine Figur wiederbelebt, die man in der dogmatischen Werkzeugkiste des Konstitutionalismus vermuten würde, nicht aber in einem rechtsstaatlich geordneten Gemeinwesen. Unter der Geltung des Grundgesetzes gibt es kein apriorisches Über- und Unterordnungsverhältnis;49 eine etwaige Über- bzw. Unterordnung ist erst die Folge der Anwendung öffentlichen Rechts, nicht aber deren Voraussetzung oder ein 42 Hierzu BSG SozR 3-2500 § 71 Nr. 1, S. 3; Düring (Fn. 12), S. 233; Schnapp, NZS 2003, 4. 43 BT-Drucks. 12 / 3608, S. 158 zu Art. 31. 44 A. A. zur Beanstandung von Beschlüssen der Schiedsämter, allerdings mit fehlgehender Berufung auf BSG SozR 3-2500 § 71 Nr. 1: Beier, jurisPK-SGB V, 2008, § 89 Rn. 61. Ebenso ohne Begründung BSG v. 10. Mai 2002, B 6 RA 19 / 99 R, Umdruck S. 6. Anders wiederum das Kommunalrecht: Soll eine Beanstandung aufschiebende Wirkung haben, so ist dies ausdrücklich gesetzlich angeordnet; siehe etwa § 119 Abs. 2 S. 3 GO NRW. 45 Vgl. nur Gönnenwein, Gemeinderecht, 1963, S. 187; Pagenkopf, Kommunalrecht, Bd. 1: Verfassungsrecht, 2. Aufl. 1975, S. 377: Ersatzaufhebung. Siehe auch Gern (Fn. 38), S. 528; Salzwedel, VVDStRL 22 (1965), 250 f. 46 Nachweise bei Schnapp (Fn. 9), § 52 Rn. 123. 47 Wegen des Sitzes des Gemeinsamen Bundesausschusses in Siegburg war das SG Köln bislang Eingangsinstanz. Durch Art. 1 Nr. 8 des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26. März 2008 (BGBl. I S. 444) ist § 29 SGG dahingehend ergänzt worden, dass nach dessen Abs. 4 Nr. 3 nunmehr das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg zuständig ist. 48 B. v. 19. August 2002 – S 19 KA 25 / 02 ER. So auch noch der Ansatz (allerdings mit anderem Ergebnis: Über- und Unterordnungsverhältnis, deshalb Verwaltungsakt) bei SG Köln GesR 2007, 519. Ähnlich LSG Rheinland-Pfalz SGb 1964, 82. 49 Näher dazu Schnapp, Amtsrecht und Beamtenrecht, 1977, S. 56 ff. Ferner Hartmut Bauer, DVBl. 1986, 216; Ehlers, DVBl. 1986, 913 mit weiteren Nachweisen.
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Ausschließlichkeitsmerkmal. 50 Das Bundessozialgericht hat diese Figur einige Male herangezogen, um das Fehlen einer gesetzlichen Ermächtigung zu kompensieren,51 aber nie die naheliegende Frage gestellt, geschweige denn beantwortet, woraus sich denn ein solches Über- bzw. Unterordnungsverhältnis ergibt. Bei juristischer Betrachtung kann ein solches Verhältnis nur aus der Rechtsordnung resultieren, genauer: aus einem nachweisbaren Satz der geltenden Rechtsordnung.52 Wenn ein solcher der vollziehenden Gewalt die Befugnis verleiht, einseitig ge- oder verbietend vorzugehen, kann man von einem punktuellen Subordinationsverhältnis sprechen.53 Diese Relation lässt sich aber nicht umkehren. Ausschlaggebend ist schließlich allein, dass in § 31 SGB X von einem Über / Unterordnungsverhältnis nicht die Rede ist. Dann aber verbietet es die Gesetzesbindung (Art. 97 Abs. 1 GG), ein Merkmal zusätzlich zu den in dieser Vorschrift aufgelisteten Voraussetzungen für die Begriffsbestimmung des Verwaltungsakts heranzuziehen. Wenn ferner Hess ausführt,54 die Ersatzvornahme greife in die Rechtsposition der Partner der Bundesmantelverträge ein und sei deshalb als Einzelfallentscheidung, somit als Verwaltungsakt zu qualifizieren, dann „beweist“ er damit zuviel.55 Eine behördliche Maßnahme wird nämlich nicht erst dann und dadurch zum Verwaltungsakt, wenn sie in jemandes Rechte eingreift. Das ergibt sich schon aus dem Gesetz: Wenn § 24 SGB X bei einem Verwaltungsakt, „der in Rechte eines Beteiligten eingreift“, die Anhörungspflicht56 auslöst, so gibt diese Bestimmung zu erkennen, dass es auch andere, nämlich begünstigende, feststellende und bestätigende Verwaltungsakte gibt. Auch § 31 SGB X spricht nicht von einem Eingriff, sondern von einer Regelung und der unmittelbaren Rechtswirkung nach außen. 3. Eine eigenständige Anordnungsbefugnis ist im Gesetz nicht vorgesehen. Gewissermaßen ersetzend tritt an deren Stelle die Erteilung einer Auflage im Falle der Nicht-Beanstandung. Auffällig ist zunächst die ungewöhnliche Terminologie; denn eine Nebenbestimmung im Sinne des § 32 Abs. 2 Nr. 4 SGB X kann diese Auflage nicht sein. Nebenbestimmungen sind nämlich – wie der Begriff schon beinhaltet – immer akzessorisch zu einem Haupt-Verwaltungsakt,57 der hier aber fehlt. Die 50 Vgl. Ehlers, in: Erichsen / Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Aufl. 2006, § 3 II 2 Rn. 17. 51 Nachweise bei Peter Krause, in: Krause / von Mutius / Schnapp / Siewert, Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren (GK-SGB X 1), 1991, § 31 Rn. 4. 52 Vgl. schon die beispielhaften Ausführungen von Adolf Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1927, S. 132 f. 53 So zutreffend BSGE 97, 94 (97 f.) unter Berufung auf G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905, S. 94 ff. 54 Hess, in: Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, Band 1, Stand: 1. Juni 2005, § 94 Rn. 4. 55 Das ist der Denkfehler des nimium probare. Dazu Schnapp / Schneider (Fn. 2), § 46. 56 Dogmatisch genauer ist es, von einer Obliegenheit zu sprechen; vgl. Schnapp, in: Krause / von Mutius / Schnapp / Siewert, Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren (GK-SGB X 1), 1991, § 24 Rn. 7. 57 Krause (Fn. 51), § 32 Rn. 5.
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Auflage nach § 94 Abs. 1 S. 4 SGB V muss also etwas anderes sein als eine Nebenbestimmung.58 Vielleicht erschließt sich der mögliche Gehalt durch eine Kontrastierung zur Ersatzvornahme. Bei dieser wird regelmäßig eine vollständige Richtlinie oder ein selbständiger Teil von ihr produziert; folglich muss die Auflage auf ein Minus gerichtet sein. Das wird durch die Praxis bestätigt: In einem vom SG Köln entschiedenen Fall59 hatte die Aufsichtsbehörde letztlich zur Ersatzvornahme gegriffen, die inhaltlich den mit einer vorangegangenen Beanstandung verbundenen „Maßgaben“ entsprach.60 In der so praktizierten Form war also die „Maßgabe“ genannte Auflage – folgt man der gewohnten Nomenklatur – eine Anordnung, eine Richtlinie bestimmten Inhalts zu erlassen.61 Dieser begriffliche Wirrwarr ist der Dogmatik und der Systembildung nicht gerade zuträglich; er wirft darüber hinaus nicht nur die Frage auf, ob denn dem Gesetzgeber bei der Formulierung das Arsenal der Aufsichtsmittel deutlich genug vor Augen gestanden hat, sondern auch, ob das aufsichtsführende Ministerium gesetzeskonform gehandelt hat. Retten lässt sich das Instrument der „Maßgabe“ womöglich, wenn man es als Anordnung deutet und als ein Minus zur gesetzlich vorgesehenen Ersatzvornahme ansieht. In diesem Fall entspricht es dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, die Anordnung als „milderes Mittel“ auch ohne explizite gesetzgeberische Statuierung für zulässig zu erachten.62 Wenn auch dieser a maiore ad minus-Schluss prinzipiell möglich ist, so ergeben sich doch Bedenken unter dem Gesichtspunkt, dass eine Anordnung an besondere Voraussetzungen geknüpft ist. Mit ihr kann nämlich eine Verpflichtung der beaufsichtigten Institution nicht originär statuiert, sondern eine bereits bestehende gesetzliche Verpflichtung lediglich konkretisiert werden.63 Eine derartige Verpflichtung muss im Gesetz derart ausgestaltet sein, dass der Gemeinsame Bundesausschuss schon aus ihm selbst ersehen kann, wie er zu handeln hat. Denn „Staatsaufsicht setzt voraus, daß der Beaufsichtigte ohnehin schon weiß oder doch zu wissen in der Lage ist, was rechtlich von ihm verlangt ist.“64 Voraussetzung für den Erlass einer Anordnung ist mithin eine konkret ausgestaltete, umsetzVerkannt von Beier, in: Schlegel / Engelmann, juris-PK-SGB V, 2008, § 94 Rn. 11. GesR 2007, 519. 60 Das Ministerium hatte sich also schon insoweit nicht an die gesetzlichen Vorgaben gehalten, wonach (nur) die Nichtbeanstandung mit Auflagen verbunden werden kann. Möglicherweise sind aus diesem Grund die Anordnungen mit der Bezeichnung „Maßgaben“ versehen worden. Eine eigentliche Befugnis, „Maßgaben“ anzuordnen, enthält das Gesetz nicht. 61 Die „Maßgaben“ sollten also nicht nur, wie das SG Köln annimmt (MedR 2007, 521 r. Sp.), die Gründe für die Beanstandung aufzeigen. 62 Salzwedel, VVDStRL 22 (1965), 255; Kaltenborn, VSSR 2000, 270 f.; Jestaedt (Fn. 14), § 14 Rn. 60 mit Fn. 333. 63 Zum Nachstehenden siehe bereits Schnapp, Die Ersatzvornahme in der Kommunalaufsicht, 1972, S. 52 f. 64 Bullinger, VVDStRL 22 (1965), 291; siehe auch Stein, Die Wirtschaftsaufsicht, 1967, S. 93 ff.; W. Hoffmann, DÖV 1967, 297. 58 59
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bare Handlungsverpflichtung, eine bestimmte Aufgabe,65 die durch die Anordnung lediglich noch zu aktualisieren ist. Das Gesetz, auf das sie sich stützt, muss m. a. W. einen unmittelbar realisierbaren Gehalt aufweisen, d. h. die Anordnung als administrativen Ausfüllungsakt schon nach Inhalt, Zweck und Ausmaß determinieren.66 Daran fehlt es aber bei der in § 92 SGB V ausgesprochenen Verpflichtung zum Richtlinienerlass weitgehend. Vorgesehen ist lediglich, dass der Gemeinsame Bundesausschuss die erforderlichen Richtlinien über die Gewährung für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten beschließt; ferner ist beispielhaft aufgelistet, auf welchen Gebieten die Richtlinien zu beschließen sind, z. T. sind auch in den Absätzen 1a ff. bestimmte Zielvorstellungen und Modalitäten festgelegt. Es fehlt aber weitgehend eine darüber hinausgehende Determinierung, wie die Richtlinien inhaltlich im Einzelnen auszusehen haben. Es sind lediglich – besonders bei der Überprüfung (neuer) Behandlungsund Untersuchungsmethoden nach den §§ 135 Abs. 1, 137c Abs. 1 SGB V – bestimmte Verfahrensschritte einzuhalten.67 Letzteres kann von der Aufsichtsbehörde und von Gerichten nachgeprüft, also auch zum Gegenstand der Rechtsaufsicht gemacht werden. Eine „Maßgabe“, d. h. eine Anordnung, eine Richtlinie bestimmten Inhalts zu erlassen, scheidet nach dem Vorstehenden allerdings aus. Diese gefestigte Dogmatik zum Aufsichtsmittel der Anordnung wird freilich durch die Möglichkeit der Ersatzvornahme, bei der sich Zweckmäßigkeitserwägungen der Aufsichtsbehörde zwangsläufig Bahn brechen,68 wieder ausgehebelt. 4. Die gelegentlichen Schwierigkeiten im Umgang mit der Ersatzvornahme resultieren aus deren Janusköpfigkeit.69 Will man eruieren, wo bei der Ersatzvornahme die rechtsfolgebegründende Regelung mit Außenwirkung liegt, muss man sich vor Augen halten, dass sie zwar einen Vorgang darstellt, aber Rechtswirkungen in zwei Richtungen entfaltet: Im Verhältnis zur beaufsichtigten Institution, also im sog. Innenverhältnis, ist die Ersatzvornahme als Aufsichtsmittel stets ein Verwaltungsakt.70 Das ist im Kommunalrecht seit längerem unbestritten. Von diesem Aufsichtsakt ist diejenige Maßnahme zu unterscheiden, die „im Wege der Ersatzvornahme“ anstelle der beaufsichtigten Institution hervorgebracht wird. Das kann ein Realakt, eine privatrechtliche Willenserklärung, ein Verwaltungsakt, aber auch ein Akt der Normsetzung sein. Dieser Außenakt gilt als solcher der beaufsichtigten Institution, nicht als Maßnahme der Aufsichtsinstanz; er wird in seiner Dazu bereits O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 2. Bd., 2. Aufl. 1917, S. 720. Salzwedel, VVDStRL 22 (1965), 239 f. 67 BSGE 96, 261 Rn. 70; LSG NRW, U. v. 4. Juni 2008, L 5 KR 9 / 08, Umdruck S. 16; Engelmann, MedR 2006, 255. 68 Schnapp (Fn. 63), S. 30. 69 Hierzu und zum Folgenden schon Schnapp (Fn. 63), S. 75 ff.; ders., DÖV 1971, 663 ff. Eingehend in jüngster Zeit Kaltenborn, VSSR 2000, 249 ff. Siehe auch Schmidt-Aßmann, in: ders., Besonderes Verwaltungsrecht, 11. Aufl. 1999, 1. Abschn. Rn. 42 a. E.: „Doppelakt“. 70 Zur Begründung eingehend Schnapp, DÖV 1971, 659 ff. Das wird verkannt von Kellner, GesR 2006, 204. 65 66
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Rechtsnatur nicht davon berührt, dass er im Wege der Ersatzvornahme hervorgebracht wird.71 Für die von einem solchen Außenakt Betroffenen ist der bei einer Ersatzvornahme sich ereignende Austausch von Wahrnehmungszuständigkeiten72 in der Regel ohne rechtlichen Belang: Sie sind der beaufsichtigten Körperschaft gegenüber so gestellt, als ob diese selbst gehandelt hätte. Ist also der „Außenakt“ ein Verwaltungsakt, steht ihnen die Anfechtungsklage zur Verfügung, handelt es sich um eine abstrakt-generelle Rechtsnorm, kommt eine Inzidentkontrolle oder – falls vorgesehen – eine prinzipale Normenkontrolle in Betracht. Gegen die Ersatzvornahme als Aufsichtsmittel hingegen stehen ihnen dagegen keinerlei Rechtsbehelfe zu.73 Beide Seiten dürfen nicht miteinander verwechselt werden. Bei den vorliegend erörterten Konstellationen wird durch eine Ersatzvornahme stets eine Richtlinie hervorgebracht.74 Die Gesetzesfassung ermöglicht es der Aufsichtsbehörde, ohne vorherige Fristsetzung und dementsprechend ohne Anordnung, eine Richtlinie zu erlassen, zu einer Ersatzvornahme zu greifen. Das steht in offenkundigem Gegensatz zum Recht der Kommunalaufsicht, welches die Reihenfolge Anordnung – Fristsetzung (ggf. mit Androhung) – Ersatzvornahme kennt.75 Ist diese gesetzlich eröffnete Möglichkeit ernst gemeint, dann bedeutet das einen Rückfall noch vor die Rechtszustände im Dritten Reich, einer Zeit also, die nicht gerade von einer rechtsstaatlich und demokratisch legitimierten Rechtsetzung geprägt war. Dort war Standard, dass die Möglichkeit der Ersatzvornahme der Aufsichtsbehörde auf keinen Fall ein „voraussetzungsloses Ersatzbeschlußrecht“ einräumte,76 sondern akzessorisch zu einer vorangehenden Anordnung war. Was der damaligen Praxis recht war, sollte der heutigen nicht weniger als billig sein. Zu Recht wird daher im Schrifttum gefordert, eine Fristsetzung bei § 94 SGB V „mitzulesen“.77 Eine bloße Fristsetzung gibt für sich allerdings wenig Sinn, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss nicht weiß, wohin die Reise gehen soll. Schon aus Gründen der Praktikabilität ist es daher erforderlich, dass eine solche Fristsetzung mit einem Hinweis darauf versehen wird, welcher Art die Richtlinie sein soll, die dem Ministerium vorschwebt. Das wäre aber der Sache nach eine Anordnung, für die, wie gezeigt, eine eigenständige Ermächtigung fehlt. 71 Hencke (Fn. 38), Rn. 5; Kaltenborn, VSSR 2000, 267; allgemein: Bachof, Festschrift W. Weber, 1974, S. 524 f.; Schmidt-Aßmann (Fn. 69), Rn. 42. 72 Dazu Schnapp (Fn. 63), S. 85. 73 BVerwG DVBl. 1993, 886; BSG, U. v. 28. Februar 2008, B 1 KR 16 / 07 R, Rn. 40 mit weiteren Nachweisen; im Hinblick auf eine Satzungsgenehmigung: Schnapp, BKK 1969, 199. 74 Kaltenborn, VSSR 2000, 268 f. mit Nachweisen auch zur (unzutreffenden) Gegenmeinung. 75 Dazu Schnapp (Fn. 63), §§ 7 und 8. 76 So die Ausführungsanweisung Altreich zu § 111 DGO, abgedruckt bei Suren / Loschelder, Die Deutsche Gemeindeordnung, Band II, 1940, S. 475. 77 Kaltenborn, VSSR 2000, 270; Krauskopf, Soziale Krankenversicherung / Pflegeversicherung (Loseblatt, Stand: Dezember 2001), § 94 Rn. 6. Siehe auch Kahl, Die Staatsaufsicht, 2000, S. 552 f., der vom „Grundsatz der abgestuften Intervention“ spricht.
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IV. Während der Gesetzgeber in anderen Bereichen den Aufsichtsmaßstab ausdrücklich festgelegt hat, ist in § 94 SGB V – aus welchen Gründen auch immer – eine solche Festlegung unterblieben. Das hat zu einer Debatte darüber geführt, ob das Bundesministerium für Gesundheit auf eine Rechtsaufsicht beschränkt ist oder ob ihm fachaufsichtliche Befugnisse zustehen. Während vereinzelte Stimmen eine Zweckmäßigkeitsaufsicht für zulässig halten,78 plädiert die überwiegende Ansicht für eine Rechtsaufsicht, und zwar ausgehend von dem das Aufsichtsrecht generell prägenden Grundsatz, dass die Staatsaufsicht gegenüber eigenständigen Verwaltungsträgern auf eine Rechtmäßigkeitskontrolle beschränkt ist, sofern nicht ein weiterreichender Aufsichtsmaßstab ausdrücklich normiert ist.79 Eine neuartige Begründung gibt das LSG Nordrhein-Westfalen:80 Unter Hinweis auf die amtliche Begründung zum Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung81 stellt es fest, der Gesetzgeber habe nach eigenem Bekunden mit den Ergänzungen des § 94 Abs. 1 SGB V lediglich Präzisierungen bzw. Konkretisierungen der (allgemeinen) aufsichtsrechtlichen Mittel des Bundesministeriums für Gesundheit vornehmen wollen. Wenn das so sei, dann müsse es im Blick auf den materiellen Gehalt der Aufsichtsbefugnis – sprich: den Aufsichtsmaßstab – dabei bleiben, dass auch gegenüber dem Gemeinsamen Bundesausschuss als Träger von Selbstverwaltungsangelegenheiten nur eine Befugnis zur Ausübung von Rechtsaufsicht bestehe. Dieser Schluss trägt freilich nur, wenn man die Annahme teilt, § 94 Abs. 1 SGB V enthalte nichts anderes als lediglich Präzisierungen der allgemeinen aufsichtsrechtlichen Befugnisse und stelle nicht vielmehr eine Spezialregelung dar. Für letzteres sprechen überwiegende Gründe, auf die näher einzugehen hier aber nicht der Platz ist. Aber selbst wenn die Prämisse (bloße Konkretisierung) nicht zutrifft, heißt dies nicht, dass die conclusio unrichtig ist; denn auch aus unwahren Prämissen kann ein wahrer Schluss-Satz folgen.82 78 Etwa Schwerdtfeger, NZS 1998, 52, freilich mit der Begründung, nur so lasse sich die defizitäre demokratische Legitimation des (jetzt: Gemeinsamen) Bundesausschusses kompensieren; Lindemann, in: Wannagat, Sozialgesetzbuch – SGB V (Stand: Oktober 2004), § 94 Rn. 6. 79 Hans J. Wolff, in: Wolff / Bachof, Verwaltungsrecht II, 4. Aufl. 1976, § 77 II c 2 ; Hendler, Selbstverwaltung als Organisationsprinzip, 1984, S. 284; Andrick, JA 1987, 547; Schuppert, DÖV 1998, 832; Meinhard Schröder, JuS 1986, 373; Krebs, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 1988, § 69 Rn. 42; Emde, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, 1991, S. 63; Bull, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl. 2000, Rn. 152 und 172; Faber, Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 1995, S. 57; Schuppert, DÖV 1998, 832; Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994, S. 467; Kaltenborn, VSSR 2000, 253; Hencke, in: Peters, Handbuch der Krankenversicherung (Loseblatt, Stand: Februar 2002), § 94 Rn. 4; Vahldieck (Fn. 32), § 94 Rn. 4. 80 LSG NRW, U. v. 4. Juni 2008, L 5 KR 9 / 08, Umdruck S. 25 f. 81 BT-Drucks. 16 / 3100, S. 135 zu § 94 SGB V. 82 Schneider / Schnapp (Fn. 2), S. 113.
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Will man das Ganze auf eine breitere Basis stellen, dann ist auf den Umstand aufmerksam zu machen, dass der Gemeinsame Bundesausschuss nach § 91 Abs. 1 S. 2 SGB V mit Rechtsfähigkeit ausgestattet, also – ungeachtet des Umfangs der Rechtsfähigkeit83 – eine eigenständige Institution ist. Während nun bei der Rechtsaufsicht der Aufsichtsbehörde heteronome Maßstäbe vorgegeben sind, setzt diese sich bei der Zweckmäßigkeitsaufsicht eigene Maßstäbe. Mangels eines festliegenden Maßstabes schlägt aber Aufsicht in Lenkung um,84 und trotz formal bestehender rechtlicher Eigenständigkeit würde sich der Gemeinsame Bundesausschuss – ähnlich wie Gemeinden bei der Wahrnehmung von Auftragsangelegenheiten – in eine nachgeordnete Instanz im staatlichen Behördenaufbau umwandeln, würde er zur „QuasiStaatsbehörde“.85 Das gilt schon bei einer Beschränkung auf Rechtsaufsicht angesichts der eher vagen Maßstäbe, die von § 92 Abs. 1 SGB V vorgegeben werden (ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung) und die ein Eindringen politischer Erwägungen begünstigen.86 In Anbetracht des Umstandes, dass das Bundessozialgericht dem Gemeinsamen Bundesausschuss das Selbstverwaltungsrecht zubilligt,87 gelten diese Überlegungen umso mehr. Gerade Selbstverwaltungseinrichtungen hat das Gericht bei der Beurteilung des Haushaltsgrundsatzes der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit einen „gehörigen Bewertungsspielraum“ zugebilligt, der durch das Selbstverwaltungsrecht noch verstärkt werde.88 Stehen aber dem Gemeinsamen Bundesausschuss im Verhältnis zu den Gerichten Gestaltungs- und Bewertungsspielräume zu,89 dann gilt dies erst recht im Verhältnis zur Aufsichtsbehörde; denn – so der mittlerweile fast stehende Satz des Aufsichtsrechts – die Kontroll- und Ersetzungskompetenzen der Aufsichtsbehörden enden früher als die der Gerichte.90 Damit bleibt es prinzipiell dabei, dass das aufsichtsführende Ministerium auf eine Rechtsaufsicht beschränkt ist. Da dies bei der Aufsicht gegenüber selbstständigen Verwaltungseinheiten die Regel ist,91 bedarf es keiner 83 Bezogen auf die Gesamtrechtsordnung existiert ohnehin keine Vollrechtsfähigkeit; es gibt nur Teilrechtsfähigkeiten. Siehe Schnapp, in: Merten / Papier, Handbuch der Grundrechte, Band II, 2006, § 52 Rn. 2 m. w. N.; ferner Jestaedt (Fn. 14), § 14 Rn. 21. 84 Bullinger, VVDStRL 22 (1965), 288 f.; siehe auch Jestaedt (Fn. 14), § 14 Rn. 59. 85 Dieser Ausdruck bei Jesch, DÖV 1960, 740. 86 Deshalb wird in der (Kommentar-) Literatur auch davon gesprochen, dass hier die Maßstäbe ineinander verschwimmen: Axer, in: Schnapp / Wigge, Handbuch des Vertragsarztrechts, 2. Aufl. 2006, § 10 Rn. 11; Hermann, Gemeinschaftskommentar zum SGB V (Loseblatt, Stand: Februar 1995), § 94 Rn. 8; Schnapp (Fn. 9), § 24 Rn. 64. Unentschieden Seeringer (Fn. 14), S. 218 ff. 87 U. v. 28. Februar 2008, B 1 KR 16 / 07 R, Rn. 40, 42. 88 BSGE 55, 277 (279 f.); 56, 197 (199); 67, 85 (89); Funk, VSSR 1990, 252. 89 BSG, U. v. 31. Mai 2006, B 6 KA 13 / 05 R; BSGE 96, 261 Rn. 75. 90 BSGE 71, 108 (110); Schirmer / Kater / Schneider, Aufsicht in der Sozialversicherung (Loseblatt, Stand: 1994), 220 S. 4; Kaltenborn, VSSR 2000, 251 f.; Seeringer (Fn. 14), S. 220; Schnapp, Probleme der Selbstverwaltung, Bitburger Gespräche 1996, S. 44 f. 91 Th. Groß, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2006, § 13 Rn. 102.
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dahingehenden, ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung. Vielmehr ist umgekehrt davon auszugehen, dass immer dann, wenn der Gesetzgeber einer Aufsichtsbehörde die Möglichkeit von Zweckmäßigkeitserwägungen einräumen will, dies explizit geschehen muss.92
V. Die vorstehende Skizze, die nur einige Probleme aufzeigen konnte und Wege zu ihrer Lösung eher angedeutet hat, mag deutlich gemacht haben, dass die wissenschaftliche Aufbereitung der Aufsichtsproblematik in der Sozialversicherung zwar nicht am Anfang steht, aber noch ein gutes Stück von einer befriedigenden Durchdringung entfernt ist. Das liegt nicht zum geringen Teil am Gesetzgeber, der nicht in der Lage scheint oder nicht bereit ist, über den Tellerrand des Sozialrechts zu blicken und beispielsweise gesicherte Erkenntnisse aus der Kommunalaufsicht aufzugreifen und legislatorisch umzusetzen. Immer wieder liefert er auch Beispiele dafür, dass er nicht im Stande ist, das von ihm Gewollte auch nachvollziehbar im Gesetz zum Ausdruck zu bringen. Das Ergebnis ist ein wenig konsistenter gesetzlicher Rahmen, der die Rechtsanwender – nicht jedoch die Rechtswissenschaft – gelegentlich dazu nötigt, sich entgegen ihrem eigentlichen verfassungsrechtlichen Auftrag (Art. 97 Abs. 1 GG) als (sozialpolitische) Reparaturwerkstätten für eine defizitäre Legislative zu betätigen. Wer Herbert Bethge kennt, weiß, dass er diesen Befund mit weitaus bissigeren Bemerkungen kommentieren würde, als der Verfasser dieses Beitrags sie zu produzieren in der Lage ist.
92 Stößner, Die Staataufsicht in der Sozialversicherung, 1969, S. 74; Leopold, Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, 3. Aufl. 1980, S. 164 ff.
Verfassungsrechtliche Rechtsfragen zum neuen Weiterbildungsrecht für Ärzte Von Otfried Seewald
I. Einführung Das Ziel der ärztlichen Weiterbildung ist der geregelte Erwerb festgelegter Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten, um nach Abschluss der allgemeinen ärztlichen Berufsausbildung1 „besondere ärztliche Kompetenzen zu erlangen“ (§ 1 S. 1 Muster-WBO 2003). Das derzeit geltende Recht hat die Bundesärztekammer2 auf dem 106. Deutsche Ärztetag im Jahr 2003 beschlossen,3 das mittlerweile von allen Landesärztekammern, wenn auch mit Abweichungen in einzelnen Bereichen, umgesetzt worden ist.4 Damit ist das in den Ländern jeweils zuvor geltende Recht5 abgelöst worden. Die arzt-berufsrechtliche „Weiterbildung“ ist nicht zu verwechseln mit der arzt-berufsrechtlichen „Fortbildung“ auf der Grundlage des jeweiligen Kammerrechts6 oder des Vertragsarztrechts der gesetzlichen Krankenversicherung.7 Nicht alles ist im neuen Weiterbildungsrecht anders geworden im Vergleich mit dem zuvor geltenden Recht. Die Struktur der Weiterbildungsordnung ist allerdings dahingehend neu geordnet worden,8 dass alle im Weiterbildungsrecht zu regelnden Inhalte in eine neue Systematik integriert worden sind; somit finden sich diese Inhalte in einer der drei denkbaren Weiterbildungskategorien wieder, 1 Die zur Approbation führt, vgl. die auf der Grundlage des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG erlassene Bundesärzteordnung (BÄO), insb. dort § §§ 3 – 9, sowie die „Approbationsordnung für Ärzte (v. 27. Juni 2002). 2 Die Arbeitsgemeinschaft der Deutschen (öffentlich-rechtlichen) Ärztekammern. 3 Daher im Folgenden: Muster-WBO 2003. 4 Eine diesbezügliche Übersicht findet sich auf der homepage der Bundesärztekammer: www.bundesaerztekammer.de / page.asp?his=1.128.129.3798&all=true, abgerufen am 20. Januar 2008. 5 Muster-WBO 1992. 6 Vgl. z. B. Art. 18 Abs. 1 Nr. 1 BayHKaG, § 4 (Muster-)Berufsordnung 1997 / 2006. 7 Gemäß § 95d SGB V, eingeführt durch Art. 1 Nr. 76 GMG v. 14. November 2003, BGBl. I, 2190, m. W. v. 1. Januar 2004. 8 Nach Entfallen der Begriffe der „Fakultativen Weiterbildung“ und der „Fachkunde“ sowie der Aufhebung entsprechender Festlegungen, mit denen diese Begriffe für das Weiterbildungsgeschehen konkretisiert wurden.
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nämlich entweder in einer Facharzt-, einer Schwerpunkt- oder in einer Zusatzweiterbildung.9 Als eine wesentliche Neuerung ist insbesondere auch aus der Sicht der Arztvertretung das neue Verständnis über die „Gebietsdefinition“ und die „Facharztkompetenz“ eingeführt worden. Die Bundes-Ärztekammer spricht insoweit vom „Kernelement“ der Neuregelung und erläutert dies folgendermaßen: „Bisher ging man davon aus, dass alles, was ein Gebiet auch an speziellen Inhalten aufweist, abgebildet und im Laufe der Mindestweiterbildungszeit tatsächlich vermittelt werden kann. Es lassen sich jedoch nicht alle Inhalte eines Gebietes in der Weiterbildungsordnung darstellen und in einer vorgegebenen Mindestweiterbildungszeit zum Facharzt erlernen. Auch ist es sinnvoll, spezielle Inhalte eines Gebietes nicht von jeder Ärztin / jedem Arzt obligatorisch im Rahmen der Weiterbildung zu verlangen. Dies würde Engpässe in der Weiterbildung hervorrufen und eine mangelnde Ausrichtung auf die Notwendigkeiten der medizinischen Versorgung bedeuten. Nunmehr werden die Gebietsgrenzen arbeitsteilig definiert und die darin als Teilmenge enthaltenen „Kompetenzen“ durch die während der zeitlich festgelegten Weiterbildungsdauer zu erwerbenden Inhalte definiert. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, auch Hochspezialisierungen und Innovationen, die nicht oder noch nicht in einem Weiterbildungsgang beschrieben sind, den Gebieten zuzuordnen.“10 Die Frage nach der Gebietsabgrenzung und damit die Frage, welche Tätigkeiten eines (Fach-)Arztes als „gebietsfremd“ zu bewerten sind, ist in vielen Fällen nunmehr anders zu beantworten als nach dem früheren ärztlichen Berufs-(Weiterbildungs-)Recht. Die baden-württembergische Ärztekammer beschreibt die neue Rechtslage zutreffend so: „Während sich nach dem Verständnis der bislang geltenden Weiterbildungsordnung die Grenzen eines Fachgebietes aus der Gebietsdefinition ergaben, wird das Gebiet in der neuen Weiterbildungsordnung als ein definierter Teil in einer Fachrichtung der Medizin beschrieben (§ 2 Abs. 2 WBO). Innerhalb dieser umfassenden Gebietsdefinition können verschiedene Kompetenzen (Facharzt-, Schwerpunkt- und Zusatzweiterbildungs-Kompetenz) erworben werden. Mit einer erworbenen Weiterbildungsqualifikation kann der Arzt nachweisen, dass er die fachliche Kompetenz, die ihn zur selbstständigen und eigenverantwortlichen Tätigkeit in dem entsprechenden Gebiet, Schwerpunkt oder der Zusatzweiterbildung befähigt, besitzt. Da aber innerhalb der durch die Weiterbildungsordnung festgelegten Mindestweiterbildungszeiten nicht alle Inhalte eines Gebietes vermittelt werden können und teilweise auch bestimmte hoch spezialisierte Leistungen nicht Gegenstand der Regelweiterbildung sein müssen, wird durch die neue Gebietsdefinition erreicht, dass auch Leistungen, die nicht in einer Facharzt-, Schwerpunkt-Kompetenz oder durch eine Zusatzweiterbildung abgebildet sind, gebietskonform erbracht werden können. Damit existieren nach der neuen WBO Vgl. im Einzelnen § 2 Abs. 1 Muster-WBO 2003 („Struktur“). www.bundesaerztekammer.de / page.asp?his=1.128.129.3798&all=true, abgerufen am 20. Januar 2008. 9
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Leistungen, die nicht durch eine entsprechende Qualifikation (= Kompetenz) ausgewiesen sind, deren Erbringung aber dennoch nicht als fachfremd eingestuft werden kann.“11 Das ärztliche (Weiterbildungs-)Recht und die z. B. aus der Facharzt-Anerkennung sich einerseits ergebende Befugnis, im eigenen Fachgebiet tätig zu werden, andererseits die daraus ebenfalls resultierende Pflicht,12 sich auf dieses Gebiet zu beschränken, ist entscheidend auch für die Frage, welche Leistungen ein Arzt abrechnen darf. Ob eine solche Tätigkeit im Rahmen eines privatärztlichen Behandlungsvertrages abrechenbar ist oder § 134 BGB dem entgegensteht, soll hier nicht erörtert werden. Zumeist praktisch-wirtschaftlich bedeutsamer ist für die meisten Ärzte13 die Frage, ob im Rahmen des Leistungserbringungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung eine Leistung abgerechnet werden kann, die aus berufsrechtlicher Sicht als „fachgebietsfremd“ zu bewerten ist. Die Sozialgerichtsbarkeit hat sich wiederholt mit dieser Problematik befasst; dabei geht insbesondere auch das BSG davon aus, dass die Grenzen der berufsrechtlichen fachärztlichen Befugnis zugleich auch für das Vertragsarztrecht des SGB V gelten.14 Diese Rechtsprechung hat jeweils im konkreten Fall und bei der Frage nach den Grenzen des berufsrechtlich und somit auch vertragsrechtlich Zulässigen stets auf das jeweilige Ausbildungsprogramm15 abgestellt und die Tätigkeiten / Verrichtungen, die zur Erlangung der fachärztlichen Anerkennung gefordert werden. Diese Sichtweise, diese Methode zur Konkretisierung dessen, was für einen Facharzt gebietsfremd ist,16 ist dem BSG künftig verschlossen. Freilich sind damit die Konflikte zwischen Fachärzten oder Facharztgruppen wahrscheinlich nicht endgültig beseitigt. Verständlicherweise wird dabei auch die Frage der Rechtmäßigkeit des neuen Weiterbildungsrechts in seiner derzeitigen, neuen Ausformung auf den Prüfstand gestellt werden. Dazu sollen die nachfolgenden Ausführungen beitragen. Angesichts der bisherigen Fälle, die von den Gerichten zu entscheiden waren,17 und der Tatsache, dass die aufgezeigte Problematik sich erst im Konkreten zeigt, www.aerztekammer-bw.de / 30 / 05 / 55.htm, abgerufen am 14. Januar 2008. Die selbstverständlich nur „wirksam“ wird, wenn von einer Facharztanerkennung auch Gebrauch gemacht wird. 13 Die als Vertrags- (früher: Kassen-)Ärzte über eine Zulassung zur Behandlung von Kassenpatienten verfügen. 14 Vgl. z. B. BSG SozR 3-2500 § 95 Nr. 9, S. 34 ff.; zuletzt unmissverständlich BSG SozR 4-2500 § 95 Nr. 5, mit zahlreichen Nachweisen in Rn. 8. 15 Einschließlich der diesbezüglichen Richtlinien der (Landes-)Ärztekammern. 16 Nämlich alles das, was er konkret in seiner Weiterbildung nicht unbedingt hat lernen müssen. 17 Z. B. BSG SozR 4-2500 § 95 Nr. 5, 7, 8 – jeweils m. w. N.; s. auch VG Münster MedR 1999, 285 sowie LG Mannheim NJW-RR 2007, 1426 = VersR 2007, 1517. 11 12
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soll der Blick auf die Frage gerichtet (und zugleich soweit beschränkt) werden, inwieweit sich für Orthopäden, die gerätegestützt radiologische Diagnostik betreiben, durch die Muster-WBO 2003 eine Änderung der fachärztlichen Befugnis ergeben hat. Dabei spielt zudem eine wesentliche Rolle die Frage, ob für diese Tätigkeiten eine Zusatz-Weiterbildung und eine entsprechende Anerkennung Voraussetzung ist.
II. Vereinbarkeit der Weiterbildungsordnungen gemäß Muster-WBO 2003 mit höherrangigem Recht Der Frage nach der Vereinbarkeit von Weiterbildungsordnungen mit höherrangigem Recht soll in drei Abschnitten nachgegangen werden: Zunächst ist – erstens – zu prüfen, ob eine (landesrechtliche) Weiterbildungsordnung entsprechend der Muster-WBO mit dem Gesetzesrecht, nämlich dem Ärztekammer-Recht des jeweiligen Landes, vereinbar ist. Dabei wird von der gedanklichen Annahme ausgegangen, dass die Muster-WBO 2003 in den Ländern umgesetzt worden ist; weiterhin wird unterstellt, dass das Ärztekammer-Recht im Hinblick auf die Regelungen der Weiterbildung im Wesentlichen einheitlich geregelt ist.18 Deshalb kann in diesem Gutachten auf eine synoptische Gegenüberstellung der Landesgesetze verzichtet werden; die rechtliche Prüfung wird anhand des bayerischen Heilberufe-Kammergesetzes (BayHKaG) vorgenommen. Zweitens – in einem weiteren Prüfungsschritt wird das hier interessierende Weiterbildungsrecht auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz überprüft, dessen Bestimmungen unmittelbar nicht nur für den formellen Gesetzgeber gelten, sondern auch für jegliche Verwaltungstätigkeit, somit auch für die von den Ärztekammern vorgenommene abgeleitete Rechtsetzung in Form von Satzungen. Schließlich wäre auch zu prüfen, ob eine Vereinbarkeit mit den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts gegeben ist, wobei sowohl die Regelungen in den Verträgen19 als auch die Bestimmungen in sekundärem Gemeinschaftsrecht20 als Prüfungsmaßstab zu beachten sind. Diese Fragen sind allerdings nicht Gegenstand der nachfolgenden Überlegungen.
18 Ebenso Wahl / Hespeler, Bundesgesundheitsblatt (2006) 49, 358 – 363 = Orthopädie-Mitteilungen 4 / 06, 304 – 308. 19 Soweit diese Vorschriften auch ohne Konkretisierung in Verordnungen oder Richtlinien unmittelbare Wirkung entfalten, vgl. dazu grundsätzlich EuGH Rs 26 / 62 – van Gend & Loos, Slg. 1963, S. 1; Rs 57 / 65 – Lütticke, Slg. 1966, S. 239; Rs C-120 / 88 – Mehrwertsteueranrechnung, Slg. 1992, S. I-621. 20 Also in Richtlinien und Verordnungen.
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1. Vereinbarkeit mit dem BayHKaG Die Ärztekammer hat die Aufgabe und Befugnis zum Erlass einer Weiterbildungsordnung; die diesbezügliche Ermächtigung21 nimmt Bezug auf die einschlägigen Bestimmungen des Kammerrechts, z. B. des BayHKaG, in denen der Gesetzgeber die wesentlichen Vorgaben für die ärztliche Weiterbildung normiert. Damit folgt der (Landes-)Gesetzgeber den einschlägigen Vorgaben des BVerfG. Dieses hat Folgendes gefordert: „Das Facharztwesen darf nicht ausschließlich der Regelung durch Satzungen der Ärztekammern . . . überlassen werden. Mindestens die ,statusbildenden’ Bestimmungen muss der Gesetzgeber selbst treffen“; im Bereich des Facharztwesens sind die „statusbildenden“ Normen diejenigen Regelungen, „welche die Voraussetzungen der Facharztanerkennung, die zugelassenen Facharztrichtungen, die Mindestdauer der Ausbildung, das Verfahren der Anerkennung, die Gründe für eine Zurücknahme der Anerkennung sowie endlich auch die allgemeine Stellung der Fachärzte innerhalb des gesamten Gesundheitswesens betreffen“; diese Angelegenheiten müssen „in den Grundzügen durch ein förmliches Gesetz festgelegt werden. Die dann noch erforderlichen ergänzenden Regelungen können nach Ermessen des Gesetzgebers dem Satzungsrecht der Ärztekammern überlassen bleiben.“22 Dieser durch den Gesetzgeber gezogene Rahmen ist vom Satzungsgeber (also der Ärztekammer) strikt zu beachten; dieses Gebot ergibt sich aus dem Prinzip des Vorranges des Gesetzes vor den untergesetzlichen Normen (sowie vor den Einzelmaßnahmen) der Verwaltungsinstitutionen. 23
a) Systematische Kompatibilität Bedeutsam für die hier zu erörternde Problematik ist zunächst das System der Qualifikationen und Bezeichnungen, die nach erfolgreichen Weiterbildungsmaßnahmen erreicht werden. Das BayHKaG beispielsweise geht von „sechs ärztlichen Fachrichtungen“ sowie „Gebietsbezeichnungen“, „Teilgebietsbezeichnungen“ sowie „Zusatzbezeichnungen“ aus; diese müssen diesen Fachrichtungen zugeordnet werden können; zulässig ist auch eine Verbindung von Fachrichtungen und eine entsprechende Zuordnung einer Weiterbildungsqualifikation, wenn dies im Hinblick auf die medizinische Entwicklung und eine angemessene ärztliche Versorgung erforderlich ist.24 Die Muster-WBO 2003 enthält ebenfalls mehrere – und zwar ebenfalls drei rechtlich relevante – Weiterbildungsqualifikationen und -anerkennungen, die dem System der BayHKaG wie folgt zuzuordnen sind: Die „GeZ. B. Art. 35 BayHKaG. BVerfGE 33, 125 (Leitsatz 2, 163 = Juris Rn. 113). 23 Dieses Prinzip hat als Teil des Rechtsstaatsprinzips wie dieses Verfassungsrang, vgl. Art. 20 Abs. 3 GG sowie – für alle – BVerfGE 8, 169; 40, 297. 24 Art. 28 Abs. 1 i. V. m. Art. 27 BayHKaG. 21 22
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bietsbezeichnung“ des HKaG findet sich in der Muster-WBO 2003 wieder, hier wiederum als „Gebiet“; dies wird „als ein definierter Teil in einer Fachrichtung der Medizin“ beschrieben.25 Das „Gebiet“ i. S. d. Muster-WBO 2003 ist der normativ verbindliche Bezugspunkt für wesentliche Regelungen: Die Verleihung einer Facharztbezeichnung 26 bezieht sich auf das Gebiet; die Ausübung der fachärztlichen Tätigkeit ist auf das – nach Maßgabe der jeweiligen Gebietsdelimitation begrenzte – Gebiet beschränkt.27 Klargestellt wird im Übrigen in Bezug auf das definitiv feststellbare Gebiet auch, dass die Weiterbildungsmaßnahmen nicht alle Tätigkeiten abdecken müssen, die in dem Gebiet anfallen, und dass die für die Facharztanerkennung erforderliche (und in der Prüfung nachzuweisende) „Facharztkompetenz“ sich demzufolge nicht auf alle Tätigkeiten erstreckt, die entsprechend der Definition eines Gebietes diesem zuzuordnen sind. Gleichwohl wird mit der Facharztanerkennung die berufsrechtliche Befugnis zur Ausübung sämtlicher Facharzttätigkeiten im gesamten Gebiet erteilt,28 so dass eine Befähigungs- oder Qualifikationslücke zwischen der prüfungsrelevanten Facharztkompetenz und der für ein (Fach-)Gebiet insgesamt an sich notwendigen Befähigung besteht. Die Muster-WBO 2003 wird insoweit den Vorgaben des BayHKaG gerecht, als sie vielfach die Festlegung eines Gebietes und die darauf bezogene Facharztkompetenz zusammenfallen lässt. Das gilt für die meisten Gebiete,29 jedoch nicht für alle. Im Hinblick auf die „Chirurgie“ spricht die Muster-WBO 2003 z. B. ebenfalls von „Gebiet“.30 Hierbei handelt es sich jedoch nicht um das, auf was sich die Facharztanerkennung unmittelbar bezieht; dies ergibt sich aus den Festlegungen der Inhalte der Weiterbildung. Danach ist die Chirurgie kein gleichsam „facharzttaugliches“ Gebiet, sondern eine Kategorie, die gleichsam als „Basis-Modul“ acht (wirkliche Facharzt-)„Gebiete“ umfasst und die dadurch definiert ist, dass sie eine Teilmenge an Weiterbildungsinhalten für diese acht Facharztgebiete, darunter auch für das Gebiet des „FA Orthopädie und Unfallchirurgie“, enthält.31 Damit ist zugleich auch festgestellt, dass z. B. der „FA Orthopädie und Unfallchirurgie“ nicht ein „Teilgebiet“ i. S. d. Art. 27, 29, 30 BayHKaG betrifft und somit keine Teilgebietsbezeichnung ist; diese Kategorie des Landesgesetzgebers findet § 2 Abs. 2 S. 1 Muster-WBO 2003. Nach dem Sprachgebrauch des BayHKaG handelt es sich um eine der möglichen „Anerkennungen“, vgl. Art. 29 i. V. m. Art. 27 BayHKaG. 27 Art. 2 Abs. 2 S. 2, 3 BayHKaG. 28 So eindeutig § 2 Abs. 2 S. 3 Muster-WBO 2003. 29 Vgl. z. B. die Ziff. 1 – 5, 7, 9, 10, 11, 13, 14 – 21, 24 – 31 Muster-WBO 2003, Abschnitt B. 30 Ziff. 6 Muster-WBO 2003, Abschnitt B; ebenso die Übersicht „Gebiete-, Facharzt- und Schwerpunktkompetenzen“ in Muster-WBO 2003, Abschnitt B, vor Ziff. 1. 31 So auch die Erläuterung zum „Weiterbildungsziel“ der Chirurgie: „Gemeinsame Inhalte der Facharztweiterbildungen“, Ziff. 6 Muster-WBO 2003, Abschnitt B. 25 26
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ihre Entsprechung in der Muster-WBO 2003 vielmehr in deren „Schwerpunkten“, die eine „auf der Facharztweiterbildung aufbauende Spezialisierung im Gebiet“ ist.32 Wichtig ist in diesem Zusammenhang jedoch vor allem die Feststellung, dass sich die Muster-WBO 2003 hinsichtlich der Gebietsregelungen im gesetzlich vorgegebenen Rahmen hält. Das Gleiche gilt für die „Zusatz-Weiterbildung“ i. S. d. Muster-WBO 2003, mit der ebenfalls eine Spezialisierung erreicht wird.33 Auch damit wird dem BayHKaG insoweit entsprochen, als dort für „andere zusätzlich erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten“ eine Zusatzbezeichnung im Wege einer diesbezüglichen Anerkennung verliehen werden kann.34 Der gleichsam gegenständliche Bezugspunkt der Zusatzbezeichnung ist offensichtlich der „Bereich“, der zwar nicht in Art. 27 BayHKaG ausdrücklich (neben „Gebiet“ und „Teilgebiet“) genannt ist, dessen (rechtliche) Existenz sich jedoch aus Art. 30 Abs. 4 S. 1, Art. 33 Abs. 1 S. 1, Art. 34 Abs. 3 sowie Art. 35 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BayHKaG ergibt.
b) Zuordnung von MRT zur Radiologie Die Muster-WBO 2003 definiert das „Gebiet Radiologie“ zunächst abstrakt35 sowie der Sache nach im Folgenden konkreter durch die Weiterbildungsinhalte, darunter „Magnetresonanzverfahren und Spektroskopie einschließlich ihrer Befundung“; weiterhin werden als „definierte Untersuchungs- und Behandlungsverfahren“ u. a. genannt „Magnetresonanztomographien, z. B. an Hirn, Rückenmark, Nerven, Skelett, Gelenken, Weichteilen einschließlich der Mamma, Thorax, Abdomen, Becken, Gefäßen“.36 Es ist nicht ersichtlich, dass mit diesen Konkretisierungen von den inhaltlichen Vorgaben des BayHKaG abgewichen worden ist. Insbesondere handelt es sich dabei um eine Gebietsabgrenzung, die dem traditionellen ärztlichen Selbstverständnis und dem Gesichtspunkt einer fachgerechten Organisation bei der Umsetzung medizinischer Kenntnisse und Fähigkeiten (unter Berücksichtigung einer vernünftigen Arbeitsteilung bei der Krankenversorgung) entspricht. Und auch die Einfügung der Magnetresonanzverfahren sowohl unter dem Gesichtspunkt des Erwerbs diesbezüglicher „Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten“ als auch dem Aspekt der „definierten Untersuchungs- und Behandlungsverfahren“ kann nicht als unsachliche Festlegung bewertet werden.
Gemeint kann hier nur das „facharztrelevante“ Gebiet sein. § 2 Abs. 4 Muster-WBO 2003, im Einzelnen aufgeführt und erläutert in Abschnitt C Muster-WBO 2003. 34 Art. 27, 29 BayHKaG. 35 „Erkennung von Krankheiten mit Hilfe ionisierender Strahlen, kernphysikalischer und sonographischer Verfahren und die Anwendung interventioneller, minimal-invasiver radiologischer Verfahren“. 36 Muster-WBO 2003, Abschnitt B, Ziff. 28. 32 33
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c) Einführung von fachgebundener MRT-Zusatz-Weiterbildung Die Inhalte der Zusatz-Weiterbildung „Magnetresonanztomographie – fachgebunden –“ sind „integraler Bestandteil der Weiterbildung zum Facharzt für Radiologie“; sie „umfasst in Ergänzung zu einer Facharztkompetenz die Durchführung und Befundung gebietsbezogener Bildgebungsverfahren mittels Magnetresonanztomographie“.37 In der Rubrik „Weiterbildungsinhalt“ wird dieser Tätigkeitsbereich (wiederholend) erläutert und im Hinblick auf „Erwerb von Kenntnissen, Erfahrungen und Fertigkeiten“ spezifiziert bezüglich Indikation und Differenzialindikation mit anderen diagnostischen radiologischen Verfahren, Anwendung von Arznei- und Kontrastmitteln; in wörtlicher Übereinstimmung mit dem Weiterbildungsinhalt für das Gebiet Radiologie werden die physikalischen Grundlagen und Biophysik einschließlich Patientenüberwachung und Schutz für Patienten und Personal sowie die Gerätekunde genannt. Auch insoweit hält sich die Muster-WBO 2003 im Rahmen des BayHKaG; dieses befasst sich mit den „Zusatzbezeichnungen“ in zurückhaltender Weise; gesetzliche Voraussetzung für die Konstituierung einer derartigen Zusatz-Weiterbildung ist lediglich, dass zusätzlich zur Facharztausbildung „andere Kenntnisse und Fähigkeiten“ erworben werden sollen, also solche, die weder Bestandteil der FacharztWeiterbildung noch der „Zusatz-Weiterbildung“ im „Teilgebiet“ sind. Die Zusatz-Weiterbildung MRT (fachgebunden) wäre also im Hinblick auf Orthopäden dann gesetzeswidrig, wenn damit die Erforderlichkeit einer Qualifikation festgelegt würde, die bereits ein gesetzlich vorgegebener Gegenstand der Weiterbildung für die Erlangung der orthopädischen Facharztkompetenz und der entsprechenden Anerkennung ist. Zur Beantwortung dieser Frage sind das BayHKaG sowie die Inhalte der Weiterbildung zum Facharzt für Orthopädie und Unfallmedizin in den Blick zu nehmen. Dabei ist eine Zusammenschau der für alle chirurgischen Gebiete gemeinsamen „Basisweiterbildung“ und der speziellen Vorgaben für „Orthopädie und Unfallchirurgie“ vorzunehmen. Die Erkennung chirurgischer Erkrankungen, Verletzungen, Formveränderungen und Fehlbildungen z. B. der Stütz- und Bewegungsorgane ist durchgehend Gegenstand und Weiterbildungsinhalt dieses Gebiets; bei den „definierten Untersuchungs- und Behandlungsverfahren“ werden lediglich „Ultraschalluntersuchungen“ bzw. „sonographische Untersuchungen der Bewegungsorgane . . .“, nicht jedoch die MRT-gestützte Diagnose genannt. Somit hält sich die Zusatz-Weiterbildung im Rahmen des Gesetzes, weil diese Maßnahmen ausdrücklich nicht bereits Gegenstand orthopädischer Facharzt-Weiterbildung sind. Zu beachten ist allerdings, dass die fachärztlichen Tätigkeiten im jeweiligen Gebiet nicht definitiv durch die in der Facharztkompetenz vorgeschriebenen Weiterbildungsinhalte beschränkt werden.38 Demnach ist der Weiterbildungsinhalt für 37 38
S. Muster-WBO 2003, Abschnitt C, zu MRT – fachgebunden. § 2 Abs. 2 S. 3 Muster-WBO 2003.
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den „Orthopäden und Unfallchirurg“ kein Hinweis darauf, dass die MRT-Diagnostik nicht (auch) in dieses (Facharzt-)Gebiet fällt. Aus dem Gesichtspunkt der Natur der Sache und einer sinnvollen Organisation der medizinisch-chirurgischen Versorgung wird man keinerlei Bedenken haben können, dass auch diese Diagnostik gegenständlich in den Bereich der Chirurgie und damit in das (Facharzt-)Gebiet „Orthopädie und Unfallchirurgie“ fällt; es kann kein ernsthafter Zweifel daran bestehen, dass es sich um Methoden der „Erkennung“ von behandlungsbedürftigen Gegebenheiten handelt. Freilich enthält das HKaG keine diesbezüglichen Vorgaben; die Weiterbildungsinhalte für den Facharzt für Orthopädie und Unfallmedizin sind nicht konkret vorgegeben, so dass auch keine Bedenken im Hinblick auf eine eventuelle NichtÜbereinstimmung zwischen Muster-WBO und deren gesetzlicher Ermächtigung bestehen. 2. Verfassungsmäßigkeit des BayHKaG Es wird bislang offensichtlich davon ausgegangen, dass das BayHKaG selbst den soeben dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt, die das BVerfG im Hinblick auf die Bestimmtheit der gesetzgeberischen Vorgaben für den Satzungsgeber festgelegt hat; diese „wesentlichen“ Regelungen39 sind in Art. 27 – 36 BayHKaG normiert und enthalten die verbindlichen Vorgaben für die Ärztekammer bei der Ausgestaltung des Weiterbildungsrechts. Die vorangegangenen Feststellungen legen die Prüfung der Frage nahe, ob der (Landes-)Gesetzgeber den vom BVerfG aufgestellten Anforderungen40 im Hinblick auf die fachgebundenen Zusatz-Weiterbildungen gerecht geworden ist. Voraussetzung dafür ist, dass es sich z. B. bei den Regelungen der Zusatz-Weiterbildung „MRT – fachgebunden“ um „statusbildende Normen“ handelt; ist dies der Fall, dann müsste das BayHKaG diese Regelungen „in den Grundzügen durch den förmlichen Gesetzgeber“ selbst festgelegt haben; und dem Satzungsrecht der Ärztekammer blieben lediglich „die dann noch erforderlichen ergänzenden Regelungen . . . überlassen“.41
39 Mit seinem Facharztbeschluss (BVerfGE 33, 125) hat das BVerfG die sog. Wesentlichkeits-Theorie begründet, die heutzutage allgemein als Ergänzung der Prinzipien des Gesetzes- bzw. Parlamentsvorbehalts sowie des allgemeinen Gesetzesvorbehalts verstanden wird, vgl. für alle Dellmann, in: Seifert / Hömig, GG für die Bundesrepublik Deutschland, 7. Aufl. 2003, vor Art. 70 Rn. 3 m. w. N. 40 Im Einzelnen oben zitiert, vgl. II. 1., vor a). 41 Vgl. BVerfGE 33, 125 (163).
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a) Die Festlegung der Grundzüge der Zusatz-Weiterbildung – facharztgebunden Die diesbezüglichen Aussagen des BayHKaG beschränken sich auf Folgendes: In Art. 27 ist bestimmt, dass für die Erlangung der Zusatzbezeichnung „andere . . . Kenntnisse und Fähigkeiten“ zusätzlich erworben werden müssen, also solche, die nicht bereits in der jeweiligen Gebiets- und Teilgebietsweiterbildung vermittelt worden sind. Art. 28 Abs. 1 und 2 BayHKaG ermächtigen die Landesärztekammer zur Festlegung und Änderung der Bezeichnungen nach Art. 27 BayHKaG, also auch hinsichtlich der Zusatz-Weiterbildung, und dies „im Hinblick auf die medizinische Entwicklung und eine angemessene ärztliche Versorgung“. Im Übrigen ist das BayHKaG sehr zurückhaltend. Während für die Weiterbildung in den „Gebieten“ und „Teilgebieten“ in zahlreichen Einzelregelungen der Art. 30, 31 und 34 BayHKaG Vorgaben enthalten sind, fehlen vergleichbare Festlegungen für die Weiterbildung (und die dabei zu erwerbenden zusätzlichen Kenntnisse und Fähigkeiten), die zum Erhalt einer „Zusatzbezeichnung“ führt. In Art. 33 Abs. 1 S. 2 und 3 BayHKaG ist von dem „Bereich“ (offenbar als eine Kategorie des Art. 27) die Rede, und zwar im Hinblick auf die Ausgestaltung des Anerkennungsverfahrens. Auch in Art. 34 Abs. 3 BayHKaG wird der „Bereich“ erwähnt, jedoch auch hier ohne diesbezügliche inhaltliche Vorgaben hinsichtlich der damit zu verbindenden Befähigung. Somit wird man nicht sagen können, dass das BayHKaG die Grundzüge der „Zusatz-Weiterbildung (fachgebunden)“ festlegt; letztlich sagt das Gesetz nicht viel mehr, als dass es diese Qualifikationskategorie gibt, dass für den entsprechenden Erwerb in Form einer Anerkennung zusätzliche Kenntnisse und Fähigkeiten erforderlich sind, dass die medizinische Entwicklung und eine angemessene Versorgung zu berücksichtigen sind und dass zum Abschluss dieser Weiterbildung ein Prüfungsgespräch vorgesehen werden kann. Somit sind – in inhaltlicher Sicht – Grundzüge der Zusatz-Weiterbildung allenfalls andeutungsweise festgelegt. Allerdings muss man auch einräumen, dass der Gesetzgeber damit mehr geregelt hat als eine völlig inhaltsleere Ermächtigung etwa dergestalt, dass die Ärztekammern „eine für ihre Kammerangehörigen verbindliche Berufsordnung durch besondere Satzung beschließen können“.42 b) Zusatz-Weiterbildung und fachärztlicher Status Was zu den „statusbildenden Normen“ des Facharztrechts gehört, hat das BVerfG erläutert.43 Dazu gehören u. a. die Voraussetzungen der (Facharzt-)Anerkennung, die zugelassenen (Facharzt-)Richtungen, die Verfahren der Anerkennung 42 So die dem Facharztbeschluss des BVerfG (E 33, 125) zugrunde liegende Rechtslage, auf die seinerzeit das gesamte Facharzt-(Weiterbildungs-)Recht gestützt wurde. 43 BVerfGE 33, 125 (163); wiedergegeben oben II. 1., vor a).
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und ihre Rücknahme „sowie die allgemeine Stellung der Fachärzte innerhalb der Gesellschaft“. Die Zusatz-Weiterbildung (fachgebunden) ist i. d. R. nur Fachärzten zugänglich; für die „MRT – fachgebunden –“ ist jedenfalls eine Facharztkompetenz Voraussetzung.44 Außerdem zeitigt der Erwerb / die Anerkennung dieser Qualifikation Wirkungen, die in der Rechtsprechung des BVerfG als Kriterien für das Erfordernis „statusbildender Normen“ angeführt werden: Damit ist das „Verhältnis des Arztes zum Patienten berührt“; weiterhin geht es um Regelungen der Berufsausübung; betroffen sind auch die wirtschaftlichen Chancen, die mit einer fachärztlichen Tätigkeit verbunden sind.45 Dabei ist zu bedenken, dass die Freiheit der Berufsausübung auch das Recht umfasst, die Öffentlichkeit über erworbene Qualifikationen zu informieren.46 Es handelt sich um ein verfassungsrechtlich geschütztes „Recht“, das im Berufsleben genutzt werden darf, dessen Entzug „einen empfindlichen Eingriff dar(stellt), weil das Verschweigen von Kompetenz im selbständig ausgeübten Beruf dazu führt, dass die Leistungen nicht konkret angeboten werden können und von den Patienten nicht nachgefragt werden.“47 Auch diese Bewertung spricht für den „statusbildenden“ Charakter einer solchen anerkannten Qualifikation. Schließlich ist zu bedenken, dass es sich um Auswirkungen nicht nur qualitativer Art handelt, sondern dass damit auch die Berufsausübung in quantitativ erheblichem Umfang geregelt ist. Dabei ist auch an dieser Stelle auf die Auswirkungen einer derartigen Qualifikation im Vertragsarztrecht hinzuweisen, wo der Weiterbildung und einer entsprechenden Anerkennung entscheidende Bedeutung unter dem Gesichtspunkt der krankenversicherungsrechtlichen Qualitätssicherung eine wesentliche Bedeutung zukommt.48 Dieses Zusammenwirken, bei dem das Berufsrecht gleichsam im Huckepack-Verfahren in das Vertragsarztrecht getragen wird, muss bei der Bewertung der Zusatz-Weiterbildung vor dem Hintergrund des Art. 12 Abs. 1 GG und der Frage nach statusbildenden Berufsausübungsregelungen mit in die verfassungsrechtliche Bilanz einbezogen werden. Schließlich ist bei der Frage, wann Regelungen als „statusbildend“ bewertet werden müssen, der Facharztbeschluss des BVerfG im Hinblick auf die dort konkret entschiedenen Sachverhalte zu betrachten, die Anlass zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Regelung des Facharztwesens gegeben haben. Muster-WBO 2003, Abschnitt C. BVerfGE 33, 125, Juris Rn. 112, 117. 46 BVerfGE 106, 181 = SozR 3-2500 § 95 Nr. 35 = MedR 2003, 36, im Anschluss an BVerfGE 33, 125. 47 BVerfG, a. a. O., Orientierungssatz 2 b. 48 Zu dieser Aufeinander-Bezogenheit von Vertragsarztrecht und Berufsrecht unmissverständlich BSG SozR 3-2500 § 135 Nr. 16, S. 84, 85. 44 45
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Zum einen ging es um einen Facharzt für Frauenkrankheiten und Geburtshilfe, der den Ehemann einer Patientin behandelt hatte und damit sein Fachgebiet überschritten hatte.49 Insoweit wurden keinerlei Überlegungen dahingehend angestellt, dass dieser Arzt dabei möglicherweise nicht fach- oder sachgerecht gehandelt habe. Dem zweiten Beschwerdeführer wurde deshalb ein berufsrechtlicher Verstoß vorgehalten, weil er auf seinem Praxis-Schild und seinen Briefköpfen auf seine zwei – rechtlich einwandfrei erworbenen – Facharztbezeichnungen hingewiesen hatte.50 Auch hier ging es nicht darum, ob dieser Arzt tatsächlich in der Lage war, in den beiden Gebieten51 kompetent ärztlich tätig zu werden. In beiden Sachverhalten ging es also im Wesentlichen nur um die Frage, ob einem Arzt eine Tätigkeit versagt werden kann, für die er ausgebildet und zu der er rechtlich und tatsächlich befähigt ist – und zwar letztlich nur unter dem Gesichtspunkt eines berufsrechtlich intendierten und bewirkten Konkurrenzschutzes zwischen Ärzten. Somit muss man also mit dem BVerfG Normen, die solches bewirken (sollen), als statusbildend einschätzen. Aus diesem Gesichtspunkt kann auch die Zusatz-Weiterbildung – fachgebunden – betrachtet werden: Berufsrechtlich-unmittelbar ist damit die Folge verbunden, gegenüber den Beteiligten im Gesundheitswesen52 die diesbezügliche Anerkennung zur Information und Werbung öffentlich verwenden zu dürfen. Am Beispiel der Zusatz-Weiterbildung MRT – fachgebunden – wird das deutlich; insoweit ist ein ähnlicher Bewertungshintergrund vorhanden wie bei dem „Doppel-Facharzt“. Bedenkt man weiterhin, dass das Vertragsarztrecht an besondere berufsrechtliche Qualifikationen anknüpft,53 dann bewirkt das Erfordernis dieser Qualifikation (als Voraussetzung für das vertragsärztliche Tätigwerden) Konkurrentenschutz; denn die (Vertragsarzt-)Radiologen sind vor denjenigen (Vertragsarzt-)Orthopäden geschützt, die berufsrechtlich zur MRT-Diagnostik befugt sind, jedoch vertragsarztrechtlich daran gehindert sind. Angesichts dieser Wirkungen, die denjenigen in dem Facharzt-Beschluss des BVerfG letztlich gleichen, ist jedenfalls die Regelung der Zusatz-Weiterbildung – fachgebunden – als statusbildend zu bewerten. Gegen dieses Ergebnis kann auch nicht die Rechtsprechung des BSG zur Vereinbarkeit der (vertragsarztrechtlichen) „Kernspin-Vereinbarung“54 mit dem GrundBVerfGE 33, 125, Juris Rn. 40, 42. BVerfGE 33, 125, Juris Rn. 46. 51 Es handelte sich um „Innere Krankheiten“ sowie „Röntgen- und Strahlenheilkunde“. 52 Gleichsam im medizinisch-ärztlichen „Geschäftsverkehr“. 53 Regelungstechnisch vom Aspekt der Qualitätssicherung (vgl. § 135 SGB V) „ausgehend“, in der Sache nach eindeutig berufsrechtliche Normierung, mit der das „eigentliche“ Berufs- (hier: Weiterbildungs-)Recht überlagert wird; das BSG hat diesbezüglich im Übrigen keine verfassungsrechtlichen Bedenken, vgl. BSG SozR 3-2500 § 135 Nr. 16, S. 85. 54 „Vereinbarung von Qualifikationsvoraussetzungen gemäß § 135 Abs. 2 SGB V zur Durchführung von Untersuchungen der Kernspintomographie“ v. 10. Februar 1993. 49 50
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gesetz angeführt werden. Das BSG hat zutreffend festgestellt, dass die KernspinVereinbarung für die Orthopäden, die von der MRT-Diagnostik ausgeschlossen waren, einen Eingriff in ihre grundrechtlich gewährte Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG) darstellte. Die weitere verfassungsrechtliche Bewertung dahingehend, dass es sich dabei nicht um einen statusrelevanten Eingriff handelte, war schon nach der damaligen Rechtslage unzutreffend und letztlich widersprüchlich, da damit den Orthopäden eine Betätigung im Rahmen ihrer fachärztlichen Befugnis55 grundsätzlich versagt wurde, zumal im Bereich der Diagnose chirurgisch relevanter Gegebenheiten, die man im Grunde den Kernaufgaben der Orthopädie zurechnen muss. Abgesehen davon ist diese Rechtsprechung deshalb aus zwei Gründen unbeachtlich: Erstens – nach der heutigen Rechtslage umfasst das (Facharzt-)Gebiet „Orthopädie (und Unfallchirurgie)“ auch diagnostische Tätigkeiten, und zwar ohne gerätespezifische Einschränkungen; auch diese Tätigkeit ist wesentlich und prägend für dieses Gebiet. Damit kann angesichts dieser neuen berufsrechtlichen Rechtslage nicht mehr die Rede davon sein, dass die Kernspin-Vereinbarung an das Berufsrecht wegen der wechselseitigen Verzahnung anknüpft; vielmehr sind diese Materien nicht nur grundsätzlich entkoppelt,56 sondern auch konkret besteht ein deutlicher Unterschied zwischen der berufsrechtlichen Befugnis einerseits und der vertragsarztrechtlichen Zulässigkeit andererseits. Und – zweitens –kann diese BSG-Rechtsprechung nicht mehr auf diejenigen Ärzte bezogen werden, die nur Privatpatienten behandeln und deshalb allein den landesrechtlichen Regelungen und nicht zusätzlich auch den bundesrechtlichen Vorschriften57 unterworfen sind. Diese gespaltene Rechtslage resultiert letztlich aus der Kompetenzordnung des GG.58 c) Zwischenergebnis Angesichts dieses Befundes kann man die Verfassungsmäßigkeit des BayHKaG im Hinblick auf die – praktisch fehlenden – Vorgaben für die Zusatz-Weiterbildung wohl in Frage stellen. Das Fehlen einer verfassungsrechtlich einwandfreien Ermächtigungsgrundlage würde insoweit zur Fehlerhaftigkeit des Weiterbildungsrechts führen; nach allgemeiner Rechtsüberzeugung sind fehlerhafte Normen zugleich nichtig und somit von Rechts wegen unbeachtlich. Vgl. dazu Seewald, VSSR 2008, 131. So an sich auch das BSG, a. a. O., S. 91: Vertragsärztliche „Qualifikationsanforderungen und Fachgebietsgrenzen sind grundsätzlich unabhängig voneinander“, mit Hinweis auf BSG SozR 3-2500 § 135 Nr. 35 S. 8. 57 Des SGB V und des daraus abgeleiteten „sekundären“, untergesetzlichen Rechts, so z. B. die Kernspin-Vereinbarung. 58 Vgl. Clemens, in: Umbach / Clemens, GG, Bd. I, 2002, Anh. zu Art. 12 Rn. 41. 55 56
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3. Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz a) Zuordnung MRT zum Gebiet der Radiologie Dass der „Erwerb von Kenntnissen, Erfahrungen und Fertigkeiten in . . . Magnetresonanzverfahren und Spektroskopie einschließlich ihrer Befundung“ und – als „definierter Untersuchungs- und Behandlungsverfahren“ . . . „Magnetresonanztomographien, z. B. an Hirn, Rückenmark, Nerven, Skelett, Gelenken, . . . Becken, . . .“ dem „Gebiet Radiologie“ zugeordnet ist, begegnet keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Gegenstand einer diesbezüglichen verfassungsrechtlichen Prüfung könnte lediglich die Frage sein, ob eine derartige Gebietsfestlegung, die allein zu diagnostischen Tätigkeiten berechtigt,59 als zulässige Grundrechtsbeschränkung gewertet werden kann. Für Radiologen dürfte sich diese Frage wohl nicht ernsthaft stellen, da diese Befugnis in den Kernbereich ihres Gebietes fällt und nicht als berufliche Beschränkung bewertet werden kann. Für Orthopäden hat sich die frühere Problematik mit dem neuen Weiterbildungsrecht erledigt. Danach besteht keine Einschränkung der generell gegebenen Befugnis zur „Erkennung . . . von chirurgischen Erkrankungen“60 unter gerätespezifischen Gesichtspunkten oder Methoden. Dass die u. U. mögliche Versagung oder die Erschwerung des Erwerbs der Zusatz-Qualifikation und damit einer besonderen Anerkennung (mit insbesondere auch vertragsarztrechtlichen Konsequenzen) für Orthopäden verfassungsrechtlich bedenklich ist, steht auf einem anderen Blatt; dieses Problem ergibt sich aus der Ausgestaltung der Zusatz-Weiterbildung im Einzelnen.61 b) Einführung der Zusatz-Weiterbildung MRT – fachgebunden Nach der derzeitigen Ausgestaltung dieser Zusatz-Weiterbildung handelt es sich um Inhalte, die „integraler Bestandteil der Weiterbildung zum Facharzt für Radiologie“ sind.62 Damit ist gesagt, dass eine partielle Radiologie-Facharzt-Kompetenz erreicht werden soll; der Facharzt, der die zusätzliche Qualifikation erwirbt, erhält damit eine Kompetenz, die ihn bezogen auf diese gerätespezifisch ausgerichtete Diagnostik dem Radiologen gleichstellt. 59 Radiologie, Pathologie, Laboratoriumsmedizin, vgl. dazu z. B. BSGE 68, 190 (193) = SozR 3-2500 § 95 Nr. 1 S. 4 m. w. N. sowie Clemens (Fn. 58), Anhang zu Art. 12 Rn. 126 m. w. N. 60 Siehe „Definition“ sowie „Weiterbildungsinhalt“, 1. Spiegelstrich, Ziff. 6, sowie „Weiterbildungsinhalt“ Ziff. 6.5, Abschnitt B Muster-WBO 2003. 61 Vgl. dazu unten II. 3. c). 62 Muster-WBO 2003, Abschnitt C, MRT – fachgebunden.
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Bei der verfassungsrechtlichen Prüfung dieser Regelung ist zu unterscheiden zwischen den Wirkungen, die dieses Weiterbildungsrecht einerseits gegenüber dem Orthopäden, andererseits gegenüber dem Radiologen erzeugt. Für beide Arztgruppen sind diese Vorschriften beruflich relevant; die Auswirkungen sind jedoch ganz unterschiedlich. c) Betroffenheit der Orthopäden Wie bereits erwähnt, bringt die Zusatz-Weiterbildung MRT – fachgebunden – für Orthopäden keine unmittelbare berufsrechtliche Beeinträchtigung mit sich. Es handelt sich hierbei eindeutig um Regelungen der Berufsausübung; insoweit sind alle Orthopäden thematisch betroffen, da ihnen ihre Facharztqualifikation ein entsprechendes „Aufsatteln“ dieser Zusatz-Qualifikation ermöglicht. Allerdings wird damit ihre nach dem neuen, geltenden Weiterbildungsrecht eingeräumte Befugnis zur MRT-gestützten Diagnostik nicht eingeschränkt. Eine Beeinträchtigung könnte allenfalls darin gesehen werden, dass damit Orthopäden mit (berufsrechtlich) gleichen Befugnissen, jedoch mit rechtlich unterschiedlicher „Kompetenz“63 geschaffen werden, die z. B. im Wettbewerb um Patienten i.d.R. unterschiedliche Chancen haben werden. Damit ist an einen Schutz der Orthopäden ohne Zusatz-Weiterbildung vor Konkurrenten mit einer derartigen zusätzlichen Qualifikation zu denken. Das BVerfG hat sich zu dieser Problematik geäußert. Der Konkurrenzschutz von Personen, die bereits im Beruf tätig sind, kann nach allgemeiner Meinung niemals einen Eingriff in das Recht der freien Berufsfreiheit derjenigen Person rechtfertigen, die einen derartigen Beruf anstreben.64 Zwar geht es bei dem Erwerb einer Zusatz-Weiterbildung nicht um die Wahl eines neuen Berufs; in abgeschwächter Form gilt diese Erwägung aber auch für die berufliche Qualifizierung. Ein vergleichbarer „Schutz vor Wettbewerb kann allenfalls dann geboten sein, wenn sonst die Gemeinwohlbelange gefährdet würden, denen die Zugangsschranken oder Berufsausübungsregelungen eines Berufes gerade zu dienen bestimmt sind“.65 Durch die Eröffnung einer Zusatz-Qualifikation kann gerade nicht das Gemeinwohl gefährdet werden, so dass auch dieser Gesichtspunkt nicht trägt. Weiterhin hat das BVerfG allgemein festgestellt, dass „gegen . . . Veränderungen des Marktgeschehens . . . das Grundrecht der Berufsfreiheit nicht (schützt), selbst wenn sie vom Staat ausgehen“.66 63 Dieser Begriff im Sinne des Weiterbildungsrechts verstanden, vgl. § 2 Abs. 2 S. 2, 3 Muster-WBO 2003 sowie die Erläuterungen der Bundesärztekammer und der baden-württembergischen (Landes-)Ärztekammer, oben bei I. 64 BVerfGE 7, 377 (408); Bezugnahme in BVerfGE 19, 330 (343). 65 BVerfGE 97, 12 (31), mit Hinweis auf BVerfGE 16, 147; 38, 61; 81, 70. 66 BVerfGE 98, 218 (259), mit Hinweis auf BVerfGE 37, 1 (17 f.).
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Schließlich hat das BVerfG festgestellt, dass „der Konkurrenzschutz, der niemals Zweck einer Zulassungsregelung sein darf . . . , . . . auch als Nebenwirkung vermieden werden (muss), wo er nicht wirklich unvermeidlich ist“.67 Somit ist die Einführung der Zusatz-Weiterbildung MRT – fachgebunden – in ihren berufsrechtlichen Wirkungen verfassungsrechtlich nicht bedenklich. Problematisch sind Regelungen (z. B. des Vertragsarztrechts in der KernspinVereinbarung) oder Verhaltensweisen (z. B. von privaten Krankenversicherern), die ihrerseits an das Weiterbildungsrecht anknüpfen und dabei in einer anderen rechtlichen Ebene die Berufsausübung insbesondere von Vertragsärzten regeln.68 Damit wird jedoch nicht Weiterbildungsrecht fragwürdig, sondern diejenigen Regelungen (oder privatrechtlichen „Maßnahmen“), die unmittelbar und „gezielt“ Orthopäden ohne Zusatz-Qualifikation von beruflicher Tätigkeit ausschließen, obwohl diese Ärzte berufsrechtlich hierzu befugt sind. d) Betroffenheit der Radiologen Die Interessen von Radiologen sind im Hinblick auf die Zusatz-Weiterbildung MRT – fachbezogen – in verschiedener Weise berührt; soweit dadurch in verfassungswidriger Weise in eine ihrer grundrechtlichen Positionen eingegriffen wird, würde das Folgerungen für die Bewertung dieser Regelungen der Muster-WBO 2003 haben. aa) Das einschlägige Grundrecht: Art. 12 Abs. 1 GG – Berufsfreiheit Berührt ist die Berufsfreiheit der Radiologen; dabei muss man die beiden wesentlichen Aspekte von Berufsfreiheit berücksichtigen, nämlich zum einen die ärztliche Tätigkeit selbst und zum anderen das dabei ausgeübte Verhalten als Wirtschaftssubjekt; dies ist integraler Bestandteil der beruflichen Tätigkeit.69 Die Einführung der Zusatz-Weiterbildung MRT – fachgebunden – ändert nichts an der Befugnis zur Vornahme entsprechender Untersuchungen durch Radiologen; insoweit sind nicht einmal auf die ärztliche Tätigkeit bezogene Interessen berührt. Damit ist zugleich auch gesagt, dass die Radiologen infolge der durch das Weiterbildungsrecht eröffneten Möglichkeit anderer Fachärzte zu „teilradiologischen“ Tätigkeiten, z. B. auch der Orthopäden, lediglich in ihren wirtschaftlichen Interessen betroffen sind; und damit stellt sich die Frage, ob und in welcher Weise diese Interessen verfassungsrechtlichen Schutz genießen. BVerfGE 11, 168 (188 f.), mit Hinweis auf BVerfGE 7, 377 (408). Mit gleicher Zielrichtung wie die gesetzliche Krankenversicherung in der Kernspin-Vereinbarung scheinen sich auch die privaten Krankenversicherer bewegen zu wollen, vgl. dazu auch LG Mannheim NJW-RR 2007, 1426 = VersR 2007, 1517. 69 Unstr., vgl. für alle BVerfGE 7, 377 (397) – Beruf als wirtschaftliche Grundlage der Lebensführung, std. Rspr., zuletzt BVerfGE 111, 10 (28). 67 68
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Dass auch insoweit, als es um wirtschaftliche Interessen im Beruf geht, Art. 12 Abs. 1 GG einschlägig ist, wurde bereits festgestellt. Fraglich ist weiterhin, welcher Stufe der Berufsfreiheit dieses Interesse grundrechtsdogmatisch zuzurechnen ist. Dabei ist vorauszuschicken, dass nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG das Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG entgegen seinem Wortlaut70 als einheitliches Grundrecht zu verstehen ist, das drei Stufen enthält; nach diesem grundrechtsdogmatischen Modell sind auch die Wahlrechte des Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG einschränkbar, allerdings unter bestimmten, vom BVerfG ebenfalls festgelegten Voraussetzungen, die jeweils diesen „Stufen“ zuzuordnen sind.71 Hinsichtlich der Berufsausübung bleibt es auch nach dieser Rechtsprechung bei dem Regelungsvorbehalt des Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG. Durchgehend72 sind (wie bei allen sonstigen Grundrechtseingriffen auch) die Grundsätze des rechtsstaatlichen „Übermaßverbots“, neben den Grundsätzen der „Geeignetheit“ und „Erforderlichkeit“ insbesondere das Gebot der „Verhältnismäßigkeit“ (Angemessenheit, Zumutbarkeit), zu beachten.73 Anerkannt ist in der Rechtsprechung des BVerfG auch, dass die Befugnis des Gesetzgebers oder der Verwaltung zur Regelung der Berufsausübung umso begrenzter ist, je mehr davon die Berufswahl berührt ist.74 „Auch eine Berufsausübungsregelung kann . . . in ihrer wirtschaftlichen Auswirkung einer Zulassungsbeschränkung nahe kommen und damit die Freiheit der Berufswahl beeinträchtigen. Das ist jedoch nicht schon dann anzunehmen, wenn die Regelung den aus der Ausübung eines Berufs erzielten Gewinn soweit mindert, dass ein einzelner Unternehmer sich zur Aufgabe seines bisherigen Berufs veranlasst sieht. Eine Verletzung des Rechts auf freie Berufswahl ist nur anzunehmen, wenn die betroffenen Berufsangehörigen in aller Regel und nicht nur in Ausnahmefällen wirtschaftlich nicht mehr in der Lage sind, den gewählten Beruf ganz oder teilweise zur Grundlage ihrer Lebensführung oder – bei juristischen Personen – zur Grundlage ihrer unternehmerischen Erwerbstätigkeit zu machen.“75 Diese Rechtsprechung ist später bestätigt worden: „Die Freiheit der Berufswahl (kann) . . . dann beeinträchtigt sein, wenn das Verbot (einzelner Tätigkeiten) wegen seiner Auswirkungen die sinnvolle Ausübung . . . (eines) Berufs faktisch unmöglich machen würde.“76 70 Dieser unterscheidet zwischen den ausdrücklich nicht einschränkbaren Grundrechten auf Wahl des Berufs, der Ausbildungsstätte und des Arbeitsplatzes, vgl. Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG, und dem unter einem Regelungsvorbehalt stehenden Recht auf freie Berufsausübung. 71 Std. Rspr., seit BVerfGE 7, 377 – Apotheken-Urteil. 72 Und zusätzlich zu der gleichsam tatbestandsmäßigen Differenzierung der berufsbezogenen Aktivitäten und den von der Rechtsprechung des BVerfG festgelegten generellen Voraussetzungen für die Zulässigkeit von Beeinträchtigungen auf diesen Stufen. 73 BVerfGE 7, 377 (405 ff.); besonders deutlich in BVerfGE 30, 292 (316 f.), std. Rspr., Bezugnahme z. B. in BVerfGE 51, 193 (208). 74 BVerfGE 7, 377 (402); vgl. auch BVerfGE 92, 140 (151). 75 BVerfGE 30, 292 (313 f.), unter Hinweis auf BVerfGE 13, 181 (187); 16, 147 (165). 76 BVerfGE 61, 291 (309), mit Hinweis auf BVerfGE 36, 47 (48 f.).
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bb) Mittelbare Betroffenheit Etwas Weiteres ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen. Die Einführung der Zusatz-Weiterbildung MRT – fachgebunden – ist keine Regelung, die sich an die Radiologen richtet. Demnach handelt es sich unter dem Gesichtspunkt der grundrechtlich gewährleisteten Berufsfreiheit nicht um eine direkte, unmittelbare Betroffenheit dieser Fachärzte. Vielmehr liegt eine mittelbare Betroffenheit der Radiologen vor. Das bedeutet allerdings nicht, dass angesichts dieser Nebenwirkungen Radiologen nicht gleichwohl grundsätzlich eine Beschränkung ihrer Berufsfreiheit geltend machen können. „Der Schutz des Einzelnen vor Beschränkungen seiner freien Berufswahl wäre . . . nur unvollkommen gewährleistet, wollte man nur solche Vorschriften am Maßstab des Art. 12 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich prüfen, die die berufliche Betätigung unmittelbar zum Gegenstand haben. Der besondere Freiheitsraum, den Art. 12 Abs. 1 GG sichern will, kann auch durch Vorschriften berührt werden, die infolge ihrer tatsächlichen Auswirkungen geeignet sind, die Freiheit der Berufswahl mittelbar zu beeinträchtigen, obwohl sie keinen unmittelbar berufsregelnden Charakter tragen.“77 Betrachtet man die Betroffenheit von Radiologen nach diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben, so zeigt das Folgendes: Grundsätzlich ist diesen Fachärzten eine Berufung auf Art. 12 GG, auch im Hinblick auf einen damit bewirkten Schutz vor Konkurrenz z. B. seitens der Orthopäden, nicht versagt. Allerdings müssen die Auswirkungen der für die Orthopäden geltenden Regelungen des beruflichen Weiterbildungsrechts auf die tatsächliche wirtschaftliche Situation genau betrachtet werden. Dabei ist zunächst die neue Rechtslage im Weiterbildungsrecht insoweit ins Auge zu fassen, als dadurch Orthopäden generell berufsrechtlich die Befugnis zusteht, in ihrem (Fach-)Gebiet auch die erforderliche Diagnostik zu betreiben, und zwar ohne Beschränkung auf bestimmte Geräte. Davon sind Radiologen aus zwei Gründen nur in geringem Umfang berührt. Erstens – ohne eine entsprechende Zusatz-Weiterbildung und eine entsprechende Anerkennung kann sich diese (berufsrechtliche) Befugnis unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten nur unwesentlich auswirken; denn für eine vertragsarztrechtliche Befugnis wird das mit aller Wahrscheinlichkeit auch künftig nicht ausreichen. Und auch die Abrechenbarkeit mit Privatpatienten ist möglicherweise zumindest faktisch erschwert angesichts einer letztlich allerdings nicht zutreffenden Auslegung der GOÄ, die den Unterschied zwischen Privatarztrecht und Vertragsarztrecht im Ergebnis beseitigen will.78 77 BVerfGE 13, 181 (185 f.); seither std. Rspr., Bezugnahme zuletzt BVerfGE 110, 274 (288); vgl. auch BVerfGE 110, 370 (393). 78 Vgl. dazu z. B. LG Mannheim NJW-RR 2007, 1426.
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Zweitens – den Orthopäden geht es in erster Linie nicht darum, den Radiologen Konkurrenz im Hinblick auf den Einsatz von MRT-Großgeräten zu machen. Vielmehr geht die Tendenz in der orthopädischen Diagnostik dahin, Geräte mit vergleichsweise geringer Feldstärke anzuschaffen und in der Praxis einzusetzen, also Geräte, die – jedenfalls bislang – in den radiologischen Praxen üblicherweise nicht verwendet werden. Diese Entwicklung in der gerätegestützten Diagnostik kann nicht unter Berufung auf einen Art. 12 Abs. 1 GG-basierten Berufsschutz von Radiologen verhindert werden. Es handelt sich hier um Veränderungen des Marktgeschehens; selbst wenn diese vom Staat ausgingen, könnte das Grundrecht der Berufsfreiheit davor keinen Schutz bieten.79 cc) Eingeschränkter Grundrechtsschutz bei lediglich „faktischen Eingriffen“ In diesem Zusammenhang ist zusätzlich Folgendes zu berücksichtigen: In ständiger Rechtsprechung ist – im Hinblick auf die indirekten, mittelbaren (faktischen) Beeinträchtigungen der Berufsfreiheit – auch stets festgestellt worden, dass Art. 12 Abs. 1 GG nur vor solchen Beeinträchtigungen schützt, die gerade auf die berufliche Betätigung bezogen sind. Selbst wenn also eine staatliche oder staatlich legitimierte Regelung oder ihre Anwendung „faktisch“ Rückwirkungen auf die Berufstätigkeit entfaltet, liegt ein Eingriff in das Grundrecht der Berufsfreiheit nur dann vor, wenn diese Regelung (gegen deren Erlass oder Anwendung sich der Einzelne wendet) „berufsregelnde Tendenz“ hat.80 In der hier zu untersuchenden Konstellation fehlt es also sowohl an der staatlichen Veranlassung als auch an dieser „berufsregelnden Tendenz“, so dass eine Berufung auf Art. 12 Abs. 1 GG nicht möglich ist. Freilich führt diese Überlegung zu einem weiteren Grundrecht; hier könnte immerhin Art. 2 Abs. 1 GG berührt sein. Auch dies ist jedoch nicht der Fall. Zwar genießt nach dieser Vorschrift auch die wirtschaftliche Betätigung grundrechtlichen Schutz, als Ausfluss der allgemeinen Handlungsfreiheit.81 Die wirtschaftliche Handlungsfreiheit wird jedoch nur durch Maßnahmen betroffen, die auf Beschränkungen wirtschaftlicher Entfaltung sowie Gestaltung, Ordnung oder auch Lenkung des Wirtschaftslebens angelegt sind oder sich in diesem Sinne auswirken.82 Davon kann hier jedoch nicht die Rede sein. Die dargelegte Entwicklung in der gerätegestützten Diagnostik insbesondere seitens der Orthopäden lässt die wirtschaftliche Entscheidungsfreiheit der Radiologen, auf deren wirtschaftliche Betäti79 80 81 82
BVerfGE 98, 218 (259). BVerfGE 98, 218 (258), unter Hinweis auf BVerfGE 95, 267 (302) m. w. N. Vgl. BVerfGE 91, 207 (221) m. w. N. Vgl. bereits BVerfGE 50, 290 (366); 91, 207 (221).
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gung diese neue Entwicklung möglicherweise zurückwirkt, unberührt. Die Radiologen sind nicht gehindert, sich unter Abwägung der damit jeweils verbundenen wirtschaftlichen Chancen und Risiken für oder gegen eine Erweiterung ihres Tätigkeitsfeldes im Hinblick auf bestimmte Geräte zu entscheiden. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass Art. 2 Abs. 1 GG einem Grundrechtsträger keinen Anspruch darauf verleiht, für das Ergebnis wirtschaftlicher Betätigung auch einen Abnehmer zu finden.83 Dass auch Art. 12 Abs. 1 GG nicht den wirtschaftlichen Erfolg gewährleistet, ist schließlich auch in der neuesten Rechtsprechung bestätigt worden.84 Wenn überhaupt auf Grund dieser Erwägungen an einen grundrechtlichen Schutz zu denken ist, dann müssten die Wirkungen für Radiologen dergestalt sein, dass deren Berufswahl generell praktisch entwertet würde, dass also eine berufliche Tätigkeit als Radiologe allgemein nicht mehr möglich wäre. Selbst unter dieser Voraussetzung wäre gleichwohl eine Rechtfertigung – wiederum angenommen, dass diese Wirkung auf staatlichem Handeln beruht – möglich, und zwar aus übergeordneten Gründen des Gemeinwohls. Dieser Überlegung braucht hier jedoch nicht im Einzelnen nachgegangen werden; denn weder beruht diese Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Interessen von Radiologen auf staatlichem oder staatlich veranlasstem Handeln, noch – und das ist hier letztlich in gleicher Weise entscheidend – kann davon die Rede sein, dass Radiologen dieser Facharzttätigkeit generell nicht mehr nachkommen können angesichts der geschilderten Entwicklung im Hinblick auf neue Geräte für die MRT und deren Verwendung in der orthopädischen Praxis. dd) Die Entscheidung des VGH Baden-Württemberg In diesem Zusammenhang ist eine Entscheidung des VGH Baden-Württemberg zu erwähnen, die zwar noch unter der Geltung der alten Muster-WBO ergangen ist, jedoch auch grundsätzliche Erwägungen enthält, die möglicherweise auch heute noch Bedeutung haben. Mehrere Radiologen hatten vor dem VGH Baden-Württemberg geltend gemacht, dass die Einführung einer „Fachkunde-Magnetresonanztomographie“ zu einer ungeeigneten und unzulässigen Aufsplitterung der Fachbereiche führe, und dass dadurch vor allem der Fachbereich Radiologie in seinem Kernbestand angegriffen werde. Vor dieser Einführung der „Fachkunde MRT“ seien Radiologen allein zur Abrechnung von MRT-Untersuchungen berechtigt gewesen; mit der Öffnung dieser Tätigkeiten für andere Fachärzte würde den Radiologen ihre wirtschaftliche Lebensgrundlage entzogen werden.85 83 84 85
BVerfGE 98, 218 (249). BVerfGE 106, 275 (299). VGH BW DÖV 2004, 755 = MedR 2004, 451 = Juris Rn. 103.
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Mit dieser Argumentation wurde eine Überlegung des BVerfG in dessen Facharztbeschluss aufgegriffen. Das Gericht hatte dort Folgendes festgestellt: Auf der Grundlage der einheitlichen ärztlichen Berufsausbildung stellt die Betätigung (als Facharzt) dem Arzt besondere Aufgaben, führt ihm einen besonderen Patientenkreis zu und eröffnet ihm die besonderen wirtschaftlichen Chancen, die mit der fachärztlichen Tätigkeit verbunden sind.86 Die Begrenzung der Facharzttätigkeit auf sein jeweiliges Gebiet sei „dem Facharzt auch zuzumuten, wenn die Facharztbereiche vom fachlich-medizinischen Standpunkt aus sachgerecht abgegrenzt sind und angenommen werden kann, dass der Facharzt in der auf sein Fachgebiet beschränkten Tätigkeit eine ausreichende wirtschaftliche Lebensgrundlage findet“.87 Der VGH Baden-Württemberg hatte daraus folgende Schlussfolgerung gezogen: Die Ärzte erlangten infolge ihrer Weiterbildung eine besondere Rechtsstellung; es handele sich um einen Marktbereich, in dem der Staat die wirtschaftlichen Chancen selber regle; die Erlaubnis an bestimmte Ärzte, Tätigkeiten vorzunehmen, die zuvor einer anderen Gruppe als Privileg vorbehalten waren, sei eine nachteilige Einwirkung auf deren Marktanteil und damit auf deren Berufsausübungsfreiheit.88 Daraus hat der VGH Baden-Württemberg ein Abwehrrecht der Radiologen gegen Rechtsänderungen entwickelt, durch die ihre Stellung gegenüber anderen Ärzten im Wettbewerb nachteilig verändert wird, sofern diese Rechtsänderungen die besondere Rechtsstellung des weitergebildeten Facharztes missachten.89 Im Ergebnis hatte der VGH Baden-Württemberg jedoch einen Eingriff in Rechtspositionen der Radiologen verneint deshalb, weil es den anderen Fachärzten nach Einführung der Fachkunde zwar erlaubt sei, MRT-Untersuchungen vorzunehmen und abzurechnen, nicht aber, mit dieser entsprechenden Kompetenz auch nach außen zu werben. Auf die übrigen Argumente der Radiologen ging dieses Urteil nicht ein. Die Überlegung des VGH Baden-Württemberg ist insoweit von Interesse, als mit der Einführung der Zusatz-Weiterbildung MRT – fachgebunden – der Erwerb einer Zusatzbezeichnung vorgesehen ist, mit der die entsprechend weitergebildeten Ärzte auch werben können. Man darf vermuten, dass – auf der Grundlage dieser neuen Rechtslage – der VGH Baden-Württemberg möglicherweise dem Anliegen der Radiologen stattgegeben hätte. Deshalb ist der gedankliche Ansatz des VGH Baden-Württemberg einer kritischen Würdigung zu unterziehen. Bereits die Annahme des Gerichts, ein Facharzt erwerbe mit der Weiterbildung ein „Abwehrrecht“ gegen Rechtsänderungen, die seine einmal erworbene wirtBVerfGE 33, 125, Juris Rn. 112. BVerfGE 33, 125, Juris Rn. 128 = NJW 1972, 1508. 88 VGH BW DÖV 2004, 755, Juris Rn. 135 = MedR 2004, 451 mit Verweisung auf VGH BW, AZ: 9 S 2320 / 00, Juris Rn. 119 = NVwZ-RR 2002, 42. 89 VGH BW DÖV 2004, 755, Juris Rn. 135. 86 87
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schaftliche Stellung beeinträchtigten, ist allenfalls unter extremen tatsächlichen Auswirkungen vertretbar. Die Rechtsprechung des BVerfG zeigt, dass der Verlust einer monopolartig zugewiesenen Befugnis (wie sie das frühere Weiterbildungsrecht vorsah) nicht gleichsam automatisch ein Abwehrrecht gegen derartige Rechtsänderungen sowie gegen dadurch in ihren Interessen benachteiligte Personen begründet. Es wurde oben dargelegt, dass ein derartiger „mittelbarer“ Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit durch Eröffnung einer Konkurrenzsituation nicht generell als verfassungsrechtlich bedenklich qualifiziert werden kann. Vielmehr ist zu bedenken, dass die Zulassung weiterer, in gleicher Weise qualifizierter Ärzte zu bestimmten diagnostischen Tätigkeiten die Wettbewerbsgleichheit nicht verringert, sondern erst herbeiführt. Das Grundgesetz ist tendenziell wettbewerbsfreundlich angelegt; eher bedarf die Erhaltung und rechtliche Perpetuierung eines Monopols der Rechtfertigung als die Eröffnung von Wettbewerb. Soweit sich der VGH Baden-Württemberg in seiner Entscheidung auf Rechtsprechung oder sonstige Nachweise bezieht, ergibt sich nichts Anderes; diese Nachweise beziehen sich lediglich auf Fälle, in denen der Staat durch Subventionen oder Informationen verzerrend in die Wettbewerbsgleichheit eingegriffen hat. Somit ist bereits der gedankliche Ansatz des Gerichtes im Hinblick auf ein angebliches Abwehrrecht der Radiologen gegen die Einführung einer Zusatz-Weiterbildung MRT – fachgebunden – nicht zutreffend, auch nicht überzeugend begründet. ee) Schlussfolgerung aus dem Facharzt-Beschluss Möglicherweise lässt sich aus den Überlegungen, die das BVerfG in seinem Facharzt-Beschluss angestellt hat, ein Abwehrrecht von Radiologen gegenüber Orthopäden herleiten. Das BVerfG hat zunächst die Entscheidung, sich als Facharzt zu betätigen, zwar als eine Entscheidung auf der Ebene der Berufsausübung qualifiziert; diese enthalte allerdings Elemente einer Berufswahl i. S. d. Art. 12 Abs. 1 GG.90 Die Grundlage dieser Entscheidung sei nach wie vor die einheitliche ärztliche Berufsausübung; dem Facharzt würde aber ein besonderer Patientenkreis zugeführt; es würden ihm besondere wirtschaftliche Chancen eröffnet, die mit der fachärztlichen Tätigkeit verbunden seien – und deshalb sei dieser Entschluss, sich zum Facharzt auszubilden und die ärztliche Tätigkeit künftig auf das gewählte Fachgebiet zu beschränken, in aller Regel auch auf Dauer angelegt.91 Das BVerfG hat einen Zusammenhang zwischen der (im Übrigen nach wie vor geltenden) Begrenzung der Facharzttätigkeit auf das eigene Fach (in heutiger Terminologie: auf das eigene Gebiet) mit „vernünftigen Gründen des Gemeinwohls“ 90 91
Vgl. BVerfGE 33, 125 (126). BVerfGE 33, 125, (161 f.).
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gerechtfertigt; dieser Rechtfertigung bedurfte es angesichts der Qualifizierung dieser Begrenzung als Einschränkung der freien Berufsausübung.92 Weiterhin hat das BVerfG in diesem Zusammenhang eine Zumutbarkeitsgrenze aufgestellt, die im Rahmen dieses Rechtfertigungsgrundes zu prüfen ist. Diese Zumutbarkeit besteht aus zwei Elementen: Erstens – die Abgrenzung der Bereiche (der Facharzt-Gebiete) müsse vom fachlich-medizinischen Standpunkt aus sachgerecht sein; und – zweitens – der Facharzt müsse in der auf sein Fachgebiet beschränkten Tätigkeit eine ausreichende Lebensgrundlage finden.93 Diese zweiteilige Zumutbarkeitsgrenze ist in späteren Entscheidungen bestätigt worden.94 Damit hat das BVerfG ein spezifisches wirtschaftliches Interesse des praktizierenden Facharztes festgestellt: Solange der Arzt an sein Gebiet strikt gebunden ist, muss auch sein Interesse an angemessenen Einkünften berücksichtigt werden. Eine Beeinträchtigung dieses Interesses durch einen Eingriff, der auf staatlicher oder staatlich veranlasster Tätigkeit beruht, ist dann – aber auch nur dann – unzumutbar, wenn dem Facharzt dadurch seine ausreichende Lebensgrundlage entzogen wird. So verstanden lässt sich aus dem Facharztstatus zwar kein grundrechtlich basiertes Abwehrrecht auf Bestand des wirtschaftlichen Status konstruieren; verfassungsrechtlich gewährleistet ist jedoch ein Interesse, das im Rahmen einer berufsrechtlichen Regelung berücksichtigt werden muss. Somit ist auch an diesen Maßstäben die Einführung der Zusatz-Weiterbildung MRT – fachgebunden – zu prüfen. Als Erstes ist hierzu festzustellen, dass diese Wirkung (Entzug einer ausreichenden Lebensgrundlage) generell eintreten muss. Das BVerfG hat das folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: „Für die Beurteilung (der Zumutbarkeit) ist nicht die Interessenlage des Einzelnen maßgebend; vielmehr ist eine generalisierende Betrachtungsweise geboten, die auf den betreffenden Wirtschaftszweig insgesamt abstellt . . . Die Möglichkeit, daß eine gesetzliche Maßnahme im Einzelfall zur Existenzgefährdung oder gar -vernichtung von Betrieben führen kann, rechtfertigt es noch nicht, sie unter dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit von Verfassungs wegen zu beanstanden.“95 Das Gericht hatte dabei Bezug genommen auf eine frühere Entscheidung, die sich ebenfalls mit der Berücksichtigung individueller Interessenlagen bei genereller Regelung befasst hatte; dort hatte das BVerfG ausgeführt: „Wird die Berufsausübung durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes durch andere Rechtsvorschriften geregelt (Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG) und richtet sich die Verfassungsbeschwerde unmittelbar oder mittelbar gegen diese Rechtsnormen, so müssen bei Vgl. BVerfGE 33, 125 (167). BVerfGE 33, 125 (167). 94 BVerfGE 106, 181 (196) = SozR 3-2500 § 95 Nr. 35 S. 175; zuletzt BVerfG SozR 4-2500 § 135 Nr. 2, S. 9, Rn. 16. 95 BVerfGE 70, 1 (30). 92 93
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der Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auch das Wesen und die Wirkungsweise der rechtsetzenden Staatstätigkeit angemessen berücksichtigt werden. Durch Gesetze im materiellen Sinn wird regelmäßig eine Vielzahl von Personen betroffen; die individuelle Interessenlage des Beschwerdeführers kann nicht ohne weiteres zum Maßstab der dem Gemeinwohl insgesamt gegenüberzustellenden Einzelinteressen erhoben werden. Ein Gesetz, das die Berufsausübung regelt, ist vielmehr erst dann verfassungswidrig, wenn es bei der betroffenen Berufsgruppe generell das Übermaßverbot verletzt; es kann dann von jedem Angehörigen dieses Berufs mit dem Ziel angegriffen werden, die alle Angehörigen seines Berufs treffende Belastung zu beseitigen.“96 Weiterhin ist Folgendes zu bedenken: Aus den Vorgaben des BVerfG lässt sich nicht entnehmen, dass Fachgebiete überschneidungsfrei abgegrenzt sein müssen. Dies ergibt sich schon daraus, dass auch seinerzeit – als die Facharzt-Entscheidung gefallen ist – sowohl Radiologen als auch Orthopäden auf Grund ihrer Facharzt-Weiterbildung zur diagnostischen Radiologie im Gebiet Orthopädie befugt waren, so dass also auch schon damals keine exklusive, sich ausschließende Aufteilung erfolgte. Diese Überschneidung der Facharzt-Gebiete hat das BVerfG in seinem grundlegenden Facharzt-Beschluss so vorgefunden und nicht gerügt; auch in späteren Entscheidungen ist diesbezüglich keinerlei Problem gesehen worden.97 Damit ist also die Berücksichtigung wirtschaftlicher Interessen in der Konkurrenzsituation zwischen beispielsweise Radiologen und Orthopäden bereits traditionell relativiert; auch das BVerfG ist offensichtlich davon ausgegangen, dass es eine gleichsam normale Konkurrenzsituation auf diesem Markt der diagnostischen Tätigkeiten gibt; verfassungsrechtlich unzulässig ist demnach nur eine extreme Situation, in der Radiologen ihre wirtschaftliche Lebensgrundlage infolge einer staatlichen Maßnahme (und nicht auf Grund eines funktionierenden Wettbewerbs) entzogen wird. Die derzeitige und in naher Zukunft zu prognostizierende Situation rechtfertigt derartige Vorstellungen, bei denen Radiologen ihrer Existenzgrundlage beraubt werden, nicht. Die Zusatz-Weiterbildung MRT – fachgebunden – ist derzeit so ausgestaltet, dass wahrscheinlich nur wenige Nicht-Radiologen künftig in diesem Bereich in Konkurrenz zu den Radiologen treten werden. In dieser Weise hatte auch seinerzeit der Antragsgegner in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg98 argumentiert: „Die künftige Erhöhung dieser Zahl durch weitere Zugänge von Ärzten mit regulärer Weiterbildung nach der Weiterbildungsordnung werde sich in Grenzen halten, da die hohen qualitativen Anforderungen eine lediglich berufsbegleitende Weiterbildung un96 97 98
BVerfGE 30, 292 (315), mit Bezugnahme auf BVerfGE 14, 19 (24); 17, 269 (274 ff.). Ebenso Cramer / Henkel, MedR 2004, 563. AZ: 9 S 1751 / 02, Juris Rn. 109 = MedR 2004, 451.
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möglich machten. Ein Orthopäde beispielsweise, der die Fachkunde MRT erwerben möchte, müsste seine Praxis für zwei Jahre schließen. Dass dies für ihn eine Existenzvernichtung bedeuten würde, bedürfe keiner weiteren Darlegung.“ Somit ist – zumindest nach der derzeitigen Rechtslage im Weiterbildungsrecht – nicht ersichtlich, warum ausgerechnet in dieser Öffnung bezüglich einer bestimmten diagnostischen Methode den Radiologen die wirtschaftliche Lebensgrundlage entzogen werden sollte.99 Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Fachgebietsabgrenzung auch für die Radiologen abstrakt weiterhin als wirtschaftliche Lebensgrundlage ausreicht; der Punkt, an dem dies nicht mehr der Fall ist, ist mit der Einführung der Zusatz-Weiterbildung MRT – fachgebunden – nicht erreicht. Somit sind diesbezügliche verfassungsrechtliche Bedenken nicht angebracht. Schließlich ist etwas Weiteres in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen. Es wurde bereits erwähnt, dass bei der Konkurrenzlage zwischen Radiologen und Orthopäden im Bereich der MRT-basierten Diagnostik Änderungen zu beobachten sind, die nicht im Recht, sondern in der Entwicklung geeigneter Diagnose-Geräte ihre Grundlage haben. Es sind die kleinen MRT-Geräte, die für die typischen orthopädischen Untersuchungen besonders geeignet sind, in der Anschaffung und auch im Betrieb nicht die erheblichen Kosten wie Großgeräte verursachen und deshalb für die orthopädische Praxis in besonderer Weise geeignet sind. Es wäre äußerst merkwürdig,100 wenn derartige Fortentwicklungen in der Medizintechnik und somit in den Untersuchungsmethoden verhindert werden könnten unter Berufung auf Gedankengänge, die das BVerfG in seiner Rechtsprechung entwickelt und bestätigt hat. Wenn man diese Gedanken verständnisvoll würdigt, dann kann den durchaus nicht ganz auszuschließenden Gefahren für die Radiologie als diagnostisches Fach nicht dadurch begegnet werden, dass man dieses Fach rechtlich „versteinert“ und neuere, möglicherweise sinnvollere Entwicklungen dadurch blockiert, dass man einer derart versteinerten Rechtsposition eine verfassungsrechtliche Grundlage im Sinn eines Abwehrrechts zuordnet.
III. Ergebnis Die Zuordnung der Magnetresonanztomographie zum „Gebiet Radiologie“ steht nicht im Widerspruch zu den gesetzlichen Vorgaben des BayHKaG; insoweit ist der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde „Vorrang des Gesetzes“ vor untergesetzlichen Maßnahmen der Verwaltung beachtet. 99 Somit muss man es wohl als interessenbezogene Schwarzmalerei ansehen, wenn damit „der Anfang vom Ende der Radiologie als diagnostischem Fach“ heraufbeschworen wird, so Cramer / Henkel, MedR 1998, 565. 100 Und entspräche wohl letztlich spätmittelalterlichem Zunftdenken, das Richard Wagner in seinen „Meistersingern“ eindrucksvoll vorgeführt hat.
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Auch die Einführung der Zusatz-Weiterbildung MRT – fachgebunden – kollidiert nicht mit den gesetzlichen, vorrangigen Regelungen des BayHKaG. Rechtliche Bedenken bestehen im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit des BayHKaG selbst: Wenn man davon ausgeht, dass die Zusatz-Weiterbildung und die diesbezügliche Anerkennung „statusbildend“ im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind, müsste der Gesetzgeber hierzu inhaltliche Vorgaben gemacht haben, die bislang fehlen. Soweit das BayHKaG den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechend der vom Bundesverfassungsgericht im Facharzt-Beschluss entwickelten „Wesentlichkeitslehre“ nicht genügt, sind untergesetzliche Festlegungen ohne ausreichende gesetzliche Ermächtigung; sie sind somit fehlerhaft und unwirksam. Die derzeitige Gebietsabgrenzung durch die Muster-WBO 2003 und die Einführung der Zusatz-Weiterbildung MRT – fachgebunden – ist keinen verfassungsrechtlich durchgreifenden Bedenken ausgesetzt; somit ist die Zuordnung der MRT zum Gebiet der Radiologie als solche verfassungsgemäß. Gleiches gilt für die Einführung der fachgebundenen Zusatz-Weiterbildung MRT. Dabei ist allerdings – für die Rechtslage in Bayern – unterstellt, dass das BayHKaG selbst den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt.
Kindergrundfreibetrag und Verfassungsrecht Von Hartmut Söhn
I. Kinderfreibetrag und Kindergeld – Allgemeines Nach Zeitungsberichten1 will die SPD langfristig das System von Kindergeld und Kinderfreibeträgen umbauen. Als wünschenswertes Modell gilt die Einführung eines sog. Kindergrundfreibetrags. Unterhaltsaufwendungen der Eltern für ihre Kinder werden im deutschen Einkommensteuerrecht traditionell durch sog. Kinderfreibeträge berücksichtigt. Außerdem gibt es bereits seit 1935 ein staatliches Kindergeld. Bis 1974 wurden Eltern kumulativ durch den Abzug von Kinderfreibeträgen steuerlich entlastet und durch ein staatliches Kindergeld sozial gefördert („duales System des Kinder- oder Familienlastenausgleichs“). 1975 hat der Gesetzgeber das Nebeneinander von Kinderfreibeträgen und Kindergeld abgeschafft und durch ein einheitliches, vom Elterneinkommen unabhängiges, gestaffeltes Kindergeld ersetzt, ab 1983 jedoch wiederum ein duales System des Kinderlastenausgleichs eingeführt. 1996 erfolgte der bisher letzte Systemwechsel mit einer Abkehr vom dualen Kinderlastenausgleich und einem Wechsel zu einem sog. Optionsmodell des Familienleistungsausgleichs. Damit sollte in erster Linie die Steuerfreistellung des vollen sächlichen Kinderexistenzminimums erreicht werden. Denn das Bundverfassungsgericht hatte 1990 in mehreren Entscheidungen gefordert, dass bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei belassen werden müsse.2 Der 1996 eingeführte und auch heute geltende Familienleistungsausgleich sieht folgendermaßen aus: Während des laufenden Jahres wird monatlich ein Kindergeld gezahlt, das ab 1. Januar 2009 für das erste und zweite Kind einheitlich 164 A, für das dritte Kind 170 A und für jedes weitere Kind 195 A beträgt. Da Kinderfreibeträge, die die verfassungsrechtlich gebotene Steuerfreistellung des Existenzminimums eines Kindes sichern, während des laufenden Jahres unberücksichtigt bleiben, ist das Kindergeld im Zahlungsjahr je nach den Einkommensverhältnissen (der Höhe des Einkommens) der Eltern eine reine Steuervergütung, 1 Vgl. z. B. Süddeutsche Zeitung v. 18. September 2008, S. 5; Passauer Neue Presse v. 17. Juni 2008, S. 4. 2 BVerfGE 82, 60 (78); 82, 198 (207).
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teilweise eine Steuervergütung und teilweise eine staatliche Sozialleistung oder nur eine staatliche Sozialleistung. Genauer: Das Kindergeld ist ausschließlich eine Steuervergütung, soweit es der Höhe nach genau der steuerlichen Entlastung entspricht, die Eltern durch den Ansatz eines Kinderfreibetrags erhalten müssen. Ist das gezahlte Kindergeld im Einzelfall höher, ist es insoweit (teilweise) eine staatliche Sozialleistung. Bei Eltern ohne Einkommen ist das Kindergeld eine reine Sozialleistung. Allgemeiner ausgedrückt: Das Kindergeld dient während des laufenden Jahres primär der steuerlichen Freistellung eines Einkommensbetrags in Höhe des Kinderexistenzminimums. Eine Sozialleistung stellt es nur dann und insoweit dar, als es über diese steuerentlastende Funktion hinausgeht. Nach Ablauf eines Jahres wird im Steuerfestsetzungsverfahren (Veranlagung) von den Finanzbehörden von Amts wegen geprüft, ob die verfassungsrechtlich gebotene steuerliche Freistellung durch das im abgelaufenen Veranlagungszeitraum gezahlte Kindergeld in vollem Umfang erreicht worden ist. Ist das nicht der Fall, müssen bei der Festsetzung der Einkommensteuer die Kinderfreibeträge abgezogen werden; das gezahlte Kindergeld ist dann aber dem Einkommen hinzuzurechnen, so dass im Ergebnis nur die Kinderfreibeträge, nicht aber – wie beim früheren dualen System des Kinderlastenausgleichs – kumulativ Kinderfreibeträge und Kindergeld gewährt werden.
II. Kindergrundfreibetrag Die Einführung eines sog. Kindergrundfreibetrags hatte bereits 1999 die damalige Bundesregierung vorgesehen, das Vorhaben allerdings nicht weiter verfolgt, weil das Bundesjustizministerium die Pläne für verfassungswidrig hielt.3 Der jetzt wieder diskutierte Kindergrundfreibetrag wird nicht bei der Ermittlung der Steuerbemessungsgrundlage berücksichtigt (abgezogen), sondern ist beim Tarif angesiedelt: Der Kindergrundfreibetrag wird zum Grundfreibetrag der Eltern hinzuaddiert, so dass die Besteuerung erst mit dem nach dieser Zusammenrechnung der Grundfreibeträge von Eltern und Kindern im Einzelfall erreichten individuellen Steuersatz beginnen würde. Beim geltenden progressiven Einkommensteuertarif hätte das zur Folge, dass zwar der Entlastungsbetrag für Eltern mit gleich vielen Kindern gleich hoch wäre, Eltern mit mehr Kindern müssten aber bei gleich hohem Einkommen mehr Steuern zahlen als Familien mit weniger Kindern und vor allem mehr als kinderlose Eltern mit gleich hohem Einkommen. Dass dennoch für einen Kindergrundfreibetrag plädiert wird, hat folgenden Grund: Das Bundesverfassungsgericht hat zwar dem Gesetzgeber grundsätzlich freigestellt, den existenznotwendigen sächlichen Mindestbedarf für ein Kind durch einen Kinderfreibetrag steuerlich zu berücksichtigen oder durch die Zahlung eines Kindergeldes oder durch eine Kombination von beidem, jedoch verlangt, dass die 3
Vgl. Berliner Zeitung v. 6. Mai 1999.
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steuerpflichtigen Eltern im Ergebnis immer so gestellt werden müssen, wie sie stehen würden, wenn die Belastung durch Unterhaltsaufwendungen für Kinder allein durch einen steuerlichen Kinderfreibetrag berücksichtigt wäre.4 Ein für alle Eltern gleich hohes Kindergeld müsste also so hoch sein, dass auch die bei einem „Spitzenverdiener“ durch die steuerliche Berücksichtigung eines Kinderfreibetrags eintretende steuerliche Entlastung abgedeckt würde. Ein Kindergeld für alle in dieser Höhe ist indes nicht finanzierbar. Daran wird sich auch durch die ab 1. Januar 2009 geltende Erhöhung des Kindergeldes nichts ändern. Das bedeutet zugleich, dass die steuerliche Entlastung durch einen Kinderfreibetrag im Einzelfall, vor allem bei Besserverdienenden, höher ist (sein kann) als das staatliche Kindergeld. Das aber ist offensichtlich (partei-)politisch unerwünscht, weil es (offensichtlich) „sozialpolitischen Wunsch- und Gerechtigkeitsvorstellungen“ widerspricht. Die Einführung eines Kindergrundfreibetrags wird deshalb mit dem Slogan „Jedes Kind muss dem Staat gleich viel wert sein“ publikumswirksam begründet. Gering- und Normalverdiener würden – so heißt es – „vom Staat über das Kindergeld mit zurzeit 154 A monatlich pro Kind entlastet, „Reiche“ dagegen über den Kinderfreibetrag mit bis zu 230 A monatlich pro Kind, was einer Besserstellung von über 900 A pro Jahr entspreche“.5 „Jedes Kind müsse dem Staat künftig bei der Förderung gleich viel wert sein“.
III. Anforderungen an einen verfassungsmäßigen steuerlichen Familienleistungsausgleich 1. Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit; Grundsatz der Folgerichtigkeit – Allgemeines Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers wird für den Bereich des Einkommensteuerrechts nach ständiger Rechtsprechung des Bundverfassungsgerichts vor allem durch zwei eng miteinander verbundene Leitlinien begrenzt: durch das Gebot der Ausrichtung der Steuerlast am Prinzip der finanziellen Leistungsfähigkeit und durch das Gebot der Folgerichtigkeit.6 Das ist heute auch im Schrifttum nahezu einhellige Meinung.7 Im Interesse verfassungsrechtlich gebotener steuerlicher LasVgl. unten III 2. Vgl. den Bericht der Passauer Neuen Presse v. 17. Juni 2008, S. 4. 6 Vgl. zuletzt z. B. BVerfGE 107, 27 (46); 112, 268 (279). 7 Vgl. z. B.: Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1983, passim; ders., StuW 1983, 293 ff.; Böckenförde, Stimme der Familie 1983, 129 ff.; Jachmann, StuW 1998, 293 ff.; Paul Kirchhof, StuW 1985, 319 ff.; Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 97 ff.; ders., StuW 1983, 103 ff. m. w. N.; ders., StuW 1985, 12 ff.; Söhn, DStJG 1980, 17; ders., StuW 1985, 400 ff.; ders., FinArch. 46 (1988), 155 ff.; ders., StuW 1990, 358; ders., FinArch. 51 (1994), 372 ff. m. w. N.; ders., Festschrift Klein, 1994, S. 421 ff.; ders., Festschrift Tipke, 1995, S. 343 ff.; Söhn / Müller-Franken, StUW 2000, 443 ff.; Tipke, StbKongrRep 1983, 41 ff.; ders., StuW 1985, 78 f.; ders., Die Steuerrechtsord4 5
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tengleichheit 8 muss der Gesetzgeber darauf abzielen, Steuerpflichtige bei gleicher Leistungsfähigkeit auch gleich hoch zu besteuern (horizontale Steuergerechtigkeit), während in vertikaler Richtung die Besteuerung höherer Einkommen im Vergleich mit der Steuerbelastung niedriger Einkommen dem Gerechtigkeitsgebot entsprechen (angemessen sein) muss.9 Der Gleichheitssatz gebietet daher auch, Bezieher höherer Einkommen im Vergleich zu Beziehern gleich hoher Einkommen gleich zu besteuern.10 Bei der Auswahl des Steuergegenstandes und bei der Bestimmung des Steuersatzes besteht zwar ein weit reichender gesetzgeberischer Entscheidungsspielraum, jedoch muss bei der Ausgestaltung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestandes unter dem Gebot möglichst gleichmäßiger Belastung aller Steuerpflichtigen die einmal getroffene Belastungsentscheidung folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umgesetzt werden.11 Ausnahmen von einer folgerichtigen Umsetzung bedürfen eines besonderen sachlichen Grundes.12 Das gilt insbesondere für das auf die Leistungsfähigkeit des einzelnen Steuerpflichtigen hin angelegte Einkommensteuerrecht.13 Die für die Lastengleichheit im Einkommensteuerrecht maßgebliche finanzielle Leistungsfähigkeit bemisst der einfache Steuergesetzgeber nach dem objektiven und dem subjektiven Nettoprinzip. Danach unterliegt der Einkommensteuer grundsätzlich nur das Nettoeinkommen, d. h. der Saldo aus den Erwerbseinnahmen und den betrieblichen / beruflichen Erwerbsaufwendungen (Besteuerung nach der objektiven Leistungsfähigkeit; objektives Nettoprinzip) und den privaten, existenzsichernden Aufwendungen (Besteuerung nach der subjektiven Leistungsfähigkeit; subjektives Nettoprinzip). Für den Bereich des subjektiven Nettoprinzips verlangt das Bundverfassungsgericht die Beachtung des Verfassungsgebotes der steuerlichen Verschonung des Existenzminimums des Steuerpflichtigen und seiner unterhaltsberechtigten Familie.14 Im Gegensatz zu sog. nichtabzugsfähigen „allgemeinen Kosten der Lebensführung“ (§ 12 Nr. 1 EStG) müsse insbesondere beim Kindesunterhalt berücksichtigt werden, dass durch solche Aufwendungen die steuerliche Leistungsfähigkeit gemindert werde.15 Das ergebe sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz sowie aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG. Der Staat dürfe auf die Mittel, die für den Unterhalt von Kindern unerlässlich seien, bei der Benung, 2. Aufl. 2008, S. 479 ff.; Tipke / Lang, StuW 1984, 127 ff.; dies., Steuerrecht, 19. Aufl. 2008, § 4 Rn. 81 ff. m. w. N.; Klaus Vogel, StuW 1984, 198 ff.; Zeidler, StuW 1985, 3 ff. 8 BVerfGE 84, 239 (268 ff.). 9 BVerfGE 82, 60 (89); 99, 246 (260); 112, 268 (279). 10 BVerfGE 112, 268 (279 f.). 11 BVerfGE 84, 239 (271); 93, 121 (136); 99, 88 (95); 99, 280 (290); 101, 132 (138); 101, 151 (155); 107, 27 (47). 12 BVerfGE 99, 88 (95); 99, 280 (290). 13 BVerfGE 82, 60 (86) m. w. N.; 87, 153 (170); vgl. ferner BVerfGE 89, 346 (354 f.); 99, 216 (232 ff.). 14 BVerfGE 82, 60; 82, 198. 15 BVerfGE 112, 268 (280).
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steuerung nicht in gleicher Weise zugreifen wie auf Mittel, die der Bürger zur Befriedigung beliebiger anderer Bedürfnisse einsetzen könne.16
2. Kinderunterhaltslasten und subjektives Nettoprinzip Das Bundesverfassungsgericht hat bereits vor mehr als 30 Jahren entschieden, dass die wirtschaftliche Belastung der Eltern durch Unterhaltsverpflichtungen gegenüber ihren Kindern ein besonderer, die Leistungsfähigkeit der Eltern beeinträchtigender Umstand ist und dass der Gesetzgeber diese unabweisbare Sonderbelastung ohne Verstoß gegen die Steuergerechtigkeit nicht außer Acht lassen darf.17 Daraus folge, dass der Gesetzgeber für die steuerliche Berücksichtigung zwingender Unterhaltsverpflichtungen keine realitätsfremden Grenzen ziehen dürfe.18 Nur bei der Frage, wie dieser Minderung der steuerlichen Leistungsfähigkeit Rechnung getragen werde, lasse das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes und das ihm zu entnehmende Gebot der Steuergerechtigkeit dem Gesetzgeber Gestaltungsfreiheit.19 In der Folgezeit ist diese Rechtsprechung konsequent fortgeführt worden. – 1990 hat das Bundesverfassungsgericht seine Ansicht, dass die für den Steuerpflichtigen unvermeidbare Sonderbelastung durch Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Kindern die subjektive Leistungsfähigkeit mindert und ohne Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vom Gesetzgeber nicht unberücksichtigt bleiben darf, wie folgt präzisiert: Der Staat müsse bei der Beurteilung der steuerlichen Leistungsfähigkeit den Unterhaltsaufwand für Kinder des Steuerpflichtigen der Höhe nach „in dem Umfang als besteuerbares Einkommen außer Betracht lassen“, in dem die Unterhaltsaufwendungen zur Gewährleistung des Existenzminimums der Kinder erforderlich seien.20 Das folge mittelbar aus den Erwägungen, die es gebieten, das Existenzminimum der Familie steuerfrei zu lassen. Soweit das Einkommen der Familie benötigt werde, um ihr die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein zu gewährleisten, sei es – unabhängig vom sozialen Status der Familie – nicht disponibel und könne nicht Grundlage der steuerlichen Leistungsfähigkeit sein. Wenn die Besteuerung von Kinderlosen und Steuerpflichtigen mit Kindern wie im geltenden Steuerrecht nach einem einheitlichen Tarif vorgenommen werde, so würden Steuerpflichtige mit Kindern gegenüber Kinderlosen benachteiligt, falls „von ihrem Einkommen der Unterhaltsaufwand für Kinder nicht wenigstens in Höhe des Existenzminimums 16 BVerfGE 89, 346 (353) im Anschluss an BVerfGE 82, 60 (86 f.); 99, 216 (233); 107, 27 (49); 112, 268 (280). 17 BVerfGE 43, 108 (120). 18 BVerfGE 66, 214 (223). 19 BVerfGE 43, 108 (120); 61, 319 (354). 20 BVerfGE 82, 60 (87).
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abgezogen“ werde; denn anderenfalls würden sie im Ergebnis einer höheren Steuerbelastung unterworfen als kinderlose Ehepaare oder Alleinstehende, weil sie bei gleichem Einkommen die gleiche Steuerlast wie Kinderlose tragen müssten, obwohl ihr Einkommen in Höhe des Existenzminimums der Kinder gebunden sei und daher nicht zur freien Verwendung zur Verfügung stehe. – 1992 hat das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich über das allgemeine steuerliche Existenzminimum entschieden.21 Danach bildet der existenznotwendige Bedarf von Verfassungs wegen die Untergrenze für den Zugriff durch die Einkommensteuer. In welcher Weise der Gesetzgeber dieser verfassungsrechtlichen Vorgabe Rechnung trage, sei ihm freigestellt. Deshalb könne er auch einen Grundfreibetrag im Tarif vorsehen und müsse keinen Abzug eines Existenzminimumbetrags von der Bemessungsgrundlage (= besteuerbares Einkommen) vorsehen. Die gleiche Belastung von Steuerpflichtigen bei gleicher Leistungsfähigkeit (horizontale Gleichheit) begründe hier – anders als beim Vergleich von Steuerpflichtigen mit Kindern und kinderlosen Steuerpflichtigen – keine zusätzlichen verfassungsrechtlichen Anforderungen.22 – Für die steuerliche Berücksichtigung von Kinderunterhaltslasten hat das Bundesverfassungsgericht (deshalb) die dem Gesetzgeber 1992 eingeräumte „Wahl“freiheit, das allgemeine Existenzminimum durch einen Grundfreibetrag im Tarif zu berücksichtigen, nicht übernommen, sondern bereits kurze Zeit später (1994) ausdrücklich daran festgehalten, dass der Staat bei der Beurteilung der steuerlichen Leistungsfähigkeit von Eltern den Unterhaltsaufwand für Kinder der Höhe nach in dem Umfang als besteuerbares Einkommen außer Betracht lassen müsse, in dem die Unterhaltsaufwendungen erforderlich seien, um das Existenzminimum der Kinder zu gewährleisten; das familiäre Einkommen sei insoweit nicht disponibel und könne daher auch nicht zur Ermittlung der steuerlichen Leistungsfähigkeit herangezogen werden.23 – 1998 erfolgte eine weitergehende und umfassende Präzisierung.24 Danach verlangt die horizontale Gleichheit die volle steuerliche Berücksichtigung des existenznotwendigen Mindestbedarfs für die Kinder aller Steuerpflichtigen, unabhängig von ihrem individuellen Grenzsteuersatz. Eine steuerliche Mehrbelastung von Steuerpflichtigen mit unterhaltsbedürftigen Kindern im Vergleich zu kinderlosen Steuerpflichtigen gleicher Einkommensstufe könne nicht damit gerechtfertigt werden, dass Steuerpflichtige mit höherem Einkommen eine geminderte steuerliche Entlastung leichter tragen könnten. Denn dies liefe darauf hinaus, jede steuerliche Ungleichbehandlung gegenüber anderen Beziehern von Einkommen in gleicher Höhe zuzulassen, sofern nur das Einkommen des betref21 22 23 24
BVerfGE 87, 153 (169 f.). BVerfGE 87, 153 (170). BVerfGE 89, 346 (353). BVerfGE 99, 246 (263 ff.).
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fenden Steuerpflichtigen hoch genug sei, und das bedeute – letztlich zulasten der Kinder –, dass das Gebot der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit außer Kraft gesetzt werde. Eine nicht in allen Fällen ausreichende einkommensteuerliche Berücksichtigung der existenznotwendigen Mindestaufwendungen für den Kindesunterhalt lasse sich auch nicht mit der Notwendigkeit einer gesetzlichen Typisierung rechtfertigen. Zwar müsse jede gesetzliche Regelung verallgemeinern, dürfe sich am Regelfall orientieren und müsse insbesondere nicht allen Besonderheiten des Einzelfalls durch Sonderregelungen Rechnung tragen. Bei der verfassungsrechtlich gebotenen Berücksichtigung der existenznotwendigen Mindestaufwendungen für den Kindesunterhalt seien aber keine einzelfallbezogenen Besonderheiten tatbestandlich aufzunehmen und gegebenenfalls zu typisieren. Vielmehr sei der Gesetzgeber verpflichtet, einen für alle gleichen Bedarf in den einkommensteuerlichen Bedarfstatbeständen aufzunehmen. Gestalte der Gesetzgeber den Kinderleistungsausgleich nach dem sog. dualen System durch eine Kombination von Kinderfreibetrag und Kindergeld, sei er gehalten, bei der dann notwendigen Umrechnung des Kindergeldes in einen Kinderfreibetrag die eigenen Vorgaben im Einkommensteuerrecht aufzunehmen. Der Einkommensteuertarif finde in seinem gesetzlich bestimmten progressiven Verlauf nur auf das besteuerbare Einkommen (§ 2 Abs. 5 S. 1 EStG) Anwendung. „Diese Bemessungsgrundlage“ müsse um das steuerliche Kindesexistenzminimum gemindert werden und stehe deshalb für eine einkommensteuerliche Belastung in der jeweils gesetzlich bestimmten Höhe – sei es zum Eingangs-, sei es zum Spitzensteuersatz – nicht zur Verfügung.25 Das Gebot, die existenznotwendigen Mindestaufwendungen für Kindesunterhalt bei allen Steuerpflichtigen unabhängig von ihrem individuellen Steuersatz „in der Bemessungsgrundlage zu berücksichtigen“, folge auch aus dem Grundsatz der Folgerichtigkeit.26 Dem Gesetzgeber stehe es zwar grundsätzlich frei, die kinderbedingte Minderung der Leistungsfähigkeit entweder im Steuerrecht zu berücksichtigen oder ihr stattdessen im Sozialrecht durch die Gewährung eines ausreichenden Kindergeldes Rechnung zu tragen oder eine Entlastung im Steuerrecht und die Zahlung eines Kindergeldes miteinander zu kombinieren. Die jeweiligen Ergebnisse aus den verschiedenen Methoden müssten jedoch in ihren Auswirkungen gleichwertig sein. Dem widerspräche es, wenn bei der Umrechnung von Kindergeld in einen steuerlichen Kinderfreibetrag nicht für jeden Einkommensteuerschuldner die kinderbedingte Minderung der Leistungsfähigkeit ebenso voll berücksichtigt würde, wie es der Fall wäre, wenn diese Minderung der Leistungsfähigkeit ausschließlich durch einen Kinderfreibetrag Berücksichtigung fände.27 25 26 27
BVerfGE 99, 246 (264). Vgl. dazu bereits BVerfGE 84, 239 (271); 87, 153 (170); 93, 121 (136). BVerfGE 99, 246 (265) unter Hinweis auf BVerfGE 82, 60 (97).
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– 2005 hat das Bundesverfassungsgericht diese Grundsätze wiederholt und bestätigt.28 Das Grundgesetz gebiete, das Existenzminimum des Steuerpflichtigen und seiner unterhaltsberechtigten Familie steuerlich zu verschonen. Der existenznotwendige Bedarf bilde die Untergrenze für den Zugriff durch die Einkommensteuer und müsse in angemessener und realitätsgerechter Höhe von der Einkommensteuer freigestellt werden.29 Hierbei verlange der Gleichheitssatz auch, dass Bezieher höherer Einkommen im Vergleich zu Beziehern gleich hoher Einkommen gleich besteuert würden; deshalb müsse eine verminderte Leistungsfähigkeit durch eine Unterhaltsverpflichtung gegenüber einem Kind in diesem Vergleich sachgerecht berücksichtigt werden.30 Zur näheren Begründung verweist das Gericht auf seine bisherige Rechtsprechung.
Zusammengefasst heißt das: Unterhaltsverpflichtungen gegenüber einem Kind müssen das zu versteuernde Einkommen (= Bemessungsgrundlage) der unterhaltspflichtigen Eltern mindern.31 Während dem Steuerpflichtigen das eigene Existenzminimum lediglich nach Abzug der Steuern erhalten bleiben muss,32 ist die kinderbedingte Minderung der Leistungsfähigkeit (bereits) durch einen Abzug von der Bemessungsgrundlage (= zu versteuerndes Einkommen) zu berücksichtigen; der Gesetzgeber darf nur das nach einem Abzug des zwangsläufigen Unterhaltsaufwandes für Kinder den Eltern verbleibende Einkommen der Besteuerung unterwerfen.33 Das gilt für alle Eltern, unabhängig vom individuellen Grenzsteuersatz, also auch für die Bezieher höherer Einkommen. Denn da die Besteuerung bei Steuerpflichtigen ohne und mit Kindern im geltenden Recht nach einem einheitlichen progressiven Tarif vorgenommen wird, würden Steuerpflichtige mit Kindern gegenüber Kinderlosen benachteiligt, wenn von ihrem Einkommen der Unterhaltsaufwand für Kinder nicht in Höhe des Existenzminimums abzugsfähig wäre. Sie würden nämlich im Ergebnis einer höheren Steuerbelastung unterworfen als Alleinstehende und kinderlose Ehepaare, weil sie bei gleichem Einkommen die gleiche Steuerlast tragen müssten wie Kinderlose, obwohl ihr Einkommen in Höhe des Existenzminimums der Kinder gebunden ist und daher insoweit – anders als bei Kinderlosen – nicht zur freien Verwendung zur Verfügung steht. Deshalb ist zur Wahrung horizontaler Gleichheit – anders als beim allgemeinen Existenzminimum – eine Kürzung der Bemessungsgrundlage zwingend.34 Konsequenterweise hat das Bundesverfassungsgericht deshalb 2008 in einer Entscheidung zum Sonderausgabenabzug von Beiträgen zu privaten Kranken- und Pflegeversicherungen offen gelassen, ob bzw. inwieweit dem Gesetzgeber bei 28 29 30 31 32 33 34
BVerfGE 112, 268 (279 ff.). BVerfGE 112, 268 (281). BVerfGE 112, 268 (280) unter Hinweis auf BVerfGE 99, 246 (260). Vgl. ferner Söhn (Fn. 7), S. 423 ff. BVerfGE 87, 153 (169 ff.). Jachmann, in: Kirchhof / Söhn / Mellinghoff, EStG, 1986 ff., § 31 Rn. 46 b m. w. N. BVerfGE 87, 153 (170).
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künftigen Regelungen außer dem derzeitigen Abzug von der Bemessungsgrundlage auch andere steuersystematische Lösungen zur Berücksichtigung von existenznotwendigen Aufwendungen für die Kranken- und Pflegeversorgung zur Verfügung stehen,35 denn das Gericht qualifiziert derartige Ausgaben als Teil des einkommensteuerrechtlich zu verschonenden allgemeinen Existenzminimums, so dass die hierfür 1992 getroffenen Feststellungen36 gelten. Für Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge zu Gunsten von unterhaltsberechtigten Kindern ist indes eine Minderung der Bemessungsgrundlage auch insoweit zwingend.
IV. Zusammenfassung der Ergebnisse zur verfassungsrechtlich gebotenen Berücksichtigung von Kinderunterhaltslasten Aus der Rechtsprechung des Bundverfassungsgerichts lassen sich folgende Schlüsse ziehen: 1. Existenznotwendige Kinderunterhaltslasten beeinträchtigen die subjektive Leistungsfähigkeit der Eltern und müssen deshalb nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das zu besteuernde Einkommen der Eltern mindern (Abzug eines Kinderfreibetrags von der Bemessungsgrundlage). Das gilt für alle Eltern, unabhängig vom individuellen Grenzsteuersatz. Die Einführung eines sog. Kindergrundfreibetrags ist schon deshalb verfassungswidrig. 2. Der Abzug eines Kinderfreibetrags von der einkommensteuerrechtlichen Bemessungsgrundlage ist keine Steuervergünstigung oder eine sonstige Begünstigung, kein steuerlicher Vorteil, keine Steuerersparnis, keine Förderung der Familie, keine Subvention o.ä., sondern berücksichtigt eine durch die Zahlung von Unterhaltsleistungen eintretende Beeinträchtigung der subjektiven Leistungsfähigkeit der Eltern. Deshalb ist die in der steuerpolitischen Diskussion aufgestellte Behauptung, dass Kinderfreibeträge „sozial ungerecht“ seien, a priori sachwidrig und „grundfalsch“. 3. Der Gesetzgeber kann zwar die durch Kinderunterhaltslasten verminderte Leistungsfähigkeit durch die Zahlung eines Kindergeldes ausgleichen, steuerpflichtige Eltern müssen aber im betragsmäßigen Ergebnis immer so gestellt werden, wie sie stehen würden, wenn die durch Unterhaltsaufwendungen für Kinder eintretende Verminderung der subjektiven Leistungsfähigkeit allein durch einen steuerlichen Kinderfreibetrag berücksichtigt würde. Eine solche steuerliche Entlastung ist bei allen steuerpflichtigen Eltern verfassungsrechtlich zwingend. 4. Wenn und soweit ein staatliches Kindergeld keine verminderte subjektive Leistungsfähigkeit der Eltern kompensiert, liegt eine Förderungsmaßnahme (Sub35 36
BVerfG v. 13. Februar 2008 – 2 BvL 1 / 06, BFH / NV 2008, 228 (237). BVerfGE 87, 153 (169 ff.).
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vention) vor. Anders als beim Kinderfreibetrag kann der Gesetzgeber über ein Kindergeld, das nur fördert, „frei entscheiden“. 5. Bei einem Vergleich der durch den Abzug eines Kinderfreibetrags im Einzelfall eintretenden steuerlichen Entlastung mit der Höhe eines gezahlten Kindergeldes werden „Äpfel mit Birnen verglichen“: Der Kinderfreibetrag berücksichtigt eine zwangsläufige Belastung der Eltern, die den Kinderunterhalt selbst (mit eigenen Mitteln) finanzieren, und ist deshalb verfassungsrechtlich zwingend. Das Kindergeld ist hingegen eine staatliche Förderung, soweit keine verminderte steuerliche Leistungsfähigkeit kompensiert wird: Die Eltern finanzieren den Kinderunterhalt mit „geschenktem“ staatlichen Geld. Die medienwirksam erhobene Forderung, dass dem Staat jedes Kind gleich viel wert sein müsse, verfehlt folglich von vornherein den Kern der Sache. Dass dem Staat jedes Kind „bei der Förderung“ gleich viel wert“ und „im Ergebnis . . . der Staat jedes Kind mit dem gleichen Betrag fördern“ sollte,37 mag vieles für sich haben, die steuerliche Abzugsfähigkeit eines Kinderfreibetrags hat aber nichts mit einer Förderung zu tun. 6. Wenn und weil ein Kindergeld in der sozialpolitisch / familienpolitisch erwünschten Höhe nicht finanzierbar ist, sollten Kinderfreibetrag (Steuerrecht) und Kindergeld (Sozialrecht) entkoppelt werden. Die gegenwärtige Vermengung ist steuersystematisch und verfassungsrechtlich ohnehin keineswegs unproblematisch. Eine normative Trennung von steuerlichem Kinderlastenausgleich und sozialrechtlichem Kindergeld würde jedenfalls die Möglichkeit eröffnen, die Zahlung eines Kindergeldes auf bedürftige Eltern zu beschränken und einen größeren finanziellen Spielraum für die Zahlung eines Kindergeldes im erwünschten Umfang zu schaffen.
37 So wird das BMF in einem Bericht der Süddeutschen Zeitung v. 18. September 2008, S. 5 zitiert.
IV. Der mediale Staat
Die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zwischen den Vorgaben aus Karlsruhe und den Anforderungen aus Brüssel Von Dieter Dörr
I. Einleitung Schon seit geraumer Zeit hat sich Herbert Bethge eingehend mit den Fragen der Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks beschäftigt.1 Dabei können seine Überlegungen zum Rundfunkfinanzausgleich,2 die von anderen Autoren aufgegriffen und weiterentwickelt wurden,3 im besten Sinne als grundlegend bezeichnet werden. Dies ist auch deshalb bedeutsam, weil diese Problematik nicht zuletzt wegen des letzten Berichts der Kommission zur Überprüfung und Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF)4 wieder in den Blickpunkt des Medienrechts5 und der Medienpolitik gerückt ist und noch immer keiner sachgerechten Lösung zugeführt wurde. Wenn man die Ausführungen von Herbert Bethge angemessen berücksichtigen würde, dürfte eine solche sachgerechte Lösung leicht zu erreichen sein. So reizvoll es wäre, die Verteilung der Rundfunkgebühren zwischen den in der ARD zusammengeschlossenen Rundfunkanstalten zu thematisieren, wendet sich dieser Beitrag einem anderen Aspekt der Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu. Es geht um den zunehmenden Einfluss, den das Europarecht im allgemeinen und die Beihilfebestimmungen des EG-Vertrages im besonderen im Zusammenhang mit der Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gewinnen. Dabei geraten die Vorgaben des Europarechts in ein gewis1 Vgl. etwa Bethge, ZUM 1991, 337 ff.; siehe auch ders., AöR 116 (1991), 520 ff.; ders., Media Perspektiven 2004, 123. 2 Bethge, Die Verfassungsrelevanz des föderalen Rundfunkfinanzausgleichs, Schriftenreihe des Instituts für Europäisches Medienrecht, Bd. 3, 1992. 3 Mahrenholz, Verfassungsfragen des Rundfunkfinanzausgleichs, 1997; Dörr, Programmvielfalt im öffentlich-rechtlichen Rundfunk durch funktionsgerechte Finanzausstattung, 1997 / 98; ders., Wege zur funktionsgerechten Rundfunkfinanzierung, 1999. 4 KEF, 16. Bericht der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten, 2007, S. 200 ff. 5 Wieland, Strukturelle Defizite der Gebührenverteilung innerhalb der ARD als Rechtsproblem, Gutachten 2008 (noch nicht veröffentlicht).
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ses Spannungsverhältnis zu den Anforderungen, die das Bundesverfassungsgericht aus der Rundfunkfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG abgeleitet hat. Das Problem, ob die Rundfunkgebühren für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk Beihilfen sind und ob sie gegebenenfalls gerechtfertigt werden können, ist Gegenstand einer lang andauernden und intensiven Diskussion.6 Nachdem die Kommission zunächst die Auffassung vertrat, dass Rundfunkgebühren keine Beihilfen darstellten, verfasste sie 2001 eine Mitteilung zur Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, nach der sie davon ausgeht, dass die Gebühren grundsätzlich den Tatbestand des Art. 87 Abs. 1 EG erfüllen, aber nach Art. 86 Abs. 2 EG gerechtfertigt sein können.7 Wird eine Lösung über Art. 86 Abs. 2 EG gewählt, haben die Mitgliedstaaten die Dienstleistungen von wirtschaftlichem Interesse, bezogen auf den Rundfunk also den Programmauftrag, zu definieren. Diese Definition muss klar und eindeutig sein, weil ein hinreichend bestimmter staatlicher Übertragungsakt von Art. 86 Abs. 2 EG vorausgesetzt wird. Für das Bundesverfassungsgericht haben dagegen die Staatsferne und die Programmautonomie des öffentlich-rechtlichen Rundfunks besondere Bedeutung. Sie gestatten zwar gesetzliche Ausgestaltungen des öffentlich-rechtlichen Auftrags; diese dürfen aber keinen konkreten Programmbezug enthalten und müssen daher eher allgemein und generell ausgeprägt sein.
II. Die Vorgaben des Verfassungsrechts Die Vorgaben der Verfassung für die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks folgen aus der Rundfunkfreiheit. Gerade die Rundfunkfreiheit ist wie kaum ein anderes Grundrecht durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geprägt. Das Bundesverfassungsgericht hat als authentischer Interpret des Grundgesetzes aus der knappen Bestimmung des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG differenzierte und weitgehende Anforderungen an die Rundfunkordnung in der Bundesrepublik Deutschland entwickelt. Aus der verfassungsrechtlichen Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks folgt aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts, dass neben den technischen, organisatorischen und personellen Vorbedingungen auch die finanziellen Vorbedingungen zur Erfüllung der umfassenden Aufgabe herzustellen sind.8 Ohne eine finanzielle Unabhängigkeit ist die sachliche Unabhängigkeit des Rundfunks nicht gewährleistet. Dies ist insbesondere wichtig, wenn man 6 Zur Debatte Dörr, K&R 2001, 233; Eberle, Festschrift Mailänder, 2006, S. 497 ff.; Gersdorf, Grundzüge des Rundfunkrechts, 2003, Rn. 556 ff.; Zur aktuellen Diskussion Dörr, Media Perspektiven 2005, 333 ff.; Schipanski, K&R 2006, 217 ff.; insbesondere zur Konkretisierung des Aufgabenbereichs Dörr, Festschrift Ress, 2005, S. 1151, 1156 ff. 7 Mitteilung der Kommission über die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, ABl. EG vom 15. 11. 2001, Nr. C 320, 5. Textsammlung Europäisches und Internationales Medienrecht – online – Nr. A 63. 8 BVerfGE 73, 118 (158).
Die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
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sich die Rolle des Rundfunks im demokratischen Staat vor Augen hält. Denn die Bildung einer freien öffentlichen Meinung, die im Ergebnis den Staatswillen repräsentiert, wäre undenkbar, wenn der Meinungsbildungsprozess von äußeren Faktoren in bestimmte Richtungen beeinflusst wäre.9 Die öffentliche Finanzierung wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk überhaupt findet seine Rechtfertigung in der Erfüllung der essentiellen Funktionen des Rundfunks und in der Gewährleistung der Grundversorgung für alle.10 Da jedoch die Anforderungen, die die Rundfunkfreiheit an die Rundfunkveranstalter stellt, gegenwärtig nur durch das gesamte Rundfunkangebot erfüllt werden können, spricht das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung auch hinsichtlich der Finanzierung von der Gesamtveranstaltung Rundfunk. Das Sendeprogramm könne bei der Frage ausgewogener Meinungsdarstellung nicht in einzelne Teile zerlegt werden, sondern müsse als einheitliche Veranstaltung gesehen werden. Im Gesamtprogrammangebot müssten die gesellschaftlichen Gruppen zu Wort kommen können.11 Somit könne auch die Rundfunkgebühr nur das von den Ländern eingeführte Mittel zur Finanzierung der Gesamtveranstaltung Rundfunk sein.12 Die Rundfunkgebühr dient hierbei, wenn man einmal von dem den Landesmedienanstalten gemäß § 10 RFinStV zugute kommenden Anteil von knapp 2 % absieht, ausschließlich der Finanzierung öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Auf dieser Seite des dualen Rundfunksystems wird auch der Bezug zur Gesamtveranstaltung deutlich, denn die Aufgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks werden zu großen Teilen in einem länderübergreifenden Programm- und Informationsverbund wahrgenommen.13 Die Grundversorgungsaufgabe verlangt nämlich als Pflichtaufgabe aller öffentlich-rechtlichen Anstalten, die Vollständigkeit der Meinungsrichtungen darzustellen und setzt somit stets eine Mehrzahl von Programmen voraus. Diese Programme werden von den jeweiligen Anstalten teils kooperativ, teils nur für den eigenen Bereich erbracht. Grundversorgung lässt sich aber nicht für einzelne Programme oder Programmteile der jeweiligen Anstalten festlegen.14 Wenn es somit immer auf das Gesamtprodukt der zusammengeschlossenen Rundfunkanstalten ankommt, so muss die Gebührenberechnung auch hierauf bezogen sein.15 Daher steht der Begriff Gesamtveranstaltung jedenfalls im Zusammenhang mit der Finanzierung von Rundfunkanbietern allein für das unitarisch-kooperative Gepräge des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.16 Vgl. BVerfGE 12, 205 (262). BVerfGE 73, 118 (158); 87, 181 (199 f.). 11 BVerfGE 31, 314 (326); 57, 295 (325). 12 BVerfGE 31, 314 (330). 13 Dörr, ZUM 1996, 628. 14 BVerfGE 74, 297 (326). 15 Dies wohlgemerkt unabhängig davon, dass die Rechnung die Summe der Einzelanmeldungen der Anstalten darstellt, mit denen diese u. a. ihre Beiträge zur Gesamtveranstaltung vergüten. 16 So auch Bethge (Fn. 2), S. 49. 9
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Das Bundesverfassungsgericht gesteht den Anstalten einen echten Anspruch auf funktionsgerechte Finanzierung zu, der mit der Verfassungsbeschwerde durchgesetzt werden kann.17 Welchen Umfang dieser Anspruch hat, wird vom Bundesverfassungsgericht bereits im so genannten Hessen-3-Beschluss18 näher erläutert. Unter Hinweis auf seine frühere Rechtsprechung betonte der Erste Senat schon in dieser Entscheidung, dass dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk die Finanzierung derjenigen Programme zu ermöglichen ist, deren Veranstaltung ihren spezifischen Funktionen nicht bloß entspricht, sondern auch zur Wahrnehmung dieser Funktionen erforderlich ist. Das Kriterium der „Erforderlichkeit“ wird vom Gericht zur Lösung eines Dilemmas angeboten. Dieses Dilemma besteht darin, dass das zur Funktionserfüllung Notwendige einerseits nicht von den Rundfunkanstalten allein bestimmt werden kann. Sie bieten nach zutreffender Ansicht des Senats keine hinreichende Gewähr dafür, dass sie sich bei der Mittelanforderung im Rahmen des Funktionsnotwendigen halten. Aber auch dem gesetzgeberischen Gutdünken kann es nicht überlassen werden zu bestimmen, welche Mittel den Rundfunkanstalten zur Erfüllung ihrer Aufgabe bereitgestellt werden. Dies verbietet der enge Zusammenhang zwischen Programmfreiheit, Staatsfreiheit und Finanzausstattung. Denn sonst kann der Gesetzgeber Verfassungsrecht, das einem unmittelbaren Verbot von Rundfunkprogrammen bzw. einem unmittelbaren staatlichen Einfluss auf Programme entgegensteht, dadurch umgehen, dass er mittelbar durch Entzug oder Beschränkung von Finanzierungsmöglichkeiten dasselbe Ergebnis erreicht. Allerdings verkennt der Senat, wie er selber einräumt, nicht, dass sich die zur Entscheidung von Finanzfragen erstrebenswerte Quantifizierung aus dem Erforderlichkeitskriterium nicht stringent ableiten lässt. Dieses Kriterium erlaubt lediglich Eingrenzungen. Trotz der vom Bundesverfassungsgericht mit dem Hinweis auf das zur Funktionserfüllung Erforderliche gegebenen Anhaltspunkte bleibt der Bestimmtheitsgrad der aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG folgenden Grundsätze für die Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten verhältnismäßig gering. Daher verlangt das Grundrecht, dass zum Ausgleich ein Verfahren der Entscheidungsfindung eingerichtet wird, das ein möglichst grundrechtskonformes Ergebnis gewährleistet. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht in seinem ersten Gebührenurteil19 grundlegende Weichenstellungen vorgenommen. In dieser Entscheidung entwickelte es ein Modell, das nach seiner Auffassung mit der Rundfunkfreiheit in Einklang steht und daher in besonderer Weise geeignet ist, den verfassungsrechtlichen Anforderungen gerecht zu werden. Dieses Modell wird von ihm selbst als ein gestuftes und kooperatives Verfahren bezeichnet. Die Eckpfeiler dieses dreistufigen Verfahrens, die nunmehr die Grundlage für die Gebührenfestsetzung bilden, können wie folgt beschrieben werden: 17 18 19
So schon BVerfGE 73, 118 (158); 83, 238 (298). BVerfGE 87, 181. Vgl. BVerfGE 90, 60.
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Die Gebührenentscheidung muss an der Bedarfsanmeldung der Rundfunkanstalten anknüpfen. Dies beruht darauf, dass der Finanzausstattung die Programmentscheidungen der Rundfunkanstalten zugrunde zu legen sind. Allerdings müssen sich die Programmentscheidungen innerhalb des verfassungsrechtlich vorgezeichneten und gesetzlich konkretisierten Rundfunkauftrags bewegen und unter Beachtung der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit umgesetzt werden. Diese Programmentscheidungen und die darauf gestützten Bedarfsanmeldungen der jeweiligen Rundfunkanstalten dürfen im nachfolgenden Verfahren weder übergangen noch finanziell ignoriert werden. Auf der zweiten Stufe des Gebührenfestsetzungsverfahrens ist eine Überprüfung der Bedarfsanmeldungen grundsätzlich möglich und geboten. Allerdings darf sich die Kontrolle nach den Vorgaben des Ersten Senats nicht auf die Vernünftigkeit und Zweckmäßigkeit der Programmentscheidungen beziehen, sondern allein darauf, ob sie sich im Rahmen des rechtlich umgrenzten Rundfunkauftrags halten und ob der aus den Programmentscheidungen abgeleitete Finanzbedarf zutreffend und in Einklang mit den Grundsätzen von Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit ermittelt worden ist. Bei dieser Kontrolle handelt es sich also nicht um eine politische, sondern um eine fachliche Aufgabe. Daher hat die Kontrolle durch ein Fachgremium stattzufinden, das nicht nur rundfunk-, sondern auch politikfrei zusammengesetzt werden muss. Die rundfunk- und politikfreie Zusammensetzung dieses Gremiums, also der KEF, schließt eine Mitwirkung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wie auch der Länder an der Bestellung der Kommissionsmitglieder nicht aus. Die Sachverständigen müssen sich aber durch Fachkompetenz, Neutralität und Objektivität auszeichnen. Mitglieder der Landesrechnungshöfe sind im Gegensatz zu Vertretern der Staatskanzleien nicht von vornherein ausgeschlossen, wie das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich betont hat. Die Überprüfung der Kommission endet mit einem festgestellten Finanzbedarf, der in einen konkreten Gebührenvorschlag mündet. Auf der dritten Stufe ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die Gebührenentscheidung nach Maßgabe dieses überprüften Finanzbedarfs und des daraus abgeleiteten konkreten Gebührenvorschlags zu treffen. Wie diese Entscheidung gefällt wird, ist wiederum Sache gesetzlicher Regelung. Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings nachdrücklich betont, dass Abweichungen von der Bedarfsfeststellung nur in begründeten Ausnahmefällen zulässig sind. Dabei erschöpfen sich die Abweichungsgründe im Wesentlichen in den Gesichtspunkten des Informationszugangs und der angemessenen Belastung der Rundfunkteilnehmer. Im Falle einer Abweichung zu Lasten der Rundfunkanstalten muss die Entscheidung dann im Einzelnen begründet werden. Insoweit bejaht das Bundesverfassungsgericht auch eine Überprüfbarkeit einer von dem Vorschlag der KEF abweichenden Entscheidung über die Gebührenhöhe. Bezogen auf die Gebührenentscheidung betont der Erste Senat in seiner neuesten Entscheidung vom 11. September 200720 noch deutlicher als zuvor, dass die 20
BVerfG NVwZ 2007, 1287 ff. = JuS 2008, 544 (Dörr).
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Festsetzung der Rundfunkgebühr frei von medienpolitischen Zwecksetzungen erfolgen muss. Er bekräftigt nochmals, dass die Rundfunkanstalten einen Anspruch auf bedarfsgerechte Finanzierung haben. Wie dieser Anspruch zu bemessen ist, ist eine fachliche und keine politische Entscheidung. Daher hat der Gesetzgeber gerade nicht das Recht, mit dem Mittel der Gebührenfestsetzung medienpolitische Ziele zu verfolgen und etwa mit einer Entscheidung über Zeitpunkt, Umfang und Geltungsdauer der Gebührenerhöhung medienpolitische Vorgaben zu verstecken oder durchzusetzen. Nachdrücklich wird bestätigt, dass das im Anschluss an die erste Gebührenentscheidung eingeführte dreistufige Gebührenfestsetzungsverfahren besonders geeignet ist, eine bedarfsgerechte Finanzierung zu gewährleisten. Der Senat weist aber auch darauf hin, dass nicht nur indexgestützte Berechnungsfaktoren zur Ermittlung des Finanzbedarfs verwendet werden dürfen, sondern auch einer Vollindexierung der Rundfunkgebühr grundsätzlich keine Hindernisse von Verfassungs wegen entgegenstehen. Darüber hinaus betont der Senat zwar, dass neben der Gebühr andere Finanzierungsquellen, wie Sponsoring und Werbung, nicht ausgeschlossen seien. Sie dürfen aber, so die Karlsruher Richter, nicht im Vordergrund stehen. Zudem muss die Nutzung dieser Finanzierung vom Gesetzgeber laufend daraufhin überprüft werden, ob sie nicht zu einer zunehmenden Ausrichtung des Programms auf Massenattraktivität und einer Erosion der Identifizierbarkeit des öffentlich-rechtlichen Charakters führt. Es besteht insoweit durchaus ein Prüfauftrag, ob und inwieweit Werbung und Sponsoring dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk weiterhin ermöglicht werden sollen. Wenn der Gesetzgeber, wie im Rundfunkstaatsvertrag und im Rundfunkfinanzierungsstaatsvertrag vorgesehen, die Gebührenentscheidung selber trifft, darf er von dem Vorschlag der unabhängigen Sachverständigenkommission, also der KEF, nur aus Gründen abweichen, die vor der Rundfunkfreiheit Bestand haben. Insoweit beschränken sich die Abweichungsgründe, wie der Senat erneut bekräftigt, regelmäßig auf die Gesichtspunkte des Informationszugangs und der angemessenen Belastung für die Gebührenzahler, auch wenn dies, wie der Senat nunmehr klarstellt, nicht abschließend gemeint ist. Zudem muss der Gesetzgeber die Abweichungsgründe nachvollziehbar benennen und seine daran anknüpfende Bewertung offen legen. So muss etwa erkennbar sein, inwiefern die Gebühr den Rundfunkzahler unangemessen belastet und dass die abweichende Festsetzung dem Rechnung trägt. Entscheidend für die Nachprüfung ist die staatsvertragliche Begründung, auf die die Zustimmungsgesetze Bezug nehmen. Diese recht strengen Anforderungen an die Begründung dienen dazu, die Nachprüfung zu ermöglichen, dass tatsächlich aus zulässigen Gründen und nicht aus medienpolitischen Erwägungen abgewichen wird. Sie gelten auch unter den erschwerten Bedingungen des geltenden Rechts, nach dem die Ländergemeinschaft durch Staatsvertrag die Gebührenhöhe festsetzt, dem alle Landesparlamente zustimmen müssen. Der Senat begründet dies damit, dass es den Ländern freisteht, eine Mehrheitsentscheidung zu ermöglichen.
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Im Zusammenhang mit der schon im ersten Gebührenurteil betonten und in der Entscheidung vom 11. September 2007 bekräftigten Trennung zwischen Medienpolitik und Gebührenfestsetzung gilt es allerdings, einem Missverständnis vorzubeugen. Mit dem Verbot, mittels der Gebührenfestsetzung die Rundfunkordnung zu gestalten, ist nämlich keineswegs gesagt, dass dem Gesetzgeber medienpolitische oder programmleitende Entscheidungen verfassungsrechtlich versagt wären. Vielmehr sind gesetzliche Ausgestaltungen, die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und seinen Funktionsbereich betreffen, durchaus mit der Verfassung vereinbar, wenn sie gewissen Kautelen entsprechen. Der Gesetzgeber verfügt sogar bei der Regelung der medienpolitischen Rahmenbedingungen über einen breiten Gestaltungsspielraum, was der Senat erneut hervorhebt. Insoweit ist der Gesetzgeber aber auf die allgemeine Rundfunkgesetzgebung verwiesen. Wie weit diese Ausgestaltungsbefugnis reicht, wird allerdings in der neuesten Entscheidung nicht konkretisiert. Dies ist zwar auf Kritik gestoßen,21 erklärt sich aber daraus, dass diese Frage nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens war.
III. Die Vorgaben des Europarechts 1. Die Rundfunkgebühren und der Beihilfetatbestand Hintergrund dafür, dass sich das Europarecht auf die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auswirken kann, sind die Beihilfebestimmungen des EG-Vertrages. Art. 87 Abs. 1 EG erklärt staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Gemeinsamen Markt für unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen. Das Problem, ob die Rundfunkgebühren für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk Beihilfen sind und ob sie gegebenenfalls nach Art. 86 Abs. 2 EG gerechtfertigt werden können, ist Gegenstand einer lang andauernden und intensiven Diskussion.22 Man kann angesichts der Rechtsprechung des EuGH in den Rechtssachen Ferring / Acoss23 am 22. November 2001 und Altmark Trans24 weiterhin Zweifel anmelden, ob die Finanzierung durch Rundfunkgebühren das Merkmal des Vorteils erfüllt, das tatbestandlich für das Vorliegen einer Beihilfe erforderlich ist. Dafür hat der Gerichtshof in Altmark Trans präzise Kriterien aufgestellt. Erstens muss das begünstigte Unternehmen tatsächlich mit der Erfüllung gemeinwirtschaftlicher, klar definierter Verpflichtungen betraut sein. Zweitens darf der Ausgleich, der einem Unternehmen mittels vorher festgelegter, transparenter Kriterien für diese Verpflichtungen gewährt wird, keinen 21 22 23 24
Lilienthal, epd 73 / 2007, 3 ff. Zur Debatte vgl. oben Fn. 6. EuGH Slg. 2001, I-9067 – Ferring. EuGH Slg. 2003, I-7747. Weiterführend Bartosch, EuZW 2004, 295 ff.
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wirtschaftlichen Vorteil in der Form mit sich bringen, dass er das betroffene Unternehmen gegenüber konkurrierenden Unternehmen begünstigt. Dieser Ausgleich darf drittens nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist, um die Kosten der Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen unter Berücksichtigung der dabei erzielten Einnahmen und eines angemessenen Gewinns aus der Erfüllung dieser Verpflichtungen ganz oder teilweise zu decken. Als viertes Kriterium ist ein Vergleich mit der Kostenstruktur eines durchschnittlich gut geführten Unternehmens anzustellen, wenn das Unternehmen nicht im Rahmen eines Verfahrens zur Vergabe öffentlicher Aufträge ausgewählt wurde. Die Kommission geht aber davon aus, dass es in Deutschland nach der gegenwärtigen Rechtslage bezogen auf digitale Zusatzkanäle und Onlineangebote schon an einer hinreichend klaren Auftragsdefinition fehle. Daher sei schon das erste Merkmal nicht erfüllt. Zudem lasse die deutsche Gebührenfestsetzung mangels Vergabeverfahren den nach dem vierten Kriterium notwendigen Vergleich mit der Kostenstruktur eines durchschnittlich gut geführten Unternehmens vermissen. Daher hält sie daran fest, dass die deutsche Rundfunkgebühr das für den Beihilfebegriff erforderliche Merkmal des Vorteils erfülle. Gegen die Einordnung von Rundfunkgebühren als Beihilfen scheint auch das Urteil des EuGH in der Sache Preußen Elektra25 zu sprechen. Danach fehlt es unter bestimmten Umständen, die wegen des staatsfernen Festsetzungsverfahrens der deutschen Rundfunkgebühr erfüllt sein könnten, am ebenfalls nach Art. 87 Abs. 1 EG notwendigen Merkmal der Staatlichkeit. In der Rechtssache interpretiert der Gerichtshof das Merkmal der Staatlichkeit in der Weise, dass der Staat in irgendeiner Weise Kontrolle über diese Mittel ausüben können muss, sie demnach unmittelbar aus seinem Haushalt stammen oder mittelbar über vom Staat benannte oder errichtete öffentliche oder private Einrichtungen gewährt werden. Die Mittel müssen gleichsam durch staatliche Hände gehen. Allerdings hat der EuGH in seiner Entscheidung vom 13. Dezember 2007 wichtige Ausführungen zu der Frage gemacht, ob die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten „öffentliche Auftraggeber“ im Sinne des europäischen Vergaberechts darstellen. Der EuGH hat hier ausgeführt, die für den „öffentlichen Auftraggeber“ charakteristische „Finanzierung durch den Staat“ sei funktional zu bestimmen und liege im Falle der Rundfunkgebühren vor, da es sich bei der Gebührenerhebung um ein staatliches Verfahren handele, auch wenn die Gebühren nicht direkt über den staatlichen Haushalt eingenommen würden. Dies müsste – so der EuGH in der betreffenden Entscheidung – sogar gelten, wenn die endgültige Gebührenentscheidung nicht durch die Landesparlamente, sondern durch die KEF selbst getroffen würde, da auch die KEF ihre Einsetzung letztlich einem staatlichen Hoheitsakt verdanke. Angesichts dieser neuen Entscheidung des EuGH erscheint es angebracht, das Merkmal der „staatlichen Finanzierung“ auch im Zusammenhang mit dem Beihilfenrecht funktional und damit einheitlich auszulegen. Danach ist das Verfahren der Rundfunkgebüh25
EuGH Slg. 2001, I-2099. Siehe hierzu Koenig / Kühling, ZUM 2001, 537 ff.
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renerhebung letztlich als „staatliche Finanzierung“ und die Rundfunkgebühr folglich als „Beihilfe“ im Sinne des Art. 87 Abs. 1 EG zu bewerten. Damit stellt sich allein die Frage, ob der Ausnahmetatbestand nach Art. 86 Abs. 2 EG eingreift. Dass die Rundfunkanstalten als Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind, grundsätzlich unter Art. 86 Abs. 2 EG fallen können, ist unbestritten. Fraglich ist aber, wie bestimmt der Betrauungsakt, also die staatliche Aufgabenübertragung sein muss und wann der Wegfall der Gebührenfinanzierung die Aufgabenerfüllung verhindert. Die für diese Prüfung entscheidenden Kriterien hat die Europäische Kommission in der – rechtlich nicht verbindlichen, aber als Leitlinie relevanten – Rundfunkmitteilung von 2001 zusammengefasst, deren Überarbeitung 2008 eingeleitet wurde.26 2. Die Einstellungsentscheidung vom 24. April 2007 Besonders intensiv hat die Kommission die Beihilfefrage bei der deutschen Rundfunkfinanzierung geprüft. Im März 2005 hatte sie ein Verfahren nach Art. 17 VO 659 / 1999 gegen Deutschland aufgrund einer Beschwerde des Privatrundfunkverbandes VPRT eingeleitet. 27 Sie hielt in ihrer ersten Einschätzung die geltende deutsche Rundfunkfinanzierung in der jetzigen Form für unvereinbar mit Art. 87 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 86 Abs. 2 EG. Insbesondere wurde die Transparenz bei der Verteilung der Gebühreneinnahmen, der Online-Auftritt von ARD und ZDF sowie der Handel mit Sportübertragungsrechten bemängelt. Die Kommission verlangte eine eindeutige Definition des Grundversorgungsauftrags, die Führung getrennter Bücher, so dass zwischen den öffentlich-rechtlichen und sonstigen Tätigkeiten unterschieden werden kann, und geeignete Mechanismen, um eine Überkompensation der öffentlich-rechtlichen Tätigkeiten zu verhindern.28 Weiter sollte gewährleistet werden, dass die kommerziellen Tätigkeiten der Rundfunkanstalten nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen ausgeübt werden. Zudem sollte eine unabhängige nationale Behörde zur Überwachung der Einhaltung dieser Grundsätze errichtet werden. Nur dann könne die Finanzierung nach Art. 86 Abs. 2 EG gerechtfertigt werden. Zwar hielt es die Kommission für grundsätzlich zulässig, dass Mitgliedstaaten öffentlich-rechtliche Anstalten mit Online-Aktivitäten betrauen. Der Umfang dieser Betrauung müsse aber klar bestimmt sein. Deutschland wurde 26 Mitteilung über die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, ABl Nr. C 320 v. 15. 11. 2001, 5. 27 Ebenso wurden gegen die Niederlande und Irland entsprechende Verfahren von der Kommission eingeleitet, die bisher nicht abgeschlossen sind. Siehe Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 3. 5. 2003, IP / 05 / 250. Im Gegensatz dazu wurden die Verfahren gegen Portugal, Frankreich, Italien und Spanien nach Zusagen oder Änderungen der Finanzierungssysteme eingestellt. Siehe Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 22. 3. 2006, IP / 06 / 349 mit weiteren Nachweisen. 28 Pressemitteilung der Kommission vom 3. 3. 2005, IP / 05 / 250.
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daher aufgefordert, den Umfang dieser Aktivitäten und ihre Finanzierung durch öffentliche Mittel genauer zu regeln. Es dürften nur solche Dienstleistungen einbezogen werden, die die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft in gleicher Weise wie die herkömmlichen Rundfunkangebote befriedigten. Im Dezember 2006 wurde zwischen der Bundesregierung und der Kommission schließlich ein Kompromiss ausgehandelt,29 der die Grundlage für die Verfahrenseinstellung durch die Entscheidung vom 24. April 2007 bildete.30 Ganz maßgeblich in die gesamten Verhandlungen waren die deutschen Länder eingebunden, die sich insbesondere darum bemühten, die verfassungsrechtlichen Vorgaben und die deutschen Vorstellungen von Staatsferne des öffentlich-rechtlichen Rundfunks mit den Forderungen der Kommission in Einklang zu bringen. Die erzielte Einigung, die beide Vorstellungen miteinander in Einklang bringen soll, mündete in förmlich unterbreiteten Zusagen Deutschlands, die in der Einstellungsentscheidung vom 24. April festgeschrieben sind. Bemerkenswert ist dabei, dass die Kommission über den Hebel des Art. 86 Abs. 2 EG Vorgaben macht, wie Deutschland den Aufgabenbereich des öffentlichrechtlichen Rundfunks zu bestimmen hat. Für den klassischen Rundfunkbereich ist allerdings hervorzuheben, dass die Kommission eine allgemeine Beschreibung des Programmauftrags, wie er in § 11 RStV enthalten ist, zwar nicht für wünschenswert, aber wegen des Gestaltungsspielraums der Mitgliedstaaten für europarechtlich hinnehmbar hält. Dieser Gestaltungsspielraum wird nicht zuletzt durch das „Protokoll über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in den Mitgliedstaaten“ 31 zum EG-Vertrag bestätigt. Dieses Protokoll ist keine bloße Absichtserklärung, sondern nach Art. 311 EG ein integrierter rechtsverbindlicher Bestandteil des Vertrages.32 Es gilt auch nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon fort.33 Dabei verdeutlicht sein Einleitungssatz, dass es sich um eine auslegende Bestimmung handelt. Dies bedeutet, dass das Protokoll das Primärrecht nicht selbst modifiziert. Es hat vielmehr klarstellenden Charakter. Das Protokoll zeigt aber, wie die entsprechenden Bestimmungen des Vertrages nach dem übereinstimmenden Willen der Mitgliedstaaten, die immerhin die „Herren der Verträge“ sind, verstanden werden sollen. Daher hat das Protokoll für die Auslegung des EG-Vertrages eine nicht zu unterschätzende Bedeutung, denn aus ihm ergibt sich, wie die Mitgliedstaaten das Primärrecht sehen. Das Protokoll erkennt ausdrücklich die Kompetenz der MitVgl. epd medien 100 / 2006. Entscheidung der Kommission vom 24. 4. 2007, K(2007) 1761 endg., teilweise abgedruckt in epd medien 39 / 2007, 3 ff.; vgl. dazu auch epd medien 32 / 2007, 12 f.; MMR 2007, XIV f. 31 Vgl. das Protokoll (Nr. 32) über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in den Mitgliedstaaten (1997) in der Gesetzessammlung Sart. II, Nr. 151. 32 Zeller, Die EBU, 1999, S. 233. 33 Vgl. ABl. EG Nr. C vom 17. 12. 2007, S. 166. 29 30
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gliedstaaten an, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk einen bestimmten Aufgabenkreis oder Funktionsbereich zu übertragen, diesen festzulegen und auszugestalten. Auch haben der Rat und die im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten mit ihrer Entschließung vom 25. Januar 1999 über den öffentlichrechtlichen Rundfunk34 dessen zentrale Bedeutung für die Kultur und die Demokratie hervorgehoben. Zudem kann das Protokoll als Argument dafür herangezogen werden, dass Rundfunkgebühren grundsätzlich keine verbotenen Beihilfen darstellen und dass es den Mitgliedstaaten gestattet ist, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auch durch Rundfunkgebühren zu finanzieren, wenn diese eine angemessene Gegenleistung für die von den Mitgliedstaaten festzulegenden Funktionen darstellen, die der öffentlich-rechtliche Rundfunk zu erfüllen hat. Dies erkennt auch die Kommission an. Sie geht aber davon aus, dass das Protokoll bestätigt, dass der Aufgabenbereich hinreichend bestimmt von den Mitgliedstaaten festgelegt werden muss. Dies sei in Deutschland für die digitalen Zusatzkanäle und die Onlineangebote des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nicht der Fall. Daher verlangt sie sowohl für digitale Zusatzprogramme als auch für Onlineangebote eine Präzisierung des Auftrags, für die entsprechend den Zusagen Deutschlands teilweise auch eine verfahrensrechtliche Lösung, nämlich der Drei-StufenTest in Betracht kommt.
IV. Der mögliche Ausgleich zwischen Verfassungs- und Europarecht 1. Materiell-rechtliche Präzisierungen des Auftrags Der Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist im Hinblick auf das Onlineangebot, der Rundfunkstaatsvertrag spricht von Telemedien, entsprechend den Zusagen Deutschlands, die in der Einstellungsentscheidung festgeschrieben sind, in materiell-rechtlicher Hinsicht zu präzisieren.35 Zunächst müssen diese Aktivitäten aus Sicht der Kommission auf journalistisch-redaktionelle Angebote gesetzlich begrenzt werden. Auch ist zu präzisieren, was darunter zu verstehen ist. Daher hat Deutschland in diesem Zusammenhang zugesagt, den Begriff „journalistischredaktionell“ in der Begründung zum Staatsvertrag näher zu erläutern. Zudem müssen gesetzlich Kriterien festgelegt werden, denen diese Angebote zu dienen haben. Dazu können Kriterien, wie die Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen an der Informationsgesellschaft zu ermöglichen, Minderheiten adäquaten Zugang zu den Angeboten zu schaffen, Bürgern den Nutzen der neuen digitalen Angebote nahe zu bringen, glaubwürdige Orientierungshilfe bei neuen digitalen Diensten zu bieten, Medienkompetenz zu fördern und Rundfunksendungen dem Wandel der Medien ABl. EG Nr. C vom 5. 2. 1999, S. 1. Insoweit die Vorgaben der Kommission unterschätzend Wiedemann, epd medien 95 / 2007, 31 f. 34 35
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entsprechend zu begleiten, zählen. Schließlich müssen die gesetzlichen Regelungen, also der Rundfunkstaatsvertrag, bzw. die Satzungen oder Richtlinien der Rundfunkanstalten eine beispielhafte Liste von Onlineangeboten enthalten, die regelmäßig bzw. regelmäßig nicht vom Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks erfasst sind. Zu den Angeboten, die regelmäßig nicht vom Auftrag erfasst werden, zählen aus Sicht der Kommission etwa der elektronische Geschäftsverkehr (E-Commerce), Sponsoring und Werbung im Internet und flächendeckende lokale Berichterstattung. Entsprechend den von der Kommission geäußerten Bedenken36 sollten die Rundfunkanstalten eine ergänzende Negativliste aufstellen, die illustrativen Charakter hat. In diese Negativliste könnten – zumindest kostenpflichtige – Online-Spiele, Chat-Rooms und Online-Kontaktdienste aufgenommen werden, auch wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie im Einzelfall das traditionelle Angebot in zulässiger Weise ergänzen. Nicht erforderlich ist es dagegen aus Sicht der Kommission, die Präzisierung des öffentlichen Auftrags der Anstalten vollständig durch den Gesetzgeber vorzunehmen. Dies macht gerade das von der Kommission akzeptierte Drei-Stufen-Verfahren deutlich. Was also die (Weiter-) Entwicklung des öffentlich-rechtlichen Angebotes betrifft, besteht im durch den Gesetzgeber vorgesehenen Rahmen grundsätzlich nicht unerheblicher Spielraum für Selbstregulierung und Entfaltung kreativen Potentials durch die Anstalten. Allerdings müssen die Bundesländer – ggf. im Wege der Rechtsaufsicht – in letzter Instanz darüber befinden, ob neue Angebote vom öffentlichen Auftrag erfasst sind. Auch hat weder die Kommission strenge Programmakzessorietät der OnlineDienste verlangt, noch hat Deutschland dies zugesagt. Schließlich sind Textdienste nicht ausgeschlossen oder auf strenge Programmakzessorietät limitiert. Daher droht angesichts der sehr allgemein gehaltenen materiell-rechtlichen Vorgaben auch kein Konflikt mit den Vorstellungen des Bundesverfassungsgerichts. Bemerkenswert ist aber, dass die Länder mit dem Entwurf des Zwölften Rundfunkänderungsstaatsvertrages vom 12. Juni 2008 nun einen anderen Weg einschlagen, obwohl gerade sie beim Aushandeln des Beihilfekompromisses Wert darauf legten, mit dem Drei-Stufen-Test im Hinblick auf die Programmautonomie und die Staatsferne bedenkliche rigide materiell-rechtliche Vorgaben zu vermeiden. So wollen die Länder zum Teil ein geschlossenes materiell-rechtliches Modell der gesetzgeberischen Betrauung einführen und damit den Drei-Stufen-Test weitgehend ausblenden. Kritiker werten die im Entwurf des RStV selbst enthaltenen, in der Tat recht weitreichenden Beschränkungen der Anstalten als verfassungswidrigen Verstoß gegen die dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk vom Bundesverfassungsgericht zugebilligte Entwicklungsgarantie.37 In diesem Zusammenhang ist zunächst festzustellen, dass die Sieben-Tage-Frist für die Bereithaltung von Sendungen zum Abruf sowie von sendungsbezogenen Telemedien (§ 11d Abs. 2 Nr. 1, 2 des Entwurfs) in der Einstellungsentscheidung und den Zusagen keine Grundlage 36 37
Vgl. Einstellungsentscheidung der Kommission vom 24. 4. 2007, Rn. 232. Vgl. die Stellungnahme von ARD und ZDF, epd medien 33 / 2008, 23 ff.
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hat. Diese Begrenzung geht also über das hinaus, was die Kommission fordert. Dies gilt auch für die Begrenzungen bei den textbasierten Angeboten, die nach der 2. Alternative von § 11d Abs. 2 unzulässig sein sollen, wenn es sich um „presseähnliche Angebote“ handelt. Dabei versteht der Entwurf unter presseähnlichen Angeboten alle journalistisch-redaktionell gestalteten Angebote, die nach Gestaltung und Inhalt Zeitungen oder Zeitschriften entsprechen. Gleiches gilt für den Ausschluss von Unterhaltungsangeboten, die ebenfalls nicht Bestandteil der Zusagen gegenüber der Kommission waren und in dieser Schärfe vom Gemeinschaftsrecht nicht gefordert sind. Gemeinschaftsrechtlich steht es den Ländern frei, bei der Begrenzung des Auftrags über das Zugesagte hinauszugehen. Verfassungsrechtlich müssen aber die Vorgaben der Karlsruher Rechtsprechung beachtet werden. Diese gesteht dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk neben der Bestands- auch eine Entwicklungsgarantie zu. Gerade die auf die Entwicklungsgarantie gestützte Kritik der Anstalten hat einiges für sich. Es ist jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass die in Rede stehenden Limitationen die Entwicklung von Angeboten mit der für Onlinedienste möglichen und typischen Aktualität, gestaffelten Angebotstiefe und Kombination von Ton, Bild, Bewegtbild und Text erheblich be-, wenn nicht zum Teil verhindern. Dies wäre verfassungsrechtlich um so bedenklicher, wenn das Motiv für die Restriktionen der Schutz von Marktchancen Dritter wäre. Das Bundesverfassungsgericht möchte publizistische Konkurrenz erreichen. Es sieht den in der BadenWürttemberg-Entscheidung beschworenen Gedanken der publizistischen Konkurrenz sogar als Lebenselement der Meinungsfreiheit38 an. Auch ein – nicht von Deutschland gegenüber Brüssel zugesagter – Ausschluss unterhaltender Elemente39 in den Telemedienangeboten unterliegt Bedenken, da Unterhaltung als Teil des klassischen Rundfunkauftrags zur Grundversorgung durch die öffentlich-rechtlichen Anstalten rechnet und sich die Entwicklungsgarantie auch auf unterhaltende Elemente als Teil der Grundversorgung bezieht. 2. Der Drei-Stufen-Test als Ausweg Dabei hat die Kommission einen Weg akzeptiert, der sowohl der aus ihrer Sicht notwendigen genaueren Präzisierung des Onlineauftrags als auch der Staatsferne und der Programmautonomie Rechnung trägt. Es handelt sich dabei um eine verfahrensrechtliche Lösung, nämlich den Drei-Stufen-Test. Dieser ist dem Public-Value-Test nachgebildet, weist aber deutliche Unterschiede auf.40 Das Verfahren hat den Vorteil, eine zu präzise Festlegung des Onlineauftrags durch den Gesetzgeber, die mit der Staatsferne und der Programmautonomie in Konflikt geraten kann, entBVerfGE 74, 297 (331 f.). Nunmehr ggf. nur im Hinblick auf Unterhaltungsangebote für Erwachsene, was das Problem zwar begrenzt, aber nicht löst. 40 R. Meyer, epd medien 29 / 2008, 3. 38 39
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behrlich zu machen. Es endet im Falle der erfolgreichen Durchführung mit einer nochmaligen Prüfung und Feststellung durch die Länder im Rahmen der Rechtsaufsicht. Dabei obliegt es dem Gesetzgeber, die Kriterien festzulegen, wie ein solches Verfahren allgemein abläuft. Diese Kriterien sind durch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zu konkretisieren. Die Grundlinien sind aber aus Sicht der Kommission vorgegeben. Das Verfahren gilt für alle neuen oder veränderten Onlineangebote des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Am Anfang steht daher die Frage, wann ein neues bzw. verändertes Angebot vorliegt. Die dafür maßgeblichen Kriterien müssen im Gesetz festgelegt und auf dieser Grundlage von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten konkretisiert werden. Dafür ist entsprechend den Vorstellungen der Europäischen Kommission entscheidend, in welchem Umfang das Projekt Nutzer und Marktteilnehmer betrifft. Maßgeblich ist in diesem Zusammenhang, ob das Angebot wegen seines Umfangs marktrelevante Auswirkungen in Bereichen haben könnte, die von den bestehenden Angeboten der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten noch nicht erfasst werden. Außerdem sind seine publizistische Relevanz, seine geplante Dauer sowie der Umstand zu berücksichtigen, ob und inwieweit vergleichbare Angebote bereits vorhanden sind. Liegt nach diesen Kriterien und den Konkretisierungen in den Satzungen und Richtlinien der Rundfunkanstalten ein neues oder geändertes Vorhaben vor, so ist der Test zwingend durchzuführen. Auf der ersten Stufe muss geprüft werden, ob das neue bzw. geänderte Angebot zum öffentlichen Auftrag gehört, also den demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnissen der Gesellschaft sowie den oben erläuterten präzisierten materiell-rechtlichen Anforderungen für Online-Angebote entspricht. Ist dies der Fall, so ist auf der zweiten Stufe zu untersuchen, ob das Angebot in qualitativer Hinsicht zum Wettbewerb beiträgt. Diese zweite Stufe bildet das Herzstück des neuen Verfahrens. Dabei sind wiederum drei Elemente maßgeblich. Einmal muss das bestehende, frei zugängliche Angebot nach Umfang und Qualität festgestellt werden. Danach ist die meinungsbildende Funktion des vorgesehenen Angebots, das unterhaltende Elemente einschließen darf, mit dem vorhandenen Angebot zu vergleichen. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass die publizistischen Aspekte eine entscheidende Rolle spielen. Insoweit liegt ein gewisser Unterschied zum Public-Value-Verfahren des britischen Rechts vor, der stärker auf die ökonomischen Gesichtspunkte abstellt. Dies ändert aber nichts daran, dass im Drei-Stufen-Verfahren auch die marktrelevanten Auswirkungen berücksichtigt werden müssen. Da es aus ökonomischer Sicht an einem Marktbegriff im Free TV beziehungsweise bei den frei zugänglichen Online-Angeboten fehlt, ist im Rahmen der Prüfung vornehmlich auf die benachbarten Märkte sowie die vor- und nachgelagerten Märkte abzustellen: Die Auswirkungen des Angebotes sind demnach auf diesen verbundenen Märkten zu prüfen. Zu denken wäre beispielsweise an eine Prüfung des Werbemarktes, in dem die privaten Onlineanbieter die Marktgegenseite der werbetreibenden Industrie sind. Ein Onlineangebot der öffentlich-recht-
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lichen Anbieter ist geeignet, Zuschauer- / Nutzeraufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die Nutzeraufmerksamkeit wird den privaten Onlineangeboten entzogen und hat daher Auswirkungen auf den Werbemarkt: Die werbetreibende Industrie reduziert die finanziellen Werbemittel beziehungsweise Die eingesetzten Mittel verteilen sich auf weniger Nutzer. Dieser Aspekt ist ebenfalls in die Gesamtabwägung einzustellen. Sind die negativen marktrelevanten Auswirkungen auf die anderen Marktteilnehmer signifikant, so müssen die meinungsbildenden Funktionen des vorgesehenen Angebots umso gewichtiger sein, damit insgesamt ein ausreichender Beitrag zum publizistischen Wettbewerb bejaht werden kann. Gerade bei dieser komplexen Prüfung ist ein umfänglicher Such-, Findungs- und Abwägungsprozess erforderlich, den die anstaltsinternen Kontrollgremien, also Rundfunk- und Fernsehräte, ohne sachverständige Hilfe nicht zu leisten vermögen. Damit kein Missverständnis entsteht: Dies ist kein Vorwurf an Gremienmitglieder und deren Arbeit. Diese können und müssen die meinungsbildende Funktion, also die publizistische Seite des Angebots bewerten. Dies gehört zu ihren klassischen Aufgaben. Aber auch insoweit sind angesichts der zu begrüßenden Aufwertung der Rundfunkgremien durch den neuen Drei-Stufen-Test ein personeller Unterbau und eine systematische Professionalisierung erforderlich. Dagegen setzt die Analyse der marktrelevanten Auswirkungen wettbewerbsökonomisches und wettbewerbsrechtliches Expertenwissen voraus. Insoweit ist zu empfehlen, ein beratendes Expertengremium einzurichten, das die marktrelevanten Auswirkungen des neuen bzw. veränderten Angebots innerhalb des Drei-Stufen-Tests, insbesondere auf der zweiten Stufe, begutachtet. Dieses hätte aber auch die Aufgabe, schon im Vorfeld die marktrelevanten Auswirkungen eines neuen Angebotes abzuschätzen. Ein solches Expertengremium, das aus fünf oder sechs Sachverständigen bestehen sollte, kann ohne weiteres als Beratungsorgan für alle Rundfunk- und Fernsehräte agieren. Auch bei dieser Lösung verbliebe es bei der Entscheidungskompetenz des Rundfunk- bzw. Fernsehrates. Insbesondere würden dem Fernseh- bzw. Rundfunkrat die Bewertung der publizistischen Auswirkungen, also der meinungsbildenden Funktion, und die Abwägung der unterschiedlichen Belange obliegen. Es wäre aber in jedem Fall sichergestellt, dass unabhängiges, insbesondere ökonomisches Expertenwissen in die Entscheidungsfindung einfließt und die von den Experten begutachteten marktrelevanten Auswirkungen bei der von dem Fernseh- bzw. Rundfunkrat vorzunehmenden Abwägung berücksichtigt werden können und müssen. Dies lässt erwarten, dass die Entscheidungen nachvollziehbar und plausibel begründet werden. Durch ein solches beratendes Expertengremium würden also Rundfunkund Fernsehräte gestärkt und aufgewertet; es wäre sichergestellt, dass in die von ihnen zu treffende Abwägungsentscheidung alle relevanten Gesichtspunkte einfließen. Auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk selbst und die Gesellschaft würden davon profitieren, dass nur neue oder veränderte Online-Angebote, die auch unter Berücksichtigung der marktrelevanten Auswirkungen einen publizistischen Mehrwert mit sich bringen, erbracht werden können. So weit geht der Entwurf des Staatsvertrages nicht. Er sieht lediglich die Hinzuziehung von Sachverständigen vor, die der Rundfunkrat selber auswählen kann.
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Auf der dritten Stufe geht es schließlich um den finanziellen Aufwand für die Erbringung des geplanten Angebots. Richtig verstanden bedeutet dies, dass der finanzielle Aufwand in einem angemessenen Verhältnis zu dem öffentlichen Nutzen, also dem publizistischen Mehrwert stehen muss. Innerhalb des Drei-Stufen-Tests ist vorzusehen, dass Dritte Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Insoweit hat Deutschland zugesagt, den Rundfunkgremien im Staatsvertrag aufzuerlegen, sich vor ihrer Entscheidung mit Stellungnahmen Dritter, also insbesondere privater Rundfunkveranstalter oder Zeitungsverleger, zu den marktrelevanten Auswirkungen zu befassen. Dazu ist es notwendig, die Projektbeschreibung zu veröffentlichen und eine angemessene Frist für die Stellungnahmen vorzusehen. Nach einer erfolgreichen Durchführung des Drei-Stufen-Tests ist das geplante Vorhaben mit den Selbstverpflichtungen und den Begründungen der Rechtsaufsicht vorzulegen. Diese prüft, ob das Vorhaben mit den diesbezüglichen Selbstverpflichtungserklärungen mit dem gesetzlichen Auftrag vereinbar ist und stellt dies fest. Erst in dieser Feststellung, die in amtlichen Veröffentlichungsblättern der Länder zu verkünden ist, sieht die Kommission den aus ihrer Sicht unbedingt erforderlichen Betrauungsakt. Gerade um eine wegen der Staatsferne problematische intensive Prüfung der Rechtsaufsicht zu vermeiden, muss das Verfahren überzeugend und nachvollziehbar, also effektiv sein. Nur dann wird ein solches Verfahren vor den kritischen Augen der Europäischen Kommission Bestand haben. Dieses Verfahren stellt sicher, dass sowohl den Vorgaben des Europa- als auch des Verfassungsrechts Genüge getan werden kann. Zudem bietet gerade das Verfahren des Drei-Stufen-Tests die große Chance, sich ernsthaft und bezogen auf konkrete Angebote intensiv damit auseinanderzusetzen, worin der öffentlich-rechtliche Auftrag wirklich besteht, wann ein gesellschaftlicher Mehrwert eintritt, wofür also der öffentlich-rechtliche Rundfunk eigentlich Gebühren erhält. Dass dieses intensive Nachdenken von Zeit zu Zeit notwendig ist, machen schon manche Angebote im Bereich des klassischen Fernsehens, man denke nur an Sendungen im Vorabend- oder „Werberahmenprogramm“ – schon das Wort und seine selbstverständliche Verwendung durch Vertreter der ARD lassen einen erschauern – deutlich. Es ist übrigens traurig und leider bezeichnend, dass diese Formate nur dann in Frage gestellt werden, wenn sie die werberelevante Zielgruppe nicht im erwarteten Ausmaß erreichen.41 V. Ausblick Wenn man schon dabei ist, darüber nachzudenken, wie man das öffentlich-rechtliche Profil auch durch die Ausgestaltung der Rundfunkfinanzierung weiter schärfen kann, sollte man einen zentralen Punkt nicht ausklammern. Der Erste Senat 41
Vgl. dazu epd medien 30 / 2008, 13.
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des Bundesverfassungsgerichts hat in seiner Entscheidung vom 11. September 200742 deutliche Skepsis erkennen lassen, ob eine Finanzierung des öffentlichrechtlichen Rundfunks auch aus Werbung und Sponsoring noch sachgerecht ist. Zwar betont er, dass neben der Gebühr andere Finanzierungsquellen, wie Sponsoring und Werbung, nicht ausgeschlossen seien. Sie dürfen aber, so die Karlsruher Richter, nicht im Vordergrund stehen. Zudem muss die Nutzung dieser Finanzierung vom Gesetzgeber laufend daraufhin überprüft werden, ob sie nicht zu einer zunehmenden Ausrichtung des Programms auf Massenattraktivität und einer Erosion der Identifizierbarkeit des öffentlich-rechtlichen Charakters führt. Es besteht insoweit durchaus ein Prüfauftrag, ob und inwieweit Werbung und Sponsoring dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk weiterhin ermöglicht werden. Daran hat der bisherige Bundesverfassungsrichter Hoffmann-Riem erinnert und warnend darauf hingewiesen, dass einzelne Formate des öffentlich-rechtlichen Rundfunks übermäßig stark am Werbeerfolg orientiert seien.43 Die Länder sollten von diesem Prüfauftrag Gebrauch machen. Kurzfristig bietet es sich an, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk das (Sende-) Sponsoring zu untersagen. Die diesbezüglichen Einnahmen sind gering, daher lassen sich die Ausfälle durch eine geringfügige Gebührenerhöhung, die nach den Berechnungen der KEF 18 Cent betragen würde,44 ausgleichen. Dagegen ist der negative Einfluss auf das Erscheinungsbild bei den Zuschauerinnen und Zuschauern erheblich; es entsteht der Eindruck, dass öffentlich-rechtliche Sendungen zu einem beachtlichen Teil von Sponsoren finanziert oder gar gestaltet werden. Mittelfristig sollten die Länder eine reine Gebührenfinanzierung vorsehen. Dies gilt umso mehr, als das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11. September 2007 sicherstellt, dass die Gebühr weiterhin bedarfsgerecht in einem staatsfernen Verfahren festgelegt wird. Die KEF hat insoweit errechnet, dass ein Verzicht auf Werbung einen Mehraufwand an monatlichen Gebühren pro Teilnehmer in Höhe von 1,24 A zur Folge hätte.45 In diesem Zusammenhang ist entscheidend, dass die Werbefinanzierung sich auf die Programmqualität nicht unerheblich auswirkt. Das Programm wird zum Werberahmen; die vom Bundesverfassungsgericht beschriebenen Tendenzen der zunehmenden Ausrichtung auf Massenattraktivität, Verflachung und Betonung des Sensationellen sowie Skandalösen sind unbestreitbar. Mit einem ernst genommenen Drei-Stufen-Test und einem Verzicht auf Werbung und Sponsoring würde also entscheidend zur Schärfung des öffentlich-rechtlichen Profils beigetragen, die Werbe- und Sponsoringfreiheit wäre ein Pfund, mit dem der öffentlich-rechtliche Rundfunk im publizistischen Wettbewerb wuchern könnte.
BVerfG NVwZ 2007, 1287 = JuS 2008, 544 (Dörr). Vgl. epd medien 30 / 2008, 10. 44 KEF, 15. KEF-Bericht, Band 2,S. 17, [Stand 28. 1. 2008]. 45 KEF, a. a. O. 42 43
Der Betrieb eines DVB-T-Sendernetzes durch die Sächsische Landesmedienanstalt aus wettbewerbsrechtlicher Sicht Von Georgios Gounalakis
I. Problemstellung Dem digitalen Fernsehen gehört die Zukunft. Und mit Satelliten- und Kabelsendernetzen bestehen Infrastrukturen, die sich in Deutschland für seine Übertragung bereits etabliert haben. Mit der Digitalisierung der Rundfunksignale könnte nun auch der terrestrische Verbreitungsweg, der seit den achtziger Jahren zusehends an Bedeutung verloren hat, wieder eine stärkere Position im Wettbewerb der Infrastrukturen einnehmen. So lässt sich der Mehrwert eines digitalen terrestrischen Fernsehens (DVB-T) gegenüber den etablierten Übertragungsarten unter dem Stichwort „Überallfernsehen“ leicht ersehen. Freilich ist DVB-T bislang von einer flächendeckenden Verbreitung noch entfernt. Private Rundfunkunternehmen scheuen die Kosten der von ihnen bislang nur marginal genutzten terrestrischen Verbreitung, während der Zuschauer seine Scheu nur bei einer möglichst breiten Beteiligung der privaten Veranstalter ablegt. Hier nun treten die Landesmedienanstalten auf den Plan. Jenseits ihres traditionellen Aufgabenfelds der Zulassung und Aufsicht des Privatrundfunks in Deutschland steht es ihnen gemäß § 40 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 RfStV – eine Ermächtigung in den jeweiligen Landesmediengesetzen vorausgesetzt – zu, neue Übertragungstechniken in Pilotprojekten mit finanziellen Mitteln zu fördern. Dass neben die Vielfalt digital übertragbarer Programme nun auch eine Vielfalt der Übertragungswege treten soll, wird aus Sicht der Landesmedienanstalten als rundfunktechnische Verwirklichung der rundfunkverfassungsrechtlichen Forderungen nach Vielfalt und Grundversorgung verstanden. Prominent ist das Beispiel Berlin-Brandenburgs. Gefördert von der Medienanstalt Berlin-Brandenburg wurde im Februar 2002 unter großem Medieninteresse das terrestrische digitale Fernsehen in Betrieb genommen. Unterschätzt wurde dabei allerdings der Aktionsradius der europäischen Beihilfeaufsicht. Die hat bekanntlich die finanzielle Förderung der privaten Rundfunkunternehmen mit Entscheidung vom 9. November 2005 als unzulässige Beihilfe eingestuft und damit das Ende der Förderung von DVB-T in ihrer bisherigen Form bewirkt.
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Auf der Suche nach alternativen Formen ist die Sächsische Landesmedienanstalt (SLM). Sie möchte an ihren Plänen für ein DVB-T-Pilotprojekt für das Gebiet Leipzigs festhalten und beabsichtigt dabei, sich selbst als Betreiberin eines DVB-T Sendernetzes zu betätigen. Von der Errichtung und dem Betrieb eines eigenen Sendernetzes verspricht sie sich, im Vergleich zur T-Systems Business Services GmbH, die den Markt für terrestrische Sendeunternehmen dominiert, günstigere Übertragungsentgelte anbieten zu können. In den spezifischen Unternehmensstrukturen der Deutschen Telekom AG, innerhalb derer die T-Systems Business Services GmbH ihre Leistungen anbietet, sieht die SLM, ebenso wie in der marktbeherrschenden Stellung des Unternehmens, ungünstige Voraussetzungen für die Einführung von DVB-T. Darüber hinaus führt sie die Höhe der Übertragungsentgelte aber auch auf die Sendeanlagen der T-Systems Business Services GmbH zurück. Die seien als Folge des rundfunkrechtlichen Grundversorgungsauftrags auf größtmögliche Flächenversorgung optimiert. Eine großflächige Versorgung zu entsprechend hohen Übertragungsentgelten werde jedoch den Bedürfnissen eines auf das Stadtgebiet Leipzigs beschränkten Projekts nicht gerecht. Will daher die SLM selbst ein DVB-T-Sendernetz bestehend aus fünf Sendern mit relativ geringer Sendeleistung betreiben, begibt sie sich auf das Terrain wirtschaftlicher Betätigung. Die Übernahme wirtschaftlicher Tätigkeiten durch die öffentliche Hand sieht sich allerdings von Seiten der Privatwirtschaft regelmäßig dem Vorwurf ausgesetzt, öffentliche Mittel würden in unzulässiger Weise zur Quersubventionierung wirtschaftlicher Aktivitäten verausgabt. Diesen möglichen Vorwurf greift dieser Beitrag, der auf einem Gutachten im Auftrag der Sächsischen Landesmedienanstalt (SLM) beruht, auf. Er untersucht, ob der Betrieb eines DVBT-Sendernetzes durch die SLM selbst oder durch eine von ihr beherrschte GmbH gegen Vorgaben des nationalen oder europäischen Wettbewerbsrechts verstößt. Zwei Szenarien sind bei der Prüfung zu unterscheiden: Denkbar ist zunächst ein auf Wirtschaftlichkeit ausgerichtetes Konzept, unter dem die SLM ihr eigenes Sendernetz betreibt. Nach diesem Konzept verhielte sie sich ebenso wie ein privater Investor nach rein erwerbswirtschaftlichen Grundsätzen. Daneben ist aber auch die Alternative in Betracht zu ziehen, nach der die SLM ihr Sendernetz nicht unter marktüblichen Bedingungen betreibt, sondern den Rundfunkunternehmen gezielt nicht kostendeckende Übertragungskonditionen anbietet. Beide Fälle sind am Maßstab des Wettbewerbsrechts zu messen. Einmal am nationalen Wettbewerbsrecht des UWG, das auch in seiner neuen Fassung die zweckwidrige Verwendung öffentlicher Mittel als unlauter einstuft. Aber insbesondere auch an den Vorgaben des europäischen Beihilferechts. Hier ist zu untersuchen, ob die Errichtung oder der Betrieb des Sendernetzes mit Mitteln aus dem Rundfunkgebührenaufkommen zulässig ist. Dies betrifft die Frage nach einer Beihilfe zugunsten der SLM. Beihilferechtlich ebenso relevant, das hat der Fall des DVB-T-Projekts Berlin-Brandenburg gezeigt, ist die Frage, ob im Betrieb des Sendernetzes nicht auch eine Beihilfe zugunsten der Rundfunkanbieter zu sehen ist. Da jedoch sowohl nach deutschem als auch nach europäischem Wettbewerbsrecht
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die zweckwidrige Mittelverwendung durch die öffentliche Hand ein zentrales Kriterium darstellt, soll zunächst die Bewertung der rundfunkrechtlichen Zulässigkeit des von der SLM beabsichtigten Vorhabens im Mittelpunkt des Interesses stehen.
II. Rundfunkrechtliche Zulässigkeit Die rundfunkrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens, ein DVB-T-Pilotprojekt mit dem Betrieb eines eigenen Sendernetzes zu fördern, hängt zunächst einmal davon ab, ob diese Fördertätigkeit als solche zum Kreis der Anstaltsaufgaben der SLM zählt. Daneben bedarf es dann noch der Klärung, ob sich die Projektförderung auch in der konkreten Form der erwerbswirtschaftlichen Betätigung als rechtmäßig erweist. 1. DVB-T-Förderung als Anstaltsaufgabe Die Anstaltsaufgaben der SLM finden sich im Gesetz über den privaten Rundfunk und neue Medien in Sachsen (Sächsisches Privatrundfunkgesetz – SächsPRG) normiert. Dessen § 28 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 weist der SLM die Aufgabe zu, die technische Infrastruktur für neue Rundfunkübertragungstechniken zu fördern. Seinem Wortlaut nach legt die Bestimmung also eine recht weitgehende Auslegung der Förderungsbefugnisse der SLM nahe. Speziell auch eine solche, die eine Förderung aus Finanzmitteln der Anstalt erlaubt. Da diese Mittel jedoch aus dem in § 10 RFinStV festgelegten Anteil am Rundfunkgebührenaufkommen stammen, sind die restriktiven Vorgaben des RfStV über die Verwendung der Rundfunkgebühr zu beachten. Gemäß § 43 S. 2 RfStV ist es nämlich unzulässig, private Rundfunkveranstalter aus der Rundfunkgebühr zu finanzieren. Allerdings macht § 43 S. 3 RfStV hiervon eine Ausnahme für die Fälle des § 40 RfStV. Zu denen zählt gemäß § 40 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 RfStV auch die Förderung landesrechtlich gebotener Infrastruktur zur Förderung von Projekten für neuartige Rundfunkübertragungstechniken. Innerhalb der tatbestandlichen Grenzen dieser Bestimmung ist es mithin zulässig, private Veranstalter aus Gebührenmitteln der Landesmedienanstalten zu fördern. An ihnen muss sich daher auch eine Auslegung des § 28 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SächsPRG orientieren. Anhand dieser Auslegung lässt sich dann schließlich ermessen, ob das Projekt der SLM den rundfunkrechtlichen Vorgaben entspricht. Da § 40 Abs. 1 S. 2 RfStV unter dem Vorbehalt einer besonderen landesgesetzlichen Ermächtigung steht, gilt dies allerdings nur unter der Einschränkung, dass sich § 28 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SächsPRG tatsächlich als hinreichende Ermächtigung qualifizieren lässt.
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a) Tatbestandliche Reichweite des § 28 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SächsPRG Seinem Regelungszweck nach zielt die nach § 40 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 RfStV zulässige Projektförderung auf eine Digitalisierung der Übertragungswege,1 mithin auch auf Pilotprojekte für DVB-T. Wenn also § 28 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SächsPRG den Wortlaut dieser Vorschrift weitgehend übernimmt, spricht dies grundsätzlich für eine Förderung von DVB-T durch die SLM. aa) Zulässiger Förderungsgegenstand Allerdings enthält § 40 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 RfStV einige Restriktionen, die sich sowohl dem Wortlaut als auch den Gesetzesmaterialien entnehmen lassen. So zunächst die in § 28 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SächsPRG nicht enthaltene Beschränkung auf „Projekte“, die „neuartigen Rundfunkübertragungstechniken“ zugute kommen sollen. Bei der geförderten Technik muss es sich also um eine solche handeln, für die noch kein funktionierender Regelbetrieb besteht, die also noch Projekten bedarf, die seiner endgültigen Einführung vorangehen.2 Dies zeigt auch ein Blick auf die Gesetzesmaterialien, in denen ausdrücklich von Projekten die Rede ist, die der Erprobung einer Technik dienen.3 Das Pilotprojekt Sachsens wird diesen Anforderungen gerecht. Zunächst hat es Beispielcharakter für das Land Sachsen. Und selbst wenn man die Auffassung vertritt, DVB-T könne schon deswegen keine neuartige Technik im Sinne des § 40 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 RfStV sein, weil bereits andere Bundesländer diese Technik in Betrieb genommen haben,4 gelangt man zu keinem anderen Ergebnis: soll doch das Pilotprojekt für den Raum Leipzigs erstmals in Deutschland kreuzpolarisierte Sendeantennen einsetzen, von denen man sich einen besseren portablen und mobilen Empfang verspricht. Die SLM fasst also ein Projekt ins Auge, das mit dem restriktiven Merkmal eines Projekts für neuartige Rundfunkübertragungstechniken im Einklang steht. Besonders die von Stimmen in der Literatur als unzulässig erklärte Förderung der Wettbewerbsfähigkeit des Regelbetriebs der neuen Technik5 kann sich unter den genannten Bedingungen nur als Reflex der Erprobungsphase einstellen. 1 Beucher / Leyendecker / v. Rosenberg, Mediengesetze-Kommentar, 1999, § 40 RfStV Rn. 8; Hartstein / Ring / Kreile / Dörr / Stettner, RfStV-Kommentar, Stand Januar 2006, § 40 Rn. 34; Merten, in: Hahn / Vesting, Kommentar zum Rundfunkrecht, 2003, § 40 RfStV Rn. 15. Vgl. auch die amtliche Begründung zu § 29 RfStV 1991, abgedruckt bei Hartstein / Ring / Kreile / Dörr / Stettner (Fn. 1), vor § 40 vor Rn. 1. 2 Koenig / Kühling / Barudi, AfP 2004, 217. 3 Amtliche Begründung zu § 29 RfStV 1991, abgedruckt bei Hartstein / Ring / Kreile / Dörr / Stettner (Fn. 1), vor § 40 vor Rn. 1. 4 Koenig / Kühling / Barudi, AfP 2004, 218. 5 Koenig / Kühling / Barudi, AfP 2004, 217 f.
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Doch was geschieht, wenn mit Auslaufen der Frist aus § 40 Abs. 1 S. 2 RfStV zum Ende des Jahres 2010 keine Ermächtigung mehr besteht, private Rundfunkanbieter aus dem Gebührenaufkommen zu fördern? Immerhin scheint es nach dem Zuschnitt ihres Modells nicht ausgeschlossen, dass die SLM den Betrieb der Sendeanlagen über das Ende der Frist hinaus anstrebt. In diesem Fall wäre eine Förderung aus Gebührenmitteln nicht mehr zulässig. Eine Förderung zugunsten des privaten Rundfunks, die auf nicht mehr kostendeckenden Übertragungsentgelten beruhte, verstieße gegen § 43 S. 2 RfStV. Sobald also die Ermächtigungsfrist des § 40 Abs. 1 S. 2 RfStV endet, muss sich die SLM darauf beschränken, durch effizientes Wirtschaften unter marktüblichen Bedingungen günstige Übertragungsentgelte anbieten zu können. In diesem Fall nämlich griffe die SLM nicht auf Gebührenmittel zurück, sondern könnte den Betrieb der Sendeanlagen aus den mit ihnen erwirtschafteten Erträgen bestreiten. Die rundfunkrechtliche Ermächtigungsgrundlage hierfür bliebe weiterhin § 28 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SächsPRG. bb) Zulässiger Förderungsumfang Was den Umfang der nach § 40 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 RfStV zulässigen Förderung betrifft, ist auf das Merkmal der Förderung selbst hinzuweisen. Es stellt klar, dass sich die erbrachten Leistungen ihrer Quantität nach deutlich unter dem Niveau einer Vollfinanzierung zu bewegen haben.6 Für eine Vollfinanzierung der DVB-TÜbertragung durch die SLM ist nichts ersichtlich. Hier setzt der begrenzte Haushalt der Anstalt faktische, das Gebot der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit aus § 35 Abs. 3 S. 1 SächsPRG aber auch rechtliche Grenzen. Vorausgesetzt, die SLM entschiede sich für die förderungsintensivere Variante eines aus wirtschaftlicher Sicht unangemessen niedrigen Übertragungsentgelts, gelten diese faktischen und rechtlichen Limitierungen entsprechend. Damit steht auch der Umfang der von der SLM beabsichtigten Förderung im Einklang mit § 28 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SächsPRG. cc) Zulässiges Förderungsmittel Das Mittel, mit dem die SLM das DVB-T-Projekt für das Stadtgebiet Leipzigs fördern möchte, weicht vom Leitbild des § 40 Abs. 1 S. 2 RfStV ab – ein Leitbild, das von einer unmittelbaren finanziellen Zuwendung aus Anstaltsmitteln ausgeht. Allerdings handelt es sich bei § 40 Abs. 1 S. 2 RfStV nicht um eine Regelung über die Art und Weise der Förderung, sondern lediglich um eine Finanzierungsnorm zugunsten bestimmter Fördergegenstände.7 Folglich bleibt die Frage, ob die SLM das Pilotprojekt auch mit den Mitteln der Errichtung und des Betriebs eines DVBT-Sendernetzes fördern darf, einer Beantwortung allein durch das SächsPRG überKoenig / Kühling / Barudi, AfP 2004, 217. So zu § 29 RfStV a.F. Hoffmann-Riem, Finanzierung und Finanzkontrolle der Landesmedienanstalten, 1993, S. 109. 6 7
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lassen. Das freilich stellt mit seiner offenen Formulierung in § 28 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SächsPRG die Art und Weise der Förderung der Entscheidung der SLM selbst anheim. Die Errichtung und der Betrieb eines DVB-T-Sendernetzes zu Förderungszwecken ist folglich, sei es als streng erwerbswirtschaftlich oder nur eingeschränkt erwerbswirtschaftlich betriebenes Unternehmen, von der Aufgabenzuweisung des § 28 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SächsPRG gedeckt. b) § 28 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SächsPRG als hinreichende Ermächtigung im Sinne des § 40 Abs. 1 S. 2 RfStV Dass § 28 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SächsPRG eine hinreichende Ermächtigung im Sinne von § 40 Abs. 1 S. 2 RfStV darstellt, wird mit dem Argument bestritten, die Aufgabenzuweisung des SächsPRG nehme keinen ausdrücklichen Bezug auf die Ermächtigungsbefugnis aus § 40 Abs. 1 S. 2 RfStV:8 Bei Letzterer handele es sich um eine Finanzierungsnorm, folglich müsse auch die auf ihrer Grundlage ergangene landesgesetzliche Ermächtigungsnorm ihren finanzierungsrechtlichen Charakter ausdrücklich zu erkennen geben.9 Folgte man dieser Ansicht, so wäre eine Förderung unzulässig, innerhalb derer die SLM für ihre Übertragungsleistungen keine kostendeckenden Entgelte verlangt, sie mithin auf Gebührenmittel zurückgreifen müsste. Allerdings wird man entgegen der genannten Auffassung in § 28 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SächsPRG durchaus eine hinreichende Ermächtigung erblicken müssen. So greift sie deutlich erkennbar den Wortlaut des § 40 Abs. 1 S. 2 RfStV auf. Darüber hinaus lässt sie aber auch ihren Finanzierungsaspekt nicht im Dunkeln. Denn wer von der Förderung neuer Übertragungstechniken spricht, muss sich auch über die Finanzierungswirksamkeit solchen Förderns im Klaren sein. Die Finanzierungsfunktion der Norm ist folglich schon in ihrer Aufgabenzuweisungsfunktion enthalten. Und so bleibt es dabei: Die DVB-T-Förderung in der von der SLM geplanten Form ist als Anstaltsaufgabe im Sinne des § 28 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SächsPRG zu verstehen. Dies gilt unabhängig davon, ob die SLM beim Betrieb ihres Sendernetzes kostendeckend arbeitet oder nicht. Allein für den Fall einer Förderung über das Jahr 2010 hinaus besteht für sie wegen des Verbots der Finanzierung privaten Rundfunks aus der Rundfunkgebühr die Verpflichtung, kostendeckend zu wirtschaften.
2. Ermächtigung der SLM zur wirtschaftlichen Betätigung Das oben gefundene Ergebnis, dass die Aufgabenzuweisung aus § 28 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SächsPRG dem Förderungsmittel gegenüber neutral ist, sagt für sich genom8 9
Koenig / Kühling / Barudi, AfP 2004, 220. Koenig / Kühling / Barudi, AfP 2004, 219.
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men noch nichts darüber aus, ob der SLM ganz allgemein die Handlungsform der wirtschaftlichen Betätigung offen steht. So könnte man überlegen, ob nicht schon aus der Selbstverwaltungsautonomie der Landesmedienanstalten, freilich stets unter Befragung des Anstaltszwecks, die Möglichkeit wirtschaftlicher Betätigung folgt.10 Solche Überlegungen, einschließlich der sich anschließenden verfassungsrechtlichen Frage nach der Geltung des Vorbehalts des Gesetzes, erübrigen sich jedoch, wenn wie hier mit § 28a Abs. 1 SächsPRG eine ausdrückliche Ermächtigungsgrundlage zur Verfügung steht. Danach kann die Landesanstalt in Fällen, in denen dies aus Gründen der Effektivität geboten ist und der Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben der Landesanstalt dient, privatrechtliche Unternehmen gründen sowie sich an solchen beteiligen. Die Gründung privatrechtlicher Unternehmen schließt so die Möglichkeit der SLM, sich im Rahmen ihrer Anstaltsaufgaben wirtschaftlich zu betätigen, mit ein. 3. Kollision mit dem Grundsatz der Vielfaltsicherung Tritt die SLM den privaten Rundfunkanbietern sowohl als Lizenzgeber als auch als Übertragungsdienstleister gegenüber, besteht in Situationen knapper Übertragungskapazitäten die Gefahr, bei der Auswahl der Rundfunkveranstalter diejenigen zu bevorzugen, die besonders zuschauerträchtige Programminhalte anbieten. An die Stelle einer gemäß § 10 Abs. 2 SächsPRG nach Gesichtspunkten der Meinungsvielfalt auszurichtenden Auswahlentscheidung träte dann eine Auswahl nach Rentabilitätskriterien. Nun kann wegen dieser abstrakten Gefahrenlage das Vorhaben der SLM rundfunkrechtlich nicht insgesamt in Frage stehen. Allerdings muss die SLM vorbeugend interne organisatorische Vorkehrungen treffen. Nach alledem bestehen daher insgesamt aus rundfunkrechtlicher Sicht keine Bedenken an der Zulässigkeit des von der SLM geplanten Betriebs eines eigenen DVB-T-Sendernetzes. III. Wettbewerbsrechtliche Zulässigkeit nach nationalen Vorschriften Enger gezogene Schranken für die Zulässigkeit des von der SLM geplanten wirtschaftlichen Engagements könnten sich aus dem nationalen Wettbewerbsrecht ergeben. Vorausgesetzt, es ist auf die wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand überhaupt anwendbar. Ist dies der Fall, so kann sich zunächst der Marktzutritt der SLM als wettbewerbsrechtlich problematisch erweisen. 10 So für den Fall öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten Gounalakis, Funktionsauftrag und wirtschaftliche Betätigung des Zweiten Deutschen Fernsehens, 2000, S. 35 ff., sowie Mand, Erwerbswirtschaftliche Betätigung öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten außerhalb des Programms, 2002, S. 29 ff.
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Das Wettbewerbsrecht in seiner marktverhaltensregulierenden Funktion könnte sich für die SLM aber hauptsächlich dann als Hindernis erweisen, wenn sie ein Konzept nicht kostendeckender Übertragungsentgelte verfolgte. Im Wesentlichen ist es dieses Konzept der Preisunterbietung, an das sich die nun folgende Prüfung des Lauterkeitsrechts nach UWG, aber auch des Kartellrechts nach TKG und GWB richtet. 1. Zulässigkeit nach UWG Gemäß § 3 UWG sind Wettbewerbshandlungen unzulässig, die geeignet sind, den Wettbewerb zum Nachteil der Mitbewerber, der Verbraucher oder der sonstigen Marktteilnehmer nicht nur unerheblich zu beeinträchtigen. Neben einer möglichen Preisunterbietung der SLM gegenüber ihrem Mitbewerber T-Systems kommt eine Unlauterkeit im Sinne dieser Vorschrift auch noch unter einem anderen denkbaren Gesichtspunkt in Betracht: nämlich dann, wenn die SLM ihre Autorität als Lizenzgeberin gegenüber den privaten Rundfunkunternehmen missbrauchte, indem sie die Vergabe von Rundfunklizenzen unzulässig an die Bedingung knüpfte, auch die Dienste des anstaltseigenen DVB-T-Sendernetzes zu nutzen. a) Anwendbarkeit des UWG Vor der Prüfung einzelner Fallgruppen stellt sich jedoch ganz grundsätzlich die Frage nach der Anwendbarkeit des UWG auf die Tätigkeit der öffentlichen Hand. Betätigen sich Bund, Länder, Gemeinden oder andere juristische Personen des öffentlichen Rechts wirtschaftlich, dann stets bezogen auf einen öffentlich-rechtlichen Zweck. Kommt es dann bei der Erfüllung dieses Zwecks zu einer Beeinträchtigung privatwirtschaftlichen Wettbewerbs, entsteht ein Konflikt im Grenzbereich zwischen öffentlichem Recht und Wettbewerbsrecht:11 Die öffentliche Hand möchte in der Erfüllung ihrer Aufgaben nicht durch wettbewerbsrechtliche Vorgaben behindert werden, während die Privatwirtschaft von staatlichen Eingriffen in den Wettbewerb unbehelligt bleiben möchte. Die rechtliche Auflösung dieser Konfliktlage ist von Rechtsprechung und Rechtswissenschaft noch nicht abschließend bewältigt worden.12 Die Rechtsprechung entscheidet vorwiegend entlang der Eigenheiten der Einzelfälle. 13 Eine rechtliche Systematik lässt sich daher vielfach nur schwer ausmachen. Bei allen Schwierigkeiten, exakte Grenzlinien zu definieren, besteht jedoch Einigkeit darüber, dass eine wettbewerbsrechtliche Beurteilung hoheitlicher Tätig11 Schricker, Wirtschaftliche Tätigkeit der öffentlichen Hand und unlauterer Wettbewerb, 2. Aufl. 1987, S. 1. 12 Zur kaum mehr überschaubaren Literatur vgl. die Nachweise bei Schricker (Fn. 11), S. 1. 13 Piper, GRUR 1986, 578.
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keiten nicht schon deswegen ausgeschlossen ist, weil sie mit der Erfüllung öffentlicher Aufgaben verbunden ist: So unterliegt die erwerbswirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand unstreitig der Kontrolle am Maßstab des UWG.14 Ausgangspunkt der Beurteilung ist die in § 3 UWG vorausgesetzte und in § 2 Abs. 1 Nr. 1 UWG definierte Wettbewerbshandlung. Wettbewerbsrechtliche Kontrolle besteht also nur insoweit, als die Tätigkeit der öffentlichen Hand objektiv einen Marktbezug aufweist und subjektiv mit dem Ziel erfolgt, eigenen oder fremden Wettbewerb zu fördern.15 Probleme bestehen daher vor allem in Fällen hoheitlichen Handelns. Bei ihnen ist eine Wettbewerbsabsicht aus den Umständen des Einzelfalls zu begründen.16 Anders verhält es sich bei der erwerbswirtschaftlichen Betätigung der öffentlichen Hand. Hier wird eine Wettbewerbsabsicht vermutet.17 Es bedarf daher besonderer Indizien für die Feststellung, dass die öffentliche Hand nicht mit Wettbewerbsabsicht, sondern hauptsächlich zur Verfolgung hoheitlicher Zwecke tätig wird. Die SLM möchte sich auf dem Markt für Sendeunternehmen betätigen. Soweit sie dabei öffentliche Zwecke verfolgt, namentlich die Förderung neuer Übertragungstechniken nach den Vorschriften des SächsPRG, geschieht das nicht unmittelbar durch die Erwerbstätigkeit, sondern lediglich mittelbar über das Angebot möglichst günstiger Übertragungsentgelte. Handelt die SLM dabei mit Gewinnerzielungsabsicht, steht einer Anwendung des UWG nichts entgegen. Obwohl es für die Kontrolle nach dem UWG darauf nicht ankommt, kann eine fehlende Gewinnerzielungsabsicht jedoch ein Indiz dafür sein, in erster Linie hoheitliche Zwecke zu verfolgen.18 Wirtschaftete die SLM zugunsten der privaten Rundfunkunternehmen nicht kostendeckend, könnte man annehmen, hier läge ein solches Indiz vor. Allerdings bliebe es auch unter diesen Voraussetzungen bei einer lediglich über die Wirtschaftstätigkeit vermittelten Erfüllung eines öffentlichen Zwecks. Entscheidet sich die SLM dafür, private Rundfunkunternehmen nicht über direkte Zuschüsse, sondern lediglich indirekt über die Aufnahme einer wirtschaftlichen Betätigung zu fördern, muss sie sich auch an den für solche Betätigungen geltenden Wettbewerbsregeln messen lassen. Das UWG ist hier anwendbar.
14 BGH GRUR 2005, 961 – Friedhofsruhe; BGH GRUR 2006, 428 – Abschleppkosten-Inkasso. 15 Köhler, in: Hefermehl / Köhler / Bornkamm, Wettbewerbsrecht, 25. Aufl. 2007, § 4 Rn. 13.17. 16 BGH GRUR 1990, 464 – Firmenrufnummer; Keller, in: Harte / Henning, UWG, 2004, § 2 Rn. 55. 17 BGH GRUR 1990, 464 – Firmenrufnummer; Köhler (Fn. 15), § 4 Rn. 13.18. 18 Ohly, in: Piper / Ohly, UWG, 4. Aufl. 2006, Einf. D Rn. 25.
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b) Unlauterkeit des Marktzutritts Das Lauterkeitsrecht des UWG ist wettbewerbsrechtliche Marktverhaltensregulierung. Daher muss es befremdlich anmuten, wenn von Seiten der Privatwirtschaft immer wieder zu hören ist, bereits der Marktzutritt der öffentlichen Hand sei als unlautere Wettbewerbshandlung zu begreifen. Allerdings hat diese Auffassung in der Vergangenheit Nahrung aus einigen Entscheidungen der Zivilgerichte erhalten. So hat der BGH wiederholt einen Verstoß gegen § 1 UWG a.F. schon wegen des rechtswidrigen Marktzutritts der öffentlichen Hand angenommen.19 Danach soll ein gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften verstoßender Marktzutritt insbesondere dann als unlauter gelten, wenn durch ihn die Gefahr einer Ausschaltung des Leistungswettbewerbs drohe. Diese Rechtsprechung kann nicht überzeugen. Denn das für die wettbewerbsrechtliche Beurteilung nach dem UWG maßgebende Marktverhalten ist strikt von der Frage des Marktzutritts zu trennen.20 Ob und in welchen Fällen der öffentlichen Hand der Zutritt auf private Märkte gestattet ist, ist eine wirtschaftspolitische Entscheidung, die dem öffentlichen Recht obliegt.21 Aus Sicht des Wettbewerbsrechts dagegen ist es sogar grundsätzlich durchaus wünschenswert, wenn sich die öffentliche Hand belebend am Wettbewerb beteiligt.22 Ob sie sich nach öffentlichem Recht zulässig im Wettbewerb aufhalten darf, dafür ist das UWG seiner Zweckrichtung nach blind. Zu dieser Einsicht ist im Jahr 2002 schließlich auch der BGH gelangt, der ganz grundsätzlich entschieden hat, der rechtswidrige, unter Verstoß gegen öffentlichrechtliche Normen erfolgte Marktzutritt eines Unternehmens der öffentlichen Hand stelle für sich genommen keinen Wettbewerbsverstoß dar.23 Dass das UWG nicht den Erhalt bestehender Marktstrukturen bezweckt, lässt sich auch mit der geltenden Neufassung des UWG untermauern: In § 4 Nr. 11 UWG ist als Fallgruppe unlauteren Handelns der Verstoß gegen eine gesetzliche Vorschrift ausdrücklich erfasst – allerdings nur, sofern sie dazu bestimmt ist, im Interesse der Marktteilnehmer das Marktverhalten zu regeln. Daraus ergibt sich zwar kein zwingender, wohl aber ein plausibler Umkehrschluss auf die Unbeachtlichkeit eines Verstoßes gegen Marktzutrittsregelungen.24 Der Marktzutritt der SLM kann daher nicht als Wettbewerbsverstoß gelten. Selbst wenn man die überholte Rechtsprechung des Bundesgerichthofs heranzieht, 19 Vgl. BGH GRUR 1965, 373 ff. – Blockeis; BGHZ 82, 375 ff. – Brillen-Selbstabgabestellen; BGH GRUR 1987, 118 – Kommunaler Bestattungswirtschaftsbetrieb I. 20 Ohly (Fn. 18), Einf. D Rn. 32. 21 Köhler (Fn. 15), § 4 Rn. 13.13. 22 Vgl. BGH GRUR 2002, 826 – Elektroarbeiten. 23 Vgl. BGH GRUR 2002, 825 ff. – Elektroarbeiten. Vgl. auch die Fortführung dieser Rechtsprechung in BGH GRUR 2003, 165 – Altautoverwertung. 24 Köhler (Fn. 15), § 4 Rn. 13.14.
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ändert sich daran nichts: Dass öffentlich-rechtliche Normen einer wirtschaftlichen Betätigung der SLM nicht entgegenstehen, das hat bereits die Untersuchung des Rundfunkrechts ergeben.
c) Unlauterkeit von Preisgestaltungen Spezielle Vorschriften über den Wettbewerb der öffentlichen Hand sind auch nach der Reform des UWG nicht eigens geregelt. Die zu § 1 UWG a.F. entwickelten Grundsätze sind daher auch im neuen Gesetzesrahmen verbindlich.25 So auch die Grundsätze über unlautere Preisgestaltungen. Sie kommen für das Engagement der SLM deshalb in Betracht, weil nach dem geplanten Konzept die Preise des Konkurrenten T-Systems gezielt unterboten werden sollen. Nun ist die Preisgestaltungsfreiheit eines der konstituierenden Elemente der Marktwirtschaft.26 Und da für den Wettbewerb der öffentlichen Hand die gleichen rechtlichen Marktregeln gelten, kann auch sie grundsätzlich ihre Preise frei gestalten.27 Preisunterschreitungen und selbst aggressive Preisgestaltungen sind also nicht per se wettbewerbswidrig. Vielmehr müssen besondere Umstände hinzutreten, die eine Preisunterbietung als unlauter erscheinen lassen. Mit einem solchen Umstand hat man es nach herrschender Auffassung zu tun, wenn eine nicht kostendeckende Preiskalkulation auf Dauer angelegt ist und dazu dient, Mitbewerber vom Markt zu verdrängen.28 In diesem Fall liegt ein Verstoß gegen § 3 UWG i. V. m. § 4 Nr. 10 UWG vor, der die gezielte Behinderung eines Mitbewerbers als unlauter einstuft.29 Ein weiterer Umstand, der zu Unlauterkeit führen kann, ist nach der Rechtsprechung des BGH die Gefährdung des Wettbewerbs in seinem Bestand.30 Die Fallgruppe rückt in die Richtung des Kartellrechts und betrifft Fälle, in denen Waren verschenkt oder unter Einstandspreis verkauft werden. Da sie auf ein subjektives Element verzichtet, kann sie nicht unter § 4 Nr. 10 UWG, sondern muss unter § 3 UWG subsumiert werden.31 Die Beurteilung eines Verstoßes der SLM gegen die beiden genannten Grundsätze kann freilich nur im Wege einer Prognose getroffen werden. Die jedoch BGH GRUR 2005, 961 – Friedhofsruhe. Omsels, in: Harte / Henning, UWG, 2004, § 10 Rn. 125. 27 Ohly (Fn. 18), Einf. D Rn. 47. 28 RGZ 134, 342 (354 f.) – Benrather Tankstellenfall; BGH GRUR 1979, 322 – Verkauf unter Einstandspreis I; BGH GRUR 1987, 118 – Kommunaler Bestattungswirtschaftsbetrieb I; BGH GRUR 1990, 686 – Anzeigenpreis; BGH GRUR 2001, 81 – Ad-hoc-Meldung. 29 Ohly (Fn. 18), § 4 Rn. 10 / 94. 30 BGH GRUR 1991, 617 – Motorboot-Fachzeitschrift; BGH GRUR 2001, 81 – Ad-hocMeldung; BGH GRUR 2001, 753 – Eröffnungswerbung; Köhler (Fn. 15), § 4 Rn. 12.13. 31 Als der Fallgruppe der allgemeinen Marktstörung angehörig bleibt sie ausweislich der Gesetzesbegründung unter § 3 UWG bestehen, vgl. BT-Drucks. 15 / 1487, S. 19. 25 26
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spricht deutlich gegen eine Unlauterkeit des geplanten Wirtschaftskonzepts der SLM. Zunächst lässt sich den Plänen der SLM schon keine Absicht entnehmen, Wettbewerber auf dem Markt für Rundfunkübertragungsdienstleistungen zu verdrängen. Zudem müsste eine solche Absicht auch von objektiven Umständen begleitet sein.32 Wenn zwar nach den Plänen der SLM nicht ausgeschlossen ist, für eine bestimmte Dauer nicht kostendeckend zu wirtschaften, setzt die Verdrängung von Mitbewerbern doch eine gewisse Marktmacht voraus.33 Ob die SLM als Marktneuling in der Lage wäre, T-Systems als Marktführerin der terrestrischen Rundfunkübertragungsdienstleistungen zu verdrängen, muss selbst dann bezweifelt werden, wenn man als räumlich relevanten Markt lediglich auf das Gebiet Leipzigs abstellt. Als Indiz gegen eine Marktverdrängung und gegen eine Gefährdung des Marktbestands sprechen schließlich auch Dauer und Intensität der möglichen Preisunterschreitung. Hier weist das Rundfunkrecht die gezeigten Schranken auf. In zeitlicher Hinsicht müsste wegen § 40 Abs. 1 S. 2 RfStV ein die privaten Rundfunkunternehmen förderndes Wirtschaften unter Selbstkostenpreis spätestens mit Ablauf des Jahres 2010 enden. Und die Grenzen nicht kostendeckenden Wirtschaftens gibt der Haushalt der SLM in Verbindung mit dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit vor. Eine Marktverdrängung ist daher ebenso unwahrscheinlich wie die Gefährdung des Wettbewerbsbestands. Über die auch bei privaten Unternehmen zu beanstandenden Fälle hinaus kann sich bei Preisunterbietungen durch die öffentliche Hand die Unlauterkeit auch aus der Tatsache ergeben, dass öffentliche Mittel zu deren Finanzierung genutzt werden. Es erscheint sachgerecht, dort verschärfte Anforderungen an die durch interne Subventionierung ermöglichte Preisgestaltung zu stellen, wo dies unter Einsatz von Mitteln geschieht, die nicht im Wettbewerb, sondern durch die Ausnutzung einer hoheitlichen Sonderstellung erworben wurden.34 Finanziert also die SLM den Betrieb ihres DVB-T-Sendernetzes aus ihrem Anteil am Rundfunkgebührenaufkommen, ist dies nicht unproblematisch. Gleichwohl kann zunächst schon eine Startfinanzierung aus öffentlichen Mitteln nicht ohne Weiteres verwehrt werden. Anderenfalls wäre eine wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand von vornherein unzulässig.35 Aber auch wenn nach der Startphase die Nutzung der öffentlichen Mittel von den betriebswirtschaftlich gebotenen Preisen abweicht, löst dies allein noch nicht den Vorwurf der Wettbewerbswidrigkeit aus.36 Denn hierfür können sachliche Gründe bestehen. Ohly (Fn. 18), § 4 Rn. 10 / 94. BGH GRUR 1990, 686 – Anzeigenpreis; Omsels (Fn. 26), § 4 Nr. 10 Rn. 139. 34 Gounalakis (Fn. 10), S. 131; Kübler, Rundfunkauftrag und Programminformation, 1985, S. 77. 35 BGH GRUR 1987, 118 – Kommunaler Bestattungswirtschaftsbetrieb I. 36 Ohly (Fn. 18), Einf. D Rn. 47. 32 33
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Kein sachlicher Grund liegt allerdings bei einer zweckwidrigen Verwendung öffentlicher Mittel vor. Sie muss als unlauter angesehen werden, wenn sie aus Mitteln finanziert wird, die der öffentlichen Hand zur Erfüllung eines anderen öffentlichen Zwecks zufließen, und die Kosten der Preisunterbietung auf den Steuer- oder Beitragszahler abgewälzt werden.37 Doch auch diese, speziell auf den Wettbewerb der öffentlichen Hand zugeschnittene Fallgruppe führt hier nicht zur Unlauterkeit des Vorhabens der SLM. Denn mit der Preisunterschreitung zur mittelbaren Förderung von DVB-T bewegt sie sich im oben aufgezeigten Rahmen des Rundfunkrechts. Hält sich die Preisgestaltung der SLM in diesem Rahmen, liegt kein Verstoß gegen § 3 UWG vor. d) Unlauterkeit wegen Missbrauchs hoheitlicher Machtstellung Setzt die öffentliche Hand ihre hoheitliche Autorität dazu ein, in zweckwidriger Weise den eigenen Wettbewerb zu fördern, liegt ein nach § 4 Nr. 1 UWG unlauterer Autoritätsmissbrauch vor.38 In diese Fallgruppe hat der BGH etwa die Werbung eines Lehrers, der gegenüber seinen Schülern für den Bezug einer Zeitschrift geworben hat, eingeordnet. Dies, weil durch das Verhalten des Lehrers der Eindruck erweckt werde, Schülern entstünden Nachteile, wenn sie die Zeitung nicht beziehen.39 Eine derartige missbräuchliche Verknüpfung hoheitlicher Machtbefugnisse mit wirtschaftlichen Zwecken hat die SLM bei der Vermarktung ihres Sendernetzes zu vermeiden. Gefahren bestehen auf Seiten der SLM darin, die Entscheidung über die Zulassung oder Netzeinspeisung eines privaten Rundfunkunternehmens davon abhängig zu machen, auch die Leistungen des anstaltseigenen DVB-T-Netzes in Anspruch zu nehmen. 2. Zulässigkeit nach Kartellrecht Eine Gestaltung der Übertragungsentgelte, die sich unterhalb des Selbstkostenpreises bewegen, könnte sich als kartellrechtlich unzulässig herausstellen. In Betracht kommt zunächst eine Verletzung der Missbrauchs- und Behinderungsverbote des allgemeinen Kartellrechts aus §§ 19 und 20 GWB. § 20 Abs. 4 S. 2 GWB nennt ausdrücklich das nicht nur gelegentliche Angebot unter Einstandspreis ohne sachliche Rechtfertigung als Regelfall einer unbilligen Behinderung. Die Anwendbarkeit des GWB auf den Wettbewerb der öffentlichen Hand ergibt sich problemlos aus § 130 GWB. Und da die SLM sich im Sinne des § 3 Nr. 6 TKG als geschäftsmäßiger Anbieter eines Telekommunikationsdienstes betätigen möchte, könnten vorrangig auch die Vorschriften des sektorspezifischen Kartellrechts des TKG zur 37 BGH GRUR 1982, 436 – Kinderbeiträge; BGH GRUR 1987, 118 – Kommunaler Bestattungswirtschaftsbetrieb I; BGH GRUR 2003, 166 – Altautoverwertung. 38 BGH GRUR 1984, 667 – Werbung in Schulen; BGH GRUR 2002, 553 – Elternbriefe. 39 BGH GRUR 1984, 667 – Werbung in Schulen.
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Anwendung kommen. Als solche normiert § 28 Abs. 2 Nr. 1 TKG, dass ein Missbrauch beträchtlicher Marktmacht im Sinne des Abs. 1 der Bestimmung zu vermuten ist, wenn das Entgelt einer Telekommunikationsleistung deren langfristige zusätzliche Kosten einschließlich einer angemessenen Verzinsung des eingesetzten Kapitals nicht deckt. a) Qualifizierte Marktstellung und Marktabgrenzung Die Prüfung des Vorhabens der SLM am Maßstab kartellrechtlicher Missbrauchsvorschriften erscheint auf den ersten Blick etwas fernliegend, ist doch Voraussetzung der Missbrauchsverbote das Vorliegen einer qualifizierten Marktstellung eines Unternehmens: Das GWB definiert in § 19 Abs. 2 ein marktbeherrschendes bzw. marktmächtiges Unternehmen als Unternehmen, das als Anbieter oder Nachfrager einer bestimmten Art von Waren oder gewerblichen Leistungen entweder keinem wesentlichen Wettbewerb ausgesetzt ist oder eine überragende Marktstellung hat. Das TKG schreibt in § 11 Abs. 1 S. 3 einem Unternehmen beträchtliche Marktmacht zu, das auf einem bestimmten Markt entweder allein oder gemeinsam mit anderen eine der Beherrschung gleichkommende Stellung einnimmt. Ob nun gerade die SLM als Marktneuling eine solche qualifizierte Marktstellung einnehmen wird, lässt sich freilich nicht mit Sicherheit vorhersehen. Einen gewissen Aufschluss über die Wahrscheinlichkeit der Erlangung einer qualifizierten Marktstellung kann jedoch die Abgrenzung des sachlich und räumlich relevanten Marktes geben, auf dem die SLM im Wettbewerb stehen wird. Je enger man nämlich diesen Markt in sachlicher und räumlicher Hinsicht abgrenzt, desto geringer wird die Anzahl der Mitbewerber und desto größer der eigene Marktanteil, der schließlich Wesentliches zur Bestimmung qualifizierter Marktmacht aussagt. Daher ist sogar ein annähernd einhundertprozentiger Marktanteil der SLM nicht ausgeschlossen, wenn der sachlich und räumlich relevante Markt auf den DVB-T-Rundfunkübertragungsmarkt im Raum Leipzigs begrenzt wäre. Zur Bestimmung des sachlich und räumlich relevanten Marktes hat sich das Bedarfsmarktkonzept bzw. das Konzept der funktionellen Austauschbarkeit aus der Sicht der Abnehmer durchgesetzt. Danach sind sämtliche Erzeugnisse, die sich nach ihren Eigenschaften, ihrem wirtschaftlichen Verwendungszweck und ihrer Preislage so nahe stehen, dass der verständige Abnehmer sie als für die Deckung eines bestimmten Bedarfs geeignet in berechtigter Weise abwägend miteinander vergleicht und als gegeneinander austauschbar ansieht, als marktgleichwertig anzusehen.40
40 Vgl. BGH WuW / E BGH, 302 – Backofenmarkt; BGHZ 67, 113 ff. – Vitamin-B-12; BGH NJW 1977, 676 – Valium; BGH GRUR 1988, 324 – Gruner+Jahr-Zeit II; Möschel, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 3. Aufl. 2001, § 19 Rn. 24.
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aa) Sachlich relevanter Markt Als Ausgangspunkt für die Bestimmung des sachlich relevanten Marktes kommt für das Vorhaben der SLM der Markt für die Einspeisung von Fernsehsignalen in Übertragungsnetze in Frage. Bei der Anwendung des Bedarfsmarktkonzepts fragt es sich zunächst, ob dieser Markt sachlich nicht enger einzugrenzen ist, indem man in der terrestrischen Übertragung, der Satellitenübertragung und der Breitbandkabelnetzübertragung jeweils voneinander zu trennende Märkte annimmt. Die Einspeisung von Rundfunksignalen in Breitbandkabel gegenüber den Übertragungswegen Satellit und Terrestrik einem eigenen Markt zuzuordnen, entspricht der ständigen Praxis von BGH,41 Europäischer Kommission42 und BKartA.43 Die Breitbandkabeleinspeisung unterscheidet sich in ihren Kosten und auch in ihrer technischen Reichweite von der Einspeisung per Satellit oder Terrestrik.44 Da Programmanbieter, aus deren Sicht als Abnehmer sich die Marktabgrenzung zu vollziehen hat, grundsätzlich auf eine hundertprozentige Flächendeckung angewiesen sind, scheidet eine Austauschbarkeit der Kabeleinspeisung durch andere Einspeisetechniken, die jeweils nicht das gesamte Bundesgebiet versorgen, aus. Die Fernsehprogrammanbieter sind vielmehr auf die Übertragungswege in ihrer Gesamtheit angewiesen. Auch in ihrer Preisstruktur entfernt sich die Kabeleinspeisung deutlich von den übrigen Einspeisewegen. Die Preisgestaltung der Verträge mit Rundfunkanbietern in Deutschland geht nach wie vor nicht eindeutig von einem Transportmodell aus, nach dem der Kabelnetzbetreiber lediglich die Durchleitung der Signale übernimmt, sondern eher von einem Vermarktungsmodell, innerhalb dessen das Kabelunternehmen die durchgeleiteten Inhalte selbst verwertet.45 So erhebt das Kabelunternehmen ein Entgelt vom Endkunden, was sich kostenmindernd auf die von Programmanbietern zu zahlenden Entgelte auswirkt. Die Einspeisung von Fernsehsignalen in Breitbandkabelnetze ist also als eigenständiger Markt abzugrenzen. Aus denselben Erwägungen heraus, nämlich wegen der unterschiedlichen Kostenstruktur und der unterschiedlichen Reichweite, ist auch ein eigener Markt für BGH WuW / E BGH, 3058 ff. – Pay-TV-Durchleitung. Kommission, Entscheidung vom 09. 11. 1994, ABl. 1994, L 364 / 1 – MSG Media Service; Kommission, Entscheidung vom 27. 05. 1998, ABl. 1999, L53 / 31 – Deutsche Telekom / Beta Research; Entscheidung, Kommission vom 19. 07. 1995, ABl. 1996, L 53 / 20 – Nordic Satellite Distribution. 43 BKartA, Beschluss B7-205 / 00 vom 04. 04. 2001 – Callahan / Netcologne; BKartA, Beschluss B7-168 / 01 vom 22. 02. 2002 – Liberty / KDG; BKartA, Beschluss B7-150 / 04 vom 28. 12. 2004 – SES Astra / DPC; BKartA, Beschluss B7-22 / 05 vom 20. 06. 2005 – Ish / Iesy; BKartA, Beschluss B7-38 / 05 vom 21. 06. 2005 – Ish / CIE. 44 Kommission, Entscheidung vom 09. 11. 1994, ABl. 1994, L 364 / 1, Rn. 42 – MSG Media Service; Kommission, Entscheidung vom 27. 05. 1998, ABl. 1999, L53 / 31, Rn. 20 f. – Deutsche Telekom / Beta Research. 45 Vgl. dazu Gounalakis / Mand, Kabelweiterleitung und urheberrechtliche Vergütung, 2003, S. 7 ff. 41 42
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die Bereitstellung terrestrischer Kapazitäten gegenüber der Bereitstellung von Satellitentransponderkapazitäten abzugrenzen.46 Folglich stehen sich Terrestrik, Satellit und Kabel nach ihren Eigenschaften, ihrem wirtschaftlichen Verwendungszweck und ihrer Preislage nicht so nahe, dass der Programmanbieter sie für die Deckung eines bestimmten Bedarfs als gegeneinander austauschbar ansieht. Für das Vorhaben der SLM ergibt sich mithin eine Eingrenzung des sachlich relevanten Marktes auf den Markt für die Einspeisung von Fernsehsignalen in terrestrische Übertragungsnetze. Auch ist es naheliegend, diesen Markt weiterhin auf die DVB-T-Signaleinspeisung gegenüber der Einspeisung in analoge terrestrische Sendeanlagen abzugrenzen. Zunächst liegt der Preis für die Verbreitung eines Programms über terrestrische digitale Sendeanlagen deutlich unter dem Preis für die Verbreitung über terrestrische analoge Sendeanlagen im selben geografischen Raum. Mit einer einzigen DVB-T-Frequenz können im Gegensatz zur analogen Technik bis zu vier Programme gleichzeitig übertragen werden. Auch ist die Sendeleistung terrestrischer digitaler Anlagen im Vergleich geringer. Daraus resultiert die unterschiedliche Kostenstruktur. Die Programmbündelung auf einer Frequenz führt jedoch auch dazu, dass die Versorgung eines größeren Gebiets im Gegensatz zur terrestrischen Übertragung nur durch einen einzigen Anbieter möglich und sinnvoll ist. DVB-T-Übertragungen gehören daher keinem gemeinsamen Markt mit analogen Übertragungen an. Somit steht der nach dem Bedarfsmarktkonzept bestimmte sachliche Markt für das von der SLM geplante Angebot fest: Es ist der Markt für die Einspeisung von Fernsehsignalen in DVB-T-Sendeanlagen. bb) Räumlich relevanter Markt Ein ebenso eng abgegrenzter Markt könnte sich auch in räumlicher Hinsicht ergeben. Zwar könnte man zunächst annehmen, der räumlich relevante Markt für DVB-T-Übertragungsleistungen erstrecke sich auf das gesamte Bundesgebiet. Dies setzte nach dem Bedarfsmarktkonzept jedoch voraus, dass der Abnehmer an einer flächendeckenden Versorgung über diesen Übertragungsweg interessiert ist. Davon ist DVB-T allerdings weit entfernt. Private Programmanbieter nehmen derzeit die Zusatzkosten für diesen Übertragungsweg nur dann in Kauf, wenn sie möglichst niedrige Übertragungskosten pro erreichtem Zuschauer aufbringen müssen. Das ist allein bei einer Übertragung in Ballungsräume gewährleistet. Beschränkt sich die Nachfrage nun auf diese Ballungsräume, lässt sich auch der räumlich relevante Markt allein nach diesen Ballungsräumen, in denen eine DVB-T-Netzinfrastruktur überhaupt nachgefragt wird, bestimmen. 46 Entscheidung der Kommission vom 19. 07. 1995, ABl. 1996, L 53 / 20, Rn. 57 – Nordic Satellite Distribution.
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Daraus folgt neben der engen sachlichen auch eine enge räumliche Marktabgrenzung, hier nämlich beschränkt auf den Ballungsraum Leipzig. Mit dieser eng vorzunehmenden Abgrenzung auf den Markt für die Einspeisung von DVB-TFernsehsignalen für das Gebiet Leipzigs ist durchaus anzunehmen, dass die SLM mit ihrem geplanten Sendernetz eine qualifizierte Marktstellung einnehmen wird. Damit schließlich unterläge sie grundsätzlich dem Zugriff der kartellrechtlichen Missbrauchsverbote. b) Verstoß gegen § 28 Abs. 1 Nr. 2 TKG i. V. m. § 28 Abs. 2 Nr. 1 TKG Gemäß § 28 Abs. 2 Nr. 1 TKG wird ein Missbrauch im Sinne von § 28 Abs. 1 Nr. 2 TKG vermutet, wenn das Entgelt einer bestimmten Telekommunikationsdienstleistung deren langfristige zusätzliche Kosten einschließlich einer angemessenen Verzinsung des eingesetzten Kapitals nicht deckt. So wäre der SLM als Inhaberin beträchtlicher Marktmacht eine dauerhaft nicht kostendeckende Preisgestaltung verwehrt. Indessen unterliegen Anbieter von Telekommunikationsdiensten nicht per se dem strengen Missbrauchsregime des TKG. Für eine Marktregulierung nach dem zweiten Teil des TKG kommen gemäß § 10 Abs. 2 TKG nur Märkte in Betracht, die durch beträchtliche und anhaltend strukturell oder rechtlich bedingte Marktzutrittschancen gekennzeichnet sind, längerfristig nicht zu wirksamem Wettbewerb tendieren und auf denen die Anwendung des allgemeinen Wettbewerbsrechts allein nicht ausreicht, um dem betreffenden Marktversagen entgegenzuwirken. Welche Märkte diese drei Kriterien erfüllen, das ist nach § 10 Abs. 1 TKG von der Bundesnetzagentur zu definieren. Danach legt die Agentur erstmals unverzüglich nach Inkrafttreten des Gesetzes die sachlich und räumlich relevanten Telekommunikationsmärkte fest, die für eine Regulierung nach den Vorschriften des zweiten Teils des TKG in Betracht kommen. Laut ihres Konsolidierungsentwurfs vom 31. Juli 2006 kommt die Bundesnetzagentur in ihrer Marktdefinition und Marktanalyse zum Ergebnis, dass der Markt für die Bereitstellung von terrestrischen Sendeanlagen für die Übertragung digitaler Fernsehfunksignale nicht für eine Regulierung nach dem zweiten Teil des TKG in Betracht kommt.47 Daher ist dieser Markt vorbehaltlich einer anlassbezogenen Überprüfung der Marktdefinition nach § 14 TKG allein einer Kontrolle durch das allgemeine Wettbewerbsrecht zu unterwerfen. Die Bundesnetzagentur sieht von einer Regulierung insbesondere deswegen ab, weil wegen des geringen Interesses der großen Privatsendergruppen derzeit nicht erkennbar sei, ob und inwieweit sich DVB-T durchsetzen und eine eigene Marktnische finden könne.48 Einer Kontrolle des § 28 Abs. 1 47 Vgl. den Konsolidierungsentwurf der Bundesnetzagentur zur Marktdefinition und Marktanalyse für den Bereich der Rundfunk-Übertragungsdienste, öffentliche Fassung, S. 80 f.
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Nr. 2 TKG i. V. m. § 28 Abs. 2 Nr. 1 TKG unterliegt die SLM beim Betrieb eines DVB-T-Sendernetzes daher vorerst nicht.49 Sie bleibt allein einer Kontrolle durch das GWB ausgesetzt. c) Verstoß gegen §§ 19, 20 GWB Unterbietet ein marktmächtiges Unternehmen die Preise der Konkurrenz, kann ein Verstoß gegen das Missbrauchs- und Behinderungsverbot der §§ 19, 20 GWB vorliegen. Als Fallgruppe anerkannt ist jedoch parallel zum Recht des UWG nur die gezielte Kampfpreisunterbietung in Fällen, in denen eine Gefährdung des Wettbewerbsbestands droht oder in denen eine Verdrängungsabsicht des marktmächtigen Unternehmens vorliegt.50 Insoweit ergeben sich keine Abweichungen zur Rechtslage nach dem UWG. Die dieser Fallgruppe zugrunde liegende Rechtsprechung, wonach eine Preisunterbietung nur rechtswidrig ist, wenn sie systematisch im Wettbewerb eingesetzt wird und nach ihrer Häufigkeit und Intensität geeignet ist, eine Gefahr für die strukturellen Voraussetzungen wirksamen Wettbewerbs zu begründen, ist vom Gesetzgeber als unzureichend empfunden worden. Daher hat er, um Verkäufe unter Einstandspreis auch ohne eine korrespondierende Verdrängungsabsicht als unbillige Behinderung nach § 20 GWB einstufen zu können, mit der GWB-Novelle des Jahres 1998 § 20 Abs. 4 S. 2 GWB eingeführt. Danach liegt eine unbillige Behinderung insbesondere dann vor, wenn ein Unternehmen Waren oder gewerbliche Leistungen nicht nur gelegentlich und ohne sachliche Rechtfertigung unter Einstandspreis anbietet. Mit ihrer Bezugnahme auf den Einstandspreis einer Ware oder gewerblichen Dienstleistung offenbart die Vorschrift jedoch ihren Zuschnitt auf Handelsunternehmen. Wollte man sie auch auf Hersteller von Waren oder Dienstleistungen anwenden, müsste man die Formulierung „unter Einstandspreis“ erweiternd als „Verkauf unter Selbstkosten“ interpretieren. Eine solche Auslegung wäre indes wenig überzeugend, müsste sie doch erklären können, weshalb es bei einem Handelsunternehmen lediglich auf den Einstandspreis und nicht auf die zusätzlichen Selbstkosten ankommt.51 Nach zutreffender Auslegung ist die Vorschrift daher auf Handelsunternehmen beschränkt.52 Auf das Vorhaben der SLM ist sie nicht anwendbar. 48 Konsolidierungsentwurf der Bundesnetzagentur zur Marktdefinition und Marktanalyse für den Bereich der Rundfunk-Übertragungsdienste, öffentliche Fassung, S. 81. 49 Auf die mit starken Unsicherheiten behaftete Einschätzung, ob der Markt für DVBT-Übertragungsdienstleistungen von der jüngst eingeführten und verfassungs- sowie europarechtlich höchst umstrittenen Freistellungsvorschrift des § 9a TKG für neue Telekommunikationsmärkte erfasst ist, soll daher im Rahmen dieses Beitrags verzichtet werden. 50 Möschel (Fn. 40), § 19 Rn. 122 ff. 51 Bechtold, NJW 1998, 2772; Gounalakis (Fn. 10), S. 154 f. 52 Bechtold, NJW 1998, 2772; Gounalakis (Fn. 10), S. 154 f.
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Als Ergebnis der Untersuchung des nationalen Wettbewerbsrechts kann schließlich insgesamt festgehalten werden: Das geplante wirtschaftliche Engagement der SLM verstößt seiner Konzeption nach innerhalb der vom Rundfunkrecht gezogenen Schranken nicht gegen Vorgaben des Lauterkeits- oder des Kartellrechts. Dies gilt gleichermaßen, ob die SLM ihr Sendernetz nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen betreibt oder nicht.
IV. Wettbewerbsrechtliche Zulässigkeit nach Vorschriften des Europarechts Anlass zu Zweifeln an der wettbewerbsrechtlichen Zulässigkeit des Betriebs eines DVB-T-Sendernetzes durch die SLM geben die jüngsten Entwicklungen im Bereich der Beihilfeaufsicht der Europäischen Kommission. In ihrer Entscheidung vom 9. November 200553 gelangt die Kommission zum Ergebnis, die von der Medienanstalt Berlin-Brandenburg (MABB) zugunsten der Einführung von DVB-T an private Rundfunkveranstalter gezahlten Zuschüsse seien unzulässige Beihilfen im Sinne des Art. 87 Abs. 1 EG. Seit dieser Entscheidung, gegen die sowohl die MABB als auch die Bundesrepublik Deutschland im Januar 2006 ein Verfahren vor dem EuGH angestrengt hat, ist die weitere Zukunft von DVB-T in Deutschland ungewiss. Diese beruhte bisher auf einer anteiligen Übernahme der den privaten Rundfunkveranstaltern entstehenden Übertragungskosten für die Nutzung von DVB-T. Die MABB übernahm so etwa 30% der für die Nutzung des Sendernetzes der T-Systems Business Services GmbH anfallenden Übertragungsentgelte. Ist diese Praxis der Landesmedienanstalten nach Ansicht der Kommission unzulässig und nehmen daher private Rundfunkveranstalter von ihrem Engagement in DVB-T-Projekten Abstand, wird deutlich, dass die Entscheidung der Kommission bereits ohne eine Bestätigung durch den EuGH Bedeutung für die Beurteilung des DVB-T-Projekts der SLM erlangt hat. Bei der nun folgenden Würdigung des Projekts anhand des EG-Beihilferechts sollen daher die tragenden Gründe der Kommissionsentscheidung mit einbezogen werden.
1. Unzulässige Beihilfe zugunsten der privaten Rundfunkunternehmen Art. 87 Abs. 1 EG verbietet staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, soweit sie den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen. Der Begriff 53
ABl. 2006, L 200 / 14 – DVB-T-Beihilfen.
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der Beihilfe ist im Gemeinschaftsrecht nicht eigens definiert. Nach allgemeiner Ansicht ist er weit auszulegen.54 Er umfasst nach einhelliger Auffassung sämtliche Maßnahmen, die gleich in welcher Form die Belastungen verringern, die ein Unternehmen normalerweise zu tragen hat.55 Das Angebot preisgünstiger Übertragungsentgelte durch die SLM zugunsten der privaten Rundfunkunternehmen könnte daher den Beihilfetatbestand des Art. 87 Abs. 1 EG erfüllen. a) Vorteilsgewährung zugunsten privater Rundfunkunternehmen Der Beihilfetatbestand des Art. 87 Abs. 1 EG enthält zunächst als zentrale Voraussetzung die Begünstigung eines Unternehmens. Die Begünstigung privater Rundfunkunternehmen ist erklärtes Ziel des Vorhabens der SLM, DVB-T-Übertragungsleistungen zu Preisen anzubieten, die im Vergleich unter den aktuellen Marktpreisen des derzeit einzigen Anbieters liegen sollen. Erreicht die SLM ihr Ziel, kommt dies den privaten Rundfunkunternehmen als geldwerter Vorteil zugute. Allerdings erfasst der Beihilfebegriff nur solche Zuwendungen, die keine marktgerechte Gegenleistung für eine vom Zuwendungsempfänger seinerseits erbrachte Leistung darstellen.56 Eine Begünstigung scheidet also aus, wenn die Rundfunkunternehmen eine marktgerechte Vergütung für die Einspeisung ihrer Programme erbringen. Ob sich Zuwendungen an ein privates Unternehmen noch als marktgerecht erweisen, lässt sich anhand des sogenannten private-investor-tests ermitteln.57 Entscheidendes Beurteilungskriterium dieses Verfahrens ist das hypothetische Verhalten eines marktwirtschaftlich handelnden privaten Kapitalgebers.58 Keine marktgerechte Zuwendung, sondern eine Begünstigung im Sinne von Art. 87 Abs. 1 EG liegt vor, wenn ein solcher privater Investor aus Rentabilitätsgesichtspunkten davon abgesehen hätte, dem betreffenden Unternehmen die fragliche Zuwendung zu den fraglichen Konditionen zu gewähren. Soweit die SLM nun beabsichtigt, ihr Sendernetz nicht unter Erwerbsgesichtspunkten zu betreiben, ist daher von einer Begünstigung im Sinne des Art. 87 54 EuGH, Rs. C-39 / 94, Slg. 1996, I-3547, Rn. 58 – SFEI / La Poste; Cremer, in: Callies / Ruffert, EUV EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 87 Rn. 9; Lefèvre, Staatliche Ausfuhrförderung und das Verbot wettbewerbsverfälschender Beihilfen im EWG-Vertrag, 1977, S. 126; Hakenberg / Tremmel, EWS 1997, 217 f. 55 EuGH, Rs. C-310 / 99. Slg. 2002, I-2289, Rn. 51 – Italien / Kommission; Rs. C-404 / 97, Slg. 2000, I-4897, Rn. 44 – Kommission / Italien; Rs. C-75 / 97, Slg. 1999, I-3671, Rn. 23 – Belgien / Kommission; Cremer (Fn. 54), Art. 87 Rn. 9. 56 Lefèvre (Fn. 54), S. 113 f.; Müller-Graff, ZHR 152 (1988), 418; Niemeyer, EuZW 1993, 273 ff. 57 EuGH, Rs. C-303 / 88, Slg. 1991, I-1433, Rn. 21 f. – Italien / Kommission; Rs. C-39 / 93, Slg. 1996, I-3547, Rn. 60 f. – SFEI / La Poste. 58 EuGH, Rs. C-482 / 99, Slg. 2002, I-4397, Rn. 68 ff. – Frankreich / Kommission.
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Abs. 1 EG auszugehen. Dem kann auch nicht der an sich zutreffende Hinweis entgegengehalten werden, der private-investor-test stelle nicht auf kurzfristige Rentabilitätsüberlegungen ab, sondern vielmehr auf einen hypothetischen Kapitalgeber, der sich von langfristigen Rentabilitätsaussichten nach dem sogenannten longterm-investor-Maßstab59 leiten lässt. So kann man zwar argumentieren, die SLM betreibe ihr Sendernetz nur für den begrenzten Zeitraum der DVB-T-Einführungsphase nicht kostendeckend, beabsichtige aber auf einen längeren Zeitraum bezogen, rentabel zu wirtschaften. Allerdings ist es derzeit mehr als ungewiss, ob die privaten Rundfunkveranstalter DVB-T als Übertragungsweg für ihre Programme überhaupt dauerhaft nutzen werden. Dass sich die privaten Rundfunkunternehmen von einem zugesagten DVBT-Engagement aus Kostengründen nur allzu schnell wieder zurückziehen, hat sich nach der Kommissionsentscheidung zur DVB-T-Förderung durch die MABB gezeigt. Die SLM kann sich also keineswegs darauf verlassen, dass sie ihre Sendeanlage über eine längere Amortisationsfrist wirtschaftlich nutzen kann. Sofern sie also ihr Sendernetz nicht nach erwerbswirtschaftlichen Grundsätzen betreibt, stellt die daraus für private Rundfunkunternehmen erwachsende Ersparnis von Betriebskosten eine Begünstigung gemäß Art. 87 Abs. 1 EG dar. Zu einem abweichenden Ergebnis gelangte man nur, wenn sich die Teilnahme der privaten Rundfunkanbieter an DVB-T-Projekten als Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse im Sinne von Art. 86 Abs. 2 EG verstehen ließe. Nach der Altmark Trans-Rechtsprechung des EuGH nämlich erfüllen staatliche Maßnahmen schon tatbestandlich nicht den Beihilfebegriff, wenn sie einem Unternehmen als Gegenleistung für die Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen zugute kommen.60 Ob Rundfunkunternehmen, die sich an der Einführung von DVB-T beteiligen, tatsächlich eine solche Verpflichtung wahrnehmen, ist zweifelhaft. Dies, obwohl eine verbindliche Definition des allgemeinen wirtschaftlichen Interesses im Europarecht nicht existiert und den Mitgliedstaaten bei der Ausfüllung des Begriffs ein breiter Gestaltungsspielraum zusteht.61 Denn auf offenkundige Fehler hin kann deren Bewertung von den Gemeinschaftsorganen jedenfalls untersucht werden.62 In ihrer DVB-T-Beihilfen-Entscheidung setzt sich die Kommission mit dem Vorbringen Deutschlands auseinander, die Ausstrahlung von Fernsehprogrammen 59 EuGH, Rs. C-303 / 88, Slg. 1991, I-1433, Rn. 21 f. – Italien / Kommission; Koenig, ZIP 2000, 56. 60 EuGH, Rs. C-280 / 00, Slg. 2003, I-7747, Rn. 87. 61 Weiß, in: Callies / Ruffert, EUV EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 86 Rn. 37. 62 Koenig / Haratsch, ZUM 2003, 806; Storr, K&R 2002, 469. Vgl. auch Erwägungsgrund Nr. 4 zur RL 2000 / 52 / EG der Kommission vom 26. 07. 2000 zur Änderung der RL 80 / 723 / EWG über die Transparenz der finanziellen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den öffentlichen Unternehmen, ABl. 2000 Nr. L 193 / 75.
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über DVB-T diene dem Umstieg von der analogen zur digitalen Übertragung, unterstütze technische Innovationen des mobilen und portablen Empfangs und fördere sowohl den Infrastrukturwettbewerb der Übertragungswege als auch die Angebots- und Meinungsvielfalt.63 Im Ergebnis hält sie dabei die Schlussfolgerung Deutschlands, die Teilnahme der privaten Rundfunkveranstalter erfolge in Erfüllung einer gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung, für nicht stichhaltig. Zur Begründung führt die Kommission Argumente an, die sich nur schwer von der Hand weisen lassen: So ist fraglich, weshalb ein Umstieg auf die digitale Übertragungstechnik sich nicht ebenso gut auf den marktbewährten Übertragungswegen Kabel und Satellit bewerkstelligen lassen sollte.64 Eine bevorzugte Förderung der terrestrischen Technik ist für deren Einführung nicht erforderlich. Entsprechendes gilt für die Förderung eines vielfältigen Programmangebots. Umso mehr, als die Übertragungskapazitäten für digitale Rundfunkprogramme bei Kabel und Satellit sogar größer sind als die der Terrestrik.65 Im Bereich der Satellitenübertragung ist der Übergang auf die digitale Technik ohne staatliche Förderung ausgekommen und findet überdies starke Akzeptanz auf dem Endkundenmarkt. Kann mithin die Aufgabe des Umstiegs auf die digitale Übertragungstechnik von den Marktkräften bewältigt werden, bedarf es nicht noch eigens einer besonderen gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung. Eine Förderung von DVB-T lässt sich als Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse nur dann begründen, wenn man auf die Besonderheiten dieser Technik abstellt. Die dürften in den mobilen und portablen Empfangsmöglichkeiten zu finden sein. Wenn nun aber die privaten Rundfunkanbieter als reine Programmlieferanten selbst nichts zur speziellen Innovation von DVB-T beitragen können und auch selbst nicht als Erbringer der neuen Dienstleistung auftreten, können sie auch nicht mit ihr betraut sein.66 Und auch die Berufung auf einen durch DVB-T geförderten Wettbewerb der Übertragungsstrukturen kann im Ergebnis nicht überzeugen, bestehen doch keinerlei Hinweise darauf, dass die bestehenden Wettbewerbsstrukturen auf dem bestehenden Programmübertragungsmarkt zu einer mangelnden oder Meinungsvielfalt beeinträchtigenden Versorgung der Bevölkerung mit Rundfunkprogrammen führen.67 63 Kommission, Entscheidung vom T-Beihilfen. 64 Vgl. Kommission, Entscheidung DVB-T-Beihilfen. 65 Vgl. Kommission, Entscheidung DVB-T-Beihilfen. 66 Vgl. Kommission, Entscheidung DVB-T-Beihilfen. 67 Vgl. Kommission, Entscheidung DVB-T-Beihilfen.
09. 11. 2005, ABl. 2006, L 200 / 14, Rn. 123 – DVBvom 09. 11. 2005, ABl. 2006, L 200 / 14, Rn. 126 – vom 09. 11. 2005, ABl. 2006, L 200 / 14, Rn. 126 – vom 09. 11. 2005, ABl. 2006, L 200 / 14, Rn. 127 – vom 09. 11. 2005, ABl. 2006, L 200 / 14, Rn. 128 –
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Die Annahme, mit der Beteiligung an der Ausstrahlung von Fernsehprogrammen über DVB-T erbrächten private Rundfunkunternehmen eine Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, ist nach dem bisherigen Befund offenkundig fehlerhaft: Zunächst kann DVB-T als neuer Übertragungsweg unter den Gesichtspunkten der Meinungsvielfalt und der Digitalisierung des Rundfunkempfangs nichts beitragen, was nicht schon ebenso effizient von den bestehenden Marktkräften geleistet werden könnte. Insofern wäre schon eine gemeinwirtschaftliche Betrauung nicht statthaft. Eine Ausnahme hiervon besteht nur für die technischen Besonderheiten von DVB-T. Solange die Technik förderungsbedürftig, mithin noch nicht marktreif ist, erscheint es vertretbar, DVB-T-Übertragungsdienstleistungen als im gemeinwirtschaftlichen Interesse liegend zu definieren. Für eine Betrauung mit diesen innovativen Dienstleistungen sind Programmveranstalter aber offenkundig die falschen Adressaten. Gewährt die SLM den privaten Rundfunkunternehmen also nicht marktgerechte Übertragungsentgelte, kann sie sich nicht darauf berufen, der gewährte wirtschaftliche Vorteil sei die Gegenleistung für eine besondere gemeinwirtschaftliche Verpflichtung, mit der die Programmanbieter betraut seien. Die Altmark Trans-Rechtsprechung führt im vorliegenden Fall nicht zu einer vom private-investor-test abweichenden Bewertung: Soweit die SLM den Betrieb ihres DVB-T-Sendernetzes nicht an erwerbswirtschaftlichen Zielen orientiert, stellt der den Programmanbietern daraus erwachsende wirtschaftliche Vorteil eine Begünstigung im Sinne des Art. 87 Abs. 1 EG dar. Die Begünstigung erfüllt schließlich auch das in Art. 87 Abs. 1 EG statuierte Merkmal der Bestimmtheit, kommt sie doch nur ausgewählten bzw. durch das SächsPRG in der Verteilung der Übertragungskapazitäten privilegierten Rundfunkunternehmen zugute. b) Staatlichkeit der Vorteilsgewährung Um als Beihilfe nach Art. 87 Abs. 1 EG gelten zu können, müsste die den Rundfunkunternehmen zugute kommende Begünstigung staatlich sein oder aus staatlichen Mitteln stammen. Die Staatlichkeit der Mittel ergibt sich dabei nicht etwa schon aus einer Staatlichkeit der Rundfunkgebühren, aus denen die SLM finanziert wird. Denn unter den Vorgaben des Preussen Elektra-Urteils68 des EuGH kann schon gar nicht von einer Staatlichkeit der Rundfunkgebühren ausgegangen werden.69 Doch selbst wenn die Rundfunkgebühren für sich genommen noch keine staatlichen Mittel darstellen, erhalten die Mittel ihren staatlichen Charakter ab dem EuGH, Rs. C-379 / 98, Slg. 2001, I-2099, Rn. 59. Cremer (Fn. 54), Art. 87 Rn. 28; Gersdorf, Grundzüge des Rundfunkrechts, 2003, S. 249; Koenig / Kühling, ZUM 2001, 546. 68 69
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Zeitpunkt, in dem sie in einen staatlichen Haushalt oder in den Haushalt einer staatlich benannten Einrichtung eingestellt werden.70 Allein hierauf kommt es im vorliegenden Zusammenhang an. Da das Budget der Landesmedienanstalten nicht den Länderhaushalten entnommen wird, sondern sich aus dem Rundfunkgebührenaufkommen speist, kommt allein die Variante der Vorteilsgewährung aus staatlichen Mitteln in Betracht. Sie zeigt, dass auch mittelbare, dem Staat zurechenbare Mittelflüsse von Art. 87 Abs. 1 EG erfasst sind. Dazu gehören nach ständiger Rechtsprechung des EuGH auch Fördermittel, die über eine vom Staat benannte oder errichtete öffentliche oder private Einrichtung gewährt werden.71 Unter Berücksichtigung dieser Fallkonstellationen kann sich der Staat nicht durch die Ausgliederung bestimmter Einrichtungen dem Beihilferegime des Art. 87 Abs. 1 EG entziehen. In den meisten hierzu vom EuGH entschiedenen Fällen ging es um Leistungen staatlich eingerichteter Förderfonds an Unternehmen.72 Ihnen ist gemeinsam, dass die für Förderungen verwendeten Mittel zwar aus Haushalten nichtstaatlicher Einrichtungen bestritten worden sind, die Staatlichkeit der Mittel jedoch schon aus dem Einfluss folgt, den der Staat durch den Akt der Errichtung auf die staatlich benannte Stelle ausgeübt hat. Legt man diese Maßstäbe nun an die SLM an, gelangt man ohne weiteres zum Ergebnis der Staatlichkeit der ihr zur Verfügung stehenden Mittel. Bei ihr handelt es sich, wie bei Landesmedienanstalten im Allgemeinen, um eine organisatorisch vom Staat verselbständigte Verwaltungseinheit.73 Als solche ist sie vom Staat Sachsen zur organisatorischen Sicherung der Rundfunkfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG ins Leben gerufen worden. In ihrer Funktion als grundrechtssichernde Institution ist sie zwar aus der staatlichen Verwaltung ausgegliedert. Gleichwohl besteht ein staatlicher Einfluss über eine – wenn auch beschränkte – Rechts- und Finanzaufsicht. In jedem Fall aber beruht ihre Existenz auf einem staatlichen Gründungsakt und erfüllt eine grundsätzlich vom Staat aus verfassungsrechtlichen Gründen selbst nicht erfüllbare, aber doch zu gewährleistende Aufgabe. Als staatlich benannte Stelle sind Förderungen, die die SLM aus ihren Haushaltsmitteln an Unternehmen erbringt, daher grundsätzlich als aus staatlichen Mitteln gewährt zu betrachten. Die Literatur kommt in Übereinstimmung mit der DVB-T-Beihilfen-Entscheidung der Kommission einstimmig zum selben Ergebnis. Nur beschreiten einige Koenig / Kühling, K&R 2004, 202; Koenig / Haratsch, ZUM 2005, 276. Vgl. EuGH, verb. Rs. C-52 / 97, C-53 / 97, C-54 / 97, Slg. 1998, I-2629, Rn. 13 – Viscido. 72 EuGH, Rs. C-173 / 73, Slg. 1974, 709, Rn. 33 – Familienzusagen im Textilsektor; Rs. C-78 / 76, Slg. 1977, 595, Rn. 2 – Steinike und Weinling; Rs. C-72 / 79, Slg. 1980, 1411, Rn. 20 ff. – Lagerkosten für Zucker; Rs. C-290 / 83, Slg. 1985, 439, Rn. 13 ff. – CNCA; EuG, Rs. T-358 / 94, Slg. 1996, II-2109, Rn. 57 ff. – Air France. 73 Vgl. Bumke, Die öffentliche Aufgabe der Landesmedienanstalten, 1995, S. 195; Hoffmann-Riem, Personalrecht der Rundfunkaufsicht, 1991, S. 73 ff. 70 71
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Autoren74 hier Umwege, wenn sie zusätzlich zu den bis hierher angewendeten Voraussetzungen auch noch die besonderen Zurechnungskriterien prüfen, die der EuGH in seiner Entscheidung Stardust Marine75 entwickelt hat. Diese Kriterien sind auf die beihilferechtliche Beurteilung von Vorteilen zugeschnitten, die von öffentlichen Unternehmen gewährt werden.76 Da die besondere betriebswirtschaftliche Konstitution öffentlicher Unternehmen die Zurechnung dieser Vorteile zum Staat erschwert, war der EuGH veranlasst, hier spezielle Zurechnungsleitlinien zu konzipieren. In der Tat lässt es sich nicht ersehen, ob bei Zuwendungen öffentlicher Unternehmen von einer autonomen betriebswirtschaftlichen Entscheidung eines aus der Verwaltung ausgegliederten privatwirtschaftlich organisierten Unternehmens oder von einer staatlichen Veranlassung einer bestimmten Zuwendung auszugehen ist. Bei der nicht erwerbswirtschaftlichen Tätigkeit, wie sie die Kommission im Fall DVB-T-Beihilfen zu beurteilen hatte, kommt es daher nicht auf die besonderen Kriterien der Stardust Marine-Rechtsprechung an. Diese Rechtsprechung wird für Landesmedienanstalten erst dann virulent, wenn sie sich, wie die SLM es plant, wirtschaftlich betätigen wollen und zu diesem Zweck ein privatrechtlich verfasstes Unternehmen gründen. Hier entsteht das in Stardust Marine hervorgetretene Zurechnungsproblem. Gewährt eine von der SLM gegründete GmbH den privaten Rundfunkunternehmen wirtschaftliche Vorteile, stellt dies nur bei feststellbarer Zurechnung an die SLM eine aus staatlichen Mitteln gewährte Begünstigung dar. Hierfür bedarf es brauchbarer Indizien. Das zentrale in Stardust Marine herangezogene Indiz dürfte das der Marktüblichkeit sein. Verhält sich ein öffentliches Unternehmen in marktüblicher Weise, besteht schon gar kein Bedürfnis nach einer Sanktion durch das Beihilferecht. Bestehen umgekehrt aber Indizien dafür, dass der Staat ein offensichtlich marktunübliches Verhalten veranlasst hat, muss eine staatliche Vorteilsgewährung angenommen werden. So liegt es in unserem Fall: Gewährt eine von der SLM beherrschte GmbH beim Betrieb des Sendernetzes marktunübliche Konditionen, genügt ein Blick auf § 28 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SächsPRG, um die staatliche und nicht betriebswirtschaftliche Motivation hierfür zu identifizieren. Das Merkmal der Staatlichkeit der Vorteilsgewährung im Sinne des Art. 87 Abs. 1 EG ist erfüllt. c) Wettbewerbsverfälschung und Handelsbeeinträchtigung Die Begünstigung privater Rundfunkunternehmen, die sich an der Einführung von DVB-T beteiligen, führt ferner auch zumindest zur Möglichkeit von Wettbewerbsverfälschungen. Zur Bestimmung des für diese Einschätzung sachlich und 74 Koenig / Kühling, K&R 2004, 204 f.; Koenig / Kühling, in: Streinz, EUV EGV, 2003, Art. 87 Rn. 46; a.A. Koenig / Haratsch, ZUM 2005, 277 ff. 75 EuGH, Rs. C-482 / 99, Slg. 2002, I-4397, Rn. 50 ff. 76 Koenig / Haratsch, ZUM 2005, 277.
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räumlich relevanten Markts kann zunächst auf die in der Untersuchung des deutschen Rechts vorgenommene Marktabgrenzung verwiesen werden. Die hat allerdings für Terrestrik, Satellit und Kabel jeweils getrennte Märkte für Rundfunkübertragungsdienstleistungen angenommen. Danach wäre eine Wettbewerbsverzerrung durch die Förderung von DVB-T ausgeschlossen. Etwas anderes gilt jedoch, wenn man nicht den Großkundenmarkt, sondern den Endkundenmarkt für Programminhalte in den Blick nimmt: Auf diesem Markt konkurrieren private Rundfunkunternehmen grenzüberschreitend um Werbekunden. Und aus Sicht der Zuschauer als Nachfrager von Programminhalten sind die verschiedenen Übertragungswege sehr wohl substituierbar.77 Der Zuschuss ist mithin geeignet, die Attraktivität des Programms der begünstigten Programmveranstalter im Kampf um Werbekunden zu steigern. Mit diesem potentiellen Vorteil des begünstigten Unternehmens gegenüber seinem Wettbewerber sind die Merkmale der Wettbewerbsverfälschung und der Handelsbeeinträchtigung erfüllt. Insgesamt liegen damit schließlich sämtliche Voraussetzungen des Beihilfebegriffs aus Art. 87 Abs. 1 EG für den Fall eines nicht marktgerechten Wirtschaftens der SLM beim Betrieb eines DVB-T-Sendernetzes vor. d) Rechtfertigung Da, wie gezeigt, die Beteiligung privater Rundfunkanbieter an DVB-T-Projekten nicht als Dienstleistung gilt, die gemäß Art. 86 Abs. 2 EG in allgemeinem wirtschaftlichen Interesse liegt, scheidet eine Rechtfertigung der Beihilfe nach dieser Vorschrift aus. Gerechtfertigt sein könnte die Beihilfe aber nach der Bereichsausnahme des Art. 87 Abs. 3 lit. d EG für Beihilfen, die der Förderung der Kultur dienen. Welche Gegenstände nach Art. 87 Abs. 3 lit. d EG förderungsfähig sind, bestimmt sich nach dem Kulturbegriff der Mitgliedstaaten. 78 Als Gegenstand von kultureller Bedeutung kommt für die Förderung von DVB-T allein die Vielfalt im Rundfunk in Frage. Allerdings hat auch hier bereits die Prüfung des Art. 86 Abs. 2 EG gezeigt, dass die Förderung von DVB-T durch Zuschüsse an Rundfunkunternehmen nichts zur vielfältigen Versorgung mit Programmen beitragen kann, was nicht schon durch die am Markt etablierten Übertragungswege geleistet würde. Scheidet damit insgesamt eine Rechtfertigung der Beihilfe aus, kann als Ergebnis für das Vorhaben der SLM Folgendes festgehalten werden: Um nicht in Konflikt mit dem EG-Beihilferecht zu geraten, ist die SLM gehalten, ihr DVB-T-Sendernetz nach betriebswirtschaftlichen Zielsetzungen zu marktgerechten Preisen zu betreiben. Dabei darf sie freilich jene Preissenkungsspielräume nutzen, denen sich T-Systems aufgrund der Besonderheiten ihrer Marktstellung bislang verschlossen hat. 77 Vgl. Kommission, Entscheidung vom 09. 11. 2005, ABl. 2006, L 200 / 14, Rn. 75 – DVB-T-Beihilfen.; Koenig / Kühling, K&R 2004, 206. 78 Koenig / Kühling (Fn. 74), Art. 87 Rn. 92.
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2. Unzulässige Beihilfe zugunsten der SLM Sollte sich die SLM tatsächlich zu einer erwerbswirtschaftlichen Betätigung entschließen, wird auch für sie die Frage nach dem Beihilfecharakter der Rundfunkgebühren, aus denen sie sich finanziert, augenfällig. Auf diese im Rundfunkrecht nicht an Bedeutung verlierende Frage kommt es allerdings nicht mehr an. Denn schließlich steht ja fest, dass sich die SLM als Betreiberin eines Sendernetzes schon aus den oben genannten Gründen wegen Art. 87 Abs. 1 EG marktgerecht verhalten muss. Kommt sie dem nach, kann mangels Quersubventionierung des Betriebs durch Rundfunkgebühren schon tatbestandlich keine Beihilfe zu ihren Gunsten vorliegen.
3. Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung im Sinne von Art. 82 EG Das EG-Wettbewerbsrecht untersagt in Art. 82 EG den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung. Kampfpreisunterbietungen in Verdrängungsabsicht zählen hier wie im nationalen Wettbewerbsrecht zum Kreis missbräuchlicher Wettbewerbshandlungen.79 Engere Voraussetzungen, als sie sich für das Vorhaben der SLM bereits aus dem EG-Beihilferecht ergeben, folgen aus Art. 82 EG nicht. Die näheren Vorgaben der Vorschrift können daher dahinstehen.
V. Zusammenfassung Nach den Vorschriften des RfStV und des SächsPRG ist die SLM berechtigt, ein eigenes DVB-T-Sendernetz zu errichten und zu betreiben. Die Berechtigung folgt aus der Aufgabenzuweisung des § 28 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SächsPRG, welche die SLM ermächtigt, die technische Infrastruktur für neue Rundfunkübertragungstechniken zu fördern. Bei der Auslegung des § 28 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SächsPRG sind die Restriktionen des § 40 Abs. 1 S. 2 RfStV zu beachten. Insoweit ergeben sich hinsichtlich des Förderungsgegenstands und des Förderungsmittels grundsätzlich keine Bedenken. Allerdings ist zu beachten, dass die SLM ab dem 01. Januar 2011 die Förderung von DVB-T nicht mehr aus Gebührenmitteln bestreiten darf. Ab diesem Zeitpunkt hat die SLM daher aus Sicht des Rundfunkrechts das DVBT-Sendernetz nach erwerbswirtschaftlichen Grundsätzen zu betreiben. Nicht kostendeckendes Wirtschaften zugunsten der privaten Rundfunkanbieter ist dann rundfunkrechtlich nicht mehr zulässig. Aus dem nationalen Wettbewerbsrecht folgen keine weitergehenden Einschränkungen, als sie das Rundfunkrecht vorsieht. Das UWG ist auf die von der SLM ins Auge gefasste Wirtschaftstätigkeit anwendbar. Es regelt allein Fragen des Markt79
Vgl. Weiß (Fn. 61), Art. 82 Rn. 31.
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verhaltens, während sich die Frage nach dem Marktzutritt der SLM allein nach Rundfunkrecht bestimmt. Betreibt die SLM ihr Sendernetz den rundfunkrechtlichen Vorschriften gemäß, verstößt das Ausschöpfen der sich daraus ergebenden Freiheiten in der Preisgestaltung nicht gegen § 3 UWG. Dies, weil die angestrebte Tätigkeit der SLM weder in der Absicht geschieht, Marktkonkurrenten zu verdrängen, noch dazu geeignet ist, den Markt in seinem Bestand zu gefährden, sowie schließlich auch keine zweckwidrige Verwendung öffentlicher Mittel darstellt. Sollte die SLM – was mit einiger Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann – auf dem Markt für Rundfunkübertragungsdienste eine marktbeherrschende Stellung einnehmen, so folgen auch aus den dann anwendbaren Vorschriften der §§ 19, 20 GWB gegenüber dem Rundfunkrecht keine weiteren Beschränkungen der SLM in der Preisgestaltung. Solche Einschränkungen könnten sich allenfalls aus den strengen und vorrangig anwendbaren Bestimmungen des TKG ergeben. Nach Marktdefinition und Marktanalyse der Bundesnetzagentur bleibt jedoch der Markt für DVB-T-Übertragungsdienstleistungen bis auf Weiteres vom Zugriff des TKG ausgeklammert. Weitergehende Beschränkungen als sie das Rundfunkrecht vorgibt, folgen aus dem EG-Beihilferecht. Es untersagt der SLM, den privaten Rundfunkunternehmen dadurch wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen, dass sie den Betrieb ihres DVBT-Sendernetzes nicht nach erwerbswirtschaftlichen Kriterien ausrichtet. Verstößt sie gegen dieses Verbot, stellt der wirtschaftliche Vorteil aus der gegenüber den privaten Programmanbietern günstigen Preisgestaltung eine Begünstigung im Sinne von Art. 87 Abs. 1 EG dar. Dieser Vorteil kann insbesondere auch nicht als Gegenleistung für eine besondere Dienstleistung der privaten Rundfunkunternehmen, die diese im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse erbringen, angesehen werden. Da die Begünstigung ferner auch aus staatlichen Mitteln gewährt wird und schließlich auch die Merkmale der Wettbewerbsverfälschung und Handelsbeeinträchtigung erfüllt, fällt sie unter den Beihilfebegriff des Art. 87 Abs. 1 EG. Die Herkunft der Beihilfe aus staatlichen Mitteln ergibt sich aus einer zweifachen Zurechnung: Einmal aus der Zurechnung der SLM zur staatlichen Einflusssphäre. Und zum anderen aus der Zurechnung der Begünstigungsentscheidung einer aus der Anstalt ausgegliederten GmbH zur SLM. Aus Gründen des EG-Beihilferechts muss die SLM daher ein eigenes DVB-T-Sendernetz nach erwerbswirtschaftlichen Grundsätzen marktgerecht betreiben. Das europäische Wettbewerbsrecht steht dem dann insgesamt nicht entgegen.
Die Staatsfreiheit des Rundfunks – Erosion und Neujustierung Von Peter M. Huber
Die Staatsfreiheit des Rundfunks ist ein sehr deutscher Verfassungsgrundsatz. Er ist nur vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem NS-Regime verständlich und findet in den meisten Staaten des europäischen Rechtsraumes daher auch keine Entsprechung. Auch wenn er begrifflich zwischen „Staatsfreiheit“1 und „Staatsferne“2 changiert, gehört er zu den „rochers de bronze“ unserer Rundfunkordnung oder – in den Worten des Jubilars – zu ihren „Strukturprinzipien“.3 Seit geraumer Zeit ist das Gebot der Staatsfreiheit massiven Erosionstendenzen ausgesetzt. Zwar ist es in der Politik – wie schon seine „Erfindung“ anlässlich der Pläne für das Adenauer-Fernsehen belegt4 – nie auf ungeteilte Begeisterung gestoßen; in jüngster Zeit mehren sich aber Fälle, in denen staatliche und staatlich beherrschte Akteure in die Rolle des Rundfunkveranstalters drängen (I.). Ein Blick auf die Zusammensetzung mancher Gremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zeigt zudem, dass der Gesetz- bzw. Staatsvertragsgeber immer schon versucht war, seine Grenzen zu testen (II.). Dafür trägt neben einer allgemeinen Tendenz zur Marginalisierung (öffentlich-)rechtlicher Anforderungen (III.) auch eine inkonsistente Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Verantwortung (IV.) sowie, mit Blick auf die politischen Parteien, eine nicht ausreichende Verarbeitung des Realbefundes (V.). Eine gewisse Neujustierung des Gebotes der Staatsfreiheit erscheint vor diesem Hintergrund angezeigt (VI.).
I. Das Gebot der Staatsferne in der Erosion 1. Verfassungsrechtliche Grundlagen Seit 1961 ist geklärt, dass der Staat – Bund und Länder sowie die von ihnen errichteten Träger mittelbarer Staatsverwaltung – weder unmittelbar noch mittel1 BVerfGE 83, 238 (239); BVerfG, Urt. v. 12. 3. 2008 – 2 BvF 4 / 03 – juris Rz. 92; Bethge, in: Sachs, GG, 4. Aufl. 2007, Art. 5 Rn. 96. 2 Bethge (Fn. 1), Art. 5 Rn. 101, mit Blick auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. 3 Bethge (Fn. 1), Art. 5 Rn. 95 f. 4 Grundlegend BVerfGE 12, 205 (262 f.).
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bar Rundfunk veranstalten darf. Wörtlich heißt es insoweit schon im 1. Rundfunkurteil: „Art. 5 GG verlangt jedenfalls, daß dieses moderne Instrument der Meinungsbildung [scil. der Rundfunk] weder dem Staat noch einer gesellschaftlichen Gruppe ausgeliefert wird.“ Er schließt es daher aus, „daß der Staat unmittelbar oder mittelbar Rundfunksendungen veranstaltet.“5 In seinem Urteil zur Medienbeteiligung politischer Parteien vom 12. März 20086 hat auch der Zweite Senat noch einmal betont, dass die Kommunikationsgrundrechte, die sich ursprünglich gegen eine Gängelung der Medien durch den Staat gerichtet hätten, in der Abwehr staatlicher Kontrolle der Berichterstattung auch heute noch ein wesentliches, wenn nicht ihr vorrangiges Schutzgut fänden.7 Der Grundsatz der Staatsfreiheit des Rundfunks beziehe sich deshalb nicht nur auf den Schutz vor einer unmittelbaren Lenkung oder Maßregelung des Rundfunks; es sollen, weitergehend, auch alle mittelbaren und subtilen Einflussnahmen des Staates verhindert werden.8 Daher dürfe der Staat weder selbst Rundfunkveranstalter sein9 noch unmittelbar oder mittelbar ein Unternehmen beherrschen, das Rundfunksendungen veranstaltet.10
2. Erosion und Grenzfälle Ein flüchtiger Blick in die Entscheidungspraxis der Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) genügt, um festzustellen, dass dieses Gebot unter Druck geraten ist. Vom Parlamentsfernsehen des Deutschen Bundestages (a) über die Rundfunkaktivitäten von Deutscher Bahn und Deutscher Telekom (b) bis zur Beteiligung des Landes Berlin an zwei kleineren Rundfunkveranstaltern (c) – die Liste, in denen sich staatliche Organe über dieses Strukturprinzip der Rundfunkordnung hinwegzusetzen suchen, wächst. Auch ob die im Netz verbreiteten Videobotschaften der Bundeskanzlerin eines Tages mit dem Gebot der Staatsfreiheit in Konflikt geraten könnten, ist nicht ausgemacht (d). a) Das Parlamentsfernsehen des Deutschen Bundestages Am 10. August 2006 hat der Deutsche Bundestag bei der Medienanstalt BerlinBrandenburg (mabb) den Antrag auf Zulassung eines bundesweiten Fernsehprogramms „Parlamentsfernsehen“ gestellt.11 Nachdem das Parlamentsfernsehen seit BVerfGE 12, 205 (262 f.). BVerfG NVwZ 2008, 658. 7 BVerfGE 57, 295 (320); 90, 60 (88). 8 BVerfG, Urt. v. 12. 3. 2008 – 2 BvF 4 / 03 – juris Rz. 96, unter Hinweis auf BVerfGE 73, 118 (183); 83, 238 (323); 90, 60 (87). 9 BVerfG, Urt. v. 12. 3. 2008 – 2 BvF 4 / 03 – juris Rz. 95, unter Hinweis auf BVerfGE 12, 205 (263); 83, 238 (330); 90, 60 (88). 10 BVerfG, Urt. v. 12. 3. 2008 – 2 BvF 4 / 03 – juris Rz. 96. 11 KEK 361. 5 6
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dem 20. Dezember 1990 zunächst als interner Hauskanal betrieben worden war, wurde es seit dem 3. Oktober 1999 auf der Grundlage einer Sendeerlaubnis der mabb auch digital im Berliner Kabelnetz verbreitet und ist zudem im Netz als Web-TV zu empfangen.12 Auch über Satellit (Astra 3A) wird das Programm verbreitet; die Signale sind allerdings mit anderen Signalen verschiedener oberster Bundesbehörden und der Bundespressekonferenz im Multiplex verschlüsselt. Die Zulassung wurde daher für eine unverschlüsselte Verbreitung über Satellit und Kabel beantragt. Kritische Rückfragen von Seiten der KEK stießen beim Deutschen Bundestag auf Unverständnis und wurden mit der Einholung eines die Aktivitäten legitimierenden Rechtsgutachtens beantwortet. Das Parlamentsfernsehen sei, so die auf der Grundlage einer funktionalen Betrachtungsweise etwas zugespitzte These, Öffentlichkeitsarbeit und habe mit Rundfunk wenig zu tun.13 Nachdem sich die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten im Juni 2008 mit dem Deutschen Bundestag darauf verständigt haben, die Berichterstattung über die Parlamentsarbeit im Programm von „Phoenix“ wieder zu verstärken, hat der Bundestag in einer Pressemitteilung vom 5. Juni 2008 mitgeteilt, dass auf eine eigene bundesweite Ausstrahlung des Parlamentsfernsehens verzichtet werden könne. Der Zulassungsantrag wurde jedoch nicht zurück genommen, die Ausstrahlung, soweit ersichtlich, nicht eingestellt.14 b) Rundfunkaktivitäten von Deutscher Bahn und Deutscher Telekom In der Sache nicht minder problematisch erscheinen die Fälle, in denen aus den ehemaligen Sondervermögen des Bundes hervorgegangene und von ihm nach wie vor beherrschte Unternehmen – die Deutsche Bahn AG und die Deutsche Telekom AG – als Rundfunkveranstalter auftreten. Die Deutsche Bahn AG, deren Anteile sich nach wie vor im alleinigen Eigentum der Bundesrepublik Deutschland befinden, betreibt seit Jahren das Programm Bahn TV. Im Januar 2001 zunächst als Mitarbeiterfernsehen gestartet, wurde es ab dem 26. Juni 2001 als Eigenwerbekanal (§ 45b RStV) auf der Grundlage einer Sendeerlaubnis der mabb veranstaltet. Seit März 2006 war es als 24stündiger LiveStream im Netz unverschlüsselt über Satellit (Astra digital), über die digitale Plattform von PrimaCom, ish / iesy (Unitymedia), Kabel BW und über die IPTV Platt12 KEK, 11. Jahresbericht 2007 / 2008, 2008, S. 61; 10. Jahresbericht 2006 / 2007, 2007, Ziff. 3.5.1.5. 13 Gersdorf, Parlamentsfernsehen des Deutschen Bundestages, 2008, S. 50, 68; wohl noch mit anderer Akzentsetzung ders., Staatsfreiheit des Rundfunks in der dualen Rundfunkordnung der Bundesrepublik Deutschland, 1991; krit. Goerlich / Laier, ZUM 2008, 475, 482. 14 KEK(Fn. 12), S. 61.
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form von Hansenet empfangbar. Einzelne Sendungen werden auch als Videopodcast angeboten.15 Nach dem Auslaufen der Zulassung am 2. Juli 2008 hat die Deutsche Bahn AG bekannt gegeben, dass das Programm Bahn TV ab 1. Juli 2008 nur noch „über das Internet“ verbreitet werde.16 Das Programm ist seitdem 24 Stunden pro Tag über die Homepage von Bahn TV als Live-Stream zu empfangen und verzeichnet nach eigenen Angaben durchschnittlich 356.000 Videoabrufe pro Monat. Die Programminhalte stehen i. d. R. in einem direkten Bezug zur Bahn; darüber hinaus wurde das Programm jedoch auch sukzessive um redaktionell gestaltete Inhalte wie Talkshows mit Prominenten, allgemeine Nachrichteninhalte sowie Informationen zu sonstigen Themen (Gesundheitsreform, gesetzliche Bestimmungen zur Krankenversicherung u. a. m.) angereichert. Auch die Deutsche Telekom AG tummelt sich auf dem Feld der Rundfunkakteure. Im Zuge ihrer materiellen (Teil)Privatisierung seit Mitte der 1990er Jahre ist der Anteil des Bundes an der Deutschen Telekom AG kontinuierlich zurückgegangen. Heute ist sie ein gemischt-wirtschaftliches Unternehmen, dessen Anteile sich zu 68,3% im Streubesitz befinden; 14,8% werden unmittelbar vom Bund gehalten, 14,9% von der bundeseigenen KfW. Der dem Bund zurechenbare Anteil beträgt somit 31,7%.17 Im April 2006 wollte sich die Deutsche Telekom AG mit einer Fondsgesellschaft, der T-Online Venture Fund GmbH & Co. KG, mittelbar zu 24,91 % an einer Rundfunkveranstalterin, der Deluxe Television GmbH, beteiligen und hätte aufgrund der gesellschaftsvertraglichen Ausgestaltung einen Einfluss erlangt, der demjenigen eines Gesellschafters mit einer Sperrminorität gleichgekommen wäre.18 Die Beteiligung scheiterte letztlich daran, dass die KEK die Staatsfreiheit des Rundfunks beeinträchtigt sah. Ebenfalls im Jahre 2006 hat die Deutsche Telekom AG gemeinsam mit der Premiere Fernsehen GmbH & Co. KG das IPTV-Format „Bundesliga auf Premiere powered by T-Com“ entwickelt. In diesem Zusammenhang verbreitet sie auf der Grundlage der für die Spielzeit 2006 / 07 bis 2008 / 09 erworbenen Bundesligarechte für IPTV-Übertragungen die von Premiere produzierten Fußballübertragungen und -berichterstattungen über ihre Plattform T-Home. Ob die Deutsche Telekom AG dafür eine eigene Zulassung benötigt, ist umstritten. Die Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten (DLM) hat dies verneint und Premiere als die eigentliche Rundfunkveranstalterin angesehen. Dagegen hat KEK, 10. Jahresbericht, 2006 / 2007, 2007, S. 303. Bahn TV, Juni 2008, http: //www.bahntv-online.de/btvo/site/index.php?s=5800. 17 Deutsche Telekom AG, Jahresabschluss und Lagebericht zum 31. 12. 2007, S. 7. 18 KEK, Beschluss vom 11. 04. 2006 – KEK 319 und KEK 321. An der Fondsgesellschaft hielt die T-Online International AG 99 % der Anteile, die ihrerseits wieder zu 90, 14% von der Deutschen Telekom AG beherrscht wurde. 15 16
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die KEK mit Beschluss vom 7. November 200619 Zweifel an der Veranstaltereigenschaft von Premiere geäußert, weil diese nicht über die erforderlichen Programmrechte verfügt, sondern auf der Basis einer Sublizenz der Deutschen Telekom tätig wird. Auch wird das Programm nicht von Premiere angeboten; vielmehr vermittelt diese lediglich den Abschluss von „T-Home“-Verträgen mit der Deutschen Telekom AG.20 c) Sonstige Rundfunkaktivitäten der öffentlichen Hand Ende 2008 hat sich das Land Berlin über einen Fonds der Investitionsbank Berlin (IBB), einer rechtsfähigen Anstalt des öffentlichen Rechts, aus industriepolitischen Gründen an zwei Rundfunkveranstaltern beteiligt, der Cubico Media TV GmbH21 und der Deutschen Fernsehwerke GmbH. Die KEK hat beide Zulassungen erst gebilligt, nachdem sich die Veranstalter zu einer Änderung des Gesellschaftsvertrages bereit erklärt hatten, der dem Fonds – und damit mittelbar dem Land Berlin – für alle Gegenstände, die Einfluss auf das Programm des Veranstalters haben könnten, das Stimmrecht entzog.22 d) Videopodcast der Bundeskanzlerin Schließlich wendet sich die Bundeskanzlerin seit dem 8. Juni 2006 in einer wöchentlichen Botschaft an die Öffentlichkeit, die als Videopodcast über die Homepage des Bundeskanzleramtes abrufbar ist. Auch wenn gute Gründe dafür sprechen mögen, dass diese Sendungen in ihrer aktuellen Gestalt weder den Tatbestand des Rundfunks i. S. v. § 2 Abs. 1 S. 1 und 2 RStV noch den des weiteren, verfassungsrechtlichen Rundfunkbegriffs23 erfüllen – aus dem Rundfunkregime von vornherein ausgenommen sind sie nicht. Im Gegenteil: Da sich der Rundfunk wegen des technischen Fortschritts einer abschließenden Definition entzieht,24 steht das Problem der Staatsfreiheit auch bei Online-Aktivitäten auf der Tagesordnung.
KEK, Beschl. v. 07. 11. 2006 – KEK 348, 350, 359. KEK (Fn. 15), S. 303 f. 21 KEK, Beschl. v. 04. 11. 2008 – KEK 499. 22 Ob die KEK nach § 37 Abs. 4 RStV auch für die Gewährleistung der Staatsfreiheit bei der bundesweiten Veranstaltung von Fernsehprogrammen zuständig ist, ist zwar nicht endgültig geklärt; da die Staatsfreiheit jedoch Grundlage der Meinungsvielfalt ist, dürfte die Beurteilung dieser Frage bei der KEK richtig angesiedelt sein. 23 Bethge (Fn. 1), Art. 5 Rn. 90 f. 24 BVerfGE 74, 297 (350 f.); 101, 361 (380). 19 20
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II. Zusammensetzung der Rundfunk- und Fernsehräte Eine bis heute von Rechtsprechung und Schrifttum nur ungenügend bewältigte Herausforderung für den Grundsatz der Staatsfreiheit des Rundfunks ist die Zusammensetzung der Gremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und – soweit sie, wie die Bayerische Landesanstalt für neue Medien (BLM), selbst Trägerinnen der Rundfunkfreiheit sind25 – auch der Landesmedienanstalten. Denn hier haben Vertreter des Staates nicht selten einen erheblichen, nur durch das Intendantenprinzip geminderten Einfluss, der sich durchaus auch auf die Programmgestaltung auswirken kann. Besonders exzessiv liegen die Dinge insoweit beim ZDF. In dem 77 Sitze umfassenden Fernsehrat haben die Länder 16 Sitze, der Bund 3 und die politischen Parteien 12, die i. d. R. von amtierenden Ministern und Abgeordneten eingenommen werden. Auch unter den 16 weiteren, von den Ministerpräsidenten zu ernennenden Mitgliedern dominieren Politiker – insbesondere Abgeordnete aus dem Europäischen Parlament, dem Bundestag und den Landtagen, und selbst die gesellschaftlich relevanten Gruppen werden zu einem nicht unerheblichen Teil durch Abgeordnete vertreten – von der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) bis zum Bund der Vertriebenen. Nimmt man hinzu, dass auch die Vertreter der kommunalen Spitzenverbände und die zahlreichen Hochschulpräsidenten und Rektoren letztlich Träger mittelbarer Staatsverwaltung repräsentieren, bei denen eine besondere Staatsnähe nicht von der Hand zu weisen ist, so kann von einer „Staatsfreiheit“ des ZDF allenfalls bei einer sehr formalen, den Realbefund weitgehend ignorierenden Betrachtungsweise die Rede sein.
III. Zur nachlassenden Steuerungskraft des Gebotes der Staatsfreiheit Warum aber drängen staatliche Stellen und öffentlich beherrschte Unternehmen in jüngster Zeit ungeachtet des Gebotes der Staatsfreiheit in der geschilderten Art in das private Fernsehen und warum werden selbst offenkundig rechtswidrige Vorhaben wie das Parlamentsfernsehen mit einer nicht unerheblichen Hartnäckigkeit betrieben oder zumindest an der Grenze der Unzulässigkeit anzusiedelnde Zustände wie in den Gremien des ZDF geduldet? Diese Erosionstendenzen fügen sich ein in einen seit geraumer Zeit zu beobachtenden Trend zur Relativierung und Marginalisierung des (öffentlichen) Rechts und seiner Anforderungen. In den vergangenen 20 Jahren hat der – nach 1945 zunächst selbstverständliche – Rechtsgehorsam Federn lassen müssen, nicht nur, aber 25 Art. 111a Abs. 2 S. 1 BV; Art. 2 Abs. 1 BayMG; BayVerfGHE 54, 165 (171); Huber, BayVBl. 2004, 616; skeptischer BVerfGE 97, 298 (314) – extra radio; grundlegend Bumke, Die öffentliche Aufgabe der Landesmedienanstalten, 1995, S. 80 f., 197 ff.
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auch weil die Ökonomie als eine Art „imperial science“ nach dem Fall der Mauer alle Lebensbereiche durchdrungen und den Versuch unternommen hat, sich zum Maß aller Dinge aufzuschwingen. Recht und Staat wirk(t)en demgegenüber wie graue Mäuse. Wer sich auf das Recht beruft, gilt als Oberbedenkenträger, als Sand im Getriebe. Diese Entwicklung fiel jedenfalls bis zur Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise unserer Tage zusammen mit einem zunehmenden Rückzug des Staates aus überkommenen Staatsaufgaben insbesondere, aber nicht nur der Daseinsvorsorge, mit seiner Selbstbescheidung auf die Rolle eines von vielen Akteuren im Rahmen regulierter Märkte und Lebensbereiche und mit dem Eindruck, der Staat habe sein Monopol bei der Definition und Verwirklichung des Gemeinwohls zumindest de facto aufgegeben. Der Eindruck war zwar von Anfang an falsch;26 für die Perzeption des Staates, die Wahrnehmung des mit ihm verbundenen Gefährdungspotentials und die dem Staat eröffneten Gestaltungsmöglichkeiten hatte dieses Denken jedoch weit reichende Konsequenzen: In dem Maße, in dem die Dichotomie von Staat und Gesellschaft in der öffentlichen und wissenschaftlichen Wahrnehmung schwand, der Staat auf die Rolle eines von zahllosen Akteuren in der Gesellschaft reduziert wurde, verloren auch die seit dem 19. Jahrhundert zur Eindämmung staatlicher Macht entwickelten Instrumentarien an Bedeutung. Dass der moderne Staat schwach und hilfsbedürftig erschien und seine Akteure denen der Wirtschaft offenkundig unterlegen, dass bereits vom Leviathan als „nützlichem Haustier“ die Rede sein konnte,27 hatte weitreichende Konsequenzen. Die Degeneration der allgemeinen Grundrechtsdogmatik28 gehört ebenso dazu wie die hier behandelte Erosion des Gebots der Staatsfreiheit. IV. Unzulänglichkeiten der Grundrechtsdogmatik Es ist nicht zuletzt die in ihren Grundaxiomen unsicher gewordene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die für diese Erosion die Verantwortung trägt. Denn sie hat einerseits die Grenze zwischen Staat und Gesellschaft verwischt (1.), den Realbefund andererseits aber auch nicht ausreichend verarbeitet (2.). 1. Verwischung der Grenze zwischen Staat und Gesellschaft durch Ausdehnung der Grundrechtsträgerschaft Maßgeblich zur Relativierung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft beigetragen hat die in jüngerer Zeit wenig konsistente Rechtsprechung zur Grundrechtsträgerschaft im Bereich von Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG. Galt nach dem 1. Rund26 27 28
Dazu schon Huber, StWiss 8 (1997), 423 ff. Schulze-Fielitz, in: Voigt, Abschied vom Staat – Rückkehr zum Staat, 1993, S. 95. Kritisch Huber, Festschrift Stober, 2008, S. 547 ff.
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funkurteil, dass der Staat weder unmittelbar noch mittelbar Rundfunksendungen veranstalten darf und daher auch nicht (grundrechtsberechtigter) Rundfunkveranstalter sein kann, so hat dieses Dogma im Laufe der Zeit immer mehr Sprünge erhalten. Nachdem im WDR-Urteil schon den Kommunen der Weg zur Beteiligung an Rundfunkveranstaltern eröffnet worden war (a), hat das Gericht später auch der Deutschen Telekom AG Grundrechtsfähigkeit zuerkannt (b) und in jüngster Zeit sogar den Universitäten (c). a) Kommunen In seinem 7., zum WDR-Gesetz ergangenen Rundfunkurteil hat das Bundesverfassungsgericht – wenn auch auf der Grundlage eines damals noch rein objektivrechtlichen Verständnisses der Rundfunkfreiheit – festgestellt, dass die Beteiligung der Gemeinden an der Veranstaltergemeinschaft und Betriebsgesellschaft des lokalen Rundfunks in Nordrhein-Westfalen nicht gegen das Gebot der Staatsfreiheit des Rundfunks verstößt.29 Zwar zählten die Gemeinden zur Staatsgewalt, der es grundsätzlich verboten sei, selbst Rundfunk zu veranstalten oder auf das Programm unabhängiger Veranstalter einen bestimmenden Einfluss zu gewinnen.30 Da es das Bundesverfassungsgericht jedoch stets für zulässig erachtet habe, dass in den Kontrollgremien der Rundfunkanstalten in begrenzter Zahl auch Staatsvertreter mitwirkten,31 gäbe es gegen das Recht von Kreistagen und kreisfreien Städten, zwei nicht weisungsgebundene Personen für die Mitgliederversammlung der Veranstaltergemeinschaft zu benennen und sich mit bis zu 25% der Kapital- und Stimmrechtsanteile an der Betriebsgesellschaft zu beteiligen, unter dem Blickwinkel von Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG letztlich nichts zu erinnern. b) Deutsche Telekom Auch auf die von Fritz Fleiner schon in den 1920er Jahren thematisierte „Flucht ins Privatrecht“32 hat die Rechtsprechung keine überzeugende Antwort, was sich mit Blick auf das Gebot der Staatsfreiheit des Rundfunks als besonderes Problem erweist. So haben Bundesverwaltungsgericht33 und Bundesverfassungsgericht34 der Deutschen Telekom AG die Grundrechtsfähigkeit nach Art. 19 Abs. 3 GG BVerfGE 83, 238 (239). BVerfGE 73, 118 (191); 83, 238 (330). 31 BVerfGE 12, 205 (263); 83, 238 (330). 32 Fleiner, Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, 8. Aufl. 1928, S. 326. 33 BVerwGE 114, 160 (189); 118, 352 (329); NVwZ 2004, 742 f. 34 BVerfGE 115, 205 (227 f.), mit der Begründung, ein beherrschender Einfluss des Bundes sei nicht geltend gemacht worden. Das ist angesichts des beim Bundesverfassungsgericht geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes allerdings wenig überzeugend. Siehe aber KEK, 9. Jahresbericht, 2005 / 2006, 2006, S. 43. 29 30
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schon zu einem Zeitpunkt zugesprochen, als sie noch im alleinigen Eigentum des Bundes stand, und dies damit begründet, dass Art. 87 f GG und das Errichtungsgesetz das Unternehmen auf eine privatwirtschaftliche Erbringung festlegten.35 Von der Zuerkennung allgemeiner Grundrechtsfähigkeit ist es nur ein kleiner Schritt, der Deutschen Telekom AG auch die Rundfunk(unternehmer)freiheit zuzusprechen36 – ungeachtet des Umstandes, dass der Bund das Unternehmen mit 31,7% schon angesichts der Präsenz in der Hauptversammlung nach wie vor beherrscht.37 Wer an dieser Beherrschung zweifelt, sei daran erinnert, dass es keine 24 Stunden gedauert hat, bis der bei der Bundeskanzlerin in Ungnade gefallene letzte Vorstandsvorsitzende ausgewechselt war. c) Universitäten Zur Verwirrung trägt ferner bei, dass die 1. Kammer des Ersten Senats den Universitäten und sonstigen Hochschulen am 31. Juli 2007 – formal vermittelt über Art. 5 Abs. 3 GG – auch die Rundfunkunternehmerfreiheit zuerkannt hat.38 Wörtlich heißt es dort: „Das den Hochschulen zustehende Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG sichert die Unabhängigkeit der Hochschulen und gewährleistet das für die Veranstaltung von Rundfunk gebotene Maß an Staatsfreiheit.“39
Der Staatsvertragsgeber ist dem prompt gefolgt und hat in § 20a RStV Universitätsrundfunk ebenso zugelassen wie kirchliche Rundfunksender. Universitäten aber sind keine Kirchen. Während die Kirchen grundsätzlich der gesellschaftlichen Sphäre zuzurechnen sind und sich ihr Körperschaftsstatus vor allem historisch begründet, sind die Hochschulen der Rahmen, den der Staat zur Verfügung stellt, damit sich Forschung und Lehre frei entfalten können. Deshalb wird ihnen für den Bereich der Wissenschaftsfreiheit die Grundrechtsträgerschaft zugebilligt, so wie den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten für den Bereich des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG. Dass sich hier in zwei eng begrenzten Fällen Träger mittelbarer Staatsverwaltung ausnahmsweise auf – je ein spezifisches – Grundrecht berufen können, beruht auf der Überlegung, dass der Staat auf diese Weise für die vielfältigen, heterogenen und kollidierenden Interessen aller Beteiligten Grund35 Ähnlich auch eine Reihe von Stimmen im Schrifttum, etwa Lang, NJW 2004, 3601 ff., m. w. N.; krit. Huber, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. I, 5. Aufl. 2005, Art. 19 Abs. 3 Rn. 287. 36 In einem für die Deutsche Telekom AG erstatteten Rechtsgutachten Gersdorf, AfP 2008, 267 f. 37 Eine Beherrschung verneint Gersdorf, AfP 2008, 267 f. 38 BVerfG NVwZ 2007, 1304 f.; ähnlich schon Gersdorf, Staatsfreiheit des Rundfunks in der dualen Rundfunkordnung der Bundesrepublik Deutschland, 1991, S. 110 f. 39 BVerfG NVwZ 2007, 1305.
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rechtsschutz durch Organisation und Verfahren gewährt.40 Ist die Hochschule m. a. W. aber nur das „Gefäß“, in dem sich die Freiheit der Wissenschaft entfaltet, und zwar nur sie, dann liegt es auf der Hand, dass dieser Ansatz nicht auf andere Lebensbereiche übertragen werden kann. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat dies bis in die jüngste Zeit hinein auch selbst so gesehen und einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt etwa die Berufung auf die Pressefreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG vorenthalten.41
2. Zu geringe Anforderungen an die Gremienzusammensetzung Eine gewisse Nonchalance hat die Rechtsprechung bislang auch walten lassen, wenn es darum ging, die Staatsfreiheit des Rundfunks bei der Zusammensetzung der Rundfunkgremien zu gewährleisten. Von dem Grundsatz ausgehend, dass die in Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG enthaltene Wertentscheidung den Gesetzgeber verpflichte, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk so zu organisieren, dass er nicht einer oder einzelnen gesellschaftlichen Gruppen ausgeliefert wird und dass die in Betracht kommenden Kräfte im Gesamtangebot auch zu Wort kommen können,42 hat sie den Grundsatz der „Staatsfreiheit“ hier zu einem Gebot tendenzieller Staatsferne reduziert und aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG lediglich abgeleitet, dass der Staat den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht dominieren darf.43 Gegen eine begrenzte (!) Zahl von Staatsvertretern gäbe es aber keine Einwände.44 Dabei verbleibt dem Staat bzw. dem Gesetzgeber zudem ein außerordentlich weiter Gestaltungsspielraum bei der Regelung der Gremienzusammensetzung: 45 Er konkretisiert das Kriterium der „gesellschaftlichen Relevanz“ und gewichtet die maßgeblichen gesellschaftlichen Kräfte, wobei Über- und Unterrepräsentationen gesellschaftlicher Gruppen solange zulässig sein sollen, solange dies keine „grobe Verzerrung“ darstellt.46 Damit soll zwar mehr gefordert sein als die Beachtung des Willkürverbots; wo die Grenze konkret verläuft, ist jedoch bislang offen geblieben.47
40 Huber, Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren als Kompetenzproblem in der Gewaltenteilung und im Bundesstaat, 1988, S. 33. 41 BVerfGE 59, 231 (255); 78, 101 (102 f.); 83, 238 (312). 42 BVerfGE 57, 295 (320); 83, 238 (332 f.). 43 BVerfGE 31, 314 (372, 329); 83, 238 (334); Bumke, Die öffentliche Aufgabe der Landesmedienanstalten, 1995, S. 145 ff. 44 BVerfGE 12, 205 (263); 83, 238 (330). 45 BVerfG NVwZ 1996, 782. 46 BVerfGE 83, 238 (296, 324 f.). 47 Kritisch daher Hesse, JZ 1991, 361.
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V. Zur Rolle der politischen Parteien Mit zu den wichtigsten Gründen für die Erosion des Grundsatzes der Staatsfreiheit gehört freilich, dass es bis heute nicht gelungen ist, Stellung und Funktion der politischen Parteien im Rundfunkverfassungsrecht überzeugend zu bewältigen. Daran dürfte sich so schnell auch nichts mehr ändern, nachdem der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Urteil vom 12. März 2008 die überkommene Auffassung bekräftigt hat, dass die politischen Parteien Grundrechtsträger seien, und zwar auch mit Blick auf die Rundfunkfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG.48 Die Bedeutung der politischen Parteien im Verfassungsgefüge wird damit freilich bagatellisiert, der Realbefund missachtet. Es wird ignoriert, dass die Funktionsträger der politischen Parteien im Mehr-Ebenen-System von EU, Bund, Ländern und Kommunen typischerweise in Personalunion das Gros der Staatsämter bekleiden und dass die politischen Parteien die politische Willensbildung auf allen Ebenen dominieren, einschließlich der kommunalen und funktionalen Selbstverwaltung. Die Zuordnung der politischen Parteien in die gesellschaftliche Sphäre übersieht ihre Fähigkeit zu einer einheitlichen Willensbildung über alle formalen Zuständigkeitsordnungen hinweg, was etwa daran erkennbar wird, dass sich die einer Partei angehörenden Mitglieder eines Rundfunkgremiums über „Freundeskreise“ koordinieren. Sie vermag aber auch unter dogmatischem Blickwinkel nicht zu überzeugen. Das Grundgesetz hat die politischen Parteien nicht ganz zufällig eben nicht in Art. 9 GG geregelt, sondern in Art. 21 GG, also in seinem dem Staatsorganisationsrecht gewidmeten Abschnitt II. Auch die Anerkennung der politischen Parteien als verfassungsrechtliche Institution und die mit der Zuerkennung von Grundrechtsschutz verbundenen Wertungswidersprüche lassen es überzeugender und vorzugswürdig erscheinen, die verfassungsrechtliche Fundierung der politischen Parteien ausschließlich in Art. 21 GG zu suchen und auf eine Grundrechtserstreckung nach Maßgabe von Art. 19 Abs. 3 GG zu verzichten.49 Dies macht die politischen Parteien zwar nicht zum Bestandteil der Staatsorganisation; es macht jedoch deutlich, dass sie dem Staat näher stehen als der Gesellschaft. Da dies auch dem Realbefund entspricht, der dadurch gekennzeichnet ist, dass der Parteienstaat und seine Rationalitäten das institutionelle Gefüge der Verfassung in vielfältiger Weise überlagern und verschieben – man denke nur an das Verhältnis von Regierung und Opposition50 –, ist die Verfassung insoweit klüger als ihre Interpreten. Immerhin fällt die Realitätsverweigerung des Staatsrechts heute nicht mehr so krass aus wie in der Weimarer Zeit, als sie Gustav Radbruch mit beißendem Spott bedachte.51 48 49 50
BVerfG NVwZ 2008, 662; zustimmend Reffken, NVwZ 2008, 857. Huber, Festschrift 50 Jahre BVerfG, Bd. II, 2001, S. 619; ders., K&R 2004, 220 f. Huber, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2005, § 47 Rn. 29 ff.
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Im Ergebnis hat der Zweite Senat in seinem Urteil zur Medienbeteiligung politischer Parteien aber die Grenze zu Recht dort gezogen, wo politischen Parteien ein beherrschender Einfluss auf einen Rundfunkveranstalter zukommt. Er hat ihnen damit genau die Grenze gesetzt, die bislang für Staatsbeteiligungen formuliert worden war. Konsequent bleibt dies in der Logik des Urteils allerdings nur, weil dem Staat selbst nun, weitergehend als bisher, ein striktes Beteiligungsverbot auferlegt wird. VI. Grundzüge einer Neujustierung des Gebotes der Staatsfreiheit 1. Staatsfreiheit als Beherrschungsverbot a) Privater Rundfunk Es gehört zum cantus firmus des öffentlichen Rechts, dass eine Organisationsprivatisierung, also der bloße Wechsel der Handlungsform, kein Grund dafür sein kann, öffentlich-rechtliche Bindungen des Staates zu reduzieren. Eine „Flucht ins Privatrecht“ ist unzulässig. Das steht so auch im 1. Rundfunkurteil und leuchtet unmittelbar ein: Wenn der Staat aufgrund seiner Formenwahlfreiheit beliebig darüber entscheiden kann, welcher Handlungsformen er sich bedient, ist das rechtsstaatlich nur hinnehmbar, wenn er mit dem Wechsel der Handlungsform nicht zugleich die rechtlichen Bindungen abstreifen darf. Andernfalls wären die Bindungen das Papier nicht wert, auf das sie geschrieben sind, würden Dritte zu bloßen Objekten staatlichen Handelns u. a. m. Darf der Staat weder unmittelbar noch mittelbar Einfluss auf die Programmgestaltung des Rundfunks gewinnen, dann schließt dies jede beherrschende Beteiligung an einem Rundfunkveranstalter aus – sei es über eine Mehrheitsbeteiligung, sei es auf andere Weise.52 Dem trägt der neu in den Rundfunkstaatsvertrag aufgenommene § 20a Abs. 3 RStV grundsätzlich Rechnung, wenn er bestimmt, dass juristischen Personen des öffentlichen Rechts und Unternehmen, die im Verhältnis eines abhängigen Unternehmens zu solchen Trägern öffentlicher Gewalt stehen, keine Zulassung erteilt werden darf. Das bedarf jedoch noch der Konkretisierung: Ausweislich seines § 28 Abs. 1 S. 1 geht der Rundfunkstaatsvertrag (zu Recht) davon aus, dass eine medienrechtliche Zurechnung bereits bei einem Kapitalanteil von 25 v.H. möglich und erforderlich ist, weil mit einem solchen Gesellschaftsanteil typischerweise Einfluss auf die Geschäftsführung des Unternehmens ge51 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1922, S. 113 ff.; Triepel, Die Staatsverfassung und die politischen Parteien, 1928, S. 24 ff.; allgemein Radbruch, in: Anschütz / Thoma, HbDStR I, 1930, S. 288: die politische Partei als „partie honteuse“ des Staatsrechts. 52 Bumke (Fn. 25), S. 145 ff.
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nommen werden kann. Dieses Risiko besteht freilich nicht nur bei der unmittelbaren Beteiligung an einem Rundfunkveranstalter, sondern auch auf höheren Beteiligungsstufen. Eine rundfunkrechtliche Zulassungsfähigkeit der Deutschen Telekom AG muss daher ausscheiden, solange der Bund mehr als 25 % der Kapitalanteile hält. Die „Beherrschung“ eines Rundfunkveranstalters kann, wie namentlich ein Blick auf § 28 Abs. 2 Nr. 2 RStV zeigt, aber nicht nur über die Kapitalanteile erfolgen; sie kann auch durch Vertrag, Satzung oder auf sonstige Weise sichergestellt werden. Aus all dem folgt, dass Rundfunkbeteiligungen des Staates unterhalb von 25 v. H. zulässig sind, wenn durch den Gesellschaftsvertrag oder die Satzung sichergestellt ist, dass die Staatsbeteiligung lediglich der Finanzierung dient. Dieser Erwägung folgen auch die oben erwähnten Entscheidungen der KEK in Sachen Cubico und Deutsche Fernsehwerke. b) Öffentlich-rechtlicher Rundfunk Da das „Beherrschungsverbot“ auch für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gilt, darf der Staat auch die Rundfunk- und Fernsehräte öffentlich-rechtlicher Anstalten nicht „beherrschen“. Eine solche Beherrschung ist in den pluralistisch zusammengesetzten Gremien dann anzunehmen, wenn die dem Staat zurechenbaren Vertreter auch die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen. Formal ist das zwar nirgends der Fall. Doch genügt eine dermaßen formale Betrachtungsweise nicht. Entscheidend ist vielmehr, inwieweit die Vertreter des Staates – Minister, Abgeordnete, Bürgermeister, Hochschulpräsidenten und – angesichts ihrer Staatsnähe – auch die Vertreter politischer Parteien – zusammengenommen die Mehrheit der Sitze besetzen, und zwar auch dann, wenn sie auf dem „Ticket“ einer gesellschaftlich relevanten Gruppe entsandt werden. Zwar handelt es sich hier typischerweise um Vertreter ganz unterschiedlicher Träger öffentlicher Gewalt und konkurrierender politischer Parteien, die i. d. R. divergierende Interessen haben. Vom Realbefund her betrachtet dürfen jedoch die tatsächliche Koordination(smöglichkeiten) auf den unterschiedlichsten staatlichen Ebenen, das Interesse an Paketlösungen und die Abstimmung in den parteipolitisch geprägten „Freundeskreisen“ nicht außer acht gelassen werden. Legt man eine dermaßen differenzierte und wirklichkeitsnahe Sicht zugrunde, so kann beim ZDF von Staatsfreiheit nicht die Rede sein. Die konkrete Zusammensetzung des ZDFFernsehrates verstößt m. a. W. gegen Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG. 2. Hochschulen Dass der Staatsvertragsgeber in § 20a Abs. 3 S. 1 RStV die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufgegriffen hat, wonach auch Hochschulen Rundfunk-
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veranstalter sein können, ist nachvollziehbar, weist unter dem Gesichtspunkt der Staatsfreiheit gleichwohl in die falsche Richtung. Wie bereits dargelegt, sind die Hochschulen Körperschaften des Öffentlichen Rechts und – teilweise sogar der Fachaufsicht unterstehende – staatliche Einrichtungen. Sie sind nur deshalb grundrechtsberechtigt, weil sie den organisatorischen Rahmen für die Verwirklichung der in Art. 5 Abs. 3 GG garantierten Wissenschaftsfreiheit darstellen; mit der organisatorischen Ausgestaltung der Rundfunkfreiheit aber haben sie nichts, aber auch gar nichts zu tun.
3. Politische Parteien Der Staatsvertragsgeber hat die politischen Parteien in § 20a Abs. 3 RStV schließlich denselben Beschränkungen unterworfen wie den Staat selbst. Sieht man die Bestimmung in einer Zusammenschau mit § 28 RStV, so trägt sie den verfassungsgerichtlichen Vorgaben grundsätzlich Rechnung. Eine Besserstellung der politischen Parteien gegenüber dem Staat, wie sie dem Zweiten Senat vorgeschwebt hat, ist damit zwar nicht verbunden. Sie war dogmatisch aber ohnehin nur dadurch zu erreichen, dass dem Staat jegliche Beteiligung an Rundfunkunternehmen verwehrt sein sollte. Doch so weit reicht das Gebot der Staatsfreiheit nicht.
V. Der rechtsprechende Staat
Autorität und Zitat Anmerkungen zur Zitierpraxis des Bundesverfassungsgerichts Von Matthias Jestaedt
I. Zitat ist nicht gleich Zitat Wer zitiert, reichert seine eigene Aussage mit Aussagen anderer oder auch nur anderweitig getätigten eigenen Aussagen an und stellt jene, indem er diesen im eigenen Text Bedeutung beimisst, in deren Kontext. Welche Bedeutung dieser Bezugnahme auf anderweitige Aussagen zukommt, hängt ganz davon ab, wer was von wem zu welchem Zwecke bei welchem Anlass wem gegenüber zitiert. Im Folgenden sei die Zitierpraxis des Bundesverfassungsgerichts – genauer: die Zitierpraxis in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts – ein wenig näher analysiert und reflektiert. Es geht also um ein ganz besonderes Einsatzgebiet des Zitats, welches sich dreifach auszeichnet: Es geht, erstens, um das Zitat im Recht, näherhin und zweitens um das Zitat als Medium – und, wie ich hinzufügen darf, nicht als Gegenstand – der Rechtsprechung, und zwar, drittens, nicht der Rechtsprechung schlechthin, auch nicht eines x-beliebigen Gerichts, sondern der Rechtsprechung eines in mehrerlei Hinsichten spektakulären Spruchkörpers, nämlich des Bundesverfassungsgerichts.
II. Zur Eigenart verfassungsgerichtlicher Erkenntnisse Bevor den Erscheinungsformen und Funktionen des Zitats in der verfassungsgerichtlichen Judikatur Aufmerksamkeit geschenkt sei, sind – im Sinne des eingangs Gesagten – einige Worte zur Eigenart des Zitierenden, d. h. zur Institution des Bundesverfassungsgerichts, dessen Stellung, Funktion und Arbeitsweise zu verlieren.
1. Rechtsprechung als legitimationsbedürftige Ausübung von Staatsgewalt Gerichtsurteilen mag bisweilen ein ästhetischer, im Einzelfall sogar ein künstlerischer Wert beizumessen sein. Originalität mag ihnen hier und da attestiert werden, in wohl nicht allzu häufigen Fällen mögen sie gar intellektuelles Vergnügen
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bereiten. Doch ist mit alldem das proprium von Rechtsprechung nicht erfasst. Die erste und eigentliche Aufgabe eines Gerichts ist es, den vor seine Schranken gebrachten Fall am Maßstab des geltenden Rechts verbindlich zu entscheiden, etwas blumiger formuliert: mit den Mitteln des Rechts im Einzelfall Gerechtigkeit zu schaffen. Richtersprüche sind denn auch nicht Wahrsprüche, sondern Machtsprüche. Doch just in der Prädizierung richterlicher Erkenntnisse als Machtspruch manifestiert sich deren latentes Akzeptanzproblem. In ihr gründen, anders gewendet, der besondere Begründungs- und Rechtfertigungsbedarf des Richterspruchs. Montesquieu hatte in seinem „Geist der Gesetze“1 bereits Mitte des Achtzehnten Jahrhunderts den Finger in die Wunde gelegt und als Remedur einen gewissermaßen machtlosen Richter gefordert: Die rechtsprechende Gewalt, die „puissance de juger“, die in ihrer überkommenen Gestalt „si terrible parmi les hommes“ sei, könne nur dadurch gezügelt und in die Bahnen der Rechtlichkeit gelenkt werden, dass sie auf die Rolle der „viva vox legis“,2 des Gesetzesnach- oder auch Gesetzeslautsprechers, beschränkt sei. Der Richter ist in diesem Bild und nach diesem Verständnis ein „être inanimé“, ein unbeseeltes Lebewesen, das nichts als „la bouche qui prononce les paroles de la loi“ ist und dessen Urteile „ne soient jamais qu‘un texte précis de la loi“. Die Rechtsprechung kann, und das macht sie nach Montesquieu erträglich, unter diesen Bedingungen als „en quelque façon nulle“ charakterisiert werden. So wirkmächtig diese Richterideologie und die in ihr enthaltene Provokation einstmals gewesen sein mögen, sie hat doch das richterliche Tun, die rechtsprechende Gewalt, zwischen vorgegebener Gesetzesbindung und aufgegebener Einzelfallentscheidung zu keiner Zeit zutreffend zu erfassen vermocht. Ohne die hochspannende Diskussion hier auch nur ansatzweise aufnehmen zu können,3 kann doch festgehalten werden: Das Dilemma des Richters – in zugespitzter Weise des Richters im freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaat – ist es, dass sich, auf der einen Seite, die von ihm zu fällende, konkret-individuelle Entscheidung nicht im Deduktions- oder gar Rechenwege mit mathematisch-logischer Genauigkeit und Zwangsläufigkeit, also ohne subjektives Zutun des Richters aus den Vorgaben des abstrakt-generellen Gesetzes ermitteln lässt – der Richter ist eben kein „Subsumtionsautomat“ –, und dass der Richter, auf der anderen Seite, seine rechtlich nicht gebundene, in diesem Sinne politische Macht dementieren muss, weil er sie nicht schlicht unter Verweis auf die voluntas, in kollegialen Spruchkörpern 1 Montesquieu, De l’esprit des lois (1748), hier zitiert nach der Ausgabe Paris 1834; die nachfolgenden französischsprachigen Zitate entstammen sämtlich dem im ersten Band der vorgenannten Ausgabe enthaltenen 6. Kapitel des 11. Buches, in dem Montesquieu im Blick auf die Verfassung Englands sein Konzept der Gewaltenteilung entwickelt (in der Reihenfolge der Erwähnung: S. 296, 305, 297 sowie 300). 2 Dazu stellvertretend Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. II, 5. Aufl. 1911, S. 178. 3 Für die Justiztheorie im 19. Jahrhundert vgl. die differenzierte Untersuchung von Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, 1986.
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heißt das: unter Verweis auf die Richtermehrheit, rechtfertigen kann, sondern weil er in Gestalt der ratio eine über ihm schwebende, objektive oder doch zumindest intersubjektive Macht anrufen muss, mit Hilfe deren er seinen Spruch auf das Gesetz, dem er unterworfen ist, zurückführt. Es gilt die Rechtfertigung „sola lege“ (oder, für den Verfassungsrichter: „sola constitutione“). Das – versuchte – Dementi richterlicher Macht ist also die Begründung des Urteils aus dem Gesetz. Doch mit der Begründung des Richterspruches aus dem Gesetz ist das Problem noch keineswegs gelöst, sondern nur verschoben, was sich am Verfassungsrichterspruch mit besonderer Nachdrücklichkeit zeigt: Denn der Rekurs auf den Verfassungstext, der als kommunikative Ausdrucksform der Verfassungsnorm nicht mit dieser selbst verwechselt werden darf, hilft, hält man sich vor Augen, dass das Grundgesetz in der Sprachfassung seiner Bestimmungen, wie es Talleyrand (andere meinen: Napoleon) eingefordert hatte, „courte et obscure“, kurz und dunkel ist, praktisch niemals weiter.4 Der Verfassungstext eignet sich schon deshalb schlecht als Streitschlichter, weil er es ja häufig selbst ist, der den Anlass und das Objekt des Auslegungsstreites abgibt. Schlichter formuliert: Das Gesetz – in Gestalt des Gesetzestextes – legt sich nicht selbst aus, ist folglich nicht autointerpretativ, sondern bedarf des aktiven – und wir dürfen ergänzen: des schöpferischen – Zutuns des Interpreten.5 Das Zitat des Verfassungswortlautes oder auch nur die Bezugnahme auf ihn stillt folglich nur selten und auch dann zumeist nur unzulänglich den Begründungs- und Rechtfertigungsbedarf konkreter verfassungsgerichtlicher Judikate. Zu diesem Behufe müssen andere Quellen angezapft, um nicht zu sagen: andere Autoritäten auf den Plan gerufen werden. Und hierbei spielt das Zitat eine nicht zu unterschätzende Rolle. Doch davon später.
2. Die Sonderstellung des BVerfG im Kreise der Rechtsprechungsorgane Weil das Bundesverfassungsgericht nicht bloß Gericht unter Gerichten ist, sei ein kurzer Seitenblick geworfen auf dessen Sonderstellung im Kreise der übrigen Rechtsprechungsorgane. Da sind zunächst die regulären Gerichte; man pflegt sie, in Abgrenzung zu den Verfassungsgerichten in Bund und Ländern, als Fachgerichte zu bezeichnen. Sie sind weit überwiegend in fachlich spezialisierten Instanzenzügen nacheinander – man mag auch, der Hierarchie Rechnung tragend, formulieren: übereinander – geschachtelt, jeweils mit einem Bundesgericht an der Spitze, wie beispielsweise 4 Zum Stil von Verfassungen allgemein und des Grundgesetzes im Besonderen: Hilf, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1. Aufl. 1992, § 161; Isensee, Vom Stil der Verfassung, 1999; Jestaedt, in: Depenheuer / Heintzen / Jestaedt / Axer, Nomos und Ethos, 2002, 213 – 217. 5 Zu diesem strukturellen Dilemma und den darauf bezogenen Umgangsmöglichkeiten: Isensee, in: Haller / Kopetzki / Novak / Paulson / Raschauer / Ress / Wiederin, Staat und Recht, 1997, S. 367 ff.
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dem Bundesgerichtshof in Zivil- und Strafsachen oder dem Bundesverwaltungsgericht in Verwaltungssachen. Instanzgerichte haben naturgemäß eine ganz andere Perspektive und ordnen sich in einen markant anderen Kontext ein, wenn sie Recht sprechen, als das Bundesverfassungsgericht, dem nachgesagt wird, es habe nur noch den „blauen Himmel“ über sich. Nicht von ungefähr heißt es, dass die oberste Regel für die Abfassung instanzgerichtlicher Urteile dahin lautet, die Entscheidungen rechtsmittelfest zu machen, d. h. sie in einer Weise zu begründen, dass sie dem strengen Prüfblick der nachfolgenden Instanzen Stand halten. Das wirkt sich natürlich auf die Zitierkultur und -praxis nachhaltig aus, gilt es doch vor allem anderen, den asymmetrischen und ganz und gar nicht herrschaftsfreien Diskurs mit der nächsthöheren Instanz zu bestehen. Zitiert werden daher, neben der eigenen Rechtsprechung, ganz überwiegend nur die höheren Gerichte desselben Rechtszuges. Deren Erwartungen sind zu befriedigen. Sinn und Offenheit für die Rechtswissenschaft und deren elaboriert-komplexe, die Praxis nur „unnötig“ durch Theorie irritierende Konzepte haben zumeist erst die Obergerichte wie etwa Oberlandesgerichte und Oberverwaltungsgerichte und, natürlich, die rechtszugabschließenden obersten (Bundes-)Gerichte. Kein Verfassungsgericht und kein Instanzgericht, sondern ein Spruchkörper ganz eigener Art ist der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften mit Sitz in Luxemburg, der auf der Ebene der Europäischen Union – mehr oder weniger6 – eine Alleinstellung genießt und als Hüter des grundsätzlich sämtlichem mitgliedstaatlichen Recht (einschließlich des mitgliedstaatlichen Verfassungsrechts) vorgehenden Gemeinschaftsrechts7 fungiert. Der EuGH, der sich aus je einem Richter der EU-Mitgliedstaaten zusammensetzt8 und daher höchst unterschiedliche Rechtskulturen zu integrieren hat, steht ungeachtet dessen nach wie vor fest in der französischen Rechtsprechungstradition, was sich nicht nur an der Arbeitssprache des Gerichtshofs, sondern auch und besonders an seinem Entscheidungsstil zeigt: Formenstreng, sehr verschachtelt und gleichwohl recht argumentationsarm, in den entscheidenden Begründungspassagen geradezu apodiktisch, zitiert der EuGH praktisch ausnahmslos die eigene Judikatur – und beweist darin, dass ihm nach wie vor Elemente eines Völkerrechtsgerichtshofes eigen sind. Mitgliedstaatliche Rechtsprechung findet ebenso wenig Berücksichtigung wie wissenschaftliche Lehrmeinungen, was umso weniger verwundert, als es eine satisfaktionsfähige Begleitjurisprudenz in Gestalt einer EU-weiten einheitlichen Europarechtswissenschaft (noch) nicht gibt.9 Wer sich dem Europarecht von der wissenschaftlichen 6 Neben dem EuGH gibt es auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene noch das sogenannte Gericht Erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften sowie – seit 2005 – das Gericht für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union; den mitgliedstaatlichen Gerichten obliegt im Rahmen ihrer Jurisdiktion in gleicher Weise die Wahrung des Gemeinschaftsrechts. 7 Grundlegend zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem Recht der Mitgliedstaaten: EuGH Slg. 1964, 1251, 1269 f. – „Costa / ENEL“. 8 Vgl. Art. 221 EG.
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Seite her nähert, hat folglich eine sehr auf die Judikatur des EuGH fixierte, um nicht zu sagen: streng EuGH-positivistisch orientierte Denk- und Arbeitsweise zu gewärtigen. Das Bundesverfassungsgericht rangiert, anders als die Rechtszuggerichte, für sich, gewissermaßen über ihnen, insoweit dem EuGH nicht unähnlich. Doch anders als dieser steht es bereits über das Medium der Urteilsverfassungsbeschwerde, also der Grundrechtsbeschwerde gegen ein fachrichterliches Urteil, die mehr als 90 % der rund 175.000 vom Bundesverfassungsgericht seit 1951 entschiedenen Verfahren ausmacht,10 in einem ständigen Dialog mit der Fachgerichtsbarkeit. Und mehr noch: Mit der deutschen Staatsrechtslehre, die Vorbildwirkung für die Verfassungsrechtswissenschaft in zahlreichen Ländern der Erde – ob in Japan oder in Kolumbien, ob in Spanien oder in der Türkei – ausstrahlt, besitzt das Bundesverfassungsgericht ein wachsames und recht stimmkräftiges Gegenüber, einen Dialogpartner auf Augenhöhe, aus dessen Personal das Gericht sogar einen erklecklichen Teil der eigenen Richterschaft rekrutiert; derzeit sind mit acht von 16 Richtern (vier Staatsrechtslehrer im Ersten und vier im Zweiten Senat)11 exakt die Hälfte aller Richterposten mit Mitgliedern der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer besetzt. Diese enge sachliche wie personelle Verzahnung von Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassungsrechtswissenschaft, die typisch für Deutschland, nachgerade eine deutsche Besonderheit ist,12 hat nicht unwesentliche Auswirkungen – auch – auf die Zitierpraxis des Gerichts. 9 Abweichendes gilt insoweit für die jedem Urteil vorausgehenden und in der Entscheidungssammlung auch dem Urteil vorangestellten Schlussanträge der Generalanwälte, die zum einen mit einem eigenen Fußnotenapparat operieren und zum anderen auch von ihrer Nachweispraxis her deutlich wissenschaftlicher ausgelegt sind. 10 Von der Aufnahme der Rechtsprechungstätigkeit am 7. September 1951 bis zum 31. Dezember 2007 wurden beim BVerfG laut der Jahresstatistik 2007 (abrufbar unter: http: // www.bundesverfassungsgericht.de/organisation/statistik_2007.html) insgesamt 169.502 Verfahren anhängig, davon 163.347 Verfassungsbeschwerden (= 96,37%). Im selben Zeitraum erledigte das Gericht exakt 167.000 Verfahren, darunter 160.959 Verfassungsbeschwerden (= 96,38 %, bei einer Erfolgsquote von 2,5%, nämlich genau 3.983 Verfahren). Für die Verfassungsbeschwerden, die sich in Rechtssatz- und Urteilverfassungsbeschwerden aufgliedern, liegt keine den gesamten zurückliegenden Zeitraum von über 50 Jahren abdeckende Statistik vor. Errechnet man den Anteil der Urteilverfassungsbeschwerden, d. h. der unmittelbar gegen einen richterlichen Akt gerichteten Grundrechtsbeschwerden, an den Verfassungsbeschwerden insgesamt auf der Grundlage der Zahlen der letzten fünf Jahre (2003 – 2007), so zeigt sich folgendes Bild: Von 27.379 Eingängen im Verfahren der Verfassungsbeschwerde waren 25.514 Urteilsverfassungsbeschwerden; das entspricht einem Anteil von rund 93,19%. Bezogen auf sämtliche Verfahrenseingänge beim BVerfG in den Jahren 2003 bis 2007 (28.163) machen die Urteilsverfassungsbeschwerden immerhin noch einen Anteil von 90,59% aus. 11 Im Einzelnen handelt es sich derzeit (Stichtag: 31. Dezember 2008) im Ersten Senat um Papier (Präsident, Richter des BVerfG seit 1998), Bryde (seit 2001), Kirchhof (seit 2007) und Masing (seit 2008) sowie im Zweiten Senat um Voßkuhle (Vizepräsident, seit 2008), Osterloh (seit 1998), Di Fabio (seit 1999) und Lübbe-Wolff (seit 2002). 12 Dazu näher Jestaedt, in: Masing / Jouanjan, Verfassungsgerichtsbarkeit, 2009 (im Erscheinen).
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3. Die Begründungskultur des BVerfG Doch bevor wir uns der zuwenden, müssen noch ein, zwei Sätze gesagt werden zur Begründungskultur, derer sich das Bundesverfassungsgericht befleißigt. Sie lässt sich – einmal mehr – am einfachsten und kürzesten beschreiben, indem man sie mit der Art und Weise der Begründung konfrontiert, die andere Spruchkörper praktizieren. Das kann hier notgedrungen nur holzschnittartig vergröbert geschehen; die entscheidenden Linien dürften aber selbst bei diesem ausgesprochen oberflächlichen Vergleich erkennbar werden. Von der französischen Herangehensweise war ja bereits die Rede; im Vergleich dazu operiert das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen viel diskursiver, transparenter und argumentativer13 – und liefert daher regelmäßig deutlich längere und von deutlich stärkerer Rezeption wissenschaftlicher Konzepte gekennzeichnete Begründungen ab als etwa der französische Conseil constitutionnel. Und im Vergleich mit Gerichten der angloamerikanischen Common Law- und Case Law-Tradition – etwa, um nur das wichtigste zu nennen, dem U.S. Supreme Court – orientiert das Bundesverfassungsgericht seine Begründung weit weniger an den fallkonstituierenden Fakten und bedient sich stattdessen eines für die in der kontinentaleuropäischen Rechtstradition stehenden Länder typischen Systemdenkens.14 Juristen in Deutschland nennen diesen wissenschaftlichen Zugriff „Dogmatik“ und verstehen darunter die Sammlung, Sichtung und insbesondere Ordnung von Auslegungsergebnissen zu einem konsistenten und kohärenten Gefüge rechtsdogmatischer Speicherbegriffe.15 Dass in vielleicht keinem anderen Staat die Verwissenschaftlichung der Verfassungsrechtsprechung so weit vorangeschritten und die Nähe zur Verfassungsrechtswissenschaft so handgreiflich ist wie in Deutschland, hatte ich bereits anklingen lassen. Einige wenige Ursachen dafür dürften nun erkennbar geworden sein. Kontrastiert man fachrichterliche und verfassungsrichterliche Entscheidungsbegründungen, so stechen selbst bei oberflächlicher Betrachtung zwei Unterschiede ins Auge: Zum einen ist dies die Länge der Entscheidungsbegründungen, die beim Bundesverfassungsgericht rund das Dreifache gegenüber jenen bei Bundesgerichtshof und Bundesverwaltungsgericht – immerhin auch Höchstgerichten – ausmachen; während die beiden letzteren im Schnitt der letzten Jahre mit knapp 10 Druckseiten hinkamen, benötigten die Senate des Bundesverfassungsgerichts durchschnittlich mehr als 29 Druckseiten pro Judikat.16 Zum anderen fällt der Auf13 Das bedeutet selbstredend nicht, dass das Verfassungsgericht sich nicht auch anderer, nicht dem Überzeugungsmittel „Logos“ zuzurechnenden Begründungsmedien bediente; näher dazu Sobotta, Rhetorik 15 (1996), 115 ff. 14 Zum Vergleich mit den USA: Lepsius, Die Verwaltung 2007, Beiheft 7, 319 ff. 15 Dazu und zu weiteren Begriffsverständnissen: Pöcker, Stasis und Wandel der Rechtsdogmatik, 2007, S. 141 ff. 16 Die Durchschnittszahlen sind, eingedenk der relativen Ungenauigkeit der Berechnungsmodalität, eruiert worden auf der Grundlage der Judikate, die in den jeweils letzten zehn
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bau bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungsgründe aus dem Rahmen. Dieser ist nämlich – mit ganz seltenen Ausnahmen – einem dualen Schema verpflichtet: Der Schilderung des Tatbestandes, d. h. der fallrelevanten Tatsachen einschließlich des bisherigen Verfahrensverlaufes, folgt in einem ersten Schritt ein Teil, der als „Maßstäbeteil“ bezeichnet werden kann.17 Der „Maßstäbeteil“ dient, wie der Name sagt, dazu, in einem eher lehrbuchartig wirkenden, daher sozusagen fallabgewandten, vor die Klammer gezogenen, ganz auf die Systemzwänge der Dogmatik Bedacht nehmenden Schritt die verfassungsrechtlichen Maßstäbe in verallgemeinerungsfähiger Form zu entwickeln, die sodann, im nachfolgenden Teil, d. h. dem die tatsächlichen und rechtlichen Besonderheiten des konkreten Falles aufnehmenden „Subsumtionsteil“ auf den zu entscheidenden Fall angewendet werden. Diese Zweiteilung der eigentlichen Entscheidungsbegründung schlägt sich auch in der Zitierpraxis nachhaltig nieder.
4. Ein caveat zum Gegenstand Gestatten Sie mir eine letzte Vorbemerkung, nämlich ein caveat, welches ich mich in Anbetracht der Weite der Themenstellung auszusprechen verpflichtet fühle. Das Thema ist reichlich großsprecherisch weit formuliert. Natürlich kann es im Weiteren nicht um die Zitierpraxis des Bundesverfassungsgerichts gehen, sondern allenfalls um sachlich, personell und zeitlich mehr oder minder selektive Ausschnitte und Tendenzen in der Judikatur des Karlsruher Gerichts. Um die Dimensionen nur mit zwei Zahlen vor Augen zu führen: Die Entscheidungen des Ersten und Zweiten Senats summieren sich seit Aufnahme der Spruchrichtertätigkeit im Jahre 1951 auf mittlerweile 119 Bände der amtlichen Entscheidungssammlung mit rund 50.000 Seiten. Und dabei handelt es sich bei der Senatsrechtsprechung nur um einen – bezogen auf die Verfahrenszahlen – quantitativ nicht gerade üppigen Ausschnitt aus der gesamten Rechtsprechungstätigkeit des Bundesverfassungsgerichts. Denn mehr als 95% aller Verfahren und mehr als 97% der Verfassungsbeschwerdeverfahren werden nicht von den jeweils achtköpfigen Senaten erledigt, sondern von den aus jeweils drei Senatsrichtern geformten Kammern, von denen jeder Senat derzeit drei besitzt.18 Die Kammerjudikatur jedoch wird nur äußerst Bänden der amtlichen Entscheidungssammlungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 110 bis BVerfGE 119), des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE 119 bis BVerwGE 128) sowie des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen (BGHZ 165 bis BGHZ 174) publiziert worden sind. 17 Dazu und zum Folgenden: Lepsius, in: Scholz / Lorenz / Pestalozza / Kloepfer / Jarass / Degenhart / Lepsius, Realitätsprägung durch Verfassungsrecht, 2008, S. 111 – 113, ergänzend S. 114 – 117. 18 Ausweislich der Jahresstatistik des BVerfG aus dem Jahre 2007 (Fn. 10) betrug in der Zeit von 1951 bis 2007 der Anteil der Kammerentscheidungen (139.566) an den Erledigungen bei sämtlichen Verfahrensarten (146.640) 95,18% und an den Verfassungsbeschwerden (143.546, davon 3.980 Erledigungen durch die Senate) 97,23%.
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selektiv publiziert, seit dem Jahre 2004 freilich in einer eigenen Entscheidungssammlung, die mittlerweile auch schon auf neun stattliche Bände mit durchschnittlich gut 400 Seiten angewachsen ist.19 Unsere Aufmerksamkeit wird im Folgenden primär der Senatsrechtsprechung gelten, hier und da sind freilich auch Kammerentscheidungen heranzuziehen. Noch einmal: Das Bundesverfassungsgericht gibt es genau genommen nicht. Nicht nur, dass die Entscheidungen in Duktus und Zitierverhalten nicht unmaßgeblich vom Berichterstatter (und dessen Sozialisation) geprägt zu sein pflegen; auch der periodisch sich einstellende personelle Wechsel tut hier ein Übriges. Belastbare statistische Daten zum Zitierverhalten des Bundesverfassungsgerichts existieren schließlich ebenso wenig wie ein verbindlicher gerichtsinterner Zitierkodex.
III. Das Zitat als Begründungsersatz 1. Erscheinungsformen des Zitats Wenn wir von „Zitaten“ in den Entscheidungen – Urteilen und Beschlüssen – des Bundesverfassungsgerichts sprechen, so müssen wir uns die verwendete Zitiertechnik vor Augen führen: Zum einen sind wörtliche und als solche gekennzeichnete Zitate in verfassungsgerichtlichen Judikaten selten. Das entspricht der Bedarfslage des Gerichts. Denn weder ist das Verfassungsgericht ein typisches Tatsachengericht,20 so dass es in seinen Entscheidungen regelmäßig nicht darauf ankommt, wer von den Prozessparteien bei welcher Gelegenheit was und insbesondere in welchem genauen Wortlaut gesagt hat.21 Noch setzt das Gericht die Bezug19 Verein der Richter des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGK, Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, bislang 9 Bde., 2004-2008. 20 Diese Aussage ist freilich nur cum grano salis zutreffend; es gibt sogar – zahlenmäßig indes sehr seltene – Verfahrensarten, in denen das BVerfG selbst tatrichterliche Funktionen zu übernehmen hat. Berühmt-berüchtigt darunter sind die Parteiverbotsverfahren, die gemäß Art. 21 Abs. 2 S. 2 GG beim BVerfG monopolisiert sind (sog. Parteienprivileg). Die beiden einzigen bisher entschiedenen Fälle – nämlich zum SRP-Verbot (BVerfGE 2, 1 ff.) aus dem Jahre 1952 sowie zum KPD-Verbot (BVerfGE 5, 85 ff.) aus dem Jahre 1956 – nehmen denn auch, was das Äußere der Entscheidungsbegründung angeht, eine Sonderstellung ein. Das Urteil zum KPD-Verbot ist, neben anderen Besonderheiten, mit 309 Druckseiten (!) nicht nur die längste jemals vom BVerfG abgesetzte Entscheidung, sondern besitzt ob ihrer Länge sogar eine detaillierte und mit Überschriften versehene Begründungsgliederung (vgl. BVerfGE 5, IV f.). 21 Das ist typischerweise anders bei Ehrschutz-Prozessen; ein ebenso aktuelles wie pittoreskes Beispiel bildet der „Dummschwätzer“-Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 5. Dezember 2008 (1 BvR 1318 / 07, abrufbar unter: http://www.bverfg.de/entscheidungen/rk20081205_1bvr131807.html). – Ausnahmen stellen auch manche Organ- und BundLänder-Streitigkeiten dar, in denen es just um Verhaltens(- und zwar gerade um Äußerungs)weisen von Verfassungsorgan(teil)en geht. Aber selbst bei abstrakten Normenkontrollverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG kann es auf den genauen Wortlaut von Äußerungen in Sitzungen von Verfassungsorganen ankommen; ein spektakuläres Beispiel liefert das Ver-
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nahme auf Aussagen anderer – von seltenen Ausnahmen abgesehen – im Sinne eines schöngeistigen, eines Schmuckzitates ein, bei dem die die Authentizität in besonderer Weise verbürgende äußere Form nicht minder wichtig ist als der Inhalt, ja der Verbund von Form und Inhalt dem Zitat erst sein eigentümlich-originelles Gepräge verleiht.22 Auch ehrfurchterheischende Belesenheitsausweise in Gestalt wörtlicher Klassikerzitate finden sich in der Verfassungsrechtsprechung äußerst selten. Das Verhältnis des Gerichts zum Zitat ist vielmehr ein – man könnte vielleicht formulieren – nüchtern-instrumentell-professionelles: Es dient zuvörderst der Befriedigung des (bereits angesprochenen) Begründungs- und Rechtfertigungsbedarfes, dem auch der Verfassungsrichterspruch ausgesetzt ist. Dazu reicht es aber aus, dass die zur Begründung und Rechtfertigung der eigenen Entscheidung herangezogenen anderweitigen Aussagen ihrem Inhalte nach referiert und ihre Fundstelle präzise nachgewiesen wird. Pointiert: Zitate in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts treten, von noch zu behandelnden Selbstzitaten einmal abgesehen, in aller Regel in Gestalt von eingeklammerten Fundstellenbelegen zu referierten Fremdaussagen auf. Oder anders: Das Zitat erschöpft sich hier regelmäßig im Fundstellennachweis zur paraphrasierten Fremdaussage. Im Folgenden wird daher das Zitat in diesem weiteren Sinne verstanden. Und zum anderen: Gerichtsentscheidungen kennen keine Fußnoten und keinen Anmerkungsapparat. Alles, worauf das Gericht seine Entscheidung zu gründen beabsichtigt, muss es grundsätzlich in den (Haupt-)Text integrieren. Zitatnachweise finden sich daher – von seltenen Ausnahmen abgesehen23 – in einem Klammerzusatz suo loco im Fließtext platziert.24 Bereits diese Äußerlichkeit führt dazu, fahren über den aus Anlass des Zuwanderungsgesetzes im Bundesrat entfachten Eklat um das Stimmverhalten der brandenburgischen Bundesratsmitglieder und das darauf bezogenen Verhalten des Bundesratspräsidenten im Jahre 2002: BVerfGE 106, 310 (313-320: wörtliche Wiedergabe der einzelnen Äußerungen vor und während der Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz) – „Zuwanderungsgesetz“ [2002]. 22 Eine – freilich in BVerfGE 97, 350 (371) – „Währungsunion“ [1998] – nicht als Zitat ausgewiesene – Ausnahme dürfte die Wendung „Geld ist geprägte Freiheit“ sein; dazu mit weit. Nachw. Lepsius, JZ 2002, 314 Fn. 7. Zum „kritikwürdigen Umgang“ des BVerfG mit rechtswissenschaftlicher Literatur die Beispiele bei Häberle, Festschrift Schmitt Glaeser, 2003, S. 397 f. 23 So werden längere Zitate und Nachweise im „Altenpflege-Urteil“ durch eingerückten petit-Satz im Fließtext hervorgehoben: BVerfGE 106, 62 (106, 109 f., 110 f., 116, 118 f., 122, 123, 126, 127, 129, 130, 139, 140, 148, 161 f., 164) [2002]. Im Sondervotum der Richterin Rupp-von Brünneck und des Richters Simon zum ersten Abtreibungsurteil finden sich sogar (seitenweise durchnummerierte) Fußnoten: BVerfGE 39, 1 (68 – 95) [1975]. 24 Um nur ein mehr oder weniger wahllos herausgegriffenes Beispiel zu geben: „Unabhängig von der vom Bundesverfassungsgericht wiederholt hervorgehobenen Schwierigkeit, den Begriff der Kunst abschließend zu definieren (vgl. BVerfGE 30, 173 [188 f.]; 67, 213 [224 ff.]), stellt der Roman ,Esra‘ nach der zutreffenden Auffassung der angegriffenen Entscheidungen ein Kunstwerk dar, nämlich eine freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache, hier des Romans, zur Anschauung gebracht werden (vgl. BVerfGE 30, 173 [188 f.]; 67, 213 [226]; 75, 369 [377]).“ (so BVerfGE 119, 1 [20 f.] – „Esra“ [2007]).
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dass – soll der Text nicht durch allzu viele den Textfluss hemmende Parenthesen unleserlich und intransparent werden – die Einschübe knapp zu bemessen sind. Die in wissenschaftlichen Arbeiten heute so häufig anzutreffenden Imponierfußnoten haben hier demzufolge keinen Platz.25 2. Funktionen des Zitats Damit ist auch schon die Funktion, das Um-willen des Zitats in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts angesprochen. Das Zitat dient der Rechtfertigung der vom Gericht vertretenen Rechtsansichten durch Rekurs auf anderweitig geäußerte (zumeist: Rechts-)Ansichten. Genauer: Das Zitat dient, bei Lichte betrachtet, nicht zur oder als Begründung, sondern, ganz im Gegenteil, als Begründungsersatz, als Begründungsplatzhalter. Mit Recht ist daher gesprochen worden vom „Zitat als grundloser Grund rechtlicher Legitimität“26 und von der „Eigenlegitimierung durch Fremdverweisung“.27 Wer zitiert, verweist auf fremde (oder auch eigene) Autorität, er argumentiert aber nicht in der Sache. Wenn man so will: Der Einsatz von Zitaten verschiebt die Argumentation von der sachlichen auf die persönliche – meinetwegen auch: institutionelle – Ebene. Erborgte personenbezogene Autorität anstelle eigener sachbezogener Argumentation. Diese Begründungsersatz- oder auch Autoritätsanleihen-Funktion des Zitates lässt sich idealtypisch zwei unterschiedlichen, sich freilich keineswegs ausschließenden Zwecken zuordnen: Im ersten, wohl seltener einschlägigen Falle dient das Zitat der Entlastung der eigenen Begründung dadurch, dass auf andernorts entfaltete Argumente – zwecks Vermeidung unnötiger Wiederholungen – einfach verwiesen wird. Das Zitat fungiert hier als sachhaltiges Argumentationskürzel, gleichsam als spezifisch codiertes Argumentationskonzentrat. In dieser Verwendungsweise hat das Zitat einen ähnlichen Stellenwert, wie er, mutatis mutandis, dogmatischen Speicherbegriffen zukommt: Das Rad muss nicht jedes Mal neu erfunden werden, es reicht vielmehr aus, auf die Ersterfindung Bezug zu nehmen.28 Im zweiten Falle geht es weniger darum, die eigene Begründung durch Verweisung auf Gedankengänge in anderen Texten kurz zu halten, als vielmehr um die Steigerung der Überzeugungskraft von Argumenten dadurch, dass deren Erfolgsgeschichte im Diskurs erzählt wird: Die Richtigkeit des Arguments wird daran gemessen, wer und wie viele der Diskursteilnehmer sich für das Argument ausgesprochen, es mit ihrem reputationssteigernden Namen verbunden haben. Dabei gilt das Gesetz der Zahl und des Gewichts: Je höher die Zahl und je größer die Dazu: Häberle / Blankenagel, Rechtstheorie 19 (1988), 116 ff. So der Titel des Aufsatzes von Holzleithner / Mayer-Schönberger, in: Feldner / Forgó, Norm und Entscheidung, 2000, S. 318 ff. 27 Holzleithner / Mayer-Schönberger (Fn. 26), S. 347. 28 Im Sinne dieser Begründungsentlastungs-Funktion wird vorliegend auch vermehrt auf autoreigene Arbeiten Bezug genommen. 25 26
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Reputation derer ist, die die Aussage bereits im Munde geführt haben, desto höhere Autorität, sprich: Überzeugungskraft, darf der eigenen, die Aussage sich zu eigen machenden Argumentation beigemessen werden. Wer sich in eine Argumentationsgemeinschaft stellt, partizipiert an – und erhöht seinerseits – deren Diskurswert. In der anwendungsorientierten Jurisprudenz haben denn auch die Bezugnahme auf die „herrschende Lehre“ – d. i. eine vom quantitativen wie insbesondere qualitativen Gros der scientific community geteilte Rechtsansicht – und die „herrschende Meinung“ – hier gesellt sich zur überwiegenden Lehrmeinung noch die überwiegende Rechtsprechungsmeinung hinzu – den Stellenwert eines eigenen, allenfalls durch profunde Kritik aus den Angeln zu hebenden Arguments.29 Derartige Zitate werden im angloamerikanischen Sprachraum als „string cites“ oder auch „string citations“,30 also als Kettenzitate, bezeichnet, sind sie doch in der Regel äußerlich daran erkennbar, dass sich der Zitierende nicht darauf beschränkt, eine Fundstelle für den referierten Gedanken anzugeben, sondern gleich deren mehrere aneinanderreiht. Gleichsam einer Zwischenform der ersten und der zweiten Funktion bedient sich ein Zitat, wenn es – versteht sich: beiläufig – dazu eingesetzt wird, zu dokumentieren, dass der Zitierende sich mit seinen Äußerungen auf der Höhe des wissenschaftlichen Fortschritts, d. h. des aktuellen Streit- und Diskussionstandes befindet.31 Hier fungiert die Bezugnahme auf die aktuellen wissenschaftlichen Publikationen als Beleg dafür, dass der Zitierende wissenschaftlich satisfaktionsfähig ist. Neben diesen beiden Einsatzgründen lassen sich freilich noch weitere, aufs Ganze gesehen aber doch weniger gewichtige nennen: Insbesondere kann der Einsatz von Zitaten auch eine ausgeprägte, über das Normalmaß hinausgehende strategisch-taktische Note besitzen. So wird bisweilen bei innerhalb eines Senates umstrittenen Fällen das Zitat als Mittel der innergerichtlichen Auseinandersetzung instrumentalisiert, um namentlich die akademische Lehre auf die je eigene Seite zu ziehen.32 Das Bundesverfassungsgericht kennt, anders als alle sonstigen innerstaat29 In der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts indes spielen die Kategorien von „herrschender Lehre“ und „herrschender Meinung“ aus naheliegenden Gründen, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle. Im Vordergrund steht hier vielmehr die – eigene – „ständige Rechtsprechung“. Dazu nachfolgend 4. c). 30 Dazu: Walsh, Law & Society Review 31 (1997), 337 ff.; vgl. ergänzend Holzleithner / Mayer-Schönberger (Fn. 26), S. 338 f. u. ö. 31 Beispiel: BVerfGE 107, 59 (89) – „Lippeverband und Emschergenossenschaft“ [2002], zu Begriff und Wesen der sogenannten funktionalen Selbstverwaltung. 32 Diese Einsatzweise findet sich gerade in Entscheidungen, bei denen es im Senat zu einem Abstimmungspatt gekommen ist; nach § 15 Abs. 4 S. 3 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) kann in derartigen Fällen „ein Verstoß gegen das Grundgesetz oder sonstiges Bundesrecht nicht festgestellt werden“. D. h.: Das Verhalten wird – zutreffenderweise – nicht für verfassungsmäßig erklärt (zu Unrecht anders jedoch BVerfGE 95, 335 [336] – „Überhangmandate“ [1997]), es kann aber auch nicht als verfassungswidrig ausgewiesen werden. Das Bewertungspatt im Senat im Blick auf die Frage der Verfassungsmäßigkeit / Verfassungswidrigkeit führt indes nicht zu einer Unentscheidbarkeit des Falles; denn da ein Antrag, um nicht nur zulässig, sondern auch begründet zu sein, voraussetzt, dass ein Verfassungs-
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lichen Gerichte und in Übereinstimmung mit internationalen Gerichten wie etwa dem IGH und dem EGMR, das Instrument der „dissenting opinion“, des Sondervotums: Ein Senatsmitglied, das sich von der Rechtsauffassung der Senatsmehrheit nicht hat überzeugen lassen, darf – alleine oder gemeinsam mit weiteren Dissentern – seine abweichende Meinung kundtun.33 Dieses Sondervotum, welches unter dem Namen des dissentierenden Richters der eigentlichen Entscheidung angefügt wird, ist zwar nicht Teil des Judikats selbst – und genießt daher auch weder die Autorität des Bundesverfassungsgerichts, noch zeitigt es die für verfassungsgerichtliche Entscheidungen eigentümliche Bindungswirkung34 –, aber es geht doch bereits durch den sich an die Entscheidung anschließenden Abdruck in der Entscheidungssammlung eine sehr enge Verbindung mit jenem ein. Im Streit zwischen Senatsmehrheit und Dissentern sind es verständlicherweise zumeist letztere, die verstärkt auf das Zitat als Autoritäts- und Reputationsanleihe für eigene Zwecke setzen müssen, sei es, um aufzuzeigen, dass die eigene Rechtsansicht viel eher in der Tradition der bisherigen Senatsjudikatur steht, sei es, um zu belegen, dass die Senatsmeinung dem aktuellen Forschungsstand nicht gerecht wird.35 Die höhere Zitatdichte in Sondervoten erklärt sich also primär aus der Notwendigkeit, die für die eigene Rechtsauffassung fehlenden Richterstimmen im aktuellen Spruchkörper durch die Anführung früherer Judikate desselben Spruchkörpers verstoß festgestellt werden muss, wird ein Antrag im Falle eines Patts im Senat als unbegründet zurückgewiesen. Denn der Verstoß kann ja, wie § 15 Abs. 4 S. 3 BVerfGG anordnet, in dieser Konstellation nicht festgestellt werden. Diesem differenzierten Entscheidungsund Begründungsausspruch trägt das Urteil bereits äußerlich dadurch Rechnung, dass einerseits im Tenor die Zurückweisung des Antrags ausgesprochen wird, andererseits aber in den Entscheidungsgründen die Ansichten beider Senats-„Parteien“ nacheinander abgedruckt werden (die Auffassung jener Richter, die inhaltlich den Entscheidungstenor für zutreffend halten – also von Verfassungskonformität ausgehen –, wird zuerst, und zwar recte abgedruckt, indes die Auffassung der anderen Richter, also jener, die von Verfassungswidrigkeit ausgehen, danach und kursiv abgedruckt wird; nur zur Klarstellung sei hinzugesetzt, dass es sich bei der zuletzt genannten Rechtsmeinung nicht um ein bloßes Sondervotum, um eine abweichende Meinung handelt – dazu sogleich in und bei Fn. 33). Nachw. aus der Rechtsprechung unten in Fn. 45. 33 Vgl. § 30 Abs. 2 S. 1 BVerfGG: „Ein Richter kann seine in der Beratung vertretene abweichende Meinung zu der Entscheidung oder zu deren Begründung in einem Sondervotum niederlegen; das Sondervotum ist der Entscheidung anzuschließen.“ Im ersten Falle handelt es sich, in der angloamerikanischen Nomenklatur, um eine „dissenting opinion“, im zweiten Falle um eine „concurring opinion“. 34 Vgl. § 31 BVerfGG: „(1) Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden. (2) In den Fällen des § 13 Nr. 6, 6a, 11, 12 und 14 hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Gesetzeskraft. Das gilt auch in den Fällen des § 13 Nr. 8a, wenn das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz als mit dem Grundgesetz vereinbar oder unvereinbar oder für nichtig erklärt. Soweit ein Gesetz als mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht vereinbar oder unvereinbar oder für nichtig erklärt wird, ist die Entscheidungsformel durch das Bundesministerium der Justiz im Bundesgesetzblatt zu veröffentlichen. Entsprechendes gilt für die Entscheidungsformel in den Fällen des § 13 Nr. 12 und 14.“ 35 Dazu Nußberger, JZ 2006, 769 f.
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oder mit Autorität versehener Stimmen in der Wissenschaft zu kompensieren. – Der Vollständigkeit halber sei schließlich der strategisch-taktische Zitateinsatz genannt, um „Gedankensprünge und damit Schwachstellen in der Argumentation [zu] verbergen“.36 Das freilich dürften, soweit ich sehe, nicht allzu häufig auftretende Ausnahmefälle sein.
3. Fremdzitat und Selbstzitat Eine bereits mehrfach angeklungene, für die Zitierpraxis gerade des Bundesverfassungsgerichts äußerst bedeutsame Unterscheidung, die nicht zuletzt die Funktionalität von Zitaten beeinflusst, ist die Unterscheidung nach der Autorenschaft des in Bezug genommenen Gedankens oder Ausspruches. Es ist dies die Unterscheidung zwischen dem Fremd- und dem Selbstzitat. Sowohl in statistisch-quantitativer als auch in funktional-qualitativer Hinsicht bestehen grundstürzende Unterschiede zwischen der verfassungsgerichtlichen Praxis des Fremdzitats und jener des Eigenzitats. Fremdzitate sind, wiewohl sie sich im Vergleich zur Rechtsprechungstätigkeit anderer Spruchkörper in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts relativ häufig finden, weitaus seltener als Selbstzitate. Während diese mehr oder minder ubiquitär, bisweilen geradezu inflationär eingesetzt werden, konzentriert sich die Verwendung von Fremdzitaten typischerweise auf bestimmte Anlässe: Gehäuft bedient sich das Gericht des Nachweises der Stimmen anderer, wenn es um nichtjuridische Fragen oder um zwar rechtliche, aber nicht spezifisch verfassungsrechtliche Fragen – zusammenfassend also: um verfassungsrechtsfremde Fragen – geht. So konsultiert und zitiert der Erste Senat in seinem Kruzifixbeschluss aus dem Jahre 1995 – konfessionsparitätisch – theologische Lexika und Realenzyklopädien, um die Bedeutung des Kreuzes respektive des Kruzifixes für das und in dem Christentum zu eruieren.37 In entsprechender Weise macht sich derselbe Senat fachfremdes Wissen zunutze, wenn er in seiner Entscheidung zum elterlichen Sorgerecht für nichteheliche Kinder aus dem Jahre 2003 auf empirische Studien zur Situation des Kindeswohls und der Familienverhältnisse nichtehelich geborener Kinder rekurriert.38 Dass der Jurist, an den sich die Entscheidung richtet, die Validität sowohl des Referierten wie des Nachweises oft selbst nicht recht einzuschätzen vermag, sondern auf die Richtigkeit beider vertrauen muss, steht freilich auf einem anderen Blatt. Zahlreiche weitere Beispiele ließen sich hier anführen.39 EntSo Nußberger, JZ 2006, 764. BVerfGE 93, 1 (19) – „Kruzifix“ [1995]. 38 BVerfGE 107, 150 (170, 172, 173, 174, 177 f.) – „Elterliches Sorgerecht für nichteheliche Kinder“ [2003]. 39 Eine weitere nicht unbedeutende Untergruppe bilden Fragen des Rechtsvergleiches; auch hier stützt sich das BVerfG gerne und intensiv auf fremde Sachkunde; Beispiel: BVerfGE 118, 277 (356-358) – „Gläserner Abgeordneter“ [2007] – dazu, wie in anderen Ver36 37
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sprechend häufig bemüht das Bundesverfassungsgericht fremde Stimmen, wenn es um Auslegungsfragen des sogenannten einfachen Gesetzesrechts, d. h. des Rechts unterhalb der Verfassung, geht. Dieses ist – vereinfachend formuliert40 – zwar grundsätzlich nicht Maßstabsrecht des Bundesverfassungsgerichts; ihm gilt folglich nicht die besondere Kompetenz und Verantwortung des Verfassungsgerichts.41 Doch ungeachtet dessen hat das Gericht ständig mit Unterverfassungsrecht zu tun, und zwar als Gegenstand der eigenen Kontrolltätigkeit. Hier hat es daher zwecks Aufbau und Erhalt der eigenen Autorität allen Anlass, den mit diesem Recht befassten Spezialisten, also den entsprechenden Fachgerichten wie der Fachwissenschaft, etwa den Zivilgerichten und der Zivilrechtswissenschaft, zu „beweisen“, dass es Kenntnis und Verständnis des auf seine Verfassungskonformität hin zu überprüfenden Rechts besitzt, dass es, wiewohl fachfremd, die fachspezifische lex artis beherrscht und den Stand von Praxis und Forschung kennt.42 In diesem Zusammenhang konsultiert das Gericht auch gerne, besonders bei jüngeren Gesetzen, die Gesetzesmaterialien, also die regierungsamtlichen und parlamentarischen Drucksachen aus dem Gesetzgebungsverfahren. Hier finden sich im Übrigen auch häufiger als sonst echte, nämlich wörtliche Zitate.43 Deutlich schmallippiger operiert das Bundesverfassungsgericht mit Fremdzitaten zu genuin verfassungsrechtlichen Fragen. Die eigene Kompetenz, Autorität und Reputation bedarf nach der Selbsteinschätzung des Gerichts hier nur selten der Stärkung durch Fremdanleihen. Dementsprechend sieht das Bundesverfassungsgericht auch regelmäßig keine Notwendigkeit, eine Rechtsansicht, die sich mit einem Selbstzitat belegen lässt, zusätzlich durch Fremdzitate aus der Wissenschaft abzustützen. Die bereits genannte Staatsrechtslehre kann sich zwar im internatiofassungsstaaten mit Nebentätigkeiten und der Publizität von Nebeneinkünften von Mandatsträgern umgegangen wird. 40 Insbesondere ist hinzuweisen auf jene Fälle, in denen Landesrecht den Gegenstand der Prüfung bildet; da dieses, um bundesverfassungskonform zu sein, nicht nur mit dem Grundgesetz, sondern – über Art. 31 GG („Bundesrecht bricht Landesrecht.“) – auch mit dem sonstigen Bundesrecht in Einklang stehen muss, ist hier, wie sich auch aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, 2. Fall GG ergibt, sämtliches Bundesrecht Maßstabsrecht des zur Entscheidung berufenen BVerfG. 41 Diese Aussage ist, über das in der vorangehenden Fn. Gesagte hinaus, namentlich für jene Fälle einzuschränken, in denen das BVerfG eine sogenannte verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen vornimmt; eine derartige verfassungskonforme Auslegung kommt nach der ständigen Rechtsprechung dann in Betracht, wenn eine einfachgesetzliche Bestimmung mehrfacher Auslegung zugänglich ist und wenigstens eine der Auslegungsvarianten mit der Verfassung im Einklang steht. 42 Am Beispiel des sogenannten Inzest-Paragraphen § 173 Abs. 2 S. 2 StGB (Strafbarkeit des Beischlafes zwischen Geschwistern): BVerfG, Beschluss des Zweiten Senates vom 26. Februar 2008 – 2 BvR 392 / 07 –, Rn. 39, 42, 44 – 50 u. ö. – „Inzest“, abrufbar unter: http: // www.bverfg.de/entscheidungen/rs20080226_2bvr039207.html. 43 Beispiel: BVerfGE 106, 62 (123 – Zitierung der Begründung des Gesetzentwurfes, 136 – 141 und 148 – Zitierung von Materialien der Gemeinsamen Verfassungskommission und des Bundestages) – „Altenpflegegesetz“ [2002].
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nalen Vergleich glücklich schätzen, wie eng und vielfältig die sachlichen wie personellen Verflechtungen zwischen verfassungsgerichtlicher Praxis und verfassungsrechtswissenschaftlicher Theorie sind, doch kann es schon als besondere Auszeichnung gelten, wenn das Gericht eine wissenschaftliche Meinung nicht nur sich zu eigen, sondern auch die fremde Autorenschaft explizit macht.44 Doch weit häufiger als das Originalitätsattest zugunsten einzelner Stimmen aus der Staatsrechtslehre ist die Heranziehung der Verfassungsrechtswissenschaft, wenn das Bundesverfassungsgericht handfeste eigene Interessen umtreiben, wie das insbesondere der Fall ist, wenn eine vom Gericht zu entscheidende Auslegungsfrage in der Wissenschaft (oder gar, wie bereits erwähnt, im Senat selbst) sehr streitig diskutiert wird. Hier werden wissenschaftlich geäußerte Rechtsansichten zu argumentativer Schützenhilfe gerufen: sei es – um nur zwei der vielfältigen Varianten zu nennen –, um die zögerliche Wissenschaft mit wissenschaftseigener Reputation auf die Seite des Gerichts zu ziehen,45 sei es, um bei aus Gründen der senatsinternen Mehrheitsfindung kompromissgeleiteten und infolgedessen unter Konsistenzgesichtspunkten nicht selten kompromittierten Entscheidungen die zu erwartende Kritik der Wissenschaft dadurch abzuschwächen, dass in den Entscheidungsgründen in einer Art Schein-Äquidistanz die gegensätzlichen Literaturstimmen jeweils zustimmend, freilich an unterschiedlichen Stellen der Begründung zitiert werden. Überzeugung durch Umarmung.46 – Gestatten Sie mir dazu einen Nach-Satz: Die Bezugnahme des Verfassungsgerichts auf die Verfassungsrechtslehre darf keinesfalls als statisches und isolierbares Ereignis gedacht und gedeutet werden. Vielmehr hat, gerade bei der prononciert bundesverfassungsgerichtspositivistischen Ausrichtung der deutschen Staatsrechtslehre, die verfassungsgerichtliche Nobilitierung einer wissenschaftlichen Ansicht – Theologen würden es vielleicht vorziehen, von deren „Kanonisierung“ zu sprechen – nicht zu unterschätzende Rückwirkungen auf den wissenschaftlichen Diskurs. Hier sind subtile Mechanismen wechselseitiger Stabilisierung am Werke. Gegenstand von Fremdzitaten bilden, neben Äußerungen aus der Verfassungsrechtswissenschaft, selbstredend auch die Gesetzgebungsmaterialien zum Grundgesetz selbst, also die Beratungen insbesondere des Parlamentarischen Rates in den Jahren 1948 und 1949 sowie von Bundestag und Bundesrat zu allen nachfolgenden, bislang 52 mehr oder minder umfangreichen Grundgesetzänderungen. Doch anders, 44 Prominentes Beispiel: BVerfGE 88, 203 (254) – „2. Abtreibungsurteil“ [1993] –, wo Isensee, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 1. Aufl. 1992, § 111 Rn. 165 f. als die maßgebliche Referenzgröße im Blick auf das sogenannte Untermaßverbot angegeben wird. 45 Beispiel: BVerfGE 118, 277 (einerseits: 323 ff., bes. 326, 333, 334; andererseits: 338 ff., bes. 342, 346, 347, 348, 349, 350, und 377 ff., bes. 377, 378, 379, 381, 382, 383 f., 387, 397, 398, 400) – „Gläserner Abgeordneter“ [2007]. 46 Beispiel: BVerfGE 107, 59 (90, 92 und 94). – „Lippeverband und Emschergenossenschaft“ [2002]. Zu der gerade infolge der Mischung heterogen-inkompatibler Begründungsansätze inkonsistenten Argumentation des BVerfG: Jestaedt, in: Kluth, Jahrbuch für Kammerrecht, 2003, S. 9 ff.
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als man vielleicht erwarten sollte, markiert der Rekurs auf den sogenannten Willen des Verfassungsgesetzgebers nicht die interpretatorische Regel, sondern die recht seltene Ausnahme, die je eher anzutreffen ist, desto weniger lang die Verfassungsänderung zurückliegt.47 Das hängt mit der in Deutschland vorherrschenden, sich selbst als „objektiv“ apostrophierenden Auslegungsmethode zusammen.48
4. Besonderheiten des verfassungsgerichtlichen Selbstzitates Für Gerichtsurteile im Allgemeinen wie für solche des Bundesverfassungsgerichts im Besonderen gilt, dass im Vergleich zum Fremdzitat das Selbstzitat für die Funktions- und Wirkungsweise von Rechtsprechung weitaus bedeutsamer und kennzeichnender ist. Am häufigsten und am ausgiebigsten zitiert das Bundesverfassungsgericht eben das Bundesverfassungsgericht. Doch sei bereits vorweg darauf hingewiesen, dass dem (verfassungs)gerichtlichen, also institutionellen Selbstzitat nicht der Hautgout übersteigerter Selbsteinschätzung und ostentativer Eitelkeit anhaftet, der dem – personengebundenen – Selbstzitat in der Wissenschaft mit gewisser Zwangsläufigkeit eigen ist. Das Selbstzitat (in) der Verfassungsjudikatur ist für unsere Überlegungen mindestens unter fünf Gesichtspunkten von Interesse. Sie seien nur mehr grob skizziert: a) Erstens: Passen Selbstzitate eines Höchstgerichtes in das kontinentaleuropäische Konzept von Rechtsordnung? An sich könnte man der Ansicht sein, dass Selbstzitate von Gerichten in einer gesetzeszentrierten Rechtsordnung, wie sie den kontinentaleuropäisch inspirierten Rechtskreis kennzeichnet, weniger einleuchtend und auch weniger notwendig sind als in einer dezidiert richterzentrierten Rechtsordnung, wie sie der Common Law-Rechtskreis repräsentiert. Wo die Gesetzesdichte und damit die Vorgabendichte für den gesetzesgebundenen Richter größer sind, dürfte der Rechtsansicht des gesetzesunterworfenen Gerichts an sich keine so große Bedeutung beizumessen sein. Dass dem nicht so ist, liegt insbesondere – aber keineswegs ausschließlich – an drei Faktoren: Es ist dies zunächst der Umstand, dass keine Norm sich selbst auslegt, sondern des Interpreten bedarf, um zur Sprache und zum Sprechen gebracht zu werden. Das aristotelische Ideal, dass nicht Menschen herrschen mögen, sondern Gesetze, erleidet bereits auf dieser hermeneutischen Vor-Stufe der „Gesetzesherrschaft“ eine empfindliche Einbuße. Sodann determiniert, wie bereits angedeutet, die abstrakt-generelle Norm – also das Gesetz oder die Verfassung – die Lösung des Einzelfalles mittels Setzung einer konkretindividuellen Norm in Gestalt eines Urteils immer nur partiell, niemals aber total. Die Totaldetermination wäre nur um den – freilich absurden – Preis zu haben, dass Dazu näher: Jestaedt, Festschrift Schmitt Glaeser, 2003, S. 267 ff. m. weit. Nachw. Aus der Judikatur des BVerfG vgl. pars pro toto: BVerfGE 1, 299 (299 [Leitsatz 2] und 312) – „Bundeswohnbaumittel“ [1952]; 105, 135 (157) – „Vermögensstrafe“ [2002]. 47 48
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das Gesetz bereits das Urteil in toto enthielte.49 Und schließlich ist nochmals an die sich selbst so nennende „objektive“ Auslegung zu erinnern, der zufolge der „objektivierte Wille des Gesetzgebers“ respektive Verfassungsgesetzgebers den maßgeblichen Bezugspunkt der Auslegung abgibt und nicht der subjektiv-historische, also tatsächliche Wille des historisch entrückten Gesetzgebers. Auch damit rückt derjenige, dem das letzte Auslegungswort zusteht, in eine Schlüsselstellung.50 b) Damit bin ich auch schon beim zweiten Stichwort: Bereits zur Feier des zehnjährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1962 – also vor bald einem halben Jahrhundert – äußerte der damalige Festredner Rudolf Smend das mittlerweile zum geflügelten Wort avancierte Aperçu, dass „das Grundgesetz [ . . . ] nunmehr praktisch so [gilt], wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt, und die Literatur kommentiert es in diesem Sinne“.51 Noch drastischer formulierte das Verhältnis von Herrn und Hüter der Verfassung der nachmalige Chief Justice des U.S. Supreme Court, Charles Evans Hughes, im Jahre 1907: „We are under a Constitution, but the constitution is what the judges say it is“.52 Mit zunehmender Rechtsprechungstätigkeit postiert sich das Verfassungsgericht vor dem Grundgesetz; der Hüter der Verfassung mutiert zum Türhüter vor der Verfassung. Einlass findet und damit sein Recht erhält nur mehr derjenige, der die richtige Losung, nämlich das richtige Zitat aus der Karlsruher Rechtsprechung kennt und nennt. Das Rechtsprechungszitat erweist sich damit in praxi dem Verfassungszitat paradoxerweise als haushoch überlegen. – Fälschlicherweise wird hier bisweilen von der „authentischen Interpretation“ des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht gesprochen;53 die Rechtsmacht der „interpretatio authentica“ 54 kommt indes, wie nicht zuletzt § 31 BVerfGG belegt, dem Bundesverfassungsgericht nicht zu. Seine in dieser Bestimmung zum Ausdruck gelangende, den rechtspraktischen Auslegungsdiskurs beendende Macht bezieht sich nicht auf die Verfügung über Verfassungsrecht – das aber wäre authentische Interpretation –, sondern „lediglich“ auf 49 Dazu näher Jestaedt, in: Erbguth / Masing, Die Bedeutung der Rechtsprechung im System der Rechtsquellen: Europarecht und nationales Recht. XIII. Deutsch-Polnisches Verwaltungskolloquium, 2005, S. 25 ff. 50 Eingehend entwickelt in: Jestaedt (Fn. 4), S. 183 ff. 51 Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 3. Aufl. 1994, S. 582. 52 So Hughes in seiner Rede vor der Chamber of Commerce in Elmira, New York, am 3. Mai 1907 (in: Addresses and Papers of Charles Evans Hughes, Governor of New York, 1906-1908 [1908], Nachdruck: Whitefish, MT, 2007, S. 139, auch in: Danelski / Tulchin, The Autobiographical Notes of Charles Evans Hughes, 1973, S. 144); affirmativ: Jennings, In Defence of a Political Court, 1999. 53 Stellvertretend Böckenförde, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 87 f. Fn. 113 unter Bezugnahme auf Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 42 ff. 54 Die Macht zur „interpretatio authentica“ weist can. 16 § 1 CIC 1983 dem „legislator et is cui potestas authentice interpretandi fuerit ab eodem commissa“ zu. Näher dazu Jestaedt, in: Grabenwarter / Lüdecke, Aktuelle Probleme des Kirchenrechts und Staatskirchenrechts, 2002, S. 100 ff.
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die Verbindlichkeit des von anderen Rechtsakteuren zugrunde zu legenden Verständnisses von Verfassungsrecht, ist also als „autoritative Interpretation“ zu charakterisieren.55 c) Dritter Aspekt: Das Selbstzitat hat eine ganz zentrale Funktion, nämlich die Stabilisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit durch Selbstreferenz. Es dient, mit anderen Worten, sowohl nach innen als auch und insbesondere nach außen der „Kohärenzdokumentation“ (Christian Senkel). Wer nichts als den „blauen Himmel“ über und das nicht für sich und von selbst sprechende Grundgesetz vor sich hat, dem bleibt zur Rückversicherung kaum anderes übrig, als zuvörderst auf die eigene Auslegungsleistung in Gestalt früherer Judikate Bezug zu nehmen: „Das war schon immer so, das haben wir immer so gemacht, das ist nie (erfolgreich) beanstandet worden.“ In der Case Law-Tradition hat sich die „stare decisis doctrine“ – die verkürzte Formel für die lateinische Wendung: „stare decisis et non quieta movere“ – herausgebildet: Gibt es keine hinlänglich gewichtigen Gegengründe, so ist ein „stare decisis“, ein Stehenbleiben, ein Festhalten an der bisherigen Rechtsprechungslinie, geboten und ein „quieta movere“, ein stillschweigendes Abrücken verboten.56 Eine entsprechend normativ aufgeladene, strikte Präjudizienbindung ist zwar dem kontinentaleuropäischen, gar dem deutschen Recht fremd,57 doch fungiert das „stare decisis“ auch hierzulande zumindest als richterpsychologisch wirksame Entscheidungshilfe pro traditione. Indessen soll damit dem Phänomen der Selbstreferenz durch Selbstzitat nicht die positivrechtliche Relevanz abgesprochen und sie in das Reich der Motivationspsychologie abgedrängt werden. Denn das Selbstzitat dient, noch vor allem anderen, der Herstellung und Sicherung von Konstanz und Kohärenz, Konsequenz und Konsistenz der Rechtsprechung, die unter den Aspekten der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes und der Vorhersehbarkeit, aber auch und nicht zu vergessen des Gleichheitssatzes, der gebietet, wesentlich Gleiches nicht willkürlich ungleich zu behandeln,58 eine verfassungsrechtliche Basis besitzen. Es verwundert daher nicht, dass das stärkste Argument, welches das Bundesverfassungsgericht zitatweise aufzubieten hat, die „ständige Rechtsprechung“, gemeint ist: die durch eine größere Anzahl von Verfassungsgerichtsentscheidungen verfestigte Rechtsprechungslinie, markiert. Wo einem das an das Ende einer Nachweiskette gestellte Kürzel „std. Rspr. / stRspr“ begegnet,59 muss – so der damit verbundene Warnhinweis – alle Kritik verstummen. 55 Dazu im Einzelnen: Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 363-378 m. zahlr. Nachw. 56 Vgl. eingehend: Cross / Harris, Precedent in English Law, 4. Aufl. 1991; aus dem deutschsprachigen Schrifttum: Reinhardt, Konsistente Jurisprudenz, 1997, S. 249 ff. 57 Versuch, im Rahmen der grundgesetzlichen Rechtsordnung eine stärkere Rechtsprechungsbindung zu begründen: Reinhardt (Fn. 56), S. 271 ff., 370 ff. und 409 ff. 58 Richtungweisend: BVerfGE 3, 58 (135) – „G 131“ [1953]. 59 Es ist indes nicht immer ohne Weiteres erkennbar, wann und warum die Prädizierung als „ständige Rechtsprechung“ eingesetzt wird und wann und warum nicht; die Länge der „string cites“, also die Anzahl der zitierten Entscheidungen allein, ist nur ein widerlegliches
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d) Der vierte und vorletzte Punkt knüpft an die Untergliederung des Bundesverfassungsgerichts in Senate und diese wiederum in Kammern an: Während jeder der beiden Senate für seine Verfahren die volle Rechtsprechungsgewalt besitzt, verfügt eine Kammer nur über eingeschränkte Befugnisse: Einmal abgesehen davon, dass sie nur einstimmig Entscheidungen fassen können (§ 93d Abs. 3 S. 1 BVerfGG), kann einer Verfassungsbeschwerde gemäß § 93c Abs. 1 S. 1 BVerfGG unter anderem nur dann stattgegeben werden, wenn „die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgebliche verfassungsrechtliche Frage durch das Bundesverfassungsgericht [gemeint ist damit: durch einen Senat] bereits entschieden“ ist.60 Kammern bilden dergestalt die Filter, um den Senat vor der übergroßen Flut von Verfassungsbeschwerden zu schützen.61 Folge dessen ist, dass sich der Umfang der Entscheidungskompetenz danach bemisst, was der Senat bereits, zumindest im Grundsatze, entschieden hat. Die Kammer hat mithin in jeder (stattgebenden) Entscheidung den zitatmäßig belegten Nachweis zu führen, dass die Rechtsprechungslinie des Senates nicht verlassen worden ist. Dies wiederum findet seinen Ausdruck darin, dass in der überwiegenden Zahl von Kammer-Beschlüssen – neben kammereigenen Entscheidungen – ausschließlich Entscheidungen des „eigenen“ Senats zitiert und nur selten andere Quellen herangezogen werden.62 Umgekehrt erklärt dies auch, dass sich die Kammer-Entscheidungen nur ausnahmsweise im Zitaten-Schatz von Senats-Entscheidungen finden: Für den an Rechtsprechungsmacht überlegenen Senat hält die senatsakzessorische Kammerjudikatur grundsätzlich keinen über die Eigenautorität des Senats hinausgehenden Autoritätszuwachs bereit.63 Indiz (Gegenbeispiel etwa: BVerfGE 107, 104 [117 – „stRspr“ nach drei Rechtsprechungsfundstellen aus der Band-„Breite“ BVerfGE 24 bis 60; 118 – kein Einsatz des Kürzels „stRspr“ nach fünf Rechtsprechungsfundstellen aus der Band-„Breite“ BVerfGE 34 bis 98] – „Ausschluss des Vaters aus jugendgerichtlicher Verhandlung gegen dessen Sohn“ [2003]. 60 Zur näheren Auslegung dieser Wendung: Schemmer, in: Umbach / Clemens / Dollinger, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Mitarbeiterkommentar und Handbuch, 2. Aufl. 2005, § 93c Rn. 5 – 9. 61 Zum Anteil der Kammerentscheidungen an den Erledigungen durch das BVerfG o. Fn. 18. 62 Aber auch hier gilt die Regel nicht ohne – zum Teil sogar krasse – Ausnahmen; um eine solche handelt es sich etwa bei dem schon ob seiner Länge ungewöhnlichen Nichtannahmebeschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG vom 27. Juni 2006 – 2 BvR 1392 / 02 –, BVerfGK 8, 285 – 302, der überdies zahlreiche Nachweise aus rechtstatsächlichen Untersuchungen (S. 289 f.) sowie zu einfachrechtlichen Auslegungsfragen enthält (S. 290 f., 292, 293 f., 294 ff., 298 ff.). 63 Ein – seltenes – Gegenbeispiel, in dem der Senat eine bis dato nur auf Kammerebene verfolgte Rechtsprechungslinie zur Ehre der Senatsjudikatur erhebt: BVerfGE 111, 147 (157) – „Synagogenbau“ [2004], unter Rekurs namentlich auf BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, DVBl. 2001, 558; NJW 2001, 2071; NJW 2001, 2074; NVwZ 2004, 91. Den Umstand, dass derselbe Berichterstatter sowohl die betreffenden Kammerentscheidungen als auch die Senatsentscheidung [vor]formuliert haben dürfte, wird man nicht außer Betracht lassen dürfen. In Folgeentscheidungen der für die Fragen der Versammlungsfreiheit zuständigen Kammer kann sodann wieder auf den Senat, namentlich auf den soeben zitierten Senatsbeschluss,
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Matthias Jestaedt
e) Damit komme ich zum fünften und letzten Aspekt, dem ich zugleich den Schlussgedanken meiner Überlegungen zur verfassungsgerichtlichen Zitierpraxis widmen möchte: Es handelt sich um die Zuschärfung des jedem Zitat anhaftenden Problems der Dekontextualisierung, also des Umstandes, dass die in Bezug genommene Aussage aus ihrem Ursprungskontext herausgetrennt, in einen neuen Kontext überführt und dort mit anderen Aussagen zu einem neuen Ganzen amalgamiert wird. Zwei für die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts eigentümliche Umstände können dafür namhaft gemacht werden: Zum einen nehmen die Selbstzitate des Gerichts grundsätzlich nur auf den fallabgewandten „Maßstäbeteil“ Bezug.64 Damit werden – übrigens ganz im Gegenteil zu den Case Law-Strategien der „stare decisis“ und des „distinguishing“65 – die konkreten Umstände des Falles, das besondere tatsachenbehaftete Kolorit der Rechtsfrage, der entscheidungsrelevante Sachverhalt, für den oder doch zumindest angesichts dessen die rechtsmaßstäblichen Überlegungen entwickelt worden sind, in der Zitierpraxis systematisch ausgeblendet.66 Und zum anderen zitiert das Bundesverfassungsgericht sich, soweit irgend möglich, nach der eigenen, von den Mitgliedern des Gerichts herausgegebenen Entscheidungssammlung „BVerfGE“. Fundstellen darin werden aber lediglich nach Band- und Seitenzahl angegeben. Eine Jahreszahl, die die Entstehungszeit der Entscheidung erkennen ließe und damit deren historische Verortung ins Bewusstsein höbe, wird – auch dies anders als beim U.S. Supreme Court67 – nicht hinzugefügt.68 So reiht das Bundesverfassungsgericht in seinen zahlreichen „string rekurriert werden. Im Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG vom 19. Dezember 2007 – 1 BvR 2793 / 04 – etwa heißt es zu Beginn der Begründetheitsausführungen: „Die Verfassungsbeschwerde ist zur Entscheidung anzunehmen, weil dies zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers aus Art. 8 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93b Satz 1 i. V. m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zur Versammlungsfreiheit bereits entschieden (vgl. BVerfGE 69, 315 [342 ff.]; 90, 241 [246 ff.]; 111, 147 [154 ff.])“ (Rn. 12) (abrufbar unter: http://www. bverfg.de/entscheidungen/rk20071219_1bvr279304.html). 64 Dazu oben bei und in Fn. 17. 65 Eine Präjudizienbindung besteht nach angloamerikanischem Rechtsverständnis nur dann und nur insoweit, wenn und als die rechtserheblichen Tatsachen des präjudizbildenden Falles jenen des zur Entscheidung anstehenden Falles entsprechen; ist hingegen die relevante Tatsachenbasis eine unterschiedliche, hat dies der Richter argumentativ in Gestalt des „distinguishing“ geltend zu machen („non est simile“). Die „ratio decidendi“ des Präjudizes entfaltet dann nicht ihre Bindungswirkung für den – vom Tatsächlichen her anders liegenden – Fall. Dazu näher Reinhardt (Fn. 56), S. 254 ff. 66 Näher Lepsius (Fn. 17), S. 111 – 113. 67 Der U.S. Supreme Court etwa wird nach Bandzahl, Angabe der Entscheidungssammlung (insbes. durch das Kürzel „U.S.“ für „United States Reports“), die Anfangsseite und das Entscheidungsjahr (in Klammern) nachgewiesen; so wird das Urteil re Gonzales v. Raich wie folgt zitiert: Gonzales v. Raich, 545 U.S. 1 (2005). 68 Abweichendes ergibt sich nur bei den jeweils aktuellsten Judikaten, die noch nicht nach der amtlichen Entscheidungssammlung angegeben werden können, sondern – zunächst – nach der Internetfundstelle (http: // www.bundesverfassungsgericht.de / entscheidungen / [Entscheidungsdatum und Aktenzeichen]/html) zitiert werden. – Die im vorliegenden Beitrag im
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cites“ von jeher Entscheidung an Entscheidung, völlig unbekümmert darum, ob die Judikate denn auch nur halbwegs derselben Rechtsprechungsepoche entstammen, ob sie unter den heute obwaltenden Umständen noch so ohne weiteres fortgeschrieben werden können usf. Es kommt also einerseits zu einer gleichsam akontextuellen und andererseits zu einer ahistorischen Praxis des Selbstzitates – auch ein Umgang mit der eigenen Geschichte im Mittel des Zitats. Darin liegt freilich kein Versehen, sondern Methode, denn die Doppelstrategie der Dekontextualisierung auf der einen und der Dehistorisierung der in Bezug genommenen Rechtsansichten der eigenen Judikatur auf der anderen Seite erlauben es dem Gericht, seine eigene Rechtsprechung zu dogmatisieren.69 Und darin, in der Dogmatisierung der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, gründen, gleichviel wie man dies inhaltlich bewerten mag, in nicht zu unterschätzender Weise der außergewöhnliche Erfolg und das beispiellose Ansehen, die das Bundesverfassungsgericht (übrigens weit über Deutschland hinaus) in Theorie und Praxis, bei Juristen und Nichtjuristen genießt.
Anschluss an die Fundstelle aus der amtlichen Sammlung in eckigen Klammern hinzugefügten Jahresangaben gehören also nicht zum „amtlichen“ Nachweis. 69 Zum Zusammenhang von (Selbst-)Dogmatisierung und „Unfehlbarkeit“: Depenheuer, in: Ziemske, Staatsphilosophie und Rechtspolitik, 1997, S. 485 ff.
Der Justizgewährungsanspruch Von Hartmut Maurer
I. Grundlagen Der Justizgewährungsanspruch vermittelt dem Bürger einen Anspruch auf gerichtliche Entscheidung zur Verteidigung und Durchsetzung seiner Rechte. Dabei sind zwei Grundkonstellationen zu unterscheiden. Zum einen geht es um den Rechtsschutz des Bürgers gegen die öffentliche Gewalt und damit gegen den Staat und zum anderen um den Rechtsschutz in zivilrechtlichen Streitigkeiten zwischen zwei oder mehreren Bürgern. Die folgenden Ausführungen behandeln unter dem Aspekt des Justizgewährungsanspruchs vor allem die zweite Alternative, stoßen dabei aber auch immer wieder auf den Rechtsschutz gegen staatliche Maßnahmen. Sie können sich an die wissenschaftlichen Arbeiten des Jubilars anschließen, der durch zahlreiche Beiträge das Prozessrecht maßgeblich gefördert und bereichert hat.1 Die beiden Varianten, der Rechtschutz gegen den Staat und der Rechtsschutz in zivilrechtlichen Streitigkeiten, unterscheiden sich durch ihre Rechtsgrundlagen, ihre präjudizierende historische Entwicklung und ihre derzeitige sachliche und rechtliche Ausrichtung.
1. Rechtsgrundlagen Der Rechtsschutz gegen die öffentliche Gewalt ist in Art. 19 Abs. 4 GG ausdrücklich verfassungsrechtlich geregelt und abgesichert. Art. 19 Abs. 4 GG stellt eine Konkretisierung des allgemeinen Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3, 28 Abs. 1 S. 1 GG) dar, geht aber nicht im Rechtsstaatsprinzip auf, sondern erhält durch seine Struktur als subjektives Grundrecht und seine verfassungsrechtlich festgelegten Tatbestandsmerkmale und Rechtsfolgen seine eigene Prägung. Gegen1 Vgl. dazu die Literaturübersicht am Ende dieser Festschrift. Hervorzuheben ist vor allem der von ihm mit herausgegebene und weitgehend auch selbst bearbeitete Groß- und Standardkommentar zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz (Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Kommentar, Loseblattsammlung, Stand April 2008; speziell zum Thema dieses Beitrags: Bethge, NJW 1982, 1 ff.; ders., KritV 1990, 9 ff.; ders., NJW 1991, 2391, 2393 ff.; ders., Festschrift Isensee, 2007, S. 625 f.
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stand des Rechtsschutzes sind hoheitliche Maßnahmen und damit öffentlich-rechtliche Streitigkeiten. Die zweite Alternative, der Rechtsschutz bei Streitigkeiten zwischen zwei Privatpersonen, ist im Grundgesetz nicht ausdrücklich geregelt. Das BVerfG2 und die h.L.3 folgern aber aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG)4 eine Justizgewährungspflicht des Staates, die über Art. 2 Abs. 1 GG als Justizgewährungsanspruch geltend gemacht werden kann. Das Rechtsstaatsprinzip verpflichtet den Staat, für die Einhaltung der Rechtsordnung und den Frieden innerhalb des Staates und zwischen den Bürgern zu sorgen und zu diesem Zweck eine funktionierende Gerichtsbarkeit bereitzustellen. Diese Justizgewährungspflicht erhält über Art. 2 Abs. 1 GG ihre subjektive, den Bürger berechtigende Ausrichtung. Neben Art. 2 Abs. 1 GG kommen ggf. weitere Grundrechte in Betracht, etwa Art. 3 Abs. 1 GG (Rechtsschutzgleichheit), 5 aber auch Einzelgrundrechte, etwa Art. 14 Abs. 1 GG (Eigentumsgarantie). 6 Die Bezugnahme auf Art. 2 Abs. 1 GG ist übrigens nicht ganz unproblematisch, da er ein allgemeines Freiheitsrecht begründet, der Justizgewährungsanspruch aber einen Leistungsanspruch darstellt.7 Diesem und weiteren Problemen8 entgeht man, wenn man mit Ramsauer9 annimmt, dass mit der Einräumung subjektiver Rechte durch den Staat auch deren rechtliche Verteidigung und Durchsetzung mit Hilfe der Gerichte verbunden ist. Das hängt freilich wiederum vom Begriff des subjekVgl. vorerst nur BVerfGE 54, 277 (291 f.); 85, 337 (349 ff.); näher unten unter III. Vgl. zu diesem Anspruch aus der Literatur Dütz, Rechtsstaatlicher Gerichtsschutz im Privatrecht, 1970, S. 95 ff.; Papier, in: Isensee / Kirchhof, HStR VI, 1989, § 153; Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 188 ff.; Lorenz, AöR 105 (1980), 623 ff.; Detterbeck, AcP 192 (1992), 325 ff.; Schumann, ZZP 81 (1968), 79 ff.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 19 IV (2003) Rn. 16 ff.; Ramsauer, AK-GG, Art. 19 IV (2001) Rn. 27 ff.; Ibler, Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 19 IV (2000) Rn. 360; Rosenberg / Schwab / Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl. 2004, S. 16 f. (dort Justizanspruch genannt); Schilken, Gerichtsverfassungsrecht, 3. Aufl. 2003, S. 85 ff.; Brehm, in: Stein / Jonas, ZPO, Bd. 1, 2003, Einleitung Rn. 284 ff. 4 Das Bundesverfassungsgericht zitiert in diesem Zusammenhang fast durchweg Art. 20 Abs. 3 GG. Genau genommen bestimmt diese Vorschrift nur die Verfassungs- und Gesetzesbindung und betrifft damit nur einen, allerdings wesentlichen Teil des Rechtsstaatsprinzips, das durch weitere Vorschriften des Grundgesetzes geprägt wird und insgesamt als übergreifender Verfassungsgrundsatz gilt (vgl. BVerfGE 2, 380 (403)). Im Anschluss an die Rechtsprechung des BVerfG zum Justizgewährungsanspruch wird jedoch diese Kurzformel auch hier übernommen. 5 BVerfGE 81, 347 (356). 6 Vgl. Bethge, KritV 1990, 16; zutreffend lehnt Bethge neben Art. 19 Abs. 4 GG eine solche Bezugnahme auf materiell-rechtliche Grundrechte ab (a. a. O., S. 14 f.), einschränkend nunmehr auch BVerfGE 101, 106 (122). 7 Vgl. Maurer, Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. II, 2001, S. 492. 8 Vgl. Huber, in: von Mangoldt / Klein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, 5. Aufl. 2005, Art. 19 Rn. 355; Scholz, Gedächtnisschrift Grabitz, 1995, S. 725 ff. 9 Ramsauer (Fn. 3), Rn. 27. 2 3
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tiven Rechtes ab, nämlich davon, ob die „Wehrfähigkeit“ nicht nur Folge, sondern Voraussetzung und Teil des subjektiven Rechts ist. Darauf ist hier nicht weiter einzugehen. Nach der oben vertretenen Abgrenzung bezieht sich die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG auf öffentlich-rechtliche Streitigkeiten und der Justizgewährungsanspruch auf zivilrechtliche Streitigkeiten. Davon konnte man auch nach der ursprünglichen Rechtsprechung des BVerfG ausgehen. Durch die neuere Rechtsprechung wird diese sachliche Abgrenzung jedoch relativiert und damit zweifelhaft. Art. 19 Abs. 4 GG stellt danach eine Spezialregelung des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs dar;10 kommt er nicht zum Zuge, dann ist die Anwendbarkeit des weitergehenden Justizgewährungsanspruchs zu prüfen. Zugleich hat das BVerfG – in Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung – Rechtschutz gegen bestimmte Richterakte bejaht, aber die Anwendbarkeit des Art. 19 Abs. 4 GG gleichwohl verneint, weil der Begriff „öffentliche Gewalt“ im Sinne dieser Vorschrift nur Exekutivakte, nicht Richterakte erfasse.11 Die Verlagerung der (öffentlich-rechtlichen) Richterakte auf den allgemeinen Justizgewährungsanspruch ist jedoch auf Kritik und Ablehnung gestoßen. Darauf ist noch zurückzukommen.12 Damit ergeben sich auch terminologische Schwierigkeiten. Wenn der Rechtsschutz des Bürgers gegen den Staat nicht mehr durchweg durch Art. 19 Abs. 4 GG, sondern teilweise auch durch den Justizgewährungsanspruch vermittelt wird, dann müsste man zwischen dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch, der beide Anspruchsvarianten erfasst, und dem besonderen Justizgewährungsanspruch, der sich auf den von Art. 19 Abs. 4 GG nicht erfassten Bereich beschränkt, unterscheiden. Wie dem auch immer sei. Im Folgenden wird der Justizgewährungsanspruch auf den zuletzt genannten Bereich bezogen.13 In beiden Fällen handelt es sich um einen öffentlich-rechtlichen, an den Staat bzw. die staatlichen Gerichte gerichteten Anspruch, der entweder im öffentlich-rechtlichen Bereich oder im zivilprozessualen Bereich wirksam wird. 2. Historische Aspekte Ein wesentliches Merkmal des neuzeitlichen Staates, der sich im 16. / 17. Jahrhundert herausgebildet hatte, war seine Funktion, den Frieden im Inneren zu sichern und zu erhalten. Sie richtete sich in den Anfangsjahren gegen das überhandnehmende Fehdewesen, die eigenmächtige gewaltsame Durchsetzung tatsächSo BVerfGE 107, 395 (403); Ramsauer (Fn. 3), Rn. 28; Huber (Fn. 3), Rn. 353. So BVerfGE 107, 401 ff.; vgl. ferner BVerfGE 116, 135 (149 f.): Rechtschutz gegen privatrechtsförmiges Verwaltungshandeln erfolgt nicht nach Art. 19 Abs. 4 GG, sondern nach dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch. 12 Vgl. dazu unten III 2. 13 Vgl. dazu auch Stern, Staatsrecht II, 1980, S. 920. 10 11
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licher oder vermeintlicher Rechte und die durch die religiösen Auseinandersetzungen bedingten bürgerkriegsähnlichen Konflikte und gab dem damals absolut regierenden Landesfürsten seine Legitimität. Die dazu eingesetzten Mittel waren die für alle Bürger gleichermaßen geltende Friedenspflicht und das sich daraus ergebende Selbsthilfeverbot, was freilich nur dann letztlich durchsetzbar war, wenn der Staat seinerseits bereit und in der Lage war, die Rechte seiner Bürger zu verteidigen und notfalls zwangsweise durchzusetzen. Daraus entwickelte sich das sog. Gewaltmonopol des Staates, wonach nur der Staat Gewalt einsetzen durfte, aber auch einsetzen musste, wenn es um die Rechte seiner Bürger ging. Friedenssicherungspflicht des Staates, Selbsthilfeverbot der Bürger und Gewährleistung ausreichenden Rechtsschutzes für den Bürger durch staatliche Gerichte und Vollstreckungsorgane ergänzten und bedingten sich gegenseitig. In der Praxis hat sich die staatliche Justizgewähr auch zunehmend durchgesetzt.14 Zu einer ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Gewährleistung ist es nicht gekommen; soweit ersichtlich auch nicht in den konstitutionellen Verfassungen des 19. Jahrhunderts.15 Die rechtlichen Regelungen über die Gerichtsverfassung und das gerichtliche Verfahren stellten aber ausreichende Sicherungen dar. Den Abschluss der Entwicklung brachten die 1877 / 79 erlassenen Reichsjustizgesetze (Zivilprozessordnung, Strafprozessordnung und Gerichtsverfassungsgesetz), die auch heute noch im Wesentlichen maßgebend sind.16 Anders verlief die Entwicklung beim Rechtsschutz des Bürgers gegen den Staat. Der Staat, d. h. der Monarch und seine Verwaltung, wurden durch die die Justizgewährung im zivilprozessualen Bereich tragenden Grundsätze der Friedenspflicht und des Selbsthilfeverbotes nicht betroffen, sondern umgekehrt durch das Gewaltmonopol sogar gestärkt. Er konnte seine Forderungen und Anordnungen selbst feststellen und kraft seines Gewaltmonopols auch selbst durchsetzen. Der Staat war nicht, wie in den bürgerlichrechtlichen Streitigkeiten, Schiedsrichter zwischen zwei streitenden Parteien, sondern Akteur in eigener Sache. Die Reichsgerichte (Reichskammergericht und Reichshofrat), die auch bei Klagen gegen die Landesherrn zu entscheiden hatten,17 bestanden zwar bis zum Ende des alten Deutschen Reichs 1806, verloren aber aus verschiedenen Gründen ihre Bedeutung. Die Landesgerichte entschieden nur gelegentlich über Klagen gegen Behörden, überhaupt nicht gegen den Landesherrn selbst. Im Übrigen war allenfalls „Rechtsschutz“ 14 Vgl. dazu E. Kern, Der gesetzliche Richter, 1927; Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz in Preußen von 1949 bis 1842, 1962; Sellmann, in: Külz / Naumann, Staatsbürger und Staatsgewalt, Bd. I, 1963, S. 25 ff.; Stern (Fn. 13), § 33 I (S. 373 ff.). 15 Bemerkenswert ist aber, dass die die Deutsche Bundesakte von 1815 ergänzende Wiener Schlussakte von 1820 und die Reichsverfassung 1871, die sonst kaum oder keine Grundrechte kannten, die Justizgewähr mittelbar einbezogen, indem sie im Falle der landesinternen „Justizverweigerung“ dem Betroffenen das subjektive Recht einräumten, die Bundesversammlung bzw. den Bundesrat anzurufen (Art. 29 WSA bzw. Art. 77 RVerf 1871). 16 Vgl. E. Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, 1954, S. 86 ff.; Dütz (Fn. 3), S. 23 ff.; Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, 5. Aufl. 2008, S. 376. 17 Vgl. die Nachw. Fn. 14.
Der Justizgewährungsanspruch
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durch Beschwerden bei Verwaltungsbehörden zu erreichen (sog. Administrativjustiz).18 Gegen sie wandte sich die (nicht rechtswirksam gewordene) Frankfurter Reichsverfassung von 1849, indem sie in § 182 bestimmte: „Die Verwaltungsrechtspflege hört auf, über alle Rechtsverletzungen entscheiden die Gerichte.“ Erst seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kam es zur Errichtung von Verwaltungsgerichten in den Ländern, die aber – in heutiger Sicht – noch erhebliche rechtsstaatliche Defizite aufwiesen, da meistens die Zuständigkeit durch das sog. Enumerationsprinzip beschränkt und die unteren Ebenen der Verwaltungsgerichtsbarkeit mit den Verwaltungsbehörden personell oder sogar institutionell verknüpft waren.19 Daran änderte sich auch in der Weimarer Zeit – trotz der verfassungsrechtlichen Garantie der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Art. 107 WRV – nicht viel. Durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft ist auch der gerichtliche Rechtsschutz missachtet und verdrängt worden. Das Grundgesetz wollte nicht nur zur nationalsozialistischen Zeit einen deutlichen Kontrapunkt setzen, sondern auch die vorhergehende Entwicklung weiterführen. Art. 19 Abs. 4 GG gewährt ohne Wenn und Aber einen umfassenden, lückenlosen Rechtsschutz gegen die öffentliche Gewalt. In der Literatur ist er dementsprechend auch auf deutliche, teilweise sogar begeisterte Zustimmung gestoßen. So bezeichnete Richard Thoma, der zu den großen Staatsrechtslehrern der Weimarer Zeit gehörte, Art. 19 Abs. 4 GG „als Schlußstein im Gewölbe des Rechtsstaats“.20 Es gab aber auch zurückhaltende und skeptische Stimmen.21 Die positiven bzw. skeptischen Einschätzungen schlagen sich verständlicherweise auch in der Auslegung des Art. 19 Abs. 4 GG nieder.22 3. Das „Gewaltmonopol“ in der Gegenwart Die historische Entwicklung weist auf Unterschiede hin, die nicht nur zeitbedingt sind, sondern auch auf rechtlichen und sachlichen Gründen beruhen, die heute noch relevant sind. Zu Recht wird in der Rechtsprechung und Literatur zur Begründung des Justizgewährungsanspruchs auch heute noch auf das staatliche Gewaltmonopol einerseits und das Friedensgebot und Selbsthilfeverbot der Bürger andererseits hingewiesen.23 Dabei wird allerdings nicht immer hinreichend differenziert und beachtet, dass sich das staatliche Gewaltmonopol in diesen ZusamVgl. dazu die Nachw. Fn. 14. Vgl. Rüfner, in: Jeserich / Pohl / v. Unruh, Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 3, 1984, S. 909 ff. 20 Thoma, in: Wandersleben, Recht, Staat, Wirtschaft, 1951, S. 9; vgl. ferner die positiven Einschätzungen in der Literatur bei Bethge, KritV 1990, 11. 21 Vgl. die Nachweise bei Schenke, in: BK, Art. 19 IV (1982) Rn. 24. 22 Vgl. dazu z. B. die Referate mit Diskussion bei Götz / Klein / Starck, Die öffentliche Verwaltung zwischen Gesetzgebung und richterlicher Kontrolle, 1985. 23 Vgl. etwa BVerfGE 54, 277 (292); 81, 347 (356); Bethge, NJW 1991, 2393; SchmidtAßmann (Fn. 3), Art. 19 IV Rn. 16; Ramsauer (Fn. 3), Rn. 27. 18 19
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menhängen unterschiedlich auswirkt. In zivilrechtlichen Streitigkeiten dient es den Interessen des rechtsschutzsuchenden Bürgers, der zwar wegen des Selbsthilfeverbotes seine tatsächlichen oder vermeintlichen Rechte nicht eigenmächtig durchsetzen darf, dafür aber als Pendant die staatlichen Gerichte und Vollstreckungsorgane in Anspruch nehmen kann und über diese zum Erfolg kommt. Im Staat-BürgerVerhältnis wirkt das Gewaltverbot zunächst einmal zugunsten des Staates. Er kann seine Forderungen und Rechte kraft seines Gewaltmonopols selbst durchsetzen, etwa durch Erlass eines Verwaltungsakts und dessen zwangsweise Durchsetzung. Die für das öffentliche Recht typische Über-Unter-Ordnung im Staat-Bürger-Verhältnis prägt auch den Rechtsschutz. Sie ist zwar gegenüber früheren Zeiten durch die zunehmende Kooperation zwischen Staat und Bürger abgebaut worden, besteht aber noch und wirkt mittelbar (mental) selbst in den Vertrags- und Kooperationsverhältnissen weiter. Sicher ist der Staat bei der Wahrnehmung seines „Gewaltmonopols“ rechtlich gebunden; aber der Bürger muss im Streitfall die Initiative ergreifen und gegen den Staat die Gerichte anrufen, wenn er meint, dass die staatliche Maßnahme seine Rechte verletzt.24 Die historische Entwicklung und die derzeitigen Gegebenheiten zeigen, dass Rechtsstreitigkeiten zwischen den Bürgern und Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Bürger und dem Staat erhebliche Unterschiede aufweisen. Im Zivilprozess setzt sich die zivilrechtliche Koordination zwischen den Bürgern fort, im Verwaltungsprozess steht der Bürger trotz formeller Gleichstellung als Prozesspartei dem „übermächtigen“ Staat gegenüber. Das besondere, historisch indizierte und auch heute noch bestehende Schutzbedürfnis des Bürgers gegenüber dem Staat soll durch Art. 19 Abs. 4 GG aufgefangen werden. Das ist sowohl bei der Auslegung des Art. 19 Abs. 4 GG als auch bei den diesen konkretisierenden prozessrechtlichen Vorschriften zu beachten. Das Prozessrecht reagiert darauf auch, wie z. B. die spezifischen und daher teilweise unterschiedlichen Verfahrensgrundsätze zeigen, etwa der Verhandlungsgrundsatz im Zivilprozess einerseits und der Untersuchungsgrundsatz im Verfassungs- und Verwaltungsprozess andererseits.25
II. Die Ausgestaltung des Justizgewährungsanspruchs Da der Justizgewährungsanspruch im Grundgesetz nicht ausdrücklich geregelt ist, sondern aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet wird und daher – anders als die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG – tatbestandlich nicht präzisiert ist, bedarf er noch der Konkretisierung und Ausgestaltung. Dazu liegt eine umfang24 Es sei nur auf die Konstruktion des Verwaltungsaktes und die damit verbundene Anfechtungsklage verwiesen. 25 Vgl. dazu Lorenz, Verwaltungsprozessrecht, 2000, S. 510 ff.; Würtenberger, Verwaltungsprozessrecht, 2. Aufl. 2006, Rn. 566; Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 7. Aufl. 2008, § 35 Rn. 21; Rosenberg / Schwab / Gottwald (Fn. 3), S. 479 ff.; Mühl, Gedächtnisschrift R. Bruns, 1980, S. 145 ff.; Stürner, Festschrift Baur, 1981, 647 ff.
Der Justizgewährungsanspruch
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reiche Rechtsprechung des BVerfG vor, die zunächst und auch heute noch überwiegend zivilrechtliche Streitigkeiten erfasst (dazu unten 1), neuerdings aber auch gelegentlich öffentlich-rechtliche Streitigkeiten einbezieht (dazu unten 2). Problematisch ist ferner die Einordnung der privatrechtlichen Tätigkeit der staatlichen Verwaltung (dazu unten 3).
1. Zivilrechtliche Streitigkeiten a) Überblickt man die Rechsprechung des BVerfG, dann fällt auf, dass die Bezeichnung „Justizgewährungsanspruch“ als Anspruch auf gerichtlichen Rechtsschutz erst relativ spät auftaucht,26 dann aber bald ziemlich häufig erscheint.27 Dazu kommt – auch schon früher – eine ganze Reihe von Entscheidungen, die zwar den Justizgewährungsanspruch nicht ausdrücklich erwähnen, ihn aber in der Sache zugrunde legen. Das gilt bereits für die Plenarentscheidung vom 11. 06. 1980, in der das Gericht ausführt, dass aus dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes „auch für bürgerlichrechtliche Streitigkeiten im materiellen Sinn die Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes abzuleiten“ sei, der „die grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstandes und eine verbindliche Entscheidung durch einen Richter ermöglichen“ müsse.28 In weiteren Entscheidungen ist vom Recht oder sogar vom Grundrecht auf wirksamen Rechtschutz die Rede, damit aber der Justizgewährungsanspruch gemeint, wie die Bezugnahme auf frühere Entscheidungen belegt.29 b) Inhaltlich fordert der Justizgewährungsanspruch, dass im konkreten Streitfall der Rechtsweg (Gerichtsweg) eröffnet ist und eine gerichtliche Entscheidung erreicht werden kann. Dementsprechend umfasst er nach der st. Rspr. des BVerfG (1) den Zugang zu einem Gericht, (2) die umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstandes in einem förmlichen Verfahren und (3) eine verbindliche Entscheidung des Gerichts.30 Er betrifft also das Tätigwerden des 26 Genau genommen erst in BVerfGE 85, 337 (345). – Schon vorher hat das BVerfG unter Bezugnahme auf den Justizgewährungsanspruch erklärt, dass die Richtervorlage gem. Art. 100 Abs. 1 GG nur zulässig sei, wenn das vorlegende Gericht die Verfassungswidrigkeit und Entscheidungserheblichkeit der konkreten Norm geprüft und bejaht habe, da die Vorlage zu einer Verzögerung des Verfahrens führe und daher den verfassungsrechtlichen Justizgewährungsanspruch verletze, so BVerfGE 78, 165 (178); ebenso BVerfGE 86, 71 (76 f.). Der Hinweis auf den Justizgewährungsanspruch ist in diesem Zusammenhang an sich überflüssig, da sich diese Prüfungspflicht bereits aus Art. 100 Abs. 1 GG ergibt; er ist offenbar mehr als zusätzliche Begründung und als Appell an die vorlegenden Richter gedacht (vgl. dazu die abschließende Bemerkung in BVerfGE 78, 165). 27 BVerfGE 97 (169, 185); 101, 275 (294 f.); 107, 395 (401 ff.); 108, 341 (347 ff.); 116, 135 (150 ff.); 119, 292 (296 f.); ferner im Zusammenhang mit Art. 19 Abs. 4 GG BVerfGE 80, 103 (107); 110, 339 (342); 115 (381, 390). 28 BVerfGE 54, 277 (291). 29 Vgl. etwa BVerfGE 84 (366, 369); 88, 118 (123); 93, 99 (107); 97, 169 (185).
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Gerichts nach Maßgabe der Prozessordnung.31 Häufig findet sich auch die Formel, der Justizgewährungsanspruch begründe einen „wirkungsvollen Rechtschutz“, der „nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden“ dürfe.32 c) Gegenstand des Justizgewährungsanspruchs können schwerwiegende Verstöße sein, etwa die gesetzliche Beschränkung der gerichtlichen Zuständigkeit, die Verweigerung des Rechtsschutzes durch das zuständige Gericht, die Einflussnahme der Exekutive usw. Diese Beispiele sind freilich nur noch historisch interessant, derzeit nicht mehr aktuell. Lediglich die Verzögerung der Entscheidung durch eine zu lange Verfahrensdauer, die meistens mit der Überlastung des Gerichts begründet wird, wird immer wieder gerügt.33 Sie stellt eine temporäre Justizverweigerung dar, die gegen den Justizgewährungsanspruch verstößt. Ferner geht es in der Rechtsprechung beispielsweise um Regelungen über die Gerichts- und Anwaltsgebühren, die wegen ihrer Höhe möglicherweise minderbemittelte Personen von der Klageerhebung abhalten könnten,34 oder um Fristbestimmungen, die wegen ihrer zu engen, teilweise sogar kleinkarierten Auslegung durch das Prozessgericht das Rechtschutzbegehren scheitern ließen.35 d) Der Justizgewährungsanspruch setzt institutionell eine funktionierende Gerichtsbarkeit gem. Art. 92 ff. GG voraus.36 Der Staat (die Justizverwaltung) ist verpflichtet, nicht nur die erforderlichen Gerichte einzurichten, sondern sie auch in personeller und sachlicher Hinsicht so auszustatten, dass sie ihre Aufgaben wahrnehmen, insbesondere innerhalb einer angemessenen Frist entscheiden können. Die Frage, welche Sanktionen die dadurch bedingten Verzögerungen auslösen, kann hier nicht mehr behandelt werden, zumal sie stark vom Einzelfall abhängen. Es sei aber doch noch darauf hingewiesen, dass nach der neueren Rechtsprechung des BGH auch ein Anspruch auf Schadensersatz nach Amtshaftungsgrundsätzen oder auf Entschädigung wegen enteignungsgleichen Eingriffs in Betracht kommt.37 30 So mit etwas wechselnden Formulierungen BVerfGE 54, 277 (291); 85, 337 (345); 97, 169 (185); 107, 395 (401); 117, 71 (122). 31 So M. Wolf, Gerichtsverfassungsrecht aller Verfahrenszweige, 6. Aufl. 1987, S. 264; der von ihm noch besonders erwähnte „Anspruch auf effektiven Rechtsschutz“ deckt sich mit dem Justizgewährungsanspruch, betont aber die Wirksamkeit des Rechtsschutzes. Dagegen erfasst der in der Zivilprozessrechtslehre diskutierte „Rechtsschutzanspruch“ einen Anspruch auf eine positive Entscheidung bei Vorliegen der prozessualen und materiell-rechtlichen Voraussetzungen, vgl. Wolf a. a. O., S. 267; Detterbeck, AcP 192 (1992), 333 ff. 32 BVerfGE 52, 203 (207); BVerfG-K DVBl. 2008, 41; BGH NJW-RR 2008, 1290 jeweils mit weiteren Nachw. 33 Vgl. BVerfGE 36, 264 (271 ff.); BVerfG NJW 1997, 2811; NJW 2000, 797; NJW 2006, 668; BGHZ 170, 260 (266 ff.); Lansnicker / Schwirtzek, NJW 2001, 1969 ff.; Dörr, Jura 2004, 337 (mit dem Vorschlag einer Beschleunigungsbeschwerde). 34 Vgl. etwa BVerfGE 80, 103 (107); 85, 337 (345 ff.); 118, 1 (14 ff.). 35 Vgl. etwa BVerfGE 88, 118 (123); 93, 99 (107); 101, 275 (295); 115, 381 (390). 36 Bethge, NJW 1991, 2395; Detterbeck, AcP 192 (1992), 328 ff. 37 Vgl. BGHZ 170, 266 ff., 272 ff.
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2. Öffentlich-rechtliche Streitigkeiten Eine wesentliche Erweiterung über den Bereich der zivilrechtlichen Streitigkeiten hinaus erfuhr der Justizgewährungsanspruch durch den Plenarbeschluss des BVerfG vom 30. 04. 2003 (BVerfGE 107, 395) zum Rechtschutz gegen Rechtsprechungsakte der Gerichte.38 Bislang hatte das BVerfG mit der von Dürig geprägten Formel, dass Art. 19 Abs. 4 GG „Rechtsschutz durch den Richter, nicht gegen den Richter“ gewähre,39 die Anwendbarkeit der Rechtsschutzgarantie auf Art. 19 Abs. 4 GG für Rechtsprechungsakte generell ausgeschlossen.40 Das erschien im Blick auf die Funktion der Rechtsprechung, einen Rechtsstreit im Interesse der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens endgültig zum Abschluss zu bringen, überzeugend; denn dieses Ziel würde verfehlt, wenn endlos – ad infinitum – weiter prozessiert werden könnte und würde. Es gibt aber Konstellationen, in denen dieses Argument nicht mehr greift. Das ist dann der Fall, wenn ein Gericht erstmals gegen eine das Gerichtsverfahren betreffende Verfassungsvorschrift, insbesondere gegen Art. 103 Abs. 1 GG (rechtliches Gehör vor Gericht) verstößt. In diesem Fall muss der Verstoß gerichtlich überprüft werden können, da sonst eine Rechtsschutzlücke entstünde.41 Überraschend ist aber, dass das BVerfG nicht Art. 19 Abs. 4 GG heranzog, sondern auf den allgemeinen Justizgewährungsanspruch verwies. Diese Einordnung ist gerade auch bei den Autoren, die den (beschränkten) Rechtsschutz gegen Rechtsprechungsakte bejahen, auf Kritik gestoßen.42 Das BVerfG begründet seine Auffassung damit, dass der Begriff „öffentliche Gewalt“ im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG nur die Exekutive erfasse; es setzt also die öffentliche Gewalt mit der vollziehenden Gewalt gleich.43 Diese restriktive Auslegung ist jedoch nicht haltbar, zumindest nicht zwingend. Das zeigt sich, wenn man die üblichen Auslegungsmittel heranzieht, nämlich den Wortlaut (der Ausdruck öffentliche Gewalt erfasst üblicherweise die gesamte Staatsgewalt in allen ihren Äußerungen), die historische Auslegung (Art. 19 Abs. 4 GG schließt die mehrere Jahrhunderte dauernde Entwicklung zum umfassenden Rechtsschutz des Bürgers gegenüber dem Staat ab und kann daher nicht einfach dem Justiz38 Vgl. dazu Voßkuhle, NJW 2003, 2193 ff.; Redeker, NJW 2003, 2956; Dörr, Jura 2004, 334 ff.; kritisch W-R Schenke, JZ 2005, 116 ff. 39 Dürig, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 19 Abs. 4 (Erstfassung 1958) Rn. 17. 40 BVerfGE 11, 263 (265); 49, 329 (340); 96, 27 (39); ebenso ein Teil der Lehre, die gegenteiligen Stimmen nahmen aber zu, vgl. die Nachweise bei Maurer, Staatrecht, 5. Aufl. 2007, § 8 Rn. 30. 41 So zutreffend BVerfGE 107, 395 (407); vgl. dazu auch die Folgeentscheidungen BVerfGE 108 (341) und BVerfGE 119, 292, ferner das Anhörungsrügegesetz vom 9. 12. 2004 (BGBl. I S. 3220), das die geforderten prozessrechtlichen Regelungen eingeführt hat, etwa § 321 a ZPO, 152 a VwGO. 42 Vgl. Voßkuhle und Dörr, jeweils oben Fn. 38. 43 BVerfGE 107, 395 (404); vgl. ferner BVerfGE 116, 135 (149): Art. 19 Abs. 4 GG „soll Rechtschutz dort gewährleisten, wo der Einzelne sich zu dem Träger staatlicher Gewalt in einem Verhältnis typischer Abhängigkeit und Unterordnung befindet“.
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gewährungsanspruch gleichgesetzt werden), die systematische Auslegung (Art. 19 Abs. 4 GG fasst die in Art. 1 Abs. 3 GG genannten Staatsgewalten unter dem einheitlichen Begriff öffentliche Gewalt zusammen), die ratio legis (Art. 19 Abs. 4 GG zielt auf einen umfassenden lückenlosen Rechtsschutz, was nicht zuletzt auch die Subsidiaritätsklausel des Art. 19 Abs. 4 S. 2 GG bestätigt).44 Fraglich ist allenfalls die Entstehungsgeschichte, der jedoch – auch nach Auffassung des BVerfG – eine Einschränkung auf die vollziehende Gewalt „nicht zweifelsfrei zu entnehmen ist“.45 Die einschränkende Auslegung des Art. 19 Abs. 4 GG ist eher ein Produkt der Nachkriegsliteratur, die sich noch in der Diskussion über die Verwaltungsgerichtsbarkeit befand und in Art. 19 Abs. 4 GG eine verfassungsrechtliche Sicherung der verwaltungsgerichtlichen Generalklauseln der 1946 in den süddeutschen Ländern und 1948 in der damaligen britischen Besatzungszone erlassenen Verwaltungsgerichtsgesetze sah.46 Die Frage, ob diese Deutung damals haltbar oder wenigstens vertretbar war, kann hier dahingestellt bleiben. Die rechtsstaatliche Entwicklung der letzten 60 Jahre ist jedenfalls darüber hinweggegangen. Sie führte zu einem enormen Ausbau und einer weitgehenden Entfaltung der Grundrechte in sachlicher, rechtlicher, funktioneller und verfahrensmäßiger Hinsicht und zur durchgehenden Subjektivierung des Verfassungsrechts.47 Es liegt auf der Hand, dass sich diese Entwicklung auch auf den Rechtsschutz, insbesondere die Auslegung des Art. 19 Abs. 4 GG, der ebenfalls Grundrechtscharakter hat, auswirken musste. Das gilt umso mehr, als Art. 19 Abs. 4 GG selbst Motor und Träger dieser rechtsstaatlichen Entwicklung war und ist. Zudem waren die Gerichte schon bislang bei der Kontrolle von Exekutivmaßnahmen an die Verfahrensregelung des Art. 19 Abs. 4 GG gebunden und konnten insoweit ihrerseits (im Instanzenzug) gerichtlich überprüft werden.47a Ferner waren Verfassungsbeschwerden gegen solche Akte zulässig und oft auch begründet. Das Problem war, dass das BVerfG immer häufiger über Verfassungsbeschwerden gegen letztinstanzliche Verfassungsverfahrensverstöße (insbesondere gegen Art. 103 Abs. 1, aber auch gegen Art. 19 Abs. 4 GG) entscheiden musste, die an sich in den 44 Vgl. näher zur Auslegung des Art. 19 Abs. 4 GG Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 147 ff. 45 BVerfGE 107, 395 (405). 46 Vgl. dazu das Referat von Klein auf der Staatsrechtslehrertagung 1949, VVDStRL 8 (1950), 104 ff.; von Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, 1953, Art. 19 Rn. 6 (S. 121). – Klein stellte alle frühere und aktuelle Rechtschutzregelungen zusammen, kam dabei zum Ergebnis, dass sie sich auf den verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz beschränken, und zog daraus den Schluss, dass dies auch für Art. 19 Abs. 4 GG gelten müsse (vgl. a. a. O., S. 106 f.), obwohl er an früherer Stelle zu Recht Art. 19 Abs. 4 GG als „formelles Hauptgrundrecht“ bezeichnete und bewertete (S. 88). Die Auffassung Kleins blieb schon auf derselben Tagung nicht unwidersprochen, vgl. Frhr. v. d. Heydte, ebenda, S. 162 f. 47 Vgl. dazu Bethge, Festschrift Isensee (Fn. 1), S. 613 ff. 47a Vgl. Bethge, KritV 1990, 13.
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Bereich der Fachgerichtsbarkeit gehörten.48 BVerfGE 107, 395 ermöglicht und BVerfGE 108, 341 erzwingt eine in diese Richtung gehende Verlagerung. Als Weg bot sich die vorsichtige Öffnung des Rechtsschutzes gegen Richterakte an, der über Art. 19 Abs. 4 GG hätte gehen können und müssen, aber – wegen der bisherigen, zu engen Auslegung des Begriffs „Öffentliche Gewalt“ i. S. des Art. 19 Abs. 4 GG – über den allgemeinen Justizgewährungsanspruch ging, der zudem noch den Vorteil größerer Flexibilität zu bieten schien.49 Die viel zitierte Formel „Rechtschutz durch den Richter, nicht gegen den Richter“ wird durch diese neue Entwicklung nicht ganz verabschiedet. Sie darf nur nicht verabsolutiert und vor allem nicht an der falschen Stelle eingesetzt werden. Die gebotene Begrenzung wird nicht durch die einengende und verfehlte Auslegung des Tatbestandsmerkmals „öffentliche Gewalt“ in Art. 19 Abs. 4 GG erreicht, sondern über die der Rechtsprechung immanente Rechtskraft, die dem Rechtsstreit im Interesse der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens ein Ende setzt. Ein „endloser“ Rechtsstreit wäre ein Widerspruch in sich, weil er gerade das nicht erreichen würde, was er erreichen soll. Nach Art. 19 Abs. 4 GG genügt grundsätzlich eine (vollwertige) Instanz, was nicht ausschließt, dass der Gesetzgeber – sei es aus Rechtsschutzgründen, sei es aus weiteren Gründen (Einheitlichkeit der Rechtsprechung, Weiterentwicklung des Rechts, Sicherung der Verfassung) – weitere Instanzen vorzieht. Hinzuweisen ist noch darauf, dass das BVerfG die (beschränkte) Verlagerung des Rechtsschutzes gegen gerichtliche Entscheidungen nur annimmt, wenn die Gerichte rechtsprechend tätig werden, wenn sie „in ihrer typischen Funktion als neutrale Instanzen der Streitentscheidung“ handeln.50 Dagegen bleibt Art. 19 IV GG anwendbar, wenn sie aufgrund eines ausdrücklich normierten Richtervorbehalts funktionell vollziehende Aufgaben wahrnehmen, auch wenn dies in richterlicher Unabhängigkeit geschieht. Daher fällt z. B. die Bestellung eines Insolvenzverwalters durch den Richter in richterlicher Unabhängigkeit gem. § 56 Insolvenzordnung unter Art. 19 Abs. 4 GG.51
3. Privatrechtsförmiges Handeln der Verwaltung Fraglich ist im vorliegenden Zusammenhang noch die Einordnung der privatrechtlich handelnden Verwaltung. Sie steht gleichsam zwischen den beiden bislang erörterten Abschnitten, da es einerseits um staatliche, andererseits aber um 48 Eine ähnliche Problematik ergibt sich beim Rechtsschutz gegen Rechtsverordnungen des Bundes, vgl. dazu mit weiteren Nachweisen Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 17. Aufl. 2009, § 13 Rn. 21; Geis, Festschrift Bartlsperger, 2006, S. 215 ff. 49 Vgl. Voßkuhle, NJW 1993, 2196. 50 Vgl. BVerfGE 107, 395 (406); 116, 1 (10). 51 Vgl. BVerfGE 116, 1 (9 ff.).
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(zunächst) privatrechtlich zu beurteilende Maßnahmen geht. Traditionell werden typisierend drei Bereiche unterschieden, nämlich die Wahrnehmung von Aufgaben der Leistungsverwaltung (sog. Verwaltungsprivatrecht), die Beschaffung der für die Verwaltung erforderlichen Sachgüter und Dienstleistungen (Beschaffungs- oder Bedarfsdeckungsverwaltung) und die erwerbswirtschaftliche Tätigkeit (Teilnahme am allgemeinen Wirtschaftsleben).52 Die früher vertretene Auffassung, dass alle drei Bereiche nur privatrechtlich zu beurteilen seien, ist im Laufe der Zeit zunehmend abgebaut worden. Nach heutiger Auffassung erstreckt sich die Grundrechtsbindung des Art. 1 Abs. 3 GG auf alle staatlichen Äußerungen und Tätigkeiten, was freilich gewisse graduelle Unterschiede nicht ausschließt.53 Das gilt uneingeschränkt für den ersten Bereich (Verwaltungsprivatrecht), inzwischen auch überwiegend für den zweiten Bereich, lediglich im letzten Bereich bestehen noch gewisse Vorbehalte.54 Aus der Grundrechtsbindung folgt auch die Anwendbarkeit des Art. 19 Abs. 4 GG, der selbst Grundrechtscharakter hat. Damit wird allerdings nur Rechtsschutz garantiert, aber nicht der Rechtsweg präjudiziert. Art. 19 Abs. 4 GG ist insoweit offen; er verlangt nicht den Verwaltungsrechtsweg, sondern lässt auch den Zivilrechtsweg genügen.55 Dagegen hat das BVerfG in einer neueren Entscheidung über den Rechtsschutz im sog. unterschwelligen Vergaberecht die Anwendung des Art. 19 Abs. 4 GG verneint.56 Bemerkenswert ist zunächst, dass das Gericht auf die Frage, ob sich das unterschwellige Vergaberecht nach Zivilrecht oder nach öffentlichem Recht richtet, nicht eingeht. Es stellt vielmehr sogleich darauf ab, dass „das Grundrecht“ (sc. Art. 19 Abs. 4 GG) nur dort Rechtsschutz gewährleisten soll, „wo der Einzelne sich zu dem Träger staatlicher Gewalt in einem Verhältnis typsicher Abhängigkeit und Unterordnung befindet“.57 Das sei aber hier nicht der Fall, da der Staat lediglich als Nachfrager am Markt tätig werde und sich in dieser Rolle nicht grundlegend von anderen Marktteilnehmern unterscheide, so dass kein Anlass bestehe, seine Maßnahme als Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG einzuordnen.58 Die Literatur und ein Teil der Rechtsprechung sind hier schon längst weiter. Der Begriff der „Öffentlichen Gewalt“ i. S. des Art. 19 Abs. 4 GG wird durch diese Entscheidung noch einmal eingeschränkt und auf Maßnahmen der obrigkeitlichen Verwaltung reduziert. Als Alternative wird der allgemeine JustizgewährungsVgl. dazu Maurer (Fn. 48), § 3 Rn. 18 mit weiteren Nachw. Vgl. Stern, Staatsrecht, Bd. III / 1, 1988, S. 1411 ff.; Dreier, in: Dreier, Grundgesetz, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 1 III Rn. 65 ff.; Maurer (Fn. 48), § 3 Rn. 28. 54 Vgl. dazu Ibler (Fn. 3), Rn. 68 ff. 55 Ibler (Fn. 3), Rn. 188; Ramsauer (Fn. 3), Rn. 84. 56 BVerfGE 116, 135; dazu Gundel, Jura 2008, 288 ff.; Gaier, NZBau 2008, 289 ff. 57 BVerfGE 116, 135 (149). 58 BVerfGE 116, 149 f. 52 53
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anspruch herangezogen, der in den nicht von Art. 19 Abs. 4 GG erfassten Fällen Rechtsschutz gewähre.59 Auf dieser Grundlage prüft und verneint das Gericht den primären Rechtsschutz. Im Hintergrund steht hier – wie auch im Insolvenzverwalterfall60 – das Problem des sog. multipolaren Rechtsverhältnisses. Offenbar ist das Gericht der Meinung, dass sich dieses Problem über den Justizgewährungsanspruch besser lösen lässt als über die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG. Gerade das Vergaberecht bietet aber mit der Informationspflicht des § 13 Vergabeverordnung ein Lösungsmodell an. Auch wenn diese Vorschrift nur für das Vergaberecht oberhalb der Schwellengrenze gilt, so wäre doch zu prüfen, ob sie im Unterschwellenbereich entsprechend oder sinngemäß herangezogen werden könnte.61
III. Rechtsschutzgarantie und Justizgewährungsanspruch im Vergleich Abschließend stellt sich noch die Frage, ob und ggf. welche Unterschiede zwischen der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG und dem Justizgewährungsanspruch gem. Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) bestehen. In der Rechtsprechung und Literatur wird meistens eine inhaltliche Übereinstimmung angenommen, diese sicherheitshalber aber doch noch mit einem gewissen, nicht näher erläuterten Vorbehalt versehen. So erklärt das BVerfG in seinem Plenarbeschluss vom 30. 04. 2003, dass sich der allgemeine Justizgewährungsanspruch und als dessen Spezialregelung die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG „im rechtsstaatlichen Kerngehalt“ nicht unterscheiden.62 Ob und inwieweit in den Randbereichen Unterschiede bestehen, bleibt offen. Auch die Literatur ist vorsichtig. Nach Ramsauer dürfte „im Hinblick auf die Qualität bzw. die Effektivität des Rechtsschutzes ein signifikanter Unterschied nicht bestehen“, so dass „im Grundsatz einheitliche Rechtschutzstandards zu gelten haben“.63 Schmidt-Aßmann schließt seine vergleichende Betrachtung mit dem Hinweis ab, „insgesamt liegen die allgemeine Justizgewährung und die Justizgewährung nach Art. 19 Abs. 4 in ihren Anforderungen heute nicht mehr sehr weit auseinander“, weist dann aber auch auf „die in ihren Einzelausformungen dem Art. 19 Abs. 4 zwar angenäherten, aber doch nach wie vor offeneren Rechtsfolgen des allgemeiBVerfGE 116, 135 (150). BVerfGE 116, 1. 61 Vgl. zur ähnlichen Problematik bei der Beamtenernennung und Beamtenkonkurrentenklage BVerfG NJW 1990, 501; Kunig, in: Schmidt-Aßmann / Schoch, Besonderes Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2008, 6 Kap. Rn. 92 (S. 827) mit weiteren Nachw. 62 Vgl. BVerfGE 107, 395 (403); 117, 71 (122); ferner BVerfG-K DVBl. 2007, 903 (Dresdner Elbbrücke): „Der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde allgemeine Grundsatz der Justizgewährung ist im Kern inhaltsgleich mit der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV GG.“ 63 Ramsauer (Fn. 3), Rn. 29; vgl. ferner noch Ramsauer (Fn. 3), Rn. 30, wo auf die besondere Bedeutung des Grundrechtscharakters der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG hingewiesen wird. 59 60
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nen Justizgewährungsanspruchs“ hin.64 Papier erklärt, dass dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch die für Art. 19 Abs. 4 GG wesentliche Grundrechtsqualität fehle, im übrigen aber die durch ihn gewährleisteten Rechtsschutzstandards denen des Art. 19 Abs. 4 GG „durchaus vergleichbar“ seien,65 geht aber auf die Konsequenzen der fehlenden Grundrechtsqualität nicht ein. Dagegen meint Huber, der Justizgewährungsanspruch bleibe „erkennbar hinter dem grundrechtlich verbrieften Anspruch aus Art. 19 Abs. 4 zurück“, da die Subjektivierung über Art. 2 Abs. 1 GG nur an den Schutzpflichten dieses Grundrechts und nur im Rahmen des sog. Untermaßverbotes festgemacht werden könne, gelangt aber dann doch noch zur Anerkennung eines „allgemeinen Rechtsschutzstandards“.66 Diese im Rahmen der Kommentierung des Art. 19 Abs. 4 GG ohnehin nur knappen und zurückhaltenden Äußerungen beschränken sich auf einen inhaltlichen Vergleich, gehen aber auf die unterschiedlichen Rechtsgrundlagen nicht näher ein. Gerade ihnen kommt jedoch in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung zu. Art. 19 Abs. 4 GG enthält eine klar abgegrenzte und mit einer zwingenden Rechtsfolge versehene Bestimmung. Er greift ein, wenn (1) jemand (2) durch die öffentliche Gewalt (3) in seinen Rechten (4) verletzt wird, und gewährt unter diesen Voraussetzungen gerichtlichen Rechtsschutz. Er enthält – entsprechend seiner Intention, einen umfassenden lückenlosen Rechtsschutz zu begründen – keinen Gesetzes- oder Schrankenvorbehalt. Demnach ist auch unbestritten, dass, wenn eine Einschränkung notwendig erscheint, die Verfassung entsprechend geändert werden muss.67 Sicher bedarf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG noch der prozessrechtlichen Ausgestaltung, die durch die Prozessgesetze erfolgen muss und auch tatsächlich erfolgt ist. Der Ausgestaltungsvorbehalt unterscheidet sich jedoch wesentlich vom Schrankenvorbehalt.68 Während der Schrankenvorbehalt gleichsam von außen kommt und die grundrechtliche Gewährleistung einschränkt und damit zurückdrängt, hat der Ausgestaltungsvorbehalt die Funktion, die grundrechtliche Gewährleistung gleichsam aus sich heraus zu entfalten und wirksam zu machen. Auch er kann zu Einschränkungen führen, aber sie dienen dem Grundrecht selbst und nicht anderen, jenseits des Grundrechts stehenden Rechtsgütern. Schmidt-Aßmann (Fn. 3), Rn. 17 und 17 a. Papier (Fn. 3), § 154 Rn. 12 f.; ferner weist Papier noch darauf hin, dass der Justizgewährungsanspruch auch eine privatautonome Streitentscheidung durch ein Schiedsgerichtsverfahren gem. § 1025 ff. ZPO ermögliche, die nur noch einer Evidenz- und Missbrauchskontrolle durch die staatlichen Gerichte unterliege; ebenso Schmidt-Aßmann (Fn. 3), Rn. 17. 66 Huber (Fn. 3), Rn. 355 ff. 67 Vgl. dazu Art. 19 Abs. 3 S. 3 GG i. d. F. vom 28.06. 1968 (BGBl. I S. 709); BVerfGE 30, 1 (17 ff.). 68 Der „Gesetzesvorbehalt“ besagt, wenn man ihn wörtlich nimmt, dass eine grundrechtsbezogene Regelung „durch Gesetz“ erfolgen muss, und bezieht sich damit auf beide oben genannten Alternativen. 64 65
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Der Justizgewährungsanspruch ist dagegen eine Folge und Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips, das einen ganzen Strauß von Grundsätzen und Regelungen hervorbringt,69 die – je nachdem – in der konkreten Situation gleichzeitig Anerkennung verlangen, daher in Konkurrenz zueinander geraten können und dementsprechend eine Abwägung erfordern. Das Rechtsstaatsprinzip gewährleistet damit einen abgewogenen, keinen vollen Rechtsschutz. Hinzu kommt, dass Art. 2 Abs. 1 GG, der die Subjektivierungsbrücke zum Justizgewährungsanspruch bildet, einen Gesetzesvorbehalt enthält.70 Die unterschiedlichen Rechtsgrundlagen und die sich daraus ergebenden unterschiedlich dichten Gewährleistungen der beiden Ansprüche dürften auch der Grund dafür sein, dass das BVerfG in neuen oder komplexen Fällen auf den Justizgewährungsanspruch ausweicht, der eine größere Flexibilität ermöglicht. Dem steht freilich Art. 19 Abs. 4 GG (in der hier vertretenen Auslegung) entgegen. Andererseits ist es aber auch nicht vertretbar, wenn umgekehrt die Begrenzungen und die Abwägungskriterien des allgemeinen Rechtsstaatsprinzips auf Art. 19 Abs. 4 GG als Teil dieses Prinzips übertragen werden.71 Es ist sicher richtig, dass Art. 19 Abs. 4 GG eine Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips darstellt und deshalb in dessen Licht ausgelegt werden kann. Die Grenzen, die Art. 19 Abs. 4 GG als lex specialis selbst enthält, dürfen dadurch aber nicht überspielt werden.72
IV. Schlussbemerkung Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG stellt eine der markantesten Neuerungen des Grundgesetzes dar. Sie sichert nicht nur dem Einzelnen seine Grundrechte und damit seine Rechtsstellung im Staat, sondern prägt ganz allgemein unser Staatswesen als Rechts- und Verfassungsstaat. Ist es das Verdienst des Grundgesetzgebers, diesen „Schlussstein“ des Rechtsstaates in das Grundgesetz aufgenommen und damit gewährleistet zu haben, so ist es das Verdienst des BVerfG, dass es entsprechende Sicherungen für den zivilprozessualen Bereich entwickelt und am Justizgewährungsanspruch festgemacht hat. Wenn auch im Einzelnen noch Abgrenzungsschwierigkeiten bestehen oder sogar entstehen, so ist doch die Basis für diesen Anspruch gelegt und gesichert. 69 Vgl. dazu Stern, Staatsrecht I, 2. Aufl. 1984, S. 787 ff.; Sobota (Fn. 3), S. 27 ff., 254 ff., die auf insgesamt 142 Merkmale des Rechtsstaatsprinzips kommt. 70 Vgl. dazu auch BVerfGE 112, 93 (106 f.). 71 So aber wohl Schmidt-Aßmann (Fn. 3), Rn. 15: „Die Komplementarität der Elemente des Rechtsstaatsprinzips kann sich in der Interpretation des Art. 19 Abs. 4 GG verdeutlichend, verstärkend, entlastend oder – wegen der im Rechtsstaatsprinzip selbst angelegten Gegenläufigkeiten – begrenzend auswirken.“ Vgl. auch Rn. 17 a. Die Bezugnahme auf BVerfGE 65, 282 (290) betrifft eine andere Fallkonstellation. 72 Zutreffend bezeichnet Schmidt-Aßmann (Fn. 3), Rn. 16 Art. 19 Abs. 4 GG auch als „ein tatbestandlich eigenständig formulierter und besonders verdichteter Teil des Prinzips allgemeiner Justizgewährung“.
Der Wechsel der Prozesspartei Von Hans-Joachim Musielak
Der Wechsel einer Partei in einem Rechtsstreit kommt in jeder Prozessart vor. Tod oder Insolvenz einer Partei während eines laufenden Verfahrens oder die Feststellung, dass die Aktiv- oder Passivlegitimation einer Partei falsch eingeschätzt wurde, sind Beispiele für die Notwendigkeit eines Parteiwechsels, die sich in jedem Rechtsstreit ergeben kann. Die dabei zu beachtenden Regeln sind im Wesentlichen gleich. Deshalb können die im Folgenden angestellten Erwägungen, die auf den Zivilprozess bezogen sind, als exemplarisch gelten und lassen sich weitgehend auch auf den Verwaltungsgerichtsprozess übertragen.1 Der Jubilar hat sich immer wieder mit Fragen des Prozessrechts befasst. Ich hoffe deshalb, dass die folgenden Ausführungen, die ihm mit den besten Wünschen für den künftigen Lebensweg gewidmet werden, sein Interesse finden.
I. Die verschiedenen Fälle eines Parteiwechsels Der Austausch einer Partei in einem Rechtsstreit kann gesetzlich vorgeschrieben sein oder auf einem Entschluss der Beteiligten beruhen. Im ersten Fall spricht man von einem gesetzlichen Parteiwechsel, der zweite Fall wird als gewillkürter Parteiwechsel bezeichnet. 1. Der gesetzliche Parteiwechsel Innerhalb eines gesetzlich geregelten Parteiwechsels ist danach zu unterscheiden, ob er ipso iure eintritt oder ob er erst auf Grund einer Parteihandlung vollzogen wird.2 In den Fällen einer Gesamtrechtsnachfolge übernimmt der Rechtsnachfolger die Parteirolle automatisch. Dies geschieht beim Tod eines Menschen 1 Auf die zu dieser Frage im zivilprozessrechtlichen Schrifttum geführte Diskussion wird deshalb bei der Kommentierung der einschlägigen Vorschriften der Verwaltungsgerichtsordnung verwiesen; vgl. nur Kopp / Schenke, VwGO, 15. Aufl. 2007, § 91 Rn. 2; Eyermann / Rennert, VwGO, 12. Aufl. 2006, § 91 Rn. 24. 2 Wegen des Erfordernisses einer Parteihandlung werden diese Fälle von manchen auch als gewillkürte Parteiwechsel auf gesetzlicher Grundlage bezeichnet; so z. B. Henckel, Parteilehre und Streitgegenstand im Zivilprozeß, 1961, S. 223 ff.
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(vgl. § 239 ZPO) und beim Erlöschen einer juristischen Person und einer parteifähigen Personenvereinigung wie OHG, KG und (Außen-)Gesellschaft bürgerlichen Rechts, falls eine Gesamtnachfolge vorgesehen ist.3 Um einen gesetzlichen Parteiwechsel handelt es sich auch, wenn der Insolvenzverwalter das Verfahren wieder aufnimmt, nachdem es infolge der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Partei unterbrochen wurde (vgl. § 240 ZPO). Wird während eines laufenden Verfahrens das Insolvenzverfahren beendet und erlischt damit die Funktion des Insolvenzverwalters, dann findet hinsichtlich solcher Rechte, über die der frühere Gemeinschuldner seine freie Verfügungsbefugnis wiedergewinnt, ein Parteiwechsel zwischen ihm und dem Insolvenzverwalter in entsprechender Anwendung des § 239 ZPO statt.4 Zu einem gesetzlichen Parteiwechsel auf Grund einer Parteihandlung, nämlich einer einseitigen Erklärung an das Gericht, den Rechtsstreit zu übernehmen, kann es bei Veräußerung des Streitgegenstandes gemäß §§ 265, 266 ZPO, im Rahmen eines Prätendentenstreits nach § 75 ZPO und bei einer Urheberbenennung nach §§ 76, 77 ZPO kommen.5 Geht der Streitgegenstand außerhalb einer Gesamtrechtsnachfolge von der bisherigen Partei auf einen anderen über, dann kann der neue Rechtsträger mit Zustimmung seines Rechtsvorgängers und der Gegenpartei den Prozess fortführen. Eine abweichende Regelung gilt nach § 266 Abs. 1 ZPO für Prozesse über dingliche Rechte an Grundstücken zwischen dem dinglich Berechtigten und dem dinglich Verpflichteten. Wird während des Rechtsstreits das Grundstück veräußert, dann ist der Rechtsnachfolger berechtigt und auf Antrag des Gegners verpflichtet, den Rechtsstreit zu übernehmen. Diese Regelung gilt ebenso für eingetragene Schiffe und Schiffsbauwerke. Bei einem Prätendentenstreit kann der verklagte Schuldner einem Dritten, der ihn ebenfalls wegen der Klageforderung in Anspruch nimmt, den Streit verkünden und nach dessen Beitritt den Betrag der Forderung zu Gunsten der streitenden Gläubiger unter Verzicht auf das Recht zur Rücknahme hinterlegen; er wird dann auf seinen Antrag aus dem Rechtsstreit entlassen, der zwischen den streitenden Gläubigern allein fortgesetzt wird. Die Urheberbenennung betrifft den Fall, dass bei einem Besitzmittlungsverhältnis der unmittelbare Besitzer von einem Dritten auf Herausgabe der Sache (§ 76 ZPO) oder auf Unterlassung von Beeinträchtigungen (§ 77 ZPO) verklagt wird. Verkündet der Beklagte dem mittelbaren Besitzer den Streit, dann kann dieser an der Stelle des bisherigen Beklagten mit dessen Zustimmung den Prozess übernehmen und fortsetzen.
3 Auf juristische Personen und auf parteifähige Personenvereinigungen wird § 239 ZPO entsprechend angewendet; vgl. BGH NJW 1971, 1844; 2000, 1120; Stadler, in: Musielak, ZPO, 6. Aufl. 2008, § 239 Rn. 5. 4 BGH NJW 1982, 1766; Jauernig, Zivilprozessrecht, 29. Aufl. 2007, § 80 II 1 (S. 164), § 86 I 2 (S. 278). 5 Zu weiteren Fällen vgl. Rosenberg / Schwab / Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl. 2004, § 42 Rn. 11.
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2. Der gewillkürte Parteiwechsel a) Zur Rechtsnatur Der nicht auf einer gesetzlichen Bestimmung basierende, sondern nur auf den Willen einer oder beider Parteien beruhende Parteiwechsel ist zwar gesetzlich nicht geregelt, seine Zulässigkeit wird jedoch allgemein bejaht. Streitig ist dagegen seine Rechtsnatur. Diesem Meinungsstreit kommt keineswegs nur theoretische Bedeutung zu, sondern von ihm hängt es auch ab, welche Voraussetzungen für seine Zulassung erfüllt werden müssen und welche Rechtsfolgen bei ihm eintreten. Folgende Auffassungen werden vertreten: â Es handelt sich dabei um eine Klageänderung oder zumindest sind die Vorschriften über die Klageänderung entsprechend heranzuziehen (sog. Klageänderungstheorie). â Es wird die bisherige Klage vom Kläger zurückgenommen und eine neue Klage entweder von dem neu eintretenden Kläger oder gegen den neu eintretenden Beklagten erhoben (sog. Klagerücknahmetheorie oder Klageerhebungstheorie). â Der gewillkürte Parteiwechsel ist als Rechtsinstitut eigener Art zu begreifen. Die Rechtsprechung, insbesondere des BGH, vertritt die Klageänderungstheorie bei Parteiwechseln in erster Instanz;6 dagegen wird bei einem Wechsel auf der Beklagtenseite in zweiter Instanz eine Anwendung der Regeln über die Klageänderung abgelehnt, also insbesondere eine Zulassung als sachdienlich ohne Einwilligung des bisherigen und des neuen Beklagten grundsätzlich ausgeschlossen.7 Nur wenn ein schutzwürdiges Interesse des neuen Beklagten an der Weigerung, in den Prozess einzutreten, nicht erkennbar ist und ihm nach der gesamten Sachlage zugemutet werden kann, einen bereits im Berufungsrechtszug schwebenden Rechtsstreit zu übernehmen, soll seine Weigerung als rechtsmissbräuchlich aufgefasst und deshalb unbeachtlich sein.8 Der Klägerwechsel in der zweiten Instanz soll dagegen wiederum wie eine Klageänderung behandelt werden.9 Im Schrifttum wird insbesondere die unterschiedliche Bewertung des Parteiwechsels in erster und zweiter Instanz auf Seiten des Beklagten kritisiert und überwiegend der Parteiwechsel als ein eigenständiges Prozessrechtsinstitut angesehen,10 während die Klagerücknahmetheorie heute nur noch wenige Befürworter findet.11 6 BGHZ 40, 185 (187) = NJW 1964, 44; BGHZ 65, 264 (268) = NJW 1976, 240; vgl. dazu Putzo, Festgabe 50 Jahre Bundesgerichtshof, Band III, 2000, S. 151 ff. 7 Stdg. Rspr., vgl. BGHZ 21, 285 (287) = NJW 1956, 1598; BGH NJW 1962, 635; 1974, 750; 1981, 1987, 1947. 8 Vgl. BGH NJW 1974, 750; 1987, 1947; 2000, 1951 (zur gleichen Frage bei der Parteierweiterung); JZ 1986, 107; WM 1997, 990. 9 BGHZ 65, 264 (268); BGH GRUR 1996, 866; NJW 1996, 2799; MDR 2004, 701. 10 Franz, NJW 1972, 1743; Bücking, MDR 1973, 910; Kohler, JuS 1993, 316; U. Heinrich, Der gewillkürte Parteiwechsel, 1990, S. 36 f.; Gottwald (Fn. 5), § 42 Rn. 20; Becker-Eber-
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Die Rechtsprechung des BGH zum gewillkürten Parteiwechsel lässt deutlich werden, dass die Zuordnung zu einem ausdrücklich im Gesetz geregelten Rechtsinstitut nur mit erheblichen Einschränkungen durchführbar erscheint, wenn man interessengerechte Ergebnisse erzielen möchte. Geht es aber in erster Linie um eine interessengerechte Entscheidung, dann ist es vorzuziehen, auf eine Einordnung in gesetzliche Regelungsmuster zu verzichten und eine Lösung rechtsfortbildend auf der Grundlage allgemeiner prozessualer Grundsätze unter besonderer Berücksichtigung der Interessen der Beteiligten zu suchen, wie dies geboten ist, wenn man eine im Gesetz gelassene Lücke zu schließen hat.12 Die Bewertung des gewillkürten Parteiwechsels als ein prozessrechtliches Institut eigener Art befreit von der Notwendigkeit, vorgegebene Regeln beachten zu müssen oder solche Regeln im Hinblick auf die Interessenlage inhaltlich zu verändern. Auf der Grundlage dieser Auffassung soll im Folgenden erörtert werden, wie sich ein Parteiwechsel in den verschiedenen Prozesssituationen zu vollziehen hat. b) Die in erster Instanz zu erfüllenden Zulässigkeitsvoraussetzungen Soll ein Klägerwechsel in der ersten Instanz vorgenommen werden, so ist hierfür zweifelsfrei sowohl das Einverständnis des ausscheidenden als auch des neu hinzutretenden Klägers erforderlich. Da niemand gegen seinen Willen gezwungen werden kann, aus einem begonnenen Rechtsstreit als Kläger auszuscheiden oder als Kläger einen Prozess zu führen, wäre jede andere Regelung sinnwidrig und kann deshalb ausgeschlossen werden. Auf Grund der Erwägung, dass sich ein Beklagter nicht aussuchen kann, wer ihn verklagt, könnte man zu der Auffassung gelangen, dass der Beklagte an einem Klägerwechsel nicht zu beteiligen ist. Dabei würde jedoch übersehen werden, dass der Beklagte nach der in § 269 Abs. 1 ZPO über die Klagerücknahme getroffenen Regelung mit dem Beginn der mündlichen Verhandlung das Recht erwirbt, gegen den bisherigen Kläger eine Sachentscheidung zu fordern.13 Folgerichtig muss deshalb die Einwilligung des Beklagten für einen Klägerwechsel verlangt werden, wenn er sich nach Beginn der mündlichen Verhandlung des Beklagten zur Hauptsache vollzieht.14 Ob eine verweigerte Einwilligung durch die Zulassung des Gerichts als sachdienlich ersetzt werden kann,15 hard, in: MüKo, ZPO, 3. Aufl. 2008, § 263 Rn. 67; Saenger, in: HK-ZPO, 2006, § 263 Rn. 18; Schumann, in: Stein / Jonas, ZPO, 21. Aufl. 1997, § 264 Rn. 100. Für eine strikte Anwendung der Klageänderungstheorie dagegen Nagel, Der nicht (ausdrücklich) geregelte gewillkürte Parteiwechsel im Zivilprozess, 2005, S. 125 ff. 11 Hofmann, NJW 1964, 1027; Hartmann, in: Baumbach / Lauterbach, ZPO, 66. Aufl. 2008, § 263 Rn. 5. 12 Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 381 ff. 13 Gottwald (Fn. 5), § 128 Rn. 19. 14 Schumann (Fn. 10), Rn. 112; Becker-Eberhard (Fn. 10), Rn. 70; Greger, in: Zöller, ZPO, 26. Aufl. 2007, § 263 Rn. 30.
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ist streitig.16 Wenn man berücksichtigt, dass es der Beklagte gemäß § 263 ZPO hinnehmen muss, dass eine Änderung der Klage auch gegen seinen Willen vorgenommen wird, wenn sie das Gericht für sachdienlich hält, erscheint eine gleiche Regelung beim Klägerwechsel gut vertretbar und kann insbesondere nicht als Verstoß gegen den Justizgewährungsanspruch aufgefasst werden.17 Bei einem Beklagtenwechsel muss der Kläger seine Klage ändern und sie vom bisherigen Prozessgegner auf den neuen „umstellen“.18 Deshalb geht die Initiative notwendigerweise vom Kläger aus. Da der Beklagte nach Beginn der mündlichen Verhandlung – wie ausgeführt – einen Anspruch auf eine Sachentscheidung innerhalb des bestehenden Prozessverhältnisses erwirbt, ist seine Einwilligung zum Ausscheiden aus dem Rechtsstreit erforderlich.19 Deshalb kann nur fraglich sein, ob diese Zustimmung durch eine Sachdienlichkeitserklärung des Gerichts ersetzt werden kann.20 Dies ist zu verneinen. Das Ausscheiden aus einem Rechtsstreit lässt für den Beklagten eine Rechtslage entstehen, die der einer Klagerücknahme ähnelt; in beiden Fällen wird der begonnene Rechtsstreit für den ausscheidenden Beklagten ohne Sachentscheidung beendet. Deshalb darf ein Austausch der Beklagten nicht ohne Zustimmung des bisherigen Beklagten vollzogen werden.21 Eine Antwort auf die Frage, ob auch der neu in den Rechtsstreit eintretende Beklagte seine Zustimmung erklären muss, hängt wesentlich davon ab, ob er an die bisher erzielten Prozessergebnisse gebunden ist. Auf diese streitige Frage wird später zurückzukommen sein.
15 BGHZ 16, 317 (321) = NJW 1955, 667; BGHZ 65, 264 (268); BGH NJW 1996, 2799; OLG München NJW-RR 1998, 788; Becker-Eberhard (Fn. 10), Rn. 72. 16 Ablehnend Schumann (Fn. 14), Rn. 112; Greger (Fn. 14), § 263 Rn. 30; Saenger (Fn. 10), Rn. 30. 17 AA Schumann (Fn. 14), Rn. 112, der jedoch eine Ausnahme zulassen will, wenn sich die Weigerung des Beklagten, dem Klägerwechsel zuzustimmen, als missbräuchliche Rechtsausübung darstellt. 18 Wie der Prozess dieser „Umstellung“ der Klage rechtlich zu beurteilen ist, bildet einen wesentlichen, wenn auch keinesfalls den einzigen Grund für den Streit zwischen der Klagerücknahmetheorie und der Klageänderungstheorie. Kisch, Parteiänderung im Zivilprozess, 1912, S. 81 f., als Begründer der Klagerücknahmetheorie deutet diesen Vorgang als Rücknahme der alten Klage und Erhebung einer neuen und sieht hierin einen überzeugenden Beleg für die von ihm vertretene Auffassung. Die Vertreter der Klageänderungstheorie blicken auf den „Austausch“ des Beklagten und werten ihn als Änderung der Klage; vgl. Nagel (Fn. 10), S. 29 f., 125 ff., 257 f. 19 BGH NJW 1981, 989; 2006, 1353; Burbulla, MDR 2007, 444; Schlinker, Jura 2007, 2. 20 So Nagel (Fn. 10), S. 145 ff.; Schilken, Zivilprozessrecht, 5. Aufl. 2006, Rn. 763. 21 Greger (Fn. 14), Rn. 24; Becker-Eberhard (Fn. 10), Rn. 77; Hüßtege, in: Thomas / Putzo, ZPO, 29. Aufl. 2008, Vorbem. zu § 50 Rn. 22; Saenger (Fn. 10), Rn. 24.
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c) Die in zweiter Instanz zu erfüllenden Zulässigkeitsvoraussetzungen Wie in der ersten Instanz kann ein Austausch der Kläger in der zweiten Instanz nur im gegenseitigen Einvernehmen geschehen. Kein Unterschied zwischen beiden Instanzen besteht auch hinsichtlich des Erfordernisses der Zustimmung des Beklagten.22 Bei einem Beklagtenwechsel müssen sowohl der ausscheidende als auch der neu eintretende Beklagte zustimmen. Das Einverständnis des neuen Beklagten zu fordern, wird durch die Einschränkungen begründet, die sich hinsichtlich der Berücksichtigung neuer Tatsachen (vgl. § 529 Abs. 1 ZPO) sowie zurückgewiesener und neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel (§ 531 ZPO) in der Berufungsinstanz ergeben. Wer sich auch beim Beklagtenwechsel in der zweiten Instanz an den Regeln einer Klageänderung orientieren will, muss zudem die Regelung des § 533 ZPO beachten.23 Wegen dieser Einschränkungen wird ein Beklagtenwechsel in der Berufungsinstanz wohl eine seltene Ausnahme bilden.24 Dies gilt erst recht für eine die Zustimmung des neuen Beklagten ersetzende Sachdienlichkeitserklärung des Gerichts, falls sie zugelassen wird, um eine Weigerung des Beklagten als rechtsmissbräuchlich zu übergehen.25 d) Zum Parteiwechsel in der Revisionsinstanz In der Revisionsinstanz wird regelmäßig ein Parteiwechsel daran scheitern, dass ein neuer Tatsachenvortrag ausgeschlossen ist (vgl. § 559 ZPO).26 Sollte dennoch im Einzelfall trotz dieser engen Grenzen ein solcher Parteiwechsel in Betracht kommen, dann gelten für ihn gleiche Regeln wie in der Berufungsinstanz.27 II. Rechtsfolgen eines Parteiwechsel Die Klageerhebung führt bekanntlich zu mannigfaltigen Rechtsfolgen materiellrechtlicher und prozessrechtlicher Art.28 Findet ein Parteiwechsel statt, dann ist zu 22 Die Frage, ob die Zustimmung des Beklagten durch die Sachdienlichkeitserklärung des Gerichts ersetzt werden kann, stellt sich ebenso in der zweiten Instanz; diese Frage wird vom BGH GRUR 1996, 866; NJW 2003, 2173, bejaht. Vgl. auch oben zu Fn. 15 ff. 23 Vgl. OLG München MDR 2005, 1186. 24 Greger (Fn. 14), Rn. 19. Nagel (Fn. 10), S. 249 ff. hält einen Parteiwechsel in der Berufungsinstanz für unzulässig. 25 Das OLG München (MDR 2005, 1186) schließt eine solche Möglichkeit nach der Änderung des Berufungsrechts durch das Zivilprozessreformgesetz aus. Auf diese Frage wird später zurückzukommen sein. 26 BGH WM 1982, 1170; NJW-RR 1990, 1213; 2006, 278; Ball, in: Musielak (Fn. 3), § 559 Rn. 3; Hüßtege (Fn. 21), Rn. 24; Becker-Eberhard (Fn. 10), Rn. 74. 27 Schumann (Fn. 10), Rn. 120. 28 Vgl. Musielak, Grundkurs ZPO, 9. Aufl. 2007, Rn. 125 ff.
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entscheiden, ob diese Rechtsfolgen unverändert auch für die neu in den Prozess eintretende Partei gelten. Insbesondere die Frage, ob die bisher erzielten Prozessergebnisse, die vom Gericht getroffenen Feststellungen tatsächlicher Art, die Prozesshandlungen der ausgeschiedenen Partei und Zwischenentscheidungen des Gerichts, weiterhin Bestand haben, wird in Bezug auf den gewillkürten Parteiwechsel schon seit langem kontrovers diskutiert und zu den ungeklärten Problemen des Prozessrechts gezählt.29 Auf diesen Fragenkomplex kann im Rahmen der vorliegenden Abhandlung nicht in der ganzen Breite eingegangen werden. Schwerpunktmäßig sollen im Folgenden die Wirkungen erörtert werden, die sich für die beteiligten Parteien aus den Prozessergebnissen ableiten, die im Zeitpunkt des Parteiwechsels erzielt worden sind. 1. Bei einem gesetzlichen Parteiwechsel Wird der Wechsel der Parteien auf einer gesetzlichen Grundlage vollzogen, dann regeln die einschlägigen Vorschriften auch die Rechtsfolgen, die sich bei einem solchen Wechsel ergeben. Im Regelfall übernimmt die neue Partei die Rolle der bisherigen und führt den Prozess in der Rechtslage weiter, in der er sich im Zeitpunkt des Parteiwechsels befindet. Alle von der bisherigen Partei vorgenommenen Prozesshandlungen gelten dann fort und binden die neue Partei in gleicher Weise wie die frühere.30 Ob dies auch in den Fällen einer Urheberbenennung gemäß §§ 76, 77 ZPO gilt, ist streitig.31 Auf diesen Meinungsstreit braucht jedoch nicht näher eingegangen zu werden. Denn die Urheberbenennung hat sich vor Beginn der Verhandlung zur Hauptsache zu vollziehen, so dass naturgemäß im Zeitpunkt des Parteiwechsels noch keine bedeutsamen Prozessergebnisse eingetreten sein können, aus denen sich für den weiteren Prozess eine bindende Wirkung für die neue Partei ergibt.32 Im Falle eines Gläubigerstreits nach § 75 ZPO wird der Streit der Prätendenten als neuer Prozess geführt;33 schon deshalb kommt eine Bindung der neuen Partei an die bisherigen Prozessergebnisse nicht in Betracht. 2. Bei einem gewillkürten Parteiwechsel Dass grundsätzlich die bisher im laufenden Verfahren erzielten Ergebnisse fortgelten, kann nicht zweifelhaft sein, weil eine Fortsetzung des Prozesses mit der neuen Partei nur dann einen Sinn macht, wenn die erreichten Fortschritte und vor allem die im Rahmen eines Beweisverfahrens getroffenen Feststellungen nutzbar Roth, NJW 1988, 2977; Schumann (Fn. 10), Rn. 125. BGH NJW 2006, 1354 (zu § 265 Abs. 2 ZPO); Gottwald (Fn. 5), Rn. 3. 31 Bejahend Bork, in: Stein / Jonas, ZPO, 22. Aufl. 2004, § 76 Rn. 19; verneinend Schilken, in: MüKo (Fn. 10), § 76 Rn. 11 jeweils mit weiteren Nachweisen. 32 Darauf verweist Henckel (Fn. 2), S. 227. 33 Heinrich. in: Musielak (Fn. 3), § 75 Rn. 4; Bork (Fn. 31), § 75 Rn. 11. 29 30
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gemacht werden können.34 Das sich insoweit stellende Problem betrifft aber nicht die Frage, ob die bisherigen Prozessergebnisse weiterhin verwertbar bleiben, sondern ob sie von der neu in den Streit eintretenden Partei als unabänderlich hingenommen werden müssen. Sucht man nach einer Antwort auf diese Frage, dann muss man sich mit einem Interessengegensatz auseinandersetzen. Während prozessökonomische Erwägungen für eine weitreichende Übernahme der bereits erzielten Prozessergebnisse sprechen, verlangen im Gegensatz dazu die Interessen der neu eintretenden Partei, dass sich bestehende und von ihr nicht beeinflussbare Prozessergebnisse nicht zu ihrem Nachteil auswirken.35 Dass angesichts dieser kontroversen Gesichtspunkte die Bewertung der Rechtslage und der sich daraus ergebenden Folgerungen nicht einheitlich ausfällt, kann nicht verwundern, zumal die zu treffende Entscheidung weitreichende Folgen für das Rechtsinstitut des gewillkürten Parteiwechsels aufweist. Dehnt man die Grenzen einer Bindung für die nachfolgende Partei zu großzügig aus, kann regelmäßig nicht erwartet werden, dass sie einem Parteiwechsel zustimmt und in einen laufenden Prozess eintritt. Zieht man deshalb die Grenzen sehr eng, dann entwertet dies den Vorteil einer Prozessfortsetzung gegenüber dem Beginn eines neuen Rechtsstreits. Bereits diese Erwägungen lassen die Schwierigkeiten deutlich werden, die bei der Suche nach einer Lösung zu überwinden sind. Eine sorgfältige Analyse der Interessenlage in den verschiedenen zu berücksichtigenden Prozesssituationen ist deshalb geboten. Bei einem Klägerwechsel, gleichgültig in welcher Instanz er vollzogen wird, ist – wie ausgeführt – die Zustimmung des neuen Klägers erforderlich. Bevor er diese Zustimmung erteilt, kann von ihm erwartet werden, dass er die bestehende Prozesslage bewertet und die Konsequenzen beurteilt, die sich daraus für ihn als neue Partei ergeben. Regelmäßig wird er sich für die Fortsetzung des begonnenen Prozesses und gegen den Beginn eines neuen Rechtsstreits entscheiden, weil er sich die bisher erzielten Prozessergebnisse nutzbar machen will. Die Interessen des neu eintretenden Klägers und die der Prozessökonomie sind deshalb regelmäßig weitgehend deckungsgleich.36 Somit erscheint in erster Linie erörterungsbedürftig, ob auch die Gegenpartei an den erzielten Prozessergebnissen festzuhalten ist. Diese Frage erhält vor allem dann besonderes Gewicht, wenn man die Zustimmung des Beklagten zum Klägerwechsel durch eine Sachdienlichkeitsentscheidung des Gerichts ersetzt. Für eine fortwirkende Bindung des Beklagten spricht, dass er im Rahmen der ihm zustehenden Rechte die Möglichkeit gehabt hat, auf das Zustandekommen der Prozesslage Einfluss zu nehmen.37 Demgegenüber wird darauf hingewiesen, dass das Verhalten der Prozessbeteiligten durch die Person des Gegners und dessen Art der Rosenberg, ZZP 70 (1957), 5. Kohler, JuS 1993, 317. 36 Dennoch wird man dem neuen Kläger gestatten müssen, Korrekturen an den Prozesshandlungen seines Vorgängers vorzunehmen, wenn dafür triftige Gründe bestehen; weiter gehend Rosenberg (Fn. 34), S. 5. 37 Henckel (Fn. 2), S. 242 f.; Foerste, in: Musielak (Fn. 3), § 263 Rn. 22; Becker-Eberhard (Fn. 10), Rn. 95. 34 35
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Prozessführung wesentlich mitbestimmt werde.38 Wohl aus diesem Grunde wird die Ersetzung der Zustimmung des Beklagten durch eine Sachdienlichkeitserklärung des Gerichts abgelehnt39 oder die Verwertbarkeit der einzelnen Ergebnisse, die der Rechtsstreit bisher erbracht hat, in die freie Entscheidung jeder Partei gestellt.40 Dass solche weitreichenden Zugeständnisse an die Entscheidungsfreiheit des Beklagten die Vorteile einer Prozessfortführung durch den neuen Kläger erheblich einschränken, wenn nicht sogar praktisch aufheben, ist offensichtlich. Deshalb sind solche, eine Bindung des Beklagten ausschließenden Vorschläge abzulehnen, zumal die Gefahr, dass allein durch den Klägerwechsel unzumutbare Nachteile für den Beklagten verursacht werden, nicht sehr hoch eingeschätzt werden kann. Sollte sich im Einzelfall die Prozesslage für den Beklagten allein auf Grund des Klägerwechsels wesentlich verschlechtern, dann sollte das Gericht um ausgleichende Maßnahmen bemüht sein und ihm gestatten, bisher vorgenommene Prozesshandlungen zu korrigieren. Da die Klage stets die Person zu bezeichnen hat, gegen die sie gerichtet ist, kann ohne eine entsprechende Entscheidung des Klägers ein Beklagtenwechsel nicht stattfinden. Es kann von ihm erwartet werden, dass er bei dieser Entscheidung die Vor- und Nachteile abwägt, die für oder gegen eine Fortsetzung des bisherigen Prozesses sprechen. Wählt er die Fortsetzung des begonnenen Rechtsstreits, dann ist er an die von ihm vorgenommenen Prozesshandlungen zu binden, soweit diese nicht durch die Person des bisherigen Beklagten bestimmt werden und durch den Beklagtenwechsel obsolet werden, so dass sie deshalb korrigiert werden müssen. Die Frage nach der Bindung des neu in den Prozess eintretenden Beklagten wird von einer im Schrifttum vertretenen Auffassung davon abhängig gemacht, ob er seine Zustimmung zum Parteiwechsel gegeben hat; in diesem Fall wird eine Bindung befürwortet.41 Dieser Auffassung kann nicht zugestimmt werden. Erklärt der Beklagte sein Einverständnis mit seinem Eintritt in den laufenden Prozess, dann kann dieser Erklärung nicht zugleich der Sinn gegeben werden, er wolle in die Position des bisherigen Beklagten ohne jede Korrekturmöglichkeit eintreten, so dass auch Geständnisse des bisherigen Beklagten, Präklusionen und Beweisergebnisse für ihn verbindlich sein sollen.42 Eine so weitreichende Einschränkung der eigenen Rechtsstellung kann erfahrungsgemäß nicht gewollt sein, zumal der neue Beklagte regelmäßig im Zeitpunkt seiner Erklärung nicht zu überschauen vermag, welche Rechtsfolgen für ihn bei der vollständigen Übernahme aller Prozessergebnisse eintreten. Da kaum damit gerechnet werden kann, dass jemand – gegebenenfalls nach Kohler, JuS 1993, 318; Schumann (Fn. 10), Rn. 125. So die in Fn. 16 Zitierten. 40 Gofferjé, Die gewillkürte Parteiänderung im Zivilprozeß, Diss. Erlangen 1970, S. 100 ff. 41 Kohler, JuS 1993, 318 Fn. 57; U. Heinrich (Fn. 10), S. 59 ff.; Foerste (Fn. 37), § 263 Rn. 18; Hüßtege (Fn. 21), Rn. 22; Becker-Eberhard (Fn. 10), Rn. 96 f. (mit Einschränkungen). 42 Zu Recht weist Schumann (Fn. 10), Rn. 125 darauf hin, dass die Einwilligung in die Parteiänderung scharf von der Frage zu trennen sei, ob eine Prozesspartei die bisherigen Prozessergebnisse billigt. 38 39
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einer entsprechenden Belehrung des Richters über solche Rechtsfolgen43 – bereit sein wird, in einen laufenden Prozess einzutreten, kann dahinstehen, ob überhaupt die Dispositionsbefugnis der Parteien über die Prozesslage ausreicht, um eine Bindung dieser Art zu schaffen.44 Es ist zumindest im Regelfall davon auszugehen, dass sich der neu in den Prozess eintretende Beklagte nicht durch seine Zustimmung zum Parteiwechsel seiner grundgesetzlich verbürgten Rechte, vor allem nicht seines Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG begeben will. Muss aber dieses Grundrecht beachtet werden, dann ist das Gericht verpflichtet, den Parteien zu ermöglichen, den von ihnen eingenommenen Standpunkt in ausreichender und sachgerechter Weise im Prozess darzulegen.45 Deshalb steht auch dem neu eintretenden Beklagten das Recht zu, neue Anträge zu stellen, neue Tatsachen zu behaupten und dafür Beweis zu erbringen, also seinen Rechtsstandpunkt ohne Einschränkungen zu vertreten. Mit dieser Rechtsposition des Beklagten wäre es unvereinbar, ihn an bisher erzielte Prozessergebnisse zu binden, ohne ihm das Recht einzuräumen, durch ein neues Vorbringen korrigierend darauf einzuwirken.46 Da sich also die Rechtsstellung der neuen Partei bei einem Beklagtenwechsel nicht von der eines Beklagten unterscheidet, der den Prozess von Anfang an geführt hat, erscheint es durchaus angemessen, einen Beklagtenwechsel in der ersten Instanz auch gegen den Willen des neuen Beklagten zuzulassen.47 Fraglich kann deshalb nur sein, ob die Weigerung des neuen Beklagten, in den laufenden Prozess einzutreten, dazu führt, dass dieser Widerstand durch eine Sachdienlichkeitsentscheidung des Gerichts überbrückt werden muss. Auf der Grundlage der Klageänderungstheorie ist dies zu bejahen.48 Folgt man dieser Theorie nicht, dann hängt die Antwort von dem Zweck ab, dem eine solche Entscheidung des Gerichts dienen soll. Die Zulassung eines Beklagtenwechsels durch das Gericht an Stelle der Zustimmung des neuen Beklagten kann regelmäßig nur davon abhängig gemacht werden, ob die Verwertung der bisher erzielten Prozessergebnisse die Ent43 Eine solche Belehrung hält Roth, NJW 1988, 2981, zum Schutz des Beklagten für erforderlich. 44 Henckel (Fn. 2), S. 235 ff., will die Dispositionsbefugnis der neuen Partei davon abhängig machen, dass entweder der Streitgegenstand im Prozess der alten Partei identisch ist mit dem im Prozess der neuen Partei oder dass zumindest eine materiellrechtliche Abhängigkeit zwischen beiden Streitgegenständen besteht; abl. dagegen Roth, NJW 1988, 2981. 45 Vgl. nur BVerfG NJW 2003, 1655; 2004, 2443, jeweils mit weiteren Nachweisen. Bereits Kisch (Fn. 18), S. 40 ff., 61, hat nachdrücklich auf den Anspruch des neuen Beklagten hingewiesen, dass seine Rechtsstellung im Prozess durch einen Beklagtenwechsel nicht verschlechtert werden dürfe. Dass er hieraus andere Schlussfolgerung gezogen hat als nach der hier vertretenen Auffassung, steht auf einem anderen Blatt. 46 So im Ergebnis auch BGH NJW 1996, 197; Saenger (Fn. 10), § 263 Rn. 25; Rosenberg (Fn. 34), S. 7. 47 Bücking, MDR 1973, 910; Schlinker, Jura 2007, 2; Lüke, Zivilprozessrecht, 9. Aufl. 2006, Rn. 109; Saenger (Fn. 10), Rn. 24; Greger (Fn. 14), Rn. 24; Hüßtege (Fn. 21), Rn. 22. 48 Vgl. BGH NJW 1962, 347; 1964, 45; ebenso Nagel (Fn. 10), S. 144 f.; Schilken (Fn. 20), Rn. 763; Becker-Eberhard (Fn. 10), Rn. 78.
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scheidung des Rechtsstreits fördert. Eine solche Frage ergibt sich jedoch in jedem Fall eines Parteiwechsels unabhängig von der Zustimmung des Beklagten. Diese Feststellung wirft zugleich ein grundsätzliches Problem auf, das die Rolle des Gerichts bei einem einverständlich vollzogenen Parteiwechsel betrifft. Muss das Gericht auch dann einen Parteiwechsel akzeptieren, wenn feststeht, dass bisher keine Prozessergebnisse erzielt worden sind, die bei Entscheidung des Rechtsstreits nach einem Parteiwechsel verwertbar sind? Soweit man diese Frage überhaupt aufwirft und diskutiert, verneint man sie.49 Folgerichtig muss dann aber dem Gericht bei jedem Parteiwechsel die Befugnis eingeräumt werden, die Zweckmäßigkeit zu prüfen und einen Parteiwechsels als unzulässig abzuweisen, wenn zweifelsfrei feststeht, dass die Fortsetzung des Prozesses im Vergleich zu einem neuen Rechtsstreit keine Vorteile bietet. Will z. B. der Kläger gegen den neuen Beklagten einen Anspruch geltend machen, der in keiner Weise mit der bisherigen Klage übereinstimmt, dann gibt es keinen triftigen Grund für den Parteiwechsel, und er ist deshalb nicht zuzulassen.50 Räumt man dem Gericht eine entsprechende Prüfungskompetenz ein, dann muss andererseits eine zusätzliche Prüfung der Sachdienlichkeit des Beklagtenwechsels bei verweigerter Zustimmung des neuen Beklagten als wenig nützlich abgelehnt werden. Denn eine positive Entscheidung des Gerichts über die Zweckmäßigkeit eines Beklagtenwechsels macht angesichts der dem neuen Beklagten zustehenden Befugnisse zur Änderung der von ihm vorgefundenen Prozessrechtslage wenig Sinn. Es ist folglich nur der Antrag des Klägers als Zulässigkeitsvoraussetzung zu verlangen und die Rolle des Gerichts darauf zu beschränken, einen Parteiwechsel gegebenenfalls als unzweckmäßig abzulehnen. Die in der Berufungsinstanz geltenden Einschränkungen für die Berücksichtigung neuer in erster Instanz nicht vorgetragener Tatsachen gemäß § 529 Abs. 1 ZPO und die Präklusion von Angriffs- und Verteidigungsmitteln durch § 531 ZPO lassen einem Beklagten, der neu in der zweiten Instanz den Rechtsstreit aufnimmt, kaum Möglichkeiten, abweichend von dem Vorbringen des früheren Beklagten seinen Rechtsstandpunkt durchzusetzen. So verlangen die vom Gesetzgeber dem Berufungsverfahren gesetzten Grenzen und die diesem Verfahren zugewiesene Funktion, dass sich der neu eintretende Beklagte Nachlässigkeiten der ausscheidenden Partei i. S. v. § 531 Abs. 1 Nr. 3 ZPO zurechnen lassen muss. Seine Zustimmung zum Beklagtenwechsel bedeutet deshalb die Bereitschaft, die Rechtsposition seines Vorgängers weitgehend unverändert zu übernehmen, also die Bindung an die bestehende Prozesslage zu akzeptieren. Weil eine solche Bereitschaft wohl nur selten bestehen dürfte, kommt der Frage erhebliche Bedeutung zu, ob die erforderliche Zustimmung des neuen Beklagten durch eine Sachdienlichkeitserklärung des Gerichts ersetzt werden kann. Nach dem vom BGH in einer Reihe von Urteilen eingenommenen Standpunkt soll das berechtigte Interesse des neuen Beklagten, 49 50
Roth, NJW 1988, 2989; Blomeyer, Zivilprozeßrecht, 2. Aufl. 1985, § 114 V 1a (S. 664). Lent, JZ 1956, 763 f.
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seine Rechtsposition ohne Einschränkungen im Tatsachenvortrag vertreten zu können, dann nicht als schützenswert angesehen werden, wenn auf Grund der Besonderheiten des konkreten Falles ihm zugemutet werden könne, den schwebenden Rechtsstreit in der Berufungsinstanz zu übernehmen und damit eine Tatsacheninstanz zu verlieren.51 Dies soll beispielsweise zutreffen, wenn der neue Beklagte bereits auf der Seite des bisherigen Beklagten als Vertreter den Rechtsstreit geführt habe und es deshalb ausgeschlossen werden könne, dass er sich anders gegen die Klage verteidigt hätte, wenn er von vornherein als Beklagter selbst in Anspruch genommen worden wäre. Unter diesen Voraussetzungen könne man seine Weigerung als rechtsmissbräuchlich werten und sie deshalb übergehen.52 Seit diesen Entscheidungen sind jedoch das Berufungsrecht durch das Zivilprozessreformgesetz geändert und die Grenzen für ein neues Vorbringen in der zweiten Instanz erheblich enger gezogen worden. Deshalb wird die Auffassung vertreten, dass an dieser Rechtsprechung nicht mehr festgehalten werden könne.53 Dieser Auffassung wäre nur zuzustimmen, wenn die Gesetzesänderung dazu geführt hätte, dass die Weigerung, mit dem Beklagtenwechsel einverstanden zu sein, niemals mehr als rechtsmissbräuchlich gewertet werden könnte. Denn es bleibt unverändert richtig, dass ein missbräuchliches Verhalten vom Gericht unbeachtet gelassen werden darf. Wenn aber der Beklagtenwechsel nicht dazu führt, dass sich die Rechtsposition des neuen Beklagten in Folge seiner erzwungenen Übernahme des Rechtsstreits in der zweiten Instanz im Vergleich zu einer eigenen Prozessführung von Beginn des Prozesses an verschlechtert, dann gibt es keinen triftigen Grund, warum der neue Beklagte nicht den begonnenen Rechtsstreit fortsetzen soll. Eine solche Möglichkeit besteht nach wie vor; und deshalb ist auch weiterhin die zitierte Rechtsprechung des BGH zu beachten.54 Die im geltenden Berufungsrecht enthaltenen Beschränkungen für ein neues Vorbringen hat das Gericht bei der Entscheidung zu berücksichtigen, ob ein schutzwürdiges Interesse des neuen Beklagten an der Weigerung zur Übernahme des Prozesses anzuerkennen ist und ob ihm nach der gesamten Sachlage zuzumuten ist, den bereits im Berufungsrechtszug befindlichen Rechtsstreit fortzusetzen. Im Schrifttum findet sich die Auffassung, dass in den Fällen, in denen sich die Rechtskraft des Urteils auf Dritte erstreckt, der Dritte auch ohne seine Zustimmung an die bestehende Prozesslage gebunden werde, wenn er in den laufenden Prozess eintritt.55 Diese Auffassung wird offensichtlich von der Erwägung getragen, dass 51 BGH NJW 1956, 1599; 1976, 240; 1981, 990; 1984, 2104; 1987, 1946; 1998, 1497; NJW-RR 1986, 356. Das Schrifttum stimmt überwiegend zu, vgl. Kirschstein / Freund, KTS 2002, 660 f.; Blomeyer (Fn. 49), § 114 V 1b (S. 665); Gottwald (Fn. 5), Rn. 24. 52 BGH NJW 1984, 2104; 1987, 1946; a. A. Pohle, MDR 1960, 953. 53 OLG München MDR 2005, 1186; vgl auch Nagel (Fn. 10), S. 216 ff. 54 Schilken (Fn. 20), Rn. 764; Foerste (Fn. 37), § 263 Rn. 15; Becker-Eberhard (Fn. 10), Rn. 79 f.; vgl. auch OLG Rostock MDR 2005, 1011 (zur Parteierweiterung in der Berufungsinstanz). 55 Roth, NJW 1988, 2980 f.
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derjenige, der das rechtskräftige Urteil gegen sich gelten lassen müsse, erst recht die dafür maßgebenden Entscheidungsgrundlagen als verbindlich hinzunehmen habe. Einer solchen Schlussfolgerung kann jedoch nicht zugestimmt werden. Grundsätzlich wirkt die Rechtskraft eines Urteils nur zwischen den Parteien des Rechtsstreits. Diese Beschränkung der Rechtskraft steht in einem engen Zusammenhang mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör, der zwar eine Rechtskraftwirkung gegenüber einem nicht gehörten Dritten nicht ausschließt, jedoch stets dafür eine besondere Rechtfertigung verlangt.56 Wenn auch die Gründe für die Rechtskrafterstreckung auf Dritte durchaus unterschiedlich ausfallen, so lässt sich doch verallgemeinernd feststellen, dass damit regelmäßig das Ziel verfolgt wird, einen zweiten Prozess über denselben Streitgegenstand zu vermeiden und insbesondere dem erfolgreichen Prozessgegner zu ersparen, erneut gegen den Dritten das ihm im ersten Rechtsstreit zugesprochene Recht durchsetzen zu müssen.57 Dabei wird in Kauf genommen, dass die Rechte des Dritten, vor allem sein Anspruch auf rechtliches Gehör, übergangen werden. Die vom Gesetzgeber getroffene Entscheidung über eine Rechtskrafterstreckung beruht auf einer Interessenabwägung. Es werden die Interessen Dritter, nicht mit den Folgen eines zwischen anderen Parteien geführten Rechtsstreits belastet zu werden, dem öffentlichen Interesse gegenübergestellt, eine wiederholte Befassung der Gerichte mit demselben Streitfall zu vermeiden und widersprechende Entscheidungen auszuschließen.58 Kann jedoch der Dritte den Rechtsstreit vor Erlass des Urteils übernehmen und fortführen, dann muss sein Anspruch auf rechtliches Gehör beachtet werden. Allein prozessökonomische Gründe, die für den unveränderten Bestand der bisher erzielten Prozessergebnisse sprechen, reichen nicht als Rechtfertigung dafür aus, dem Dritten zu verwehren, seinen Rechtsstandpunkt auch durch Korrektur von Prozesshandlungen des Vorgängers durchzusetzen. In diesem Punkt besteht kein Unterschied zu anderen Fällen eines Beklagtenwechsels.
III. Verfahrensfragen 1. Gesetzlicher Parteiwechsel Die Aufnahme eines Verfahrens nach einer Unterbrechung wegen Todes einer Partei (§ 239 ZPO) oder wegen Eröffnung des Insolvenzverfahrens (§ 240 ZPO) geschieht durch Einreichung und Zustellung eines entsprechenden Schriftsatzes (§ 250 ZPO). Wird während der Insolvenz das Verfahren vom Insolvenzverwalter aufgenommen, dann sind die §§ 85 ff. InsO maßgebend. Übernimmt bei VeräußeLeipold, in: Stein / Jonas, ZPO, 21. Aufl. 1998 , § 325 Rn. 1. Die Fälle einer Rechtskraftwirkung für und gegen alle, wie sie sich zum Beispiel für Urteile in Kindschaftssachen nach § 640 h ZPO ergibt, sollen hier ausgeklammert werden. 58 BGH NJW 1952, 178. 56 57
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rung des streitbefangenen Gegenstandes der Rechtsnachfolger den Prozess, dann sind die erforderlichen Erklärungen entweder schriftsätzlich oder in der mündlichen Verhandlung abzugeben. In Fällen des § 75 ZPO hat der eintretende Dritte seinen Beitritt regelmäßig in der mündlichen Verhandlung zu erklären,59 während der Beklagte auf Grund eines Antrags, der nach § 297 ZPO zu stellen ist, aus dem Rechtsstreit zu entlassen ist. Über die Entlassung ist nach mündlicher Verhandlung unter den Beteiligten durch Urteil zu entscheiden. Bei diesem Urteil handelt es sich um ein Zwischenurteil, wenn der Antrag auf Entlassung verworfen wird, um ein Endurteil, wenn der Antrag auf Entlassung Erfolg hat.60 Bei der Urheberbenennung (§§ 76, 77 ZPO) ist der Beklagte nach mündlicher Verhandlung aus dem Prozess zu entlassen. Die Entscheidung ergeht in gleicher Weise wie bei dem Gläubigerstreit durch Urteil.61 2. Gewillkürter Parteiwechsel Beim Klägerwechsel hat der neue Kläger dem Beklagten einen den Anforderungen des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO entsprechenden Schriftsatz zustellen zu lassen;62 eine entsprechende Erklärung kann auch in der mündlichen Verhandlung abgegeben werden (§ 261 Abs. 2 ZPO).63 Die erforderliche Zustimmung des bisherigen Klägers kann in gleicher Form erteilt werden.64 In der Berufungsinstanz bildet eine zulässige Berufung die Voraussetzung für einen Klägerwechsel, wenn der neu in den Prozess eintretende Kläger das Rechtsmittel selbst einlegt.65 Wird die Berufung von der ursprünglichen Partei eingelegt, dann kann die infolge des Parteiwechsels an die Stelle des bisherigen Berufungsklägers getretene, neue Partei die Zulässigkeit der rechtzeitig eingelegten Berufung durch eine eigene fristgerechte Begründung wahren.66 Der Beklagtenwechsel stellt sich für den ausscheidenden Beklagten wie eine Klagerücknahme dar. Folglich kann der Kläger den Parteiwechsel gegenüber dem bisherigen Beklagten in der mündlichen Verhandlung oder durch Einreichung eines Schriftsatzes erklären (§ 269 Abs. S. 2 ZPO). Dem neuen Beklagten ist ein der Klageschrift entsprechender Schriftsatz zuzustellen.67 In der Berufungsinstanz ist in gleicher Weise zu verfahren. Die Entscheidung des Gerichts, die bei einem Streit über die Wirksamkeit eines Parteiwechsels ergeht, muss schon wegen der weit reichenden Rechtsfolgen, die Schultes, in: MüKo (Fn. 10), § 75 Rn. 7. Bork (Fn. 31), § 75 Rn. 9. 61 Schultes (Fn. 59), § 76 Rn. 10. 62 Eine Bezugnahme auf die ursprüngliche Klageschrift wird für ausreichend gehalten, weil der Beklagte den bisherigen Verfahrensablauf kenne, OLG Thüringen FamRZ 2001, 1620; Bücking, MDR 1973, 910. 63 OLG Thüringen FamRZ 2001, 1620; Foerste (Fn. 37), § 263 Rn. 20. 64 Becker-Eberhard (Fn. 10), Rn. 76. 65 BGH NJW 1994, 3359; 2003, 2173. 66 BGH NJW 2003, 2173. 67 Greger (Fn. 14), Rn. 20, 23. 59 60
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sich daraus sowohl für die neue als auch für die bisherige Partei ergeben, von jedem angefochten werden können, der durch sie beschwert wird. Deshalb muss in diesen Fällen die Anwendung des § 268 ZPO68 ebenso ausgeschlossen werden wie die Form eines unanfechtbaren Zwischenurteils gemäß § 303 ZPO.69 Die Entscheidung über den Parteiwechsel hat notwendigerweise Wirkungen für alle Beteiligten. Deshalb muss sie auch einheitlich getroffen werden. Der BGH70 hat dies zutreffend in einem Urteil berücksichtigt, in dem über die Zulässigkeit des Parteiwechsels auf der Beklagtenseite in der Berufungsinstanz zu befinden war. Das Gericht lehnt ausdrücklich die Auffassung ab, bei der insoweit zu treffenden Entscheidung handele es sich um ein Zwischenurteil gemäß § 303 ZPO, und bejaht die Anfechtbarkeit der Entscheidung sowohl durch den bisherigen Beklagten, der gegen seinen Willen aus dem Rechtsstreit ausscheiden solle, als auch durch den neuen Beklagten, der gegen seinen Willen in das Verfahren einbezogen werde. Zur Begründung verweist der BGH darauf, dass das Urteil für die ausscheidende Partei den Rechtsstreit beende und deshalb wie ein Endurteil wirke. Der neue Beklagte wende sich mit der Rüge, der Parteiwechsel sei nicht zulässig, gegen die Zulässigkeit der Klage ihm gegenüber und deshalb sei die Entscheidung in Bezug auf ihn als Zwischenurteil gemäß § 280 ZPO zu behandeln, das wie ein Endurteil angefochten werden könne. Der BGH hat damit unausgesprochen Überlegungen aufgegriffen, die der Lehre von de Boor71 entsprechen. De Boor verweist auf die nachteiligen Folgen, insbesondere auf die Gefahr divergierender Entscheidungen, wenn man nicht eine Lösung über eine einheitliche Entscheidung in Form eines Zwischenurteils suche, durch das ein sog. Zwischenstreit zu Dritt entschieden werde und das jeder der drei Beteiligten mit einem Rechtsmittel angreifen könne, wenn er beschwert sei.72 Die dagegen vorgetragenen Bedenken, ein Rechtsstreit zu Dritt widerspreche dem Zweiparteienprinzip der ZPO,73 wirken recht formal und sind auch in der Sache nicht zutreffend. Denn in Fällen eines gesetzlichen Parteiwechsels, nämlich bei dem Prätendentenstreit nach § 75 ZPO und bei einer Urheberbenennung nach §§ 76, 77 ZPO, kommt ein Rechtsstreit zu Dritt ebenfalls vor.74 Der vom BGH vorgezeichnete Lösungsweg ist deshalb in allen Fällen eines Streits über die Wirksamkeit eines Parteiwechsels einzuschlagen und Differenzierungen nach Partei und Instanz abzulehnen.75 A. A. BGH NJW-RR 1987, 1085 (zum Klägerwechsel). A. A. Schilken (Fn. 20), Rn. 767; Schlinker, Jura 2007, 3. 70 BGH NJW 1981, 989. 71 Zur Lehre vom Parteiwechsel und vom Parteibegriff, 1941, S. 131 ff., 142 (zugleich veröffentlicht in Festschrift Siber, Band II, 1943). 72 Ebenso OLG München NJW 1967, 1812. 73 Franz, NJW 1982, 15. 74 Darauf verweist bereits de Boor (Fn. 71), S. 131 ff.; ebenso U. Heinrich (Fn. 10), S. 117. 75 So auch die h. M. im Schrifttum, vgl. Gottwald (Fn. 5), Rn. 28; U. Heinrich (Fn. 10), S. 117; Gofferjé (Fn. 40), S. 81 ff., 140; Saenger (Fn. 10), § 263 Rn. 25, § 268 Rn. 2; Becker-Eberhard (Fn. 10), Rn. 91 f.; Foerste (Fn. 37), § 263 Rn. 17, 20: Schumann (Fn. 10), Rn. 127 ff.; Hüßtege (Fn. 21); Vorbem. zu § 50, Rn. 27 ff. 68 69
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Das Verhältnis des Streits über die Zulässigkeit des Parteiwechsels und des Streits über die Hauptsache richtet sich nach den Regeln, die § 280 Abs. 2 ZPO zu entnehmen sind. Danach steht es im Ermessen des Gerichts, ob es zunächst die Rechtskraft der Entscheidung über die Zulässigkeit des Parteiwechsels abwartet oder ob es die Verhandlung über die Hauptsache auf Antrag einer Partei fortsetzt.76 Ergeht ein Urteil über die Hauptsache, bevor rechtskräftig über die Zulässigkeit des Parteiwechsels befunden worden ist, dann steht dieses Urteil unter einer auflösenden Bedingung und fällt weg, wenn das Urteil über die Zulässigkeit des Parteiwechsels aufgehoben wird.77
IV. Fazit Als wichtigste Ergebnisse der angestellten Betrachtung lässt sich feststellen, dass erhebliche Unterschiede zwischen den gesetzlich geregelten Fällen eines Parteiwechsels und dem ungeregelt gebliebenen gewillkürten Parteiwechsel bestehen, die es verhindern, dass Parallelen und Schlussfolgerungen aus der gesetzlichen Regelung gezogen werden, die sich richtungsweisend für den gewillkürten Parteiwechsel verwerten lassen. Auch der Versuch, den Parteiwechsel als eine Klageänderung aufzufassen, führt nicht zu überzeugenden Ergebnissen. Deshalb ist der im Schrifttum vorherrschenden Meinung zuzustimmen, dass es sich bei dem gewillkürten Parteiwechsel um ein eigenständiges Rechtsinstitut des Prozessrechts handelt, das sich rechtsfortbildend entwickelt hat und bei dem somit die Regeln zu beachten sind, die bei der Schließung von Lücken im Gesetz gelten. Dies bedeutet, dass nicht eine unveränderte Übernahme der in der ZPO enthaltenen Regelungen, wohl aber eine Orientierung an ihnen geboten ist. Auf diese Weise kann sich durchaus im Einzelfall eine Annäherung an die von der Klageänderungstheorie vertretenen Auffassung ergeben, zumal auch Vertreter diese Theorie eine pragmatische Weiterentwicklung der für die Klageänderung geltenden Grundsätze empfehlen.78 Will man auf dieser Grundlage Lösungen entwickeln, dann darf nicht der enge Zusammenhang unbeachtet bleiben, der zwischen den einzelnen aufgeworfenen Fragen besteht. Die Stellungnahme zur Rechtsnatur des gewillkürten Parteiwechsels wird wesentlich durch die zu stellenden Anforderungen an die Zulässigkeit beeinflusst, die ihrerseits wiederum eine wichtige Bedeutung für die Antwort auf die Frage haben, in welchem Umfang die neu in den Rechtsstreit eintretende Partei an die bisher erzielten Prozessergebnisse gebunden ist. Wer die Grenzen für diese Bindungswirkungen ziehen will, stößt auf den neuralgischen Punkt innerhalb der gesamten Problemlage, der durch den möglichen Interessengegensatz 76 77 78
Gofferjé (Fn. 40), S. 83. Foerste (Fn. 37), § 280 Rn. 8 ff. Putzo (Fn. 6), S. 160.
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zwischen Prozessökonomie und dem grundgesetzlich verbürgten Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör geschaffen wird. Entscheidet man über die Zulässigkeit eines Parteiwechsels vornehmlich unter prozessökonomischen Gesichtspunkten, dann erscheint es durchaus als folgerichtig, die Zulassung eines Austausches der Parteien von der Fortgeltung der bisher im Prozess gewonnenen Ergebnisse abhängig sein zu lassen.79 Die Interessen des Nachfolgers der aus einem laufenden Prozess ausscheidenden Partei verlangen dagegen umgekehrt nach einer ungehinderten Durchsetzung des eigenen Rechtsstandpunkts. Es muss folglich nach einem Kompromiss gesucht werden, bei dem jedoch dem Anspruch der betroffenen Partei auf rechtliches Gehör schon wegen seiner grundgesetzlichen Ausgestaltung Vorrang einzuräumen ist. Daraus folgt, dass grundsätzlich keine Partei gegen ihren Willen gezwungen werden kann, einen laufenden Prozess als Nachfolger einer ausscheidenden Partei zu übernehmen, wenn sie gehindert ist, ohne Einschränkungen ihren Rechtsstandpunkt darzulegen. Daraus ergibt sich im Gegenschluss aber auch, dass es auf ihre Zustimmung nicht ankommt, wenn sich für sie im Vergleich zur Rechtslage, die entsteht, wenn sie von Beginn an den Prozess geführt hätte, keine Nachteile ergeben. Dies ist der Fall, wenn ein Beklagtenwechsel in erster Instanz vollzogen wird, weil der neue Beklagte dann in der Lage ist, seinen Rechtsstandpunkt ohne Beschränkungen durchzusetzen. Eine vergleichbare Situation kann sich auch in einer höheren Instanz ergeben, wenn derjenige, der bisher für einen anderen – z. B. als Vertreter seines Vorgängers – unbeeinflusst den Prozess geführt hat, den Rechtsstreit als Partei fortsetzen soll. Dagegen lässt sich allein aus der Erstreckung der Rechtskraft eines Urteils auf einen Dritten keine Rechtfertigung dafür finden, den Dritten an die Prozessergebnisse zu binden, wenn er als Partei in einen laufenden Prozess eintritt. Die Gründe für eine Rechtskrafterstreckung lassen den Anspruch auf rechtliches Gehör unberührt. Stets ist die Zulässigkeit eines gewillkürten Parteiwechsels zu verneinen, wenn solche Unterschiede zwischen dem Prozessstoff des bisherigen und des fortgesetzten Rechtsstreits bestehen, dass eine Verwertbarkeit der erzielten Prozessergebnisse bei der Prozessfortsetzung auszuschließen ist. Jede Partei, die durch die gerichtliche Entscheidung über einen Parteiwechsel beschwert wird, ist berechtigt, die Entscheidung anzufechten. Die Notwendigkeit einer einheitlichen Entscheidung für alle Beteiligten führt dazu, dass der Streit über die Zulässigkeit eines Parteiwechsels durch Urteil zu entscheiden ist, das sich für die aus dem Rechtsstreit ausscheidende Partei als Endurteil darstellt und das hinsichtlich der den Rechtsstreit fortsetzenden Partei als Zwischenurteil aufzufassen ist, das selbstständig angefochten werden kann.
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U. Heinrich (Fn. 10), S. 68.
Bedürfnisorientierte Zulassung von Rechtsanwälten bei dem Bundesgerichtshof – „alter Zopf“ oder notwendiges Instrument zur Förderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung? Von Ralf Müller-Terpitz
I. Vorbemerkung Der Jubilar gehört zu jener immer kleiner werdenden Gruppe „juristischer Universalgelehrter“, die sich gleich mit mehreren Forschungsgebieten intensiv und virtuos befassen. So gilt sein besonderes Interesse unter anderem den Grundrechten und ihrer Dogmatik. Im Rahmen dieses weitgesteckten Themenfelds hat der Jubilar insbesondere die Berufsfreiheit beleuchtet.1 Aber auch das Prozessrecht liegt dem Jubilar als Herausgeber und Autor eines renommierten Bundesverfassungsgerichtskommentars bekanntlich sehr am Herzen. Dies ist Anlass genug, ihm einen Beitrag zu widmen, der beide Thematiken miteinander verbindet. Dabei geht es um eine Fragestellung, die wiederholt den Bundesgerichtshof und zu Beginn des Jahres 2008 auch das Bundesverfassungsgericht beschäftigte. Obschon diesem Vorgang nicht die gleiche breite Öffentlichkeit wie etwa dem Rauchverbot in Gaststätten zu teil wurde, kommt ihm doch große Bedeutung für eine Berufsgruppe zu, deren Ausbildung naturgemäß in den Hörsälen juristischer Fakultäten beginnt. Worum ging es?
II. Die Anwaltschaft bei dem Bundesgerichtshof – eine „geschlossene Gesellschaft“ Wer beabsichtigt, als Rechtsanwalt tätig zu werden, bedarf hierzu neben der Befähigung zum Richteramt nach dem Deutschen Richtergesetz2 oder deren Substi1 Erinnert sei hier an seine den rechtswissenschaftlichen Diskurs nach wie vor befruchtende Dissertation „Der verfassungsrechtliche Standort der ,staatlich gebundenen‘ Berufe, Köln 1968. Aus jüngerer Zeit vgl. „Art. 12 Abs. 1 GG als Grundrecht der gewerblichen Veranstaltung und Vermittlung von Glücksspielen im Bereich von Sportwetten“, in: Wirtschaft und Verwaltung 2008, 77 ff. 2 In der Fassung der Bekanntmachung vom 19. 4. 1972 (BGBl. I S. 713), zuletzt geändert durch § 62 Abs. 9 des Gesetzes vom 17. 6. 2008 (BGBl. I S. 1010).
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tute einer Zulassung durch diejenige Rechtsanwaltskammer, in deren Bezirk der Bewerber zugelassen werden möchte.3 Ist die Zulassung, die nur unter sehr restriktiven Voraussetzungen versagt werden darf,4 einmal erteilt, so ist der Rechtsanwalt vor allen nationalen Gerichten gleich welcher Gerichtsbarkeit und gleich welcher Instanz postulationsfähig – mit einer Ausnahme: den Zivilsenaten des Bundesgerichtshofs. Denn nach § 164 BRAO kann beim Bundesgerichtshof nur zugelassen werden (und dementsprechend auftreten), wer durch einen Wahlausschuss benannt und gemäß § 170 Abs. 1 BRAO vom Bundesjustizministerium ernannt worden ist. Dieser Wahlausschuss besteht aus dem Präsidenten und den zwölf Senatspräsidenten der Zivilsenate des Bundesgerichtshofs sowie aus den sechs Mitgliedern des Präsidiums der Bundesrechtsanwaltskammer und den fünf Mitgliedern des Präsidiums der Rechtsanwaltskammer bei dem Bundesgerichtshof – insgesamt also aus 24 Mitgliedern.5 In nicht öffentlicher Sitzung und geheimer Abstimmung benennt dieser Wahlausschuss aus Vorschlagslisten, die von der Bundesrechtsanwaltskammer oder von der Rechtsanwaltskammer bei dem Bundesgerichtshof eingereicht werden können,6 die doppelte Zahl von Rechtsanwälten, „die er für die Zulassung bei dem Bundesgerichtshof für angemessen hält“.7 In die Vorschlagslisten darf nur aufgenommen werden, wer das fünfunddreißigste Lebensjahr vollendet hat und den Beruf des Rechtsanwalts seit mindestens fünf Jahren ohne Unterbrechung ausübt.8 Ein Anspruch auf Zulassung als Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof wird durch die Benennung allerdings nicht begründet.9 Vielmehr teilt der Präsident des Bundesgerichtshofs als Vorsitzender des Wahlausschusses das Ergebnis der Wahlen dem Bundesministerium der Justiz mit,10 welches sodann über den Zulassungsantrag entscheidet.11 Dabei ist es an die vom Wahlausschuss für angemessen erachtete Zahl von Zulassungen sowie an die vorgeschlagene Reihung der Bewerber nicht gebunden.12 Der Weg zum Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof ist folglich steil und steinig. Wer ihn beschreitet, muss nicht nur subjektiven Kriterien wie Alter und Dauer der Berufstätigkeit genügen, sondern auch die Hürde eines objektiven Bedürfnisses („angemessene Zahl“) überwinden. Wie hoch diese Zulassungshürde de facto ist, 3 Vgl. §§ 4 u. 6 der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) in der im BGBl. III, Gliederungsnr. 303-8, veröffentlichten bereinigten Fassung, zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 12. 6. 2008 (BGBl. I S. 1000). 4 Vgl. insoweit § 7 BRAO. 5 Vgl. § 165 Abs. 1 BRAO. 6 Vgl. § 166 Abs. 1 u. 2 BRAO. 7 Vgl. § 168 Abs. 2 BRAO. 8 § 166 Abs. 3 BRAO. 9 § 168 Abs. 3 BRAO. 10 § 169 Abs. 1 BRAO. 11 § 170 Abs. 1 BRAO. 12 Für Letzteres vgl. BGHZ 169, 77 ff. Wohl aber ist das Bundesjustizministerium an die sich aus § 168 Abs. 2 BRAO ergebende Höchstzahl der Benannten gebunden.
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verdeutlicht die Statistik eindrucksvoll: So besaßen bis 2007 von insgesamt knapp 140.000 zugelassenen Rechtsanwälten gerade einmal 31 eine BGH-Zulassung. Aufgrund des Wahlgangs im Jahre 2006 sind Anfang 2007 13 weitere Anwälte hinzugekommen. Ihre Gesamtzahl beläuft sich gegenwärtig auf 41 – eine kleine, aber feine „geschlossene Gesellschaft“, die sich nicht nur als Elite der zivilrechtlich tätigen Rechtsanwälte begreift, sondern aufgrund ihrer geringen Zahl und ihres Postulationsmonopols vor dem Bundesgerichtshof auch über eine „auskömmliche Lebensgrundlage“13 verfügt und zudem von einer stark konkurrenzgeprägten Mandantenakquise enthoben ist.
III. Die BGH-Rechtsprechung zur bedürfnisorientierten Kontingentierung Diese „geschlossene Gesellschaft“, in die man nur unter sehr restriktiven Voraussetzungen aufgenommen zu werden vermag, stößt bei zahlreichen, ihr nicht angehörigen Rechtsanwälten auf Skepsis oder gar Ablehnung. Zu einfach wäre es jedoch, die insoweit kritischen Stimmen als Ausdruck von Neid und Missgunst auf (vermeintlich) privilegierte Kollegen am Bundesgerichtshof abzutun.14 Vielmehr hat das System bedürfnisorientierter Kontingentierung zur Folge, dass die nicht zugelassenen Anwälte ihre Mandanten, die sie bereits in den Vorinstanzen vertrauensvoll und womöglich erfolgreich vertreten haben, nun nicht mehr federführend in die letzte „fachgerichtliche Schlacht“ – die Revisionsinstanz – zu führen berechtigt sind. Rechtsanwälte, die über einen hohen Spezialisierungsgrad verfügen oder mit persönlich sensiblen Rechtsfragen (etwa des Familienrechts) betraut sind, fühlen sich durch dieses Zulassungssystem nicht selten in ihrer anwaltlichen Tätigkeit stark beeinträchtigt. Schon seit einigen Jahren werden im berufsrechtlichen Schrifttum deshalb verfassungsrechtliche Bedenken gegen dieses bedürfnisorientierte Zulassungsverfahren artikuliert.15 Gerügt wird die mangelnde Regelungsdichte, sprich die fehlende Bestimmtheit der §§ 164 bis 170 BRAO, welche im Kern lediglich verfahrensrechtliche Vorgaben für die Zusammensetzung des Wahlausschusses und für den Ablauf des Wahlverfahrens statuieren, das objektive Bedürfnis für weitere Zulassungen jedoch lediglich über den juristisch „blutarmen“ Begriff der Angemessenheit steuern. Zudem wird eine bedürfnisorientierte Kontingentierung der BGH-Anwaltschaft wegen anderer Möglichkeiten der Zulassungssteuerung nicht für erforderlich gehalten. Der Bundesgerichtshof hat derartige Bedenken stets zurückgewiesen, so zuletzt in seinem Beschluss vom 5. Dezember 2006.16 Zusammengefasst verläuft seine So die Formulierung von BVerfG-K NJW 2008, 1294. In diese Richtung aber der Vorwurf des BGH-Anwalts Nirk, NJW 2007, 3184. 15 So vor allem von Braun / Köhler, NJW 2005, 2592 ff.; Hartung, JZ 1994, 117 ff.; ders., in: Henssler / Prütting, BRAO, 2. Aufl. 2004, § 168; Krämer, Die Rechtsanwaltschaft beim BGH – Rechtsstellung und Verfassungsmäßigkeit, 2004, S. 229 ff. 13 14
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Argumentation dabei wie folgt: Das Gericht erachtet die bedürfnisorientierte Kontingentierung für verfassungsrechtlich gerechtfertigt, da der BGH-Anwaltschaft eine wichtige Filterfunktion zukomme, die es den Zivilsenaten des Bundesgerichtshofs erst ermögliche, sich auf ihre genuin revisionsgerichtlichen Aufgaben – namentlich die Wahrung der Rechtseinheit und die Fortbildung des Rechts – zu konzentrieren. Zudem steigere eine unabhängige BGH-Anwaltschaft die Qualität der Mandantenbetreuung und damit mittelbar auch die Qualität der Rechtsprechung.17 In früheren Entscheidungen zog der Bundesgerichtshof darüber hinaus den hohen Komplexitätsgrad des zivilprozessualen Revisionsrechts zur Rechtfertigung heran.18 Letzteres Argument ist durch die am 1. Januar 2002 wirksam gewordene ZPO-Reform,19 mit der die zivilprozessuale Revision in ihren Grundzügen dem Revisionsrecht der anderen obersten Bundesgerichte angeglichen wurde,20 jedoch fragil geworden.21 Das Argument wurde vom Bundesgerichtshof in seiner jüngsten Entscheidung denn auch nicht mehr aufgegriffen.
IV. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur bedürfnisorientierten Kontingentierung Neue Bewegung in diese verfassungsrechtliche Kontroverse brachte das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Dezember 2000 zur Singularzulassung von Rechtsanwälten bei den Oberlandesgerichten. Dem Gericht zufolge verstieß diese gegen Art. 12 Abs. 1 GG. Zur Begründung stellte es darauf ab, dass eine in der Vorinstanz obsiegende Partei einen aufgezwungenen Anwaltswechsel als Störung des zu ihrem Anwalt bestehenden besonderen Vertrauensverhältnisses empfinden würde.22 Gerade das Argument des aufgezwungenen Anwaltswechsels war es, das bei den Kritikern der bedürfnisorientierten Kontingentierung Hoffnung auf rasche „verfassungsgerichtliche Schützenhilfe“ aufkeimen ließ. Nur knapp zwei Jahre später erhielt diese Hoffnung in Gestalt eines Nichtannahmebeschlusses des Bundesverfassungsgerichts jedoch einen empfindlichen Dämpfer. Der Beschluss betraf § 172 16 Az. AnwZ 2 / 06, abgedruckt in NJW 2007, 1136 ff. Zuvor schon BGHZ 162, 199 (207 ff.). 17 BGH NJW 2007, 1137. 18 S. etwa BGH, Az. AnwZ 3 / 03, NJW 2005, 2305. 19 BGBl. 2001 I S. 1887. 20 Und zwar weg von einem Mischsystem aus Zulassungs- und Streitwertrevision hin zu einer reinen Zulassungsrevision mit Nichtzulassungsbeschwerde – vgl. § 543 ZPO. 21 Dass es nach dieser Reform keiner durch ein Alleinvertretungsrecht abgeschirmten Anwaltschaft mehr bedarf, die – im Interesse des BGH wie der Mandanten – sowohl mit den besonderen Schwierigkeiten des Revisionsrechts als auch mit den Feinheiten der BGH-Rechtsprechung vertraut ist, konzediert selbst der BGH-Anwalt Brändel, ZRP 2001, 113 f. 22 Vgl. BVerfGE 103, 1 (16) – OLG-Singularzulassung.
Zulassung von Rechtsanwälten bei dem Bundesgerichtshof
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BRAO, welcher die Tätigkeit der Rechtsanwälte beim Bundesgerichtshof auf dieses Gericht und auf die anderen obersten Bundesgerichtshöfe beschränkt. Diese Beschränkung – so das Bundesverfassungsgericht – fördere die Rechtspflege durch eine leistungsfähige und in Revisionssachen besonders qualifizierte Anwaltschaft.23 Allerdings traf das Gericht explizit keine Aussagen zu den Regelungen des Auswahlverfahrens (§§ 166 – 170 BRAO), da diese nicht Gegenstand des damaligen Rechtsstreits waren. Auch deutete das Gericht an, dass im Hinblick auf das neue Prozessrecht, welches – wie berichtet – die Revisionszulassung beim Bundesgerichtshof an die finanz-, sozial- und verwaltungsgerichtlichen Verfahren angeglichen hat, weiter beobachten werden müsse.24 Die Frage der Verfassungsmäßigkeit des kontingentierten Zulassungsverfahrens war damit letztlich nicht präjudiziert.25 Die Gelegenheit zu einer verfassungsgerichtlichen Klärung ergab sich sodann im Anschluss an das Wahlverfahren aus dem Jahre 2006, als ein nicht in den Wahlvorschlag aufgenommener Bewerber nach Erschöpfung des fachgerichtlichen Rechtsschutzes den Weg zum Bundesverfassungsgericht fand. Allerdings nahm das Gericht die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an, da es die Regelungen zur bedürfnisorientierten Zulassung sowohl für hinreichend bestimmt als auch für verhältnismäßig hielt. Ob diese Argumentation überzeugt, soll im Weiteren näher betrachtet werden. Aus wissenschaftlicher Redlichkeit offenbart der Verfasser dabei, dass er an dem Verfahren auf Seiten des Beschwerdeführers beteiligt war. Diese Parteilichkeit delegitimiert jedoch nicht eine kritische Rückschau, sondern soll den Blick für eine andere Sichtweise schärfen. So wird zu zeigen sein, dass die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts schon aus dogmatischen Gründen nicht über jeden Zweifel erhaben ist. Zudem soll veranschaulicht werden, dass – wenn schon nicht de constitutione lata, so aber zumindest de lege ferenda – nach wie vor gute Gründe bestehen, die schon seit längerem diskutierte Reform der bedürfnisorientierten Zulassung von BGH-Anwälten in Angriff zu nehmen.
Vgl. BVerfGE 106, 216 (220) – BGH-Singularzulassung. Vgl. BVerfG-K NJW 2002, 3766. 25 Der Vollständigkeit halber sei im Übrigen darauf hingewiesen, dass das BVerfG zur kontingentierten Zulassung von BGH-Anwälten bereits in einem – allerdings nicht veröffentlichten – Beschluss eines Vorprüfungsausschusses vom 24. 3. 1982 (Az. 1 BvR 278 / 75 u. a.) Stellung bezogen und die Bestimmungen – soweit aus Sekundärquellen bekannt – für verfassungsgemäß erachtet hatte (vgl. insoweit BGH NJW 2007, 1137). Dieser Beschluss lag allerdings so lange zurück, dass ihm wegen des veränderten rechtlichen und tatsächlichen Umfelds keine (faktisch) präjudizierende Wirkung mehr zukommen konnte. 23 24
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V. Argumentation und Kritik im Detail 1. Berufsausübungs- oder Berufswahlregelung? Nicht ohne Bedeutung für den Ausgang des Verfahrens war zunächst die Frage, ob es sich bei den bedürfnisorientierten Zulassungsregelungen um Bestimmungen handelt, welche die Berufswahl oder die Berufsausübung betreffen. Konnte das Gericht diese Frage in einer früheren Entscheidung noch offen lassen,26 so musste es nunmehr zu ihr Stellung beziehen. Denn bekanntlich werden an beide Regelungstypen nicht die gleich hohen Legitimationsanforderungen gestellt: So sind Berufsausübungsregelungen grundsätzlich schon dann verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn sie durch vernünftige Erwägungen des Allgemeinwohls legitimiert werden können, wobei das Gericht dem Gesetzgeber diesbezüglich einen weiten Einschätzungsspielraum zubilligt. Objektive Berufswahlregelungen in Gestalt von Kontingentierungen hingegen halten einer Rechtfertigung am Maßstab des Art. 12 Abs. 1 GG nach gängiger Diktion des Bundesverfassungsgerichts nur Stand, wenn sie „zur Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut“ erforderlich sind.27 Da diese Gefahren „nachweisbar“ oder „höchstwahrscheinlich“ sein müssen, intensiviert das Gericht hier zugleich seine Kontrolldichte und drängt spiegelbildlich den Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers zurück. Ob die kontingentierenden Zulassungsbeschränkungen der §§ 164 ff. BRAO diesem hohen Legitimationsniveau genügten, muss a limine bezweifelt werden. Hiergegen spricht bereits, dass die Revisionsverfahren vor den anderen obersten Gerichtshöfen des Bundes einschränkungslos jedem Rechtsanwalt offen stehen. Obschon diese Gerichte ebenfalls eine erhebliche Zahl an Revisionsanträgen und Nichtzulassungsbeschwerden zu bewältigen haben, werden sie auch ohne den Filter einer nach objektivem Bedürfnis zugelassenen Spezialanwaltschaft nicht an der Erfüllung ihrer revisionsrechtlichen Aufgaben gehindert. Wie zuvor bereits der Bundesgerichtshof28 qualifiziert die Kammer das bedürfnisorientierte Zulassungsverfahren allerdings nicht als eine objektive Berufswahl-, sondern lediglich als eine Berufsausübungsschranke. Zur Abgrenzung beider Regelungstypen rekurriert das Gericht auf seine ständige Rechtsprechung, der zufolge ein eigenständiger Beruf voraussetzt, dass sich die berufliche Tätigkeit von der anderer Berufe wesensmäßig unterscheidet und die Berufsträger in der sozialen Wirklichkeit als eigene Berufsgruppe in Erscheinung treten.29 Legt man diesen Maßstab zugrunde, so könnte für ein eigenständiges Berufsbild „BGH-RechtsVgl. BVerfGE 106, 216 (219) – BGH-Singularzulassung. Locus classicus: BVerfGE 7, 377 Ls. 6c. 28 Vgl. insoweit BGH BRAK-Mitt. 1983, 136; BGH BRAK-Mitt. 2002, 133; BGHZ 162, 199 (201 f.); BGH NJW 2007, 1137. 29 Vgl. insoweit nur BVerfGE 86, 28 (38); BVerfG-K NJW 2008, 1293. 26 27
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anwalt“ sprechen, dass Personen, die sich für eine BGH-Zulassung entscheiden, in beruflicher Hinsicht eine grundlegende und auf Dauer ausgerichtete „Lebensentscheidung“ treffen: Sie müssen nicht nur ihre bisherige Sozietät,30 sondern auch ihren Mandantenstamm aufgeben. Ihre Postulationsfähigkeit ist im Wesentlichen auf das Auftreten vor dem Bundesgerichtshof beschränkt,31 und ihr Tätigkeitsschwerpunkt liegt nunmehr im Revisionsrecht.32 Hinzu kommt, dass die Rechtsanwälte beim Bundesgerichtshof kaum über unmittelbare Mandantenkontakte verfügen, sie aufgrund ihrer monopolartigen Stellung keine Mandantenakquise zu betreiben brauchen und in einer eigenen Standesvertretung – der Rechtsanwaltskammer bei dem Bundesgerichtshof (§ 174 BRAO) – organisiert sind. Außerhalb der Rechtsanwaltschaft werden BGH-Anwälte bisweilen sogar mit Angehörigen der Bundesanwaltschaft verwechselt oder allgemein für „BGH-Beamte“ gehalten.33 Dennoch übt nach Auffassung der Kammer ein BGH-Anwalt keinen eigenständigen Beruf aus, sondern betätigt sich in einem bestimmten Teilbereich des durch die Rechtstradition geprägten Anwaltsberufs. So werde die Zulassung als Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof von Gesetzes wegen als bloßer Wechsel der Zulassung innerhalb der als Einheit verstandenen Rechtsanwaltschaft ausgestaltet. Des Weiteren verwende auch der BGH-Anwalt die Berufsbezeichnung „Rechtsanwalt“ und gälten – abgesehen von den besonderen Regelungen in den §§ 163 ff. BRAO – die Vorschriften des Ersten bis Siebten Teils der Bundesrechtsanwaltsordnung, der Berufsordnung und des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes auch für die am Bundesgerichtshof tätigen Rechtsanwälte. Schließlich träten diese in der sozialen Wirklichkeit nicht als eigene Berufsgruppe in Erscheinung. Denn trotz der skizzierten persönlichen wie beruflichen Veränderungen, die ein Wechsel zur BGH-Anwaltschaft mit sich bringe, unterscheide sich deren Tätigkeit in einem prägenden Berufsmerkmal – namentlich in der staatlicher Einflussnahme entzogenen, unabhängigen Wahrnehmung der Interessen der Rechtsuchenden – nicht von der anderer Rechtsanwälte.34 Vgl. § 172a BRAO. Zwar dürfen die beim BGH zugelassenen Rechtsanwälte nicht nur vor Letzterem, sondern auch vor den anderen obersten Gerichtshöfen des Bundes, dem Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe und dem BVerfG auftreten; zudem wird das Recht, vor internationalen oder gemeinsamen zwischenstaatlichen Gerichten aufzutreten, durch die BRAO nicht berührt. Faktisch treten BGH-Anwälte indessen nur beim BGH auf, da sich die Mandanten vor den anderen obersten Bundesgerichten, dem BVerfG und den inter- bzw. supranationalen Gerichten in aller Regel durch nicht beim BGH zugelassene Rechtsanwälte vertreten lassen; vgl. insoweit Brändel, ZRP 2001, 112. 32 So die richtige Beschreibung der Kammer, NJW 2008, 1294. 33 So Brändel, ZRP 2001, 113. Wegen dieser abweichenden gesetzlichen Ausgestaltung und der sozialen Unterschiede qualifizieren die BGH-Rechtsanwaltschaft als eigenes Berufsbild und die §§ 164 ff. BRAO dementsprechend als Berufswahlregelungen Braun / Köhler, NJW 2005, 2593; Hartung, JZ 1994, 119 f.; ders. (Fn. 15), § 168 Rn. 9. 34 S. BVerfG-K NJW 2008, 1294. Im berufsrechtlichen Schrifttum qualifizierten schon bislang die §§ 164 ff. lediglich als Berufsausübungs- und nicht als Berufswahlregelungen: 30 31
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Geradezu lehrbuchhaft veranschaulicht der vorliegende Sachverhalt, welche Schwierigkeiten es bereiten kann, die einzelnen Stufen der sog. „Drei-StufenTheorie“ voneinander abzuschichten. Zudem wird deutlich, dass auch eine Berufsausübungsregelung intensiv in die Berufsfreiheit einzugreifen vermag. Mit plausibler Argumentation gelangt die Kammer jedenfalls zu dem Ergebnis, dass es sich bei der BGH-Rechtsanwaltschaft nicht um ein eigenständiges Berufsbild, bei den bedürfnisorientierten Zulassungsregelungen mithin „nur“ um Berufsausübungsschranken handelt. Wegen der bisweilen schwierigen Abgrenzung der Stufen geht das Bundesverfassungsgericht jedoch in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die Stufen durchlässig sein müssen, weshalb die Einordnung des Eingriffs auf eine bestimmte Stufe dessen Intensität noch nicht hinreichend determiniert. Denn auch ein Eingriff in die Freiheit der Berufsausübung kann – wie gerade der vorliegende Fall veranschaulicht – in seinen Wirkungen subjektiven oder objektiven Wahlbeschränkungen nahe kommen.35 In derartigen Fällen müssen folglich auch die Anforderungen an die Rechtfertigung solcher Eingriffe steigen. Das Maß der Beschränkung des Einzelnen und die Erforderlichkeit der Norm zum Schutze des Allgemeinwohls sind deshalb sorgfältig abzuwägen. Je einschneidender die Freiheit der Berufsausübung beengt wird, desto höher müssen die Anforderungen an die Dringlichkeit der öffentlichen Interessen sein, die zur Rechtfertigung solcher Beengung ins Feld geführt werden können.36 So verhält es sich auch hier: Losgelöst von der Frage, ob es sich um Berufsausübungs- oder Berufswahlregelungen handelt, normieren die §§ 164 ff. BRAO eine (auch) an objektiven Kriterien orientierte bedarfsgerechte Zulassung und versperren damit – unabhängig von persönlicher und fachlicher Eignung – etlichen Bewerbern den Zugang zu dieser Form der anwaltlichen Tätigkeit. Die bedürfnisorientierten Zulassungsregelungen statuieren mithin mehr als nur „wettbewerbsneutrale“ Berufsausübungsschranken. Zu Recht stellt die Kammer deshalb fest, dass es sich jedenfalls um eine Berufsausübungsregelung handelt, welche Elemente enthält, „die einer Einschränkung der Berufswahl nahe kommen“.37 Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum ist dieser Regelungstyp auch als „statusbildende Berufsausübungsschranke“ charakterisiert worden, die zwischen der ersten und zweiten Stufe der Drei-Stufen-Lehre einzuordnen sein soll.38 Entsprechend werden die Rechtfertigungsanforderungen erhöht, welche sich nicht bloß in vernünftigen Erwägungen des Allgemeinwohls erschöpfen dürfen, sondern darüber Droege, NJW 2002, 177; Kleine-Cosack, BRAO, 4. Aufl. 2003, Vor § 164 Rn. 2; Krämer (Fn. 15), S. 237 ff. 35 Vgl. BVerfGE 11, 30 (42 f., 44 f.); 33, 125 (161); 86, 28 (38 f.). 36 Vgl. BVerfGE 11, 30 (42 f.). 37 BVerfG-K NJW 2008, 1293 unter Berufung auf BVerfG (Vorprüfungsausschuss), Beschluss v. 24. 3. 1982 – 1 BvR 278 / 75 u. a., sowie BGHZ 162, 199 (201 f.). 38 So namentlich Krämer (Fn. 15), S. 245 unter Bezugnahme auf BVerfGE 11, 30 (41 f., 44 f.).
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hinaus zur Abwehr konkreter Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter erforderlich und angemessen sein müssen.39 Die Kammer schweigt sich demgegenüber zum konkreten Prüfungsmaßstab aus: Zwar qualifiziert sie die Zugangssperre als eine Beschränkung, die einer Berufswahlregelung zumindest nahe kommt, und deutet damit an, dass auch sie von erhöhten Rechtfertigungsanforderungen auszugehen scheint. Diese Erkenntnis relativiert sie indessen sogleich wieder mit dem Argument, dass die Zugangsbeschränkung nur einen verschwindend geringen Teil des anwaltlichen Tätigkeitsspektrums berühre. Das Gericht kommt deshalb sogar zu einem fast konträren Ergebnis, indem es – im gleichen Absatz der Entscheidungsgründe – feststellt, „dass der Eingriff nicht annähernd ein Gewicht erlangt, wie es typischerweise Berufswahlregelungen zukommt“.40 Das Gericht derogiert damit seine zunächst getroffene Feststellung. Dieser bemerkenswerte Vorgang findet seine Ursache in dem Umstand, dass sich die Kammer aus der Grundrechten wesensimmanenten subjektiven Perspektive löst und für die Bewertung der Schwere des Eingriffs auf eine allgemeine objektive Bilanzierung ausweicht. Der Eingriff soll nicht schwerwiegend sein, da dem Anwalt ja noch andere Möglichkeiten der anwaltlichen Berufsentfaltung zur Verfügung stünden – so der hieraus abgeleitete Schluss. Entscheidend für das Gewicht des Eingriffs kann indes nicht sein, welche sonstigen beruflichen Optionen einem Grundrechtsträger offen stehen. Mit dieser Begründung könnte unter Verweis auf die schier grenzenlosen beruflichen Entfaltungsmöglichkeiten eine stattliche Zahl von Berufsbildern kontingentiert werden, da es dem Grundrechtsberechtigten stets möglich ist, sich anderen beruflichen Betätigungen zuzuwenden. Just diese beabsichtigt er jedoch nicht in Anspruch zu nehmen. Das Gericht verliert hier seine eigene, richtige Feststellung aus dem Blick, dass es sich bei den §§ 164 ff. BRAO zwar um Berufsausübungsregelungen handelt, die aber „einer Beschränkung der Berufswahl nahe kommen“41 bzw. wie diese wirken. Den Beschwerdeführer jedenfalls, der seine Mandantschaft vor dem Bundesgerichtshof zu vertreten beabsichtigt und hieran durch die Kontingentierung gehindert wird, tröstet der Hinweis auf sonstige anwaltliche Betätigungsmöglichkeiten wenig. Aus seiner Perspektive – und nur diese ist grundrechtlich relevant – wirken die Zulassungsbestimmungen nicht wie wettbewerbsneutrale Ausübungs-, sondern wie objektive, eine bestimmte Form beruflicher Betätigung versperrende Berufswahlschranken. Entsprechend hohe Anforderungen sind an ihre verfassungsrechtliche Legitimation zu stellen. Das Gericht allerdings hat durch seine Relativierung die Weichen in eine Richtung gestellt, die – wie noch zu zeigen sein wird – in der Verhältnismäßigkeits- und Bestimmtheitsprüfung nicht ohne Folgen bleibt. 39 S. erneut Krämer (Fn. 15), S. 246 unter Bezugnahme auf die bundesverfassungsgerichtlichen Anforderungen an eine Regelung der Berufswahlschranke (vgl. BVerfGE 7, 377 [Ls. 6b]). 40 BVerfG-K NJW 2008, 1294. 41 BVerfG-K NJW 2008, 1294.
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2. Verhältnismäßigkeit der bedürfnisorientierten Kontingentierung Ausgehend von seiner ständigen Rechtsprechung betont das Gericht zunächst, „dass die anwaltliche Berufsausübung durch den Grundsatz der freien Advokatur gekennzeichnet ist, der einer staatlichen Kontrolle und Bevormundung grundsätzlich entgegensteht“.42 Obschon das Gericht mit dieser einleitenden Feststellung die grundrechtlich verbürgte Freiheit akzentuiert, verhilft es im Weiteren nicht diesem Grundsatz, sondern der gesetzlich angeordneten Ausnahme zum Durchbruch. a) Gewichtiges Gemeinwohlziel Denn – so die Kammer unter Berufung auf die Erfolgshonorar-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts – der Gesetzgeber verfolge mit der Begrenzung der beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwälte ein gewichtiges, die Beschränkung der Berufsausübung legitimierendes Gemeinwohlziel.43 So bezwecke die Regelung eine Förderung und Weiterentwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Zivilsachen, wobei dieses Ziel im Wesentlichen auf zweifachem Wege erreicht werden solle: Zum einen durch eine spezielle und zahlenmäßig beschränkte BGH-Anwaltschaft, die mit den Rechtsanschauungen des Gerichtshofs sowie mit der darauf beruhenden Auslegung und Weiterbildung des Rechts auf das Genaueste vertraut sei. Und zum anderen durch eine Filterfunktion der Rechtsanwälte, indem diese an sie herangetragene aussichtslose Verfahren „abvotierten“ und so vom Bundesgerichtshof fernhielten oder ihm durch rechtzeitige Rücknahme eine sachliche Befassung ersparten, was es dem obersten Zivilgericht ermögliche, sich auf die wirklich revisionsbedürftigen Fälle zu konzentrieren.44 Nun kommt dem Gesetzgeber als politischem Leitorgan bei der Identifikation von Gemeinwohlbelangen zweifelsohne ein weiter Einschätzungsspielraum zu. Die Förderung und Weiterentwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Zivilsachen ist schon deshalb ein gewichtiger Gemeinwohlbelang, da sie der effektiven Ausgestaltung der „dritten Gewalt“ – der Judikative – zu dienen bestimmt ist. Etwas unkritisch geht die Kammer allerdings mit dem hierzu eingesetzten Mittel – die kontingentierte Zulassung der Rechtsanwälte beim Bundesgerichtshof – um. Denn beide vom Gericht beschriebenen Wirkmechanismen – Vertrautheit mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und Filterfunktion – bergen für das angestrebte Ziel – Förderung und Weiterentwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung – auch Risiken. Namentlich könnte die ausschließliche Fokussierung des BGH-Anwalts auf seine revisionsgerichtliche Tätigkeit einem „blinden Präjudizienkultus“ Vorschub leisten, wie dies schon 1930 Max Friedlaender unter Be42 43 44
BVerfG-K NJW 2008, 1293 unter Berufung auf BVerfGE 50, 16 (29); 76, 171 (188). BVerfG-K NJW 2008, 1295 unter Verweis auf BVerfGE 117, 163 (182). Vgl. BVerfG-K NJW 2008, 1295.
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rufung auf den Reichstagsabgeordneten Dr. Völk monierte.45 Zwar ist diese Kritik pointiert überzogen. Der mit ihr zum Ausdruck gebrachte Verdacht gerichtskonformen Verhaltens wird allerdings durch das von BGH-Anwalt- und -Richterschaft immer wieder betonte und selbst vom Bundesverfassungsgericht aufgegriffene „ersprießliche Zusammenwirken“46 beider Institutionen eher nahegelegt denn widerlegt. Im berufsrechtlichen Schrifttum wird deshalb auch die Auffassung vertreten, dass eine spezialisierte Rechtsanwaltschaft „zur Sicherung der Rechtspflege ( . . . ) geradezu abträglich (ist), dass hochqualifizierte Spezialisten von einem Auftreten beim Bundesgerichtshof ausgeschlossen sein sollen mit der Folge erheblicher Qualitätsdefizite bei der anwaltlichen Vertretung“47 und fehlender „Impulsgebung von außen“.48 Gleichfalls Skepsis ist gegenüber der vom Bundesverfassungsgericht hervorgehobenen Filterfunktion geboten: Denn auch sie ist mit dem Risiko behaftet, Fälle vom Gericht fernzuhalten, die einen Impuls für die Förderung und Weiterentwicklung des Zivilrechts hätten geben können. Hinzu kommt, dass es sich bei dieser Filterfunktion um einen Fremdkörper im deutschen Rechtsschutzsystem handelt: Nimmt ein BGH-Anwalt das Revisionsbegehren nicht zur Revisionseinlegung an, so findet das Rechtsschutzbegehren des Bürgers in dieser privaten Disposition seine unüberwindliche Grenze. Angesichts der nur kurzen Revisionsfrist49 wird der Rechtsschutzsuchende nicht mehrere beim Bundesgerichtshof zugelassene Rechtsanwälte aufsuchen können, falls der zunächst konsultierte Anwalt den Fall „abzuvotieren“ gedenkt. Das mag hinnehmbar sein, wenn nur so rechtlich aussichtslose Revisionen ohne Revisionschance blieben. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass das Revisionsgericht an seine Rechtsprechung nicht gebunden ist und die Aussichten einer Revision im Vorfeld oftmals nur schwer prognostiziert werden können. Je kleiner die Zahl der beim Bundesgerichtshof zugelassenen Anwälte ist, die den gegenwärtig 91 Richtern der Zivilsenate gegenüberstehen, umso mehr stellt sich im Übrigen das Unbehagen ein, dass das einzelne Revisionsbegehren nicht mehr mit der gebotenen Sorgfalt auf seine Revisionsfähigkeit hin untersucht wird, weil es an der Arbeitskraft des BGH-Anwalts eine natürliche Grenze findet. Nun sprechen aus grundrechtsdogmatischer Sicht die vorstehend skizzierten Einwände weder gegen die Legitimität des Ziels (Förderung und Weiterentwicklung der revisionsgerichtlichen Judikatur) noch gegen das zur Erreichung dieses Ziels eingesetzte Mittel (bedürfnisorientierte Zulassung). De lege ferenda weisen die Einwände jedoch auf mögliche Defizite des gegenwärtigen Systems hin, die Friedlaender, Vorbem. zu §§ 98 ff. RAO, Anm. 8. Vgl. BVerfG-K NJW 2008, 1295. 47 Kleine-Cosack (Fn. 34), Vor § 164 Rn. 7. 48 Vgl. hierzu erneut Friedländer (Fn. 45): „Durch eine energische neue Auffassung sei es schon oft auswärtigen Anwälten gelungen, die bei einem höchsten Gericht jahrelang eingebürgerte Praxis umzuwerfen.“ 49 Gemäß § 548 ZPO beträgt diese im Regelfall einen Monat. 45 46
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rechtstatsächlich näher untersucht und vom Reformgesetzgeber sodann neu bewertet werden sollten. Die Gegenargumente der Kammer entkräften die formulierten Einwände jedenfalls nicht: So wird die Entlastung des Bundesgerichtshofs durch eine spezielle Anwaltschaft mit dem Arbeitsanfall von drei Zivilsenaten bzw. 20 Richtern quantifiziert. Das Gericht argumentiert mit Blick auf diese eingesparten Richterstellen nicht nur fiskalisch, sondern stellt zudem auf Gefahren für die Kontinuität und Einheitlichkeit der Rechtsprechung infolge einer sonst erforderlichen personellen Aufstockung des Revisionsgerichts ab.50 Allerdings ist schwer vorstellbar, dass 20 weitere Richterstellen diese Einheitlichkeit und Kontinuität ernsthaft gefährden könnten, zumal das Prozessrecht effektive Mechanismen zur Verfügung stellt, um dem zu begegnen.51 Ferner ist zu bedenken, dass das Gerichtswesen von allen Staatsfunktionen die mit Abstand geringsten Kosten verursacht, weshalb auch dem fiskalischen Argument nur geringe Bedeutung zukommt. Und schließlich hängt, wie das Gericht selbst zutreffend feststellt, das „Qualitätsniveau der Rechtsprechung letztlich von der Richterschaft ab“.52 Dass es vor diesem Hintergrund nicht zu einer Gefährdung der Qualität, Einheitlichkeit und Kontinuität der höchstrichterlichen Rechtsprechung kommen dürfte, legen die Erfahrungen der anderen Revisionsgerichte nahe. b) Erforderlichkeit der bedürfnisorientierten Kontingentierung Da das Gericht die Förderung und Weiterentwicklung des Rechts als ein gewichtiges Gemeinwohlziel qualifiziert, wird im Weiteren bedeutsam, ob die bedürfnisorientierte Kontingentierung zur Erreichung dieses Ziels tatsächlich erforderlich ist. Auch hieran bestehen Zweifel: So wurde mit Blick auf die anderen Revisionsgerichte gefragt, warum der Bundesgerichtshof in Zivilsachen einer eigenen Anwaltschaft bedarf, um seinen revisionsrechtlichen Aufgaben gerecht werden zu können, wohingegen alle anderen Revisionsgerichte diese Aufgabe auch ohne eine spezielle Anwaltschaft mit der gebotenen Sorgfalt zu erledigen im Stande sind. Zudem ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass andere Möglichkeiten bestehen, um die Funktionsfähigkeit des Revisionsgerichts zu sichern, etwa durch eine an persönliche und fachliche Eignung geknüpfte Zugangsbeschränkung oder durch die Etablierung eines Fachanwalts für Revisionsrecht. Die Kammer hält beide Einwände nicht für überzeugend, was in der Konsequenz ihrer zuvor aufgestellten Prämisse liegt. Denn wie bereits ausgeführt, geht das GeVgl. BVerfG-K NJW 2008, 1295 u. 1297. Erinnert sei hier an die in § 132 des Gerichtsverfassungsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 9. 5. 1975 (BGBl. I S. 1077), zuletzt geändert durch Art. 3 des Gesetzes vom 8. 7. 2008 (BGBl. I S. 1212), vorgesehene Möglichkeit der Anrufung des Großen Senats für Zivilsachen. 52 BVerfG-K NJW 2008, 1297. 50 51
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richt von einer nur geringen Eingriffsintensität aus, die nicht annähernd ein Gewicht erlange, wie es typischerweise Berufswahlregelungen zukomme.53 Von daher gesteht es dem Gesetzgeber hinsichtlich der Erforderlichkeit des eingesetzten Mittels (bedüfnisorientierte Zulassung) einen weiten Einschätzungs- und Prognosespielraum zu, der nur in begrenztem Umfang überprüft werden könne. Namentlich werde dieser Spielraum erst überschritten, „wenn die gesetzgeberischen Erwägungen so fehlsam sind, dass sie vernünftigerweise keine Grundlage für derartige Maßnahmen abgeben können“.54 Fehlsame Erwägungen vermochte das Gericht – durchaus folgerichtig – dem Gesetzgeber indessen nicht zu unterstellen. Entscheidend hob es dabei auf den Bericht einer vom Bundesjustizministerium eingesetzten Arbeitskommission aus dem Jahre 1998 ab, welche festgestellt hatte, dass aus Gründen qualitativer Verbesserung der Prozessvertretung eine spezielle Anwaltschaft bei allen obersten Bundesgerichten wünschenswert ist. Der Gesetzgeber habe – der Einschätzung eben dieser Kommission folgend – nur deshalb von solchen speziellen Anwaltschaften abgesehen, weil diese nicht wirtschaftlich tragfähig seien.55 Keine gleich geeignete Alternative hingegen sei es, den Zugang zu den Zivilsenaten des Bundesgerichtshofs unter Aufgabe der Singularzulassung Fachanwälten für Revisionsrecht oder den Fachanwälten des jeweiligen Rechtsgebiets zu öffnen. Wegen der begrenzten Revisionszahlen – das Gericht geht hier von ca. 4.000 pro Jahr aus – könnte ein Rechtsanwalt dieser zahlenmäßig größeren Fachanwaltschaft keine ausreichende forensische Erfahrung sammeln. Hohe Zulassungszahlen und daraus resultierender Konkurrenzdruck gefährdeten im Übrigen die Effektivität der Filterwirkung.56 Geht man indessen ob der Schwere des Eingriffs mit der hier vertretenen Auffassung davon aus, dass an die gerichtliche Kontrolldichte erhöhte Anforderungen zu stellen sind, verliert die Subsumtion des Gerichts, welche sich in der Sache auf eine rein evidenzbasierte Schlüssigkeitsprüfung der gesetzgeberischen Motive beschränkt, an Überzeugungskraft. Zu fordern ist dann der Nachweis, dass das eingesetzte Mittel (bedürfnisorientierte Zulassung) zur Abwehr einer konkreten Gefahr für wichtige Gemeinschaftsgüter (Fortentwicklung des Rechts) erforderlich ist.57 Dieser Prüfungsmaßstab indiziert eine höhere Prüfungsdichte, da nunmehr Tatsachen vorgetragen werden müssen, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Schädigung der revisionsrechtlichen Funktionen des Bundesgerichtshofs befürchen lassen. Der Vergleich mit den anderen Revisionsgerichten spricht indessen gegen die Annahme, dass es bei Wegfall der bedürfnisorientierten Zulassung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zum Eintritt eines solchen Schadens kommen könnte, zumal diese Gerichte partiell ein ähnliches Pensum an Revisionen S. oben sub V. 1. BVerfG-K NJW 2008, 1296 unter Berufung auf BVerfGE 110, 141 (157 f.); 117, 163 (189). 55 BVerfG-K NJW 2008, 1296. 56 Vgl. BVerfG-K NJW 2008, 1296. 57 S. erneut oben sub V. 1. 53 54
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bzw. Nichtzulassungsbeschwerden zu bewältigen haben.58 Eine hochspezialisierte, durch objektive Zulassungsschranken abgeschirmte BGH-Anwaltschaft mag geeignet sein, die Fortentwicklung des Revisionsrechts zu befördern. Unabdingbar zur Erreichung dieses Ziels dürfte sie indessen nicht sein, wobei auch hier die Feststellung zutrifft, dass letztlich die Richter für diese Aufgabe verantwortlich zeichnen.59 Hinzu kommt, dass die Abwehr einer (vermeintlich) konkreten Gefahr auch auf anderem Wege sichergestellt werden könnte: Denn eine Fachanwaltschaft für Revisionsrecht oder eine vorausgehende, aber nicht kontingentierte Zulassung von Anwälten, die sich persönlich wie fachlich für eine solche Tätigkeit empfohlen haben, dürften sehr wohl in der Lage sein, das durch die gegenwärtige Zulassungsbeschränkung angestrebte Ziel zu erreichen. Dies vor allem dann, wenn man in Rechnung stellt, dass das anwaltliche Haftungsrecht und die Prozesskosten moderierend auf die Zahl der Revisionen einwirken. Auch die mit einem solchen System zwangsläufig verbundenen geringeren Fallzahlen pro Anwalt sprechen nicht gegen die Einführung solcher alternativen Zugangsmechanismen. Denn zum einen ist Revisionsrecht kein „Hexenwerk“60, und und zum anderen müssen auch die nicht beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwälte mit dessen revisionsgerichtlicher Rechtsprechung hinreichend vertraut sein, um der Gefahr eines Mandantenregresses zu entgehen.61 Im Übrigen verschweigt das Gericht, dass die Reformkommission aus dem Jahre 1998 zwar für eine spezialisierte Anwaltschaft bei dem Bundesgerichtshof, nicht aber für eine bedürfnisorientierte Zulassungsbeschränkung, sondern für ein rein subjektives Zulassungsverfahren nach Maßgabe persönlicher und fachlicher Eignung eingetreten ist. Auch diese Expertenkommission hat folglich das jetzige System nicht für erforderlich gehalten. 3. Bestimmtheit der Regelungen Schließlich war die Frage zu klären, ob das in den §§ 164 ff. BRAO normierte Zulassungsverfahren hinreichend gesetzlich bestimmt ist. Im Ergebnis wird dies von der Kammer bejaht, wobei sich die oben beschriebene Relativierung der Eingriffsintensität auch hier erneut bemerkbar macht: Zwar betont das Gericht zunächst, dass die Anforderungen an hinreichende Bestimmtheit umso strenger seien, je schwerer die Auswirkungen einer Regelung wögen.62 Nichtsdestotrotz lässt es 58 So registrierte im Jahre 2006 der Bundesfinanzhof 3.386 Neueingänge, das Bundessozialgericht 2.946 Neueingänge, das Bundesarbeitgericht 2.615 Neueingänge und das Bundesverwaltungsgericht immerhin noch 2.147 Neueingänge. Dem stehen vergleichbare 3.319 Revisionen bzw. Nichtzulassungsbeschwerden beim Bundesgerichtshof gegenüber. Für 2007 ergibt sich ein ähnliches Bild. 59 Ähnlich wie hier Droege, NJW 2002, 179 m. w. N.; Krämer (Fn. 15), S. 264 f. 60 So die treffende Formulierung von Kleine-Cosack (Fn. 34), Vor § 164 Rn. 6. 61 In diesem Sinne auch Hartung, ZRP 2005, 155; Krämer (Fn. 15), S. 258 f.
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die recht dürftigen gesetzlichen Vorgaben wegen angeblicher Besonderheiten des Sachverhalts passieren, obschon das Gericht davon ausgeht, dass die Zulassungskontingentierung wie eine objektive Zugangssperre wirkt. Zur Begründung stellt die Kammer darauf ab, dass sich trotz der Verwendung des unbestimmten Begriffs „angemessen“ ein hinreichend bestimmter, vom Gesetzgeber gewollter Regelungsgehalt erkennen lasse, was die Möglichkeit einer Norminterpretation eröffne. Wie bei der Bedarfsprüfung für Notare sei deshalb die Zahl der beim Bundesgerichtshof zuzulassenden Rechtsanwälte an den Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege auszurichten. Hierzu müsse einerseits der Geschäftsanfall der Zivilsenate und andererseits die sachgerechte Wahrnehmung der Interessen der Rechtsuchenden Berücksichtigung finden.63 Eine genauere gesetzliche Regelung sei demgegenüber nach der Eigenart des zu ordnenden Sachverhalts und mit Rücksicht auf den Normzweck kaum möglich. Denn die Regelung sei nur dann auf Dauer geeignet, den Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege zu dienen, wenn sie es erlaube, auf veränderte Umstände – etwa auf Entwicklungen des Geschäftsanfalls oder Änderungen des Revisionsrechts – flexibel zu reagieren.64 Zudem würden verbleibende Ungenauigkeiten dadurch abgemildert, dass die exakte zahlenmäßige Festlegung der Sachkunde des Wahlausschusses überlassen bleibe, dessen Zusammensetzung sicherstelle, dass partikulare Motivationen und Interessen in der geheimen Wahl keine Mehrheit fänden. Über die genaue Zahl zuzulassender Anwälte entscheide im Übrigen nicht der Wahlausschuss, sondern das Bundesjustizministerium, was zusätzliche Korrekturmöglichkeiten eröffne.65 Freilich begegnet auch diese Sichtweise Bedenken. So hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Numerus Clausus-Entscheidung betont, dass die Kapazitätsermittlung an sich zum Kern des Zulassungswesens gehört, weshalb die insoweit maßgeblichen Kriterien grundsätzlich vom Gesetzgeber festzulegen sind.66 Das Bundesverfassungsgericht erkannte in eben jener Numerus Clausus-Entscheidung zwar eine Ausnahme von diesem Grundsatz an und erachtete die Kapazitätsbemessung durch ein mit Vertretern gegenläufiger Interessen besetztes Gremium für zulässig. Dies aber nur, weil sich die Kapazitätsbemessung an Hochschulen aufgrund ihrer Komplexität und der zu berücksichtigenden, dem Gesetzgeber indessen unbekannten Belange (z. B. didaktische Erfordernisse) nach Auffassung des Gerichts einer abschließenden gesetzgeberischen Beurteilung entzieht und deshalb ausnahmsweise organisations- wie verfahrensrechtlich abgesichert werden darf. Demgegenüber ist es dem Gesetzgeber im hiesigen Kontext ohne Weiteres möglich, objektive und damit transparante, d. h. für Bewerber wie bereits zugelassene Anwälte nachvollziehbare Zulassungskriterien zu formulieren. Als Bedürfnismaßstab 62 63 64 65 66
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könnte der Gesetzgeber etwa die Entwicklung der Fallzahlen in den Vorinstanzen zugrunde legen oder sich – wie bislang – an den Eingängen beim Bundesgerichtshof orientieren und diese Daten sodann in Relation zu der benötigten Zahl an BGH-Anwälten setzen. Zudem könnte er anordnen, in welchen zeitlichen Abständen zu überprüfen ist, ob ein Bedürfnis nach Zulassung weiterer Rechtsanwälte besteht. Solche gesetzlichen Rahmenvorgaben beließen dem Wahlausschuss die gebotene Flexibilität, um auf Schwankungen im Geschäftsanfall oder Änderungen des Revisionsrechts zu reagieren. Das Beharren auf einer gesetzgeberischen Entscheidung ist im Übrigen keine bloße „grundrechtsdogmatische Förmelei“: Denn nur ein vom Gesetzgeber festgelegter und deshalb vom Wahlgremium nicht veränderbarer Maßstab schafft die erforderliche Transparenz und ermöglicht es den Bewerbern, ihre Erfolgsaussichten ex ante einzuschätzen. Zudem hängt die Zahl zuzulassender Anwälte auch vom jeweils zugrunde gelegten Berechnungsmodus ab: Stellt man insoweit auf die Eingangszahlen beim Bundesgerichtshof und nicht etwa auf die Fallzahlen der Vorinstanzen ab, so beeinflussen die durch den Zulassungsakt Begünstigten aufgrund ihrer endlichen Arbeitskapazität letztlich auch den Geschäftsanfall beim Bundesgerichtshof. Gleichfalls ist das Maß dessen, was einem BGH-Anwalt im Interesse effizienter Mandantenvertretung an Arbeitsanfall überhaupt zugemutet werden kann, ein für die Bedarfsermittlung entscheidungserheblicher sowie gesetzlich determinierbarer Faktor. Angesichts der Intensität des Eingriffs kann der Gesetzgeber die Festlegung der Berechnungsmethode und des Teilungsfaktors nicht einem – zudem noch mit Beurteilungsspielraum agierenden67 – Wahlausschuss überantworten. Aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit und demokratischen Legitimation muss er hier vielmehr selbst tätig werden. Ungeachtet solcher verfassungsrechtlichen Erwägungen kann das jetzige System im Übrigen nicht befriedigen, was durch die zurückliegende Wahl im Jahre 2006 deutlich zu Tage getreten ist: Dort empfahl der Wahlausschuss gerade einmal die Ernennung von sieben Anwälten. Der gesetzlichen Vorgabe entsprechend musste er dem Bundesjustizministerium allerdings 14 Kandidaten vorschlagen. Das Ministerium ernannte sodann 13,68 was den Verdacht nahe legt, dass man auf ministerieller Ebene die Empfehlung des Ausschusses für viel zu restriktiv hielt. Entgegen der Auffassung des Gerichts stellt die Möglichkeit, von der Empfehlung des Wahlausschusses abzuweichen, ein nur bedingt wirksames Korrektiv dar. Denn das Bundesjustizministerium ist zumindest an die durch § 168 Abs. 2 BRAO vorgegebene Höchstzahl gebunden, kann über sie also nicht hinausgehen, selbst wenn es der Auffassung sein sollte, dass eigentlich 20, 30 oder gar mehr Anwälte hätten zugelassen werden müssen. Ein Weiteres kommt hinzu: Statistisch gesehen stehen gegenwärtig 91 Richtern 41 BGH-Anwälte gegenüber. Um der gesetzlichen ZielVgl. BGH NJW 2007, 1139. Eigentlich sollten alle 14 ernannt werden. Ein Bewerber zog seine Bewerbung jedoch zurück. 67 68
Zulassung von Rechtsanwälten bei dem Bundesgerichtshof
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setzung zu entsprechen, müssen diese ihre Mandate eigenhändig bearbeiten. Dies wiederum legt die Vermutung nahe, dass die Anwälte beim Bundesgerichtshof unterbesetzt sind. Dabei muss zusätzlich in Rechnung gestellt werden, dass die 91 Richter nur über die nicht abvotierten Fälle zu entscheiden haben. Solche Zahlen nähren den Verdacht, dass dieses System ganz entscheidend auf die tatkräftige Hilfe kompetenter Mitarbeiter angewiesen ist, was wiederum im Widerspruch zum Prinzip der eigenhändigen Mandantenbetreuung steht. Auffällig ist ferner, dass ein nicht geringer Anteil der erfolgreichen Bewerber aus Karlsruhe oder Umgebung stammt, es sich mit anderen Worten um Personen handelt, die über ihre Mitarbeit in einer BGH-Kanzlei nicht nur bestens mit revisionsrechtlichen Fragen vertraut sind, sondern darüber hinaus im Bewerbungsverfahren auch revisonsrechtliche Arbeitsproben einreichen können und zudem den BGH-Richtern – etwa über ihr Auftreten vor Gericht – persönlich bekannt sind. All diese Faktoren wirken sich im Regelfall begünstigend auf die Bewerbungschance aus. Faktisch wird damit die Rekrutierung eines Teils des rechtsanwaltlichen Nachwuchses auf Private delegiert. Sollte der Gesetzgeber die BGH-Anwaltschaft tatsächlich für ein unverzichtbares Institut des Zivilrechtspflege halten, dann müsste er die Ausbildung dieses Nachwuchses – etwa in Gestalt eines Vorbereitungsdiensts – selbst gesetzlich regeln und so bundesweit einen fairen wie chancengleichen Zugang zur Tätigkeit des BGH-Anwalts ermöglichen.
VI. Fazit Als Fazit lässt sich damit festhalten: Der Richterspruch aus Karlsruhe vermochte Zweifel im Hinblick auf die Erforderlichkeit und Bestimmtheit der §§ 164 ff. BRAO nicht auszuräumen. Ursächlich hierfür ist nicht nur die unterschiedliche Gewichtung der Sachargumente, sondern auch die Rücknahme der verfassungsgerichtlichen Prüfungsdichte. Obschon das Gericht erkennt, dass die bedürfnisorientierte Zulassungsbeschränkung einer objektiven Berufswahlschranke nahe kommt, misst es deren verfassungsrechtliche Legitimität lediglich am Maßstab evidenzbasierter Schlüssigkeit. Das Ergebnis des Gerichts – Verfassungskonformität der Regelungen – kann deshalb nicht verwundern. Hätte es, wie hier argumentiert, einen strengeren Prüfungsmaßstab zugrunde gelegt, wäre es womöglich zu einem anderen Ergebnis gelangt. Aus verfassungsrechtlicher Sicht gilt allerdings: Karlsruhe locuta, causa finita. Dessen ungeachtet sollte sich der Gesetzgeber durch den Karlsruher Spruch nicht von einer Reform des Zulassungssystems abhalten lassen.69 Die insoweit maßgeblichen Gründe wurden vorstehend aufgezeigt. Der Gesetzgeber könnte so zu einem System zurückkehren, das nicht auf die Optimierung staatlicher und institutioneller 69 Zu dahingehenden Erwägungen der ehemaligen Bundesjustizministerin Däubler-Gmelin Hartung, ZRP 2005, 154.
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Bedürfnisse, sondern auf die Optimierung grundrechtlicher Freiheit ausgerichtet ist, ohne dass dabei berechtigte Gemeinwohlbelange (Förderung und Weiterentwicklung des Rechts) auf der Strecke bleiben müssten.
„Leipziger Allerlei II“ – ein kompetenzwidriges Landesgesetz, eine Gliedstaatsklausel und eine landesverfassungsgerichtliche Kompetenzextension Von Jochen Rozek
I. Der Sächsische Verfassungsgerichtshof und die Art. 70 ff. GG „§ 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst. b SächsPolG verstößt wegen Unvereinbarkeit mit Art. 72 Abs. 1 i. V. m. Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG gegen Art. 3 Abs. 2 sowie Art. 39 Abs. 2 i. V. m. Art. 1 S. 1 SächsVerf und ist nichtig.“1 Mit dieser Wendung hat der in Leipzig residierende2 Sächsische Verfassungsgerichtshof vor einiger Zeit in einem Verfahren der abstrakten Normenkontrolle gemäß Art. 81 Abs. 1 Nr. 2 SächsVerf die Nichtigkeit einer Bestimmung des Sächsischen Polizeigesetzes festgestellt, für die dem Freistaat Sachsen nach Ansicht des Hüters der Landesverfassung die Gesetzgebungskompetenz fehlt, da die fragliche Regelung zur konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für das gerichtliche Verfahren nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG ressortiere, von der der Bund mit § 111 StPO abschließenden Gebrauch gemacht habe (vgl. Art. 72 Abs. 1 GG).3 Das sächsische Landesverfassungsgericht reklamiert damit für sich nicht nur eine Prüfungs-, sondern sogar eine Entscheidungskompetenz im Hinblick darauf, ob ein formelles Landesgesetz die Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes (Art. 70 ff. GG) wahrt. In einer weiteren Normenkontrollentscheidung hat es diese Kompetenzbehauptung bekräftigt.4 Zur Begründung stützt sich der Sächsische Verfassungsgerichtshof im Wesentlichen auf Art. 1 S. 1 SächsVerf,5 der deklariert, dass der Freistaat Sachsen ein Land der Bundesrepublik Deutschland ist. Über Art. 1 S. 1 SächsVerf seien Prüfungsmaßstab bei der abstrakten Normenkontrolle vor dem Sächsischen Verfassungsgerichtshof mittelbar auch die Bestimmungen des Grundgesetzes über die VerteiSächsVerfGH LVerfGE 14, 333 (379) – Hervorhebung nur hier. Siehe § 1 S. 2 SächsVerfGHG. 3 SächsVerfGH LVerfGE 14, 333 (380 f.). 4 SächsVerfGH LVerfGE 16, 441 (457 f.). 5 SächsVerfGH LVerfGE 14, 333 (358); 16, 441 (458). Die zusätzlich herangezogenen Art. 3 Abs. 2 S. 1 SächsVerf und Art. 39 Abs. 2 SächsVerf betreffen die Kompetenz des Sächsischen Landtages als Landesorgan der Gesetzgebung. 1 2
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lung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern. Die sich aus Art. 81 Abs. 1 Nr. 2 SächsVerf ergebende Begrenzung seiner Befugnis zu abschließender Entscheidung allein am Maßstab der Sächsischen Verfassung, die mit der entsprechenden Kompetenzabgrenzung für das Bundesverfassungsgericht in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG übereinstimme, hindere den Verfassungsgerichtshof nicht daran, über die Gesetzgebungskompetenz des Freistaates zu entscheiden und dazu die maßgeblichen Bestimmungen des Grundgesetzes heranzuziehen. Nur durch eine solche „Inbezugnahme“ der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung stehe die Gesetzgebungsbefugnis des Freistaates Sachsen mit dessen Grundstruktur als Land der Bundesrepublik Deutschland in Einklang. Da die Gesetzgebung des Freistaates Sachsen mit den Grundsätzen der grundgesetzlichen Kompetenzordnung in Einklang stehen müsse, sei der Verfassungsgerichtshof nicht gehindert, über die Gesetzgebungskompetenz des Freistaates unter Heranziehung der Art. 70 ff. GG zu entscheiden.6 Herbert Bethge, der sich mit den intrikaten Fragen der Kompetenzabgrenzung zwischen Bundes- und Landesverfassungsgerichtsbarkeit immer wieder beschäftigt7 und dabei mitunter die These von der Selbständigkeit der Verfassungsräume und der Exklusivität des jeweiligen verfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs auch zugunsten von pragmatischen Lösungen relativiert hat,8 konstatiert zu Recht, dass es zu den „Gretchenfragen“ jener Zuständigkeitsabgrenzung gehöre, ob die Kompetenzbestimmungen der Art. 70 ff. GG, die unmittelbar Bund wie Länder binden, in Durchbrechung oder zumindest doch Modifikation des Trennungsprinzips zum zulässigen Prüfungs- und Entscheidungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte avancieren können.9 Schon deswegen ist eine tüchtige Portion Skepsis angezeigt, ob der knappe Hinweis auf die landesverfassungsrechtliche Gliedstaatsklausel des Art. 1 S. 1 SächsVerf die vom Sächsischen Verfassungsgerichtshof in Anspruch genommene Kompetenzausdehnung tatsächlich zu tragen vermag und zum Fundament einer ständigen Rechtsprechung taugt.10
6 SächsVerfGH LVerfGE 14, 333 (358); dem Ansatz des SächsVerfGH folgend Degenhart, in: Sachs, GG, 4. Aufl. 2007, Art. 70 Rn. 69; vgl. auch dens., Staatsrecht I, 24. Aufl. 2008, Rn. 856; ablehnend Starke, SächsVBl. 2004, 49 ff. 7 Vgl. nur Bethge, DÖV 1972, 336 ff.; ders., in: Starck / Stern, Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Tbd. II, 1983, S. 17 ff.; ders., BayVBl. 1985, 257 ff.; ders., Festschrift Franz Klein, 1994, S. 179 ff.; ders., in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Bethge, BVerfGG, Vorbem. Rn. 230 ff., § 71 Rn. 125 ff., § 73 Rn. 44 ff., § 85 Rn. 14 ff., § 90 Rn. 425 ff. 8 Bethge, in: Starck / Stern, Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Tbd. II, 1983, S. 32 – im Kontext der landesverfassungsgerichtlichen Normentwurfskontrolle im Volksgesetzgebungsverfahren; dazu auch ders., in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Bethge, BVerfGG, § 85 Rn. 30 ff., 34. 9 Bethge (Fn. 8), § 85 Rn. 35. 10 Vgl. SächsVerfGH LVerfGE 16, 441 (458).
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II. Orientierung am „Vorbild“ anderer Landesverfassungsgerichte Der Sächsische Verfassungsgerichtshof ist freilich beileibe nicht das einzige Landesverfassungsgericht, das für sich die vorgenannte „Gretchenfrage“ unter Berufung auf eine Gliedstaatsklausel der Landesverfassung bereits positiv beantwortet hat. Der Nordrhein-westfälische Verfassungsgerichtshof, auf den sich der Sächsische Verfassungsgerichtshof zur Stützung seiner Ansicht explizit beruft,11 argumentiert in der Sache ebenso:12 Art. 1 Abs. 1 S. 1 NWVerf, der NordrheinWestfalen zu einem Land der Bundesrepublik Deutschland erklärt, beziehe die Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes über die Gesetzgebung in die Landesverfassung ein und bilde eine immanente Beschränkung der Gesetzgebungszuständigkeit des Landes. Die Frage der Verbandskompetenz im Bereich der Gesetzgebung könne nur durch eine „verbindende Auslegung“ von Landesverfassung und Bundesverfassung geklärt werden. Durch die Betonung der Gliedstaateigenschaft in Art. 1 Abs. 1 S. 1 NWVerf habe das Land Nordrhein-Westfalen sein Verfassungsrecht für die Einwirkung der grundgesetzlichen Vorschriften auf die Landesgesetzgebungskompetenz geöffnet. Schließlich trage es der generell gebotenen Rücksicht auf den eigenen Verfassungsraum der Länder und auf deren eigene Verfassungsgerichtsbarkeit Rechnung, wenn die Gesetzgebungskompetenz des Landes auch dem Landesverfassungsrecht zugerechnet werde. Ein Landesverfassungsgericht könne einen Verstoß gegen die Gesetzgebungskompetenz des Landes feststellen, ohne eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gemäß Art. 100 Abs. 1 GG einzuholen, weil die Gesetzgebungsbestimmungen des Grundgesetzes somit auch Inhalt des Landesverfassungsrechts seien.13 Der Rheinland-pfälzische Verfassungsgerichtshof hat ebenfalls an die Argumentation des Nordrhein-westfälischen Verfassungsgerichtshofes angeknüpft:14 Die Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten sei, obwohl im Grundgesetz geregelt, nicht nur ein Bestandteil des Bundesverfassungsrechts, sondern auch des Landesverfassungsrechts. Da Rheinland-Pfalz sich gemäß Art. 74 Abs. 1 RhPfVerf ausdrücklich als „Gliedstaat Deutschlands“ begreife, bilde die bundesrechtliche Kompetenzverteilung zugleich die Grenze der nach der Landesverfassung grundsätzlich unbeschränkten Gesetzgebungsbefugnis der Landesstaatsgewalt. Deshalb schließe die Vereinbarkeit eines Gesetzes mit der Landesverfassung die Prüfung der Frage ein, ob das Land für die betreffende Materie gesetzgebungsbefugt sei. Der Niedersächsische Staatsgerichtshof konstatiert noch knapper:15 Die Gesetzgebungskompetenzen des Grundgesetzes können vom Staatsgerichtshof insoweit SächsVerfGH LVerfGE 14, 333 (358). NWVerfGH DÖV 1992, 969 f.; dazu auch Sachs, JuS 1993, 334 f.; Grawert, Festschrift 50 Jahre NWVerfGH, 2002, S. 170; Dietlein, JöR n.F. 51 (2003), 351. 13 NWVerfGH DÖV 1992, 970. 14 RhPfVerfGH DVBl. 2001, 471; bestätigt durch RhPfVerfGH DVBl. 2004, 1111; RhPfVerfGH DVBl. 2005, 501. 15 NdsStGH NordÖR 2005, 410. 11 12
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ausgelegt werden, als es um die Prüfung der Gesetzgebungsbefugnis des Landes für eine auf ihre (Landes-)Verfassungsmäßigkeit zu überprüfende Norm des Landesrechts geht. Und auch für das erst jüngst errichtete Schleswig-holsteinische Verfassungsgericht wird unter Hinweis auf die Gliedstaatlichkeit des Landes nach Art. 1 SHVerf die Forderung erhoben, dass das Landesverfassungsgericht selbstständig einen Verstoß gegen die Kompetenzgrenzen feststellen könne, da die Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes als „wesensnotwendig mitzudenkender Inhalt des Landesverfassungsrechts“ die Grenzen der Landesgesetzgebung festlegten.16 Ohne einen Rückgriff auf die grundgesetzlichen Bestimmungen über die Gesetzgebungskompetenz, die eine Abgrenzung zwischen kompetenziell zulässiger und kompetenziell unzulässiger Landesgesetzgebung allein ermöglichten, seien die landesverfassungsgerichtlichen Verfahrensarten der Normenkontrolle gar nicht sinnvoll anzuwenden und bliebe die landesverfassungsgerichtliche Kontrolle der Landesstaatsgewalt fragmentarisch – ein „Muster ohne Wert“.17 Danach verdient festgehalten zu werden, dass der Sächsische Verfassungsgerichtshof mit dem Ansatz, sich über die Gliedstaatsklausel der Sächsischen Verfassung den Zugriff auf die Art. 70 ff. GG als Prüfungs- und Entscheidungsmaßstab zu verschaffen, längst nicht allein steht. Es handelt sich um keinen „Leipziger Sonderweg“. Vielmehr entspricht eine derartige Instrumentalisierung der Gliedstaatsklauseln fast schon einem Trend der jüngeren Rechtsprechung einer ganzen Reihe von Landesverfassungsgerichten, die selbstbewusst ihre Kompetenzen auszureizen trachten.
III. Pragmatische Kompetenzextension oder verfassungswidrige Kompetenzusurpation? Da Trends durchaus in die falsche Richtung laufen können, entbindet dieser Befund freilich nicht von der Prüfung, ob der Ansatz wirklich trägt, ob also eine – nicht zuletzt pragmatischen Gesichtspunkten („Entscheidung aus einer Hand“) Rechnung tragende – zulässige Kompetenzextension oder eine dogmatisch nicht haltbare Kompetenzusurpation durch den Hüter der Landesverfassung in Rede steht. Verfassungsrechtliche Legitimation und Legitimität des landesverfassungsgerichtlichen Zugriffs auf die Art. 70 ff. GG als Kontrollmaßstab hängen wiederum ganz maßgeblich davon ab, ob Gliedstaatsklauseln nach Art des Art. 1 S. 1 SächsVerf hinreichen, das bundesstaatliche Prinzip der getrennten Verfassungsräume hinsichtlich der Art. 70 ff. GG zu überwinden, und es gestatten, den landesverfassungsgerichtlichen Entscheidungshorizont entsprechend auszuweiten.
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Caspar, NordÖR 2008, 195. Caspar, NordÖR 2008, 195 f.
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1. Das Prinzip der getrennten Verfassungsräume (Trennungsprinzip) Der bundesstaatliche Dualismus von Bund und Ländern, von Bundesverfassung und Landesverfassungen, führt zu grundsätzlich selbständig nebeneinanderstehenden Verfassungsräumen, in denen Bundesverfassungsgerichtsbarkeit und Landesverfassungsgerichtsbarkeit jeweils eigenständig agieren. Die Feststellung der Verfassungsmäßigkeit staatlichen Handelns bezieht sich mithin entweder auf das Grundgesetz oder eine bestimmte Landesverfassung. Nur folgerichtig erscheint es daher, eine prinzipielle Begrenzung der Prüfungs- und Entscheidungskompetenzen der jeweiligen Verfassungshüter auf ihren jeweiligen Verfassungsraum anzunehmen, eine Konsequenz, die auch das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung zieht, wenn es das Bild der „grundsätzlich getrennten Räume“ verwendet, in denen sich die Bundesverfassungsgerichtsbarkeit einerseits, die Landesverfassungsgerichtsbarkeit andererseits vollziehen.18 Die prinzipielle Selbständigkeit der Verfassungsräume bewirkt eine entsprechende Funktionsteilung zwischen den beiden Verfassungsgerichtsbarkeiten.19 Durch die Landesverfassung beschränken die Länder den Kompetenzbereich der Landesverfassungsgerichte ebenso wie das Grundgesetz den Kompetenzbereich des Bundesverfassungsgerichts begrenzt.20 Nicht nur die Sächsische Verfassung (Art. 81 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 SächsVerf), sondern auch alle anderen Landesverfassungen legen die jeweilige Landesverfassung als den Kontrollmaßstab fest, der in den landesverfassungsgerichtlichen Normenkontrollverfahren heranzuziehen ist.21 Der Prüfungsmaßstab als ausschlaggebendes Abgrenzungskriterium der Kompetenzbereiche von Bundes- und Landesverfassungsgerichtsbarkeit verhindert Zuständigkeitskollisionen, zu denen andernfalls die Doppelspurigkeit des verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes gegenüber Akten der Landesstaatsgewalt namentlich in Normenkontroll- und Verfassungsbeschwerdeverfahren zwangsläufig führen müsste.22 Die Zulässigkeit doppelspurigen verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes ergibt sich (erst) aus der Unterschiedlichkeit der Prüfungsmaßstäbe, die zu jeweils verschiedenen Streitgegenständen führt. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet am Maßstab des Grundgesetzes, die Landesverfassungsgerichte entscheiden prinzipiell allein am Maßstab der jeweiligen Landesverfassung.23 Weil die Wahrung des Bundesverfassungsrechts dem 18 BVerfGE 36, 342 (357); 41, 88 (119); 60, 175 (209); 64, 301 (317); 96, 345 (368 f.); 102, 224 (232); 102, 245 (253); 103, 332 (350). 19 Bethge (Fn. 8), § 85 Rn. 14. 20 BVerfGE 10, 285 (293); 103, 332 (350). 21 Siehe nur Art. 68 Abs. 1 Nr. 2, 3 BWVerf; Art. 92, Art. 98 S. 4 BayVerf; Art. 84 Abs. 2 Nr. 2, 4 BerlVerf; Art. 113 Nr. 2, 3 BbgVerf; Art. 140, Art. 142 BremVerf; Art. 65 Abs. 3 Nr. 3 HambVerf; Art. 131 ff. HessVerf; Art. 53 Abs. 1 Nr. 2, 5 MVVerf; Art. 54 Nr. 3, 4 NdsVerf; Art. 75 Nr. 3 NWVerf; Art. 130 Abs. 1 RhPfVerf; Art. 97 Nr. 2, 3 SaarlVerf; Art. 75 Nr. 3, 5 LSAVerf; Art. 44 Abs. 2 Nr. 2, 3 SHVerf; Art. 80 Abs. 1 Nr. 4, 5 ThürVerf. 22 Akte der Bundesstaatsgewalt sind demgegenüber von vornherein kein tauglicher Gegenstand für eine landesverfassungsgerichtliche Kontrolle; vgl. nur Dreier, in: Dreier, GG, Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 142 Rn. 88 f. m. w. N.
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allein zum Hüter des Grundgesetzes berufenen Bundesverfassungsgericht obliegt, bestimmt der Bereich der Landesverfassung Umfang und Grenzen des verfassungsrechtlichen Erkenntnishorizonts der Landesverfassungsgerichte. Die Landesverfassungsgerichte besitzen „als Maßstab ihrer Prüfung nur die Landesverfassung“24. Dementsprechend dürfen die Landesverfassungsgerichte im Tenor ihrer Entscheidungen allein über die Auslegung von Landesverfassungsrecht befinden.25 2. Kompetenzextension via Gliedstaatsklausel als zulässige Modifizierung des Trennungsprinzips? a) Begrenzte Modifizierungsfähigkeit des Trennungsprinzips Vor dem Hintergrund des Trennungsprinzips ist die landesverfassungsgerichtliche Kompetenzextension via Gliedstaatsklausel zwar allemal begründungsbedürftig, aber womöglich auch begründungsfähig, ist doch das Trennungsprinzip als Prinzip gegebenenfalls einer Modifizierung durchaus zugänglich. Schon frühzeitig ist bezweifelt worden, dass eine Trennung zwischen Grundgesetz und Landesverfassung „in einer für die Zuständigkeitsabgrenzung notwendigen Eindeutigkeit immer durchführbar sein wird“.26 Unter Verweis auf Herbert Bethge betont auch das Bundesverfassungsgericht, dass das selbständige Nebeneinander der Verfassungsräume nicht als völlige Bezugslosigkeit aufgefasst werden dürfe und dass ein grundgesetzliches Einwirken in den landesverfassungsrechtlichen Raum nicht gänzlich ausgeschlossen sei.27 Das grundgesetzliche Einwirken auf den landesverfassungsrechtlichen Raum betrifft zunächst und zuvörderst indes nur den Umstand, dass die Landesverfassungsgerichte als Teil der rechtsprechenden Gewalt auf die Grundgesetzmäßigkeit ihres Prüfungsmaßstabes zu achten haben (arg. Art. 20 Abs. 3 und Art. 100 Abs. 1 GG) und daher im Vorfeld die anzuwendenden Bestimmungen der Landesverfassung auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz zu prüfen haben.28 Die Landes23 BVerfGE 6, 376 (381 f.); 11, 89 (94); 41, 88 (119); 60, 175 (209); 103, 332 (350 f.); BVerfG NVwZ 2008, 408 f.; Rozek, Das Grundgesetz als Prüfungs- und Entscheidungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte, 1993, S. 56 m. w. N. 24 BVerfGE 36, 342 (368); dazu auch BVerfGE 103, 332 (351). 25 BVerfGE 69, 112 (118); Bethge (Fn. 8), S. 28; ders. (Fn. 8), § 85 Rn. 14. Im Tenor seiner Entscheidung führt der SächsVerfGH interessanterweise die entscheidungstragenden Bestimmungen des Grundgesetzes (Art. 72 Abs. 1 i. V. m. Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) auch nicht an – SächsVerfGH LVerfGE 14, 333 (335): „2. § 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst. b SächsPolG verstößt gegen Art. 3 Abs. 2 sowie Art. 39 Abs. 2 i. V. m. Art. 1 S. 1 der Sächsischen Verfassung und ist nichtig.“ 26 Bachof / Jesch, JöR n.F. 6 (1957), 55. 27 BVerfGE 103, 332 (351 f.) im Anschluss an Bethge (Fn. 8), S. 28 m. w. N.; vgl. auch dens. (Fn. 8), § 85 Rn. 15. 28 BVerfGE 103, 332 (352); Bethge (Fn. 8), § 73 Rn. 47, § 85 Rn. 15 f.; Rozek (Fn. 23), S. 58 f. m. w. N.
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verfassungsgerichte müssen also bei der Auslegung der für ihre Entscheidung principaliter maßgeblichen Normen der Landesverfassung incidenter stets darauf achten, dass ihr Prüfungsmaßstab mit dem Grundgesetz vereinbar ist.29 Hierin liegt genau besehen (noch) keine Modifizierung oder gar Durchbrechung der Trennungsdoktrin: Die Unterscheidung zwischen unzulässiger prinzipaler Anwendung des Grundgesetzes auf den Prüfungsgegenstand des landesverfassungsgerichtlichen Verfahrens und zulässiger inzidenter Anwendung des Grundgesetzes auf die Landesverfassung als Prüfungsmaßstab im landesverfassungsgerichtlichen Verfahren ist als Konsequenz der Grundgesetzabhängigkeit des Landesverfassungsrechts dem gleichfalls bundesstaatlich fundierten Trennungsprinzip vielmehr immanent. Vom Trennungsprinzip ausgeschlossen ist erst ein unreflektierter Zugriff auf Bundesverfassungsrecht als Prüfungs- und Entscheidungsmaßstab.30 Ein derartiger Zugriff bedarf besonderer Begründung. b) Variation älterer Begründungsansätze Die Instrumentalisierung landesverfassungsrechtlicher Gliedstaatsklauseln ist nicht der erste Versuch, gerade die Art. 70 ff. GG in den landesverfassungsgerichtlichen Kognitionshorizont bei Normenkontrollentscheidungen einzubinden. Dieser Rechtfertigungsansatz variiert im Grunde nur frühere Bestrebungen einzelner Landesverfassungsgerichte, die Art. 70 ff. GG als Anwendungsfall des Phänomens der in die Landesverfassung hineinwirkenden Bundesverfassung zu deklarieren31 oder über das landesverfassungsrechtliche Rechtsstaatsprinzip eine Brücke zu den Art. 70 ff. GG zu schlagen.32 Seine ursprünglich ebenfalls eher großzügige Bereitschaft, Normen des Grundgesetzes die gleichzeitige Qualität von Bestandteilen der Landesverfassung zuzuweisen und die Landesverfassungen erst im Sinne einer Zusammenschau von Landesverfassungsurkunde und grundgesetzlichen „Bestandteilsnormen“ zu definieren,33 hat das Bundesverfassungsgericht – wohl auch unter dem Eindruck mittlerweile verbreiteter literarischer Kritik34 – allerdings in letzter BVerfGE 36, 342 (356); Rozek (Fn. 23), S. 59 m. w. N. Treffend Bethge (Fn. 8), § 85 Rn. 16. 31 Vgl. HessStGH ESVGH 32, 20 (24) – im Ergebnis, nicht in der Begründung bestätigt durch BVerfGE 60, 175 ff.; NWVerfGH DÖV 1992, 969; ausführlich zum Phänomen der in die Landesverfassung hineinwirkenden Bundesverfassung Rozek (Fn. 23), S. 100 ff. m. w. N. 32 Vgl. BayVerfGHE 43, 107 (120 f.); 45, 33 (40 f.); 51, 94 (99 f.); BbgVerfG LVerfGE 4, 119 (129); 8, 97 (118); zur verschlungenen Entwicklung der bayerischen Verfassungsrechtsprechung siehe noch BVerfGE 103, 332 (352, 354 f.); Rozek (Fn. 23), S. 212 ff. 33 Vgl. BVerfGE 1, 208 (223, 227); 4, 375 (378); 6, 367 (375); 13, 54 (80); 27, 10 (17); 60, 53 (61); 66, 107 (114). 34 Ablehnend gegenüber der Etablierung solcher „Bestandteilsnormen“ etwa Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG, 9. Aufl. 2007, Art. 28 Rn. 1; Tettinger, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 28 Rn. 31 f.; Dreier, in: Dreier, GG, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 28 Rn. 54; Menzel, Landesverfassungsrecht, 2002, S. 157; Dietlein, Festschrift 50 Jahre NWVerfGH, 2002, S. 226 ff.; Lerche, Festschrift Zacher, 1998, S. 527, 528 f.; Sachs, Fest29 30
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Zeit erkennbar revidiert und stark zurückgenommen.35 Nunmehr betont es zu Recht, dass Staatlichkeit und Verfassungsautonomie der Länder ganz nachhaltig beschädigt würden, je mehr an Prinzipien und Normen der Bundesverfassung in eine Landesverfassung „hineingelesen“ wird. Denn auf diese Weise würde letztlich das föderale Prinzip des Art. 20 Abs. 1 GG und damit ein Eckpfeiler des Staatswesens der Bundesrepublik Deutschland untergraben.36 Wenngleich die Einwirkungen des Grundgesetzes auf das Verfassungsrecht der Länder sich nicht im Homogenitätsgebot erschöpfen, sieht das Grundgesetz keine gleichsam „automatische“ Komplettierung des Landesverfassungsrechts um grundgesetzliche Bestimmungen vor. Das Grundgesetz sieht zwar vor, dass bestimmte Normen, insbesondere auch die Bundesgrundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG), unmittelbar in den Ländern gelten, aber eben nur als Bundesverfassungsrecht, nicht als Landesverfassungsrecht. Das Grundgesetz unterscheidet zwischen Bundes- und Landesrecht nach dem formalen Kriterium der Normurheberschaft; ob es sich um Bundes- oder Landesrecht handelt, richtet sich danach, ob es von Bundes- oder Landesorganen geschaffen worden ist.37 Die Verfassungsautonomie der Länder und die formale Kategorisierung von Recht im Bundesstaat schließen die Vorstellung aus, Normen des Grundgesetzes seien „von Haus aus“ mit einer Doppelqualifikation als Bundes- und Landesverfassungsrecht versehen.38 Mit Rücksicht auf die Verfassungsautonomie der Länder bedarf es für das „Hineinlesen“ einer grundgesetzlichen Bestimmung in die Landesverfassungen daher einer besonderen Rechtfertigung, gerade auch im Hinblick darauf, dass die Länder gemäß Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 20 Abs. 3 GG bereits unmittelbar an fundamentale grundgesetzliche Vorgaben gebunden sind und das Grundgesetz den Landesverfassungen zudem einseitig Homogenitätsvorgaben setzt (Art. 28 Abs. 1 GG). c) Unzulässigkeit eines „Hineinlesens“ der Art. 70 ff. GG in die Landesverfassungen Für ein „Hineinlesen“ der Art. 70 ff. GG in die Landesverfassung mit dem Ziel, als Landesverfassungsgericht ein kompetenzwidriges Landesgesetz zu verwerfen, ist eine solche, vom Bundesverfassungsgericht für unabdingbar erachtete, besonschrift Stern, 1997, S. 502; Rozek (Fn. 23), S. 100 ff.; Maurer, JuS 1992, 297 f.; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, 1989, S. 180 f.; eher skeptisch auch Nierhaus, in: Sachs, GG, 4. Aufl. 2007, Art. 28 Rn. 2, 5 f.; Möstl, AöR 130 (2005), 378; v. Coelln, Anwendung von Bundesrecht nach Maßgabe der Landesgrundrechte?, 2001, S. 159. 35 BVerfGE 103, 332 (349 ff.) – noch als Landesverfassungsgericht für Schleswig-Holstein (vgl. Art. 99 GG); zustimmend Dittmann, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Bd. VI, 3. Aufl. 2008, § 127 Rn. 35; Menzel, Landesverfassungsrecht, 2002, S. 311; von einer „vorsichtigen Kurskorrektur“ spricht Löwer, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 70 Rn. 143. 36 Treffend BVerfGE 103, 332 (357). 37 Siehe nur BVerfGE 18, 407 (414 f.); Pieroth (Fn. 34), Art. 31 Rn. 2. 38 Vgl. schon Rozek (Fn. 23), S. 179.
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dere Rechtfertigung nicht ersichtlich. Sie wird – entgegen der Rechtsprechung des Sächsischen Verfassungsgerichtshofes – insbesondere nicht von landesverfassungsrechtlichen Gliedstaatsklauseln geliefert, die als Inkorporationsnormen („Trichternormen“)39 ausscheiden. Die Erkenntnis, dass die Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes Bundesund Landesstaatsgewalt voneinander abgrenzen, zeichnet den Weg zur Beantwortung der Frage vor, ob die Art. 70 ff. GG – unmittelbar oder mittelbar – überhaupt zugleich Bestandteil einer Landesverfassung sein können. Die parallele Geltung von Rechtssätzen als Bundesverfassungsrecht und zugleich Landesverfassungsrecht steht notwendigerweise unter der Prämisse, dass der Gehalt dieser Verfassungsrechtssätze überhaupt als Gegenstand einer parallelen Regelung im Bund und in den Ländern in Betracht kommt.40 Grundgesetzliche Bestimmungen können also nur dann auch Bestandteile der Landesverfassung sein, wenn eine parallele Regelung auf Bundes- und Landesebene möglich ist.41 Gerade dies ist aber hinsichtlich der Bestimmungen des Grundgesetzes über die Aufteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern nicht der Fall. Die dem Bundesstaat immanente Aufteilung der staatlichen Befugnisse zwischen Gesamtstaat und Gliedstaaten mit der Etablierung einer Bundes- und Landesstaatsgewalt bedingt, dass im Bundesstaat sowohl Gesamtstaat als auch Gliedstaaten jeweils nur über einen mehr oder weniger großen Ausschnitt aus der Gesamtheit staatlicher Befugnisse im Bereich von Legislative, Exekutive und Judikative verfügen. Auch im Bundesstaat des Grundgesetzes wird die Aufteilung der staatlichen Kompetenzen (vgl. Art. 30 GG) – einschließlich der Aufteilung der Gesetzgebungskompetenzen (Art. 70 ff. GG) – durch die Verfassung des Gesamtstaates, also durch das Grundgesetz, festgelegt.42 Nur auf der Ebene des Grundgesetzes als der gesamtstaatlichen Verfassung ist eine Bund und Länder gleichermaßen bindende Kompetenzabgrenzung rechtstechnisch möglich. Die in ihrer Tragweite auf den Landesbereich beschränkte Landesverfassung kann per definitionem keine Aussagen über die Bundestaatsgewalt treffen. Aus der Landesperspektive heißt dies, dass Geltungsgrundlage landesgesetzgeberischer Tätigkeit, was Umfang und Inhalt der einer gesetzlichen Regelung zugänglichen Materien angeht, nicht die Landesverfassung, sondern das Grundgesetz ist. Das Grundgesetz legt fest, welche Sachmaterien in welchem Umfang und unter welchen Voraussetzungen der Landeslegislative zugänglich bleiben. Daraus ergibt sich für die Frage, ob die Art. 70 ff. GG zugleich, und sei es auch nur „mittelbar“, Bestandteil einer Landesverfassung sein können, ein eindeutiges Zum Begriff Nierhaus (Fn. 34), Art. 28 Rn. 6. So bereits Sachs, DÖV 1982, 595; Rozek (Fn. 23), S. 131; ebenso nunmehr BVerfGE 103, 332 (350). 41 BVerfGE 103, 332 (350). 42 Vgl. nur Rozek, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 70 Rn. 1 m. w. N. 39 40
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Resultat: „Die Aufteilung der Gesetzgebungskompetenzen auf Bund und Länder erfolgt in einem Bundesstaat nur auf der Ebene des Gesamtstaates.“43 Um Bundesund Landesstaatsgewalt gleichermaßen binden zu können, muss die Kompetenzabgrenzung zwischen beiden Staatsgewalten auf der Ebene des Grundgesetzes erfolgen, da die Landesverfassungen keine Aussagen über die Ausübung der Bundesstaatsgewalt treffen könnnen. Nach der Regelungstechnik des Grundgesetzes sind die Kompetenzen des Bundes auf dem Gebiet der Gesetzgebung als thematische Ausgrenzungen und enumerative Ausnahmen von der Generalzuständigkeit der Länder formuliert. Infolgedessen schließt jede Aussage über das Bestehen oder Nichtbestehen einer Landesgesetzgebungskompetenz stets auch eine Aussage über die (Un-)Zuständigkeit der Bundeslegislative ein. Die sonach immer mit zu treffende korrespondierende Feststellung über die Regelungskompetenz des Bundesgesetzgebers scheidet, weil sie implizit eine Aussage über die Bundesstaatsgewalt trifft, als Thema der Landesverfassungsebene aus. Alleiniger Standort der Vorschriften über die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen ist folgerichtig das Grundgesetz (Art. 70 ff. GG). Die grundgesetzlichen Kompetenzbestimmungen können deshalb nicht gleichzeitig Bestandteil des Landesverfassungsrechts sein. Eine Landesverfassung kommt als paralleler Regelungsstandort definitiv nicht in Betracht. Die gegenteilige Auffassung u. a. des Nordrhein-westfälischen Verfassungsgerichtshofes,44 auf dessen Rechtsprechung sich der Sächsische Verfassungsgerichtshof wesentlich stützt,45 die Verbandskompetenz des Landes im Bereich der Gesetzgebung könne „nur durch eine verbindende Auslegung von Landesverfassung und Bundesverfassung geklärt werden“ und es trage „der generell gebotenen Rücksicht auf den eigenen Verfassungsraum der Länder“ Rechnung, wenn „die Gesetzgebungskompetenz des Landes dem Landesverfassungsrecht zugerechnet“ werde, ist als verfassungsrechtlich unhaltbar zu verwerfen. Das Bundesverfassungsgericht trifft ein entsprechendes Verdikt, wenn es nunmehr hervorhebt, dass schon die Kompetenzordnung der Art. 70 ff. GG selbst gegen ein „Hineinlesen“ der bundesverfassungsrechtlichen Gesetzgebungskompetenzen in das Landesverfassungsrecht spricht.46 Die Verteilung der Gesetzgebungsbefugnisse nach den Art. 70 ff. GG berechtigt Bund und Länder unmittelbar kraft Bundesverfassungsrechts. Für eine Transformation auf die Ebene des Landesverfassungsrechts bestehen danach weder Bedürfnis noch Raum. Im Bereich der Gesetzgebung können die Länder ihre Befugnisse – ebenso wie die ihnen fehlenden Befugnisse – unmittelbar aus dem Grundgesetz ablesen.47 Diese Konzeption ist stimmig. BVerfGE 103, 332 (350). NWVerfGH DÖV 1992, 969 f. 45 SächsVerfGH LVerfGE 14, 333 (358). 46 BVerfGE 103, 332 (357). Dem folgt inzwischen ausdrücklich auch HessStGH DVBl. 2004, 1031: „Bundesverfassungsrechtliche Bestimmungen wie die Gesetzgebungskompetenzen gemäß Art. 70 ff. GG sind nicht Teil des Landesverfassungsrechts.“ 47 BVerfGE 103, 332 (357). 43 44
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Aus den vorgenannten Erwägungen folgt, dass Gliedstaatsklauseln wie Art. 1 S. 1 SächsVerf nicht dazu missbraucht werden dürfen, die Art. 70 ff. GG in das Landesverfassungsrecht „hineinzulesen“. Das Bundesverfassungsgericht lässt dementsprechend keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Art. 70 ff. GG weder in die landesverfassungsrechtliche Bezeichnung eines Bundeslandes als Gliedstaat der Bundesrepublik Deutschland „hineingelesen“ noch über das Rechtsstaatsprinzip der Landesverfassung als „mittelbarer“ Prüfungsmaßstab herangezogen werden können.48 Ganz abgesehen davon, dass dem (deklaratorischen) Satz „Der Freistaat Sachsen ist ein Land der Bundesrepublik Deutschland“ nach allen gängigen Auslegungsregeln eine entsprechende Einbeziehensanordnung schwerlich entnommen werden kann,49 widerspricht die Einbeziehung dem Wesen der Art. 70 ff. GG und letztlich auch dem bundesstaatlichen Prinzip (Art. 20 Abs. 1 GG). Denn wenn es zutrifft, dass ein extensives „Hineinlesen“ von Normen der Bundesverfassung in die Landesverfassung Verfassungsautonomie und Staatlichkeit des Landes nachhaltig beschädigt,50 ist die Auslegung des Art. 1 S. 1 SächsVerf durch den Sächsischen Verfassungsgerichtshof im Ergebnis grundgesetzwidrig, macht sie doch die Gliedstaatsklausel zu einem Passepartout, über das nahezu beliebig auch andere Teile des Grundgesetzes, etwa die Bundesgrundrechte, im Wege der „Inbezugnahme“ in die Sächsische Verfassung „hineingelesen“ werden könnten. Die Argumentation, mit der der Sächsische Verfassungsgerichtshof sich über Art. 81 Abs. 1 Nr. 2 SächsVerf, der seine Kontrollkompetenz auch von Landesverfassungs wegen ausdrücklich auf den Maßstab der Sächsischen Verfassung beschränkt,51 hinwegsetzt, steht nach alledem auf tönernen Füßen. d) Gestörter Diskurs der verfassungsgerichtlichen Verfassungsinterpreten? Umso mehr muss es befremden,52 dass der Sächsische Verfassungsgerichtshof sich mit keinem einzigen Wort mit der zu seiner Auffassung exakt gegenläufigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auseinandersetzt,53 obwohl diese im Zeitpunkt des sächsischen Richterspruches längst in rezeptionsfähiger Form BVerfGE 103, 332 (357 f.). So zu Recht auch Starke, SächsVBl. 2004, 51; vom „Grenzbereich einer zulässigen Norminterpretation“ spricht Dietlein, JöR n.F. 51 (2003), 351 (für die Auslegung der Gliedstaatsklausel des Art. 1 Abs. 1 S. 1 NWVerf durch den NWVerfGH). 50 So ausdrücklich BVerfGE 103, 332 (357). 51 Art. 81 Abs. 1 Nr. 2 SächsVerf weist dem SächsVerfGH die Zuständigkeit zur Entscheidung über „Zweifel und Meinungsverschiedenheiten über die Vereinbarkeit von Landesrecht mit dieser Verfassung“ zu (Hervorhebung nur hier). 52 Vgl. auch Starke, SächsVBl. 2004, 53. 53 Vgl. SächsVerfGH LVerfGE 14, 333 (358). Auch in der Entscheidung SächsVerfGH LVerfGE 16, 441 (458) wird selbstreferentiell nur (noch) auf die eigene Spruchpraxis Bezug genommen. 48 49
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vorlag.54 Da nicht anzunehmen ist, dass die Leipziger Richter das Karlsruher Judikat schlicht (mehrmals) übersehen haben, dürfte es wohl eher an der Rezeptionswilligkeit, denn an der Rezeptionsfähigkeit fehlen. Zur Überzeugungskraft der sächsischen Konstruktion tragen derlei Störungen im Diskurs der verfassungsgerichtlichen Verfassungsinterpreten nicht bei. Dass der Sächsische Verfassungsgerichtshof über die Normprüfungskompetenz hinaus auch eine Normverwerfungskompetenz am Maßstab der Art. 70 ff. GG für sich in Anspruch genommen und „durchentschieden“ hat, sorgt im Übrigen allemal für zusätzliche Brisanz im Verhältnis der beiden Verfassungsgerichtsbarkeiten. Ein Landesverfassungsgericht darf nicht einerseits seinen Kognitionshorizont auf Bundesverfassungsrecht erstrecken und zugleich dabei Vorlagepflichten nach Art. 100 Abs. 1 und Abs. 3 GG unterlaufen. Das Bundesverfassungsgericht hat für den Fall, dass ein Landesverfassungsgericht zur Prüfung am Maßstab des Grundgesetzes berechtigt sei, jedenfalls die abschließende Entscheidungszuständigkeit für sich in Anspruch genommen:55 Wenn ein Landesverfassungsgericht den Gegenstand seiner Normenkontrolle für grundgesetzwidrig erachte, sei es zur Vorlage an das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG verpflichtet. Selbst wenn Art. 1 S. 1 SächsVerf eine taugliche Inkorporationsnorm wäre, hätte der Sächsische Verfassungsgerichthof vielleicht eine Prüfungskompetenz, mit Blick auf das Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts (arg. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, Art. 100 Abs. 1 GG) aber gewiss keine Verwerfungskompetenz. Der Auslegung des Art. 100 Abs. 1 GG durch das Bundesverfassungsgericht mag man (nur) hinsichtlich der Radizierung der Vorlagekonstellation zwar mit guten Gründen widersprechen,56 der Sächsische Verfassungsgerichtshof legt indes weder seine offenbar divergente Sicht des Art. 100 Abs. 1 GG offen, noch setzt er sich mit der bundesverfassungsgerichtlich bejahten Vorlagepflicht auseinander. Die These, dass die Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes wesensnotwendig mitzudenkender Inhalt des Landesverfassungsrechts seien und deshalb das Landesverfassungsgericht selbständig einen Verstoß gegen die Kompetenzgrenzen feststellen könne, ohne dem Bundesverfassungsgericht diese Frage nach Art. 100 Abs. 1 GG vorlegen zu müssen,57 steht somit gerade auch in der Kombination ihrer Elemente in substantiellem Widerspruch zur Auslegung des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht. Für Landesverfassungsgerichte, die wie der Sächsische, der Rheinland-pfälzische und der Nordrhein-westfälische Verfassungsgerichtshof eine entsprechende Spruchpraxis pflegen, liegt danach die Vorlagefrage auf der Hand: Sie stellt sich – wegen Divergenz bei der Auslegung des 54 Die Entscheidung des BVerfG datiert vom 7. 5. 2001, die des SächsVerfGH vom 10. 7. 2003. 55 BVerfGE 69, 112 (117 f.); 103, 332 (355); ebenso Nierhaus (Fn. 34), Art. 28 Rn. 6 a.E.; E. Klein, in: Benda / Klein, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl. 2001, Rn. 55 m. w. N.; vgl. dazu auch Rozek (Fn. 23), S. 60 f. 56 Dazu näher Rozek (Fn. 23), S. 231 ff. m. w. N. 57 So zuletzt Caspar, NordÖR 2008, 195.
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Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1 GG, Art. 70 ff. GG, Art. 100 Abs. 1 GG) – jedenfalls nach Art. 100 Abs. 3 GG.58
IV. Fazit Landesverfassungsgerichte sind Hüter der Landesverfassung, nicht des Bundes(verfassungs)rechts. Ihr landesverfassungsrechtlicher Kontrollmaßstab weist mit dem bundes(verfassungs)rechtlichen Kontrollmaßstab des Bundesverfassungsgerichts im Nebeneinander der Verfassungsräume grundsätzlich keine Überschneidungen auf. Den Landesverfassungsgerichten obliegt es nicht, den Prüfungsgegenstand umfassend unter bundes- und landesverfassungsrechtlichen Aspekten zu bewerten.59 Nimmt man die Verfassungsautonomie der Länder ernst, ist es nur folgerichtig, wenn sich Landesverfassungsgerichte auf die Prüfung der Vereinbarkeit von Akten der Landesstaatsgewalt mit der Landesverfassung beschränken. Es gilt das Motto: Je klarer und eindeutiger die Abschichtung der jeweiligen Kontollmaßstäbe gelingt, desto besser für die Verfassungsautonomie des Landes.60 Die Verwerfung formeller Landesgesetze am Maßstab der Art. 70 ff. GG fällt nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG und Art. 100 Abs. 1 GG in das Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts. Dieses Monopol sollte der Oligopolisierung durch Landesverfassungsgerichte entzogen bleiben.
58 Zum obligatorischen Charakter der Vorlage nach Art. 100 Abs. 3 GG sowie zu den bei einer Vorlage zu beachtenden Einzelfragen ebenso umfassend wie instruktiv Bethge (Fn. 8), § 85 Rn. 36, 38 ff. 59 So inzwischen auch HessStGH DVBl. 2004, 1031. 60 BVerfGE 103, 332 (357); Möstl, AöR 130 (2005), 377.
Die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung als Prüfungsmaßstab der kommunalen Verfassungsbeschwerde Von Rainer Wernsmann
I. Einleitung Die kommunale Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG, §§ 91, 92 ff. BVerfGG ist ein exklusiv Gemeinden und Gemeindeverbänden zur Verfügung stehender Rechtsbehelf. Er weist vor allem im Verhältnis zur „benachbarten“ Individualverfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 90, 92 ff. BVerfGG einige Besonderheiten auf1: Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Überprüfung können nur Rechtsnormen sein; die kommunale Verfassungsbeschwerde ist also nach ihrer Konzeption im Grundgesetz ausschließlich als Rechtssatzverfassungsbeschwerde (nicht z. B. als Urteilsverfassungsbeschwerde) denkbar.2 Ferner können Gemeinden und Gemeindverbände in diesem Verfahren gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG, § 91 BVerfGG nur rügen, dass sie in ihrem Recht auf Selbstverwaltung verletzt seien; Prüfungsmaßstab ist also ausschließlich Art. 28 Abs. 2 GG.3 Schließlich kann eine kommunale Verfassungsbeschwerde zum 1 Guckelberger, Jura 2008, 819 spricht insoweit von „gewissen Unzulänglichkeiten der Kommunalverfassungsbeschwerde“. 2 Prüfungsgegenstand können auch Rechtsverordnungen sein – BVerfGE 26, 228 (236); 56, 298 (309); 71, 25 (34); 76, 107 (114); 107, 1 (8); 110, 370 (383) –, nicht aber gerichtliche Entscheidungen (anders aber teilweise das Landesverfassungsrecht, siehe Art. 130 Abs. 1 S. 2 RhPfVerf, Art. 80 Abs. 1 Nr. 2 ThürVerf). Die kommunale Verfassungsbeschwerde wird daher auch als „Normenkontrollverfahren mit gegenständlich begrenztem Antragsrecht“ bezeichnet, so etwa Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 7. Aufl. 2007, Rn. 192; Stern, Staatsrecht II, 1980, S. 1024; krit. Benda / Klein, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl. 2001, Rn. 689 ff. Die kommunale Verfassungsbeschwerde ist nur als Rechtssatzverfassungsbeschwerde möglich, BVerfGE 79, 127 (140). Auch ein vollständiges Unterlassen des Gesetzgebers ist im Verfahren der kommunalen Verfassungsbeschwerde nicht rügefähig, VerfGH NRW OVGE 14, 369 (371); 19, 308 (312 f.); VerfGH NRW v. 13. 6. 2000, VerfGH 3 / 98, 4 / 98, 5 / 98, Rz. 39 ff.; VerfGH NRW v. 8. 4. 2003, VerfGH 2 / 02, Rz. 31; Erichsen, Kommunalrecht des Landes Nordrhein-Westfalen, 2. Aufl. 1997, S. 391 f. m. w. N. Diese Beschränkung des Prüfungsgegenstands ist auch unter Rechtsschutzgesichtspunkten keiner Korrektur zugänglich, VerfGH NRW v. 13. 6. 2000, VerfGH 3 / 98, 4 / 98, 5 / 98, Rz. 47. 3 Zu Unterschieden zwischen Individual- und Kommunalverfassungsbeschwerde im Prüfungsumfang noch ausführlich unten II.
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BVerfG nur erhoben werden, sofern nicht das jeweils zuständige Landesverfassungsgericht einen vergleichbaren Rechtsschutz4 vermittelt (sog. Subsidiarität der Kommunalverfassungsbeschwerde zum BVerfG). Die Landesverfassungen sehen überwiegend eine solche Möglichkeit einer kommunalen Verfassungsbeschwerde gegen Landesrecht vor dem Landesverfassungsgericht vor (z. B. § 52 Abs. 1 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen (VGHG), Art. 75 Nr. 4 LV NRW i. V. m. § 12 Nr. 8 VGHG NRW). Der vorliegende Beitrag widmet sich dem Prüfungsmaßstab im Verfahren der kommunalen Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht und den Landesverfassungsgerichten.5 Zwei Fragen sollen in diesem Beitrag behandelt werden: (1) Ist die sog. Elfes-Rechtsprechung des BVerfG auf kommunale Verfassungsbeschwerden übertragbar? Nach dieser kann jedermann im Wege der (Individual-)Verfassungsbeschwerde geltend machen, ein seine Freiheitsrechte beschränkendes Gesetz gehöre deshalb nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung i. S. d. Art. 2 Abs. 1 GG, weil es (formell oder materiell) gegen einzelne Verfassungsbestimmungen verstoße.6 Über diesen Hebel kann der Beschwerdeführer etwa auch rügen, dass dem Normsetzer die Gesetzgebungskompetenz gefehlt habe oder dass die verfassungsrechtlichen Regeln über das Gesetzgebungsverfahren verletzt worden seien. Im Verfahren der Kommunalverfassungsbeschwerde sollen jedoch nur solche Normen als Prüfungsmaßstab in Betracht kommen, die das verfassungsrechtliche Bild der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie mitzuprägen geeignet sind. Insbesondere kann eine Überprüfung der angegriffenen Regelung am Maßstab der grundgesetzlichen Kompetenzordnung nach h. M. nicht erreicht werden, wenn die Selbstverwaltungsgarantie durch sie nicht berührt wird (dazu II.).7 (2) Kann einfaches Recht im Verfahren der kommunalen Verfassungsbeschwerde als Prüfungsmaßstab herangezogen werden? Bethge verneint das mit der h. M. kurz und bündig: „Einfaches Recht scheidet ohnehin als Maßstab der Kognition (sc. für die Verfassungsgerichte) aus“8 – und das zu Recht. Erstaunlicherweise hat der VerfGH NRW das jüngst anders gesehen: Kraft der landesverfassungsrechtlichen kommunalen Selbstverwaltungsgarantie und des sie mitprägenden landesverfassungsrechtlichen Rechtsstaatsprinzips habe die Beschwerde führende Kommune einen vor dem Landesverfassungsgericht durchsetzbaren Anspruch auf die Einhaltung einfachen Bundesrechts (dazu III.).
4 Vgl. etwa BVerfGE 107, 1 (8 ff.): Schließt die Landesverfassung die Überprüfung von Rechtsverordnungen des Landes am Maßstab der landesverfassungsrechtlichen kommunalen Selbstverwaltungsgarantie aus, so steht insoweit die von Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG angeordnete Subsidiarität der kommunalen Verfassungsbeschwerde zum BVerfG nicht entgegen. 5 Vgl. auch Bethge, DÖV 1972, 156, der den Umfang der Prüfungskompetenz der zur Entscheidung über diesen Rechtsbehelf berufenen Verfassungsgerichtsbarkeit noch keinesfalls ausdiskutiert sah – ein Befund, der insbesondere vor dem Hintergrund aktueller verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung nach wie vor zutrifft. 6 Grundlegend BVerfGE 6, 32 (41). 7 BVerfGE 119, 331 (356). 8 Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Bethge, BVerfGG, § 91 Rn. 62 (Stand: Lfg. 23 – Januar 2004).
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II. Das eingeschränkte Rügepotential im Rahmen der kommunalen Verfassungsbeschwerde Gem. § 91 BVerfGG können Gemeinden und Gemeindeverbände kommunale Verfassungsbeschwerde mit der Behauptung erheben, dass ein Bundes- oder Landesgesetz Art. 28 Abs. 2 GG verletze. Gem. § 52 Abs. 1 VGHG NRW9 müssen die Beschwerdeführerinnen (Bf.) behaupten, dass „Landesrecht die Vorschriften der Landesverfassung über das Recht der Selbstverwaltung verletze“. Erforderlich ist zunächst auch hier (wie im Verfahren der Individualverfassungsbeschwerde zum BVerfG gem. § 90 Abs. 1 BVerfGG), dass die Beschwerdeführerin rügen muss, in eigenen Rechten verletzt zu sein, auch wenn das im Wortlaut der Normen nicht zum Ausdruck kommt. Dies folgt jedoch aus der Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck der Norm, die kein objektives Rechtsschutzverfahren eröffnen will, sondern der Absicherung einer subjektiven Rechtsposition dient.10 Die Gemeinde ist jedoch nur beschwerdebefugt, wenn eine Verletzung ihres Rechts auf kommunale Selbstverwaltung nach ihrem Vortrag zumindest möglich, d. h. nicht von vornherein und nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen erscheint. § 91 BVerfGG bezieht sich ausdrücklich auf den Prüfungsmaßstab des Art. 28 GG, und § 52 VGHG NRW verlangt ausdrücklich die Behauptung, dass das Landesrecht „die Vorschriften der Landesverfassung über das Recht der Selbstverwaltung“ (also Art. 78 und 79 LV NRW) verletze. Bei der Prüfung der Zulässigkeit kommunaler Verfassungsbeschwerden lässt es die Rechtsprechung der Verfassungsgerichte des Bundes und der Länder ausreichen, wenn eine Verletzung des Art. 28 Abs. 2 GG bzw. der landesverfassungsrechtlichen Parallelvorschriften möglich erscheint, und scheidet solche Prüfungsmaßstäbe, die im Verfahren der kommunalen Verfassungsbeschwerde nicht herangezogen werden können, meist erst in der Begründetheitsprüfung aus.11 1. Entbehrlichkeit des individualschützenden Charakters der als verletzt gerügten Norm bei der Individualverfassungsbeschwerde Jedermann kann im Wege der (Individual-)Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 BVerfGG geltend machen, eine seine Handlungsfreiheit beschränkende Rechtsnorm gehöre nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung, weil sie (formell oder inhaltlich) gegen einzelne Verfassungsbestimmungen oder all9 Im Folgenden wird exemplarisch bei landesrechtlichen Regelungen die nordrhein-westfälische Rechtslage zitiert, da eine Entscheidung des VerfGH NRW Anlass zur Diskussion bietet. 10 Näher Erichsen (Fn. 2), S. 392 ff. m. w. N. 11 Z. B. BVerfGE 91, 228 (242, 245); VerfGH NRW v. 8. 4. 2003, VerfGH 2 / 02, Rz. 50. Vgl. aber auch BVerfGE 71, 25 (37 f.). – Bei Individualverfassungsbeschwerden verneint das BVerfG hingegen die Zulässigkeit der Rüge solcher Grundrechte, deren Verletzung nicht möglich erscheint, bereits im Rahmen der Zulässigkeit. Vgl. z. B. BVerfGE 110, 274 (287 f.).
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gemeine Verfassungsgrundsätze verstoße; deshalb werde sein Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt. Das hat das BVerfG erstmals im sog. Elfes-Urteil entschieden12 und erscheint heute selbstverständlich; später hat es diese Sichtweise auch auf die besonderen Freiheitsrechte erstreckt. Das BVerfG untersucht also – anders als bei kommunalen Verfassungsbeschwerden – nicht eigens, ob die als verletzt gerügte Bestimmung des Grundgesetzes auch den Interessen des Beschwerdeführers zu dienen bestimmt ist bzw. ob sie die Garantie des als verletzt gerügten Freiheitsrechts mitzuprägen geeignet ist. Wenn ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in ein Freiheitsgrundrecht vorliegt, so prüft das BVerfG unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt, ob dieser Eingriff mit der Verfassung in Einklang steht, ob also das freiheitseinschränkende Gesetz vom zuständigen Gesetzgeber erlassen wurde und das vom Grundgesetz13 vorgesehene Gesetzgebungsverfahren eingehalten wurde usw.14 Das bedeutet aber noch nicht die Existenz eines prozessual von jedermann durchsetzbaren Grundrechts auf eine „Verfassungsmäßigkeit der gesamten Staatstätigkeit“,15 es führt noch nicht zu einer unbegrenzten „Subjektivierung objektiv-rechtlicher Verfassungsgrundsätze“.16 Denn eine umfassende Prüfung an allen Verfassungsnormen setzt im Verfahren der Individualverfassungsbeschwerde stets voraus, dass ein rechtfertigungsbedürftiger Akt öffentlicher Gewalt vorliegt, also ein Eingriff in ein Freiheitsgrundrecht oder eine Ungleichbehandlung.17 Liegt kein Rechtfertigungsbedarf vor, so kann der Einzelne auch nicht die Überprüfung am Maßstab der Verfassung verlangen. So ist etwa die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Grenzen der Staatsverschuldung (Art. 115 GG) nicht mit der Verfassungsbeschwerde rügefähig. Gleiches wird etwa für die Verfassungsmäßigkeit des Haushaltsgesetzes angenommen, da es keine Rechte des Einzelnen begründen könne.18
Muss der Träger öffentlicher Gewalt sich dafür rechtfertigen, dass er in ein Freiheitsgrundrecht des Einzelnen eingegriffen hat, so muss dieser Grundrechtseingriff umfassend an allen Verfassungsbestimmungen überprüft werden. Zwei Begründungen sind dafür denkbar: Zum einen die sog. Rechtsstaatsthese, wonach die formellen Anforderungen des Grundgesetzes Ausdruck eines subjektiven Rechts des EinBVerfGE 6, 32 (LS 3 und 4 sowie S. 41). Die Vereinbarkeit von Landesgesetzen mit den Anforderungen der jeweiligen Landesverfassung an das Gesetzgebungsverfahren prüft das BVerfG hingegen wegen des auf das Grundgesetz beschränkten Prüfungsmaßstabs nicht; vgl. nur BVerfGE 6, 376 (382); 11, 89 (94); Bethge, Festschrift Isensee, 2007, S. 627 f.; Wernsmann, in: Ehlers / Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, § 16 Rn. 75. 14 Schwankungen unterliegt die Rechtsprechung des BVerfG allerdings bei der Frage, ob ein Freiheitseingriff auch darauf überprüft werden kann, ob er möglicherweise Grundrechte Dritter verletzt. Dazu unten II. 3. 15 So aber noch W. Schmidt, AöR 91 (1966), 68, 84. 16 So aber Scholz, AöR 100 (1975), 84. 17 Vgl. Di Fabio, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1 Rn. 12; Bethge (Fn. 13), S. 618. 18 So wohl auch BVerfGE 55, 349 (362), auch wenn dort die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen das Haushaltsgesetz mangels unmittelbarer Betroffenheit verneint wurde. 12 13
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zelnen auf Rechtsstaatlichkeit aller ihm gegenüber ergehenden Eingriffe sind, zum anderen die sog. Freiheitsschutzthese, wonach die Kompetenz- und Verfahrensbestimmungen und andere objektiv-rechtliche Normen des Grundgesetzes jedenfalls auch eine die individuelle Freiheit schützende Funktion haben.19 Wird bei der Individualverfassungsbeschwerde dann nicht mehr eigens geprüft, ob die Kompetenznormen (Art. 70 ff. GG) oder die Vorschriften über das Gesetzgebungsverfahren (Art. 76 ff. GG) den Schutzgehalt des jeweiligen Freiheitsrechts „mitzuprägen geeignet“ sind, so beruht das bei dieser Sichtweise darauf, dass der zumindest auch freiheitsschützende Charakter der Verfassungsbestimmungen generell (typisierend) bejaht wird.20 Umstritten ist in dieser Hinsicht nur, inwieweit die Verfassungsmäßigkeit eines Eingriffs auch darauf überprüft wird, ob Rechte Dritter (etwa infolge von Ungleichbehandlungen) verletzt sind (dazu II. 3.). 2. Kommunalschützender Charakter der als verletzt gerügten Norm im Rahmen der kommunalen Verfassungsbeschwerde Beim Prüfungsmaßstab kommunaler Verfassungsbeschwerden, der Selbstverwaltungsgarantie nach Art. 28 Abs. 2 GG bzw. – bei Verfahren vor den Landesverfassungsgerichten – den entsprechenden Bestimmungen der Landesverfassungen, muss nach h. M. hingegen eigenständig geprüft werden, ob die jeweils als verletzt gerügte Norm bestimmte besondere Anforderungen erfüllt: Die Gemeinden sollen im Rahmen der kommunalen Verfassungsbeschwerde nur solche Rechtsnormen als verletzt rügen können, die das verfassungsrechtliche Bild der Selbstbestimmung mitzubestimmen geeignet sind.21 Dies wird angenommen bei „Verfassungsprinzipien, die derart sachlogisch mit dem kommunalen Autonomiebereich verknüpft sind, dass, hätten sie keine spezielle Ausformung erfahren, sie der allgemeinen Garantienorm des Art. 28 Abs. 2 zugeschrieben werden müssten“.22 Die Rüge, dass ein bestimmtes Bundesgesetz unter Verstoß gegen die Gesetzgebungskompetenz der Länder (Art. 70 GG) zustande gekommen sei, hat das BVerfG für die Möglichkeit einer Verletzung der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie ausreichen lassen, da Art. 70 GG seinem Inhalt nach das Bild der kom19 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, 5. Aufl. 2006, S. 347 f. Vgl. auch Di Fabio (Fn. 17), Art. 2 Abs. 1 Rn. 42: „Nur so (sc. durch Rügbarkeit der bloß formellen Fehler) werden die mittelbar freiheitssichernden Versprechen des Rechtsstaats ernst genommen.“ 20 Ausdrücklich in diesem Sinne den freiheitsschützenden Charakter von Verfassungsnormen mit formellem Inhalt bejahend Alexy (Fn. 19), S. 348. 21 BVerfGE 1, 167 (181, 184); 26, 172 (184); 26, 228 (238); 56, 298 (310); 71, 25 (37); 91, 228 (242); 119, 331 (357); Bethge (Fn. 8), § 91 Rn. 57, 59; ders., DÖV 1972, 157; Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im Öffentlichen Recht, 1995, S. 541; Voßkuhle, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. III, 5. Aufl. 2005, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b Rn. 202; Wieland, in: Dreier, GG, Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 93 Rn. 87. 22 Bethge (Fn. 8), § 91 Rn. 60 (dort in der Marginalie als „Die Faustregel“ bezeichnet); ders., DÖV 1972, 157.
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munalen Selbstverwaltung mitzubestimmen geeignet sei.23 Allerdings sind etwa die Normen über die Gesetzgebungskompetenzen (Art. 70 ff. GG) nicht in der Weise in der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie „enthalten“, dass sie – wenn sie keine spezielle Ausformung in besonderen Verfassungsbestimmungen gefunden hätten – im Wege der Auslegung unmittelbar aus der Selbstverwaltungsgarantie hätten hergeleitet werden können. Gleichwohl wird deren Überprüfbarkeit im Verfahren der kommunalen Verfassungsbeschwerde generell bejaht.24 Allerdings soll die Kommune nicht die Einhaltung aller verfassungsrechtlichen Zuständigkeitsvorschriften zur Überprüfung stellen dürfen: So hat das BVerfG Art. 84 Abs. 1 GG a. F. nicht als kommunalschützend erachtet und damit dessen mögliche Verletzung durch ein Bundesgesetz im Verfahren einer kommunalen Verfassungsbeschwerde nicht geprüft.25 Abgelehnt hat das BVerfG mehrfach auch die Heranziehung des Art. 33 Abs. 2 GG (und auch des Art. 3 Abs. 2 und 3 GG) als Prüfungsmaßstab, wenn die Beschwerde führenden Gemeinden gerügt hatten, dass sie Personalentscheidungen unter Verletzung des Art. 33 Abs. 2 GG zu treffen hätten, wodurch sie ihre Selbstverwaltungsgarantie verletzt sahen.26 Daher konnte eine Gemeinde nicht durch das BVerfG überprüfen lassen, ob es mit Art. 33 Abs. 2 GG vereinbar ist, dass sie das Amt der kommunalen Gleichstellungsbeauftragten nur auf Frauen übertragen darf,27 wohingegen etwa der NdsStGH die gesetzliche Verpflichtung der Gemeinde auch unter diesem Gesichtspunkt geprüft (und dann in der Sache für verfassungsgemäß befunden) hat.28 Die Gemeinde kann nach Ansicht des BVerfG nur verfassungsgerichtlich überprüfen lassen, ob es mit ihrer als Teil der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie verbürgten Personalhoheit vereinbar ist, das Amt der hauptamtlichen Gleichstellungsbeauftragten überhaupt einrichten zu müssen.29 Das BVerfG geht also offensichtlich davon aus, dass die Garantie des Art. 33 23 BVerfGE 56, 298 (310); 112, 216 (221). Ebenso etwa ThürVerfGH DVBl. 2005, 444 f., 449; Schoch, DVBl. 2008, 941. 24 BVerfGE 56, 298 (310) mit der wenig aussagekräftigen Begründung einer Mitprägung: Grundsätzlich gehörten nach Art. 70 ff. GG Gemeindeangelegenheiten zur Gesetzgebungszuständigkeit der Länder; Eingriffe des Bundesgesetzgebers in das kommunale Selbstverwaltungsrecht seien danach grundsätzlich ausgeschlossen, sofern nicht die Verfassung ausnahmsweise dem Bund die Kompetenz zuweise. Wieso die Kompetenznormen aber das verfassungsrechtliche Bild der Selbstbestimmung mitzubestimmen geeignet sind, wird dadurch nicht begründet. Es wird nur dargelegt, dass Kommunalrecht grundsätzlich Sache der Länder ist. Was soll gelten, wenn ein Land die ausnahmsweise gegebene Bundesgesetzgebungskompetenz missachtet? Auch das soll die Gemeinde – i. Erg. zutreffend – rügen können. 25 BVerfGE 119, 331 (357 ff.). Ablehnend dazu Korioth, DVBl. 2008, 813 f.; Schoch, DVBl. 2008, 941 f. 26 BVerfGE 1, 167 (184); 91, 228 (245); zustimmend etwa Bethge (Fn. 8), § 91 Rn. 60, 63 mit Fn. 4; Benda / Klein (Fn. 2), Rn. 699. 27 BVerfGE 91, 228 (245); vgl. ferner schon BVerfGE 1, 167 (184). 28 NdsStGH DÖV 1996, 659. 29 BVerfGE 91, 228 (245).
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Abs. 2 GG, der einen gleichen Zugang zu allen öffentlichen Ämtern nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung vermittelt, nur den Interessen des übergangenen Bewerbers zu dienen bestimmt ist, die Kommune also nicht in ihrem Recht auf kommunale Selbstverwaltung verletzt ist, wenn sie ggf. Dritte diskriminieren und die nach Art. 33 Abs. 2 GG allein maßgeblichen Kriterien (Eignung, Befähigung und fachliche Leistung) durch das ihre Personalhoheit berührende Gesetz unter einem möglichen Verfassungsverstoß überspielen muss.
3. Problemfall: Verpflichtung zur Ungleichbehandlung Dritter Sehr aufschlussreich ist aber ein Vergleich mit der Individualverfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG. Kann sich dort der Einzelne, in dessen Freiheitsrecht eingegriffen wird, darauf berufen, dass dieser Grundrechtseingriff ihn deshalb in seinen Grundrechten verletzt, weil er gezwungen ist, Dritte zu diskriminieren? Die Rechtsprechung des BVerfG hatte hier lange keine klare Linie gefunden. Zunächst hatte das BVerfG explizit vertreten, dass die Rüge einer Verletzung des Art. 2 Abs. 1 GG nicht die Möglichkeit eröffne, geltend zu machen, eine Norm gehöre nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung, weil sie Dritte gleichheitswidrig benachteilige. 30 Danach ließ sich über die Brücke des Art. 2 Abs. 1 GG (oder eines anderen Freiheitsgrundrechts) zwar ein belastendes Gesetz etwa als kompetenzwidrig rügen, nicht jedoch als gleichheitswidrig, wenn der Beschwerdeführer nicht der (unmittelbar) benachteiligten Gruppe angehörte.31 Von der soeben zitierten Entscheidung hat sich das BVerfG dann später in einem ganz ähnlichen Fall ausdrücklich distanziert und ausgeführt: „Jedenfalls beeinträchtigt eine Vorschrift, die einen Bürger zur diskriminierenden Behandlung Dritter zwingt, diesen unmittelbar in seiner Handlungsfreiheit.“32 In der Literatur ist die Frage eben30 BVerfGE 77, 84 (101). Dort wurde die Verfassungsbeschwerde eines Arbeitnehmer-Verleihunternehmens mangels Selbstbetroffenheit in eigenen Grundrechten für unzulässig gehalten, soweit eine Benachteiligung durch die Regelung der Überlassung von Bauarbeitnehmern gegenüber derjenigen für die Überlassung von Arbeitnehmern in anderen Wirtschaftszweigen gerügt wurde. 31 Selbst wenn der Beschwerdeführer (bzw. in konkreten Normenkontrollverfahren der Kläger des Ausgangsverfahrens) der benachteiligten Gruppe angehört, hält das BVerfG Rechtsschutz zur Durchsetzung des Gleichheitssatzes bisweilen für unzulässig. Ablehnend dazu Wernsmann (Fn. 13), § 16 Rn. 64 ff. m. w. N. 32 BVerfGE 85, 191 (206); ähnlich zuvor schon BVerfGE 25, 236 (251); 34, 165 (200); ebenso etwa Dreier, in: ders., GG, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 2 Abs. 1 Rn. 44 mit Fn. 163, Rn. 55. In BVerfGE 85, 191 ging es darum, dass die Beschwerdeführerin (Arbeitgeberin) Arbeiterinnen entgegen dem Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen zur Nachtzeit beschäftigt hatte, woraufhin ein Bußgeld gegen sie verhängt worden war. In dem Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen sah das BVerfG wegen Benachteiligung der Arbeiterinnen im Vergleich zu männlichen Arbeitern und weiblichen Angestellten einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3 GG.
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falls umstritten.33 Gegen die Berücksichtigung von Grundrechten Dritter bei der Frage, ob ein Eingriff gegenüber dem Beschwerdeführer in der „verfassungsmäßigen Ordnung“ im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG wurzelt, wird geltend gemacht, dass Grundrechte Dritter – anders etwa als Kompetenznormen – bezogen auf die Grundrechte des Beschwerdeführers keinen freiheitsschützenden Charakter hätten.34 Damit wird aber im Bereich der Individualverfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG (für die an sich die sog. Elfes-Rechtsprechung mit der umfassenden Heranziehung aller möglichen verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstäbe gilt) eine Prüfung veranlasst, die sehr stark der h. M. im Bereich der kommunalen Verfassungsbeschwerde angenähert ist: Denn dort soll zu prüfen sein, ob das dem Beschwerdeführer eingeräumte Recht durch die als verletzt gerügte Bestimmung der Verfassung mitgeprägt wird, also kommunalschützend ist. Richtigerweise ist indes bei der Individualverfassungsbeschwerde kein Raum für eine zusätzliche Prüfung, ob die als verletzt gerügte Bestimmung des Grundgesetzes ihrerseits die (Freiheits-)Rechte des Beschwerdeführers mitprägt, ihn also schützen soll. Es kann nicht isoliert die Vereinbarkeit einer belastenden Norm mit Grundrechten Dritter und damit mit materiellem Verfassungsrecht ungeprüft bleiben, wenn das belastende Gesetz Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung – also der verfassungsgemäßen Rechtsordnung – sein muss (Art. 2 Abs. 1 GG). Liegt ein rechtfertigungsbedürftiger Grundrechtseingriff in ein Freiheitsrecht vor, so muss dieser auf einer in jeder Hinsicht verfassungskonformen Rechtsgrundlage beruhen.35 4. Konsequenzen für die kommunale Verfassungsbeschwerde Erweist sich die sog. Elfes-Konstruktion – also die im Grundsatz umfassende verfassungsgerichtliche Überprüfung eines eingreifenden oder die Verwaltung zum Eingriff ermächtigenden Gesetzes – für die Individualverfassungsbeschwerde als zutreffend, so stellt sich abschließend die Frage, ob sie auf die kommunale Verfassungsbeschwerde übertragen werden sollte.36
33 Für Prüfung auch der Grundrechte von Dritten im Rahmen der Frage, ob der Eingriff in der „verfassungsmäßigen Ordnung“ im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG wurzelt, etwa Spielmann, Konkurrenz von Grundrechtsnormen, 2008, S. 181 f. sowie implizit Sachs, Festschrift Friauf, 1996, S. 321 ff.; ebenso auch ausdrücklich Sondervotum Grimm, BVerfGE 80, 164 (168). Dagegen etwa Alexy (Fn. 19), S. 349-356; Kube, DVBl. 2005, 724 f. 34 So Alexy (Fn. 19), S. 354; Kube, DVBl. 2005, 724 f. 35 Näher Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz – Rechtsfolgen und Rechtsschutz, 2000, S. 170-177 m. w. N. 36 In diesem Sinne – entgegen der h. M. (Nachweise oben Fn. 21) – insbesondere Stern, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 93 Rn. 813 und Art. 28 Rn. 115; ders. (Fn. 2), S. 1025; Hoppe, DVBl. 1995, 185 f.; Pestalozza, Festschrift v. Unruh, 1983, S. 1060 ff.
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a) Die kommunale Selbstverwaltungsgarantie als subjektives Recht Dagegen wird vorgebracht, dass die Limitierung des Prüfungsmaßstabs verfassungsrechtlich festgeschrieben sei und dass die Gemeinden in ihrer Rechtsstellung mit den Grundrechtsträgern nicht vergleichbar seien, da ihre Tätigkeit nicht auf individueller Freiheitsentfaltung, sondern auf staatlicher Kompetenzzuweisung beruhe.37 Gegen den ersten Einwand spricht, dass auch bei der Individualverfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG der Prüfungsmaßstab auf die Grundrechte und grundrechtsgleichen dort explizit aufgeführten Rechte begrenzt ist, gleichwohl auch hier objektive Verfassungsnormen als Prüfungsmaßstäbe herangezogen werden. Wenn die Verfassungsbeschwerde erst einmal zulässig ist, weil ein rechtfertigungsbedürftiger Grundrechtseingriff vorliegt und damit eine Verletzung in Grundrechten jedenfalls möglich erscheint, so erfolgt dort eine umfassende Prüfung. Gegen das zweite Argument spricht, dass auch die Kommunen aus der Selbstverwaltungsgarantie ein subjektives Recht38 herleiten können. Zwingt ein ihre Selbstverwaltungsgarantie beeinträchtigendes Gesetz sie zu einem Tun, das Dritte möglicherweise rechtswidrig behandelt, so ist die Einordnung der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie als institutionelle Garantie und nicht als Grundrecht zumindest kein zwingendes Gegenargument. Hindert ein Gesetz etwa eine Kommune daran, eine für sie verbindliche Verfassungsnorm (wie etwa Art. 33 Abs. 2 GG bei der Einstellung) zu beachten, so wird damit auch in ihre Personalhoheit als Teil ihrer Selbstverwaltungsgarantie eingegriffen.39 Daher muss die Prüfung auch auf diese Norm erstreckt werden. Die kommunale Selbstverwaltungsgarantie nach Art. 28 Abs. 2 GG enthält verschiedene Bestandteile: Zum einen muss es Gemeinden und Gemeindeverbände in der im Zeitpunkt der Verfassungsgebung vorhandenen tradierten Form geben (sog. institutionelle Rechtssubjektsgarantie40). Außerdem ist – gegenständlich und modal – das Recht (und die Pflicht) der Selbstverwaltung eingeräumt, also die Eigenverantwortlichkeit des Handelns (sog. objektive Rechtsinstitutionsgarantie41). Und schließlich vermittelt das „Recht“ auf Selbstverwaltung der einzelnen Kommune konkrete Ansprüche gegen den Staat (sog. subjektive Rechtsstellungsgarantie42). 37 Bethge (Fn. 13), S. 620 m. w. N.; ders. (Fn. 8), § 91 Rn. 65; Löwer, in: Isensee / Kirchhof, HStR III, 3. Aufl. 2005, § 70 Rn. 78; Starke, JuS 2008, 323. 38 Vgl. nur Ehlers, DVBl. 2000, 1302 f.; Schoch, Jura 2001, 124, 126; Dreier, in: ders., GG, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 28 Rn. 103; Löwer (Fn. 37), § 70 Rn. 76; Stern, Staatsrecht I, 2. Aufl. 1984, S. 409; Schmidt-Aßmann / Röhl, in: Schmidt-Aßmann / Schoch, Besonderes Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2008, 1. Kap. Rn. 24. Vgl. auch Erichsen (Fn. 2), S. 394. S. ferner Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 17. Aufl. 2009, § 23 Rn. 6 m. w. N. 39 Zutreffend NdsStGH DÖV 1996, 659. 40 Näher Erichsen (Fn. 2), S. 362 m. w. N.; Stern (Fn. 38), S. 409; ders. (Fn. 36), Art. 28 Rn. 62, 78 ff. 41 Erichsen (Fn. 2), S. 363 ff. m. w. N.; Stern (Fn. 36), Art. 28 Rn. 62, 94 ff. 42 Erichsen (Fn. 2), S. 376 f. m. w. N.; Stern (Fn. 36), Art. 28 Rn. 62, 174 ff.; Bethge, DV 15 (1982), 210 ff.
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Die kommunale Selbstverwaltungsgarantie unterscheidet sich von einem Grundrecht dadurch, dass nicht bloß ein Recht zur Wahrnehmung der eingeräumten Freiheit besteht, sondern auch eine Pflicht zur Wahrnehmung der Aufgabe. Insoweit ist einem Träger öffentlicher Gewalt eine Kompetenz eingeräumt worden, die dieser nicht nur wahrnehmen darf, sondern ggf. auch wahrnehmen muss. Gemeinden ist keine Privatautonomie in dem Sinne eingeräumt, dass sie grundsätzlich tun und lassen dürften, was sie wollen, wie es Art. 2 Abs. 1 GG Privaten einräumt.43 Sie sind als Teil des Staatsaufbaus44 öffentlich-rechtlich gebunden und müssen sich für ihr Handeln rechtfertigen, während der Private grundsätzlich nach seinem Belieben willkürlich handeln darf und keinen rechtlichen Begründungszwängen für sein Verhalten unterliegt. Gleichwohl räumt ihnen Art. 28 Abs. 2 GG ein subjektives Recht ein. Wenn Art. 28 Abs. 2 GG ihnen eigenverantwortliches Handeln im Rahmen der Rechtsordnung ermöglichen will, so müssen die Gemeinden auch rügen können, dass das Gesetz sie zu einer Ungleichbehandlung von Dritten (gegenüber „Vierten“) zwingt.45 b) Der Gesetzesvorbehalt des Art. 28 Abs. 2 GG Die kommunale Selbstverwaltungsgarantie kann nur durch Gesetz eingeschränkt werden (Gesetzesvorbehalt46), und hier wird man sagen müssen: nur durch ein gültiges Gesetz. Andere Eingriffe – also solche, die nicht auf einem wirksamen Gesetz beruhen – kann die Gemeinde abwehren. Unter dem Gesichtspunkt des Gesetzesvorbehalts folgt dann aus Art. 28 Abs. 2 GG bzw. den entsprechenden Vorschriften der Landesverfassungen die gleiche umfassende Prüfungsbefugnis und Prüfungspflicht wie bei den Freiheitsrechten des Einzelnen.47 Art. 28 Abs. 2 GG ist zwar kein Grundrecht, einem solchen aber „strukturell vergleichbar“.48 Dies eröffnet den Gemeinden keine „Popularklage“ und überspielt auch nicht den begrenzten Prüfungsumfang im Rahmen der kommunalen Verfassungsbeschwerde. Denn die Gemeinde kann die jeweilige Norm stets nur dann zur verfassungsgerichtlichen Überprüfung stellen, wenn diese sie in ihrem eigenen Selbstverwaltungsrecht berührt.49 Eine solche Erweiterung des Prüfungsumfangs der kommunalen Verfassungsbeschwerde führt daher nicht zu einer Subjektivierung des gesamten objektiven Verfassungsrechts. Insoweit gilt strukturell genau das Gleiche wie für die Individualverfassungsbeschwerde (oben II. 1.). Vgl. Maurer, Staatsrecht I, 5. Aufl. 2007, § 9 Rn. 34; Pestalozza (Fn. 36), S. 1061. Schmidt-Aßmann / Röhl (Fn. 38), 1. Kap. Rn. 24. 45 Zutreffend NdsStGH DÖV 1996, 659. 46 Vgl. dazu BVerfGE 79, 127 (143 ff.). 47 So auch Stern (Fn. 36), Art. 28 Rn. 115. 48 Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG, 9. Aufl. 2007, Art. 28 Rn. 11; ähnlich ThürVerfGH LVerfGE 15, 462 (492); Bethge (Fn. 8), § 91 Rn. 17. 49 Stern (Fn. 36), Art. 93 Rn. 813. 43 44
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c) Parallelen zwischen Individual- und Kommunalverfassungsbeschwerde Es haben sich erstaunliche Parallelen zwischen der Kommunalverfassungsbeschwerde und der Individualverfassungsbeschwerde gezeigt: Unsicherheiten bestehen in Rechtsprechung und Literatur hinsichtlich beider Verfahrensarten, inwieweit möglicherweise durch das eingreifende Gesetz verletzte Rechte Dritter zu prüfen sind. Historisch diente die Erstreckung des Prüfungsumfangs über Art. 28 Abs. 2 GG hinaus auf solche Normen, die die Selbstverwaltungsgarantie mitzuprägen geeignet sind, der Erweiterung des Rechtsschutzes der Gemeinde. Bei der im Rahmen der Individualverfassungsbeschwerde anwendbaren Elfes-Konstruktion wird die Mitprägung der Grundrechte des Einzelnen etwa durch Kompetenzund Verfahrensnormen gleichsam typisierend unterstellt, unwiderleglich vermutet. Sachlich spricht vieles für einen weitgehenden Gleichklang im Prüfungsumfang zwischen Individual- und Kommunalverfassungsbeschwerde.50 Die Beschränkung des Prüfungsumfangs nur auf solches Verfassungsrecht, das die kommunale Selbstverwaltungsgarantie mitzuprägen geeignet ist, sollte aufgegeben werden. Nimmt man sie ernst, ist nicht erklärbar, wieso die Einhaltung der Gesetzgebungskompetenzen die kommunale Selbstverwaltung in diesem Sinne mitprägt, die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgebote für diejenigen Beamten, deren Dienstherr die Gemeinde ist, jedoch nicht. Die Garantie eigenverantwortlichen Handelns schützt die Gemeinde also richtiger Ansicht nach auch davor, Dritte verfassungswidrig ungleich behandeln zu müssen; ob die Ungleichbehandlung, zu der das Gesetz die Gemeinde verpflichtet, tatsächlich verfassungsgemäß ist, muss also die Gemeinde verfassungsgerichtlich überprüfen lassen können. Wie bei den Freiheitsrechten der Bürger, die mit der Individualverfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG geltend gemacht werden, kann nur ein gültiges Gesetz die Rechtssphäre des Beschwerdeführers in verfassungskonformer Weise beschränken. Einen Eingriff in die Selbstverwaltungsgarantie, der nicht auf einem verfassungsmäßigen Gesetz beruht, kann die Gemeinde abwehren. III. Einfaches Bundesrecht als Prüfungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte? Stellt sich die Frage, ob ein Landesverfassungsgericht einfaches Bundesrecht im Verfahren der kommunalen Verfassungsbeschwerde als Prüfungsmaßstab heranziehen darf, so ist zunächst die grundsätzliche Aufgabenverteilung zwischen Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichten zu klären (1.) und außerdem die Frage zu beantworten, inwieweit das (bundes- und landes-)verfassungsrechtlich verankerte Rechtsstaatsprinzip die Einhaltung der bundesstaatlichen Kompetenz50 So auch Pestalozza (Fn. 36), S. 1065. Vgl. auch BVerfGE 112, 216 (221), wo für die Überprüfbarkeit der Gesetzgebungskompetenzen hinsichtlich eines Art. 28 Abs. 2 GG einschränkenden Gesetzes das Erfordernis der „Mitprägung“ nicht mehr erwähnt wird.
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normen sowie der vom Grundgesetz vorgesehenen Normenhierarchie (also z. B. die Vereinbarkeit eines Landesgesetzes mit einfachem Bundesrecht) zu einer verfassungsrechtlichen Vorgabe macht (2.). 1. Aufgabenverteilung zwischen Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichten Die Aufgabenverteilung zwischen Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichten betrifft zum einen die möglichen Prüfungsgegenstände in dem Verfahren vor dem jeweiligen Verfassungsgericht (a), zum anderen die anzuwendenden Prüfungsmaßstäbe (b). Teils liegt ein Exklusivitätsverhältnis vor, teils sind beide Verfassungsgerichtsbarkeiten nebeneinander zuständig. a) Mögliche Prüfungsgegenstände des LVerfG Prüfungsgegenstand im Verfahren der kommunalen Verfassungsbeschwerde vor dem Landesverfassungsgericht kann nur Landesrecht sein, im Verfahren vor dem BVerfG sowohl Bundes- als auch Landesrecht. Ein Landesverfassungsgericht kann nicht ein Bundesgesetz für verfassungswidrig und ggf. nichtig erklären. Zum einen ist das nach der auch in Art. 100 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommenden Aufgabenverteilung dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten.51 Entscheidend ist (materiellrechtlich), dass der Landesgesetzgeber sowohl an die Bundes- als auch an die Landesverfassung gebunden ist, während der Bundesgesetzgeber nur das Grundgesetz beachten muss.52 Daher ist die Zuständigkeit des Landesverfassungsgerichts hinsichtlich der Nichtigerklärung von Normen mit erga-omnes-Wirkung (vgl. z. B. §§ 78, 82 Abs. 1, 95 Abs. 3 i.V. m. § 31 Abs. 2 S. 2, § 13 Nr. 6, 6a, 8a, 11, 12 BVerfGG; als landesrechtliche Parallelnormen z. B. § 26 Abs. 2, § 12 Nr. 6, 8, §§ 49, 51 Abs. 3, 52 Abs. 3 VGHG NRW) verfassungsrechtlich zwingend auf das jeweilige Landesrecht beschränkt,53 da ein Landesverfassungsgericht nicht mit Wirkung auch für andere Länder Rechtsnormen des Bundes für nichtig erklären kann. b) Prüfungsmaßstab des LVerfG aa) Nur Landesverfassungsrecht Prüfungsmaßstab ist im Verfahren der kommunalen Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG die bundesverfassungsrechtliche Garantie der kommunalen Selbstverwaltung aus Art. 28 Abs. 2 GG, im Verfahren vor den Landesverfassungsgerichten 51 Ebenso Maurer (Fn. 43), § 20 Rn. 140 sowie Schoch, Jura 2001, 122 mit Fn. 9, der einen Umkehrschluss aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b letzter Halbsatz GG zieht. 52 Vgl. Schmidt-Aßmann / Röhl (Fn. 38), 1. Kap. Rn. 31. 53 Vgl. Bethge (Fn. 8), § 91 Rn. 69; Erichsen (Fn. 2), S. 387.
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allein54 die – im Einzelnen jeweils unterschiedlich formulierte – Garantie der jeweiligen Landesverfassung. Dementsprechend entscheidet etwa nach § 12 Nr. 8, § 52 VGHG NRW i.V. m. Art. 75 Nr. 4 LV NRW der VerfGH NRW über Verfassungsbeschwerden, die von den Gemeinden und Gemeindeverbänden mit der Behauptung erhoben werden, Landesrecht verletze die Vorschriften der Landesverfassung über das Recht der Selbstverwaltung. Prüfungsgegenstand kann also nur Landesrecht sein, und Prüfungsmaßstab können im Verfahren der kommunalen Verfassungsbeschwerde vor dem jeweils zuständigen Landesverfassungsgericht allein die Vorschriften der Landesverfassung über das Recht der Selbstverwaltung sein, also z. B. Art. 78 LV NRW.55 Dies gilt auch dann, wenn man mit der h. M. im Verfahren einer kommunalen Verfassungsbeschwerde nur solche Normen als Prüfungsmaßstab heranzieht, die das verfassungsrechtliche Bild der kommunalen Selbstverwaltung mitzubestimmen geeignet sind.56 Den verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab der kommunalen Selbstverwaltung können nur solche Normen mitprägen, die selbst Normen der Landesverfassung sind.57 Kommt das Landesverfassungsgericht zu dem Ergebnis, dass ein für seine Entscheidung maßgebliches Gesetz grundgesetz- oder bundesrechtswidrig ist, so muss es die Entscheidung des BVerfG einholen. Dies folgt unmittelbar aus Art. 100 Abs. 1 GG, was auch das BVerfG ausdrücklich hervorgehoben hat.58 bb) Die Bedeutung des Bundesverfassungsrechts Das Bundesverfassungsrecht (also das Grundgesetz) ist allerdings für das Landesverfassungsrecht nicht bedeutungslos. Zum einen muss das Landesverfassungsgericht prüfen, ob das Landesverfassungsrecht (als der anzuwendende Prüfungsmaßstab im Verfahren des Landesverfassungsgerichts) mit dem Grundgesetz oder einfachem Bundesrecht vereinbar und damit gültig ist; ggf. muss es dann dem BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG vorlegen.59
54 Bethge (Fn. 8), § 91 Rn. 81 f.; Löwer (Fn. 37), § 70 Rn. 78; Starke, JuS 2008, 323. Vgl. ferner BVerfGE 69, 112 (118). 55 Art. 79 LV NRW ist im Verfahren der kommunalen Verfassungsbeschwerde neben Art. 78 LV NRW ein eigenständiger Prüfungsmaßstab, da er das Recht der Selbstverwaltung ergänzt und präzisiert. So VerfGH NRW v. 15. 9. 1986, VerfGH 17 / 85, Rz. 3 = OVGE 39, 292 (293); anders noch VerfGH NRW OVGE 19, 297 (302). 56 BVerfGE 1, 167 (181 ff.); 56, 298 (310); 71, 25 (37); 91, 228 (242, 245). Ebenso etwa VerfGH NRW v. 15. 9. 1986, VerfGH 17 / 85, Rz. 3 = OVGE 39, 292 (293); VerfGH NRW v. 8. 4. 2003, VerfGH 2 / 02, Rz. 50. 57 Explizit VerfGH NRW v. 8. 4. 2003, VerfGH 2 / 02, Rz. 50. Ebenso etwa Mann, in: Löwer / Tettinger, Kommentar zur Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2002, Art. 75 Rn. 38. 58 BVerfGE 69, 112 (117 f.). 59 Vgl. BVerfGE 103, 332 (351 f.).
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Zum anderen können Aussagen des Grundgesetzes (Bundesverfassungsrechts) in „seltenen Fällen“60 in die Landesverfassung „hineinwirken“ („hineingelesen“ werden), so dass diese gleichzeitig Bestandteil auch des Landesverfassungsrechts sind. Das nehmen einige Landesverfassungsgerichte für die Vorschriften der Art. 70 ff. GG an.61 Indes muss schon aus Gründen der Rechtseinheitlichkeit die Letztentscheidung dem BVerfG vorbehalten bleiben (was allerdings auch über eine Divergenzvorlage nach Art. 100 Abs. 3 GG möglich wäre). Entscheidend ist aber vor allem, dass die Kompetenzverteilung unmittelbar kraft Bundesverfassungsrechts gilt; einer „Transformation“ in Landesverfassungsrecht bedarf es nicht. Die Kompetenz-Kompetenz liegt beim Bund, so dass nur das Grundgesetz die Kompetenzverteilung vornehmen kann. Daher ist nicht von einem „Hineinwirken“ der Art. 70 ff. GG in die jeweilige Landesverfassung auszugehen.62 Dies bedeutet dann gleichzeitig, dass diese Normen kein Prüfungsmaßstab für die Landesverfassungsgerichte sind. c) Beispiel: Kommunale Selbstverwaltungsgarantie und Anspruch der Kommunen auf finanzielle Ausstattung Im Folgenden soll am Beispiel der aus der kommunalen Selbstverwaltung folgenden Ansprüche der Kommunen auf finanzielle Ausstattung untersucht werden, welche Normen als Prüfungsmaßstab in Verfahren der kommunalen Verfassungsbeschwerde herangezogen werden können. Nach Art. 78 Abs. 1 LV NRW sind die Gemeinden und Gemeindeverbände Gebietskörperschaften mit dem Recht der Selbstverwaltung durch ihre gewählten Organe. Art. 79 LV NRW ergänzt die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, was die finanzielle Ausstattung der Kommunen angeht. Danach haben die Gemeinden zur Erfüllung ihrer Aufgaben das Recht auf Erschließung eigener Steuerquellen, und das Land ist verpflichtet, diesem Anspruch bei der Gesetzgebung Rechnung zu tragen und im Rahmen seiner finanziellen Leistungsfähigkeit einen übergemeindlichen Finanzausgleich zu gewährleisten. Art. 79 S. 2 LV NRW ist als Absicherung und Konkretisierung des Finanzausstattungsanspruchs zu verstehen, nimmt aber schon in seinem Wortlaut auch ausdrücklich Bezug auf die im jeweiligen Zeitpunkt bestehende finanzielle Leistungsfähigkeit des Landes bei der Durchführung des gemeindlichen Finanzausgleichs.63 Die finanzielle Leistungsfähigkeit des Landes im jeweiligen Zeitraum ist Grenze des Anspruchs der Gemeinden.64 Auch Art. 28 Abs. 2 GG entBVerfGE 13, 54 (79). So HessStGH NJW 1982, 1142; VerfGH NRW NVwZ 1993, 59. Kritisch BVerfGE 103, 332 (353 f., 357). 62 BVerfGE 103, 332 (357). 63 Vgl. auch hierauf ausdrücklich Bezug nehmend VerfGH NRW OVGE 40, 300 (303 f.); VerfGH NRW v. 6. 7. 1993, VerfGH 9 / 92, 22 / 92, Rz. 31; v. 9. 7. 1998, VerfGH 16 / 96, 7 / 97, Rz. 58; v. 1. 12. 1998, VerfGH 5 / 97, Rz. 33. 64 VerfGH NRW v. 9. 7. 1998, VerfGH 16 / 96, 7 / 97, Rn. 58. 60 61
Die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung
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nimmt die h. M.65 einen Anspruch auf eine angemessene Finanzausstattung. Damit verhilft die institutionelle Garantie des Art. 28 Abs. 2 GG den Kommunen zu einem Anspruch auf Schaffung der tatsächlichen Voraussetzungen der Rechtsausübung, während die Grundrechte grundsätzlich den Grundrechtsträgern keinen Anspruch auf Schaffung der tatsächlichen Voraussetzungen der Grundrechtsausübung vermitteln.66 Die kommunale Selbstverwaltungsgarantie ist damit nicht nur Abwehrrecht, sondern auch Leistungsrecht.
2. Der „Trick“ des VerfGH NRW: Das landesverfassungsrechtliche Rechtsstaatsprinzip Der VerfGH NRW hatte folgenden Fall zu entscheiden: Die Beschwerde führenden Kommunen rügten, dass das Gemeindefinanzierungsgesetz NRW 2006 (GFG 2006), ein einfaches Landesgesetz, gegen ein einfaches Bundesgesetz verstoße, nämlich gegen das Gemeindefinanzreformgesetz (GFRG). Der VerfGH NRW führte zunächst aus, dass das GFG 2006 die vom Recht auf kommunale Selbstverwaltung (Art. 78, 79 LV NRW) garantierte finanzielle Mindestausstattung nicht berühre; durch die Zuweisungseinbußen infolge des GFG 2006 sei einer „sinnvollen Betätigung der Selbstverwaltung die finanzielle Grundlage“ nicht entzogen.67 Dann fährt der VerfGH NRW jedoch fort: „Aus dem Anspruch der Kommunen auf angemessene Finanzausstattung ergibt sich in Verbindung mit dem auch kraft Landesverfassungsrechts geltenden Rechtsstaatsprinzips < . . . > ferner, dass die Finanzausstattungsgarantie verletzt ist, wenn der Finanzausgleichsgesetzgeber Maßgaben des Bundesrechts nicht beachtet, die für die kommunale Finanzmittelausstattung bindend sind < . . . > Um eine Kollision mit der bundesstaatlichen Kompetenzordnung (Art. 30, 70 ff. GG) zu vermeiden und mit Rücksicht auf die Bindungswirkung höherrangigen Rechts obliegt es dem Landesgesetzgeber, bundesrechtlichen Vorgaben bei seiner Gesetzgebungszuständigkeit Rechnung zu tragen. Für die Regelung des kommunalen Finanzausgleichs bedeutet dies, dass der Gestaltungsspielraum des Landesgesetzgebers nach Maßgabe des durch Art. 106 GG (einschließlich dazugehöriger Ausführungsbestimmungen) vorgegebenen Rahmens begrenzt ist. Dem entspricht es im Lichte des Schutzzwecks des kommunalen Finanzausgleichs, den Gewährleistungsbereich der Art. 78, Art. 79 Satz 2 LV auch dann als verletzt anzusehen, wenn den Kommunen Finanzmittel vorenthalten werden, die ihnen kraft Bundesrechts zustehen.“68 Sodann folgert der VerfGH NRW aus § 6 Abs. 3, 5 GFRG (also einfachem Bundesrecht), dass die westdeutschen Kommunen höchstens mit 40% an den Lasten der Deutschen Ein65 Vgl. Pieroth (Fn. 48), Art. 28 Rn. 14 m. w. N. Offen lassend bisher BVerfGE 71, 25 (36 f.); 83, 363 (386). 66 Vgl. zu letzterem etwa Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 164 ff., 366 – 381. Bei einer solchen Förderung der Grundrechtsausübung verfügt der Gesetzgeber über einen weitreichenden Gestaltungsspielraum. 67 VerfGH NRW v. 11. 12. 2007, VerfGH 10 / 06, NWVBl. 2008, 223, sub C II 1. 68 VerfGH NRW v. 11. 12. 2007, VerfGH 10 / 06, sub C II 2a. Hervorhebung nur hier.
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heit beteiligt werden dürften. Der Landesgesetzgeber müsse eine signifikant höher ausfallende Überzahlung ausgleichen.
Der VerfGH NRW bezieht sich für seine Annahme, dass die (landes-)verfassungsrechtliche Gewährleistung der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie den Kommunen einen Anspruch auf Beachtung aller Vorgaben durch einfaches Bundesrecht vermittle, auch auf eine Entscheidung des LVerfG Sachsen-Anhalt. Danach vermittle Art. 87 Abs. 1 LVerf Sachs-Anh69 „gerade das an Finanzmitteln, was bundesgesetzlich den Kommunen zugestanden ist“.70 Der VerfGH NRW nimmt an, dass das landesverfassungsrechtliche Rechtsstaatsprinzip die kommunale Selbstverwaltungsgarantie aus Art. 78 f. LV NRW mitpräge und dass dieses gebiete, dass die Kommunen gegen das Land einen Anspruch auf die Einhaltung einfachen Bundesrechts bei der Mittelverteilung hätten. a) Keine „Landesverfassungsverrechtlichung“ einfachen Bundesrechts Isoliert betrachtet gewährleistet Art. 78, 79 LV NRW den Kommunen einen Anspruch auf eine finanzielle Mindestausstattung, die den Kommunen eine angemessene Erfüllung ihrer Aufgaben ermöglicht. Diese Mindestausstattung war nicht gefährdet. Streitpunkt war, ob das Land den Kommunen Mittel vorenthielt, die ihnen nach einfachem Bundesrecht zustanden. Folgt man der Ansicht, dass als Prüfungsmaßstab nur Bestimmungen in Betracht kommen, die die kommunale Selbstverwaltungsgarantie mitprägen, so gilt: Einfaches Bundesrecht – um solches handelt es sich bei § 6 Abs. 3 und 5 GFRG – vermag die gemeindliche Selbstverwaltungsgarantie nicht mitzuprägen, und zwar weder die bundesverfassungsrechtliche noch die landesverfassungsrechtliche. Zwar kennt etwa Art. 14 Abs. 1 GG den Mechanismus, dass etwas, das der einfache Gesetzgeber zu einem bestimmten Zeitpunkt als Eigentum definiert hat, als Eigentum geschützt ist; in diesem Sinne definiert der Gesetzgeber etwas als Eigentum, was aufgrund dieser Definition verfassungsrechtlich geschützt ist. Wird das einmal als Eigentum Definierte beeinträchtigt, so handelt es sich um eine Einschränkung des verfassungsrechtlich geschützten Eigentums. Um eine solche Konstellation geht es vorliegend aber nicht, sondern um die unmittelbare Heranziehung einfachen Rechts als Prüfungsmaßstab. Zu klären ist, wie weit das Rügepotential der Kommunen bei der kommunalen Verfassungsbeschwerde reicht. Stets können nur andere Verfassungsbestimmungen die gemeindliche Selbstverwaltungsgarantie als ein verfassungsrechtlich verbürgtes Recht mitprägen. Sonst könnte der einfache Gesetzgeber außerhalb der für eine Verfassungsänderung notwendigen Anforderungen (qualifizierte Mehrheiten nach Art. 79 GG bzw. vergleichbarer Bestimmungen der Landesverfassungen) über eine Erweiterung verfassungsrechtlicher Garantien entscheiden. Verzichtet man – wie 69 Dieser lautet: „Die Kommunen (Gemeinden und Landkreise) und die Gemeindeverbände verwalten ihre Angelegenheiten im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung.“ 70 LVerfG Sachs-Anh v. 13. 6. 2006, LVG 7 / 05, Rn. 103 (juris).
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oben bei II. vorgeschlagen – auf das Erfordernis der Mitprägung, so gilt ohnehin: Prüfungsmaßstab kann vor dem LVerfG nur Landesverfassungsrecht sein. Der VerfGH NRW bezieht sich auch gar nicht auf eine etwaige Mitprägung der gemeindlichen Selbstverwaltungsgarantie durch das einfache Bundesrecht, sondern durch das – auch landesverfassungsrechtlich geltende – Rechtsstaatsprinzip, das eine Beachtung einfachen Bundesrechts durch den Landesgesetzgeber gebiete. Nun statuiert Art. 20 Abs. 3 GG die Bindung von Exekutive und Judikative an Gesetz und Recht. In diesem Sinne könnte man in jeder Missachtung des Vorrangs des Gesetzes begrifflich gleichzeitig einen Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG sehen. Wenn ein Amtsgericht das BGB falsch auslegt oder das Finanzamt die Einkommensteuer-Durchführungsverordnung (eine Rechtsverordnung) falsch anwendet, stets wäre der Vorrang des Gesetzes (Bindung der Behörden und Gerichte an das Gesetz) und damit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt und zudem wohl auch noch der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), da ja andere Fälle im Einklang mit dem geltenden Recht gelöst werden.71 Bei einer solchen Sichtweise würde jeder Verstoß gegen einfaches Recht zu einem Verstoß gegen Verfassungsrecht (Art. 20 Abs. 3 GG!), und das Bundesverfassungsgericht würde – da ja jede belastende Maßnahme, die gegen einfaches Recht verstößt, gleichzeitig wegen Verletzung des Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG einen Verfassungsverstoß darstellen würde – unvermeidlich tatsächlich zu einer Superrevisionsinstanz, die es mit Recht nicht sein will und die nicht seiner Rolle entspräche. Indes trennt das Grundgesetz selbst zwischen der Verletzung einfachen Rechts einerseits und Verletzung von Verfassungsrecht (insbesondere Grundrechten) durch Verwaltung und Rechtsprechung andererseits. Das BVerfG hat daraus die notwendigen Konsequenzen gezogen: Mit der Verfassungsbeschwerde rügbar ist nur die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts; das BVerfG ist keine Superrevisionsinstanz, die auch die Verletzung einfachen Rechts durch die Fachgerichte überprüft.72 Nicht jeder Rechtsverstoß kann also in einen Verfassungsverstoß umdefiniert werden.73 Ebenso lässt sich begrifflich jede Verletzung einfachen Bundesrechts durch Landesrecht als Verfassungsverstoß definieren, da ja das Landesrecht wegen Art. 31 GG bzw. Art. 70 ff. GG mit dem höherrangigen wirksamen Bundesrecht vereinbar sein muss. Landesrecht, das gegen einfaches Bundesrecht verstößt, ließe sich damit rechtstechnisch auch als grundgesetzwidrig definieren, da es ja die vom Grundgesetz vorgesehene Kompetenzordnung bzw. Normenhierarchie missachtet. Auch hier ist jedoch wieder darauf hinzuweisen, dass das Grundgesetz selbst – sehr deutlich vor allem in seinem Art. 100 Abs. 1 – differenziert zwischen der Vereinbarkeit von Landesrecht74 mit dem Grundgesetz einerseits und der Vereinbarkeit von Vgl. Bethge (Fn. 13), S. 628 f. BVerfGE 18, 85 (92 f.). Dazu etwa auch Di Fabio (Fn. 17), Art. 2 Abs. 1 Rn. 67 m. w. N. 73 Bethge (Fn. 13), S. 627, 628 f. 74 Gemeint sind hier nach Sinn und Zweck der Norm nur formelle nachkonstitutionelle Landesgesetze; siehe Wernsmann (Fn. 13), § 16 Rn. 24. 71 72
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Landesrecht mit dem übrigen (einfachen) Bundesrecht andererseits (siehe Art. 100 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 und 2 GG). Diese Differenzierung wäre sinnlos, wenn man gegen einfaches Bundesrecht verstoßendes Landesrecht (Art. 100 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 GG) wegen Missachtung der vom Grundgesetz vorgesehenen Normenhierarchie gleichzeitig als grundgesetzwidriges Landesrecht (vgl. Art. 100 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 GG) ansehen würde. An die Unterscheidung knüpft das BVerfG im Übrigen auch materielle Unterschiede. Wegen der größeren Unbestimmtheit der Verfassung sieht es insoweit in weiterem Umfang Vorlagepflichten als bei der Frage der Vereinbarkeit von Landesrecht mit einfachem Bundesrecht.75 Hinzu kommt schließlich noch ein Weiteres: Fordert denn das Landesverfassungsrecht, dass das Landesgesetz mit Bundesrecht vereinbar ist? Die KompetenzKompetenz steht im Bundesstaat des Grundgesetzes dem Bund zu, er entscheidet durch seine Verfassung, das Grundgesetz, ob und inwieweit das Bundesrecht Vorrang vor dem Landesrecht hat. Für eine ergänzende Regelung durch die Landesverfassung bleibt insoweit kein Raum. Auch daran wird deutlich, dass der Vorrang einfachen (gültigen) Bundesrechts vor Landesrecht im Bundesverfassungsrecht (Art. 31 und 70 ff. GG) wurzelt, keinesfalls im Landesverfassungsrecht.76 Der landesrechtliche Verfassungsgeber verfügt nicht über die Kompetenz-Kompetenz. Mit anderen Worten: Einfaches Bundesrecht ist nicht kraft des landesverfassungsrechtlichen Rechtsstaatsprinzips anwendbar, sondern wegen Art. 31, 70 ff. GG.77 b) Vorlage des LVerfG an das BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 GG? Ist Art. 100 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 GG klar zu entnehmen, dass kein Gericht – das gilt auch für Landesverfassungsgerichte 78 – eine Norm des Landesrechts wegen angeblichen Verstoßes gegen Bundesrecht aus eigener Machtvollkommenheit außer Anwendung lassen oder ihm die Rechtswirksamkeit oder uneingeschränkte Geltungskraft absprechen darf, so stellt sich die Frage, ob der VerfGH NRW die streitgegenständliche Norm des Landesgesetzes (GFG 2006) nach Art. 100 Abs. 1 GG dem BVerfG hätte vorlegen müssen, wenn er meint, dass die Norm ohne Nachbesserungspflicht nicht den Anforderungen des § 6 Abs. 3 und 5 GFRG (also einfachem Bundesrecht) genügen würde. Art. 100 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 GG ist zu entnehmen, dass kein anderes Gericht als das Bundesverfassungsgericht die Autorität des unmittelbar demokratisch legitimierten parlamentarischen (Landes-)Gesetzgebers in Frage stellen darf und ein Landesgesetz wegen Unvereinbarkeit mit früher ergangenem79 Bundesrecht außer 75 76 77 78 79
Vgl. BVerfGE 10, 124 (127 f.). Näher Wernsmann (Fn. 13), § 16 Rn. 2, 31. So auch BVerfGE 103, 332 (349 f.). BVerfGE 103, 332 (358). Bekräftigend BVerfGE 69, 112 (117 f.). Wernsmann (Fn. 13), § 16 Rn. 31 m. w. N. A.A. Schlaich / Korioth (Fn. 2), Rn. 141.
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Anwendung lassen darf. Dies gilt gleichermaßen für Gesetze, die auf der Vorfragenebene relevant sind, wie auch für solche, die den Gegenstand des Normenkontrollverfahrens oder der Rechtssatzverfassungsbeschwerde bilden.80 Eine Vorlage an das BVerfG ist indes nur zulässig, wenn die Frage der Vereinbarkeit des GFG 2006 (Landesgesetz) mit § 6 Abs. 3 und 5 GFRG (Bundesgesetz) entscheidungserheblich ist, wenn es also auf die isolierte Frage der Vereinbarkeit des Landesgesetzes mit dem Bundesgesetz ankommt (Art. 100 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 i. V. m. S. 1 GG). Für die Frage, ob die landesverfassungsrechtliche kommunale Selbstverwaltungsgarantie aus Art. 78, 79 LV NRW verletzt ist, kommt es jedoch nicht darauf an, ob das Gesetz, das den Kommunen finanzielle Mittel zuweist und diese Mittel auf die Kommunen verteilt, mit Bundesrecht vereinbar ist, solange insgesamt die von der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie aus Art. 78 und 79 LV NRW geforderte angemessene Mindestausstattung gewährleistet ist. Denn die etwaige einfachrechtliche Garantie des § 6 Abs. 3 und 5 GFRG ist nicht Bestandteil der landesverfassungsrechtlichen kommunalen Selbstverwaltungsgarantie.81 Die kommunale Verfassungsbeschwerde zum Landesverfassungsgericht ist nicht der richtige Rechtsbehelf, um etwaige Verstöße des Landesgesetzgebers gegen einfaches Bundesrecht zu rügen. IV. Fazit Prüfungsmaßstab im Verfahren der kommunalen Verfassungsbeschwerde sind alle Verfassungsbestimmungen, aufgrund derer das Gesetz nichtig sein könnte, das die kommunale Selbstverwaltungsgarantie der Beschwerde führenden Gemeinde beeinträchtigt. Es kommt richtiger Ansicht nach nicht darauf an, ob die jeweilige Verfassungsnorm das verfassungsrechtliche Bild der kommunalen Selbstverwaltung mitzubestimmen geeignet ist. Denn nur ein verfassungsmäßiges Gesetz kann die kommunale Selbstverwaltungsgarantie einschränken. Einen Eingriff in ihr Selbstverwaltungsrecht, der auf einem verfassungswidrigen Gesetz beruht, kann die Gemeinde abwehren. Die sog. Elfes-Konstruktion ist also auch auf kommunale Verfassungsbeschwerden anzuwenden. Höherrangiges einfaches (Bundes-)Recht scheidet hingegen als Prüfungsmaßstab im Verfahren der kommunalen Verfassungsbeschwerde vor Landesverfassungsgerichten weiterhin aus. Auch über das landesverfassungsrechtliche Rechtsstaatsprinzip kann nicht konstruiert werden, dass bundesrechtswidrige Landesgesetze wegen „Rechtsstaatswidrigkeit“ landesverfassungswidrig sind.
80 81
Explizit BVerfGE 69, 112 (118). Vgl. zu einer ähnlichen Konstellation auch BVerfGE 103, 332 (349).
VI. Der europäisierte Staat
Datenschutz in Europa Von Walter Rudolf I. Datenschutz ist Teil des Schutzes der Privatsphäre. Das Bundesverfassungsgericht hat im Volkszählungsurteil1 das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts entwickelt, das von Rechtsprechung und Schrifttum einhellig auf Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG gestützt wird,2 und somit Verfassungsrang besitzt. Zehn deutsche Länder haben Datenschutz ausdrücklich als Grundrecht jeweils in die Landesverfassung aufgenommen, Nordrhein-Westfalen bereits 1978.3 Datenschutz auch in das Grundgesetz einzustellen, ist bisher gescheitert. Ein Recht auf Privatheit haben bereits Brandeis und Warren zu Ende des 19. Jahrhunderts als „key-right“ bezeichnet.4 Als Menschenrecht ist der Schutz der Privatsphäre in Europa bereits 1950 in Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention garantiert5 und durch den Beitritt der Bundesrepublik zur EMRK etwa gleichzeitig mit der Entwicklung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts einfachgesetzliches geltendes Recht geworden. Schon vorher hatte die Generalversammlung der Vereinten Nationen 1948 in Art. 12 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung den Schutz der Privatheit gefordert, der 1966 als Art. 17 Eingang in den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte gefunden hat. Datenschutz hat freilich eine lange Geschichte. Sein erstes Anwendungsgebiet war die Medizin: Schon um 800 v. Christus berichtet das älteste medizinische Sanskritwerk von einem Schweigegebot der Ärzte.6 Der im 5. vorchristlichen Jahrhundert in der Ärzteschule der Insel Kos formulierte Eid des Hippokrates7 hat bis BVerfGE 65, 1 (41). BGHZ 13, 334 (357 f.); BVerfGE 54, 148 (155); Dürig, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1 Rn. 37; Jarass, NJW 1989, 857 ff. 3 Es folgten Saarland 1985, Berlin 1990, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg 1992, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen 1993, Bremen 1997 und Rheinland-Pfalz 2000. 4 Brandeis / Warren, The Right to Privacy, 4 Harv.L.R. 1890, S. 193 ff. 5 Vgl. Frowein, in: Frowein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 1996, Art. 8 Rn. 3 ff.; Villinger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskommission, 1993, Rn. 555 ff. 6 Ebermayer, Der Arzt im Recht, 1930, S. 43 f. 7 Deichgräber, Der hippokratische Eid, 4. Aufl. 1983, S. 15. 1 2
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heute Gültigkeit: Der Arzt gelobt Stillschweigen über alles, was er bei der Behandlung Kranker erfährt. Die Schweigepflicht diente und dient sowohl dem Schutz der Patienten, die durch das Bekanntwerden von Erkrankungen in ihrer sozialen Stellung nicht beeinträchtigt werden sollen, als auch dem allgemeinen Vertrauen in die Verschwiegenheit der Ärzte. Dem Arztgeheimnis folgten weitere Berufsgeheimnisse, wie Beicht-, Bank-, Anwalts- oder Steuerberatergeheimnis, sowie Geheimhaltungspflichten im Verwaltungsbereich, zu denen das Steuer-, Statistik-, Sozial- und das allgemeine Amtsgeheimnis gehören. Eines allgemeinen Geheimhaltungsgebotes bedurfte es nicht, da fast alles Geschehen schließlich durch Zeitablauf und Vergesslichkeit in der Vergangenheit versank oder es größeren Aufwandes bedurfte, um es wieder präsent zu machen. Auch blieben Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse bestimmter Personen in der Regel auf einen engen Kreis von Interessierten beschränkt. Den ausdrücklich normierten Geheimhaltungspflichten korrespondierte das tatsächliche Vergessen. Seit infolge der technischen Entwicklung der automatischen Datenverarbeitung, vor allem durch die nahezu unbegrenzte Speicherung von Daten und die mögliche Vernetzung aller mit allen, Vergessen global unmöglich ist, ist ein umfassender Datenschutz sowohl im Interesse der einzelnen Personen als auch der Allgemeinheit notwendig. Zunächst ging es darum, den einzelnen vor dem Staat zu schützen, der für seine Planungen auch im Interesse der Bürger alle verfügbaren Daten sammeln und durch die mögliche Vernetzung in Bruchteilen von Sekunden abrufen und auswerten kann. Das erste zum Schutz vor staatlicher Datenerhebung und -verarbeitung ergangene Gesetz hat Hessen 1970 erlassen, gefolgt von Schweden 1973 und Rheinland-Pfalz 1974. Bald wurde auch der private Datenschutz geregelt, in der Bundesrepublik durch das Bundesdatenschutzgesetz von 1977. Neben den Datenschutzgesetzen existieren inzwischen zum Teil voluminöse bereichsspezifische datenschutzrechtliche Normen, so dass die Materie insgesamt unübersichtlich geworden ist. Bei diesen Gesetzen ging es auch um Datensicherheit, d. h. Netze und Dateien vor unbefugten Eingriffen und vor Manipulationen zu sichern. Mit dem Volkszählungsurteil ist der Datenschutz als Recht auf informationelle Selbstbestimmung vor allem als Abwehrrecht der Bürger gegenüber dem Staat verfassungsfest gemacht worden. 2008 hat das Bundesverfassungsgericht darüber hinaus entschieden, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme umfasst.8
II. Da der Datenfluss an den Staatsgrenzen nicht ausgeschaltet werden kann, ist die elektronische Vernetzung global mit der Folge, dass das Erheben und Verarbeiten personenbezogener Daten weltweit möglich, aber rechtlich begrenzt ist. Der grenz8
822.
Urteil des Ersten Senats vom 27. 2. 2008 – 1 BvR 370 / 07 / 1 BvR 545 / 07, NJW 2008,
Datenschutz in Europa
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überschreitende Datenverkehr ist meist restriktiver geregelt als der inländische. Auch die deutschen Datenschutzgesetze enthalten besondere Bestimmungen für die Übermittlung personenbezogener Daten ins europäische Ausland sowie an über- und zwischenstaatliche Stellen.9 Der Intervention der Staaten sind freilich technisch bedingte Schranken gesetzt.10 Angesichts der Existenz miteinander verbundener weltweiter Kommunikationsnetze haben nicht nur die europäischen Staaten den Datenschutz national geregelt, sondern auch bereichsspezifische internationale Regelungen vereinbart.11 Auch internationale Organisationen haben sich des Datenschutzes angenommen.12 Die Vereinten Nationen, die sich erstmals 1968 dem Thema zuwandten, haben in einer Resolution der Generalversammlung 1990 Richtlinien über persönliche Daten in automatisierten Dateien beschlossen.13 Ihr Anwendungsbereich erstreckt sich darüber hinaus auf alle Dateien von öffentlichen und privaten Stellen. Da die Resolution nur Empfehlungen an die Mitgliedstaaten richten kann,14 hat sie nur begrenzte Resonanz gefunden. Auch die Richtlinien der OECD für den Schutz der Privatheit und den grenzüberschreitenden Verkehr persönlicher Daten von 1980,15 die teilweise Vorbild für die UN-Richtlinie waren, haben nur empfehlenden Charakter.16 Im Gegensatz zu diesen Richtlinien hat die Datenschutzkonvention des Europarats von 198117 verbindliches Völkerrecht geschaffen. Ihr gehören alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union an, aber nicht alle des Europarats, und sie steht Drittstaaten sowie seit 1999 auch der Europäischen Union zum Beitritt offen. Ziel der Konvention ist die Harmonisierung des Datenschutzes und der Informationsfreiheit in den Mitgliedstaaten, indem Mindestanforderungen normiert werden, die allerdings dem deutschen Standard nicht genügen. Auch enthält sie Ausnahmen vom Anwendungsbereich. Von der Möglichkeit, den Datenschutz auch auf juristi§§ 4b und 4c BDSG, § 17 LlDSG RhPf. Engel, Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 39 (2000), 353. 11 Wochner, Der Persönlichkeitsschutz im grenzüberschreitenden Datenverkehr, 1981; Ellger, Der Datenschutz im internationalen Datenverkehr. Eine rechtsvergleichende und kollisionsrechtliche Untersuchung, 1990; Bothe / Kilian, Rechtsfragen grenzüberschreitender Datenflüsse, 1992; Hahn, Datenschutzrecht und grenzüberschreitender Datenverkehr. Regelungsbedarf, Rechtsvergleich und Rechtsfortbildung, 1994; di Martino, Datenschutz im europäischen Recht, 2005. 12 Vgl. Unger, Datenschutz in Internationalen Organisationen, 1991. 13 Guidelines on the Use of Computerized Data Flow vom 14. 12. 1990, UN-Doc, E / CN.4 / Sub.2 / 1988 / 22. 14 Art. 10 UN-Satzung. 15 OECD-Doc C (80) 58 (Final); Banz. Nr. 215 / 81. 16 OECD-Übereinkommen vom 14. 12. 1960 (BGBl. 1961 II, S. 1150), Art. 5 lit. b. 17 Übereinkommen Nr. 108 zum Schutz des Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten vom 28. 1. 1981. Deutscher Text: BGBl. 1985 II, S. 538. Vgl. Henke, Die Datenschutzkonvention des Europarats, 1986. 9
10
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sche Personen auszudehnen,18 haben nur wenige Staaten Gebrauch gemacht.19 Die Umsetzung der Konvention in nationales Recht ging zum Teil nur schleppend und unvollkommen voran. Durch Zusatzprotokoll von 2001 wurden weitere Bestimmungen über Kontrollstellen und grenzüberschreitenden Datenverkehr in die Konvention eingestellt20 und dadurch der Datenschutzstandard insgesamt gehoben. Mit den Vorschriften der Art. 5 ff. sind allgemeine Prinzipien zum Datenschutzrecht für die Mitgliedstaaten aufgestellt worden, die jedenfalls teilweise die nationalen Datenschutzgesetzgebungen angeregt haben, wie das Prinzip der Datenqualität, wonach Daten nach dem Grundsatz von Treu und Glauben rechtmäßig beschafft und zweckentsprechend gespeichert und verarbeitet werden müssen, oder das Prinzip der Datensicherung. Unabhängig von der Datenschutzkonvention blieb der Datenschutz auf der Tagesordnung des Europarates. Das Ministerkomitee hat seit 1983 eine Reihe von Empfehlungen zum Datenschutz beschlossen, z. B. für automatisierte medizinische Datenbanken, zu Sozialdaten, zur polizeilichen Datenverarbeitung, zum Arbeitsrecht, zum Telekommunikationsdatenschutz oder zum Zugang zu Archiven. Obwohl diese Empfehlungen nicht bindend sind, hat man teilweise mit den Trick gearbeitet, dass Vorbehalte gegen die rechtlich unverbindlichen Empfehlungen zulässig waren, wie es nur bei völkerrechtlichen Verträgen möglich ist. Wurden keine Vorbehalte gemacht, ging man davon aus, dass die Empfehlung in den Mitgliedstaaten befolgt wird.21 Diese Empfehlungen haben dann auch in den Mitgliedstaaten des Europarats die Gesetzgebung zum Datenschutz beeinflusst. Eine funktionierende Harmonisierung des Datenschutzes in allen Mitgliedstaaten konnte allerdings bisher nicht erreicht werden. Immerhin haben von den Mitgliedstaaten der Europäischen Union Griechenland, die Niederlande, Polen, Portugal, Schweden, die Slowakei und 10 deutsche Länder den Schutz personenbezogener Daten verfassungsrechtlich ausdrücklich garantiert. In Österreich hat Art. 8 EMRK Verfassungsrang, und die Verfassungen Belgiens, Finnlands und Spaniens garantieren ebenfalls den Schutz des Privatlebens. Auf Art. 8 EMRK ist auch der Datenschutz in Großbritannien, Irland und Tschechien gestützt. In Deutschland, Frankreich, Italien und Dänemark wird der Datenschutz als Ausprägung anderer Grundrechte gewährleistet.22 Ein allgemeiner Grundsatz des Völkerrechts oder gar Gewohnheitsvölkerrecht ist die Datenschutzgarantie aber nicht, auch nicht regional im Geltungsbereich der EMRK.
Art. 3 Abs. 2 lit. b. Darunter Österreich 1988, die Schweiz 1997 und Liechtenstein 2004. Vgl. Ennulat, Datenschutzrechtliche Verpflichtungen der Gemeinschaftsorgane und -einrichtungen, 2008, S. 76 Fn. 285. 20 Zusatzprotokoll vom 8. 11. 2001; deutscher Text: BGBl. 2002 II, S. 1882. 21 Rudolf, ZEuS 2003, 223. 22 Ennulat (Fn. 19), S. 95 ff. 18 19
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III. Die europäischen Gemeinschaften haben zwar die Datenverarbeitung konsequent gefördert, sind aber beim Datenschutz zunächst recht zurückhaltend gewesen. Alle Initiativen gingen seit Mitte der 70er Jahre vom Europäischen Parlament aus, das die wichtigsten Verarbeitungsgrundsätze formulierte.23 Die Kommission hielt eigene EG-Regelungen für überflüssig, begnügte sich zunächst mit unverbindlichen Empfehlungen und favorisierte den Beitritt zur Datenschutzkonvention des Europarats. Die Vollendung des gemeinsamen Marktes und damit auch eines gemeinsamen Informationenmarktes mit schrankenlosem grenzüberschreitenden Datenfluss erforderte aber harmonisierende Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene, zumal Belgien und die vier südlichen Mitgliedstaaten bis dahin noch überhaupt keine Gesetze zum Datenschutz erlassen hatten. Anfang der 90er Jahre wurde die Kommission aktiv, indem sie Vorschläge für eine Richtlinie zum Schutz von Personen bei der Verarbeitung von Daten und eine weitere Richtlinie zum Datenschutz im Telekommunikationsbereich ausarbeitete. In revidierter Fassung gab sie die am deutschen Datenschutzrecht orientierte Trennung von öffentlichem und nicht-öffentlichem Datenschutz zugunsten einheitlicher Anforderungen an öffentliche und nicht-öffentliche Stellen auf. Auch sollte der Schutzbereich nach österreichischem und Schweizer Vorbild auf juristische Personen ausgedehnt werden. Der Rat versuchte neben eigenen Vorschlägen zur Verbesserung des Datenschutzes den Anwendungsbereich der Richtlinienvorschläge zu verengen, um vor allem den Sicherheitsbereich aus der Datenschutzkontrolle herauszuhalten. Das ist teilweise gelungen, indem Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie deren Anwendung auf die Datenverarbeitung in den Bereichen öffentliche Sicherheit, Landesverteidigung, Staatssicherheit und Strafrecht ausschließt. Außerdem wurden von den Staaten der EG zunächst bereichsspezifische Datenschutzregelungen getroffen, wie z. B. das Schengener Durchführungsübereinkommen. Auch waren die Ratsmitglieder bestrebt, nationale Regelungen möglichst unverändert in die Datenschutzrichtlinie zu inkorporieren. Nach langwierigen Verhandlungen wurde die Richtlinie 95 / 46 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutze natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr24 am 24. Oktober 1995 mit der Unterzeichnung durch die Präsidenten des Rates und des Parlaments angenommen. Die Datenschutzrichtlinie hat die datenschutzrechtliche Terminologie in den Staaten der EU vereinheitlicht.25 Ihr sachlicher Anwendungsbereich umfasst alle 23 Zum Folgenden vgl. Simitis, Bundesdatenschutzgesetz, 6. Aufl. 2006, Einleitung Rn. 89 ff. 24 ABl. EG Nr. L 281 / 31 vom 23. 11. 1995, EU. DS, EU Rat / Parl. Vgl. Damman / Simitis, EG-Datenschutz-Richtlinie, Kommentar, 1997. 25 Art. 2 der Richtlinie.
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Verarbeitung personenbezogener Daten, nicht nur die elektronische.26 Sie stellt Grundsätze in Bezug auf die Qualität der Daten27 und auf die Zulässigkeit28 auf, regelt die Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten29 und bestimmt, dass die Mitgliedstaaten für die Verarbeitung personenbezogener Daten, die allein zu journalistischen, künstlerischen oder literarischen Zwecken erfolgt, Abweichungen und Ausnahmen insofern vorsehen können, als sich dies als notwendig erweist, um das Recht auf Privatsphäre mit den für die Freiheit der Meinungsäußerung geltenden Vorschriften in Einklang zu bringen.30 Sie enthält Bestimmungen über die Datenerhebung bei der betroffenen Person und Dritten,31 über Auskunfts- und Widerspruchsrechte der Betroffenen und zur Vertraulichkeit und Sicherheit der Verarbeitung.32 Weitere Regelungen betreffen Meldepflichten gegenüber den nationalen Kontrollstellen, Haftung und Sanktionen, die Übermittlung personenbezogener Daten in Drittländer und Verhaltensregeln.33 Die Datenschutzrichtlinie trug der fortgeschrittenen informationstechnischen Entwicklung Rechnung. Sie bezweckte insbesondere den Schutz der Privatsphäre natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und damit die Harmonisierung datenschutzrechtlicher Regelungen der Mitgliedstaaten im Interesse eines funktionierenden Binnenmarktes der EU. Die im Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts festgeschriebenen Grundsätze des Datenschutzes wurden übernommen, insbesondere die strenge und klare Zweckbindung personenbezogener Daten, Auskunfts- und Löschungsrechte und die Kontrolle durch eine unabhängige Instanz. Die Datenschutzrichtlinie hätte bis zum 25. Oktober 1998 in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Deutschland gehörte zu den Staaten, die diesen Termin erheblich überschritten hatten, so dass sogar ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik in Gang gesetzt wurde. Erst durch die Gesetzesnovelle vom 18. Mai 200134 hat der Bund das BDSG gemäß den Vorgaben der Europäischen Datenschutzrichtlinie geändert. Einige deutsche Länder hatten bereits vorher ihre Datenschutzgesetze novelliert, andere sogar erst nach der Novelle des Bundes, um möglichst eine einheitliche Terminologie und übereinstimmende Regelungen mit dem Bund zu treffen. Das Landesdatenschutzgesetz von Rheinland-Pfalz wurde deshalb erst durch Gesetz vom 8. Mai 200235 angepasst. 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35
Art. 3 f. Art. 6. Art. 7. Art. 8. Art. 9. Art. 10 f. Art. 12, 14, 16 und 17. Art. 18 – 27. BGBl. 2000 I, S. 204. GVBl. S. 177.
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IV. Zu einem Streitpunkt zwischen der Kommission und der Bundesregierung entwickelte sich die in Art. 28 der Datenschutzrichtlinie geregelte Datenschutzkontrolle. Die Mitgliedstaaten haben eine oder – eine Konzession an die Bundesstaaten – mehrere öffentliche Stellen zur Überwachung der Anwendung und Umsetzung der Vorschriften aufgrund der Richtlinie einzurichten. 36 Diese Stellen „nehmen die ihnen zugewiesenen Aufgaben in völliger Unabhängigkeit wahr“. Jede Kontrollstelle soll über Untersuchungs- und wirksame Einwirkungsbefugnisse und ein Klagerecht oder eine Anzeigebefugnis bei Datenschutzverstößen verfügen. Einen Unterschied zwischen öffentlichem und nicht-öffentlichem Datenschutz, wie er in Deutschland besteht, kennt die Datenschutzrichtlinie nicht. Bezüglich des Datenschutzes im öffentlichen Bereich bestanden in Deutschland von Anfang an Bedenken hinsichtlich der Regelungsbefugnis der Europäischen Gemeinschaft zur Datenschutzkontrolle. Den für den öffentlichen Datenschutz zuständigen Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder, die von den Parlamenten gewählt werden und entweder beim Parlament, der Regierung oder einem Ministerium eingerichtet sind, fehlt nach deutschem Verfassungsrecht die Befugnis, die Sperrung, Löschung oder Vernichtung von Daten anzuordnen; denn Weisungsrechte gegenüber Hoheitsträgern haben nur die Aufsichtsbehörden. Die Datenschutzbeauftragten können ebenso wie die Rechnungshöfe Kritik an anderen Behörden üben, Vorschläge unterbreiten, die Öffentlichkeit informieren, keinesfalls aber rechtsverbindliche Anordnungen treffen. Sie haben auch keine Rechts- und Fachaufsicht über andere Behörden. Sie stehen im öffentlichen Datenschutz wie die Rechnungshöfe außerhalb des Systems der Gewaltenteilung, da sie keine Gewalt ausüben. Im Bereich des nicht-öffentlichen Datenschutzes sind in der Mehrzahl der Länder ebenfalls die Landesdatenschutzbeauftragten zuständig,37 in den übrigen Ländern entweder ein Ministerium,38 oder eine nachgeordnete Mittelbehörde.39 Alle Behörden für die nicht-öffentliche Datenschutzkontrolle haben im Rahmen ihrer Kontrollkompetenzen bei Datenschutzverstößen auch Exekutivbefugnisse gegenüber den von ihnen kontrollierten Bürgern und Unternehmen. Sie sind also Teil der vollziehenden Gewalt. Die in die allgemeine Behördenhierarchie integrierten Aufsichtsbehörden unterliegen der Dienst-, Rechts- und Fachaufsicht. Sämtliche Datenschutzbeauftragten unterstehen der Dienstaufsicht. Die Landesdatenschutzbeauftragten von Bremen, Hamburg und Rheinland-Pfalz40 sind keiner weiteren Aufsicht unterworfen. In Art. 28 der Richtlinie. Berlin, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Schleswig-Holstein. 38 Baden-Württemberg, Brandenburg, Saarland. 39 Bayern, Hessen, Sachsen-Anhalt, Thüringen. 36 37
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Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Schleswig-Holstein unterstehen die Datenschutzbeauftragten auch der Rechtsaufsicht und in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen auch der Fachaufsicht. Nach Auffassung der EU-Kommission widersprechen die Eingliederung der Datenschutzaufsichtsbehörden in die allgemeine Verwaltung sowie die Regelungen über Dienst-, Rechts- und Fachaufsicht Art. 28 der Datenschutzrichtlinie, da die völlige Unabhängigkeit der deutschen Kontrollstellen insoweit nicht gegeben sei. Sie hat deshalb gemäß Art. 226 EG-Vertrag eine Klage beim EuGH erhoben,41 die sich nur auf die Kontrollstellen der Länder für den nicht-öffentlichen Bereich bezieht, damit nicht auf den Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, welcher der Rechtsaufsicht der Bundesregierung unterliegt.42 Die Bundesregierung hat Klagabweisung beantragt. Prozessentscheidend ist, was unter Aufgabenwahrnehmung „in völliger Unabhängigkeit“ nach Art. 28 Abs. 1 S. 2 der Datenschutzrichtlinie zu verstehen ist. Verlangt diese Bestimmung eine Unabhängigkeit, wie sie nicht einmal die der Dienstaufsicht unterworfenen Richter in Deutschland genießen, wie die Kommission meint, oder fordert die Richtlinie nur funktionelle Unabhängigkeit, d. h. Unabhängigkeit der Aufsichtsbehörden von den Kontrollierten? Die historische Auslegung stützt die Auffassung der Bundesregierung. Für die funktionelle Unabhängigkeit spricht auch Satz 3 des 49. Erwägungsgrundes der Richtlinie, wonach auch der betriebliche Datenschutzbeauftragte in „vollständiger Unabhängigkeit“ agiert. Auch richtet sich die Klage nicht gegen das hierarchische Prinzip innerhalb der Kontrollstellen, bei denen der Behördenchef entscheidet. Der Hinweis der Bundesregierung, dass das Demokratieprinzip des deutschen Verfassungsrechts mit dem Grundsatz der parlamentarischen Verantwortung der Regierung und der Weisungsgebundenheit der Verwaltung zumindest die Rechtsaufsicht eines dem Parlament verantwortlichen Regierungsmitglieds fordere, wird der EuGH allerdings kaum respektieren, da nach dessen Rechtsprechung die Mitgliedstaaten sich nicht auf Hindernisse ihres eigenen Verfassungsrechts berufen können, um sich einer Erfüllung gemeinschaftsrechtlicher Verpflichtungen zu entziehen.43 Nach Ansicht der Kommission ist wegen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts notfalls eine Verfassungsänderung erforderlich. Für eine rechtliche Beurteilung unbeachtlich bleibt wohl auch, dass die deutsche Datenschutzaufsicht keinesfalls gegenüber der ande40 Der beim Präsidenten des Landtags eingerichtete Landesbeauftragte für den Datenschutz Rheinland-Pfalz, der das Amt bis zum 14. 3. 2007 nebenamtlich ausübte, war keiner Dienstund Rechtsaufsicht unterstellt, § 23 Abs. 3 LDSG a. F. Diese Bestimmung wurde durch Gesetz vom 23. 2. 2007 (GVGl. S. 41) aufgehoben. Gemäß § 23 Abs. 1 S. 2 LDSG n. F. untersteht der Landesbeauftragte jetzt der Dienstaufsicht des Landtagspräsidenten. Art. 2 des Änderungsgesetzes bestimmte, dass der bei Inkrafttreten dieses Gesetzes gewählte Datenschutzbeauftragte von den Änderungen dieses Gesetzes unberührt blieb. 41 Rechtssache C-518 / 07. 42 § 22 Abs. 4 S. 3 BDSG. 43 Urteil vom 15. 7. 1964, Rs. 6 / 64, Costa / E.N.E.L., Slg. 1964, deutsche Ausg. S. 1253 (1270).
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rer europäischer Staaten zurückfällt. Es geht den zuständigen Beamten in der Kommission bei diesem Verfahren letztlich um die Verbesserung des Status der deutschen Aufsichtsbehörden. Zur Beseitigung der Hemmnisse für den Verkehr personenbezogener Daten ein gleichwertiges Schutzniveau bei der Datenverarbeitung in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu schaffen, ist der Datenschutzrichtlinie zwar weitgehend gelungen, doch ließ ihre Umsetzung in nationales Recht auch Unzulänglichkeiten erkennen.44 Die in Art. 4 der Richtlinie getroffenen Regelungen über das anzuwendende einzelstaatliche Recht sehen vor, dass für Datenverarbeitung grundsätzlich das Recht des Ortes gilt, in dem die hierfür verantwortliche Stelle ihren Sitz hat, so dass insoweit für die Datenverarbeitung auch im Ausland das heimische Datenschutzrecht anzuwenden ist.45 Damit wird vermieden, dass derselbe Vorgang mehreren mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften unterworfen wird. Das Territorialprinzip gilt jedoch, wenn die aus einem EU-Mitgliedstaat tätige Stelle im Ausland eine Niederlassung hat, von der aus Daten erhoben, verarbeitet oder genutzt werden. Hat der Verantwortliche eine Niederlassung in mehreren Mitgliedstaaten, muss er die notwendigen Maßnahmen ergreifen, damit jede dieser Niederlassungen die im jeweils anzuwendenden Recht festgelegten Verpflichtungen einhält.46 Die Regelungen über Niederlassungen ist in den Mitgliedstaaten recht unterschiedlich umgesetzt worden.47 Schon der Niederlassungsbegriff ist umstritten, obwohl ihn die Richtlinie im 19. Erwägungsgrund als effektive und tatsächliche Ausübung einer Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung umschreibt. Ob Server oder andere ferngesteuerte Systeme Niederlassungen sind, ist umstritten.48 Datenverarbeitungsaktivitäten, die von einer Niederlassung in einem Drittstaat ausgehen, sollen in allen EU-Mitgliedstaaten dem Datenschutzrecht des Sitzlandes der Niederlassung unterliegen. Damit wird auch in diesen Fällen eine einheitliche datenschutzrechtliche Bewertung in allen betroffenen Mitgliedstaaten erreicht. Das Sitzlandprinzip gilt auch im Falle eines bloßen Datentransfers, bei dem die Daten im Transferstaat gar nicht zur Kenntnis genommen werden. Die datenschutzrechtlichen Regelungen durch die Richtlinie berühren nicht die im Strafrecht geltenden Territorialregeln.49 Für den Datenverkehr mit Drittstaaten gilt das inländische Datenschutzrecht.50 Auch insoweit bestehen Unterschiede in der Umsetzung der Richtlinie. So weicht Vgl. Dammann, RDV 2002, 70 ff. Art. 4 Abs. 1 lit. c, umgesetzt durch § 1 Abs. 5 S. 1 BDSG. 46 Dammann, RDV 2002, 71 ff. 47 Vgl. Brühann, Richtlinie 95 / 46, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Bd. III A 30, Art. 4 Rn. 9 ff. 48 So: Ehmann / Helfrich, EG-Datenschutzrichtline, 1999, Art. 4 Rn. 15; a. M., Dammann, RDV 2002, 71. 49 20. Erwägungsgrund Abs. 2. 50 § 1 Abs. 5 S. 2 BDSG. 44 45
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auch die deutsche Regelung von den Vorgaben des Art. 4 Abs. 1 lit. c der Richtlinie ab.51 Datenverkehr mit Drittstaaten darf nur insoweit stattfinden, wie die empfangende Stelle ein angemessenes Datenschutzniveau gewährleistet. Nach Auffassung der Europäischen Kommission besteht nur in wenigen Drittstaaten ein angemessenes Datenschutzniveau.52 Zur Übermittlung von Passagierdaten aus dem Luftverkehr in die USA, für die die EG die Kompetenz besitzt, hat die Kommission ein Übereinkommen ausgehandelt, das dem deutschen Schutzniveau nicht voll entspricht. Die datenschutzrechtlichen Interessen der Mitgliedstaaten können gegenüber der Kommission in der Datenschutzgruppe gem. Art. 29 der Richtlinie artikuliert werden. Diese Gruppe besteht als beratendes Gremium u. a. aus je einem Vertreter des Datenschutzes aus jedem Mitgliedstaat und einem Mitglied der Kommission. Zu ihren Aufgaben gehört, zum Schutzniveau in der Gemeinschaft und in Drittländern gegenüber der Kommission Stellung zu nehmen.53 Die Kommission teilt der Gruppe mit, welche Konsequenzen sie aus deren Stellungnahme gezogen hat. Sie erstellt hierzu einen Bericht, der auch dem Europäischen Parlament und dem Rat übermittelt und veröffentlicht wird.54 V. Der 68. Erwägungsgrund der Richtlinie sieht vor, dass deren Grundsätze durch bereichsspezifische Regeln ergänzt oder präzisiert werden, die mit diesen Grundsätzen im Einklang stehen. Demgemäß ergingen nach der Telekommunikationsrichtlinie55 von 1997 im Jahre 2002 weitere, die Entwicklung der Telekommunikation berücksichtigende Richtlinien,56 von denen die Datenschutzrichtlinie Bestimmungen zum Datenschutz im Telekommunikationsbereich präzisiert.57 Diese Richtlinien wurden durch das Telekommunikationsgesetz 58 in deutsches Recht umgesetzt. Außerhalb des Rahmens der Integrationsgemeinschaften haben einige Staaten 1985 das Schengener Übereinkommen über den Abbau der Kontrolle an den gemeinsamen Grenzen geschlossen, das durch das Schengener Durchführungsübereinkommen von 199059 ergänzt und hinsichtlich der operativen Bestimmungen Vgl. Dammann, RDV 2002, 73 ff. Backes / Eul / Guthmann / Hartwich / Schmidt, RDV 2004, 159. 53 Art. 30 Abs. 1 lit. b der Richtlinie. 54 Art. 30 Abs. 5 der Richtlinie. 55 Richtlinie 97 / 66 EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. 12. 1997 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre im Bereich der Telekommunikation (Abl. Nr. L 24 / 1 vom 30. 1. 1998). 56 Rahmenrichtlinie, Genehmigungsrichtlinie, Zugangsrichtlinie, Universaldienstrichtlinie, Datenschutzrichtlinie. 57 Richtlinie 2002 / 58 EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. 7. 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Abl. Nr. L 201 / 37 vom 31. 7. 2002). 58 Vom 22. 6. 2004 (BGBl. I, S. 1190). 51 52
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erst im März 1995 in Kraft gesetzt wurde. Nach dem Amsterdamer Vertrag war das gesamte Schengener System in den EU- und EG-Rahmen zu überführen. Auch sieht der Amsterdamer Vertrag ausdrücklich die Beachtung des Datenschutzes für Europol vor. Im Europol-Übereinkommen von 199560 ist fast die Hälfte aller Bestimmungen der Datenverarbeitung und dem Datenschutz gewidmet.61 Aus deutscher Sicht richteten sich datenschutzrechtliche Bedenken vor allem gegen die Arbeitsdateien zu Analysezwecken,62 die in Deutschland unbekannt waren. In ihnen werden direkt von den Mitgliedstaaten eingegebene Daten sowie solche von Europol, die aus anderen Quellen oder aus dessen Analysetätigkeit stammen, gespeichert, ggf. auch geändert und genutzt. Es handelt sich dabei um Daten nicht nur von tatsächlichen, sondern auch von potentiellen Opfern, Kontakt- und Begleitpersonen und Personen, die Informationen über die betreffende Straftat liefern können. Vor allem den deutschen Verhandlungsführern ist es gelungen, Regelungen zu schaffen, um jede Analysedatei von anderen Dateien – auch anderen Analysedateien – zu separieren, ihre Speicherdauer je nach dem Analysezweck zu begrenzen und die Verwendung der Daten in jeder einzelnen Einrichtungsanordnung als unbedingt erforderlich gesondert zu spezifizieren. Jede Einrichtungsanordnung bedarf der Zustimmung des Europol-Verwaltungsrats mit Zweidrittelmehrheit; der Verwaltungsrat hat alle diesbezüglichen Beratungen der aus je zwei Vertretern der Mitgliedstaaten gemeinsamen Kontrollkommission zu berücksichtigen. Die Daten liefern die Mitgliedstaaten jeweils nach ihrem nationalen Datenschutzrecht an. Ebenfalls außerhalb des EU- und EG-Rahmens wurde der Vertrag von Prüm über die Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Migration vom 27. Mai 2005 zwischen sieben EU-Staaten63 abgeschlossen. Der Vertrag sieht die Errichtung von DNA-Profilen, daktyloskopischen und sonstigen Daten vor64 und regelt unter anderem Abruf, Abgleich und Übermittlung von Daten.65 Er enthält auch allgemeine Bestimmungen zum Datenschutz,66 wobei das Datenschutzniveau der einzelnen Vertragsstaaten zumindest dem des EuroparatsÜbereinkommens entsprechen muss. Zweckbindung, Datenrichtigkeit, Speicher59 BGBl. 1993 II, S. 1013. Das Abkommen wurde seit 2001 durch EG-Verordnungen, eine Richtlinie und Beschlüsse des Rates geändert. 60 Zum Komplex der Übernahme des Schengener Besitzstandes vgl. Streinz, Europarecht, 8. Aufl. 2008, Rn. 962 f. 61 Art. 10 ff. 62 BGBl. 1997 II, S. 2150. 63 Belgien, Deutschland, Spanien, Frankreich, Luxemburg, Niederlande und Österreich. BGBl. 2006 II, S. 628. 64 Art. 2 Abs. 1 des Vertrages. 65 Art. 3 ff. 66 Art. 33 ff.
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dauer, technische und organisatorische Maßnahmen und Dokumentation und Protokollierung sind ausdrücklich geregelt.67 Die Datenschutzkontrolle obliegt den für die Datenschutzkontrolle zuständigen unabhängigen Stellen der jeweiligen Vertragsparteien,68 in Deutschland dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit.69 Auch Eurojust, das im Rahmen der EG durch Beschluss des Rates 2002 zur Verstärkung der Bekämpfung der schweren Kriminalität mit Sitz in Den Haag errichtet wurde,70 sieht eine gemeinsame Kontrollinstanz vor. Deren deutsches Mitglied wird vom Bundesjustizministerium im Benehmen mit den Landesjustizverwaltungen benannt.71 VI. Mit der internen Regelung des Datenschutzes, der die Gemeinschaftsorgane und -einrichtungen verpflichtet, ließ man sich in Brüssel Zeit. Das war deshalb besonders erstaunlich, weil mit der Europäischen Datenschutzrichtlinie die Mitgliedstaaten zu datenschutzgerechtem Verhalten durch die Gemeinschaftsorgane verpflichtet wurden, diese selbst aber keinen datenschutzrechtlichen Vorschriften unterworfen waren. Deshalb bestimmte der Amsterdamer Vertrag durch Art. 286 EGV, dass ab 1. Januar 1999 die Rechtsakte der Gemeinschaft über den Schutz natürlicher Personen bei der Datenverarbeitung auf die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft Anwendung finden und vorher Rat und Parlament die Errichtung einer unabhängigen Kontrollkommission beschließen sollten. Diese Fristen ließ man verstreichen. Die Kommission, die gegen Mitgliedstaaten, welche die Richtlinie nicht rechtzeitig umgesetzt hatten, Vertragsverletzungsverfahren einleitete, legte immerhin im Juli 1999 den Vorschlag für eine Verordnung zum Datenschutz bei der Datenverarbeitung durch Gemeinschaftsorgane vor.72 Es dauerte dann freilich noch anderthalb Jahre, bis das Europäische Parlament und der Rat die Verordnung73 erließen, die am 1. Februar 2001 in Kraft trat.74 Art. 35, 37, 38, 39 Abs. 1 bis 4. Art. 39 Abs. 5. 69 § 6 Abs. 1 des Umsetzungs-Gesetzes vom 10. 7. 2006 (BGBl. 2006 I, S. 1458). Nach § 6 Abs. 2 bleiben die Zuständigkeiten für die Datenschutzkontrolle in den Ländern unberührt. 70 Beschluss 2002 / 187 / des Rates vom 28. 2. 2002 über die Errichtung von Eurojust (Abl. EG Nr. L 63 S. 1). Vgl. Esser / Herbold, NJW 2004, 242 ff. 71 § 9 As. 1 Eurojust-Gesetz vom 12. 5. 2004 (BGBl. 2004 I, S. 902). 72 KOM (1999) 337 endg. vom 14. 7. 1999 – Deutscher Text: BR-Drucksache 546 / 99 vom 1. 10. 1999. 73 Verordnung (EG) 45 / 2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. 12. 2000 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft und zum freien Datenverkehr, Abl EG Nr. L 8 vom 21. 1. 2001, S. 1. 74 Zur Entstehungsgeschichte vgl. Ennulat (Fn. 19), S. 117 ff. 67 68
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Die Verordnung 45 / 2001 folgt in der Terminologie und in ihren materiellen Regelungen weitgehend der Datenschutzrichtlinie. Da es um das datenschutzrechtliche Verhalten der Organe und Einrichtungen geht, spielte der Datenschutz für privatwirtschaftliche Tätigkeiten keine Rolle. Dafür sind die Regeln über die für die Verarbeitung Verantwortlichen wesentlich dichter. Bei der Datenübermittlung wird zwischen Übermittlung innerhalb der Gemeinschaftsorgane oder zwischen ihnen, Übermittlung an Stellen, die der Datenschutzrichtlinie unterworfen sind, und Übermittlung an Stellen in Drittstaaten oder an internationale Organisationen unterschieden. Im letzteren Falle gilt ein prinzipielles Übermittlungsverbot an Stellen, bei denen es an einem angemessenen Datenschutzniveau für diese Übermittlung fehlt.75 Trotzdem können in diesem Falle Daten übermittelt werden, wenn der Betroffene eingewilligt hat.76 Ebenso können aufgrund individueller Absprachen Daten an Stellen in Staaten mit fehlendem Schutzniveau übermittelt werden.77 Eine solche Regelung gebot schon der rege Datenaustausch mit den USA etwa in Kartellangelegenheiten. 78 Die Bestimmungen über die Information des Betroffenen anlässlich der Datenerhebung, über Auskunftsrechte, Sperrung und Löschung von Daten und ein Widerspruchsrecht79 sowie über personelle und technische Vorkehrungen, die für die Datenverarbeitung beachtet werden müssen,80 sind zum Teil präziser als in manchen Datenschutzgesetzen der Mitgliedstaaten. Schließlich wird ein Kontrollsystem eingeführt mit internen behördlichen Datenschutzbeauftragten und einem Europäischen Datenschutzbeauftragten. 81 Die behördlichen Datenschutzbeauftragten sollen „in unabhängiger Art und Weise“ die Anwendung der Bestimmungen der Verordnung garantieren, genießen also funktionelle Unabhängigkeit. Ihre Zahl legt die Verordnung nicht fest. Da die einzelnen Kommissionsdienststellen getrennte organisatorische Einheiten sind und die Datenverarbeitung insoweit unterschiedlich sein kann, wurde die Zahl der in der Kommission genehmigten Datenschutzbeauftragten auf 40 geschätzt, während in den übrigen Gemeinschaftsorganen und -einrichtungen 22 Datenschutzbeauftragte ernannt werden sollten.82 Damit ist die interne Datenschutzkontrolle der Gemeinschaftsorgane recht dicht. Erstaunlich ist, dass entgegen der Regelung in fast allen Mitgliedstaaten der EU und der Vorgabe des Art. 286 EGV keine Kontrollkommission als Kollegialorgan eingerichtet wurde, sondern sich der Verordnungsgeber für eine monokratische Lösung der Datenschutzkontrolle wie in Deutschland entschied. Der Europäische Datenschutzbeauftragte agiert in „völliger Unabhängig75 76 77 78 79 80 81 82
Art. 9 Abs. 1 der Verordnung. Art. 9 Abs. 6. Art. 9 Abs. 7. Ennulat (Fn 19), S. 134. Art. 11 – 18. Art. 21 – 23. Art. 24 ff. Ennulat (Fn. 19), S. 160.
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keit“ und unterliegt keinen Weisungen. Er wird auf Vorschlag der Kommission im Einverständnis mit dem Parlament und dem Rat ernannt. Sein Haushalt wird einvernehmlich von diesen drei Organen aufgestellt und ebenso sein Gehalt festgelegt. Seiner Kontrolle und Beratung unterliegen sämtliche Gemeinschaftsorgane und -einrichtungen.83 Bei Verletzung von datenschutzrechtlichen Bestimmungen stehen den Betroffenen neben dem Widerspruchsrecht nach Art. 18 der Verordnung die Beschwerde und die Klage zur Verfügung. Über den Widerspruch entscheidet der für die Verarbeitung Verantwortliche. Bei Verletzung von Datenschutzregeln durch die Gemeinschaftsorgane kann sich der Betroffene mit einer Beschwerde an den Europäischen Datenschutzbeauftragten wenden, der den Fall überprüft und bei Verletzung von Datenschutzvorschriften den für die Verarbeitung Verantwortlichen mit der Angelegenheit befasst. Er kann den Verantwortlichen ermahnen oder verwarnen und sogar die Berichtigung, Sperrung, Löschung oder Vernichtung von Daten anordnen. Auch kann er der betreffenden Institution oder dem Europäischen Parlament, der Kommission und dem Rat über die Angelegenheit berichten. Das Beschwerderecht steht auch den bei den Organen und Einrichtungen beschäftigten Personen zu. Diese sind im Rahmen von Beschwerden nicht an den Dienstweg gebunden und dürfen aufgrund der Beschwerde keine Nachteile erfahren. Während für Beschwerden von EU-Bürgern keine besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen bestehen, müssen Beschwerden von Bediensteten innerhalb einer Frist von zwei Monaten beim Europäischen Datenschutzbeauftragten erhoben werden. Über Klagen gegen Datenschutzverletzungen entscheidet der Europäische Gerichtshof.84 Die Klage ist innerhalb von zwei Monaten nach Bekanntgabe, Mitteilung oder sonstiger Kenntnis von der betreffenden Maßnahme zu erheben.85 Auch Entscheidungen des Europäischen Datenschutzbeauftragten unterliegen der gerichtlichen Kontrolle. Klagebefugt sind sowohl die von der Entscheidung betroffenen Organe als auch die Betroffenen selbst. Da Beschwerden, auf die der Europäische Datenschutzbeauftragte nicht innerhalb von sechs Monaten reagiert hat, als abgelehnt gelten, kann der Betroffene nach Ablauf der Frist eine Untätigkeitsklage erheben.86 Insgesamt gewährleistet die Verordnung 45 / 2001 den Datenschutz bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft auf einem hohen Niveau, das den Standard der Europarats-Konvention deutlich übertrifft.
83 84 85 86
Vgl. im Einzelnen zum Europäischen Datenschutzbeauftragten Ennulat (Fn. 19), S. 147 ff. Art. 32 Abs. 1 der Verordnung. Art. 230 Abs. 5 EGV. Zum Rechtsschutz vgl. Ennulat (Fn. 19), S. 164 ff.
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VII. Mit der Aufnahme des Datenschutzes in die vom Europäischen Rat am 7. Dezember 2000 in Nizza proklamierte Charta der Grundrechte der Europäischen Union87 wurde der Datenschutz in Europa in den Kanon der anerkannten Grundrechte aufgenommen. Die Charta ist zwar auch acht Jahre nach ihrer feierlichen Proklamation noch nicht geltendes Recht, wird aber vom EuGH als Auslegungsquelle herangezogen. Nach dem bisher noch nicht in Kraft getretenen Lissabonner Vertrag88 ist die Charta „rechtlich gleichrangig“ mit den Verträgen.89 Ob sie nur im Verhältnis zwischen den Organen der Union oder aber generell für alle Hoheitsträger und Privatpersonen im gesamten Gebiet der Europäischen Union angewendet werden muss, bleibt allerdings nach wie vor offen. Gem. Art. 8 der Charta hat jede Person das Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten. Diese Daten dürfen nur nach Treu und Glauben für festgelegte Zwecke und mit Einwilligung der betroffenen Personen oder auf einer sonstigen gesetzlich geregelten legitimen Grundlage verarbeitet werden. Jede Person hat das Recht, Auskunft über die sie betreffenden erhobenen Daten zu erhalten und die Berichtigung der Daten zu erwirken. Die Einhaltung dieser Vorschriften wird von einer unabhängigen Stelle überwacht. Der Text des Art. 8 folgt damit weitgehend den Vorbildern in einigen Verfassungen der Mitgliedstaaten und der deutschen Länder, die seit der nordrhein-westfälischen Verfassung vor über 30 Jahren ein solches Grundrecht normiert haben. Ob die bisherigen Datenschutzregelungen in Europa den Anforderungen auf Dauer genügen werden, bleibt abzuwarten. Jedenfalls müssen sie mit der rasanten Entwicklung der Informations- und Telekommunikationstechnik Schritt halten. In einer global vernetzten Welt dürfte eine auf Europa beschränkte Harmonisierung des Datenschutzes letztlich wohl nicht ausreichen, um das im allgemeinen Persönlichkeitsrecht verankerte Recht auf den Schutz personenbezogener Daten umfassend und wirksam zu garantieren.
Abl 2000 Nr. C 364 / 1 vom 18. 12. 2000. Abl 2007 Nr. C 306 / 1. 89 Am 12. 12. 2007 unterzeichneten die Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rats und der Kommission die Charta in Straßburg. 87 88
Sicherheit durch Rechtssicherheit? Anmerkungen zum Lucchini-Urteil des EuGH Von Michael Schweitzer
I. Über 50 Jahre nach dem Inkrafttreten des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (heute Europäische Gemeinschaft, EG) und 45 Jahre nach dem grundlegenden Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) in der Rechtssache (Rs.) Costa / E.N.E.L.1 ist die Frage des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht immer noch nicht endgültig beantwortet. Das hat zum einen seinen Grund im Ausgangspunkt der Argumentation. Wird die Frage aus der Sicht des GG angegangen, so gelangt man zu der vom BVerfG sehr vorsichtig begründeten, aber in der Konsequenz eindeutigen Lösung, dass der Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem deutschen Recht kein absoluter ist, sondern verfassungsrechtliche Grenzen hat. Nach Meinung des BVerfG ermächtigt Art. 24 Abs. 1 GG (heute wäre dies Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG) nicht dazu, „im Wege der Einräumung von Hoheitsrechten für zwischenstaatliche Einrichtungen die Identität der geltenden Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland durch Einbruch in ihr Grundgefüge, in die sie konstituierenden Strukturen aufzugeben“.2 Dazu zählt das BVerfG jedenfalls die Rechtsprinzipien, die dem Grundrechtsteil des GG zugrunde liegen, die ein unverzichtbares, zum Grundgefüge der geltenden Verfassung gehörendes Essentiale darstellen.3 Auch im Rechtsstaatsprinzip und im Demokratieprinzip sieht das BVerfG Grenzen, die relevant werden können. Denn Rechtsakte der EG, die auf einer wesentlichen Änderung des vertraglich angelegten Integrationsprogramms basieren, weil sie die Grenzen der Vertragsauslegung überschreiten und deshalb eine Vertragsänderung voraussetzen, seien nicht mehr vom Zustimmungsgesetz gedeckt. Als ultravires-Akte würden sie deshalb keine Bindungswirkung für die Bundesrepublik Deutschland entfalten und dürften von deutschen Staatsorganen nicht angewendet werden. Denn bei solchen Akten liege sowohl eine Verletzung des Rechtsstaats1 2 3
Rs. 6 / 64, Costa / E.N.E.L., Slg. 1964, 1253 ff. BVerfGE 73, 339 (375 f.). BVerfGE 73, 339 (376).
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prinzips (wegen fehlender Kompetenzgrundlage) als auch des Demokratieprinzips (wegen fehlender parlamentarischer Zustimmung) vor.4 Ganz anders argumentiert der EuGH, der das Gemeinschaftsrecht als Ausgangspunkt nimmt, das allerdings im geschriebenen Primärrecht keine Regelung über das Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht der Mitgliedstaaten enthält. Seine teleologisch orientierte Rechtsprechung wird besonders deutlich im Urteil in der Rs. Costa / E.N.E.L., wo er ausführt:5 „Die Verpflichtungen, die die Mitgliedstaaten im Vertrag zur Gründung der Gemeinschaft eingegangen sind, wären keine unbedingten mehr, sondern nur noch eventuelle, wenn sie durch spätere Gesetzgebungsakte der Signatarstaaten in Frage gestellt werden könnten. . . . Aus alledem folgt, dass dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht wegen dieser Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll.“
Diesen so umschriebenen Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten versteht der EuGH als einen Anwendungsvorrang. Dieser bewirkt, im Gegensatz zu einem Geltungsvorrang, der zur Nichtigkeit einer widersprechenden nationalen Norm führen würde, dass diese nicht in ihrer Existenz betroffen ist, sondern lediglich unangewendet bleibt.6 Aus Sicht des EuGH ist der Vorrang ein absoluter, d. h. ein Vorrang gegenüber dem gesamten nationalen Recht, einschließlich der gesamten Verfassung. Er hat diesbezüglich ausgeführt:7 „Daher kann es die Gültigkeit einer Gemeinschaftshandlung oder deren Geltung in einem Mitgliedstaat nicht berühren, wenn geltend gemacht wird, die Grundrechte in der ihnen von der Verfassung dieses Staates gegebenen Gestalt oder die Strukturprinzipien der nationalen Verfassung seien verletzt.“
Diese Rechtsprechung des EuGH ist zudem primärrechtlich abgesichert. In Nr. 2 des zum primären Gemeinschaftsrecht zählenden Protokolls (Nr. 30) zum Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit von 19978 heißt es, dass in diesem Zusammenhang „die vom Gerichtshof aufgestellten Grundsätze für das Verhältnis zwischen einzelstaatlichem Recht und Gemeinschaftsrecht nicht berührt (werden) . . .“.
4 5 6 7 8
BVerfGE 89, 155 (188, 195, 210). Rs. 6 / 64, Costa / E.N.E.L., Slg. 1964, 1253 ff. (1270). Verb. Rs. 10 / 97 bis C-22 / 97, IN.CO.GE’90, Slg. 1998, I-6307 ff., Rn. 20 f. Rs. 11 / 70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125 ff., Rn. 3. ABl. 1997, Nr. C 340, 105 ff.
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Eine gewisse Klarstellung hinsichtlich der Vorrangproblematik enthielt zudem Art. I-6 des (gescheiterten) Vertrags über eine Verfassung für Europa vom 29. Oktober 2004 (Verfassungsvertrag),9 der bestimmte: „Die Verfassung und das von den Organen der Union in Ausübung der der Union übertragenen Zuständigkeiten gesetzte Recht haben Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten.“
Hier näherten sich die Standpunkte des BVerfG und des EuGH an. Denn der Vorrang gilt danach nur im übertragenen Kompetenzbereich. Dort, wo keine Kompetenzen der Europäischen Union (EU) bestehen, kann es auch keinen Vorrang geben. Eine endgültige Lösung war dies aber ebenfalls nicht, da im Kompetenzkonflikt der EuGH darüber zu entscheiden hat, wer die Kompetenz hat. Entscheidet er für die EU, so greift der absolute Vorrang im Sinne seiner Rechtsprechung. Dies war auch der Grund, warum von verschiedenen Seiten die Errichtung eines Kompetenzgerichtshofs gefordert wurde. Am weitesten ging dabei Herzog, der gemeinsam mit Gerken nicht nur einen eigenständigen Gerichtshof vorschlug, der Rechtsakte auf ihre Kompetenzmäßigkeit überprüfen könnte, sondern auch die Urteile des EuGH. Er sollte sich aus Mitgliedern der mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte zusammensetzen.10 Auch in den Verhandlungen des Konvents zur Erarbeitung des Verfassungsvertrags war ein Kompetenzgerichtshof andiskutiert worden, das Projekt wurde aber nicht weiter verfolgt. Es wäre damit auch nicht viel gewonnen, denn ein solcher Gerichtshof würde sich in genau der gleichen Situation befinden wie der EuGH; an der Problematik würde sich nichts ändern. Im – vorerst ebenfalls gescheiterten – Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 3. Dezember 2007 (Lissabonner Vertrag, sog. Reformvertrag)11 wurde keine Bestimmung über den Vorrang aufgenommen. Allerdings heißt es in der Erklärung Nr. 17 zur Schlussakte der Regierungskonferenz, die den Lissabonner Vertrag angenommen hat, dass das EU-Recht (der Begriff des Gemeinschaftsrechts existiert im Lissabonner Vertrag nicht mehr) unter den in der Rechtsprechung des EuGH festgelegten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten habe. Außerdem beschloss die Konferenz, ein Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates vom 22. Juni 2007 zum Vorrang der Schlussakte beizufügen. Dieses hat folgenden Wortlaut:12 „Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der Vorrang des EG-Rechts einer der Grundpfeiler des Gemeinschaftsrechts. Dem Gerichtshof zufolge ergibt sich dieser Grundsatz aus der Besonderheit der Europäischen Gemeinschaft. Zum Zeitpunkt des ersten UrABl. 2004, Nr. C 310, 1 ff. Welt am Sonntag vom 14. Januar 2007. 11 ABl. 2007, Nr. C 306, 1 ff. 12 ABl. 2007, Nr. C 306, 256. 9
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teils im Rahmen dieser ständigen Rechtsprechung (Rechtssache 6 / 64, Costa gegen ENEL, 15. Juli 1964) war dieser Vorrang im Vertrag nicht erwähnt. Dies ist auch heute noch der Fall. Die Tatsache, dass der Grundsatz dieses Vorrangs nicht in den künftigen Vertrag aufgenommen wird, ändert nichts an seiner Existenz und an der bestehenden Rechtsprechung des Gerichtshofs.“
II. Die Vorrangsproblematik bezog sich lange Zeit nur auf direkte Kollisionen, d. h. auf solche zwischen materiellem Gemeinschaftsrecht und materiellem nationalen Recht. Letzteres kann sowohl Verfassungsrecht als auch Gesetzesrecht (im materiellen Sinn) sein. Selbst bestandskräftige Verwaltungsakte kommen in Betracht, etwa wenn sie materielle Regelungen enthalten, die gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen und deren Nichtbefolgung strafbewehrt ist.13 In den letzten Jahren tauchte allerdings zunehmend das Problem von indirekten Kollisionen auf. Darunter versteht man Kollisionen zwischen materiellem Gemeinschaftsrecht und nationalem Verfahrensrecht. So wurden beispielsweise in der Rs. i-21 Germany und Arcor deutsche Telekommunikationsunternehmen mit Verwaltungsakten zu Gebühren für die Einzelgenehmigung für Telekommunikationsdienste herangezogen. Die betroffenen Unternehmen entrichteten die Gebühren, die Verwaltungsakte wurden bestandskräftig. Als an andere Unternehmen ergangene Gebührenbescheide von deutschen Gerichten aufgehoben wurden, verlangten die Unternehmen i-21 Germany und Arcor die Erstattung der von ihnen geleisteten Gebühren. Im daraufhin folgenden Rechtsstreit ging es um die Frage, ob die Art und Weise der von den Behörden praktizierten Errechnung der Höhe der Gebühren gegen die Telekommunikationsdienste-Richtlinie vom 10. April 199714 verstoße, was der vom Bundesverwaltungsgericht gemäß Art. 234 EGV angerufene EuGH bejahte. Für diesen Fall wollte das Bundesverwaltungsgericht wissen, ob ein bestandskräftiger Gebührenbescheid aufzuheben sei. Der EuGH äußerte sich zunächst zur Art der Kollision und stufte sie – ohne dies ausdrücklich so zu nennen – als indirekte ein:15 „Entgegen dem Vorbringen von Arcor betrifft die zweite Frage nicht eine Kollision zwischen zwei materiellrechtlichen Vorschriften . . . . Die Frage betrifft vielmehr das Verhältnis zwischen Artikel 11 Abs. 1 der Richtlinie (als materielles Gemeinschaftsrecht, Anm. d. Verf.) und § 48 VwVfG (als nationales Verfahrensrecht, Anm. d. Verf.) . . .“.
Bei indirekten Kollisionen geht der EuGH nicht vom Prinzip des Vorrangs, sondern von einem anderen Prinzip aus, nämlich von dem der Verfahrensautonomie Vgl. EuGH, Rs. C-224 / 97, Ciola, Slg. 1999, I-2517 ff., Rn. 29 ff. ABl. 1997, Nr. L 117, 15 ff. 15 Verb. Rs. C-392 / 04 und C-422 / 04, i-21 Germany und Arcor, Slg. 2006, I-8559 ff., Rn. 49 f. 13 14
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der Mitgliedstaaten. In der Rs. i-21 Germany und Arcor hat er dies wie folgt beschrieben:16 „Hierzu ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung mangels einer einschlägigen Gemeinschaftsregelung die Verfahrensmodalitäten, die den Schutz der dem Bürger aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung eines jeden Mitgliedstaats sind; sie dürfen jedoch nicht ungünstiger sein als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte innerstaatlicher Art regeln (Äquivalenzprinzip), und die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsprinzip) . . .“.
Man kann diese Rechtsprechung auf die einfache Formel bringen: Nationales Verfahrensrecht darf nicht dazu führen, dass Gemeinschaftsrecht nicht befolgt wird. In diesem Zusammenhang spricht man bisweilen vom „Vereitelungsverbot“.17 Natürlich ist dies letztlich ein Vorrangdenken. Insofern hängen Vorrang des Gemeinschaftsrechts und Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten eng zusammen.18 Allerdings zeigt die bisherige Rechtsprechung, dass sich der EuGH mit der Trennung der beiden Argumentationsebenen bei indirekten Kollisionen einen größeren Spielraum eröffnet hat. Diese Rechtsprechung führt dann dazu, dass beispielsweise aufgrund des Effektivitätsprinzips der sofortige Vollzug eines Verwaltungsaktes angeordnet werden muss, selbst wenn nach deutschem Recht die für den Erlass einer solchen Anordnung notwendigen Voraussetzungen nicht vorliegen,19 dass eine einstweilige Anordnung erlassen werden muss, selbst wenn nach britischem Recht die Gerichte dazu gar nicht befugt sind,20 oder dass Klagen zulässig sind, selbst wenn das italienische Verfahrensrecht dies nicht vorsieht.21
III. Während diese und andere Urteile des EuGH jeweils laufende Verfahren betrafen, ergab sich in den letzten Jahren eine neue Fallkonstellation, bei der bestandskräftige Verwaltungsakte und rechtskräftige Urteile mit Gemeinschaftsrecht kollidierten. In der Regel entsteht eine derartige Situation dann, wenn nach Eintritt der 16 Verb. Rs. C-392 / 04 und C-422 / 04, i-21 Germany und Arcor, Slg. 2006, I-8559 ff., Rn. 57. 17 Vgl. Hatje, EuR 2007, 658; ders., Festschrift Rengeling, 2008, S. 257 f. 18 Dies zeigt sich ganz deutlich in der Rs. C-213 / 89, Factortame, Slg. 1990, I-2433 ff., Rn. 18 ff. 19 EuGH, Rs. 217 / 88, Kommission / Deutschland, Slg. 1990, I-2879 ff., Rn. 24 ff. 20 EuGH, Rs. C-213 / 89, Factortame, Slg. 1990, I-2433 ff., Rn. 19 ff. 21 EuGH, Rs. C-97 / 91, Oleificio Borelli, Slg. 1992, I-6313 ff., Rn. 13.
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Bestands- oder Rechtskraft der EuGH Gemeinschaftsrecht anders auslegt, als dies die nationalen Behörden oder Gerichte getan haben. So hatte beispielsweise das Hauptzollamt Hamburg-Jonas Erstattungen für den Export von Rindern zurückgefordert. Die dagegen erhobene Klage blieb durch alle Instanzen ohne Erfolg, der Rückforderungsbescheid wurde bestandskräftig. Einige Jahre später stellte sich nach einem Urteil des EuGH in einem ähnlich gelagerten Fall heraus, dass die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch das Zollamt und die deutsche Gerichte falsch war. Es entstand daher die Frage, ob der Rückforderungsbescheid zurückgenommen werden muss.22 Solche Fälle entscheidet der EuGH nach folgender Formel:23 „Nach allem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass der in Artikel 10 EG verankerte Grundsatz der Zusammenarbeit eine Verwaltungsbehörde auf einen entsprechenden Antrag hin verpflichtet, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zu überprüfen, um der mittlerweile vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung der einschlägigen Bestimmung Rechnung zu tragen, wenn – die Behörde nach nationalem Recht befugt ist, diese Entscheidung zurückzunehmen, – die Entscheidung infolge eines Urteils eines in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichts bestandskräftig geworden ist, – das Urteil, wie eine nach seinem Erlass ergangene Entscheidung des Gerichtshofes zeigt, auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruht, die erfolgt ist, ohne dass der Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht wurde, obwohl der Tatbestand des Artikels 234 Absatz 3 EG erfüllt war, und – der Betroffene sich, unmittelbar nachdem er Kenntnis von der besagten Entscheidung des Gerichtshofes erlangt hat, an die Verwaltungsbehörde gewandt hat.“
Hinsichtlich des Äquivalenzprinzips hat der EuGH entschieden, dass, wenn nach deutschem Verwaltungsrecht ein rechtswidriger, aber bestandskräftiger Verwaltungsakt dann zurückgenommen werden muss, wenn seine Aufrechterhaltung „schlechthin unerträglich“ ist und er dabei „offensichtlich“ unvereinbar mit höherrangigem deutschen Recht ist,24 er auch zurückgenommen werden muss, wenn er offensichtlich gegen Gemeinschaftsrecht verstößt.25 Immer wieder betont der EuGH aber, dass unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Rechtssicherheit, der zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehöre, eine Behörde nicht grundsätzlich verpflichtet ist, einen bestandskräftigen gemeinschaftsrechtswidrigen Verwaltungsakt zurückzunehmen.26 Das läuft also auf eine Abwägung im Einzelfall hinaus, die die Grundsätze Rs. C-2 / 06, Kempter, Slg. 2008, I-411 ff. Rs. C-453 / 00, Kühne & Heitz, Slg. 2004, I-837 ff., Rn. 28. 24 Z. B. BVerwGE 28, 122 (127); 95, 86 (92). 25 Verb. Rs. C-392 / 04 und C-422 / 04, i-21 Germany und Arcor, Slg. 2006, I-8558 ff., Rn. 68 f. 26 Z. B. Rs. C-453 / 00, Kühne & Heitz, Slg. 2004, I-837 ff., Rn. 23. 22 23
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der Rechtssicherheit, Effektivität und Äquivalenz sowie die individuellen und Gemeinschaftsinteressen berücksichtigt. Diese Rechtsprechung lässt einige wichtige Fragen offen und kann daher nicht als abschließend verstanden werden. Insbesondere bleibt fraglich, was zu geschehen hat, wenn es nach nationalem Recht für Behörden keine Möglichkeit gibt, einen Verwaltungsakt zurückzunehmen. Und unklar ist, ob die Pflicht zur Überprüfung eines bestandskräftigen Verwaltungsakts, der sich durch ein späteres Urteil des EuGH als gemeinschaftsrechtswidrig herausgestellt hat, eine Rücknahmepflicht beinhaltet oder ob diesbezüglich ein Ermessen der Behörde anzunehmen ist. IV. Noch weniger abschließend ist die Rechtsprechung zur Frage der Kollision zwischen Gemeinschaftsrecht und rechtskräftigen Urteilen nationaler Gerichte. Dies hängt schon damit zusammen, dass dazu bislang kaum Urteile des EuGH vorliegen. 1. Ein Ansatzpunkt findet sich in den Urteilen, in denen der EuGH auf die Rücknahme von bestandskräftigen gemeinschaftsrechtswidrigen Verwaltungsakten eingeht, die durch rechtskräftige letztinstanzliche Urteile bestätigt wurden.27 Denn wenn es das Gemeinschaftsrecht gebietet, einen derartigen Verwaltungsakt zurückzunehmen, wird dabei auch das bestätigende Urteil hinfällig. Dennoch sind diese Urteile des EuGH nicht aussagekräftig. Sie sagen nichts über einen Vorrang des Gemeinschaftsrechts oder über die Auswirkung des Effektivitätsprinzips auf rechtskräftige Urteile aus; sie beziehen sich nur auf die Rücknahme von Verwaltungsakten. Ähnliches gilt für das Urteil in der Rs. Köbler, in dem sich die Frage nach der Staatshaftung für Entscheidungen letztinstanzlicher Gerichte stellte. Der EuGH bejahte eine solche Haftung, wies aber darauf hin, dass dies die Rechtskraft einer solchen Entscheidung nicht in Frage stelle. Ein Staatshaftungsverfahren habe nämlich nicht denselben Gegenstand und nicht zwangsläufig dieselben Parteien wie das Verfahren, das zur rechtskräftigen Entscheidung geführt hat. Komme es zu einer Verurteilung des Staates zum Schadenersatz, dann bedeute das keineswegs die Aufhebung der Rechtskraft der letztinstanzlichen Entscheidung, die den Schaden verursacht hat.28 2. Auch das Urteil in der Rs. Kapferer ist nur bedingt aussagekräftig.29 Dabei ging es um die rechtskräftige Feststellung der Zuständigkeit eines österreichischen 27 Rs. C-453 / 00, Kühne & Heitz, Slg. 2004, I-837 ff.; Rs. C-2 / 06, Kempter, Slg. 2008, I-411 ff. 28 Rs. C-224 / 01, Köbler, Slg. 2003, I-10239 ff., Rn. 39; vgl. auch Rs. C-173 / 03, Traghetti di Mediterraneo, Slg. 2006, I-5177 ff. 29 Rs. C-234 / 04, Kapferer, Slg. 2006, I-2585 ff.
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Untergerichts. Das Urteil wurde bezüglich der Zuständigkeitsfeststellung von der beklagten Partei nicht angefochten, weil sie in der Sache selbst erfolgreich war, so dass es insoweit in Rechtskraft erwuchs. Das von der unterlegenen Klägerin angerufene Berufungsgericht war der Meinung, dass die Feststellung der Zuständigkeit durch die erste Instanz gemeinschaftsrechtswidrig sei. Es rief daher den EuGH gemäß Art. 234 EGV an und wollte u. a. wissen, ob die Kühne & Heitz-Lösung auch auf rechtskräftige gemeinschaftsrechtswidrige Urteile zur Anwendung komme. In seinem Urteil geht der EuGH zunächst auf die Bedeutung der Rechtskraft ein und kommt – wie schon, wenngleich leicht abgewandelt, im Kühne & HeitzUrteil – zu den Folgerungen, dass das Gemeinschaftsrecht es einem nationalen Gericht nicht gebiete, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften abzusehen, aufgrund deren eine Entscheidung Rechtskraft erlangt, selbst wenn dadurch ein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht abgestellt werden könnte.30 Im Folgenden wies der EuGH dann zwar auf das Effektivitäts- und das Äquivalenzprinzip hin, ging aber nicht näher darauf ein, da im Ausgangsverfahren gar kein Verstoß dagegen geltend gemacht worden sei. Selbst wenn man aber die Kühne & Heitz-Kriterien anwenden würde, ergebe sich nichts anderes. Denn es fehle – wie der Vorlageentscheidung zu entnehmen sei – das erste Kühne & Heitz-Kriterium, nämlich die nach innerstaatlichem Recht vorhandene Befugnis, das Urteil zurückzunehmen.31 Wegen der durch die Vorlagefrage bedingten Konzentration auf die Kühne & Heitz-Kriterien lässt sich dem Urteil kaum etwas allgemein Gültiges entnehmen. Vielmehr sieht es eher so aus, als ob der EuGH diese Kriterien gar nicht für solche Fälle übernehmen will.32 Dies ergibt sich wohl aus folgender Formulierung im Urteil:33 „Selbst wenn nämlich die in diesem Urteil (in der Rs. Kühne & Heitz, Anm. d. Verf.) aufgestellten Grundsätze auf einen Sachverhalt übertragbar sein sollten, der, wie der des Ausgangsverfahrens, eine in Rechtkraft erwachsene gerichtliche Entscheidung betrifft . . .“.
Nach diesem Urteil in der Rs. Kapferer wurde vereinzelt die Schlussfolgerung gezogen, dass das Effektivitätsprinzip die Geltungskraft der innerstaatlichen Verfahrensvorschriften grundsätzlich unberührt lasse,34 und es wurde festgestellt, dass weder ein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht noch der Anwendungsvorrang desselben eine Durchbrechung der Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen rechtfertige.35
30 31 32 33 34 35
Rs. C-234 / 04, Kapferer, Slg. 2006, I-2585 ff., Rn. 20 f. Rs. C-234 / 04, Kapferer, Slg. 2006, I-2585 ff., Rn. 22 ff. Skeptisch auch Kremer, EuR 2007, 487. Rs. C-234 / 04, Kapferer, Slg. 2006, I-2585 ff., Rn. 23. Ludwigs, ZfRV 2006, 194. Schmidt-Westphal / Sander, EuZW 2006, 243.
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3. Dass das nicht so gesehen werden kann, hat das Urteil des EuGH in der Rs. Lucchini gezeigt.36 Aber auch dieses Urteil bringt keine eindeutige Klärung. Die Kommission der EG hatte in einer bestandskräftigen Entscheidung die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit einer italienischen Beihilfe festgestellt und in einer späteren Entscheidung die Rückforderung der Beihilfe angeordnet. Im Zeitraum zwischen den beiden Kommissionsentscheidungen hatten italienische Gerichte – dem nationalen Recht durchaus entsprechend – entschieden, dass die Beihilfe, die von der Behörde wegen der ersten Kommissionsentscheidung nicht ausgezahlt wurde, auszuzahlen sei. Dies wurde von der Behörde zwar angefochten, aber nicht durch alle Instanzen, so dass Rechtskraft eintrat. Die Beihilfe wurde schließlich ausbezahlt, später aber – der zweiten Entscheidung der Kommission Folge leistend – wieder zurückgefordert. Im Gerichtsverfahren um die Rückforderung wurde der EuGH gemäß Art. 234 EGV gefragt, ob der Vorrang des Gemeinschaftsrechts die Rückforderung einer Beihilfe gebiete, obwohl ein rechtskräftiges Zivilurteil vorliege, das die unbedingte Verpflichtung zur Auszahlung dieser Beihilfe anordne. Zudem wollte das vorlegende Gericht wissen, ob das Gemeinschaftsrecht einer nationalen Vorschrift über die Rechtskraft von Urteilen entgegenstehe, soweit diese die Rückforderung einer von der Kommission für rechtswidrig erklärten Beihilfe behindere. Es wies dabei darauf hin, dass zumindest das Urteil der zuletzt befassten Instanz sich auch auf die Frage der Vereinbarkeit der Beihilfe mit dem Gemeinschaftsrecht beziehe. In seinem Urteil stellt der EuGH zunächst auf die Kompetenzfrage ab. Zur Feststellung, ob Beihilfemaßnahmen oder eine Beihilferegelung mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar sind, sei ausschließlich die Kommission und nicht nationale Gerichte zuständig. Diese könnten zwar grundsätzlich berufen sein, die Gültigkeit einer Entscheidung der Kommission zu prüfen, die Ungültigkeit feststellen dürften sie aber nicht. Dazu sei allein der EuGH zuständig. Die italienischen Gerichte hätten daher nicht von der Ungültigkeit der entsprechenden Entscheidung der Kommission ausgehen dürfen.37 Im Folgenden geht der EuGH auf Art. 2909 des italienischen Codice civile ein. Dieser steht der Möglichkeit entgegen, Angriffs- und Verteidigungsmittel, über die bereits ausdrücklich und rechtskräftig entschieden worden ist, in einem zweiten Rechtsstreit erneut geltend zu machen. Zudem verbietet er auch, Fragen zu prüfen, die im Rahmen eines früheren Rechtsstreits hätten aufgeworfen werden können, dies aber nicht wurden. Seine Anwendung würde nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts die Anwendung von Gemeinschaftsrecht vereiteln, weil sie die Rückforderung der Beihilfe unmöglich mache. Der EuGH weist diesbezüglich darauf hin, dass nationale Gerichte Vorschriften des nationalen Rechts soweit wie möglich derart auszulegen hätten, dass sie so 36 37
Rs. C-119 / 05, Lucchini, Slg. 2007, I-6199 ff. Rs. C-119 / 05, Lucchini, Slg. 2007, I-6199 ff., Rn. 50 bis 53 und 57.
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angewandt werden können, dass das Gemeinschaftsrecht befolgt wird. Dazu sah sich das vorlegende italienische Gericht allerdings nicht in der Lage. Über diese Einschätzung konnte sich der EuGH nicht hinwegsetzen, da die Auslegung des nationalen Rechts Sache der Mitgliedstaaten ist und daher außerhalb seiner Zuständigkeit liegt. Des Weiteren nimmt der EuGH – ohne es allerdings ausdrücklich zu benennen – auf das Effektivitätsprinzip Bezug und betont die Pflicht der nationalen Gerichte, erforderlichenfalls jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet zu lassen.38 Und schließlich führt er aus:39 „Wie in der Randnr. 52 des vorliegenden Urteils festgestellt, ist ausschließlich die Kommission, die dabei der Kontrolle des Gemeinschaftsrichters unterliegt, für die Beurteilung der Vereinbarkeit von Beihilfemaßnahmen oder einer Beihilferegelung mit dem Gemeinsamen Markt zuständig. Infolge des Grundsatzes des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts gilt diese Regel in der innerstaatlichen Rechtsordnung. Folglich ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass das Gemeinschaftsrecht der Anwendung einer auf die Verankerung des Grundsatzes der Rechtskraft abzielenden Vorschrift des nationalen Rechts wie Art. 2909 des Codice civile entgegensteht, soweit ihre Anwendung die Rückforderung einer unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht gewährten Beihilfe behindert, deren Unvereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt durch eine bestandskräftig gewordene Entscheidung der Kommission festgestellt worden ist.“
Im Ergebnis ist dem EuGH natürlich zuzustimmen. Die Begründung lässt allerdings viele Fragen offen. Zunächst fällt auf, dass der EuGH die Rs. Kühne & Heitz nicht erwähnt. Es bleibt unklar, ob daraus der Schluss gezogen werden kann, dass die Kühne & Heitz-Kriterien auf rechtskräftige Urteile keine Anwendung finden, wie dies ja schon im Kapferer-Urteil unklar geblieben war. Es lässt sich durchaus der Schluss ziehen, dass der EuGH seine Ablehnung der Übernahme der Kriterien bekräftigt hat. Auch ist nur schwer ersichtlich, von welcher Kollision der EuGH ausgeht. Folgende Möglichkeiten sind denkbar: (1) Direkte Kollision von Kompetenzvorschriften (Kommission und nationales Gericht) im Hinblick auf die Feststellung, ob eine Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar ist. Sieht man in Kompetenznormen Verfahrensvorschriften, dann wäre dies eine besondere Kollisionsvariante, wie sie beispielsweise auch in der Rs. C-232 / 05 auftaucht.40 In diesem Fall geht die Kommissionskompetenz wegen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts vor. Dies scheint der Randnummer 62 des Urteils zugrunde zu liegen, wird aber nicht näher ausgeführt. (2) Indirekte Kollision zwischen der Entscheidung der Kommission über die Rechtswidrigkeit der Beihilfe (materielles Gemeinschaftsrecht) und Art. 2009 des italienischen Codice civile (nationales Verfahrensrecht). In diesem Fall ist die Kol38 39 40
Rs. C-119 / 05, Lucchini, Slg. 2007, I-6199 ff., Rn. 60 f. Rs. C-119 / 05, Lucchini, Slg. 2007, I-6199 ff., Rn. 32 und 33. Rs. C-232 / 05, Kommission / Frankreich, Slg. 2006, I-10071 ff.
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lision mittels Anwendung des Effektivitätsprinzips aufzulösen. Dies scheint den Randnummern 60 und 61 des Urteils zugrunde zu liegen. Allerdings zieht der EuGH keine weiteren Schlüsse, so dass offen bleibt, wie der EuGH den Fall im Lichte des Effektivitätsprinzips lösen würde.41 Generalanwalt Geelhoed hat in seinen Schlussanträgen für folgenden Lösungsvorschlag plädiert:42 „Daher ist ein nationales Gericht, das über die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung einer nationalen Behörde zur Durchführung einer Entscheidung der Kommission befindet, mit der die Rückforderung zu Unrecht ausgezahlter Beihilfen verlangt wird, verpflichtet, die innerstaatlichen Vorschriften, die die Rechtsfolgen eines rechtskräftig gewordenen Zivilurteils regeln, außer Anwendung zu lassen, wenn dieses Urteil den sich aus den Artikeln 87 EG und 88 EG ergebenden Verpflichtungen zuwiderläuft, um auf diese Weise die Wahrung der Gemeinschaftsvorschriften über staatliche Beihilfen in vollem Umfang zu gewährleisten.“
(3) Denkbar wäre auch noch eine direkte Kollision zwischen materiellem Gemeinschaftsrecht (Rechtswidrigkeit der Beihilfe) und materiellem nationalen Recht (Rechtmäßigkeit der Beihilfe). Denn in dem Urteil des zuletzt entscheidenden italienischen Gerichts, wonach die Beihilfe auszuzahlen sei, ist implizit auch die gemeinschaftsrechtliche Rechtmäßigkeit der Beihilfe festgestellt worden. Zwar weist der EuGH darauf hin, dass zur Vereinbarkeit der Beihilfe mit dem Gemeinschaftsrecht oder zur Gültigkeit der ersten der zwei Entscheidungen der Kommission keine Stellung genommen worden sei.43 Hier sollte man aber hinsichtlich des Sachverhalts eher dem Generalanwalt folgen, der darstellt, dass das italienische Gericht der Entscheidung der Kommission keine Beachtung schenken wollte. Auf die Begründung, mit der das Gericht meinte, das Gemeinschaftsrecht außer Anwendung lassen zu müssen, geht er nicht ein. Er schließt mit dem bemerkenswerten Satz:44 „Bei einer so flagranten Verletzung erscheint es mir nicht angebracht, der pädagogischen Versuchung nachzugeben, zu erklären, warum diese Begründung rechtlich unhaltbar ist.“
So gesehen würde der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts greifen, das nationale Urteil wäre unanwendbar. Auf diese Variante ist der EuGH aber nicht eingegangen. Hervorzuheben ist auch, dass der EuGH mit keinem Wort auf seine eigene Rechtsprechung zur Frage der Rechtskraft von nationalen Urteilen im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht eingeht.45 Die Rs. Köbler und Kapferer werden nicht Dies bemängelt auch Hatje, EuR 2007, 658. GA Geelhoed, Schlussanträge in der Rs. C-119 / 05, Lucchini, Slg. 2007, I-6199 ff., Rn. 87. 43 Rs. C-119 / 05, Lucchini, Slg. 2007, I-6199 ff., Rn. 58. 44 GA Geelhoed, Schlussanträge in der Rs. C-119 / 05, Lucchini, Slg. 2007, I-6199 ff., Rn. 66. 45 Anders GA Geelhoed, Schlussanträge in der Rs. C-119 / 05, Lucchini, Slg. 2007, I-6199 ff., Rn. 38 ff. 41 42
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erwähnt. Auch einen Hinweis auf das Urteil in der Rs. Eco Swiss hätte man erwartet, in dem der EuGH festgestellt hat, dass das Gemeinschaftsrecht es einem nationalen Gericht nicht gebiete, von der Anwendung von Vorschriften des nationalen Verfahrensrechts abzusehen, nach denen ein Schiedsspruch Rechtskraft erlangt, wenn gegen ihn nicht innerhalb einer angemessenen Frist ein Rechtsmittel erhoben wurde.46 Das hätte im vorliegenden Fall allerdings bedeutet, dass das Urteil ganz anders ausgefallen wäre. Denn die italienische Behörde hatte das nationale Urteil nicht durch alle Instanzen angefochten; deshalb wurde es rechtskräftig. Dass der EuGH dennoch der Entscheidung der Kommission zum Durchbruch verhalf, zeigt, dass er eine Durchbrechung der Rechtskraft im Einzelfall für möglich hält. Wann genau und unter welchen Voraussetzungen dies eintritt, bleibt aber teilweise offen. Denn die Vorranglösung bei einer direkten Kollision von Kompetenzvorschriften ist ja – wie sich aus dem Urteil ergibt – nur eine von mehreren Lösungen und hilft in manchen Fällen nicht weiter.47 Dies zeigt schon die Rs. Kapferer und ist in der Rechtsprechung des EuGH zur Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten (anstelle einer einfachen Vorranglösung) angelegt. All dies deutet darauf hin, dass das Lucchini-Urteil als Einzelfallentscheidung zu verstehen ist,48 was schon die außergewöhnliche Fallkonstellation nahe legt.49 Eine Verallgemeinerung kommt daher nur in gleichgelagerten Fällen der Kollision von Kompetenzen in Frage. Wie aber sind anders gelagerte Fälle zu lösen? Bei einer Gesamtschau aller Urteile bleiben nur die Lösungen mittels einer gemeinschaftskonformen Interpretation, die aber nicht immer möglich ist, und mittels des Effektivitätsprinzips übrig. Bezüglich letzterer Lösung werden in der Literatur zwei unterschiedliche Ansätze vertreten. Zum einen wird auf eine generelle Sicht abgestellt und die Effektivität u. a. als gewährleistet gesehen, wenn die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts generell möglich gemacht werde,50 wenn gemeinschaftsrechtliche Einwendungen effektiv gerichtlich geltend gemacht werden könnten51 oder wenn eine gemeinschaftsrechtliche Rechtsposition über eine realistische Chance der Rechtsverwirklichung verfüge.52 All dies kann natürlich dazu führen, dass sich das Gemeinschaftsrecht im Einzelfall unter Umständen nicht durchsetzt. Rs. C-126 / 97, Eco Swiss, Slg. 1999, I-3055 ff., Rn. 44 ff. Vgl. auch Germelmann, EWS 2007, 397. 48 Ebenso Germelmann, EWS 2007, 396; Kremer, EuR 2007, 489; ders., EuZW 2007, 729; letzterem zustimmend Weiß, DÖV 2008, 485, dort Fn. 74. 49 Kanitz / Wendel, EuZW 2008, 234, dort Fn. 35, sprechen von einem „Sonderfall, der wohl der geradezu ans Absurde grenzenden Fallkonstellation geschuldet ist“. 50 Scholz, DÖV 1998, 264. 51 Germelmann, EWS 2007, 393. 52 Niedobitek, VerwArch. 92 (2001), 75. 46 47
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Demgegenüber wird vertreten, dass die Anwendung staatlicher Verfahrensvorschriften mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar sei, wenn sie dessen Befolgung generell oder im Einzelfall behindern.53 Dies dürfte auch der – allerdings in einer anderen Fallkonstellation geäußerten – Meinung des EuGH entsprechen54 und eher gewährleisten, dass die Gemeinschaftsinteressen gebührend berücksichtigt werden. Dabei kommt es letztlich zu einer Abwägung dieser Interessen mit den Interessen des nationalen Verfahrensrechts und den Interessen beteiligter Individuen. Diesbezüglich wird in der Literatur teilweise darauf abgestellt, dass es nur dann zu einer Durchbrechung der Rechtskraft komme, wenn ein offenkundiger Gemeinschaftsrechtsverstoß vorliege. Damit wird ein Zusammenhang mit der Staatshaftungsrechtsprechung des EuGH hergestellt.55 Nach Ansicht einiger Autoren stellt auch die Lucchini-Entscheidung letztlich auf das Kriterium der Offenkundigkeit ab.56 Denn die Verletzung der Zuständigkeitsordnung im Beihilfenrecht durch das italienische Gericht sei lediglich als ein Unterfall eines offenkundigen Verstoßes anzusehen. Allerdings ist der EuGH nicht weiter auf diese Lösungsmöglichkeit eingegangen. Auch Generalanwalt Geelhoed geht – rechtsvergleichend argumentierend – von der Offenkundigkeit einer Rechtsverletzung aus, um eine Durchbrechung der Rechtskraft von Urteilen zu rechtfertigen.57 Diesem Ansatz kann durchaus zugestimmt werden. Er hat auch den Vorteil, dass zur Offenkundigkeit eines Verstoßes und zu den dabei zu berücksichtigenden Kriterien im Bereich der Staatshaftung – beginnend mit dem Urteil in der Rs. Brasserie du Pêcheur58 – schon etliche Urteile des EuGH vorliegen.59 In diesen Urteilen hat der EuGH die Voraussetzungen für einen offenkundigen Gemeinschaftsrechtsverstoß allgemein festgelegt. Er spricht zunächst von einem qualifizierten Verstoß, der dann vorliege, wenn ein Mitgliedstaat die Grenzen, die seinem Ermessen 53 Hatje, EuR 2007, 658; ders. (Fn. 17), S. 258; vgl. auch Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 423 (der allerdings einen ganz anderen Ansatz verfolgt). 54 Verb. Rs. C-430 / 93 und C-491 / 93, Van Schijndel und Van Veen, Slg. 1995, I-4705 ff., Rn. 19. 55 Z. B. Haratsch / Hensel, EuR 2007, 144 f.; Germelmann, EWS 2007, 397 f. Im Ansatz ähnlich Hatje, EuR 2007, 658, der auf die Verhältnismäßigkeit der Behinderung des Gemeinschaftsrechts durch eine staatliche Verfahrensvorschrift abstellt. Noch weitergehend Poelzig, JZ 2007, 864 f., die bei jeder Verletzung der Vorlagepflicht aus Art. 234 Abs. 3 EGV eine Rechtskraftdurchbrechung annehmen will. 56 Z. B. Haratsch / Hensel, EuR 2007, 145 unter Verweis auf Rn. 59 des Urteils. 57 GA Geelhoed, Schlussanträge in der Rs. C-119 / 05, Lucchini, Slg. 2007, I-6199 ff., Rn. 36 ff. 58 Verb. Rs. C-46 / 93 und C-48 / 93, Brasserie du Pêcheur, Slg. 1996, I-1029 ff. 59 S. z. B. Rs. C-392 / 93, British Telecommunications, Slg. 1996, I-1631 ff.; Rs. C-5 / 94, Hedley Lomas, Slg. 1996, I-2604 ff.; verb. Rs. C-283 / 94, C-291 / 94 und C-292 / 94, Denkavit, Slg. 1996, I-5085 ff.; Rs. C-224 / 01, Köbler, Slg. 2003, I-10239 ff.
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gesetzt sind, offenkundig und erheblich überschritten habe.60 Dies sei dann an Hand der Gesichtspunkte des Einzelfalls zu überprüfen, zu denen u. a. gehören: das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift, der Umfang des Ermessensspielraums, die Frage, ob der Verstoß vorsätzlich oder nicht vorsätzlich begangen wurde, die Entschuldbarkeit oder Unentschuldbarkeit eines etwaigen Rechtsirrtums, eine möglicherweise irreführende Verhaltensweise eines Gemeinschaftsorgans und das Vorliegen einer gefestigten einschlägigen Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte. 61 Der EuGH hat in einigen Urteilen außerdem – sofern er über alle notwendigen Angaben verfügte – auch dazu Stellung genommen, ob im konkreten Fall ein offenkundiger Gemeinschaftsrechtsverstoß vorliege.62
V. Betrachtet man den Lucchini-Fall unter dem Gesichtspunkt dieser Rechtsprechung, so gibt es keinen Zweifel, dass ein offenkundiger Gemeinschaftsrechtsverstoß vorliegt. Aufgrund der Tatsache, dass der EuGH aber nicht diesen Weg gegangen ist, sondern die Kompetenzlösung verbunden mit dem Vorrangsargument gewählt hat, und auf Grund der – oben angesprochenen und wohl anzunehmenden – Ablehnung der Übernahme der Kühne & Heitz-Kriterien auf die Frage der vom EuGH grundsätzlich bejahten Möglichkeit der Durchbrechung der Rechtskraft nationaler Urteile bleibt offen, ob die dargestellte Lösung von ihm auch akzeptiert wird. Auch wenn vieles dafür spricht, gibt es noch keine endgültige Sicherheit durch Rechtssicherheit. Dazu bedarf es noch weiterer Rechtsprechung des EuGH.
Verb. Rs. C-46 / 93 und 48 / 93, Brasserie du Pêcheur, Slg. 1996, I-1029 ff., Rn. 55. Verb. Rs. C-46 / 93 und 48 / 93, Brasserie du Pêcheur, Slg. 1996, I-1029 ff., Rn. 56 ff. 62 Z. B. Rs. C-392 / 93, British Telecommunictions, Slg. 1996, I-1631, Rn. 41 ff.; Rs. C-224 / 01, Köbler, Slg. 2003, I-10293 ff., Rn. 104 ff. – In beiden Fällen verneinte der EuGH einen offenkundigen Gemeinschaftsrechtsverstoß. 60 61
Zum Kooperationsverhältnis von Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte Von Udo Steiner
I. Das sog. Jurisdiktions-Dreieck Karlsruhe, Luxemburg und Straßburg 1. Europa der Richter Herbert Bethge ist wissenschaftlich ein weit gereister Mann. Zahlreiche juristische Landschaften hat er aufgesucht, große und kleine Räume des öffentlichen Rechts betreten. Die rechtswissenschaftliche Erschließung der Medienlandschaft ist seine ganz besondere Forschungsleistung. Sein Interesse, seine Kompetenz und seine Brillanz gehörten aber auch der Arbeit des Bundesverfassungsgerichts,1 das als höchstes deutsches Gericht bezeichnet wird, zugleich aber integriert ist in das deutsche und europäische Mehrebenensystem.2 „Europa der Richter“ hat man vor einiger Zeit justizkritisch in der deutschen Rechtswissenschaft formuliert,3 Regierung durch die europäischen Richter lautet der Vorwurf, und in der Tat prägt die Rechtsprechung des EuGH mit seiner entschlossenen integrationsfördernden Dynamik die Lebensverhältnisse in Deutschland nicht viel weniger als die der deutschen obersten Bundesgerichte. Der EuGH lässt Frauen zu den Waffen in der Bundeswehr zu,4 macht Fußballspieler zu Wanderarbeitnehmern in Europa5 oder öffnet „unreinem“ Bier den Zugang zu Bayern als dem Hüter des Reinheitsgebots seit 1516.6 Der quantitative Anteil des unmittelbaren oder mittelbaren Unionsrechts am deutschen Recht ist mit 1 : 1 anzusetzen. Das Gemeinschaftsrecht hat im Konfliktfall Vorrang vor dem deutschen Recht. Das hat der EuGH „forsch“ ent1 Hervorzuheben ist die intensive und eingehende Kommentierung zahlreicher wichtiger Vorschriften des BVerfGG in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Bethge, BVerfGG, Loseblatt Kommentar. 2 Siehe zum Verhältnis des BVerfG zum EuGH Bethge (Fn. 1), Vorb. Teil C, Rn. 291 ff. und zum EGMR § 90 Rn. 66 ff. 3 Vgl. Tomuschat, Festschrift Ress, 2005, S. 857. 4 EuGH NJW 2000, 498. 5 EuGH NJW 1966, 505. 6 EuGH NJW 1987, 1133.
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schieden7 und soll jetzt auch im Lissabonner Vertrag klargestellt werden. Die wichtigsten europäischen Richter judizieren in Luxemburg. Freilich ist ihre Rechtsprechung schon lange in der deutschen Kritik. In diesen Tagen hat Altbundespräsident Roman Herzog die deutschen Politiker und Juristen zu den Waffen gerufen. Sein Aufruf lautet: Stoppt den Europäischen Gerichtshof.8 Anfang des Jahres 2009 wird das BVerfG, wenn und nachdem es über die Klagen gegen den Reformvertrag von Lissabon entschieden hat, sich wohl der Frage annehmen, wie die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung durch den EuGH am Maßstab des deutschen Verfassungsrechts zu ziehen sind. Arbeitsrechtler wissen, dass es um den sog. Fall Mangold geht und um das Verbot der Altersdiskriminierung im europäischen Primärrecht.9
2. Die „externe“ Kontrolle des BVerfG durch den EGMR a) Vom EGMR in Straßburg, um den es in diesem Beitrag geht, kann man nicht behaupten, seine Rechtsprechung präge die Lebensverhältnisse in Deutschland. Er ist ein Gerichtshof, der vor allem die Fachleute beschäftigt. Seine Entscheidungen bewirken, unbeschadet ihrer Bindungswirkung, keinen Souveränitätsverlust Deutschlands. Die Bundesrepublik hat dem Europarat und dessen EGMR keine Hoheitsrechte übertragen, die unmittelbar in Deutschland zur Anwendung kommen. Die Deutschen kennen wahrscheinlich den Gerichtshof in Straßburg nicht, so wenig wie die Gerichtshöfe in Den Haag oder den Seegerichtshof in Hamburg; allerdings existieren auch angeblich 125 internationale unabhängige Spruchkörper. Mischt sich der Gerichtshof in das in Deutschland geltende Recht ein, so scheint es auf den ersten Blick eher um marginale Fragen zu gehen. Was wirklich wichtig ist in Deutschland in grund- und menschenrechtlichen Fragen, scheint vor allem das BVerfG zu erledigen. Ihm trägt man die Fragen von innen- und außenpolitischem Gewicht vor – vielleicht in dieser Breite und Tiefe einzigartig –, und auch solche ohne Gewicht. Allerdings kündigen schon seit langem Beschwerdeführer an, sie würden, falls das BVerfG ihrer Verfassungsbeschwerde nicht stattgebe, den Weg nach Straßburg gehen, und bitten rein vorsorglich, ihnen die Adresse des Menschenrechtsgerichtshofs mitzuteilen. b) Die vielleicht etwas periphere Rolle des EGMR könnte sich freilich ändern, wenn die EU – wie dies der Lissabonner Reformvertrag vorsieht (Art. 6 Abs. 2 S. 1 EUV)10 – der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) beitritt.11 Dazu Oeter, VVDStRL 66 (2007), 375 ff. Herzog / Gerken, FAZ Nr. 210 v. 8. 9. 2008, S. 8. 9 Die Verfassungsbeschwerde 2 BvR 2661 / 06 richtet sich unmittelbar gegen BAG NZA 2006, 1182, indirekt gegen den EuGH (NJW 2005, 3695). Dazu Steiner, NZA 2008, 73; ders., EuZA 2009 / 1. 10 BR-Drucks. 928 / 07. 11 Dazu jüngst A. Huber, Der Beitritt der EU zur EMRK, 2008. 7 8
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Diese Konvention – „völkerrechtliche Nebenverfassung“, auch „Europäische Menschenrechtsverfassung“ genannt – als europarechtlicher Mindeststandard würde dann für die Organe der EU und deren Rechts- und Einzelaktmaßnahmen unmittelbar gelten und nicht nur die Mitgliedstaaten völkerrechtlich binden, wenn sie europäisches Gemeinschaftsrecht umsetzen oder anwenden. Es ist dann auch die Feststellung möglich, dass eine Entscheidung des EuGH Menschenrechte der EMRK verletzt. Das BVerfG kann ein solches für das Gericht wenig schmeichelhafte Prädikat schon seit einiger Zeit lesen. Das Verhältnis zum EuGH ist insofern entspannter. Man geht sich aus dem Weg, weil man verschiedenen Rechtsordnungen dient. Der EuGH praktiziert anders als der EGMR keine externe Kontrolle der Rechtsprechung des BVerfG. Freilich nimmt der EGMR schon lange Einfluss auf die Praxis der deutschen Gerichte. Er hat beispielsweise auf der Grundlage des Art. 6 EMRK,12 der wohl praktisch wichtigsten Gewährleistung der Konvention, den Grundsatz der öffentlichen mündlichen Verhandlung gestärkt.13 Das BVerwG14 hat schon vor knapp zehn Jahren judiziert, das Normenkontrollgericht sei bei der Ausübung seines Verfahrensermessens nach § 47 Abs. 5 S. 1 VwGO verpflichtet, Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK mit dem Inhalt, den die Vorschrift in der Entscheidungspraxis des EGMR gefunden hat, vorrangig zu beachten.15 II. Das delikate Problem vorab: Der Streit um die Dauer der gerichtlichen Verfahren 1. Das menschenrechtliche Maß für die Dauer von Gerichtsverfahren Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK gibt bekanntlich jeder Person das Recht darauf, dass über Streitigkeiten bestimmter Art „von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren öffentlich und – dies ist hier wichtig – innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Der EMRK hat klargestellt, dass aus dieser Vorschrift – der „Star“ sozusagen unter den Gewährleistungen der Konvention – die Pflicht der Konventionsstaaten folgt, ihre Justiz so zu organisieren, dass die Gerichte ihrer Pflicht zur Entscheidung innerhalb angemessener Frist nachkommen können.16 Das BVerfG sieht in dieser Garantie im Anschluss an die Rechtsprechung des EGMR auch ein grundrechtlich-rechtstaatliches Gebot des deutschen Grundgesetzes, als Rechtsanspruch verankert in Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG17 – und beanstandet immer wieder überlange Gerichtsverfahren als Verstoß gegen diese Garantie.18 Siehe dazu Meyer-Ladewig, EMRK, Handkommentar, 2. Aufl. 2006, Erl. zu Art. 6. Dazu Meyer-Ladewig (Fn. 12), Rn. 61 ff. 14 BVerwGE 110, 203. 15 Siehe dazu auch Leitherer, NJW 2008, 1262. 16 Siehe dazu u. a. Grabenwarter, EMRK, 3. Aufl. 2008, S. 343 ff. und Bien / Guillaumart, EuGRZ 2004, 451. 17 Siehe BVerfGE 88, 118 (124) mit weiteren Nachweisen. 12 13
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2. Das BVerfG und sein „Zeitproblem“ In diesem Zusammenhang hat das BVerfG freilich ein Legitimitätsproblem. Es benötigt selbst für seine Entscheidungen über Verfassungsbeschwerden und über Richtervorlagen nach Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG nicht selten eine Zeitspanne, die aus der Sicht der Beteiligten und der Betroffenen nicht nachvollziehbar ist. Auch der Verfasser hat als Berichterstatter für das Sozialrecht im Ersten Senat des BVerfG Verantwortung tragen müssen für die überlange Dauer mancher Verfahren. Das „Zeitproblem“ empfindet man als besondere richterliche Last, Last also der vielen „alten“ Verfahren, häufig, wie im Rentenrecht oder dem Recht der Kriegsopferversorgung, auch der Verfahren alter Menschen. Deutschland hat bekanntlich ein Problem mit der Dauer von Verfahren, im Zivilprozess, im Strafverfahren19 und im Verwaltungsprozess20 teilweise auch. Lange dachte man, es gehe im Zusammenhang mit Art. 6 Abs. 1 EMRK nur um die italienische Krankheit. Das hat sich geändert. Bekanntlich rechnet der EGMR die Verweildauer von Verfahren beim BVerfG in die Berechnung der Gesamtdauer eines gerichtlichen Verfahrens ein. Denn der Rechtsweg im Sinne des Art. 35 EMRK ist regelmäßig in Deutschland erst erschöpft, wenn das Verfahren der Verfassungsbeschwerde abgeschlossen ist. Dies ist ständige Rechtsprechung des EGMR.21 Der Gerichtshof hat die Bundesrepublik Deutschland wiederholt auch mit Rücksicht auf die lange Verweildauer der Verfahren vor dem BVerfG zur Zahlung einer Entschädigung nach Art. 41 EMRK verurteilt, die übrigens aus dem Haushalt des BVerfG zu zahlen ist. In manchen Fällen ist es, um eine Verurteilung zu vermeiden, zu Vergleichen über eine Entschädigung gekommen.22
3. Die Sicht des BVerfG a) Das BVerfG hat diese Auslegung des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK – die also „seine“ Verfahrensdauer in die Gesamtrechnung integriert – in Bezug auf die Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG akzeptiert. Erfolgt eine solche Vorlage, so wird bekanntlich das Ausgangsverfahren ausgesetzt. Es findet bis zur Entscheidung des BVerfG keine Rechtsschutzgewährung statt. Es kommt also zu einer Art forensischen Boxenstop. Das BVerfG ist deshalb gehalten, den Fortgang des Ausgangverfahrens Siehe etwa BVerfGE 88, 118 (124); BVerfG NJW 2003, 2897. Siehe EGMR NJW 2008, 3273. 20 Vgl. dazu Steger, Überlange Verfahrensdauer bei öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten vor deutschen und europäischen Gerichten, 2008. 21 Dazu Grabenwarter (Fn. 16), S. 344. 22 Siehe zu den Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland seit 1978 Gusy, in: Vormbaum, Jahrb. d. Juristischen Zeitgeschichte, Bd. 8 (2006 / 2007), S. 117 ff.; speziell zur Verfahrensdauer etwa EGMR NJW 1997, 2809; EGMR NJW 1998, 2961. 18 19
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durch eine möglichst zügige Entscheidung über die Vorlage zu fördern. Dieser Pflicht nachzukommen, ist nicht einfach, vor allem in Dezernaten mit einer atypisch hohen Zahl von Richtervorlagen. Diese sind, vom Fall des § 81a BVerfGG abgesehen, „geborene“ Senatssachen. b) Dagegen hat das BVerfG die Einrechnung der Bearbeitungszeit für Verfassungsbeschwerden in den nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK maßgeblichen Zeitraum nicht akzeptiert. Es hat immer wieder auf den Charakter der Verfassungsbeschwerde als eines außerordentlichen Rechtsbehelfs hingewiesen, der kein Bestandteil des normalen und eigentlichen Gerichts- und Rechtsschutzverfahrens sei. Zwar hat der EGMR bei seiner Rechtsprechung zur angemessenen Verfahrensdauer die besondere Last des BVerfG durch die wiedervereinigungsbedingten Verfahren berücksichtigt. Diese Verfahren haben in den 1990er Jahren die Arbeit des Verfassungsgerichts geprägt, haben in manchen Dezernaten mehr als ein Drittel der Arbeitsenergie in Anspruch genommen. Die Rechtsprechung des EGMR hat aber – jedenfalls für die Bearbeitung von Verfassungsbeschwerden – zwei „Privilegien“ nicht angemessen berücksichtigt, die ein nationales Verfassungsgericht legitimerweise für sich in Anspruch nehmen kann: Es muss sich so viel Zeit für Entscheidungen von erheblichem Gewicht und oft großer Tragweite nehmen dürfen, wie es meint, dass es dazu benötigt. Und noch wichtiger: Der Berichterstatter muss entscheiden dürfen, welche Fälle er mit welcher Priorität zur Entscheidung in der Kammer und im Senat vorbereitet. Der Zeitpunkt des Eingangs einer Verfassungsbeschwerde oder einer Vorlage ist nur ein Gesichtspunkt von vielen für die Arbeits- und Entscheidungsplanung im Dezernat. Bei großen Verfahrenskomplexen, etwa denen der Pflegeversicherung,23 muss das BVerfG die Möglichkeit haben, zu sammeln, um über eine gewisse Breite und Tiefe der Sachverhalte und der zu entscheidenden Rechtsfragen zu verfügen. Zwar hat der EGMR bestätigt, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit insoweit eine besondere Gerichtsbarkeit sei.24 Vielleicht merkt man aber der Rechtsprechung des EGMR an, wenn es um die Bemessung des angemessenen Zeitraums für eine verfassungsgerichtliche Entscheidung geht, dass vielen Mitgliedern des EGMR die Erfahrungen einer intensiv in Anspruch genommenen Verfassungsgerichtsbarkeit fehlen, die in großem Umfang über die Verfassungsmäßigkeit staatlicher Hoheitsakte und insbesondere von Gesetzen zu entscheiden hat, dabei nicht wenige Entscheidungen zu treffen hat, die am Ende einer qualitativ hochwertigen und professionellen verfassungsrechtlichen Prüfung im Gesetzgebungsprozess und im fachgerichtlichen Verfahren stehen und deshalb auch beim BVerfG einen besonders hohen Aufwand veranlassen.
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Siehe BVerfGE 103, 197 – 293. EGMR NJW 2001, 213, Rn. 39.
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4. Das Problem des Rechtsbehelfs wegen Untätigkeit des Gerichts Nun ist das Problem der überlangen Verfahrensdauer in eine neue Dimension geraten, seitdem der EGMR von der Bundesrepublik Deutschland verlangt, prozessuale Vorkehrungen gegen die überlangen Gerichtsverfahren in Deutschland einzuführen.25 Er leitet die Pflicht zu solchen Vorkehrungen aus Art. 13 EMRK ab, dem Recht auf wirksame Beschwerde. Der Gerichtshof sieht einen solchen Rechtsbehelf nur dann mit der gebotenen Wirksamkeit ausgestattet, wenn der Beschwerdeführer mit ihm entweder die Entscheidung des zuständigen Gerichtes beschleunigen oder angemessene Wiedergutmachung für schon eingetretene Verzögerungen erhalten kann. Es sieht im Augenblick allerdings nicht so aus, als ob der deutsche Gesetzgeber auf diese Forderung des EGMR durch einen besonderen prozessualen Rechtsbehelf reagieren wird.26 Deshalb ist die im Raum stehende „Anregung“ aus Straßburg bedeutsam, ein solches Rechtsbehelfsverfahren richterrechtlich nach dem Vorbild der Plenarentscheidung des BVerfG vom 30. April 200327 zur Anhörungsrüge zu entwickeln,28 die der Gesetzgeber inzwischen in alle deutsche Prozessordnungen umgesetzt hat. Freilich darf man aber nach den Erfahrungen mit der sog. Anhörungsrüge, auch in der Praxis der Verfassungsbeschwerde, zweifeln, ob das Plenum eine solche Entscheidung noch einmal treffen würde.
III. „Großthemen“ im Verhältnis des BVerfG zum EGMR 1. Grundsätzliche Bemerkungen Als nationales Verfassungsgericht ist das deutsche BVerfG in einer ganz besonderen Position. Es kann im Wege der Urteilsverfassungsbeschwerde gegen letztinstanzliche Entscheidungen deutscher Gerichte angerufen werden. Eine solche Urteilsverfassungsbeschwerde kennen nur wenige Länder in Europa. Spanien und Slowenien gehören dazu. Da die Individualbeschwerde in Straßburg nur nach Erschöpfung des nationalen Rechtswegs zulässig ist und zu dieser Erschöpfung auch die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde gehört, sind die Karlsruher Urteile und Beschlüsse – anders als die der meisten nationalen Verfassungsgerichte in Europa – unmittelbar Gegenstand der Straßburger Entscheidungen.29 Die deutsche Urteilsverfassungsbeschwerde wiederum, aber auch die zahlreichen anderen Wege, auf denen eine Überprüfung deutscher staatlicher Hoheitsakte auf ihre Verfassungsmäßigkeit und insbesondere auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten erreicht EGMR NVwZ 2008, 289. Siehe dazu Roller, ZRP 2008, 122. 27 BVerfGE 107, 395. 28 Zur Frage der Kompensation rechtsstaatlicher Verfahrensverzögerungen siehe BGH NJW 2008, 2209 und dazu Ignor / Bertheau, NJW 2008, 2209. 29 Dazu Papier, VVDStRL 66 (2007), 425. 25 26
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werden kann, werfen die Frage auf, ob eine weitere Instanz zur Prüfung staatlicher Hoheitsakte am Maßstab der Menschenrechte erforderlich ist. Es fehlt in Deutschland aufgrund der vielen Wege zum BVerfG nicht an Verfassungsgerichtsschutz für die Grund- und Menschenrechte. Das Entdeckungsrisiko für verfassungswidrige Normen und Einzelakte ist groß. Für das BVerfG, mit seiner nach Breite und Tiefe der Judikate in der Welt ziemlich exponierten verfassungsgerichtlichen Praxis, ist die Feststellung des EGMR, es habe die Menschenrechte verletzt, z. B. im Zusammenhang mit Rechten von Kleingartenpächtern,30 nicht einfach hinzunehmen. Auch andere Rechtsstaaten wie die Schweiz empfinden solche Feststellungen als Kränkung. Das deutsche Rechtsschutzsystem ruht in sich. Es ist hoch spezialisiert, hat immer noch tiefe Rechtswege, darf sich als rechtsstaatlichgrundrechtlich durchdrungen bezeichnen. Es lässt sich nicht gerne „von außen“ belehren. b) Hinzu kommt ein strukturelles Problem. Das BVerfG prüft die bei ihm angegriffenen Hoheitsakte am Maßstab des Grundgesetzes, nicht am Maßstab der EMRK.31 Das Straßburger Gericht prüft am Maßstab des EMRK, nicht an dem des Grundgesetzes. Der EGMR kontrolliert also mit der Auslegung und Anwendung der EMRK die Beachtung eines rechtlichen Maßstabes durch das BVerfG, den dieses überhaupt nicht zu beachten hat. Dadurch entsteht eine eigenartige Asymmetrie des Prüfungsmaßstabs, die dem deutschen Rechtsschutzsystem fremd ist. Das Gericht, das in Deutschland die Entscheidung eines anderen nachgeordneten Gerichts überprüft und beanstandet, kann dies nur unter Anwendung eines Maßstabes tun, den das nachgeordnete Gericht selbst anzuwenden hatte. Die Grundrechte des deutschen Grundgesetzes und die Menschenrechte der EMRK sind aber nicht vollständig inhaltsgleich. Es gibt Unterschiede in der Bestimmung der Schutzbereiche, und es gibt Unterschiede in der Schrankentechnik und Schrankensystematik.32 Dieser partiellen Asymmetrie muss das deutsche BVerfG Rechnung tragen, indem es die Rechtsprechung des EGMR berücksichtigt. Vom Straßburger Gerichtshof seinerseits wird man Respekt vor den nationalen Verfassungsordnungen erwarten dürfen. Die Staatsrechtslehrer sprechen im letzteren Zusammenhang von einer sog. verfassungsschonenden oder verfassungskernverschonenden Interpretation durch den EGMR.33 c) Die angesprochene Problematik einer partiellen Asymmetrie der Maßstäbe könnte sich verschärfen, wenn die EU der EMRK beitritt und damit der Einzelfall – jedenfalls theoretisch – der Beurteilung am Maßstab des deutschen Grundgesetzes, der EU-Charta der Grundrechte als (künftiger) Bestandteil des Primärrechts Siehe EGMR EuGRZ 1997, 310. Siehe dazu Bethge (Fn. 1), Rn. 66 ff. 32 Siehe dazu Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2005, S. 47 ff.; Grabenwarter (Fn. 16), S. 109 ff.; konzentriert Herdegen, Europarecht, 10. Aufl. 2008, S. 32 ff. 33 Merli, VVDStRL 66 (2007), 414; siehe aber auch R. Hofmann, VVDStRL 66 (2007), 435. 30 31
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der EU und der EMRK unterliegt. Europa wird dann möglicherweise mit mehr Rechtsprechungskonflikten leben müssen als bisher.34 Die EMRK als völkerrechtlicher Vertrag der EU stünde zwischen ihrem Primärrecht und ihrem Sekundärrecht, während gleichzeitig die Unions-Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze auf Primärrechtsebene oder als Primärrecht im Falle der Gesamtratifikation des Lissabonner Vertrages stehen.35 Kommt es zu diesem Beitritt, hätte Deutschland dann eine Tiefe von neun Ebenen der Rechtsetzung insgesamt, vom europäischen Primärrecht bis zur Kommunalsatzung.
2. Einzelne Themenfelder a) Der Verfahrenskomplex Caroline von Hannover (ehemals Monaco) steht in Deutschland für eine Art Ping-Pong-Erfahrung zwischen BVerfG und EGMR, die die allgemeinen Gerichte in Deutschland und insbesondere der BGH nicht nur als Zuschauer bewundern durften und dürfen. Sie sind involviert. Der Verfahrenskomplex steht zugleich für die besondere Schwierigkeit der Rechtsfindung bei Konflikten, an denen zwei oder mehrere Personen beteiligt sind, die gleichermaßen grundrechts- und menschenrechtsberechtigt sind. Man hat, um schon durch die Begriffswahl den Respekt für die Lösung dieser Fälle beim Laien einzufordern, den Terminus „multipolare“ Rechtsverhältnisse erfunden. Die Konstellation ist bekannt: Was man dem einen grundrechtlich gibt, muss man dem anderen nehmen. Konkret: Ein Mehr an Pressefreiheit bedeutet ein Weniger an Schutz der Privatsphäre. Diese Grundproblematik wird auch immer wieder sichtbar, wenn der EGMR familienrechtliche Fragen zu klären hat. Dazu gibt ihm bekanntlich Art. 8 Abs. 1 EMRK viele Gelegenheiten. Nach dieser Vorschrift hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Familienlebens. Es ist klar, dass im Binnenbereich einer Familie die Verstärkung der Rechte des Einen nicht selten eine Verminderung der Rechte des Anderen bedeutet.36 (1) Man hat dem Gerichtshof37 aus deutscher Sicht vorgeworfen, er habe die sehr einseitige französische Lösung übernommen und sie zu einem für alle 47 Mitglieder der EMRK zu beachtenden Standard erklärt.38 Das erschwere die Anpassung erheblich. Es sind nachlesbar die deutschen Caroline-Berichterstatter 39 im Ersten Senat des BVerfG, die durch die Rechtsprechung des EGMR – um in der königlich-britischen Sprache zu formulieren – „nicht amüsiert“ waren. Offenbar 34 Dazu jetzt umfassend Sauer, Jurisdiktionskonflikte im Mehrebenensystem, 2008; vgl. auch konzentriert Michael / Morlok, Grundrechte, 2008, S. 63 ff. 35 Merli, VVDStRL 66 (2007), 453. 36 Siehe EGMR NJW 2004, 3397; EGMR NJW 2004, 3401. 37 EGMR NJW 2004, 2647. 38 So Grimm, VVDStRL 66 (2007), 427. 39 Siehe neben Grimm (Fn. 38) auch Hoffmann-Riem (nach FAZ Nr. 154 v. 4. 7. 2008, S. 40).
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sieht man in der deutschen Rechtsprechung einen Mittelweg zwischen Großbritannien, wo sich angeblich die Pressefreiheit regelmäßig durchsetzt, und der französischen Sicht. Ein europäisches Gericht wird also – und dies ist wohl ein institutionelles Problem – immer daraufhin beobachtet werden, ob es Bausteine der Rechtskultur eines Landes zu der aller Mitgliedsländer machen will. Hier wird vor allem die Herkunft des Berichterstatters in den Blick genommen. (2) Die Caroline-Entscheidung des EGMR vom 24. Juni 200440 kann durchaus Folge eben der partiellen Asymmetrie zwischen dem deutschen Verfassungsrecht und der EMRK sein. In Deutschland ist die Pressefreiheit ausdrücklich im Verfassungstext gewährleistet (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG), der Schutz der Privatsphäre ist dagegen weitgehend Verfassungsrichterrecht. In der EMRK ist die Privatsphäre im Verfassungstext geschützt (Art. 8 Abs. 1), die Pressefreiheit wird dagegen aus der Rechtsprechung zur allgemeinen Kommunikationsfreiheit abgeleitet (Art. 10 Abs. 1). Eine Parallele könnte die Grundrechtsrechtsprechung des EuGH sein: Die Grundrechte sind auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts vorerst nur Richterrecht, und sie müssen sich durchsetzen gegen die Grundfreiheiten des geschriebenen europäischen Primärrechts. Es bestehen hier also ähnliche Unterschiede im Rechtsrang. Vielleicht wird hier so etwas wie eine „strukturelle“ Unterlegenheit des Richterrechts gegenüber dem geschriebenen „legislativen“ Recht sichtbar.41 (3) Wichtiger im Zusammenhang des vorliegenden Beitrags ist aber ein anderer Aspekt. Das BVerfG war in seinem Beschluss vom 26. Februar 200842 im Anschluss an das EGMR-Urteil von 200443 offenbar bemüht, die Rechtsprechung des EGMR mit dem deutschen Grundgesetz zusammenzuführen. Den deutschen allgemeinen Gerichten und den Fachgerichten sollten aus der Rechtsprechungsdivergenz EGMR / BVerfG keine Loyalitätsprobleme erwachsen. Sie werden in eine größere Bewertungsfreiheit entlassen.44 Deshalb hat man den Beschluss des BVerfG auch als praktizierte Kooperation bewertet. Manchmal ist eben die Grenze zwischen großer Jurisdiktion und großer Diplomatie fließend. Der Fall Caroline steht im Übrigen für die Frage der Legitimität der europäischen Rechtsprechung schlechthin: Man könnte formulieren, der EGMR entscheide nicht „besser“ als das BVerfG, sondern einfach nur anders. Dies wirft die Frage auf: Bedarf es dazu eines besonderen und zusätzlichen Gerichts. b) Gegenwärtig liegen dem EGMR – um ein anderes mögliches „Großthema“ anzusprechen – sieben Individualbeschwerden45 aus Deutschland vor, die eine sehr alte und eine sehr strittige Frage des deutschen Rechtsschutzsystems betreffen: Art EGMR NJW 2004, 2647. Zu diesem Gesichtspunkt Steiner, Festschrift Maurer, 2001, S. 1013. 42 BVerfG JZ 2008, 627; dazu statt vieler Dörr, JuS 2008, 110 f. Hoffmann-Riem, NJW 2009, 20 (Berichterstatter); Starck, JZ 2008, 634 f. 43 Siehe Fn. 40. 44 Siehe aus der jüngeren Rspr. BGH NJW 2008, 3134, 3138 und 3141. 45 Siehe 18136 / 02; 425 / 03; 1620 / 03; 3825 / 04; 12986 / 04; 39775 / 04; 32741 / 06. 40 41
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und Ausmaß der Kontrolle kirchlicher Personalentscheidungen durch die staatlichen Gerichte in Deutschland, etwa der Verlust der missio canonica mit entsprechenden dienstrechtlichen Folgen für die Amtsträger, etwa Hochschullehrer, oder die Versetzung von Pfarrern in den sog. Wartestand. Die Beschwerden richten sich gegen Entscheidungen des BVerfG und des BGH. Den Verfahren wird aus deutscher Sicht eine sehr grundsätzliche Bedeutung beigemessen. Die Verfahren interessieren den Verfasser fachlich besonders, weil er seit Jahren mit nachhaltiger Erfolglosigkeit für mehr Rechtsschutz in kirchlichen Dienst- und Treueverhältnissen mit rechtswissenschaftlichen Argumenten geworben hat.46 Die gespaltene Rechtsschutzsituation in Deutschland kann nicht befriedigen. Die staatlichen Arbeitsgerichte stellen sich dem Rechtsschutzanliegen kirchlicher Arbeitnehmer. Dabei respektieren sie bei Auslegung und Anwendung des geltenden deutschen Arbeitsrechts den verfassungsrechtlich geschützten Selbstbestimmungsbedarf der Religionsgemeinschaften (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV). Die Verwaltungsgerichte sehen sich dagegen nicht – mit Billigung des BVerfG – durch die allgemeine staatliche Justizgewährleistungspflicht zur Eröffnung des Rechtsweges, vor allem bei den sog. Statusklagen, gehalten. Dagegen bietet der BGH inzwischen eine Art Willkürkontrolle. Man kann es sicher unterschiedlich sehen, ob die hier in Frage stehende Rechtsschutzproblematik die Stunde des EGMR werden soll.
IV. Die Idee einer Kooperation des BVerfG mit dem EGMR und die Frage der Bindungswirkung der Entscheidungen des EGMR in Deutschland 1. Zu den Verständnisweisen von „Kooperation“ Für die Entwicklung des Menschenrechtsschutzes in Europa hat man die Losung „Kooperation“ zwischen BVerfG und EGMR (und natürlich auch im Verhältnis zum EuGH) ausgegeben.47 Nun ist Kooperation zwischen Gerichten ein Begriff, den der Zweite Senat in die Rechtsterminologie mit breiter Aufmerksamkeit eingeführt hat.48 Kooperation kann es aber in einem strengen Sinne nicht zwischen unabhängigen, allein mit der Aufgabe objektiver Rechtsfindung befassten Gerichten geben. Gleichwohl ist die ausgegebene Losung richtig. a) Es geht um die wechselseitige Kenntnisnahme der Rechtsprechung, offen und durch Zitate belegt,49 oder verdeckt, wie häufig durch die Aufarbeitung der Rechtsprechung des EGMR in den dem Senat und den Kammern des BVerfG vorliegen46 Siehe Steiner, Festschrift Richardi, 2007, S. 979 mit Nachweisen zur Rechtsprechung in Deutschland. 47 Siehe dazu Limbach, EuGRZ 2000, 417; P.M. Huber, VVDStRL 60 (2001), 231 f. und Jaeger, EuGRZ 2005, 193. Vgl. jetzt auch Landau, DVBl. 2008, 1275 ff. 48 BVerfGE 89, 155 (175). 49 Etwa BVerfGE 74, 358 (374).
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den Voten des Berichterstatters, und um Respekt vor der Rechtsprechung des anderen Gerichts. Man hat sehr schön in diesem Zusammenhang von einem „Lernverbund“ gesprochen.50 b) Zur Kooperation gehört natürlich die Prüfung durch das BVerfG, inwieweit die Rechtsprechung des EGMR einen Beitrag zur Verfassungsrechtsfindung in Deutschland leistet,51 und auf der anderen Seite die Prüfung durch den EGMR, ob die Rechtsprechung des BVerfG Ansatz für eine gemeinsame Verfassungstradition der Mitgliedsstaaten der EMRK sein könnte, die für deren Auslegung relevant ist. Man hat gesagt, es sei für ein nationales Verfassungsgericht „einfacher“, sich der Rechtsprechung des EGMR anzupassen als ein internationales Gericht mit 47 Richtern der Rechtsprechung eines einzelnen Landes.52 Deshalb rät man den Deutschen und ihren Richtern zur „Kohärenzvorsorge“.53 In der Rechtsprechung des BVerfG vermeidet man jedenfalls den Konflikt mit einer schon bestehenden Rechtsprechung des EuGH. So lehnt sich z. B. die Entscheidung des Ersten Senats zur Sportwette54 deutlich an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs an.55 c) Das nationale Verfassungsgericht hat kooperationsfreundlich zu prüfen, welche Wege ihm offen stehen, die nationalen Gerichte zur Beachtung der Rechtsprechung des EGMR anzuhalten.56 Dies geschieht für die Jurisdiktionsebene des EuGH bekanntlich dadurch, dass das BVerfG dieses Gericht als gesetzlichen Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG sieht.57 Die willkürliche Unterlassung einer Richtervorlage nach Art. 234 EGV verletzt dieses Justizgrundrecht. Es wird noch anzusprechen sein, dass das BVerfG die Verfassungsbeschwerde auch genutzt sehen will, um der Rechtsprechung des EGMR in Deutschland Beachtung zu sichern. d) Der EGMR hat im Rahmen des Kooperationsverhältnisses zu prüfen, welche Entscheidungsräume der nationalen Verfassungsgerichtsbarkeit legitimerweise zu schonen sind, hat zu bedenken, ob in der Prüfungsdichte und der Prüfungstiefe bei der Kontrolle nationaler verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung Zurückhaltung geboten ist (sog. margin of appreciation-Doktrin). Interessant ist vielleicht im vorliegenden Zusammenhang die Feststellung, die der EGMR58 im Fall der sog. Merli, VVDStRL 66 (2007), 418. So klar BVerfGE 111, 307 (317): Konventionstext und Rechtsprechung des EGMR als Auslegungshilfe für die Bestimmung und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des GG. 52 Grimm, VVDStRL 66 (2007), 427. 53 Hoffmann-Riem, EuGRZ 2002, 473. 54 Siehe BVerfGE 115, 276. 55 Siehe zu dieser Rspr. des EuGH insb. Stein, Festschrift Hirsch, 2008, S. 187 ff. 56 Siehe dazu Heckötter, Die Bedeutung der EMRK und die Rechtsprechung des EGMR für die deutschen Gerichte, 2008. 57 Siehe BVerfGE 73, 339 (366 f.); 82, 159 (195); st. Rspr. 50 51
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Bosphorus-Airways-Entscheidung getroffen hat: Der vom Gemeinschaftsrecht vorgesehene Grundrechtsschutz ist zu dem für die Beschwerde relevanten Zeitpunkt als „äquivalent“ mit dem Schutzmechanismus der Konvention anzusehen. 2. Kooperation durch Entlastung Kooperation zwischen BVerfG und EGMR findet in einer sehr praktischen Weise dadurch statt, dass das BVerfG mit seiner Grundrechtsprüfung weithin die Menschenrechtsprüfung des EGMR erübrigt und ihn dadurch entlastet. Wenn und solange es tätig ist, kann das Subsidiaritätsprinzip den EGMR bei der Wahrung der Menschenrechte entpflichten.59 Dabei muss man akzeptieren, dass sich der EGMR auch der Anliegen solcher Individualbeschwerdeführer annimmt, deren Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe an fehlender Zulässigkeit gescheitert ist. Auch das BVerfG sieht sich von der Sachbehandlung einer Verfassungsbeschwerde nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil das deutsche Revisionsgericht die Revision oder die Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig verworfen hat. Dem liegt das zutreffende Prinzip zugrunde, dass der Zugang zur obersten Gerichtsinstanz nicht von dem nachgeordneten Spruchkörper mit prozessualen Mitteln abschließend bestimmt werden kann. Man hat im Schrifttum durchaus mit einer gewissen Berechtigung formuliert, das quasi freie Annahmeverfahren für Verfassungsbeschwerden beim BVerfG und die – rechtsstaatlich nicht unproblematische – Möglichkeit einer begründungslosen Abweisung der Verfassungsbeschwerde (§ 93a, § 93d Abs. 1 S. 2 BVerfGG) lasse den EGMR in Straßburg als „ein Regulativ für den Individualrechtsschutz“ erscheinen.60 3. Zur Bindungswirkung der Entscheidungen des EGMR a) Als Testfall für die Bereitschaft des BVerfG zur Kooperation mit dem EGMR hat man den Fall „Görgülü“ gesehen.61 In der Sache ging es um das Sorgerecht eines türkischen Vaters für sein in Sachsen-Anhalt lebendes Kind.62 Seine gerichtliche Durchsetzung löste ein langes, entscheidungsreiches Verfahren aus, dessen Einzelheiten hier nicht interessieren. Es ging dabei auch um ein Gehorsamsproblem zwischen dem EGMR63 und deutschen Gerichten. Der Beschluss des Zweiten Senats vom 14. Oktober 200464 wird heute überwiegend als ein Schritt in Richtung einer rechtlich gesicherten Respektierung des EGMR EuGRZ 2007, 662; dazu etwa Winkler, EuGRZ 2007, 641. Dazu Tomuschat, VVDStRL 66 (2007), 431. 60 So Bausback, VVDStRL 66 (2007), 439. 61 BVerfGE 111, 307. 62 Der Vater hat inzwischen nach langjährigen Verfahren das Sorgerecht für seinen Sohn erhalten. Siehe SZ Nr. 243 v. 18. / 19. 10. 2008, S. 6. 63 EGMR, Urt. v. 26. 2. 2004, No. 74969 / 91; dazu u. a. Ruffert, EuGRZ 2007, 245. 58 59
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Urteils des EGMR in der deutschen Rechtsordnung gesehen. Die Aussage des BVerfG ist klar: Innerstaatlich werden durch entsprechende Konventionsbestimmungen in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz sowie durch rechtsstaatliche Anforderungen (Art. 20 Abs. 3, 59 Abs. 2 i. V. m. Art. 19 Abs. 4 GG) alle Träger der deutschen öffentlichen Gewalt grundsätzlich an die Entscheidungen des Gerichtshofs in Straßburg gebunden.65 Auch die deutschen Gerichte unterliegen einer Pflicht zur Berücksichtigung der Entscheidungen des Gerichtshofs. Die dann im Beschluss des Senats folgenden Feststellungen werden zwar teilweise als Relativierung dieser Grundsatzposition interpretiert. Die Formel „berücksichtigen“ wirkt eher weich und flexibel, jedenfalls in den Ohren der deutschen Planungsrechtler, die klar zwischen „beachten“ und „berücksichtigen“ unterscheiden. Man muss aber zur Kenntnis nehmen, dass sich die Entscheidung des BVerfG auf komplexe Abwägungsvorgänge deutscher Gerichte in sog. multipolaren Rechtsverhältnissen bezieht.66 Auch hat man zu Recht darauf hingewiesen, dass bei dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt mit seinem spezifischen Wandel der maßgeblichen tatsächlichen Verhältnisse – es ging um das Sorgerecht des Vaters in Konkurrenz zu anderen Personen – eine sog. Eins-zu-Eins-Umsetzung der EGMREntscheidung eben nicht möglich sei.67 Deshalb kann man mit gutem Grunde die Feststellungen des Görgülü-Beschlusses des Zweiten Senats insgesamt als EGMRfreundlich werten.68 b) Insbesondere ist völlig zu Recht darauf hingewiesen worden, dass die europafreundliche Innovation des Beschlusses des BVerfG in der Eröffnung einer Verfassungsbeschwerde mit einem besonderen Rechtsschutzziel bestehe.69 Diese Verfassungsbeschwerde kann darauf gestützt werden, staatliche Organe hätten eine Entscheidung des Gerichtshofs missachtet oder nicht berücksichtigt. Dabei wird das Grundrecht im engen Zusammenhang mit dem im Rechtsstaatprinzip verankerten Vorrang des Gesetzes gesehen, nach dem alle staatlichen Organe im Rahmen ihrer Zuständigkeit an Gesetz und Recht gebunden sind. Damit ist der rechtsstaatliche Kreis in Bezug auf die EMRK geschlossen. Er beginnt mit der Phase der deutschen Nachkriegsrechtsgeschichte, in der der Beitritt der Deutschen zur EMRK vor allem außenpolitische Bedeutung hatte als Signal Deutschlands für die Rückkehr in die 64 BVerfGE 111, 307; dazu statt vieler Cremer, EuGRZ 2004, 683; Frowein, Festschrift Delbrück, 2005, S. 279; Gusy (Fn. 22), S. 122 ff.; Papier, EuGRZ 2006, 3. 65 BVerfGE 111, 307 (322 f.). Allgemein: Heer-Reißmann, Die Letztentscheidungskompetenz des EGMR in Europa, 2008. 66 Zum europäischen Schutz von Freiheitsrechten in sog. mehrpoligen Rechtsverhältnissen Hoffmann-Riem, EuGRZ 2006, 492. 67 Gusy (Fn. 22), S. 123 f. 68 Gusy (Fn. 22), S. 124: Das BVerfG hat mit der Görgülü-Entscheidung „das von ihm selbst geforderte Kooperationsverhältnis der Gerichte im Ansatz sowohl verfahrensrechtlich als auch materiell-rechtlich eingelöst“. Ähnlich z. B. Streinz, VVDStRL 66 (2007), 437 und Oeter, VVDStRL 66 (2007), 456. 69 BVerfGE 111, 307 (329 ff.).
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internationale Staatengemeinschaft. 70 Es dominieren aber zunächst die Grundrechte im Grundgesetz in ihrer Auslegung durch das BVerfG. In den 1970er Jahren werden die Menschenrechte der EMRK entdeckt. Sie entwickeln sich zu einer Rechtsquelle, die neue und zusätzliche Chancen des Menschenrechtsschutzes eröffnet. Jetzt verschafft das BVerfG den Urteilen des EGMR richterrechtliche Wirkungskraft in Deutschland, eben nicht zuletzt durch die Eröffnung der Verfassungsbeschwerde. Diese Rechtsprechung erinnert an die Bereitschaft des BVerfG, den staatlichen Richter auf die Einhaltung der Pflicht zur Vorlage an den EuGH nach Art. 234 EGV zu kontrollieren. Man soll im Zusammenhang mit der Bereitschaft des BVerfG zur Kooperation mit dem Gerichtshof in Straßburg die deutsche Rolle nicht überschätzen. Es soll insbesondere nicht behauptet werden, ein gutes deutsches Kooperationsbeispiel mache immer europäische Schule. Aber ein schlechtes deutsches Beispiel hat in jedem Falle eine „gute“ Chance zur Nachahmung in anderen Teilen Europas.
V. Wozu und zu welchem Ende benötigt Deutschland einen EGMR? Gleichwohl darf am Ende des Beitrags die vielleicht etwas provokante Frage stellen: Wozu und zu welchem Ende benötigt Deutschland einen EGMR?
1. Das Problem „nationaler Befangenheit“ innerstaatlicher Gerichte Hervorgehoben sei zunächst ein Aspekt, der historisch abgeschlossen erscheint, aber unverändert grundsätzlicher Natur ist. Es geht um die Stärke einer internationalen Gerichtsbarkeit, die einen menschenrechtlichen Blick auf solche innerstaatliche Gerichtsentscheidungen wirft, die unter dem Verdacht nationaler Befangenheit stehen könnten. Gemeint sind Verfassungsprobleme vor allem der deutschen Vereinigung von 1990.71 Drei Sachverhalte sind in diesem Zusammenhang im Blickfeld. Der erste war die Verfassungsmäßigkeit der Strafbarkeit des Befehls der DDR zum Schießen an der Mauer und der Vollzug dieses Befehls. Der zweite Sachverhalt betraf die Verfassungsmäßigkeit der sog. Bodenreform in der sowjetisch besetzten Zone. Der dritte, auch sehr komplexe Sachverhalt bezog sich auf die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Überleitung von Anwartschaften und Ansprüchen aus dem Rechtssystem der DDR in das gesamtdeutsche Rentenversicherungssystem. In allen drei Fällen hat der Europäische Gerichtshof die Linie des deutschen Verfassungsgerichts bestätigt. Das war für das Verfassungsgericht nicht nur eine erfreuliche, sondern auch eine enorm wichtige Erfahrung. Damit hat ein internationales Gericht in einer Frage vielleicht von nationaler Befangenheit entschieden, 70 Siehe dazu Gusy (Fn. 22), S. 105ff. und eingehend Frowein, in: Isensee / Kirchhof, HStR, Bd. VII, 1992, § 180, S. 731 ff. 71 Zum Folgenden Steiner, VVDStRL 66 (2007), 426.
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dass das Bundesverfassungsgericht zwar im Westen der Bundesrepublik liegt, aber kein westdeutsches Gericht ist. Die genannten Entscheidungen haben das BVerfG vom Vorwurf der Siegerjustiz entscheidend entlastet. Lägen diese Entscheidungen des Gerichtshofs nicht vor, wäre ein solcher Vorwurf vielleicht nach wie vor in Deutschland im Raum.
2. Der EGMR und die Qualitätsfrage Man darf am Ende dieses Beitrags mit dem gebotenen Respekt die Qualitätsfrage in Bezug auf den EGMR stellen. a) Kein Zweifel kann an der Unabhängigkeit der Richter bestehen, auch wenn deren Amtszeit nur sechs Jahre dauert und eine Wiederwahl möglich ist. Die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers, Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts nach zwölf Jahren Amtszeit eine Wiederwahl nicht zu ermöglichen, hat der Verfasser immer als einen äußerst effektiven Beitrag zu deren Unabhängigkeit empfunden. Es kann keine Frage sein, dass eine Verlängerung der Amtszeit der europäischen Richter, wie sie auch geplant ist, deren Status stärken wird. b) Die Qualität der Rechtsprechung des BVerfG erwächst, so es sie gibt, aus der Qualität der fachgerichtlichen Rechtsprechung und insbesondere der der obersten Bundesgerichte und wohl auch aus einer außerordentlich produktiven deutschen Rechtswissenschaft, die die verfassungsgerichtlichen Entscheidungen vorbereitet und nachbereitet. Eine solche Qualitätssicherung fehlt dem EGMR. Hier stellt sich das wohl typische Problem eines internationalen Gerichts. Manche deutsche Autoren wollen solch ein Problem auch bei der Rechtsprechung des EuGH bemerken. Man hat formuliert:72 Nationale Gerichte operieren in einem Kontext, der nicht allein durch das geltende Recht, sondern auch durch eine je eigene Rechtstradition und Rechtskultur bestimmt ist, die richterliche Verhaltsstandards, Argumentationsund Begründungsstile, Grenzverläufe zwischen rechtsetzenden und rechtsprechenden Instanzen u. a. präjudiziert. Dieser Kontext, der meist unbemerkt bleibt, aber dafür umso nachhaltiger wirkt, zieht der richterlichen Praxis Grenzen, die nicht wenig zur Akzeptanz nationaler Entscheidungen beitragen. Im Übrigen sind die nationalen Gerichte in einem funktionierenden Rechtsstaat in einen Rechtsdiskurs eingebunden, der sie in steter Verbindung mit der Rechtsgemeinschaft hält. Einen vergleichbaren kulturellen Kontext und einen ähnlich dichten Rechtsdiskurs gibt es auf der internationalen Ebene nicht.73 Ein Aspekt sei hinzugefügt: Es ist für den nationalen Richter schwer vorstellbar, dass die Beratung eines internationalen Gerichts auf der Grundlage einer Fremdsprache gleichermaßen differenziert und nuanciert erfolgen kann wie bei nationalen Richtern in deren Muttersprache und in deren Rechtsordnung. Jurisprudenz 72 73
Grimm, VVDStRL 66 (2007), 427 ff. Ende des Zitats von Fn. 72.
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und Jurisdiktion sind eben Text-Metiers, sprachbasierte Aktivitäten. Vielleicht müssen sich auch internationale Richter weniger Gedanken um die Folgen ihrer Entscheidungen für den nationalen Raum machen. Es gibt den Vorwurf an den EuGH, dass man dessen Entscheidungen die fehlende Rücksichtnahme auf solche Folgen, etwa im Steuerrecht oder im Arbeitsrecht, „ansehe“.74 Zu wenig werde vom Instrument des entscheidungsflankierenden Vertrauensschutzes jedenfalls bei der Kontrolle von nationalen Rechtsvorschriften auf ihre Vereinbarkeit mit Gemeinschaftsrecht Gebrauch gemacht. Keinesfalls soll hier die zum Schluss gestellte Frage mit der Begründung verneint werden, wer ein BVerfG in Karlsruhe habe, benötige einen MenschenrechtsGerichtshof in Straßburg nicht mehr. Sie ist hier nicht zu beantworten, weil sie schon beantwortet ist: Es existiert der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, und das deutsche BVerfG kooperiert mit ihm zu Recht.
74
Zum Problem siehe z. B. Waldhoff, EuR 2006, 615.
Veröffentlichungen Prof. Dr. Herbert Bethge I. Monographien 1.
Der verfassungsrechtliche Standort der „staatlich gebundenen“ Berufe, Diss. Köln 1968, XXXVII, 204 S.
2.
Stern, Klaus / Bethge, Herbert, Funktionsgerechte Finanzierung der Rundfunkanstalten durch den Staat, Schriftenreihe des Instituts für Rundfunkrecht an der Universität zu Köln, Bd. 1, C.H. Beck, München 1968, 57 S.
3.
Stern, Klaus / Bethge, Herbert, Öffentlich-rechtlicher und privatrechtlicher Rundfunk, Beiträge zum Rundfunkrecht, Bd. 13, Verlag Metzner, Frankfurt und Berlin 1971, 136 S.
4.
Stern, Klaus / Bethge, Herbert, Die Rechtsstellung des Intendanten der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, Schriftenreihe des Instituts für Rundfunkrecht an der Universität zu Köln, Bd. 12, C.H. Beck, München 1972, 125 S.
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Stern, Klaus / Bethge, Herbert, Anatomie eines Neugliederungsverfahrens, Studien zum öffentlichen Recht und zur Verwaltungslehre, Bd. 16, Verlag Franz Vahlen, München 1977, 268 S.
6.
Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, Studien zum Öffentlichen Recht und zur Verwaltungslehre, Bd. 17, Verlag Franz Vahlen, München 1977, 437 S.
7.
Staatshaftung für den staatsfreien Rundfunk?, Beiträge zum Rundfunkrecht, Bd. 18, Verlag Metzner, Frankfurt und Berlin 1978, 103 S.
8.
Verfassungsrechtsprobleme der Reorganisation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, Beiträge zum Rundfunkrecht, Bd. 20, Verlag Metzner, Frankfurt und Berlin 1978, 109 S.
9.
Die verfassungsrechtliche Problematik der Zulassung von Rundfunkveranstaltern des Privatrechts, Schriftenreihe des Instituts für Rundfunkrecht an der Universität zu Köln, Bd. 29, C.H. Beck, München 1981, 148 S.
10.
Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen nach Art. 19 Abs. 3 Grundgesetz, Schriftenreihe der Universität Passau, Bd. 3, Passavia Universitätsverlag, Passau 1985, 136 S.
11.
Rundfunkfreiheit und privater Rundfunk, Beiträge zum Rundfunkrecht, Bd. 32, Verlag Metzner, Frankfurt und Berlin 1985, 137 S.
12.
Die Passivlegitimation für Gegendarstellungsbegehren im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, ZDF Schriftenreihe, Heft 35, ZDF, Mainz 1987, 80 S.
13.
Der verfassungsrechtliche Standort des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, Beiträge zum Rundfunkrecht, Bd. 36, Verlag Metzner, Frankfurt und Berlin 1987, 136 S.
670
Veröffentlichungen Prof. Dr. Herbert Bethge
14.
Rundfunkfreiheit und öffentlich-rechtlicher Organisationsvorbehalt, UFITA-Schriftenreihe, Bd. 76, Nomos, Baden-Baden 1987, 153 S.
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Grundprobleme einer Spaltung der Rundfunkgebühr, ZDF Schriftenreihe, Heft 38, ZDF, Mainz 1990, 71 S.
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Landesrundfunkordnung und Bundeskartellrecht, Beiträge zum Rundfunkrecht, Bd. 45, Nomos, Baden-Baden 1991, 73 S.
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Die Zulässigkeit der zeitlichen Beschränkung der Hörfunkwerbung im NDR, Beiträge zum Rundfunkrecht, Bd. 46, Nomos, Baden-Baden 1992, 113 S.
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Die Verfassungsrelevanz des föderalen Rundfunkfinanzausgleichs. Zur Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im kooperativen Bundesstaat. Rechtsgutachten, Schriftenreihe des Instituts für Europäisches Medienrecht, Bd. 3, Jehle-Rehm Verlag, München / Berlin 1992, 91 S.
19.
Die verfassungsrechtliche Position des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der dualen Rundfunkordnung, Rechtsgutachten erstattet im Auftrag von ARD und ZDF, Beiträge zum Rundfunkrecht, Bd. 47, Nomos, Baden-Baden 1996, 119 S.
20.
Der verfassungsrechtliche Status der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien, Rechtsgutachten erstellt im Auftrag der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien, BLM-Schriftenreihe, Band 57, Verlag Reinhard Fischer, München 1999, 91 S.
21.
Rechtsberatung im privaten Rundfunk, Rechtsgutachten erstattet auf Ansuchen von SAT.1, unter Mitwirkung von Christian von Coelln, Studien und Materialien zum Öffentlichen Recht, Bd. 10, Peter Lang Verlag, Frankfurt / Main 2000, 101 S.
22.
Verfassungsrecht. Eine Einführung für Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, Informatiker und Kulturwirte, Verlag Franz Vahlen, München 2001, 157 S.
23.
Verfassungsrecht. Eine Einführung für Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, Informatiker, Kulturwirte und Teilnehmer der Bachelor- und Masterstudiengänge, Verlag Franz Vahlen, München, 2. Aufl. 2004, 194 S.
24.
Verfassungsrecht. Eine Einführung für Studenten des Verfassungsrechts als Nebenfach, Verlag Franz Vahlen, München, 3. Aufl. 2007, 198 S.
II. Aufsätze 1.
Die Parteienfinanzierung in den Gemeinden, in: Der Städtetag 1966, S. 628 – 632
2.
Gemeinden als Grundrechtsträger, in: Der Städtetag 1970, S. 66 – 69
3.
Rechtsfragen der Mitbestimmung im Bereich des Rundfunks, in: UFITA Bd. 58 (1970), S. 117 – 140
4.
Verwaltungsrechtsweg und Kunsturheberrechtsgesetz, in: GRUR 1971, S. 507 – 511
5.
Grundrechtsschutz im Bund-Länder-Streitverfahren, in: Der Staat Bd. 10 (1971), S. 481 – 511
6.
Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Mehrwertbesteuerung des Gebührenaufkommens der öffentlich- rechtlichen Rundfunkanstalten, in: JR 1971, S. 492 – 498
Veröffentlichungen Prof. Dr. Herbert Bethge
671
7.
Der Umfang des Prüfungsmaßstabs des Bundesverfassungsgerichts im Verfahren der kommunalen Verfassungsbeschwerde, in: DÖV 1972, S. 155 – 160
8.
Abschied von der Zweistufentheorie, in: JR 1972, S. 139 – 146
9.
Rechtswegprobleme des öffentlich-rechtlich strukturierten Rundfunks, in: VerwArch. Bd. 63 (1972), S. 152 – 182
10.
Probleme des Zitiergebots des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG, in: DVBl. 1972, S. 365 – 371
11.
Die Kompetenzabgrenzung zwischen Bundes- und Landesverfassungsgerichtsbarkeit bei der kommunalen Verfassungsbeschwerde, in: DÖV 1972, S. 336 – 343
12.
Zweigleisigkeit des Rechtswegs bei der Benutzung kommunaler öffentlicher Einrichtungen, in: SKV 1972, S. 123 – 128
13.
Zusatzversorgungskassen der öffentlichen Hand und ordentlicher Rechtsweg, in: SGb 1972, S. 205 – 210
14.
Zur inneren Rundfunkfreiheit, in: JR 1972, S. 493 – 498
15.
Ein Geisterprozeß in Karlsruhe, in: NJW 1973, S. 1483 – 1484
16.
Die Aktualisierung der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie durch die Verfassungsgerichtsbarkeit bei der Überprüfung staatlicher Neugliederungsgesetze, in: Die Verwaltung Bd. 6 (1973), S. 403 – 433
17.
Redaktionsstatute und Mitbestimmung im Rundfunk, in: UFITA Bd. 69 (1973), S. 143 – 162
18.
Bürgerbefragung bei der kommunalen Gebietsreform, in: Der Landkreis 1974, S. 129 – 130
19.
Die Effektivität des Anhörungsrechts der kommunalen Gebietskörperschaften bei der kommunalen Neugliederung, in: Städte- und Gemeinderat 1974, S. 387 – 390
20.
Rechtsfragen der Rundfunkaufsicht, in: Die Verwaltung Bd. 7 (1974), S. 439 – 463
21.
Das Homogenitätsprinzip bei der Neugliederung des kommunalen Raumes, in: Städteund Gemeinderat 1974, S. 229 – 234
22.
Probleme verwaltungsrechtlicher Organstreitigkeiten, in: Die Verwaltung Bd. 8 (1975), S. 459 – 483
23.
Das Hausrecht der öffentlichen Hand im Dilemma zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht, in: Die Verwaltung Bd. 10 (1977), S. 313 – 332
24.
Probleme der Staatsaufsicht über Gemeinschaftseinrichtungen der Länder, in: RuF 1977, S. 41 – 55
25.
Rechtsschutzprobleme eines rundfunkspezifischen Pluralismus, in: UFITA Bd. 81 (1978), S. 75 – 96
26.
Zur Grundrechtssubjektivität der öffentlichen Hand, in: JA 1978, S. 533 – 540
27.
Vermögensauseinandersetzung nach der Gebietsreform, in: BayVBl. 1978, S. 659 – 661
28.
Grundrechtsprobleme einer Zwangsmitgliedschaft in Verbänden des öffentlichen Rechts, in: JA 1979, S. 281 – 287
672
Veröffentlichungen Prof. Dr. Herbert Bethge
29.
Grundrechtsträgerschaft juristischer Personen, in: AöR Bd. 104 (1979), S. 54 – 111, S. 265 – 298
30.
Ausgewogenheit und Programmbindung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, in: AfP 1979, S. 286 – 289
31.
Innere Pressefreiheit – Gesellschaftspolitische Aufgabe oder Verfassungsproblem?, in: AfP 1980, S. 13 – 16
32.
Grundfragen innerorganisationsrechtlichen Rechtsschutzes, in: DVBl. 1980, S. 309 – 315
33.
Zwischenbilanz zum verwaltungsrechtlichen Organstreit, in: DVBl. 1980, S. 824 – 825
34.
Zum Begriff der Selbstverwaltung in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, in: VSSR Bd. VIII (1980), S. 237 – 259
35.
Grundrechtsverwirklichung und Grundrechtssicherung durch Organisation und Verfahren, in: NJW 1982, S. 1 – 7
36.
Aktuelle Aspekte der Verfassungsgarantie der kommunalen Selbstverwaltung, in: Die Verwaltung Bd. 15 (1982), S. 205 – 225
37.
Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, in: NJW 1982, S. 2145 – 2150
38.
Freiheit und Gebundenheit der Massenmedien, in: DVBl. 1983, S. 369 – 377
39.
Das Persönlichkeitsrecht als Grundrecht. Ausstrahlungen im Bereich von Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit, in: UFITA Bd. 95 (1983), S. 251 – 272
40.
Parlamentsvorbehalt und Rechtsatzvorbehalt für die Kommunalverwaltung, in: NVwZ 1983, S. 577 – 580
41.
Der verfassungsrechtliche Stellenwert der Werbung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, in: Media Perspektiven 1983, S. 690 – 700
42.
Verfassungsrechtliche Aspekte der künftigen Medienordnung, in: Film und Recht 1984, S. 75 – 82
43.
Die Grundrechtsgewährleistungen des Art. 5 GG in der Kommentierung von Ingo v. Münch, in: AfP 1984, S. 22 – 27
44.
Zur „Meinungsfreiheit“ der Bundesregierung, in: NJW 1985, S. 721
45.
Verfassungsrechtsprobleme der Privatfunkgesetzgebung, in: JZ 1985, S. 308 – 314
46.
Verfassungsgerichtsbarkeit im Bundesstaat, in: BayVBl. 1985, S. 257 – 263
47.
Die verfassungsrechtliche Problematik der Grundpflichten, in: JA 1985, S. 249 – 259
48.
Grundrechtsschutz von kommunalem Eigentum?, in: NVwZ 1985, S. 402 – 403
49.
Die Grundrechtssicherung im föderativen Bereich, in: AöR Bd. 110 (1985), S. 169 – 218
50.
Aktuelle Probleme der Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat Bd. 24 (1985), S. 351 – 382
51.
Das Recht der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zur Herausgabe von Programmzeitschriften, in: JZ 1986, S. 366 – 370
52.
Die Verfassungsmäßigkeit des Bayerischen Medienerprobungs- und -entwicklungsgesetzes (MEG), in: ZUM 1986, S. 255 – 264
Veröffentlichungen Prof. Dr. Herbert Bethge
673
53.
Die verfassungsrechtliche Problematik des öffentlich-rechtlichen Trägerschaftsvorbehalts in Art. 111a Abs. 2 Satz 1 BV vor dem Hintergrund des Grundgesetzes, in: ZUM 1986, S. 357 – 365
54.
Die rechtliche Ordnung des Rundfunks und sein Verhältnis zu anderen Medien, in: DVBl. 1986, S. 859 – 868
55.
Zur Frage einer staatlichen Bestands- und Entwicklungsgarantie für den öffentlichrechtlichen Rundfunk, in: JöR Bd. 35 (1986), S. 103 – 124
56.
Rundfunkfreiheit in der Perspektive von Bundes- und Landesverfassungsgerichtsbarkeit – Anmerkungen zum Urteil des BVerfG vom 4. November 1986 und zur Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vom 21. November 1986, in: ZUM 1987, S. 199 – 208
57.
Probleme des Gegendarstellungsrechts im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, in: DÖV 1987, S. 309 – 317
58.
Volkslegitimation für Rundfunkräte?, in: DVBl. 1987, S. 663 – 666
59.
Verfassungstreue für private Rundfunkveranstalter?, in: NJW 1987, S. 2982 – 2984
60.
La Radiodiffusione Privata Nella Repubblica Federale Di Germania, in: Rivista trimestrale di diritto pubblico 1987, S. 887 – 906
61.
Zur Existenz und Relevanz eines Finanzgewährleistungsanspruchs einer Rundfunkanstalt gegen den Staat, in: DÖV 1988, S. 97 – 102
62.
Die Demonstrationsfreiheit – ein mißverstandenes Grundrecht? – Zum Stellenwert des Grundrechts der Demonstrationsfreiheit in der freiheitlich parlamentarischen Demokratie, in: ZBR 1988, S. 205 – 211
63.
Die Beteiligung von Vertretern kommunaler Gebietskörperschaften in Organisationseinheiten des privaten Rundfunks, in: ZUM 1989, S. 209 – 211
64.
Nochmals: Redaktionelle Mitbestimmung als Zulassungskriterium für Privatfunk, in: AfP 1989, S. 525 – 527
65.
Staatszwecke im Verfassungsstaat – 40 Jahre Grundgesetz –, in: DVBl. 1989, S. 841 – 850
66.
Grundrechte und gerichtlicher Schutz, in: KritV 1990, S. 9 – 33
67.
Die „gespaltene“ Rundfunkgebühr, in: DÖV 1990, S. 629 – 635
68.
Die Problematik des Gesetzesvorbehalts bei der Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, in: NJW 1990, S. 2451 – 2452
69.
Stand und Entwicklung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, in: ZUM 1991, S. 337 – 344
70.
Die verfassungsrechtliche Problematik einer Zulassungsberufung im Zivilprozeß, in: NJW 1991, S. 2391 – 2399
71.
Die Grundrechte unter dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, in: Europäische Zeitschrift des öffentlichen Rechts 1990, S. 53 – 69
72.
Die Zulässigkeit der Regierungsvereinbarung zur Festsetzung der Dauer der Wirtschaftswerbung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, in: AfP 1991, S. 602 – 606
674
Veröffentlichungen Prof. Dr. Herbert Bethge
73.
Staatliche Finanzgewährleistungspflicht und Konkursunfähigkeit öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten, in: Media Perspektiven 1991, S. 720 – 726
74.
Funktionsgerechte Finanzierung der Rundfunkanstalten durch den Staat, in: AöR Bd. 116 (1991), S. 521 – 536
75.
Haftungsprobleme aus Anlaß der Föderalisierung des vormaligen DDR-Rundfunks, in: AfP 1992, S. 13 – 19
76.
Die Grundrechtsstellung bundesweit sendender Anbieter privaten Rundfunks nach bayerischem Medienrecht – Ein juristisches Positionspapier, in: ZUM 1994, S. 1 – 14
77.
Verfassungsrechtliche Aspekte des föderalen Rundfunkfinanzausgleichs – Zur Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im kooperativen Bundesstaat, in: DÖV 1994, S. 445 – 455
78.
Zur Funktion und Relevanz eines Medienverwaltungsrechts, in: Die Verwaltung Bd. 27 (1994), S. 433 – 459
79.
Grundrechtsschutz für die Medienpolizei?, in: NJW 1995, S. 557 – 561
80.
Rundfunkgesetzgebung. Thematik, Trends, Tendenzen, in: ZG Bd. 10 (1995), S. 101 – 131
81.
Die Perspektiven des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der dualen Rundfunkordnung, in: ZUM Sonderheft 1995, S. 514 – 518
82.
Current constitutional aspects of the German broadcasting system, in: Media Law & Practice 1995, S. 56 – 59
83.
Der Grundversorgungsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der dualen Rundfunkordnung, in: Media Perspektiven 1996, S. 66 – 72
84.
Die verfassungsrechtliche Position von DeutschlandRadio in der dualen Rundfunkordnung, in: ZUM 1996, S. 456 – 477
85.
Der Grundrechtsstatus privater Rundfunkveranstalter, in: NVwZ 1997, S. 1 – 6
86.
Verfahrenskonkurrenzen beim Bundesverfassungsgericht. Überschneidungen und Verbindungen von Verfahrensarten, in: Jura 1997, S. 591 – 597
87.
Verfassungsstreitigkeiten als Rechtsbegriff, in: Jura 1998, S. 529 – 534
88.
Rechtsberatung durch Rundfunkveranstalter, in: AfP 1999, S. 309 – 317
89.
Das Phantom der doppelten Verfassungsunmittelbarkeit, in: JuS 2001, S. 1100 – 1102
90.
Die Freiheit des privaten Rundfunks, in: DÖV 2002, S. 673 – 681
91.
Das Duell der Kanzlerkandidaten im Spannungsfeld zwischen Rundfunkfreiheit und Parteiengleichheit, in: ZUM 2003, S. 253 – 261
92.
Zur verfassungsrechtlichen Legitimation informalen Staatshandelns der Bundesregierung, in: Jura 2003, S. 327 – 333
93.
Die gesetzliche Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze in der Gesetzlichen Krankenversicherung als möglicher Verstoß gegen die Grundrechte privater Krankenversicherungsunternehmen (mit Christian von Coelln), in: VSSR 2004, S. 199 – 240
Veröffentlichungen Prof. Dr. Herbert Bethge
675
94.
Die staatliche Teilhabe an öffentlicher Kommunikation, in: AfP-Sonderheft 2007, S. 18 – 21
95.
Die rechtlichen Konsequenzen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28. März 2006 (Oddset) zur Zulässigkeit gewerblicher Veranstaltung und Vermittlung von Sportwetten in den Ländern, in: ZfWG 2007, S. 169 – 180 (Teil 1), ZfWG 2007, S. 245 – 252 (Teil 2)
96.
Die begrenzte Legitimation von „DDR-Lizenzen“ für das Unternehmen von Glücksspielen in den alten Ländern, in: BayVBl. 2008, S. 97 – 100
97.
Art. 12 Abs. 1 GG als Grundrecht der gewerblichen Veranstaltung und Vermittlung von Glücksspielen im Bereich von Sportwetten, in: Wirtschaft und Verwaltung 2008, S. 77 – 136
98.
Die Entscheidungswirkung von Normbeanstandungen des Bundesverfassungsgerichts, in: Jura 2009, 18 – 24
III. Beiträge in Sammelwerken 1.
Grundrechtsschutz kommunaler Selbstverwaltung in Bayern?, in: Pollok, Karl-Heinz (Hrsg.), Tradition und Entwicklung, Gedenkschrift für Johann Riederer, Passavia Universitätsverlag, Passau 1981, S. 117 – 124
2.
Der Kommunalverfassungsstreit, in: Püttner, Günter (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. II, Springer, Berlin u. a. 1982, S. 176 – 194
3.
Wem gehört die Rundfunkfreiheit?, in: Herschel, Wilhelm / Hubmann, Heinrich / Rehbinder, Manfred (Hrsg.), Festschrift für Georg Roeber, Schweitzer, Berlin 1982, S. 13 – 28
4.
Die Grundlagen des Staatshaftungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, in: Kopp, Ferdinand (Hrsg.), Entwicklungen im Staatshaftungsrecht, Passavia Universitätsverlag, Passau 1982, S. 13 – 27
5.
Art. „Film“, in: Lexikon des Rechts, Luchterhand, Neuwied u. a. 1983, 9 / 690
6.
Art. „Medienrecht“, ebenda, 9 / 1190
7.
Art. „Presse“, ebenda, 9 / 1390
8.
Art. „Rundfunk“, ebenda, 9 / 1480
9.
Das Selbstverwaltungsrecht im Spannungsfeld zwischen institutioneller Garantie und grundrechtlicher Freiheit, in: von Mutius, Albert (Hrsg.), Selbstverwaltung im Staat der Industriegesellschaft, Festgabe für Georg Christoph von Unruh, v. Decker, Heidelberg 1983, S. 149 – 170
10.
Organstreitigkeiten des Landesverfassungsrechts, in: Starck, Christian / Stern, Klaus (Hrsg.), Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Bd. II, Nomos, Baden-Baden 1983, S. 17 – 41
11.
Art. „Abgeordneter“, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon. Recht – Wirtschaft – Gesellschaft, Bd. 1, Herder, Freiburg, 7. Aufl. 1985, Sp. 9 – 13
12.
Art. „Bundesland“, ebenda, Sp. 918 – 923
676
Veröffentlichungen Prof. Dr. Herbert Bethge
13.
Art. „Bundesrat“, ebenda, Sp. 928 – 932
14.
Art. „Bundesregierung“, ebenda, Sp. 932 – 936
15.
Art. „Bundesstaat“, ebenda, Sp. 993 – 999
16.
Art. „Bundestag“, ebenda, Sp. 999 – 1006
17.
Art. „Bundesverwaltung“, ebenda, Sp. 1019 – 1024
18.
Art. „Fraktion“, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon. Recht – Wirtschaft – Gesellschaft, Bd. 2, Herder, Freiburg, 7. Aufl. 1986, Sp. 660 – 662
19.
Art. „Grundrechtskonflikte“, in: Lexikon des Rechts, Luchterhand, Neuwied u. a. 1986, 5 / 340
20.
Aktuelle Probleme des Gegendarstellungsrechts gegenüber öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, in: Becker, Jürgen (Hrsg.), Beiträge zum Medienprozeßrecht, Festgabe für Carl Hermann Ule zum 80. Geburtstag, Nomos, Baden-Baden 1988, S. 147 – 157
21.
Privater Rundfunk in der Bundesrepublik Deutschland, in: Grawert, Rolf / Tomuschat, Christian (Hrsg.), Der Journalist in der Verfassungsordnung. Die Privatfunkordnung, Schriften zu Kommunikationsfragen, Bd. 12, Duncker & Humblot, Berlin 1989, S. 109 – 125
22.
Gewissensfreiheit, in: Isensee, Josef / Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, C. F. Müller, Heidelberg 1989, S. 435 – 469
23.
Verfassungsrechtliche Grundlagen, in: Fuhr, Ernst W. / Rudolf, Walter / Wasserburg, Klaus (Hrsg.), Recht der Neuen Medien. Ein Handbuch, C. F. Müller, Heidelberg 1989, S. 74 – 147
24.
Rechtsfragen der Wahlwerbung in Hörfunk und Fernsehen, in: Becker, Jürgen (Hrsg.), Wahlwerbung politischer Parteien im Rundfunk, Symposion zum 65. Geburtstag von Ernst W. Fuhr, UFITA-Schriftenreihe, Bd. 93, Nomos, Baden-Baden 1990, S. 31 – 40
25.
Wissenschaftsrecht, in: Achterberg, Norbert / Püttner, Günter (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. I, C. F. Müller, Heidelberg 1990, S. 697 – 768
26.
Pluralismus und Kontrollgremien, in: Kohl, Helmut (Hrsg.), Die Freiheit des Rundfunks nach dem Nordrhein-Westfalen-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Festschrift für Wolfgang Lehr, Universitätsverlag Konstanz, Konstanz 1991, S. 39 – 55
27.
Verfassungsrechtliche Probleme einer Indexierung der Rundfunkgebühr, in: HoffmannRiem, Wolfgang (Hrsg.), Indexierung der Rundfunkgebühr, Nomos, Baden-Baden 1991, S. 137 – 157
28.
Der Verfassungsvorrang der öffentlich-rechtlichen Grundversorgung, in: Kreile, Reinhold (Hrsg.), Medientage München ’92, Bd. 1, Nomos, Baden-Baden 1993, S. 63 – 70
29.
Die maßstabsetzenden Möglichkeiten der deutschen Rundfunkordnung für die Schaffung einer osteuropäischen Rundfunkordnung, in: EMR (Hrsg.), Osteuropa zwischen Deregulierung und neuer Ordnung – Möglichkeiten einer Einbeziehung Osteuropas in die europäische Medienordnung, Schriftenreihe des Instituts für Europäisches Medienrecht, Bd. 7, Jehle-Rehm-Verlag, München 1994, S. 44 – 50
Veröffentlichungen Prof. Dr. Herbert Bethge
677
30.
Verfassungsgerichtsbarkeit für die neuen Länder, in: Kirchhof, Paul / Offerhaus, Klaus / Schöberle, Horst (Hrsg.), Steuerrecht – Verfassungsrecht – Finanzpolitik, Festschrift für Franz Klein, Verlag Dr. Otto Schmidt, Köln 1994, S. 179 – 193
31.
Das Recht der Kurzberichterstattung im Rundfunk, in: Jahrbuch der Landesmedienanstalten 93 / 94, herausgegeben von den Landesmedienanstalten, Fischer-Verlag, München 1995, S. 121 – 129
32.
Die Gebührenfinanzierung im Lichte der Rundfunkfreiheit. Zum achten Rundfunkurteil des BVerfG, in: Piazolo, Michael (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht. Ein Gericht im Schnittpunkt von Recht und Politik, von Hase und Koehler, Mainz 1995, S. 141 – 164
33.
Das Staatsgebiet des wiedervereinigten Deutschlands, in: Isensee, Josef / Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VIII, C. F. Müller, Heidelberg 1995, S. 603 – 621
34.
Kommentierung zu §§ 13 Nrn. 7, 10, 13, 73 – 75, 85 BVerfGG, in: Maunz, Theodor / Schmidt-Bleibtreu, Bruno / Klein, Franz / Ulsamer, Gerhard (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, C. H. Beck, München 1995 (Loseblatt)
35.
Kommentierung zu Art. 5 GG, in: Sachs, Michael (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, C. H. Beck, München 1996, S. 275 – 318
36.
Deutsche Bundesstaatlichkeit und Europäische Union, in: Wendt, Rudolf / Höfling, Wolfram / Karpen, Ulrich / Oldiges, Martin (Hrsg.), Staat – Wirtschaft – Steuern, Festschrift für Karl Heinrich Friauf, C. F. Müller, Heidelberg 1996, S. 55 – 74
37.
Rechtliche Fragen der Privatisierung und Regulierung des Rundfunks, in: König, Klaus / Benz, Angelika (Hrsg.), Privatisierung und staatliche Regulierung. Bahn, Post und Telekommunikation, Rundfunk, Nomos, Baden-Baden 1997, S. 387 – 405
38.
Kommentierung des § 13 Nr. 8 BVerfGG, Abschn. XIX zu § 13 BVerfGG (Überschneidungen von Verfahrensarten; Konkurrenzen und Grenzlagen) sowie der §§ 68 – 72 BVerfGG, in: Maunz, Theodor / Schmidt-Bleibtreu, Bruno / Klein, Franz / Ulsamer, Gerhard (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, C. H. Beck, München 1997 (Loseblatt)
39.
Der Grundrechtseingriff, in: VVDStRL Heft 57 (1998), de Gruyter, Berlin 1998, S. 7 – 56
40.
Kommentierung der Vorbemerkung Teil A (Grundlagen und Grundfragen der Verfassungsgerichtsbarkeit) und Teil B (Bundes- und Landesverfassungsgerichtsbarkeit), in: Maunz, Theodor / Schmidt-Bleibtreu, Bruno / Klein, Franz / Ulsamer, Gerhard (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, C. H. Beck, München 1998 (Loseblatt)
41.
Kommentierung zu Art. 5 GG, in: Sachs, Michael (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar C. H. Beck, München, 2. Aufl. 1999, S. 314 – 378
42.
Kommentierung zu §§ 1, 17 a, 23, 27 a BVerfGG sowie Vorbemerkung Teil C (Bundesverfassungsgericht und europäische Integration), in: Maunz, Theodor / Schmidt-Bleibtreu, Bruno / Klein, Franz / Ulsamer, Gerhard (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, C. H. Beck, München 1999 (Loseblatt)
43.
Rundfunkfreiheit in Bayern – Programmverantwortung im Spannungsfeld zwischen Verfassung und rundfunkgerechter Gestaltung, in: BLM-Symposion Medienrecht 1998, Rundfunkfreiheit in Bayern, BLM-Schriftenreihe, Bd. 51, Verlag Reinhard Fischer, München 1999, S. 19 – 40
678
Veröffentlichungen Prof. Dr. Herbert Bethge
44.
Rundfunkveranstaltung als Kunst und Beruf, in: von Watzdorf, Gabriele (Hrsg.), Wir in Europa, Festschrift für Albert Scharf, Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg 2000, S. 16 – 23
45.
„Wissenschaftsrecht“, in: Achterberg, Norbert / Püttner, Günter / Würtenberger, Thomas (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. I, C. F. Müller, Heidelberg, 2. Aufl. 2000, S. 1042 – 1123
46.
Budgetrecht contra Rundfunkfreiheit, in: Deutsche Welle (Hrsg.), Stellung und Finanzierung des deutschen Auslandsrundfunks, Vistas Verlag, Berlin 2000, S. 11 – 20
47.
Kommentierung der Abschn. I – III zu § 13 BVerfGG (Zuständigkeitskatalog und Enumerationsprinzip, Formelle Verfassungsgerichtsbarkeit, Kriterien zur Klassifizierung und Differenzierung) sowie des § 35 BVerfGG, in: Maunz, Theodor / Schmidt-Bleibtreu, Bruno / Klein, Franz / Ulsamer, Gerhard (Hrsg.) Bundesverfassungsgerichtsgesetz, C. H. Beck, München 2000 (Loseblatt)
48.
Gewissensfreiheit, in: Isensee, Josef / Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, C. F. Müller, Heidelberg, 2. Aufl. 2001, S. 435 – 469
49.
Über die Zulässigkeit privaten Rundfunks, in: Arndt, Hans-Wolfgang / Knemeyer, Franz-Josef / Kugelmann, Dieter / Meng, Werner / Schweitzer, Michael (Hrsg.), Völkerrecht und Deutsches Recht, Festschrift für Walter Rudolf, C. H. Beck, München 2001, S. 405 – 419
50.
Recht und Politik im Zustand des Skandals, in: Jahres- und Tagungsbericht der GörresGesellschaft 2000, Bonn 2001, S. 59 – 74
51.
Der teilsouveräne Nationalstaat – Ein Zukunftsmodell, in: Oberreuter, Heinrich / Piazolo, Michael (Hrsg.), Global denken. Die Rolle des Staates in der internationalen Politik zwischen Kontinuität und Wandel, Olzog Verlag, München 2001, S. 13 – 21
52.
Kommentierung zu §§ 31, 79 BVerfGG, in: Maunz, Theodor / Schmidt-Bleibtreu, Bruno / Klein, Franz / Ulsamer, Gerhard (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 20. Ergänzungslieferung, C. H. Beck, München 2001 (Loseblatt)
53.
Die Beteiligung der deutschen Länder an der Willensbildung der EU, in: Bayerischer Landtag (Hrsg.), Die Regionen der EU im Hinblick auf die bevorstehende Osterweiterung, Symposion des Bayerischen Landtags mit der Universität Passau am 23. Oktober 2001 im Maximilianeum, Bayerischer Landtag, Landtagsamt, München 2002, S. 16 – 27
54.
Medienrechtliche Befugnisse und Instrumente zur Gewährleistung des Jugendschutzes nach BayMG und RStV, in: BLM-Symposion Medienrecht 2001, Zwischen Intendantenbefugnis und Zensurverbot: Jugendschutz in privaten Rundfunkangeboten in Bayern, in: BLM-Schriftenreihe, Bd. 71, Verlag Reinhard Fischer, München 2002, S. 61 – 82
55.
Gewissensfreiheit, in: Freiherr v. Campenhausen, Axel / Riedel-Spangenberger, Ilona / Sebott, Reinhold (Hrsg.), Lexikon für Kirchen- und Staatskirchenrecht, Bd. 2, G – M, Schöningh, Paderborn u. a. 2002, S. 139 – 140
56.
Medienrecht in Europa, in: Leonhard, Joachim-Felix / Ludwig, Hans-Werner / Schwarze, Dietrich / Straßner, Erich, Medienwissenschaft, de Gruyter, Berlin u. a. 2002, S. 2761 – 2772
Veröffentlichungen Prof. Dr. Herbert Bethge
679
57.
Kommentierung zu Art. 5 GG, in: Sachs, Michael (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, C. H. Beck, München, 3. Aufl. 2003, S. 284 – 361
58.
Kommentierung zu §§ 13 Nr. 5, 63, 64, 65, 66, 67 BVerfGG, in: Maunz, Theodor / Schmidt-Bleibtreu, Bruno / Klein, Franz / Bethge, Herbert (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 21. Ergänzungslieferung, C. H. Beck, München 2003 (Loseblatt)
59.
Die ARD als teilrechtsfähiger Zweckverband des öffentlichen Rechts, in: Ridder, Christa-Maria / Kohl, Helmut (Hrsg.), Funktionen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, Symposion zu Ehren von Klaus Berg, Institut für In- und Ausländisches Medienrecht, Frankfurt a. M. 2003, S. 11 – 17
60.
Pluralismus als medienrechtliches Ordnungsprinzip?, in: Horn, Hans-Detlef (Hrsg.), Recht im Pluralismus, Festschrift für Walter Schmitt Glaeser zum 70. Geburtstag, Duncker & Humblot, Berlin 2003, S. 465 – 486
61.
Die juristische Planbarkeit der Zukunft oder: Nachhaltige Entwicklung als Quadratur des Kreises?, in: Geiss, Jan / Wortmann, David / Zuber, Fabian (Hrsg.), Nachhaltige Entwicklung – Strategie für das 21. Jahrhundert, Leske und Budrich, Opladen 2003, S. 169 – 176
62.
Die Rechtskraft im Verfassungsprozessrecht, in: Heinrich, Christian (Hrsg.), Festschrift für Hans-Joachim Musielak zum 70. Geburtstag, C. H. Beck, München 2004, S. 77 – 103
63.
Medienverwaltungsrecht als konkretisiertes Richterverfassungsrecht, in: Becker, Jürgen / Gebrande, Martin (Hrsg.), Der Rundfunkstaatsvertrag als föderales Instrument der Regulierung und Gestaltung des Rundfunks, Symposion für Wolf-Dieter Ring zum 60. Geburtstag, Nomos, Baden-Baden 2004, S. 43 – 48
64.
Kommentierung zu Vor § 15, zu § 91 BVerfGG, in: Maunz, Theodor / Schmidt-Bleibtreu, Bruno / Klein, Franz / Bethge, Herbert (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 23. Ergänzungslieferung, C. H. Beck, München 2004 (Loseblatt)
65.
Wettbewerb zwischen GKV und PKV aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: Mummenhoff, Winfried (Hrsg.), Machtzuwachs der Krankenkassen, 7. Symposion von Wissenschaft und Praxis (Marburger Gespräche zum Pharmarecht), pmi Verlag, Frankfurt a. M. 2004, S. 60 – 91
66.
Schutz der privaten Versicherungsunternehmen, in: Stiftung Gesellschaft für Rechtspolitik, Trier, und Institut für Rechtspolitik an der Universität Trier (Hrsg.), Bitburger Gespräche, Jahrbuch 2004 / II, C. H. Beck, München 2005, S. 93 – 121
67.
Kommentierung zu § 90 BVerfGG, in: Maunz, Theodor / Schmidt-Bleibtreu, Bruno / Klein, Franz / Bethge, Herbert (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 24. Ergänzungslieferung, C. H. Beck, München 2005 (Loseblatt)
68.
Der Kommunalverfassungsstreit, in: Mann, Thomas / Püttner, Günter (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. 1, Springer, Berlin u. a., 3. Aufl. 2007, S. 817 – 839
69.
Kommentierung zu Art. 5 GG, in: Sachs, Michael (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, C. H. Beck, München, 4. Aufl. 2007, S. 270 – 344
70.
Die Grenzen grundrechtlicher Subjektivierung objektiven Verfassungsrechts, in: Depenheuer, Otto / Heintzen, Markus / Jestaedt, Matthias / Axer, Peter (Hrsg.), Staat im Wort, Festschrift für Josef Isensee, C. F. Müller, Heidelberg 2007, S. 613 – 631
680
Veröffentlichungen Prof. Dr. Herbert Bethge
71.
Kommentierung zu §§ 1, 13 Nr. 8 a, 85, 91 BVerfGG, in: Maunz, Theodor / SchmidtBleibtreu, Bruno / Klein, Franz / Bethge, Herbert (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 27. Ergänzungslieferung, C. H. Beck, München 2007 (Loseblatt)
72.
Modernisierung der Verwaltung durch Abbau von Verwaltungsmonopolen, in: Heckmann, Dirk (Hrsg.), Modernisierung von Justiz und Verwaltung, Gedenkschrift für Ferdinand O. Kopp, Boorberg, Stuttgart u. a. 2007, S. 300 – 314
73.
Der Anwendungsvorrang des einfachen Rechts, in: Mann, Thomas / Ennuschat, Jörg / Geerlings, Jörg / Pielow, Johann-Christian (Hrsg.), Wirtschaft und Gesellschaft im Staat der Gegenwart, Gedächtnisschrift für Peter J. Tettinger, Carl Heymanns Verlag, Köln u. a. 2007, S. 369 – 396
74.
Zur Grundrechtsträgerschaft gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen, in: Butzer, Hermann / Kaltenborn, Markus / Meyer, Wolfgang (Hrsg.), Organisation und Verfahren im sozialen Rechtsstaat, Festschrift für Friedrich E. Schnapp, Duncker & Humblot, Berlin 2008, S. 3 – 14
75.
Kommentierung zu Vor § 17 und § 13 XIX (Überschneidungen von Verfahrensarten; Konkurrenzen und Grenzlagen), in: Maunz, Theodor / Schmidt-Bleibtreu, Bruno / Klein, Franz / Bethge, Herbert (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 28. Ergänzungslieferung, C. H. Beck, München 2008 (Loseblatt)
76.
Kommentierung zu §§ 31, 78 BVerfGG, in: Maunz, Theodor / Schmidt-Bleibtreu, Bruno / Klein, Franz / Bethge, Herbert (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 29. Ergänzungslieferung, C. H. Beck, München 2009 (Loseblatt)
77.
Kommentierung zu Art. 5 GG, in: Sachs, Michael (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, C. H. Beck, München, 5. Aufl. 2009, S. 274 – 348
IV. Fallbearbeitungen 1.
Examensklausur Öffentliches Recht – Verfahrensrechtliche Aspekte des Verfassungsstatus der politischen Parteien, in: Jura 1984, S. 157 – 164
2.
Examensklausur Öffentliches Recht – Zum Rechtsschutz des öffentlichen Dienstes gegenüber dem Besoldungsgesetzgeber, in: Jura 1984, S. 308 – 315
3.
Examensklausur Öffentliches Recht – Zum Rechtsschutz kommunaler Gebietskörperschaften gegen unrichtigen Ortsnamensgebrauch durch die Deutsche Bundesbahn, in: Jura 1985, S. 44 – 49
4.
Examensklausur Öffentliches Recht – Das allgemeine politische Mandat von Zwangskörperschaften des öffentlichen Rechts, in: Jura 1988, S. 426 – 433
5.
Der praktische Fall – Öffentliches Recht: Der Rechtsreferendar kraft Suspensiveffekts, in: JuS 1991, S. 226 – 229 (mit Steffen Detterbeck)
6.
Examensklausur Öffentliches Recht – Das folgenschwere Bardepot, in: Jura 1991, S. 550 – 556 (mit Steffen Detterbeck)
7.
Der praktische Fall – Öffentliches Recht: Bundesverfassungsgerichtlicher oder fachgerichtlicher Rechtsschutz gegen Arbeitnehmerkammern, in: JuS 1993, S. 43 – 48 (mit Steffen Detterbeck)
Veröffentlichungen Prof. Dr. Herbert Bethge
681
8.
Der praktische Fall – Öffentliches Recht: Der ungetreue Öko-Bauer, in: JuS 1993, S. 402 – 405 (mit Steffen Detterbeck)
9.
Examensklausur Öffentliches Recht – Ein kommunaler Neugliederungsstreit, in: Jura 1993, S. 545 – 551 (mit Jochen Rozek)
10.
Der praktische Fall – Öffentliches Recht: Rembrandt als Pflichtexemplar, in: JuS 1994, S. 229 – 234 (mit Steffen Detterbeck)
11.
Der praktische Fall – Öffentliches Recht: Berufsverbot für einen rechtsextremen Zeitungsredakteur, in: JuS 1994, S. 774 – 781 (mit Jochen Rozek)
12.
Examensklausur Öffentliches Recht – „Kernspaltereien“ zwischen Bund und Land, in: Jura 1995, S. 213 – 219 (mit Jochen Rozek)
13.
Der praktische Fall – Öffentliches Recht: Beitragserstattung mit Hindernissen, in: JuS 1995, S. 806 – 812 (mit Jochen Rozek)
14.
Der praktische Fall – Öffentliches Recht: Ein Kulturforum mit Defiziten, in: JuS 1997, S. 831 – 835 (mit Jochen Rozek)
15.
„Berufsverbot“ wegen Verbreitung rechtsextremen Gedankenguts, Teil I, in: Akademie 1998, S. 133 – 136
16.
„Berufsverbot“ wegen Verbreitung rechtsextremen Gedankenguts, Teil II, in: Akademie 1999, S. 25 – 28
17.
Der praktische Fall – Öffentliches Recht: Prozessuale Wiederauferstehung, in: JuS 2002, S. 364 – 371 (mit Christian von Coelln)
18.
Das Parlament als Wiederholungstäter, in: Jura, Sonderheft Examensklausurenkurs, 2. Aufl. 2004, S. 68 – 74 (mit Christian von Coelln)
V. Entscheidungsanmerkungen 1.
NJW 1973, S. 534 – 535, zu BSG NJW 1972, S. 2151
2.
NJW 1973, S. 1508 – 1509, zu OLG Köln NJW 1973, S. 858
3.
NJW 1973, S. 2100 – 2101, zu BVerfG NJW 1973, S. 1319
4.
NJW 1975, S. 77 – 78, zu OVG Münster NJW 1974, S. 1671
5.
NJW 1975, S. 662 – 663, zu OVG Lüneburg NJW 1975, S. 76
6.
NJW 1978, S. 1801 – 1802, zu BGH NJW 1978, S. 1385
7.
AfP 1981, S. 386 – 389, zu OVG Münster AfP 1981, S. 424
8.
DVBl. 1981, S. 914 – 915, zu BVerfG DVBl. 1981, S. 535
9.
JZ 1989, S. 339 – 340, zu BVerfG, Beschluss v. 19. 12. 88 – 1 BvR 315 / 86
10.
JZ 1991, S. 306 – 307, zu BVerwG, Urteil v. 3. 8. 1990 – 7 C 14.90
682
Veröffentlichungen Prof. Dr. Herbert Bethge
VI. Buchbesprechungen 1.
Zuck, Rüdiger, Subsidiaritätsprinzip und Grundgesetz, Diss. Tübingen 1968, in: JR 1970, S. 199
2.
Schwark, Eberhard, Zum Begriff der „Allgemeinen Gesetze“ in Art. 5 Absatz 2 des Grundgesetzes, Duncker & Humblot, Berlin 1970, in: NJW 1972, S. 1180
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Pfennig, Gero, Die Notenausgabe der Deutschen Bundesbank, Duncker & Humblot, Berlin 1971, in: Finanzarchiv Bd. 31 (1972), S. 188 – 190
4.
Weides, Peter, Bundeskompetenz und Filmförderung, Schweitzer, Berlin 1971, in: UFITA Bd. 65 (1972) S. 377 – 379
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Schneider, Hans, Verfassungsrechtliche Grenzen einer gesetzlichen Regelung des Pressewesens, Duncker & Humblot, Berlin 1971, in: UFITA Bd. 65 (1972), S. 382 – 384
6.
Fuhr u. a., ZDF-Staatsvertrag, von Hase und Köhler, Mainz 1972, in: JR 1972, S. 527
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Pappermann, Ernst, Ansprüche des Staates bei fehlerhafter Erledigung übertragener Aufgaben durch Kommunalkörperschaften?, Kohlhammer, Stuttgart u. a. 1971, in: DÖV 1973, S. 69 – 70
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Schwabe, Jürgen, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, Goldmann, München 1971, in: JR 1973, S. 84
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10.
Leibholz Gerhard / Rinck, Hans-Justus, Grundgesetz. Rechtsprechung des BVerfG, Otto Schmidt Verlag, Köln 1971, in: UFITA Bd. 69 (1973), S. 376 – 378
11.
Dittrich, Norbert, Pressekonzentration und Grundgesetz, Verlag C.H. Beck, München 1971, in: UFITA Bd. 69 (1973), S. 378 – 380
12.
Lerche, Peter, Verfassungsrechtliche Fragen zur Pressekonzentration, Duncker & Humblot 1971, in: UFITA Bd. 71 (1974), S. 376 – 380
13.
Thieme, Ulrich, Rundfunksatelliten und internationales Recht, Hansischer Gildenverlag Heitmann, Hamburg 1973, in: JR 1975, S. 131 – 132
14.
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15.
Müller, Friedrich / Pieroth, Bodo / Rottmann, Frank, Strafverfolgung und Rundfunkfreiheit, Duncker & Humblot, Berlin 1973, in: AöR Bd. 100 (1975), S. 149 – 151
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Eyermann, Erich / Fröhler, Ludwig / Honig, Gerhart, Handwerksordnung, C. H. Beck, München 1973, in: RdA 1975, S. 141 – 142
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Wilke, Kay-Michael, Leitsätze zum Völkerrecht mit Bezügen zum Staatsrecht, Kohlhammer, Stuttgart u. a. 1974, in: Modern Law and Society 1976, S. 40 – 41
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Scholz, Rupert, Audiovisuelle Medien und bundesstaatliche Gesetzgebungskompetenz, Duncker & Humblot, Berlin 1976, in: NJW 1976, S. 2254 – 2255
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von Münch, Ingo, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, C. H. Beck, München 1975, in: DVBl. 1977, S. 397
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Siedentopf, Heinrich (Hrsg.), Verwaltungswissenschaft, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1976, in: Modern Law and Society 1977, S. 102 – 103
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Schmelter, Hubert, Rechtsschutz gegen nicht zur Rechtsetzung gehörende Akte der Legislative, Duncker & Humblot, Berlin 1977, in: Die Verwaltung Bd. 11 (1978), S. 113 – 114
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von Münch, Ingo, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, C. H. Beck, München 1976, in: DVBl. 1977, S. 397
27.
Schiwy, Peter / Schütz, Walter J. (Hrsg.), Medienrecht – Stichwörter für die Praxis, Luchterhand, Neuwied u. a. 1977, in: JR 1978, S. 305 – 306
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Bieback, Karl-Jürgen, Die Öffentliche Körperschaft, Duncker & Humblot, Berlin 1976, in: Modern Law and Society 1978, S. 131 – 132
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Der Kreis. Ein Handbuch, hrsg. vom Verein für die Geschichte der Deutschen Landkreise, Grote, Köln und Berlin 1976 (Handbuch in 4 Bd., Bd. 2), in: AfK 1978, S. 335 – 342
30.
Der Kreis im Wandel der Zeiten. Grundlegende Texte der Kreisliteratur, Kohlhammer, Köln u. a. 1976, VII (Kommunalwissenschaftliche Schriften des Deutschen Landkreistages, Bd. 5), in: AfK 1978, S. 335 – 342
31.
Einrichtungen der Kreise. Einrichtungen in der Trägerschaft oder Mitträgerschaft der Kreise am 1. 1. 1976, hrsg. vom Deutschen Landkreistag, Bonn 1976, Selbstverlag (Schriften des Deutschen Landkreistages: Veröffentlichungen des Vereins für die Geschichte der Deutschen Landkreise, Bd. 20), in: AfK 1978, S. 335 – 342
32.
Schmidt-Jortzig, Edzard, Zur Verfassungsmäßigkeit von Kreisumlagesätzen. Grenzen finanzieller Einschnürung des gemeindlichen Handlungsspielraumes, Schwartz, Göttingen 1977 (Schriften des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Heft 27), in: AfK 1978, S. 335 – 342
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Pappermann, Ernst / Roters, Wolfgang / Vesper, Emil, Maßstäbe für die Funktionalreform im Kreis. Exemplarische Erläuterung am Beispiel Nordrhein-Westfalens, Kohlhammer und Deutscher Gemeindeverlag, Köln u. a. 1976 (Kommunalwissenschaftliche Schriften des Deutschen Landkreistages, Bd. 4), in: AfK 1978, S. 335 – 342
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Andriske, Wolfgang, Aufgabenverteilung im Kreis. Grundlagen, Methoden und Wege einer Funktionalreform in Nordrhein-Westfalen, Reckinger, Siegburg 1978, XVI (Schriften zum deutschen Kommunalrecht, Bd. 18), in: AfK 1978, S. 335 – 342
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von Simson, Werner, The State and the Community of States. Public Law Treatises, in: Modern Law and Society 1979, S. 165 – 166
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von Köller, Karsten, Meinungsfreiheit und unternehmensschädigende Äußerung, Duncker & Humblot, Berlin 1971, in: UFITA Bd. 84 (1979), S. 361 – 363
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Müller, Friedrich / Pieroth, Bodo, Politische Freiheitsrechte der Rundfunkmitarbeiter, Duncker & Humblot, Berlin 1976, in: UFITA Bd. 84 (1979), S. 363 – 364
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Bullinger, Martin / Kübler, Friedrich, Rundfunkorganisation und Kommunikationsfreiheit, Landesberichte und Generalbericht der Tagung für Rechtsvergleichung 1979 in Lausanne, Materialien zur interdisziplinären Medienforschung, Bd. 11, Nomos, BadenBaden 1979, in: DÖV 1981, S. 310 – 311
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Bullinger, Martin, Kommunikationsfreiheit im Strukturwandel der Telekommunikation, Nomos, Baden-Baden 1980, in: DVBl. 1981, S. 468
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Studienkreis für Presserecht und Pressefreiheit (Hrsg.), Presserecht und Pressefreiheit, Festschrift für Martin Löffler zum 75. Geburtstag, C. H. Beck, München 1980, in: Film und Recht 1981, S. 446
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Wülfing, Thomas, Grundrechtliche Gesetzesvorbehalte und Grundrechtsschranken, Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 390, Duncker & Humblot, Berlin 1981, in: DVBl. 1982, S. 225
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Ring, Wolf-Dieter, Deutsches Presse- und Rundfunkrecht. Textsammlung des deutschen Presse- und Rundfunkrechts mit Anmerkungen, Verweisungen und Sachregister, Verlag Franz Rehm, München 1981, in: DVBl. 1982, S. 556
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Degen, Manfred, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 395, Duncker & Humblot, Berlin 1981, in: DVBl. 1982, S. 663 – 664
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Amelung, Knut, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes, Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 392, Duncker & Humblot, Berlin 1981, in: NVwZ 1982, S. 426
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Madleners, Kurt, German National Reports on Public Law at the Xth International Congress of Comparative Law, Budapest, in: Modern Law and Society 1983, S. 118 – 119
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Püttner, Günter (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. 3, Springer, Berlin u. a. 1983, in: DVBl. 1984, S. 450
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Püttner, Günter (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. 4, Springer, Berlin u. a. 1984, in: DVBl. 1984, S. 451
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Weber, Wolf, Selbstverwaltung und Demokratie in den Gemeinden nach der Gebietsreform, Reckinger, Siegburg 1982, in: Die Verwaltung Bd. 17 (1984), S. 251
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Schmidt-Jortzig, Edzard, Kommunalrecht, Kohlhammer, Stuttgart u. a. 1982, in: DVBl. 1984, S. 741 – 742
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Löffler, Martin, Presserecht, Kommentar, Band I, C. H. Beck, München 1983, in: AöR Bd. 110 (1985), S. 148 – 149
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Stern, Klaus / Schreckenberger, Waldemar / Lehr, Wolfgang / Sieben, Günter / Fleck, Florian H. / Püttner, Günter (Hrsg.), Programmauftrag und Wirtschaftlichkeit der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, Schriftenreihe des Instituts für Rundfunkrecht an der Universität zu Köln, Bd. 37, C. H. Beck, München 1984, in: ZUM 1985, S. 520
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von Mangoldt, Hermann / Klein, Friedrich, Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl.: Präambel, Artikel 1 – 5, bearbeitet von Christian Starck, Verlag Franz Vahlen, München 1985, in: DVBl. 1985, S. 258
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Scheuner, Ulrich, Writings on International Law, Duncker & Humblot, Berlin 1984, in: Modern Law and Society 1986, S. 33 – 34
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Loschelder, Wolfgang, Vom besonderen Gewaltverhältnis zur öffentlich-rechtlichen Sonderbindung. Zur Institutionalisierung der engeren Staat-Bürger-Beziehungen, Carl Heymanns Verlag, Köln u. a. 1982, in: JZ 1986, S. 534 – 535
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Lerche, Peter / Schmitt Glaeser, Walter / Schmidt-Aßmann, Eberhard (Hrsg.), Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, Heidelberger Forum im Gemeinschaftsverlag R. v. Decker & C. F. Müller, Heidelberg 1984, in: AöR Bd. 111 (1986), S. 265 – 269
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Börner, Bodo, Organisation, Programm und Finanzierung der Rundfunkanstalten im Lichte der Verfassung, Schriften zu Kommunikationsfragen, Bd. 4, Duncker & Humblot, Berlin 1984, in: DVBl. 1986, S. 901 – 902
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Börner, Bodo, Der Zugang der Presse zum Rundfunk und das Wettbewerbsrecht, Schriften zu Kommunikationsfragen, Bd. 5, Duncker & Humblot, Berlin 1985, in: DVBl. 1986, S. 901 – 902
58.
Hautmann, Georg, Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst und Rechtsverhältnisse, R. v. Decker & C .F. Müller, Heidelberg 1984, in: NVwZ 1986, S. 734
59.
Schmidt, Walter, Rundfunkvielfalt. Möglichkeiten und Grenzen einer „pluralistischen“ Rundfunkorganisation, Schriften zum Rundfunkrecht, Heft 31, Alfred Metzner Verlag Frankfurt a. M. 1984, in: AöR Bd. 111 (1986), S. 640 – 641
60.
Hübner, Heinz / Schnoor, Herbert / Florian, Winfried / Dittrich, Robert / Köhler, Helmut / Katzenberger, Paul / Steiner, Udo (Hrsg.), Rechtsprobleme des Bildschirmtextes, Vortragsveranstaltung vom 19. und 20. April 1985, Schriftenreihe des Instituts für Rundfunkrecht an der Universität zu Köln, Bd. 39, C. H. Beck, München 1986, in: DVBl. 1987, S. 496
61.
Pieroth, Bodo / Schlink, Bernhard, Grundrechte Staatsrecht II, C. F. Müller, Heidelberg 1985, in: DVBl. 1987, S. 1034
62.
Rotta, Christian, Nachrichtensperre und Recht auf Information, Steiner Verlag, Wiesbaden 1986, in: DÖV 1988, S. 313
63.
Ricker, Reinhart, Privatrundfunkgesetze im Bundesstaat. Zur Homogenität der Mediengesetze und Mediengesetzentwürfe, C. H. Beck, München 1985, in: ZRP 1988, S. 218
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Wolf, Joachim: Medienfreiheit und Medienunternehmen, Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 494, Duncker & Humblot, Berlin 1985, in: Der Staat Bd. 27 (1988), S. 310 – 311
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Maunz, Theodor / Obermayer, Klaus / Berg, Wilfried / Knemeyer, Franz-Ludwig, Staatsund Verwaltungsrecht in Bayern, Boorberg, Stuttgart, 5. Aufl. 1988, und Obermayer, Klaus, Grundzüge des Verwaltungsrechts und des Verwaltungsprozeßrechts, Boorberg, Stuttgart, 3. Aufl. 1988, in: NVwZ 1989, S. 449 – 450
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Veröffentlichungen Prof. Dr. Herbert Bethge
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von Olenhusen, Albrecht Götz, Handbuch des Medienrechts, Hochschulverlag, Freiburg 1988, in: DVBl. 1989, S. 470
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Lorenz, Dieter, Das Drittsendungsrecht der Kirchen, insbesondere im privaten Rundfunkrecht, Schriften zu Kommunikationsfragen, Bd. 8, Duncker & Humblot, Berlin, 1988, in: DVBl. 1989, S. 579
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Doll, Dieter, Spannweite einer verfassungsgemäßen Änderung der Rundfunkordnung in Bayern, Verlag V. Florentz GmbH, München 1986, in: UFITA, Sonderdruck aus Bd. 111 (1989), S. 303 – 304
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Aichlreiter, Josef W., Österreichisches Verordnungsrecht. Ein systematisches Handbuch, Bd. 1 und 2, Springer, Wien u. a. 1988, in: DÖV 1989, S. 1100
70.
Selmer, Peter, Bestands- und Entwicklungsgarantien für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in einer dualen Rundfunkordnung, Schriften zu Kommunikationsfragen, Bd. 10, Duncker & Humblot, Berlin 1988, in: DVBl. 1989, S. 1279
71.
Koja, Friedrich, Das Verfassungsrecht der österreichischen Bundesländer, Springer, Wien u. a., 2. Aufl. 1988, in: DÖV 1990, S. 81 – 82
72.
von Arnim, Hans Herbert, Wirtschaftlichkeit als Rechtsprinzip, Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 536, Duncker & Humblot, Berlin 1988, in: DÖV 1990, S. 216
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Probst, Martin, Rundfunkfreiheit für Ausländer? Freiheitsschutz zwischen Grundrechtstheorie und Staatsverständnis, R. v. Deckers Verlag G. Schenck, Heidelberg 1987, in: DVBl. 1990, S. 319
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Ermacora, Felix, Grundriß der Menschenrechte in Österreich, Manzsche Verlagsbuchhandlung, Wien 1988, in: DÖV 1990, S. 300
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Dietmair, Alwin, Die juristische Grundrechtsperson des Art. 19 Abs. 3 GG im Lichte der geschichtlichen Entwicklung, R. v. Deckers Verlag G. Schenk, Heidelberg 1988, in: Der Staat, Bd. 29 (1990), S. 301 – 302
76.
Heidel, Thomas, Verfassungsfragen der Finanzierung von Privatfunk durch Werbung. UFITA Bd. 78, Nomos, Baden-Baden 1978, in: UFITA Bd. 114 (1990), S. 306 – 307
77.
Stender-Vorwachs, Jutta, „Staatsferne“ und „Gruppenferne“ in einem außenpluralistisch organisierten privaten Rundfunksystem, Schriften zu Kommunikationsfragen, Bd. 9, Duncker & Humblot, Berlin, 1988, in: ZUM 1990, S. 540
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Bracher, Christian-Dietrich, Gefahrenabwehr durch Private. Eine verfassungsrechtliche Untersuchung zu den Grenzen der Übertragung von Aufgaben der Gefahrenabwehr auf Private und der staatlichen Zulassung privater Gefahrenabwehr, Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 516, Duncker & Humblot, Berlin 1987, in: DÖV 1989, S. 733
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Hadding, Walther / Schneider, Uwe H. (Hrsg.), Organisation und Finanzierung der Rundfunkanstalten, Teil I: Die Finanzierung des Hessischen Rundfunks, Schriften zu Kommunikationsfragen, Bd. 15, Duncker & Humblot, Berlin 1990, in: DVBl. 1991, S. 336
80.
Hesse, Albrecht, Rundfunkrecht. Die Organisation des Rundfunks in der Bundesrepublik Deutschland, Studienreihe Jura, Verlag Vahlen, München 1990, in: DVBl. 1991, S. 725
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Korioth, Stefan, Integration und Bundesstaat. Ein Beitrag zur Staats- und Verfassungslehre Rudolf Smends, Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 587, Duncker & Humblot, Berlin 1990, in: DVBl. 1991, S. 778
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Reinert, Patrick, Grenzüberschreitender Rundfunk im Spannungsfeld von staatlicher Souveränität und transnationaler Rundfunkfreiheit, Europäische Hochschulschriften, Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 1990, in: DVBl. 1991, S. 829
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Schuster, Detlef, Meinungsvielfalt in der dualen Rundfunkordnung, Veröffentlichungen des Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel, Bd. 109, Duncker & Humblot, Berlin 1990, in: DVBl. 1991, S. 829
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Knöpfle, Franz, Information des Parlaments über das Finanzgebaren öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten, Carl Heymanns Verlag, Köln u. a. 1990, in: DVBl. 1991, S. 1010
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Erichsen, Hans-Uwe, Zur Haftung im Bund-Länder-Verhältnis, Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 505, Duncker & Humblot, Berlin 1986, in: DVBl. 1991, S. 1163
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Rossen, Helge, Freie Meinungsbildung durch den Rundfunk. Die Rundfunkfreiheit im Gewährleistungsgefüge des Art. 5 Abs. 1 GG, Bd. 19, Nomos, Baden-Baden 1988, in: ZUM 1991, S. 556
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Kölz, Alfred / Müller, Jörg Paul, Entwurf für eine neue Bundesverfassung, Verlag Helbing und Lichtenhahn, Basel 1990, in: DÖV 1992, S. 82 – 83
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Mackeprang, Rudolf, Ehrenschutz im Verfassungsstaat – Zugleich ein Beitrag zu den Grenzen der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG, Duncker & Humblot, Berlin 1990, in: DÖV 1992, S. 127
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Eberle, Carl-Eugen, Rundfunkübertragung, Rechtsfragen der Nutzung terrestrischer Rundfunkfrequenzen, Schriften zu Kommunikationsfragen, Bd. 13, Duncker & Humblot, Berlin 1989, in: Die Verwaltung Bd. 25 (1992), S. 108 – 109
90.
Ress, Georg, Entwicklungstendenzen im Verwaltungsverfahrensrecht und in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Springer, Wien 1990, in: DÖV 1992, S. 501 – 502
91.
Blum, Nikolaus, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention, Duncker & Humblot, Berlin 1990, in: DÖV 1992, S. 504
92.
Klein, Bodo, Konkurrenz auf dem Markt der geistigen Freiheiten. Verfassungsfragen des Wettbewerbs im Pressewesen, Schriften zu Kommunikationsfragen, Bd. 14, Duncker & Humblot, Berlin 1990, in: DVBl. 1992, S. 1555 – 1556
93.
Geddert-Steinacher, Tatjana, Menschenwürde als Verfassungsbegriff – Aspekte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz, Duncker & Humblot, Berlin 1990, in: DÖV 1993, S. 311
94.
Wilke, Dieter / Schulte, Bernd (Hrsg.), Der Bundesrat. Die staatsrechtliche Entwicklung des föderalen Verfassungsorgans, Wege der Forschung, Bd. 507, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1990, in: DVBl. 1993, S. 450
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Scherzberg, Arno, Grundrechtsschutz und „Eingriffsintensität“ – Das Ausmaß individueller Grundrechtsbetroffenheit als materiell-rechtliche und kompetenzielle Determinante der verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Fachgerichtsbarkeit im Rahmen der Urteilsverfassungsbeschwerde, Duncker & Humblot, Berlin 1989, in: DÖV 1993, S. 401
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Veröffentlichungen Prof. Dr. Herbert Bethge
96.
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Veröffentlichungen Prof. Dr. Herbert Bethge
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VII. Buchanzeigen 1.
Weber, Eckart, Der Erstattungsanspruch, Duncker & Humblot, Berlin 1970, in: AöR Bd. 97 (1972), S. 181 – 182
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Starck, Christian, Rundfunkfreiheit als Organisationsproblem, Mohr, Tübingen 1973, in: AöR Bd. 99 (1974), S. 684
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Herrmann, Günter, Rundfunkgesetze, Carl Heymanns Verlag, Köln u. a. 1977, in: UFITA Bd. 83 (1978), S. 367
4.
Lehr, Wolfgang / Berg, Klaus, Rundfunk und Presse in Deutschland, von Hase und Köhler, Mainz 1976, in: UFITA Bd. 83 (1978), S. 367
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Ring, Wolf-Dieter, Deutsches Presse- und Rundfunkrecht, Verlag für Verwaltungspraxis Rehm, München 1977, in: UFITA Bd. 83 (1978), S. 367
6.
Rechtsvorschriften für das ZDF, ZDF, Mainz 1976, in: UFITA Bd. 83 (1978), S. 367
7.
Stettner, Rupert, Rundfunkstruktur im Wandel, Schriftenreihe des Instituts für Rundfunkrecht an der Universität zu Köln, Bd. 47, C. H. Beck, München 1988, in: Die Verwaltung, Bd. 22 (1989), S. 405
8.
Bettermann, Karl August, Der totale Rechtsstaat. Zwei kritische Vorträge, Vandenhoeek und Ruprecht, Göttingen 1986, in: AöR Bd. 114 (1989), S. 335 – 336
9.
Jarass, Hans D., In welcher Weise empfiehlt es sich, die Ordnung des Rundfunks und sein Verhältnis zu anderen Medien – auch unter dem Gesichtspunkt der Harmonisierung – zu regeln?, C. H. Beck, München 1986, in: AöR Bd. 114 (1989), S. 527
10.
Müller, Jörg Paul / Müller, Stefan, Grundrechte. Besonderer Teil, Stämpfli, Bern 1985, in: AöR Bd. 115 (1990), S. 172 – 173
11.
Grundmann, Birgit, Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten im Wettbewerb, Wirtschaftsrecht der Internationalen Telekommunikation, Bd. 13, Nomos, Baden-Baden 1990, in: AöR Bd. 116 (1991), S. 652 – 653
12.
Hoffmann-Riem, Wolfgang, Erosionen des Rundfunkrechts. Tendenzen der Rundfunkrechtsentwicklung in Westeuropa, Schriftenreihe des Instituts für Rundfunkrecht an der Universität zu Köln, Bd. 53, C. H. Beck, München 1990, in: AöR Bd. 116 (1991), S. 646 – 647
13.
Bleckmann, Albert, Staatsrecht II – Die Grundrechte, Carl Heymanns Verlag, Köln u. a., 3. Aufl. 1989, in: AöR Bd. 117 (1992), S. 139 – 140
14.
Kau, Wolfgang, Vom Persönlichkeitsschutz zum Funktionsschutz. Persönlichkeitsschutz juristischer Personen des Privatrechts in verfassungsrechtlicher Sicht, Freiburger Rechts- und Staatswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 49, C. F. Müller, Heidelberg 1989, in: AöR Bd. 117 (1992), S. 146 – 147
15.
Kobele, Bernhard, Fernmeldewesen und Telematik in ihrer rechtlichen Wechselwirkung, Schriften zum öffentlichen Recht, Bd. 597, Duncker & Humblot, Berlin 1991, in: AöR Bd. 118 (1993), S. 351 – 352
16.
Niepalla, Peter, Die Grundversorgung durch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, Schriftenreihe des Instituts für Rundfunkrecht an der Universität zu Köln, Bd. 55, C. H. Beck, München 1990, in: AöR Bd. 118 (1993), S. 498 – 499
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Veröffentlichungen Prof. Dr. Herbert Bethge Laschet, Remo, Programmgrundsätze für den kommerziellen Rundfunk. Untersuchung der Landesmediengesetze und Rundfunkstaatsverträge anhand von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz und seiner Schranken, Löw & Vorderwülbecke, Baden-Baden 1994, in: AöR Bd. 125 (2000), S. 320 – 321
VIII. Vermischtes 1.
Die rechtlichen Voraussetzungen des MEG, in: Schriftenreihe der Industrie- und Handelskammer Regensburg, Heft 10, 1985, S. 13 - 21
2.
Kremer, Harry Andreas (Hrsg.), Die Landesparlamente im Spannungsfeld zwischen europäischer Integration und europäischem Regionalismus. Referate und Diskussionsbeiträge eines Symposiums des Bayerischen Landtags am 9. / 10. 6. 1988 in München, Beiträge zum Parlamentarismus, Bd. 2, München 1988, BayVBl. 1989, S. 223
3.
Absage an Dampfradio-Status. Gedanken zur Dynamisierung der Grundversorgung, in: FUNK-Korrespondenz Nr. 15, 1991, S. 4 – 6
4.
Verfassungsvorrang der öffentlich-rechtlichen Grundversorgung – Sechs Thesen zu einem Vortrag, in: Media Perspektiven 1992, S. 624
5.
Euro-News: Rechtliche Probleme europäischer Nachrichtenkanäle, in: Hallenberger, Gerd / Kohl, Helmut / Pethin, Rüdiger / Thomsen, Christian W. (Hrsg.), Aspekte grenzüberschreitenden Fernsehens in Europa, Arbeitsheft Bildschirmmedien 13, 1993, Fernsehen in der Bundesrepublik Deutschland, DFG-Sonderforschungsbereich 240 der Universität – GH – Siegen
6.
Nachruf für Ferdinand O. Kopp, in: NVwZ 1995, S. 1088
7.
Medien und Zensur, in: Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Der Entwicklung ausgeliefert? – Chancen und Risiken des Medienschaffens, Fortbildungswoche des Landes Nordrhein-Westfalen, Bad Meinberg 1996, S. 66 – 88
8.
Grundlinien des Gebührenurteils von 1994, Impulsreferat auf der medienpolitischen und medienrechtlichen Diskussionsveranstaltung des Instituts für In- und ausländisches Medienrecht der Johann-Wolfgang Goethe-Universität, in: Media Perspektiven 2004, S. 123 – 124
IX. Herausgeberschaften Studien und Materialien zum Öffentlichen Recht Schriftenreihe Peter Lang Verlag, Berlin u. a. Derzeit 35 Bände Bundesverfassungsgerichtsgesetz Loseblatt-Kommentar C. H. Beck, München Herausgeber: Maunz, Theodor / Schmidt-Bleibtreu, Bruno / Klein, Franz / Bethge, Herbert
Verzeichnis der Autoren Christian von Coelln: Univ.-Prof. Dr. iur., Universität zu Köln Matthias Cornils: Univ.-Prof. Dr. iur., Johannes Gutenberg-Universität Mainz Otto Depenheuer: Univ.-Prof. Dr. iur., Universität zu Köln Steffen Detterbeck: Univ.-Prof. Dr. iur., Richter am Hessischen Staatsgerichtshof, PhilippsUniversität Marburg Johannes Dietlein: Univ.-Prof. Dr. iur., Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Dieter Dörr: Univ.-Prof. Dr. iur., Richter am Oberlandesgericht Koblenz, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Dagmar Felix: Univ.-Prof. Dr. iur., Universität Hamburg Georgios Gounalakis: Univ.-Prof. Dr. iur., Philipps-Universität Marburg Wolfram Höfling: Univ.-Prof. Dr. iur, M.A., Universität zu Köln Hans-Detlef Horn: Univ.-Prof. Dr. iur., Richter am Hessischen Verwaltungsgerichtshof, Philipps-Universität Marburg Peter M. Huber: Univ.-Prof. Dr. iur., Richter des Staatsgerichtshofes der Freien Hansestadt Bremen, Vorsitzender des Deutschen Juristen-Fakultätentages, Ludwig-Maximilians-Universität München Josef Isensee: Univ.-Prof. Dr. iur. utr. Dr. h.c., Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Matthias Jestaedt: Univ.-Prof. Dr. iur., Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Wolfgang Loschelder: Univ.-Prof. Dr. iur., Rektor der Universität Potsdam a.D., Universität Potsdam Hartmut Maurer: Univ.-Prof. Dr. iur., Universität Konstanz Stefan Mückl: apl. Prof. Dr. iur., Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br. Sebastian Müller-Franken: Univ.-Prof. Dr. iur., Philipps-Universität Marburg Ralf Müller-Terpitz: Univ.-Prof. Dr. iur., Universität Passau Hans-Joachim Musielak: Univ.-Prof. Dr. iur., Universität Passau Michael Nierhaus: Univ.-Prof. Dr. iur. utr., Universität Potsdam Jochen Rozek: Univ.-Prof. Dr. iur., Universität Leipzig Walter Rudolf: Univ.-Prof. Dr. iur., Staatssekretär a.D., Johannes Gutenberg-Universität Mainz Hans Heinrich Rupp: Univ.-Prof. Dr. iur., Johannes Gutenberg-Universität Mainz Michael Sachs: Univ.-Prof. Dr. iur., Universität zu Köln
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Verzeichnis der Autoren
Walter Schmitt Glaeser: Univ.-Prof. Dr. iur. Dr. h. c., Präsident a.D. des Bayerischen Senats, Universität Bayreuth Friedrich E. Schnapp: Univ.-Prof. Dr. iur., Ruhr-Universität Bochum Michael Schweitzer: Univ.-Prof. Dr. iur., Universität Passau Otfried Seewald: Univ.-Prof. Dr. iur., Universität Passau Hartmut Söhn: Univ.-Prof. Dr. iur., Universität Passau Udo Steiner: Univ.-Prof. Dr. iur., Bundesverfassungsrichter a.D., Universität Regensburg Rudolf Streinz: Univ.-Prof. Dr. iur., Ludwig-Maximilians-Universität München Rainer Wernsmann: Univ.-Prof. Dr. iur., Universität Passau Kay Windthorst: Priv.-Doz. Dr. iur., Universität zu Köln