Zwischen Vertragsfreiheit und Verbraucherschutz: Festschrift für Friedrich Graf von Westphalen zum 70. Geburtstag 9783504380670

Mit diesem Werk ehren namhafte Kollegen und Weggefährten aus Anlass seines 70. Geburtstages Friedrich Graf von Westphale

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German Pages 834 Year 2010

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Zwischen Vertragsfreiheit und Verbraucherschutz: Festschrift für Friedrich Graf von Westphalen zum 70. Geburtstag
 9783504380670

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Festschrift für Friedrich Graf von Westphalen

ZWISCHEN VERTRAGSFREIHEIT UND VERBRAUCHERSCHUTZ FESTSCHRIFT FÜR FRIEDRICH GRAF VON WESTPHALEN zum 70. Geburtstag herausgegeben von

F. Christian Genzow Barbara Grunewald Hans Schulte-Nölke

2010

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie1 detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb,d-nb,de abrufbar, Verlog Dr, Otto Schmidt KG Gustav-Heinerrumn-Ufer 58, 50968 Köin

Tel 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 info®otto-schmidt,de www,otto-schmidt,de ISBN 978-3-504-06042-8 ©2010 by Verlag Dr, Otto Schmidt KG, Köln

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt, Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustinnnuog des Verlages, Das gilt insbesoodere für Verv:ielfiiltigungen, Bearbeituogen, Ühersetztmgen, Mikroverlilmungen und die Einspeiclletuog und Verarbeituog in elektronischen Systemen, Das verwendete Papier ist aus chlorlrci gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig uod umweltfreundlich, Einbandgestaltuog: )an P Lichtenford, Mettmann Textformatieruog: A Qucdnau, Haan Druck und Verarbeituog: Kösel, Krugzell Printed in Cerrrumy

Vorwort 198 Aufsätze, 136 Urteilsanmerkungen, 15 Beiträge für Festschriften, 37 Kommentare, Handbücher und weitere Schriften sowie 4 Lehrbücher und nicht zuletzt Begründer des Standardwerkes zum AGB-Recht – und dies alles neben anwaltlicher und schiedsrichterlicher Tätigkeit von beeindruckendem Umfang. Mit dieser wissenschaftlichen Höchstleistung wird Friedrich Graf von Westphalen am 23. Juli 2010 sein 70. Lebensjahr vollenden. Wie nur wenige vereinbart der Jubilar eine langjährige, außerordentlich erfolgreiche Tätigkeit als Anwalt und Schiedsrichter mit wissenschaftlichem Wirken auf höchstem Niveau. Diese Leistung auf juristischem Gebiet war dabei nicht von Anfang an vorbestimmt. Nach dem Abitur wollte Graf Westphalen eigentlich Geschichte und Kulturwissenschaften studieren. Nur der Rat des Onkels, der die Stelle des im Krieg vermissten Vaters einnahm, hat ihn dann zur Juristerei gebracht. Auch während des Studiums der Rechtswissenschaft hat er Vorlesungen über Geschichte, Politik und Sprachen (englisch, französisch, italienisch) besucht. Dieses Interesse für Sprache und Entwicklung anderer Staaten führte zu einem zweisemestrigen Auslandsaufenthalt an der Georgetown University in Washington DC und auch zu seiner Dissertation zur Produkthaftung in den USA, betreut von Kronstein, ein weitsichtig gewähltes Thema. Zu einer Konzentration auf die Rechtswissenschaft führten allerdings auch diese Kontakte jedenfalls zunächst nicht. Vielmehr folgten Jahre mit publizistischer Tätigkeit für den Rheinischen Merkur. Der Schwerpunkt seiner Berichterstattung lag im Bereich der Innen- und Rechtspolitik. Auch theologische Beiträge entstanden. Auch während der folgenden Jahre als Unternehmensjurist hat Graf von Westphalen weitere Artikel für den Rheinischen Merkur, jetzt als freier Mitarbeiter mit Schwerpunkt im Bereich der Theologie, verfasst. Er selbst hat sich treffend einmal als Grenzgänger bezeichnet. Es folgte am 1.4.1973 die Eröffnung einer eigenen Praxis. In dieser Zeit entstand auf Grund der im Bereich internationaler Vertragsgestaltung gewonnenen Erfahrungen ein Kontakt zu Reinhold Trinkner, dem Chefredakteur des Betriebs-Beraters, der zahlreiche Projekte Graf Westphalens betreut hat. Kontakte zur CDU/CSU führten zur Mitgliedschaft in einer Kommission, die den Auftrag hatte, ein AGB-Recht zu entwerfen. Dieses Rechtsgebiet wurde zu einem der maßgeblichen juristischen Interessengebiete des Jubilars. Seine vom Gedanken des Verbraucherschutzes geprägten Stellungnahmen waren und sind in vielen Bereichen Diskussionsgrundlage. Dies gilt insbesondere auch für sein 1978 erstmals im Verlag Dr. Otto Schmidt entstandenen Werk „Der Leasingvertrag“. Mehr als die Hälfte seines Lebens ist Graf Westphalen Namensgeber seiner Anwaltskanzlei, in der mittlerweile über 170 Kolleginnen und Kollegen stolz sind tätig zu sein, stolz sind, unter seinem Namen oder besser: unter seinem wissenschaftlichen Ruf zu arbeiten, der zwischenzeitlich weit über Deutschlands Grenzen hinaus gewachsen ist. Selbst Weggefährten in der Kanzlei über V

Vorwort

mehr als 35 Jahre hinweg ist es bis heute ein Rätsel geblieben, wie man effektive anwaltliche Tätigkeit mit einer so außergewöhnlichen wissenschaftlichen Schaffenskraft vereinbaren kann – und noch darüber hinaus wöchentliche Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften abliefert, die sich keineswegs vorrangig mit Recht, sondern nach wie vor auch mit Theologie und Politik befassen. Aber auch wer am wissenschaftlichen Oeuvre die Fähigkeit des Jubilars bewundert, schwierige Fragen präzise, sprachlich prägnant und fundiert auf den Punkt zu bringen, ist bei einer persönlichen Begegnung beeindruckt von seiner Freundlichkeit und Menschlichkeit: Das Diktat noch so komplexer Schriftsätze unterbricht er spontan, um sich der kleinen Nöte des Alltags seiner Mitarbeiter und Kollegen zu widmen und mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Seine Liebe zur Geige und zum Tennis sind weitere Bereiche, die zum Jubilar gehören – nicht zu vergessen seine Frau Marie-Theres und seine vier Kinder nebst Enkelkinder. Als Dozent ist Friedrich Graf von Westphalen bekannt für seinen freien und höchst intellektuellen Vortragsstil. Wer ihm folgen will, muss konzentriert zuhören. Wer mit ihm diskutieren will, sollte neben einem hohen präsenten Allgemeinwissen ein genauso präsentes Fachwissen vorweisen können – möglichst zitatfest. Als Vizepräsident des Deutschen Anwaltvereins kümmert er sich nicht nur um die Belange der deutschen Kollegen: In der Arbeitsgemeinschaft internationaler Rechtsverkehr des DAV ist der Jubilar stets als überzeugender Vertreter von LAW made in Germany aufgetreten. Friedrich Graf von Westphalen darf auf eine aus dem Rahmen fallende Lebensleistung zurückschauen. Es ist kein Zweifel, dass seine Schaffenskraft auch weit über das 70. Lebensjahr hinaus anhalten und er noch viele Leitlinien und Anregungen auch – wie bisher – für die Rechtsprechung geben wird. Nicht zuletzt seine Kontaktfreude, seine Freundlichkeit, Fröhlichkeit und die Zuverlässigkeit, die er sich trotz seines ständig hohen Arbeitsprogrammes bewahrt hat, hat viele Freunde, Kollegen und Weggefährten freudig veranlasst, an dieser Festschrift mitzuwirken. Besonderer Dank gilt dem Verlag Dr. Otto Schmidt und „seiner“ Kanzlei Graf von Westphalen für die großzügigen finanziellen Beiträge, die das Erscheinen dieser Festschrift möglich gemacht haben. Ganz besonders hervorzuheben ist die unermüdliche Hilfe von Frau Gabriele Nohl, die Assistentin des Jubilars seit Beginn seiner anwaltlichen Tätigkeit ist und die die erforderliche Koordination – wie immer erfolgreich – übernommen hat. Herausgeber und Autoren wünschen dem Jubilar auch weiterhin eine so bewundernswerte Schaffenskraft, eine große glückliche Familie und dass er der Wissenschaft wie seinen Mandanten noch lange erhalten bleiben möge. Glück, Gesundheit und Gottes Segen sollen dabei nicht fehlen. Im Juni 2010 F. Christian Genzow, Barbara Grunewald, Hans Schulte-Nölke VI

Inhalt Seite

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V

Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XI

Holger Altmeppen Unbestellte Leistungen: Die Kampfansage eines „Verbraucherschutzes“ an die Grundlagen der Privatautonomie . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Klaus Peter Berger Schiedsgerichtsbarkeit und AGB-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Michael Brauch AGB im unternehmerischen Geschäftsverkehr – Bringt das E-Commerce-Recht einen weiteren Schritt auf dem Weg zum Abschied von der Vertragsfreiheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

Barbara Dauner-Lieb / Asim Khan Betriebsausfallschäden als Gestaltungsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

Fritz Drettmann Handelsbräuche und Allgemeine Geschäftsbedingungen . . . . . . . . . . . .

73

Christian Duve / Maximilian Sattler Schiedsvereinbarungen in Verbraucherverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

Siegfried H. Elsing Zur Auslegung von Schiedsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

109

Volker Emmerich Verbraucherschutz bei Schönheitsreparaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

127

Wolfgang Ewer Verbraucherschutz und öffentliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

135

Andreas Fandrich Haftungsbeschränkungs- und Regressverzichtsklauseln bei Vorstandsmitgliedern von Genossenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . .

149

Ulrich Foerste Weiterfresser- und Produktionsschäden in neuem Licht . . . . . . . . . . . .

161

Stefanie Furmans Aktien als Vergütung – Was den Arbeitnehmer derzeit in der Rechtsprechung erwartet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

183

F. Christian Genzow Wegfall der Kfz-GVO: Die Rechtsprechung zum Vertriebsrecht zukünftig ohne Rückhalt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

193 VII

Inhalt Seite

Lutz-Peter Gollnisch Verbraucherrechte bei der Versorgung mit Trinkwasser . . . . . . . . . . . .

205

Barbara Grunewald Was sind Vertragsbedingungen im Sinne von § 305 BGB? . . . . . . . . . . .

229

Jürgen Gündisch Sprache und Stil der europäischen Rechtsetzung zum Verbraucherschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

239

Ulrich Haas / Michael Schulze Urteilsvertretendes Anerkenntnis und Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . .

253

Mathias Habersack Die Bürgschaft für eine nachrangige Forderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

273

Hans-Jürgen Hellwig Zum Normenscreening des anwaltlichen Berufsrechts . . . . . . . . . . . . .

289

Martin Henssler Konsequenzen verfassungswidriger Berufsrechtsnormen. Zur Befugnis einer Rechtsanwaltskammer zur Zulassung einer Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

311

Thomas Hoeren Die Abschlussgebühr in der AGB-rechtlichen Kontrolle . . . . . . . . . . . .

331

Norbert Horn Anlegerschutz und neues Schuldverschreibungsrecht . . . . . . . . . . . . . .

353

Andreas Kappus Strategische Individualabreden. Grenzgänge im AGB-Recht am Beispiel von Wohnungsübergabeprotokollen, Zusatzabreden und Geschäftsanweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

369

Detlef Kleindiek Die Verfolgung von Schadensersatzansprüchen gegen die Geschäftsführer in der GmbH mit Aufsichtsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

387

Achim Krämer Verhaltener Anspruch und Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

401

Gerhart Kreft Gedanken zum Girokonto für jedermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

415

Richard Kreindler Rechtsschutz für ausländische Direktinvestitionen im Energiesektor: Neue Möglichkeiten in der Investitionsschiedsgerichtsbarkeit . . . . . . .

433

Thomas Krümmel Flüchtige Begegnung mit einem Totgeglaubten – Verbraucher und Vernunft in der Rechtssprache der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

441

VIII

Inhalt Seite

Klaus Landry Exportkontrolle und Terrorismusbekämpfung: Auswirkungen auf privatrechtliche Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

453

Tobias Lenz Wirtschaftskrise – Bankvorstände und D&O-Versicherung. Zugleich ein Beitrag zu „Spekulationsgeschäften“ und zu „versicherten Tätigkeiten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

469

Georg Maier-Reimer Gutgläubiger Anteilserwerb und Bedingung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

489

Pierre Mathijsen Consumer Protection in the European Union: Who is in charge? . . . . .

507

Thomas Miller Schadet das Verblistern dem Patienten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

517

Jens Nielsen Die laufende Neubestimmung der Grenzen der Privatautonomie von Kaufleuten und Unternehmen im Wandel des Zeitgeistes . . . . . . .

533

Thomas Pfeiffer Flucht ins schweizerische Recht? Zu den AGB-rechtlichen Folgen der Wahl schweizerischen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

555

Peter Präve Zur Einbeziehung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen in den Versicherungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

569

Otto Sandrock Ausländische Zweckgesellschaften und der Schutz inländischer Interessen. Fehlen oder Falschanwendung inländischer Schutznormen, die extraterritorial zu gelten bestimmt sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

581

Hans Schulte-Nölke Bausteine aus der Wissenschaft für die englische Vertragssprache. Der Gemeinsame Referenzrahmen als Toolbox für die Vertragsgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

609

Rolf A. Schütze Der Verbraucher im europäischen Justizraum oder: die Zweiklassenjustiz im europäischen Zivilprozessrecht . . . . . . . . . . .

621

Claudia Seibel / Anna Elisabeth Freiin von Preuschen-von Lewinski Die Verjährung der Prospekthaftung bei geschlossenen Fonds . . . . . . . .

629

Gerald Spindler Beratungsverträge mit Aufsichtsratsmitgliedern – Grundlage und Grenzen einer analogen Anwendung von § 114 AktG . . . . . . . . . . . . . .

641

IX

Inhalt Seite

Ansgar Staudinger Schiedsspruch und Urteil mit vereinbartem Wortlaut . . . . . . . . . . . . . .

659

Ronald Steiling Handlungspflichten von Lebensmittel- und Futtermittelunternehmern nach der EU-Basisverordnung und ihr Einfluss auf die zivilrechtliche Produkthaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

671

Gregor Thüsing / Gerrit Forst Abführung von Aufsichtsratsvergütung an gewerkschaftliche Bildungseinrichtungen. Zur rechtlichen Bindung durch vertragliche oder mitgliedschaftliche Verpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

693

Eberhard Vetter Zur Compliance-Verantwortung des Vorstands und zu den Compliance-Aufgaben des Aufsichtsrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

719

Susanne Vogt Wie viel Information braucht der Durchschnitt? . . . . . . . . . . . . . . . . . .

741

Harm Peter Westermann Insolvenzrechtliche Haftung der Vorstände von Idealvereinen . . . . . . .

755

Herbert Zahn Das Leistungsversprechen des Leasinggebers beim Projektleasing. Ein Beitrag zu Ratio und Dogmatik des § 278 BGB . . . . . . . . . . . . . . . .

773

Schriftenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

801

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X

Verzeichnis der Autoren Altmeppen, Holger Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht I an der Universität Passau Berger, Klaus Peter Dr., LL.M. (Virginia), Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, deutsches und internationales Handels-, Wirtschafts- und Bankrecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung, Direktor des Instituts für Bankrecht und des Center for Transnational Law (CENTRAL) an der Universität zu Köln Brauch, Michael Dr., Rechtsanwalt und Partner der Sozietät SKW Schwarz Rechtsanwälte, München Dauner-Lieb, Barbara Dr., Universitätsprofessorin für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht, Arbeitsrecht und Europäische Privatrechtsentwicklung an der Universität zu Köln, Direktorin des Instituts für Arbeits- und Wirtschaftsrecht sowie des Instituts für Gesellschaftsrecht, Richterin am Verfassungsgerichtshof NRW Drettmann, Fritz Dr., Rechtsanwalt und Notar, Partner der Sozietät Volkmann, Reinstorf & Partner, Bremen Duve, Christian Dr., Rechtsanwalt und Partner, Freshfields Bruckhaus Deringer, Frankfurt am Main Elsing, Siegfried H. Dr., LL.M. (Yale), Honorarprofessor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Rechtsanwalt und Partner, Orrick Hölters & Elsing, LL.P., Düsseldorf Emmerich, Volker Dr., Universitätsprofessor (em.), Universität Bayreuth, Richter am OLG Nürnberg a. D. Ewer, Wolfgang Dr., Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verwaltungsrecht, Honorarprofessor an der Christian-Albrechts-Universität Kiel, Präsident des Deutschen Anwaltvereins Fandrich, Andreas Dr., Rechtsanwalt, Dr. Fandrich Rechtsanwälte, Stuttgart XI

Verzeichnis der Autoren

Foerste, Ulrich Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Zivilprozessrecht an der Universität Osnabrück Forst, Gerrit Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Arbeitsrecht und das Recht der sozialen Sicherung an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Furmans, Stefanie Rechtsanwältin, Ottobrunn Genzow, F. Christian Dr., Rechtsanwalt, Partner der Sozietät Graf von Westphalen, Köln, Direktor des Instituts für europäisches Vertriebs- und Kartellrecht an der Rheinischen Fachhochschule Köln, Studiengangsleiter Masterprogramm, Sprecher der Vereinigung europäischer Vertriebsanwälte (EDL) Gollnisch, Lutz-Peter Dr., Rechtsanwalt, Luckau Grunewald, Barbara Dr., Universitätsprofessorin, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Wirtschaftsund Anwaltsrecht sowie Direktorin des Instituts für Gesellschaftsrecht an der Universität zu Köln Gündisch, Jürgen Dr., LL.M. (Harvard), Rechtsanwalt, ehem. Mitglied des Hamburgischen Verfassungsgerichts Haas, Ulrich Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Zivilverfahrens- und Privatrecht an der Universität Zürich Habersack, Mathias Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Rechtsvergleichung an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen Hellwig, Hans-Jürgen Dr., Rechtsanwalt, Hengeler Mueller, Frankfurt am Main, Honorarprofessor für Europäisches Gesellschaftsrecht an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Henssler, Martin Dr., Universitätsprofessor, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Arbeits- und Wirtschaftsrecht an der Universität zu Köln Hoeren, Thomas Dr., Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für Informations-, Telekommunikations- und Medienrecht an der Universität Münster XII

Verzeichnis der Autoren

Horn, Norbert Dr., Universitätsprofessor (em.) für Zivilrecht und deutsches und internationales Handels-, Wirtschafts- und Bankrecht und Rechtsphilosophie an der Universität zu Köln, Direktor (em.) des Instituts für Bankrecht an der Universität zu Köln, Leiter des ADIC Arbitration Documentation and Information Center, Köln Kappus, Andreas Dr., Rechtsanwalt, Poppe & Kappus, Frankfurt am Main, Lehrbeauftragter an der Fachhochschule Frankfurt am Main, Schriftleiter der Neuen Zeitschrift für Miet- und Wohnungsrecht (NZM) Khan, Asim Dr., Rechtsreferendar am Landgericht Frankfurt am Main Kleindiek, Detlef Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handelsrecht, deutsches und europäisches Wirtschaftsrecht an der Universität Bielefeld Krämer, Achim Dr., Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof, Honorarprofessor an der Universität Göttingen Kreft, Gerhart Dr., Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a. D., Ombudsmann der privaten Banken, Karlsruhe Kreindler, Richard Dr., Attorney at Law and Avocat, Partner der Sozietät Shearman & Sterling LLP, Frankfurt am Main, Honorarprofessor an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster Krümmel, Thomas LL.M. (Glamorgan), Rechtsanwalt, Partner der Sozietät Meyer-Köring, Berlin Landry, Klaus Dr., Rechtsanwalt, Partner der Sozietät Graf von Westphalen, Hamburg Lenz, Tobias Dr., Rechtsanwalt, Partner der Kanzlei Graf von Westphalen, Köln, Honorarprofessor für nationales und internationales Wirtschaftsrecht an der Rheinischen Fachhochschule Köln Maier-Reimer, Georg Dr. Dr. h.c., LL.M. (Harvard), Rechtsanwalt, Oppenhoff & Partner, Köln Mathijsen, Pierre Dr., P.S.R.F. Mathijsen MAecon, Professor Europarecht Freie Universität Brüssel, ehemals General Director Europäische Kommission, Rechtsanwalt in Brüssel XIII

Verzeichnis der Autoren

Miller, Thomas Dr., Rechtsanwalt und Notar, Partner der Sozietät KROHN Rechtsanwälte, Berlin, Lehrbeauftragter der SRH Hochschule Berlin GmbH Nielsen, Jens Dr., Rechtsanwalt, bis 1996 Syndikus der DB Hamburg, 1996–2006 Partner der Sozietät KROHN Rechtsanwälte, Hamburg Pfeiffer, Thomas Dr., Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für ausländisches und internationales Privat- und Wirtschaftsrecht an der Universität Heidelberg Präve, Peter Dr., Syndikus, Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. Freiin von Preuschen-von Lewinski, Anna Elisabeth Dr., LL.M. (Edinburgh), Rechtsanwältin, Partnerin der Sozietät IUR-REALIS Rechtsanwälte, Frankfurt am Main Sandrock, Otto Dr., LL.M. (Yale), Universitätsprofessor (em.) an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, seit 1995 Rechtsanwalt und of counsel bei Orrick Hölters & Elsing, LL.P., Düsseldorf Sattler, Maximilian Rechtsreferendar, Freshfields Bruckhaus Deringer, Frankfurt am Main Schulte-Nölke, Hans Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht, Rechtsvergleichung sowie Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte, Direktor des European Legal Studies Institute an der Universität Osnabrück Schulze, Michael Dipl.-Fw. (FH), Finanzverwaltung Hessen, ehemals: Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lehrstuhl für Zivilverfahrens- und Privatrecht an der Universität Zürich Schütze, Rolf A. Dr., Rechtsanwalt, Thümmel, Schütze & Partner, Stuttgart, Honorarprofessor an der Universität Tübingen Seibel, Claudia Dr., Rechtsanwältin, Partnerin der Sozietät IUR-REALIS Rechtsanwälte, Frankfurt am Main Spindler, Gerald Dr., Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für Wirtschaftsrecht, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels- und WirtschaftsXIV

Verzeichnis der Autoren

recht, Rechtsvergleichung, Multimedia- und Telekommunikationsrecht an der Georg-August-Universität Göttingen Staudinger, Ansgar Dr., Universitätsprofessor für Bürgerliches Recht, Internationales Privat-, Verfahrens- und Wirtschaftsrecht an der Universität Bielefeld Steiling, Ronald Dr., Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verwaltungsrecht, Partner der Sozietät Graf von Westphalen, Hamburg Thüsing, Gregor Dr., LL.M. (Harvard), Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und das Recht der sozialen Sicherung an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Vetter, Eberhard Dr., Rechtsanwalt, Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Köln Vogt, Susanne Richterin am Oberlandesgericht Dresden Westermann, Harm Peter Dr. Dres. h.c., Universitätsprofessor (em.) an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen Zahn, Herbert Rechtsanwalt, Ministerialdirektor a.D., Rechtsanwälte Zahn & Partner GbR, Bonn/Bad Godesberg

XV

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Holger Altmeppen

Unbestellte Leistungen: Die Kampfansage eines „Verbraucherschutzes“ an die Grundlagen der Privatautonomie Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Zur Überflüssigkeit des § 241a BGB aus europarechtlicher Sicht III. Ausschluss jeglicher Vertragshaftung? 1. Meinungsstand 2. Stellungnahme

IV. Zum Vindikationsanspruch des Unternehmers und Verwertungsrecht des Verbrauchers 1. Meinungsstand 2. Zur sinnvollen Begrenzung der ratio legis V. Weitere schwerlich haltbare rechtliche Konsequenzen der h. M. VI. Ergebnisse

I. Einleitung Gut zehn Jahre ist es her, dass der deutsche Gesetzgeber in Umsetzung der EGRichtlinie 97/7 vom 20. Mai 1997 „über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz“ in § 241a BGB „Verbraucherschutz“ gegen unbestellte Leistungen angeordnet hat. Einer der großen deutschen Privatrechtler seiner Zeit hat die Neuregelung nicht nur einer Fundamentalkritik unterzogen, sondern vor ihrer gebotenen Abschaffung durch den Gesetzgeber gefordert, die Praxis müsse und dürfe sie einfach übergehen; sie sei, weil voller Perplexitäten, „pro non scripto“ zu behandeln1. Auch heute noch eignet sich keine andere Norm besser dazu, die Gefährlichkeit von überzogenem Verbraucherschutz aufzuzeigen, zu verantworten von „Gutmenschen“ in Parlamenten und Ministerien, deren unentwegtes Bestreben, die vermeintlich „Schwächeren“ vor den angeblich „Stärkeren“ auch um den Preis der Aufgabe grundlegender Rechtsprinzipien schützen zu wollen, hier zum bitteren Ernstfall wurde. Der Jubilar ist gewiss ein Gewährsmann sinnvollen Verbraucherschutzes, ebenso gewiss aber nicht dazu bereit, ihm zu huldigen, soweit er zum „goldenen Kalb“ politischer Aktionisten verkommt, dem Grundprinzipien des Privatrechts geopfert werden sollen. Eine Bestandsaufnahme dessen, was man heute

__________ 1 Flume, ZIP 2000, 1427, 1429; zur geschwätzigen Formulierung des Gesetzestextes Hensen, ZIP 2000, 1151, der das dreimalige „durch“ anprangert. Es hätte heißen sollen: „Durch unbestellte Lieferungen und Leistungen eines Unternehmers …“ (Flume, ZIP 2000, 1427, 1428).

1

Holger Altmeppen

aus § 241a BGB ableitet, verbunden mit dem Nachweis, dass die meisten Schlussfolgerungen aus dieser vollständig missglückten Bestimmung keinen Bestand haben können, darf daher auf das Interesse des Jubilars hoffen. Wir wollen dabei von dem Schulfall ausgehen, dass ein Weinhändler W den verschiedensten Kunden am St. Martinstag eine Kiste Beaujolais Primeur zum „Probierpreis“ von 6,60 Euro (statt 9,90 Euro) zusendet. Kunde A trinkt die ganze Kiste gleich am Wochenende in dem Bewusstsein aus, den Wein damit gekauft zu haben. Kunde B räumt den Wein in seinen Weinschrank ein, mit gleichem Bewusstsein. Die juristisch gebildeten Kunden C und D handeln ebenso, jedoch in der Annahme, ein Vertrag könne kraft § 241a BGB gar nicht zu Stande gekommen sein. Kunde E veräußert den Wein für 10,00 Euro pro Flasche an F, der die Umstände kannte und den Wein an G verschenkt, bei welchem er von dessen Sohn H gestohlen und in dessen Studentenbude geschleppt wird, wo er (unversehrt) lagert. Die Vorstellung, dass Weinhändler W gegen keinen dieser Kunden bzw. deren „Rechts-“ oder „Besitznachfolger“ Ansprüche hatte bzw. noch habe, ist erschütternd, doch scheint sie nach dem Wortlaut des § 241a BGB „rechtens“ zu sein.

II. Zur Überflüssigkeit des § 241a BGB aus europarechtlicher Sicht Im Ausgangsfall haben alle Kunden in ihrer Eigenschaft als „Verbraucher“ (§ 13 BGB) von einem „Unternehmer“ (§ 14 BGB) unbestellte Ware erhalten2. Nach Art. 9 der Richtlinie 97/7/EG über unbestellte Waren oder Dienstleistungen haben die Mitgliedsstaaten die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um – zu untersagen, dass einem Verbraucher ohne vorherige Bestellung Waren geliefert oder Dienstleistungen erbracht werden, wenn mit der Warenlieferung oder Dienstleistungserbringung eine Zahlungsaufforderung verbunden ist; – den Verbraucher von jedweder Gegenleistung für den Fall zu befreien, dass unbestellte Waren geliefert oder unbestellte Dienstleistungen erbracht wurden, wobei das Ausbleiben einer Reaktion nicht als Zustimmung gilt. Das deutsche Recht hatte bereits vor Umsetzung dieser Richtlinie diesen Geboten entsprochen, namentlich in ordnungsrechtlicher Hinsicht durch das Verbot unlauteren Wettbewerbs (§ 1 UWG)3. Flume hat deshalb der damaligen Bundesjustizministerin attestiert, es sei „schlechthin unerträglich“, in welcher Weise sie sich „erdreistet“ habe, „durch eine solche Gesetzgebung … das BGB zu verunstalten“4.

__________

2 Zur Definition des „Verbrauchers“ in § 13 BGB treffend Flume, ZIP 2000, 1427, 1428: „Die Definition des § 13 BGB ist nach ihrem Wortlaut barer Unsinn.“ 3 Ebenso S. Lorenz, JuS 2000, 833, 841; ders. in FS W. Lorenz, 2001, S. 193, 194. 4 Flume, ZIP 2000, 1427, 1430; s. auch Hensen, ZIP 2000, 1151: „Man könnte heulen.“; Schwarz, NJW 2001, 1449: „Störfall für die Zivilrechtsdogmatik“.

2

Unbestellte Leistungen: Kampfansage an die Privatautonomie

Doch kommt es heute nicht mehr darauf an, dass der Fundamentalangriff des § 241a BGB auf die Grundlagen des Bürgerlichen Rechts aus europäischer Sicht völlig überflüssig war. Herauszuarbeiten ist vielmehr, dass von ihm wenig Gefahren ausgehen können, wenn man ihn teleologisch auf das Notwendigste reduziert. Dies ist in methodischer Hinsicht auch dann zulässig, wenn im Bundesministerium der Justiz seinerzeit andere Vorstellungen zur Reichweite der Norm bestanden haben sollten. Juristische Torheiten und Fehlschlüsse der Ministerialbürokratie sind nämlich nicht geltendes Recht5.

III. Ausschluss jeglicher Vertragshaftung? 1. Meinungsstand Nach herrschender Ansicht soll der „Verbraucher“ niemals in eine Vertragshaftung geraten können, wenn er die unbestellte Leistung – in welcher Form auch immer – „annimmt“. Dies soll auch dann gelten, wenn der betreffende Verbraucher sein Verhalten als die Offerte annehmende Willensbetätigung i. S. d. § 151 BGB versteht (so im Ausgangsfall die Kunden A und B, die den Wein durch konkludentes Verhalten kaufen wollten). Unklar ist der Meinungsstand hinsichtlich solcher Personen, die um § 241a BGB bestens Bescheid wissen. Können auch die Kommentatoren des § 241a BGB keinen Vertrag über die Kiste Wein zu Stande bringen, indem sie entsprechende Zueignungshandlungen als Willensbetätigungen (§ 151 BGB) vornehmen?6 Wer diese Frage mit Nein beantwortet und stets eine „ausdrückliche“ Annahmeerklärung oder aber eine „Zahlung“ des Verbrauchers verlangt7, erkennt den Zweck des § 241a BGB im Ausschluss des § 151 BGB zu Lasten des „Unternehmers“, der sich bei Zueignungshandlungen ohne Geltung des § 241a BGB der Annahme seines Angebotes durch Willensbetätigung (§ 151 BGB) gewiss sein könnte. Da nicht anzunehmen ist, dass der Gesetzgeber zwischen rechtskundigen und rechtsunkundigen Bürgerinnen und Bürgern unterscheiden wollte, und da die h. M. dies ebenfalls nicht tut, gibt es nach der h. M. weder vertragliche Ansprüche gegen den „Gutgläubigen“, der sein Verhalten als Vertragsannahme i. S. d. § 151 BGB verstanden hat, noch gegen den „Rechtskundigen“, der die Regelung des § 241a BGB kennt, und zwar auch dann nicht, wenn dieser Rechtsgenosse die Zueignungshandlung gerade mit dem Willen vornimmt, die Offerte des Weinhändlers anzunehmen.

__________ 5 Vgl. Larenz, Methodenlehre, 6. Aufl. 1991, S. 328 ff. 6 Verneinend die h. M., s. Heinrichs in Palandt, 69. Aufl. 2010, § 241a BGB Rz. 6; Kramer in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, § 241a BGB Rz. 13; Czeguhn/Dickmann, JA 2005, 587, 588 f.; Schwarz, NJW 2001, 1449, 1451; Sosnitza, BB 2000, 2317, 2323, aber str., vgl. Berger, JuS 2001, 649, 654; Casper, ZIP 2000, 1602, 1607; Lorenz, JuS 2000, 833, 841; Riehm, JURA 2000, 505, 511 f. 7 S. die Nachw. Fn. 6.

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2. Stellungnahme Bei genauer Betrachtung erweist sich § 241a BGB aber schon im Ansatz als unschlüssig, wenn es darum gegangen sein sollte, das Zustandekommen eines Vertrages auf dem üblichen Wege der Offerte durch Zusendung der Ware und der Annahme durch Willensbetätigung (§ 151 BGB) auszuschließen. Insbesondere darf man das Gesetz nicht so auslegen, dass der Vertragsschluss auch gegen den Willen des „geschützten Verbrauchers“ scheitern muss, wie es der Wortlaut in seiner Apodiktik zu gebieten scheint („… wird ein Anspruch gegen diesen nicht begründet.“). Dabei versteht es sich von selbst, dass „durch die Lieferung unbestellter Sachen …“ niemals ein vertraglicher Anspruch gegen den Empfänger begründet werden konnte8. Die Frage lautet vielmehr, ob dieser „das Recht“, genauer: auf der Grundlage des BGB von 1896 die Möglichkeit hat, den Vertrag durch Willensbetätigung (§ 151 BGB) zu Stande zu bringen. Die Antwort ergibt sich aus einem Rechtsgrundsatz, der 2000 Jahre Richtigkeitsgewähr auf seiner Seite hat: ‚Invito beneficium non datur‘9. (Niemandem wird gegen seinen Willen eine Rechtswohltat gewährt). Wenn § 241a BGB also den Zweck haben sollte, die Verbraucher davor zu schützen, dass durch Zueignungshandlungen betreffs der unbestellten Ware ein Vertrag zu Stande kommt (§ 151 BGB), scheidet ein solches Ergebnis gewiss dann aus, wenn der Verbraucher mit Hilfe der Willensbetätigung den Vertrag gerade zu Stande bringen wollte. Zu fragen ist allenfalls, ob man hinsichtlich der rechtsunkundigen und der rechtskundigen Verbraucher bei Anwendung des § 241a BGB zu unterscheiden hätte. Es liegt im Trend der „ideologisch“ anmutenden Regelung, den Verbraucher auch vor dem „Irrtum“ schützen zu wollen, er werde die Offerte des Unternehmers annehmen, wenn er sich die unbestellte Ware zueigne. In diesem Licht macht die Bestimmung aber noch weniger Sinn. Denn warum soll dann ein Vertrag – so die herrschende Meinung10 – zu Stande kommen, wenn dieser Kunde den Kaufpreis überweist oder ausdrücklich die Offerte annimmt, etwa um zugleich weitere Order zu geben? Wer § 241a BGB nicht kennt – und kein redlicher Rechtsgenosse würde mit einer solchen Regelung rechnen, wenn es sie nicht gäbe –, müsste dann auch davor „bewahrt“ werden, den Kaufpreis irrtumsbedingt zu bezahlen oder „voreilig“ zu erklären, die Offerte „ausdrücklich“ anzunehmen. Wenn der Gesetzgeber die Verbraucher davor „bewahren“ wollte, für die nicht bestellte Ware unnötigerweise einen Kaufpreis zu bezahlen, muss dies nach allem auch dann gelten, wenn die Verbraucher ihren Annahmewillen durch Überweisung des Kaufpreises oder durch ausdrückliche Erklärung (§ 147 BGB) zum Ausdruck bringen. Das argumentum ad absurdum lautet, dass über nicht bestellte Ware, die einem Verbraucher zugesendet wird, überhaupt kein Kaufvertrag mehr zu Stande

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8 Bereits die Gesetzesbegründung verweist auf die „allgemeinen Grundsätze des Vertragsrechts“, BT-Drucks. 14/2658, S. 46. 9 D. 50, 17, 69 (Paulus); eingehende Nachw. dazu aus der Zeit der Klassik bis zum Inkrafttreten des BGB bei Altmeppen, Disponibilität des Rechtsscheins, 1993, S. 4 ff. 10 Vgl. die Nachw. Fn. 6.

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kommen kann, unabhängig davon, was der Verbraucher erklären will oder erklärt hat, ob er den Kaufpreis schon bezahlt hat oder bezahlen will. Es versteht sich, dass dieses konsequent absurde Ergebnis von niemandem vertreten wird. Dann aber bleibt nur folgende Auslegungsmöglichkeit übrig: Gegen den Willen des Verbrauchers wirkt die Regelung nie, mag er die Norm kennen oder nicht. Wer durch sein Verhalten einen Vertrag zu Stande bringen will (§ 151 BGB), wird durch § 241a BGB niemals daran gehindert. Jede andere Interpretation verstößt nicht nur gegen den Grundsatz ‚invito beneficium non datur‘, sondern sie zwänge konsequenterweise zu dem absurden Ergebnis, dass unbestellt zugesendete Ware nicht mehr Gegenstand eines Kaufvertrages sein könnte, auch dann nicht, wenn der Verbraucher durch Bezahlung oder „ausdrücklich“ zu erkennen gibt, dass er die Ware gerade kaufen will. Der in der Praxis nicht mehr relevante Anwendungsbereich des § 241a BGB hinsichtlich vertraglicher Ansprüche gegen den Verbraucher beschränkt sich also auf solche Verbraucher, die die Regelung ausnutzen und die Ware behalten, aber nicht bezahlen wollen. Die Einsicht, dass es einer solchen Regelung gewiss nicht bedurft hätte, soll hier nicht vertieft werden, weil das hier entwickelte Auslegungsergebnis ohne weiteres hingenommen werden kann, wenn man sich den gesetzlichen Ansprüchen des Unternehmers zuwendet.

IV. Zum Vindikationsanspruch des Unternehmers und Verwertungsrecht des Verbrauchers 1. Meinungsstand Zu unserer großen Überraschung nimmt die ganz h. M. an, dass die Unternehmer auch keinen Herausgabeanspruch gegen die Verbraucher, gestützt auf ihr Eigentum (§ 985 BGB), haben sollen, weil der Gesetzgeber die rei vindicatio in § 241a Abs. 111 bzw. Abs. 2 BGB12 gerade ausgeschlossen habe. Manche Autoren behaupten sogar, der Vindikationsanspruch eines Dritten, etwa des Lieferanten, der dem Unternehmer die Ware unter Eigentumsvorbehalt geliefert hat, sei durch § 241a Abs. 2 BGB gesperrt worden13. Der h. M. ist zuzugeben, dass der Gesetzgeber in der Tat die Vorstellung gehabt haben dürfte, der „gesetzliche Anspruch“ i. S. d. § 241a Abs. 2 BGB, der im Regelfall ausgeschlossen sei, beziehe sich auch auf die rei vindicatio des Eigentümers (§ 985 BGB). In den Gesetzesmaterialien wird insbesondere hervorgehoben, ein dauerhaftes Auseinanderfallen von Eigentum und Besitz sei ein hinzunehmendes, in diesem Fall nicht tragisches Ergebnis14.

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11 S. Berger, JuS 2001, 649, 652; Jacobs, JR 2004, 490; Kramer in MünchKomm.BGB (Fn. 6), § 241a BGB Rz. 15; Lorenz, JuS 2000, 833, 841; Otto, JURA 2004, 389, 390; Reichling, JuS 2009, 111, 112; Sosnitza, BB 2000, 2317, 2319 ff.; Schwarz, NJW 2001, 1449, 1450; Tachau, Ist das Strafrecht strenger als das Zivilrecht?, 2005, S. 97 ff.; Wendehorst, DStR 2000, 1311, 1317. 12 Riehm, JURA 2000, 505, 512. 13 S. die Nachw. bei Heinrichs in Palandt (Fn. 6), § 241a BGB Rz. 7. 14 S. die Regierungsbegründung, BT-Drucks. 14/2658, S. 46.

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Die „Strafe“ für den Unternehmer soll also sein, dass er die Herrschaft über sein Eigentum verliert, weil der Verbraucher ein Besitzrecht i. S. d. § 986 BGB erwerbe15 bzw. § 241a BGB zu einem hiervon unabhängigen umfassenden Anspruchsausschluss führe16. Der Verbraucher werde zwar nicht Eigentümer, könne aber mit der Sache nach Belieben verfahren, sie insbesondere veräußern, verschenken, vorsätzlich beschädigen etc., ohne sich zivilrechtlich haftbar zu machen17. Nach h. M. soll aus „Gründen der Einheit der Rechtsordnung“ auch eine Strafbarkeit des Verbrauchers nach § 303 bzw. § 246 Abs. 1 StGB ausscheiden18. Überwiegend wird § 241a BGB insoweit ein „generell rechtfertigender Charakter“ beigemessen19, nach anderer Ansicht soll ein vom zivilrechtlichen Eigentum losgelöster wirtschaftlicher Fremdheitsbegriff zur Straflosigkeit führen20. Der Rechts- bzw. Besitznachfolger allerdings unterliege bei „Bösgläubigkeit“21 der Herausgabepflicht, wobei offenbar der Fall gemeint ist, dass er von den Umständen der Zusendung und damit vom mangelnden Eigentum des Verbrauchers Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis besaß. Völlig unklar bleibt freilich, wie ein solcher „Bösgläubiger“ in die Haftung geraten soll, wenn er sich an der Vernichtung des unternehmerischen Eigentums beteiligt, etwa der Gast, der den Wein in Kenntnis der Umstände beim Verbraucher zu trinken bekommt und zugleich eine Flasche mit zu sich nach Hause nehmen soll, um dort seine Ehefrau davon kosten zu lassen. Haften solche Personen nach § 823 BGB? Sind sie strafbar wegen Unterschlagung (§ 246 StGB)? Wie haftet der Verkäufer (im Beispiel E), und was ist mit dem bösgläubigen Erwerber, der für die Kiste Wein aber immerhin einen stolzen Preis bezahlt hat (im Beispielsfall F)? Muss auch der gutgläubige Beschenkte (im Beispielsfall G) den Wein wieder herausgeben (§ 816 Abs. 1 Satz 2 BGB!), obwohl der Verbraucher in Kenntnis seines mangelnden Eigentums damit sogar Geschäfte soll machen können, ohne sich der Bereicherungshaftung nach § 816 Abs. 1 Satz 1 BGB auszusetzen (E)? Muss der Dieb die Ware an den Unternehmer oder an den Verbraucher herausgeben? Was ist, wenn der Verbraucher oder dessen „Rechtsnachfolger“ dem Dieb erklärt, er könne die Ware behalten, im Beispielsfall der Vater G dem Studenten H?

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15 S. Lorenz in FS Lorenz (Fn. 3), S. 211; Sosnitza, BB 2000, 2317, 2323; Tachau (Fn. 11), S. 120 f.; Otto, JURA 2004, 389, 390; Heinrichs in Palandt (Fn. 6), § 241a BGB Rz. 7. 16 So die wohl h. M., vgl. nur Schwarz, NJW 2001, 1449, 1452; Berger, JuS 2001, 649, 653 m. Fn. 58; Jacobs, JR 2004, 490, 493; Kramer in MünchKomm.BGB (Fn. 6), § 241a BGB Rz. 19; Link, NJW 2003, 2811, 2812; Löhnig, JA 2001, 33, 35; Schwarz/Pohlmann, JURA 2001, 361, 364. 17 S. nur Heinrichs in Palandt (Fn. 6), § 241a BGB Rz. 7 m. w. N. 18 Anders wohl nur Schwarz, NJW 2001, 1449, 1453 f. 19 Etwa Matzky (NStZ 2002, 458, 462 ff.), Satzger (JURA 2006, 428, 433 f.) und Berger (JuS 2001, 649, 653 m. Fn. 51) ordnen § 241a BGB als eigenständigen strafrechtlichen Rechtfertigungsgrund ein, während Tachau (Fn. 11, S. 190 ff.) sowie Reichling (JuS 2009, 111, 113 f.) von einer rechtfertigenden Einwilligung des Verbrauchers ausgehen, auf den insoweit die Einwilligungsbefugnis übergegangen sein soll. 20 S. Otto, JURA 2004, 389, 390 f. Ähnlich Lamberz, JA 2008, 425, 428: „faktisches Eigentum“. 21 S. nur Heinrichs in Palandt (Fn. 6), § 241a BGB Rz. 7.

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2. Zur sinnvollen Begrenzung der ratio legis Die Behauptung, der Verbraucher könne die Sache nach seinem Belieben geund verbrauchen, vorsätzlich beschädigen, er sei der „berechtigte Besitzer“ etc., stellt sich als blanke petitio principii dar. § 241 a BGB ist verfassungskonform (Art. 14 GG) dahin teleologisch zu reduzieren, dass mit „gesetzlichen Ansprüchen“ nur solche gegen einen Verbraucher gemeint sind, der ohne das Haftungsprivileg des § 241a BGB in die Gefahr geriete, für Unsorgfältigkeit betreffs einer „Obhut“ haftbar gemacht zu werden. Die Belastung mit dem Besitz der nicht bestellten Ware darf für den Verbraucher – nur diese ratio legis macht Sinn – nicht die geringste Haftungsgefahr auslösen, wenn er die Sache weder erwerben noch beaufsichtigen will22. Im Extremfall mag er die Ware im Mülleimer entsorgen oder in den unbewachten Hauseingang stellen, wo sie dann gestohlen wird, ohne dass der Unternehmer daraus deliktische Ansprüche ableiten kann. Auch hier ist freilich eine sinnvolle Grenze zu ziehen, die jedenfalls dann überschritten ist, wenn sich das Verhalten des Verbrauchers im Verhältnis zum Unternehmer als vorsätzliche sittenwidrige Schädigung darstellt (§ 826 BGB). Davon ist auszugehen, wenn der Verbraucher nach den Umständen mühelos dazu in der Lage ist, die Belastung mit dem Besitz anders als durch „Entsorgung“, nämlich durch zumutbare Verständigung des Eigentümers auf diesen zurückzuverlagern. Wo immer man die Grenze der „Belastbarkeit“ des Verbrauchers in diesem Zusammenhang auch erkennen mag, eines konnte der Gesetzgeber aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 14 GG!) nicht anders regeln: Das Eigentum an der Ware behält der Unternehmer23, und damit ist die Vorstellung, der Verbraucher dürfe sie sich aneignen, im Ansatz nicht zu vereinbaren. Der Verbraucher wird nicht Eigentümer, wenn er die Einigungsofferte mangels seines Willens, die Ware zu kaufen, nicht annimmt, weil die Einigungsofferte unter der Bedingung des Zustandekommens eines Kaufvertrages steht (§§ 929, 158 BGB). Die Ware wird (selbstverständlich) auch nicht herrenlos und damit zur Aneignung des Verbrauchers tauglich (§ 958 BGB), weil ein solcher Regelungswille des Gesetzgebers jedenfalls an Art. 14 GG scheitern müsste24. Die h. M., die es dem Verbraucher bei dieser Sachlage dennoch gestattet, die für ihn fremde Sache nach seinem Belieben zu ge- oder verbrauchen25, unter-

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22 Dies war auch der Wille des Gesetzgebers, vgl. die – freilich ebenfalls sprachlich missglückte – Alternativfassung des § 241a Abs. 1 BGB der Bundesregierung (BT-Drucks. 14/2920, S. 14): „Durch die Lieferung unbestellter Sachen oder durch die Erbringung unbestellter sonstiger Leistungen zum Zwecke der Anbahnung eines Vertrags an einen Verbraucher wird dieser weder zur Verwahrung noch zum Erhalt der Sache oder zum Ersatz des Werts der sonstigen Leistungen verpflichtet. Er kann nach seiner Wahl den Besitz an der Ware aufgeben oder dem Unternehmer die Rücknahme der Ware anbieten; im zweiten Fall hat der Unternehmer Kosten und Gefahr zu tragen.“ 23 S. die Regierungsbegründung, BT-Drucks. 14/2658, S. 46. A. A. nur Riehm, JURA 2000, 505, 512, vgl. Fn. 30. 24 Die Gesetzesmaterialien lassen für eine solche Auslegung auch keinen Raum, s. Fn. 23. 25 S. die Nachw. in Fn. 17, 19, 20.

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stellt dem Gesetzgeber damit einen verfassungswidrigen Regelungswillen: Das unter grundgesetzlichem Schutz (Art. 14 GG) stehende Privateigentum kann, solange die Eigentumsgarantie Bestand hat, nicht von einer „verbraucherschützenden Regelung“ beiseite geschoben werden, die es dem Verbraucher letztlich erlaubt, sich fremdes Eigentum anzueignen. Mit Recht hat Flume es für „selbstverständlich“ erklärt, dass der Eigentumsherausgabeanspruch durch § 241a Abs. 2 BGB nicht aufgehoben werden konnte26. Dies ist deswegen „selbstverständlich“, weil die Regelung anderenfalls verfassungswidrig wäre27. Insbesondere ist der Verbraucher im Verhältnis zum Unternehmer kein „berechtigter Besitzer“ der für ihn fremden Sache des Unternehmers mehr, wenn er sie gerade nicht kaufen will. Im schlimmsten Falle darf er sie gefahrlos „entsorgen“, wenn er die unerbetene Besitzbelastung nicht mehr erträgt. Dann aber hat er die unbestellte Ware nicht zu verzehren, zu verschenken, zu verkaufen oder in anderer Weise die Befugnisse eines Eigentümers der Ware zu praktizieren, sondern er hat sie dem dies verlangenden Eigentümer herauszugeben (§ 985 BGB), solange sie sich noch bei ihm befindet. Die These, der Verbraucher erwerbe im Verhältnis zum Unternehmer ein „Recht zum Besitz“, wenn der Unternehmer seine Ware wegen Kaufunlust des Verbrauchers wieder abholen will, stellt sich als zivilrechtsdogmatisch nicht einzuordnende, in verfassungsrechtlicher Hinsicht der Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) widersprechende Auslegung des Gesetzeszwecks dar, der richtiger Ansicht nach allein darin bestehen kann, die Verbraucher vor Belästigung zu bewahren. Der Unternehmer, der seine Ware wieder abholen will, entspricht aber diesem Gesetzeszweck, er übt gleichsam „tätige Reue“. Er muss, wenn es dazu einen schlüssigen Gesetzeszweck geben soll, den Verbraucher von der Last des Besitzes mit seiner Sache wieder befreien dürfen, während die h. M. es dem „Verbraucher“ erlaubt, sich in dieser Situation widersprüchlich zu verhalten. In dem Moment, wo dieses kuriose Ergebnis mit einem Verwertungsrecht des Verbrauchers gerechtfertigt werden soll, der Gefallen an der Ware hat, ohne sie bezahlen zu wollen, ist man jedenfalls bei der rechtswidrigen Enteignung angekommen (Art. 14 GG). Jeder noch so hysterische Ruf nach „Schutz vor unbestellter Ware“ kann nämlich nur Sanktionen rechtfertigen, die in innerem Zusammenhang mit der Besitzbelastung stehen, die sich der Verbraucher nicht soll gefallen lassen müssen. Die Behauptung, dass der Verbraucher sich die Ware nach § 241a BGB aber auch aneignen dürfe, ist mit einem verfassungsrechtlich haltbaren Zweck der Norm nicht mehr vereinbar.

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26 Flume, ZIP 2000, 1427, 1428. Ebenso Bülow/Artz, NJW 2000, 2049, 2056; Casper, ZIP 2000, 1602, 1607. 27 Zum Verdikt der Verfassungswidrigkeit gelangt deshalb Deckers, NJW 2001, 1474. Verfassungsrechtliche Bedenken äußern etwa Riehm, JURA 2000, 505, 512 f.; Schwarz, NJW 2001, 1449, 1454; ders./Pohlmann, JURA 2001, 361, 365; s. auch die Stellungnahme des Bundesrates zum Regierungsentwurf, BT-Drucks. 14/2920, S. 5. Dezidiert a. A. S. Lorenz, JuS 2000, 833, 841: „Verfassungsrechtliche Bedenken … bestehen nicht.“; ders. in FS Lorenz (Fn. 3), S. 197 f.

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V. Weitere schwerlich haltbare rechtliche Konsequenzen der h. M. Zu welch widersprüchlichen Schlussfolgerungen die h. M. nötigt, indem sie dem Verbraucher „Schutz“ vor einer vertraglichen Bindung aufdrängt, bestätigen nicht zuletzt die Ergebnisse im Falle der Weitergabe der Ware an Dritte. Diese können kein Eigentum erwerben, wenn ihnen der Sachverhalt bekannt ist (§ 932 Abs. 2 BGB), und müssen die Ware folglich nach § 985 BGB an den Unternehmer herausgeben28. Dann aber dürfen solche „Erwerber“, mögen sie die Ware gegen Entgelt oder ohne Entgelt erhalten haben, die für sie fremde Sache nach allgemeinen Regeln der Schadensdogmatik auch nicht beschädigen (§ 823 BGB)29, würden sich gegebenenfalls sogar strafbar machen, wenn sie sie verzehrten bzw. verbrauchten (§ 246 StGB). Und damit gelangt man zur weiteren Absurdität, dass die h. M. dem Verbraucher Verzehr, Verbrauch und jede andere Zueignungshandlung gestattet, ihn aber zum Anstifter eines Delikts bzw. einer Straftat macht (§ 830 BGB; § 26 StGB), wenn er die ihm zugesandte Ware einem Dritten mit der Maßgabe überlässt, dieser dürfe sie verzehren, verbrauchen, veräußern oder mit ihr nach Belieben verfahren. Da diese „Ermächtigung“ eines Dritten durch den nicht berechtigten Verbraucher auch nach h. M. die gesetzlichen Ansprüche des Eigentümers nicht berührt, hat der Verbraucher also in Wirklichkeit gar keine Verfügungsmacht über die Sache, was nicht überrascht, weil nicht er, sondern der Unternehmer ihr Eigentümer geblieben ist. In letzter Konsequenz müsste die h. M. das Ergebnis vertreten, dass der Verbraucher entweder Eigentümer wird30 oder zumindest die Verfügungsbefugnis eines Eigentümers erhält. Doch ist der Gesetzgeber so weit gerade nicht gegangen, und nur deswegen ist die Bestimmung des § 241a BGB auch als noch verfassungsgemäß anzusehen. Da die Verfügungsmacht des Eigentümers unangetastet bleibt, kann dieser vom Verbraucher nicht nur Herausgabe verlangen, sondern die Sache insbesondere auch durch Vindikationszession an einen Dritten übereignen (§ 931 BGB), der sie anschließend beim Verbraucher vindizieren kann (§ 985 BGB). Eine starke Ansicht im Schrifttum müsste diesem Ergebnis zwar die „Einwendung“ des Verbrauchers entgegenhalten, er sei kraft des § 241a BGB der „berechtigte“ Besitzer (§§ 986 Abs. 2, 404 BGB)31. Auch

__________ 28 So die wohl h. M., s. Heinrichs in Palandt (Fn. 6), § 241a BGB Rz. 7. 29 Ein Schadensersatzanspruch des Verbrauchers muss nach h. A. (vgl. die Nachw. Fn. 16) ausscheiden, da der bloße Besitz (ohne Recht zum Besitz) kein sonstiges Recht i. S. d. § 823 BGB darstellt. Tachau (Fn. 11, S. 127 ff.) und Mitsch (ZIP 2005, 1017, 1020) verneinen auch einen Schaden des Unternehmers, da sein Eigentum nur noch eine „wertlose leere Hülle“ darstelle; a. A. insofern Jacobs, JR 2004, 490, 491 ff.; Link (NJW 2003, 2811, 2812) erkennt hierin eine neue Konstellation der Drittschadensliquidation. Beschädigen der Verbraucher und der Dritte die Sache, will Schwarz (NJW 2001, 1449, 1454) die Grundsätze der „gestörten Gesamtschuld“ fruchtbar machen; ablehnend Mitsch, ZIP 2005, 1017, 1019 f. 30 So jedoch nur Riehm, JURA 2000, 505, 512, der von einem „gesetzlichen Übergang der Eigentums“ ausgeht. 31 Vgl. die Nachw. Fn. 15.

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dieses Ergebnis zeigt aber, dass ein solcher „Verbraucherschutz“ mit den Grundgedanken unseres Bürgerlichen Gesetzbuchs nicht zu vereinbaren ist. Ein „Besitzrecht“ hat der Unternehmer dem Verbraucher nur zu dem Zweck eingeräumt, eine Kaufentscheidung treffen zu können. Ist diese im negativen Sinne gefallen, steht außer Frage, dass der Verbraucher sein Besitzrecht nicht mehr aus einer Gewährung durch den Eigentümer ableiten könnte, und keine verbraucherschützende Regelung vermag es, die Einräumung des Besitzrechtes eines Verbrauchers durch den Eigentümer einfach zu „ersetzen“. Eine dahingehende Auslegung des Gesetzes verstieße einmal mehr gegen Art. 14 GG, weil sie den Eigentümer seines Rechtes berauben würde, alleine darüber zu entscheiden (§ 903 BGB), wer das aus dem Eigentum fließende Besitzrecht ausüben soll. Eine letzte Ungereimtheit der h. M. ergibt sich endlich im Fall des Weiterverkaufs durch den Verbraucher, der dem Eigentümer nicht nach § 816 Abs. 1 Satz 1 BGB oder §§ 687 Abs. 2 Satz 1, 681 Satz 2, 667 BGB32 auf Herausgabe des Erlangten haftbar werden soll33. Auch hier ist die Behauptung, ein entsprechendes „Verwertungsrecht“ ergebe sich gerade aus § 241a BGB, eine blanke petitio principii. Die Frage lautet vielmehr, ob der Verkauf rückabzuwickeln ist, solange der Unternehmer die Verfügung nicht genehmigt und vindizieren will. Da die h. M. diese Genehmigung im Falle des „bösgläubigen“ Käufers für notwendig erachtet34, wird in dogmatischer Hinsicht sichtbar, dass der Verbraucher jedenfalls über eine fremde Rechtsposition verfügt hat, und zwar ohne rechtlichen Grund. Nur deshalb kann die h. M. auch zu dem zutreffenden Ergebnis gelangen, dass der „bösgläubige“ Erwerber der rei vindicatio ausgesetzt sei, weil er im Verhältnis zum Unternehmer nicht Eigentümer geworden und nicht zum Besitz berechtigt sei. Aus allem folgt: Der Verbraucher in der Rolle des Veräußerers ist ein Nichtberechtigter, wie auch und gerade die h. M. als selbstverständlich unterstellt. Der über fremdes Recht verfügende Nichtberechtigte muss aber kraft des § 816 Abs. 1 Satz 1 BGB, der den Sonderfall einer Eingriffskondiktion betrifft, das Erlangte an den Berechtigten abführen35. Der systematische Zusammenhang zwischen dem Rechtserwerb des Dritten zu Lasten des Berechtigten und des an die Stelle seiner Rechtsposition tretenden (rechtsgeschäftlichen) Surrogats i. S. d. § 816 Abs. 1 Satz 1 BGB bestätigt endgültig, dass die h. M. in ihrem Gehorsam vor absurden Ideen, die in der Regierungsbegründung zu § 241a BGB durchschimmern, in einen dogmatischen Sumpf gelangt ist, aus dem man nur wieder herausfindet, wenn man das „Selbstverständliche“ aus § 241 a Abs. 2

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32 Allgemein zum Verhältnis der §§ 677 ff. BGB zu § 241a BGB Hau, NJW 2001, 2863 ff. sowie Tachau, JURA 2006, 889 ff. 33 S. Reichling, JuS 2009, 111, 112; Heinrichs in Palandt (Fn. 6), § 241a BGB Rz. 7; Link, NJW 2003, 2811; Mitsch, NStZ 2000, 534, 536; Riehm, JURA 2000, 505, 512; Schwarz, NJW 2001, 1449, 1453. 34 Heinrichs in Palandt (Fn. 6), § 241a BGB Rz. 7. 35 Ebenso Berger, JuS 2001, 649, 653; Sosnitza, BB 2000, 2317, 2322.

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BGB ableitet: Der Verbraucher wird nicht Eigentümer, wenn er die Ware nicht kaufen will. Er muss sie an den Eigentümer zurückgeben. Er darf sich die Ware nicht aneignen, er kann dritten Personen das Eigentum aus eigener Rechtsmacht nicht verschaffen. Solche Dritte müssen sie – vom redlichen entgeltlichen Erwerb abgesehen (§ 932 BGB) – vielmehr (sogar bei redlichem unentgeltlichem Erwerb, § 816 Abs. 1 Satz 2 BGB) an den Eigentümer herausgeben. Bei wirksamer (§ 932 BGB) entgeltlicher Veräußerung steht das durch die Verfügung des Verbrauchers Erlangte dem Eigentümer (Unternehmer) zu (§ 816 Abs. 1 Satz 1 BGB), der insbesondere sein Eigentum auch während der Besitzphase des Verbrauchers anderweitig übereignen kann (§ 931 BGB), ohne dass der Verbraucher dem Erwerber ein „eigenes Besitzrecht“ (§§ 986 Abs. 2, 404 BGB) entgegenhalten könnte, welches er nämlich nach dem Gesetz gar nicht hat.

VI. Ergebnisse 1. § 241a BGB ist eine aus europarechtlicher Sicht vollständig überflüssige Regelung, die im deutschen bürgerlichen Recht ausschließlich Verwirrung angerichtet hat, weil ein hierzulande schon immer gewahrtes Verbraucherschutzanliegen durch diese hysterisch überzogene Regelung mit Grundprinzipien des Privatrechts auf Kollisionskurs geraten ist. 2. Der Konflikt ist hinsichtlich der vertraglichen Ansprüche des Unternehmers dahin zu lösen, dass die Privatautonomie der Verbraucher jedenfalls Vorrang vor aufgedrängtem, vom Verbraucher gar nicht gewünschten „Schutz“ genießt: ‚Invito beneficium non datur‘! Daraus folgt, dass die Verbraucher einen Vertrag über die unbestellt zugesandte Ware jedenfalls zu Stande bringen können, und zwar nicht nur durch prompte Bezahlung oder ausdrückliche Annahmeerklärung, sondern weiterhin auch in Gestalt einer Willensbetätigung (§ 151 BGB) durch Aneignungshandlung. Der Anwendungsbereich des § 241a BGB beschränkt sich insoweit nach allem auf solche „kundigen Verbraucher“, die den Wunsch haben, die Ware zu behalten, ohne sie bezahlen zu wollen. 3. Für solche Verbraucher gilt, dass sie gesetzlichen Ansprüchen des Unternehmers aus seinem Eigentum ausgesetzt bleiben (§ 985 BGB). Da der Gesetzeszweck des § 241a BGB bei verfassungskonformer Auslegung nur darin bestehen kann, die Verbraucher vor jeder Haftungsgefahr hinsichtlich der unerwünschten Belastung mit dem Besitz der Sache zu bewahren, ist die Verweigerung der Herausgabe an den dies verlangenden Unternehmer im Ansatz ausgeschlossen. Im für den Unternehmer schlimmsten Fall kann der Verbraucher die Ware einfach „entsorgen“, weil er keinerlei Obhut schuldet, Grenze: § 826 BGB. Die Unrichtigkeit der h. M., die dem Verbraucher ein Besitz- und Verwertungsrecht ohne Eigentum zugesteht, wird besonders deutlich erkennbar in den Fällen, in welchen dritte Personen in die Verwertung durch den Verbraucher einbezogen sind. Da sie nach der h. M. jedenfalls keinen „Schutz“

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aus § 241a BGB für sich beanspruchen können, muss die h. M. zu völlig ungereimten Ergebnissen gelangen, die mit der fehlsamen Prämisse zusammenhängen, (nur) der Verbraucher habe ein „Besitz-“ und „Verwertungsrecht“, ohne dieses aber aus eigener Rechtsmacht auf Dritte übertragen zu können. 4. Die hier befürwortete und verfassungsrechtlich gebotene restriktive Auslegung des § 241a BGB bestätigt, dass wir diese Norm einer Verbraucherschutzhysterie verdanken, die unabhängig von den undurchdachten Motiven ihrer geistigen Väter für die Praxis so gut wie keine Rolle spielt.

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Schiedsgerichtsbarkeit und AGB-Recht Inhaltsübersicht Einleitung I. Berührungspunkte zwischen AGBRecht und Schiedsgerichtsbarkeit 1. Vereinbarung von Schiedsklauseln in AGB 2. AGB-Recht im Schiedsverfahren II. Der ICC-Zwischenschiedsspruch Nr. 10279 vom 29.1.2001 1. Sachverhalt 2. Entscheidung des Schiedsgerichts III. Schlussfolgerungen 1. Notwendigkeit eines praxisnäheren Ansatzes

2. Bedeutung des „Aushandelns“ im b2b-Geschäft a) Der Normzweck von § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB b) Kriterien für das Aushandeln im b2b-Kontext 3. Differenzierung innerhalb des b2bVerkehrs a) Differenzierung anhand der typischen Schutzbedürftigkeit der Kundenschicht b) Berücksichtigung von Paritätserwägungen Fazit

Einleitung Mit dem Jubilar verbinden den Verfasser dieser Zeilen neben der beruflichen Aktivität in Köln vor allem die Themen „AGB-Recht“ und „Schiedsgerichtsbarkeit“. Die gemeinsame Tätigkeit als Schiedsrichter in einem ICCSchiedsgericht bot Gelegenheit zum Kennenlernen und zum intensiven Gedankenaustausch in einer ausgesprochen positiven und produktiven Arbeitsatmosphäre. Im Bereich des AGB-Rechts vertreten der Jubilar und der Verfasser dieses Beitrags seit längerem unterschiedliche Auffassungen zu der Frage einer praxisnäheren Auslegung der §§ 305 ff. BGB im Bereich des unternehmerischen Geschäftsverkehrs (b2b-Geschäft) durch die Rechtsprechung1. Unvergessen ist das Referat des Jubilars auf dem vom Verfasser dieses Beitrags organisierten Praktiker-Seminar zum AGB-Recht im Jahr 2007 in Köln. Der Jubilar leitete damals seinen Beitrag mit den völlig zutreffenden2 Worten ein, dass sich „Haftungsbeschränkungs- und Haftungsausschlussklauseln nach deutschem Recht heute schlichtweg nicht mehr wirksam in AGB vereinbaren lassen“ und dass er daher „sein Referat eigentlich auch schon wieder beenden könne“. Natürlich fuhr der Jubilar dennoch fort und hielt in gewohnter Manier ein brillantes Referat. Die Eingangsbemerkungen des Jubilars zeigen aber das

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1 Vgl. Berger, ZIP 2006, 2149 ff.; NJW 2010, 465; Dauner-Lieb, ZIP 2010, 309 einerseits und Graf von Westphalen, ZIP 2007, 149; NJW 2009, 2977; BB 2010, 195 andererseits sowie die Bezugnahmen auf diesen Meinungsstreit von Lischek/Mahnken, ZIP 2007, 158 ff. und Merkel in FS Nobbe, 2009, S. 141, 149 f. 2 Vgl. unten Fn. 86 a. E.

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Dilemma der gegenwärtigen Lage des deutschen AGB-Rechts im Bereich des b2b-Geschäfts auf. Sie verdeutlichen in eindrucksvoller Weise, wieso die von der Rechtsprechung seit langem praktizierte enge, vom schleichenden Übergriff von Wertungen aus der Inhaltskontrolle von b2c-Verträgen in das b2bGeschäft geprägte Auslegung der § 305 ff. BGB zu einem gravierenden Standortnachteil in dem vor einiger Zeit voll entflammten3 Wettbewerb der Rechtsordnungen geworden ist. Aber nicht nur die staatliche Rechtsprechung, sondern auch die private Schiedsgerichtsbarkeit spielt im Kontext des AGBRechts eine wichtige Rolle. Ihr ist der folgende Beitrag gewidmet.

I. Berührungspunkte zwischen AGB-Recht und Schiedsgerichtsbarkeit Zwischen dem AGB-Recht und dem Recht der Schiedsgerichtsbarkeit gibt es eine Reihe von unterschiedlichen Berührungspunkten. Zwei seien hier besonders hervorgehoben. 1. Vereinbarung von Schiedsklauseln in AGB Zum ersten stellt sich die Frage, ob und inwieweit Schiedsklauseln wirksam in AGB vereinbart werden können. Schon hier begegnet man der fundamentalen Unterscheidung von b2b- und b2c-Geschäft. Im b2c-Geschäft sind Schiedsklauseln in AGB jedenfalls dann unwirksam, wenn das AGB-Regelwerk, in dem sie enthalten sind, selbst in wesentlichen Punkten gegen die §§ 307 ff. BGB verstößt4. Ist dies nicht der Fall, muss die Schiedsklausel den strengen Formanforderungen des § 1031 Abs. 5 ZPO (separate Urkunde und Unterschrift) genügen, um dem Verdikt der Unwirksamkeit zu entgehen5. Für viele Bereiche des unternehmerischen Geschäftsverkehrs dagegen zählt die Schiedsgerichtsbarkeit seit Langem zu den anerkannten, akzeptierten und vor allem praktizierten Alternativen zu den staatlichen Gerichten6. Der Schutz durch die spezielle, auf den b2c-Verkehr beschränkte Formvorschrift des § 1031 Abs. 5

__________ 3 Vgl. The Law Society of England and Wales (Hrsg.), The jurisdiction of choice, 2007, mit einem Vorwort von Justizminister Jack Straw, in dem es u. a. heißt „[t]his brochure sets out the reasons for our success and lets people know why it is in their own interest to use English law and to settle their disputes here“; vgl. als Reaktion hierauf die Broschüre „Law made in Germany“, herausgegeben von den führenden juristischen Berufsverbänden in Deutschland (BNotK, BRAK, DAV, DNotV, DRB) und zum Download verfügbar unter www.lawmadeingermany.de, mit einem Vorwort von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries, in dem es heißt „[Wohlstand und Demokratie] verdanken wir nicht zuletzt unserem Recht. Wer sich heute in aller Welt für kontinentaleuropäisches Recht, für deutsches Recht entscheidet, trifft eine gute Wahl, denn Recht ‚made in Germany‘ ist ein Garant für Erfolg“; vgl. dazu auch Triebel, AnwBl 2008, 305 ff.; zu dem mit dieser „battle of brochures“ verbundenen Phänomen des „Rechts als Produkt“ Eidenmüller, JZ 2009, 641 ff. 4 BGH, NJW 1992, 575; Raeschke-Kessler/Berger, Recht und Praxis des Schiedsverfahrens, 3. Aufl. 1999, Rz. 257. 5 BGH, NJW 2005, 1125; vgl. auch Musielak/Voit, 6. Aufl. 2008, § 1031 ZPO Rz. 10. 6 Vgl. Berger, Private Dispute Resolution in International Business, Vol. II: Handbook, 2. Aufl. 2009, Rz. 16–12.

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ZPO greift hier nicht. Dies ist Ausdruck der (vermuteten) größeren Geschäftsgewandtheit und -erfahrenheit von Kaufleuten im Vergleich zu Endverbrauchern. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass im b2b-Verkehr typischerweise von einer geringeren Schutzbedürftigkeit des unternehmerischen Kunden für seine geschäftlichen Belange7 auszugehen ist. Dies gilt auch für Schiedsklauseln in AGB8. Es genügt daher, wenn die Klausel den Formanforderungen des § 1031 Abs. 3 ZPO genügt. Dabei ist der pauschale Verweis auf das AGBRegelwerk ausreichend, ein ausdrücklicher Hinweis auf die darin enthaltene Schiedsklausel ist nicht erforderlich9. Dementsprechend stellt im b2b-Geschäft eine in AGB enthaltene Schiedsklausel als solche keine überraschende Klausel oder unangemessene Benachteiligung des Vertragspartners dar10. Etwas anders gilt nur dann, wenn die Schiedsklausel wegen ihrer Ausgestaltung im Einzelfall eine unangemessene Benachteiligung für die Verwendergegenseite darstellt, etwa weil dem Verwender ein Übergewicht bei der Konstituierung des Schiedsgerichts zukommt (s. § 1034 Abs. 2 ZPO), die Gewähr für eine die Belange des Vertragspartners gefährdende Rechtsanwendung nicht gegeben ist11 oder dem Verwender ein einseitiges Wahlrecht zwischen staatlichem Gericht und Schiedsgericht eingeräumt wird, ohne dass zugleich der Gegenseite ein Anspruch gegen den Verwender auf frühzeitige Ausübung dieses Wahlrechts gewährt wird12. Liegen diese Umstände nicht vor, soll sich eine Schiedsklausel nach der neuesten Rechtsprechung des BGH sogar gegenüber einer Gerichtsstandsklausel der Gegenseite durchsetzen, wenn letztere den Willen, Schiedsvereinbarungen auszuschließen, nicht hinreichend deutlich zum Ausdruck bringt13. 2. AGB-Recht im Schiedsverfahren Der zweite Berührungspunkt zwischen AGB-Recht und Schiedsgerichtsbarkeit beruht darauf, dass AGB-rechtliche Fragestellungen häufig in nationalen und

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7 Es versteht sich von selbst, dass die nachfolgenden Überlegungen nicht gelten, wenn der Unternehmer außerhalb seines Gewerbes als privater Verbraucher am Geschäftsleben teilnimmt. 8 Vgl. zum AGB-Recht allg. Berger, ZIP 2006, 2149 ff. 9 BGH, Urt. v. 25.1.2007 – VII ZR 105/06, SchiedsVZ 2007, 273, 276; BGH, Beschl. v. 26.6.1986 – III ZR 200/85 (Juris); Zöller/Geimer, ZPO, 28. Aufl. 2010, § 1031 ZPO Rz. 9, 24. 10 BGH, Urt. v. 25.1.2007 – VII ZR 105/06, SchiedsVZ 2007, 273, 275; BGH, Urt. v. 10.10.1991 – III ZR 141/90, BGHZ 115, 324, 324 f. = ZIP 1992, 59, 60 = NJW 1992, 575, 576; BGH, Urt. v. 13.1.2005 – III ZR 265/03, BGHZ 162, 9, 16 = NJW 2005, 1125, 1126; BGH, Beschl. v. 26.6.1986 – III ZR 200/85 (Juris); vgl. auch DIS-Zwischenschiedsspr. v. 20.2.2007 (DIS-SV-B 606/06), IBR 2007, 401, 401; Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit, 7. Aufl. 2005, Kap. 5, Rz. 9 ff. 11 BGH, Urt. v. 10.10.1991 – III ZR 141/90, BGHZ 115, 324, 324 f. = ZIP 1992, 59, 60 = NJW 1992, 575, 576. 12 BGH, Urt. v. 27.2.1969 – KZR 3/68, NJW 1969, 978, 979; BGH, Beschl. v. 30.1.2003 – III ZB 6/02, IHR 2003, 90, 90; Musielak/Voit, 7. Aufl. 2009, § 1029 ZPO Rz. 21 a. E.; Timmermann, Zur Auslegung der Klausel „Hamburger freundschaftliche Arbitrage aufgrund der Waren-Vereins-Bedingungen“, IPRax 1984, 136, 136 f. 13 BGH, Urt. v. 25.1.2007 – VII ZR 105/06, SchiedsVZ 2007, 273, 275.

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internationalen Wirtschaftsschiedsverfahren eine Rolle spielen. Dies gilt etwa für Streitigkeiten aus Unternehmenskaufverträgen, sie werden heute fast ausschließlich durch Schiedsgerichte entschieden14. In diesen Schiedsverfahren wird regelmäßig auch der Einwand erhoben, bestimmte Klauseln in den im Unternehmenskaufvertrag enthaltenen und von dem wenig praxisnahen Gewährleistungsrecht des BGB15 bewusst gelösten („locked-box system“) Gewährleistungsbestimmungen („Representations & Warranties“) seien wegen Verstoßes gegen die §§ 307 ff. BGB unwirksam. Angesichts der Tatsache, dass über diese Verträge meist über Wochen oder Monate hinweg verhandelt wird und dass die während dieser Zeit verfassten Entwürfe mit den darin vermerkten Änderungen dem Schiedsgericht von den Parteien als „mark up copies“ vorgelegt werden, sind derartige Einwände in aller Regel ohne Grundlage. Bei vernünftiger, das heißt praxisnaher Auslegung des § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB muss man davon ausgehen, dass diese Klauseln im Einzelnen ausgehandelt wurden und daher keine nach den §§ 307 ff. BGB kontrollfähigen AGB darstellen16. Für die Fortbildung des deutschen Rechts wären die in diesen Verfahren ergangenen Entscheide der Schiedsgerichte von besonderer Bedeutung. Schiedssprüche entfalten, ebenso wie die Entscheide staatlicher Gerichte, eine faktische Präjudizwirkung17. Dies gilt auch deshalb, weil heute die Gleichwertigkeit von staatlicher Gerichtsbarkeit und privater Schiedsgerichtsbarkeit allgemein anerkannt ist18. Dieser Äquivalenzgedanke war auch das Leitmotiv der Schiedsrechtsreform vom 1.1.199819. Das Dilemma der Schiedsgerichtsbarkeit liegt allerdings darin, dass gerade wegen der von den Parteien gewünschten Vertraulichkeit des Schiedsverfahrens die daraus resultierenden Schiedssprüche nur sehr selten veröffentlicht werden. Das Recht des Unternehmenskaufes und in diesem Kontext auch das AGB-Recht werden also außerhalb der

__________ 14 Vgl. Duve/Keller, SchiedsVZ 2005, 169, 172 ff. („Entscheidungen staatlicher Gerichte, in denen es um den Kauf großer Unternehmen geht, sind nicht zu finden … Aussagen zur rechtlichen Bedeutung einer ‚Due Diligence‘-Prüfung oder des Sachverstands der Berater für die Aufklärungsbedürftigkeit eines Käufers im Rahmen der Übernahme eines Unternehmens in dieser Größenordnung gibt es in der Rechtsprechung … nicht.“) 15 Vgl. dazu PWW/D. Schmidt, BGB Kommentar, 4. Aufl. 2009, Vor §§ 433 ff. BGB Rz. 15. 16 Vgl. Habersack/Schürnbrand in FS Canaris, Band I, 2007, S. 359 ff.; vgl. auch Liese/ Theusinger, BB 2007, 1077. 17 Berger, J.Int’l. Arb. Nr. 4 1992, 5, 19 ff.; Duve/Keller (Fn. 14), 171; vgl. auch ICCSchiedsspruch Nr. 4131 (Interim Award Dow Chemical v. Isover Saint Gobain), Yearbook Commercial Arbitration 1984, 131, 136: „The decisions of [arbitral] tribunals progressively create case-law which should be taken into account, because it draws conclusions from economic reality and conforms to the needs of international commerce …“ 18 BGH, NJW 1998, 3027; Habscheid, JZ 1998, 446; vgl. auch Berger, Arbitration International 2009, 217, 218 f. 19 BT-Drucks. 13/5274 v. 12.7.1996, abgedruckt in Berger (Hrsg.), Das neue Recht der Schiedsgerichtsbarkeit/The New German Arbitration Law, 1998, S. 179.

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staatlichen Gerichtsbarkeit fortgebildet20. Auch der Jubilar hatte die fehlende Transparenz der Schiedsgerichtsbarkeit bereits vor mehr als zwanzig Jahren bemängelt21. Für das AGB-Recht heißt dies, dass sich Schiedsgerichte zwar an der veröffentlichten, aber im b2b-Bereich wenig praxisnahen Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte orientieren können, nicht aber umgekehrt die ordentlichen Gerichte an der praxisnahen, aber nicht veröffentlichten Rechtsprechung der Schiedsgerichte. Das Potential der Schiedsgerichtsbarkeit zur Fortbildung des deutschen Rechts und als Motor für eine praxisnähere Anwendung des AGBRechts im b2b-Geschäft verpufft meist ungehört.

II. Der ICC-Zwischenschiedsspruch Nr. 10279 vom 29.1.2001 Angesichts dieser Ausgangslage ist es von besonderer Bedeutung, wenn doch einmal ein Schiedsspruch, der sich mit der Auslegung des deutschen AGBRechts befasst, veröffentlicht wird. In der SchiedsVZ 2005 wurde ein ICC-Zwischenschiedsspruch veröffentlicht, der sich (fast) ausschließlich mit der Frage befasste, ob die in einem internationalen Anlagenliefervertrag enthaltene Haftungsbegrenzungsklausel („Cap-Klausel“) wegen Verstoßes gegen das auf den Vertrag anwendbare deutsche AGB-Recht unwirksam war. Der Verfasser dieses Beitrags war als Mitschiedsrichter an diesem Verfahren beteiligt. Der Leitsatz der SchiedsVZ-Redaktion lautet: „Zwischen Unternehmern, die sich nicht in einem wirtschaftlichen Ungleichgewicht gegenüberstehen, kann eine Haftungsbegrenzungsklausel (‚cap clause‘) auch dann als ausgehandelt gelten, wenn sie während der Vertragsverhandlungen nicht geändert und von einer Vertragspartei als nicht verhandelbar hingestellt wurde, solange sie nur Gegenstand der Verhandlungen zwischen den Parteien war. Die Annahme, eine derartige Klausel sei unter diesen Voraussetzungen nicht ausgehandelt, ist mit der kaufmännischen Rechtswirklichkeit nicht zu vereinbaren“22.

1. Sachverhalt Die Parteien, zwei Unternehmen, hatten einen Werklieferungsvertrag über eine neuartige, bis dahin noch nicht praxiserprobte Industrieanlage von Deutschland in das europäische Ausland abgeschlossen. Der Auftragsbestätigung beigefügt waren die „General Conditions for the supply of Plant and Machinery for export“ (Genf, März 1953; „LW 188“)23. Hierbei handelt es sich um AGB im Sinne des § 1 Abs. 1 AGBG (= § 305 Abs. 1 Satz 1 BGB). Die ECE-Bedingungen

__________ 20 Vgl. Sachs, SchiedsVZ 2004, 123, 124; Habersack, SchiedsVZ 2004, 259, 262; Duve/ Keller (Fn. 14), 172 ff. 21 Graf von Westphalen, ZIP 1986, 1159. 22 ICC-Zwischen- und Teilschiedsspruch Nr. 10279, SchiedsVZ 2005, 108 ff. mit Anm. Hobeck, a. a. O., S. 112. 23 Vgl. dazu Ferid, Die Allgemeinen Lieferbedingungen für den Export von Anlagegütern, 1954, S. 9 ff., deutscher Text der ECE-Bedingungen abgedruckt a. a. O., S. 39 ff.; vgl. auch www.jurisint.org/en/con/25.html.

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waren allerdings vom beklagten deutschen Lieferanten um einige maschinengeschriebene Artikel ergänzt worden. Diese Ergänzungen lauteten u. a. folgendermaßen: „11.3 The liability in damages according to article 11.1 is limited to 5 % of contract value. 11.4 Any further claims of purchaser, in particular for indemnification of damages of any nature and also such damages not resulting from the scope of supply are excluded without consideration on which legal ground they are presented.“

Die Klägerin machte gegen die Beklagte einen Schadensersatzanspruch wegen Nichteinhaltung der vertraglich vereinbarten Spezifikation der Anlage geltend. Die beklagte Lieferantin hielt dem entgegen, die Spezifikation sei eingehalten worden. Hilfsweise verwies sie auf die in den Ziffern 11.3 und 11.4 enthaltenen Haftungsbegrenzungs- bzw. Haftungsausschlussklauseln. Zwischen den Parteien war unstreitig, dass die Beklagte die genannten Ziffern in allen von ihr geschlossenen gleich gelagerten Verträgen verwendete. Die Beklagte hatte der Klägerin die umstrittenen Klauseln wiederholt, insgesamt fünfmal, und zwar sowohl in ihren Angeboten unter ausdrücklichem Hinweis darauf, dass es sich dabei um ihre eigenen speziellen Vertragsbedingungen handelt, als auch als maschinengeschriebenen Zusatz innerhalb der gedruckten LW 188 vorgelegt. Ein schriftlicher Widerspruch der Klägerin erfolgte nicht. Bereits das Angebot der Beklagten zum Vertragsschluss („Budget Quotation“) besagte auf Seite 10 maschinenschriftlich: „Terms of delivery: In addition the enclosed ECE conditions LW 188, as amended, applicable on the day of conclusion of the contract, apply as our General Terms of Delivery. The amendments on the limitation of the contractual liability in articles 11.3 and 11.4 and in the annex apply as our Particular terms of Delivery. …“.

Diesem Angebot war ein Exemplar der LW 188 mit entsprechenden maschinengeschriebenen Zusatzklauseln beigefügt. Nach Aussage eines der an den Vertragsverhandlungen beteiligten Zeugen der Klägerin hatten die Vertreter der Klägerin während dieser Verhandlungen die schriftlich übersandten Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Beklagten geprüft und die Klauseln Nr. 11.3 und 11.4 ausdrücklich mit der Bemerkung angesprochen, diese seien „sehr hart“. Eine Diskussion über den Inhalt der Klausel habe aber nicht stattgefunden. Die Beklagte habe vielmehr entgegnet, die Klausel sei nicht änderbar. Von Seiten der Klägerin seien keine Abänderungswünsche hinsichtlich dieser Klauseln erhoben worden. Unterschiedliches wurde allerdings von den Zeugen dazu bekundet, aus welchem Grunde solche Abänderungswünsche unterblieben. Ein Zeuge der Klägerin sagte dazu aus, dass nach seinem Eindruck die Beklagte zu einer Abänderung nicht bereit war („for them this was a policy matter and they were quite stiff and relying on these terms“: „B said that they had to insist on these general conditions on a take it or leave it basis“), so dass man den Vertrag so akzeptieren musste, weil nur die Beklagte eine derartige Maschine liefern konnte. Ein ebenfalls an den Verhandlungen beteiligter Zeuge der Beklagten bekundete, dass „für diesen Vertrag … für uns eine Er18

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höhung der 5 %-Haftungsbegrenzung nicht in Frage“ gekommen sei, „weil … wir auf die [mit der gelieferten Anlage von der Klägerin hergestellten] Produkte keinen Einfluss nehmen konnten“. Allerdings bekundete er, dass – falls von Klägerseite bezüglich der Haftungslimitierung ein konkreter Gegenvorschlag gekommen wäre – er „die Frage an die Geschäftsführung hochgereicht“ hätte, denn „bei konkreten Vorschlägen dagegen, die von der Käuferseite gemacht werden, sind wir durchaus bereit, dies zu tun“24. Insgesamt spiegeln die unstreitigen Tatsachen und die Zeugenaussagen den typischen Ablauf der Verhandlung eines internationalen Liefervertrages wider. Von besonderer Bedeutung für das Verständnis der Klauseln Nr. 11.3 und 11.4 und der damit zusammenhängenden AGB-rechtlichen Wertungen durch das Schiedsgericht ist die Tatsache, dass es sich um die Lieferung einer neuen, bisher in der Praxis nicht erprobten, komplexen Industrieanlage handelte, sodass die beklagte Lieferantin das mit der Produktion der Produkte verbundene betriebsbezogene und für sie nicht versicherbare Risiko (Betriebsausfallschaden) der Klägerin kaum abschätzen konnte. Dies war beiden Seiten bewusst, denn – und dies ist für die AGB-rechtliche Bewertung ebenfalls von großer Bedeutung – es handelt sich bei beiden Parteien um Unternehmen mit erheblicher geschäftlicher Erfahrung, die Beklagte im Maschinenbau, die Klägerin in der Industriesparte, für die die Anlage geliefert wurde. 2. Entscheidung des Schiedsgerichts Das Schiedsgericht entschied, dass die Ziffern 11.3 und – insoweit mit Stimmenmehrheit – 11.4 keine Allgemeinen Geschäftsbedingungen darstellten, weil es sie für „ausgehandelt“ i. S. v. § 1 Abs. 2 AGBG (= § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB) hielt. Das Schiedsgericht ging zunächst von der vom BGH in ständiger Rechtsprechung vertretenen, sehr engen Definition des Aushandelns aus25. Aushandeln i. S. v. § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB bedeutet danach „mehr als bloßes Verhandeln“26. Der Verwender muss „den gesetzesfremden Kerngehalt seiner AGB ernsthaft zur Disposition stellen und dem anderen Teil Gestaltungsfreiheit zur Wahrung eigener Interessen einräumen“. Zugleich muss er dem Kunden „die reale Möglichkeit [verschaffen], den Inhalt der Vertragsbedingungen zu beeinflussen“27. Rechtsprechung und Schrifttum wenden diesen vom BGH aufge-

__________ 24 25 26 27

Vgl. ICC-Zwischen- und Teilschiedsspruch Nr. 10279 (Fn. 22), 112. ICC-Zwischen- und Teilschiedsspruch Nr. 10279 (Fn. 22), 110. BGH, NJW 2003, 1805, 1807. BGHZ 153, 312; BGHZ 150, 299; BGHZ 104, 236; BGHZ 85, 305, 308; BGH, NJW 2004, 1455; BGH, NJW 2000, 1110; BGH, NJW 1998, 3488, 3489; BGH, NJW-RR 1993, 504; BGH, NJW 1992, 1107 f.; BGH, NJW 1992, 2759, 2760; BGH, NJW 1991, 1678, 1679; BGH, NJW 1988, 2465, 2466; BGH, NJW-RR 1987, 144, 145; vgl. auch Gottschalk, NJW 2005, 2493, 2494 f.; P. Ulmer in Ulmer/Brandner/Hensen, AGBRecht, 10. Aufl. 2006, § 305 BGB Rz. 45 ff.; Pfeiffer in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGBRecht, 5. Aufl. 2009, § 305 BGB Rz. 37 ff.

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stellten „Regelsatz“28 auch auf den unternehmerischen Geschäftsverkehr an29. So soll der Umstand, dass das Vertragswerk insgesamt besprochen und in anderen Teilen abgeändert wurde, für die Frage der Qualifizierung einer Vertragsklausel (Vertragsstrafeklausel) als „ausgehandelt“ i. S. v. § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB ohne Bedeutung sein, weil dadurch nicht die Bereitschaft des Verwenders belegt wird, dem unternehmerischen Vertragspartner des Verwenders eine „eigenverantwortliche Gestaltungsmöglichkeit hinsichtlich der in Rede stehenden Klausel“ einzuräumen30. Das Schiedsgericht sah sich jedoch aus verschiedenen Gründen veranlasst, von dieser engen Auslegung des Begriffs des Aushandelns abzuweichen31. Es begründete dies zunächst damit, dass im zu entscheidenden Fall die Klägerin über die beiden Klauseln und ihren Inhalt von der beklagten Lieferantin informiert wurde und deren Inhalt damit in ihren rechtsgeschäftlichen Willen aufnehmen konnte und dies auch tatsächlich tat: „‚die Rechtsordnung (hat) keine Veranlassung, dem Vertragspartner Risiken abzunehmen, die er unter freiwilligem Verzicht auf Abänderung der ihm vorgelegten Formulierungen des anderen Teils nun einmal eingegangen ist‘ (Lieb, DNotZ 1989, 274, 291, und Wackerbarth, AcP Band 200 (2000), 45, 81, 83). Man muss bei dieser Bewertung berücksichtigen, dass einen ganz wesentlichen Grund für die vom Gesetzgeber gewünschte Inhaltskontrolle die von ihm befürchtete Gefahr bildet, dass bestimmte Vertragsklauseln nicht in die Entscheidung des Vertragspartners einbezogen worden sind (so nach Auffassung des Schiedsgerichts zutreffend Wackerbarth, a. a. O., 84). Anders ausgedrückt: Der entscheidende Grund für das Eingreifen des Gesetzgebers ist, dass bei Verwendung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen eine Partei das Recht zur Bestimmung des Vertragsinhalts unter Ausschluss der anderen Partei für sich allein in Anspruch nimmt …“ 32

Darüber hinaus stellte das Schiedsgericht entscheidend auf die kaufmännische Praxis der Vertragsverhandlungen ab, mit der die enge Definition des Aushandelns durch den BGH in keiner Weise in Einklang steht: „Bei langen Vertragswerken werden – so verhält es sich in der kaufmännischen Wirklichkeit – sehr häufig längst nicht jede und alle darin enthaltenen Klauseln diskutiert. Kaufleute gehen davon aus – und müssen angesichts der meist geschäftsmäßigen Eile davon ausgehen –, dass über jede Klausel jedenfalls gesprochen und verhandelt werden kann, zumindest dann, wenn sie nicht in einem gedruckten Regelwert steht. Auch wenn ein Text unverändert bleibt, kann im Ergebnis ein ‚Aushandeln‘ bejaht werden …“ 33

__________ 28 Graf von Westphalen, NJW 1994, 2113, 2114. 29 Vgl. BGH, NJW-RR 1987, 144, 145; Graf von Westphalen, DB 1977, 943, 946; ders., NJW 1994, 2113, 2114; Pfeiffer in Wolf/Lindacher/Pfeiffer (Fn. 27), § 305 BGB Rz. 35 ff., insb. Rz. 39; P. Ulmer in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 27), § 305 BGB Rz. 51 a. E. 30 BGH, NJW 2003, 1805, 1807. 31 Vgl. zur methodisch-dogmatischen Rechtfertigung für diese Abweichung Berger (Fn. 17), 14 f.; Aden, RIW 1984, 934, 937; Duve/Keller (Fn. 14), 171 f. 32 ICC-Zwischen- und Teilschiedsspruch Nr. 10279 (Fn. 22), 110. 33 ICC-Zwischen- und Teilschiedsspruch Nr. 10279 (Fn. 22), 110.

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Das Schiedsgericht hob auch die Tatsache hervor, dass selbst nach der Rechtsprechung auch dann von einem Aushandeln gesprochen werden kann, wenn die Klausel im Ergebnis unverändert geblieben ist34 bzw. der Verwender sie für unabdingbar erklärt35. Darüber hinaus wies das Schiedsgericht auch auf die wirtschaftliche Funktion der Klauseln Nr. 11.3 und 11.4 hin, die eine im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses unübersehbare und für die Beklagte auch sonst nicht versicherbare Haftung für das mit dem Einsatz der neuen Anlage verbundene Betriebsausfallrisiko der Klägerin verhindern sollte: „Es existieren durchaus Fälle, in denen wie bei Musterverträgen über manche Klauseln überhaupt nicht gesprochen wird und gleichwohl – wegen des Zur-Disposition-Stehens – von einem ‚Aushandeln‘ gesprochen werden kann. In einem Urteil vom 26.2.1992 hat der Bundesgerichtshof ausgeführt: ‚Im kaufmännischen Verkehr kann ein individuelles Aushandeln im Übrigen auch dann vorliegen, wenn der Verwender eine bestimmte Klausel als unabdingbar erklärt‘ (NJW 1992, 2283). Das OLG Köln hat diesen Satz in einem Urteil vom 23.6.1995 wiederholt (ZIP 1995, 1636). Canaris hat schon in JZ 1987, 1002, 1003, unter Berufung auf Ulmer/Brandner/Hensen (die damals existierende Auflage des Kommentars AGBG, § 1, Rdn. 51) darauf hingewiesen, dass eine Individualabrede ‚immer dann anzunehmen (ist), wenn der Haftungsausschluss erkennbar der Verhinderung einer ruinösen oder katastrophalen Einstandspflicht zu dienen bestimmt ist‘. Dies gehe ‚auch dann, wenn der potentielle Schädiger gleichartige Klauseln in einer Vielzahl von Fällen verwendet oder zu verwenden beabsichtigt‘. Der dahinter stehende Gedanke ist ersichtlich der, dass der künftige Vertragspartner des Verwenders erkennen muss, dass von ihm eine Reaktion erwartet wird, wenn er mit einem Vorschlag des Verwenders nicht einverstanden ist“ 36.

Schließlich wies das Schiedsgericht auf die bereits vor mehr als zwanzig Jahren gewonnene Erkenntnis hin, wonach mit der vom BGH im b2c- und b2bGeschäft gleichermaßen verwendeten Auslegung des Begriffs des Aushandelns zwar erhöhte Rechtssicherheit gewährleistet wird, zugleich aber auf Praxisnähe in der Rechtsanwendung im b2b-Bereich verzichtet wird: „D. Rabe weist auf die im konkreten Fall schwierige Unterscheidung von ‚Verhandeln‘ und ‚Aushandeln‘ hin und stellt fest: ‚Generell formelhaft das Aushandeln zu verneinen, wenn die Klausel nicht zur Disposition gestellt wurde, um die es später geht, wenn man sich nicht mehr einig ist, entspricht einfach nicht der Rechtswirklichkeit‘ (NJW 1987, 1978, 1980)“ 37.

III. Schlussfolgerungen 1. Notwendigkeit eines praxisnäheren Ansatzes Die Entscheidung des Schiedsgerichts zeigt, dass angesichts der Realitäten der kaufmännischen Verhandlungspraxis der generalisierende, für b2c- und b2b-

__________ 34 Vgl. nur BGHZ 84, 111; BGH, NJW 1991, 1679; NJW 1998, 2600; NJW 2000, 1110, 1112; Palandt/Grüneberg, 69. Aufl. 2010, § 305 BGB Rz. 21. 35 BGH, NJW 1992, 2283, 2285; Staudinger/Schlosser, 2006, § 305 BGB Rz. 45. 36 ICC-Zwischen- und Teilschiedsspruch Nr. 10279 (Fn. 22), 111. 37 ICC-Zwischen- und Teilschiedsspruch Nr. 10279 (Fn. 22), 111.

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Verträge gleichermaßen geltende Ansatz des BGH bei der Frage, wann eine Klausel als „ausgehandelt“ i. S. v. § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB gelten kann, durch eine differenzierte Sichtweise abgelöst werden muss38. Die Anforderungen der Rechtsprechung an das „Aushandeln“ von Vertragsbedingungen i. S. v. § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB lassen sich nämlich in der unternehmerischen Praxis kaum erfüllen39. Sie zwingen den unternehmerischen Verwender dazu, die gesamten Vertragsverhandlungen mit seinem Kunden ausführlich mitzuprotokollieren, um im Streitfall das „Aushandeln“ jeder einzelnen Vertragsklausel, für dessen Vorliegen er die Beweislast trägt40, nachweisen zu können41. Selbst wenn – wie dies etwa in dem vom ICC-Schiedsgericht zu entscheidenden Sachverhalt der Fall gewesen sein mag – beide Parteien von der wirtschaftlichen Sachgerechtigkeit einer Vertragsklausel als Instrument unternehmerischer Risikozuweisung überzeugt sind und gerade deshalb über die Klausel nicht ausführlich diskutiert haben, handelt es sich um AGB. Im Streitfall kann eine der Parteien sie daher später unter Berufung auf die AGB-rechtliche Inhaltskontrolle für unwirksam erklären lassen42. Mit der vom Gesetzgeber vorausgesetzten geringeren Schutzbedürftigkeit und erhöhten Verantwortlichkeit des unternehmerischen Kunden eines AGB-Verwenders und dem daraus abgeleiteten Differenzierungsgebot ist dies nicht zu vereinbaren. Die in § 310 Abs. 1 Satz 1 BGB angeordnete Nichtgeltung von § 305 Abs. 2 und 3 BGB zeigt, dass der Gesetzgeber dieses Gebot bereits auf der Stufe der Einbeziehungskontrolle berücksichtigt wissen will. 2. Bedeutung des „Aushandelns“ im b2b-Geschäft a) Der Normzweck von § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB Die Frage nach den Anforderungen, die an das Aushandeln im b2b-Kontext zu stellen sind, muss daher neu gestellt und vor dem Hintergrund des Zwecks des

__________ 38 Vgl. Berger, ZIP 2006, 2149, 2152 f.; Berger/Kleine, BB 2007, 2137, 2138 f.; Lischek/ Mahnken (Fn. 1), 158 ff. 39 Vgl. Wolf in 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Band I, Bürgerliches Recht, 2000, S. 111, 119, wonach der BGH „in seiner gesamten AGBRechtsprechung, auch soweit sie den kaufmännischen Verkehr betrifft, kaum jemals ein Aushandeln … mit dem Verzicht auf eine Inhaltskontrolle angenommen [hat].“ 40 Vgl. zur Beweislast des Verwenders für das Aushandeln BGHZ 85, 305, 308; BGHZ 83, 56, 58; BGH, NJW-RR 1987, 144; Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 9. Aufl. 2004, § 43 Rz. 16 a. E. 41 Langer, WM 2006, 1233, 1237; vgl. auch Rabe, NJW 1987, 1978, 1980; Hensen, NJW 1987, 1986, 1987: „… vielleicht darf man den Kaufleuten … den Rat geben, sich nach Abschluss der Verhandlungen schriftlich zu bestätigen, dass man sich insbesondere über diese und jene Klausel verständigt habe, um auf diese Weise abzusichern, dass besonders wichtige Klauseln Bestand behalten“; vgl. auch Garrn, JZ 1978, 302, 304. 42 Vgl. Rabe (Fn. 41), 1979 unter Hinweis darauf, der wirtschaftlich überlegene Automobilkonzern möge die Lieferbedingungen seines Unterlieferanten ungelesen abheften, denn dadurch werde sichergestellt, „dass der Automobilkonzern später einmal ihm missliebige Klauseln unter Berufung auf das AGB-Gesetz beseitigen wird.“; vgl. auch Michel/Hilpert, DB 2000, 2513, 2514 („Bumerangeffekt zulasten des vorschlagenden Vertragspartners“).

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§ 305 Abs. 1 Satz 3 BGB beantwortet werden. Das ICC-Schiedsgericht hat zu Recht darauf hingewiesen, dass dieser Zweck darin liegt, dass die Vereinbarung von vorformulierten Vertragsbestimmungen dann nicht der Inhaltskontrolle nach den §§ 307 ff. BGB unterliegen soll, wenn und „soweit“ diese Klausel trotz ihrer Vorformulierung durch eine Partei beiden Vertragspartnern als Ausdruck freier und eigenverantwortlicher Willensentscheidung zugerechnet werden kann43. Genau diese Konstellation war in dem vom ICC-Schiedsgericht zu beurteilenden Fall gegeben. Die strenge Formel der Rechtsprechung legt dagegen dem Verwender einseitig die Verantwortung auf und verlangt nur von ihm, die Initiative zu ergreifen („Zur-Disposition-Stellen“ und Gewährleistung der „realen Ermöglichung der Inhaltsbeeinflussung“44). Im b2c-Kontext erweist sich diese einseitige Verteilung der Lasten im Interesse eines effektiven Verbraucherschutzes als sinnvoll und notwendig, um die Störung in der Richtigkeitsgewähr des Vertragskonsenses zu beseitigen. Im b2b-Kontext muss diese Verantwortung aber auch dem unternehmerischen Vertragspartner auferlegt werden45. Im Gegensatz zum b2c-Geschäft ist im unternehmerischen Geschäftsverkehr grundsätzlich von der gleichen Verantwortung beider Parteien für die Durchsetzung der eigenen wirtschaftlichen Interessen auszugehen. Das Wahrnehmen und Ausnutzen einer Verhandlungsmöglichkeit – die vom BGH für das Aushandeln verlangte „Fähigkeit zur Wahrung eigener berechtigter Interessen“46 – kann von einem unternehmerischen Kunden im Gegensatz zu einem Verbraucher grundsätzlich erwartet werden47. b) Kriterien für das Aushandeln im b2b-Kontext Ein Aushandeln i. S. v. § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB liegt im b2b-Geschäft immer schon dann vor, wenn der Verwender eine konkrete Vertragsbedingung zur Disposition stellt. Der Kunde hat in diesem Fall die betreffende Klausel „in seinen rechtsgeschäftlichen Gestaltungswillen aufgenommen“48. Angesichts der geschilderten Realitäten besteht zudem im unternehmerischen Bereich für den Kunden, abgesehen von Ausnahmefällen49, die „reale“ Möglichkeit der Einflussnahme auf den Klauselinhalt50. Das Erfordernis der realen Möglichkeit

__________ 43 Garrn (Fn. 41), 303; zustimmend Graf von Westphalen (Fn. 28), 2114; Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, 1992, S. 273; vgl. auch P. Ulmer in Ulmer/ Brandner/Hensen (Fn. 27), § 305 BGB Rz. 51. 44 Vgl. oben Fn. 27. 45 Medicus, Abschied von der Privatautonomie im Schuldrecht, 1994, S. 25; Wolf (Fn. 39), 121. 46 BGH, NJW 1983, 385, 386. 47 Wolf (Fn. 39), 121; Trappe, Neuere Entwicklungen im Charterrecht des Seeverkehrs, 1975, S. 119 f.: „… ein Kaufmann, der von den ihm gegebenen faktischen und rechtlichen Möglichkeiten wissentlich keinen Gebrauch macht, bedarf des gesetzlichen Schutzes nicht.“ 48 BGH, NJW 1991, 1678, 1679; vgl. auch Wackerbarth, AcP 200 (2000), 45, 84. 49 S. aber zu wichtigen Ausnahmen unten 3. 50 Vgl. Wolf (Fn. 39), 121; ders., NJW 1977, 1937, 1939.

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der Einflussnahme auf den Vertrag soll das Versagen der Richtigkeitsgewähr des vertraglichen Konsenses im b2c-Geschäft dadurch kompensieren, dass der Verwender selbst dem Kunden zumutbare Alternativen zur Wahrung seiner Interessen eröffnet51. Im b2b-Geschäft ist die Suche nach zumutbaren Alternativen nicht allein Sache des Verwenders. Vielmehr trägt der Kunde hierfür selbst die Verantwortung, wenn er sich dadurch, dass der Verwender die Klausel zur Disposition stellt, der Bedeutung der Klausel bewusst ist. Das Ausforschen und Ausnutzen von Wahlmöglichkeiten durch den Unternehmer gehört zu den grundlegenden Charakteristika eines wettbewerblich strukturierten Marktes52. Die Entscheidung des ICC-Schiedsgerichts zeigt aber, dass auch dann, wenn der Verwender nicht im Sinne der Rechtsprechung initiativ geworden ist und eine Klausel nicht ausdrücklich zur Disposition stellt, angesichts der objektiven und vom Schiedsgericht umfassend gewürdigten Umstände des Einzelfalls ein Aushandeln angenommen werden kann. Die in der Praxis anzutreffenden Verhandlungsszenarien sind zwar vielgestaltig. Dennoch lassen sich einige typische Umstände nennen53, bei deren Vorliegen konkreter Anlass besteht, näher zu untersuchen, ob die Geltung einer bestimmten vorformulierten Vertragsbedingung vor dem Hintergrund der Realitäten der unternehmerischen Verhandlungspraxis nicht nur dem „Verwender“, sondern auch seinem Kunden zuzurechnen ist, indem sich dieser aus Einsicht in die Sachgerechtigkeit der Regelung diese voll zu eigen gemacht hat54: – der Verwender weist – wie im vom ICC-Schiedsgericht zu entscheidenden Fall geschehen – ausdrücklich auf bestimmte Klauseln hin, an denen er ein besonderes Interesse hat, und der Kunde akzeptiert diese55; – der Vertragspartner des Verwenders spricht – wie im vom ICC-Schiedsgericht zu entscheidenden Fall geschehen – von sich aus eine bestimmte Klausel an und gibt zu verstehen, dass er sich zwar eine andere Regelung wünscht, die wirtschaftliche Sachgerechtigkeit der Klausel aber anerkennt; – der Verwender hat – wie dies bei Vertragsverhandlungen im geschäftlichen Bereich häufig geschieht – bei bestimmten Klauseln oder wirtschaftlichen Punkten des Vertrages (z. B. Entgelt56) Kompromisse gemacht und lässt des-

__________

51 Fastrich (Fn. 43), S. 274. 52 Wolf (Fn. 39), 121. 53 Vgl. Wolf (Fn. 39), S. 121 f.; Berger, NJW 2001, 2152, 2154; vgl. auch Rabe (Fn. 41), 1980. 54 BGH, WM 1985, 1208, 1209. 55 P. Ulmer in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 27), § 305 BGB Rz. 51; Jaeger, NJW 1979, 1574, die aber vom Verwender zusätzlich verlangen, der Gegenseite die „reale Möglichkeit“ der Inhaltsbeeinflussung zu geben; wie hier Canaris, JZ 1987, 993, 1003; Heinrichs, NJW 1995, 153, 158; Rabe (Fn. 41), 1980; a. A. Michalski/Römermann, ZIP 1993, 1434, 1440; Schuhmann, JZ 1998, 127, 128. 56 Vgl. BGH, NJW 1988, 410, 411: „Wenn der Verwender grundsätzlich auf dieser Klausel besteht, kann er dennoch in einem Teilpunkt, beispielsweise in der Entgeltvereinbarung, dem Kunden entgegenkommen, was für das Aushandeln genügen würde.“; relativierend dazu aber BGH, NJW 1991, 1678, 1679.

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wegen bei einer anderen Klausel nicht mit sich reden, der Vertrag wird also von den Parteien als „Paket“ von Leistungs- und sonstigen Pflichten verstanden, bei deren Ausgestaltung mal die eine, mal die andere Seite ihren Standpunkt durchsetzen kann57. 3. Differenzierung innerhalb des b2b-Verkehrs Allerdings ist bei allen diesen Überlegungen zu berücksichtigen, dass sich nicht nur im Verhältnis von b2c- und b2b-Geschäft, sondern auch innerhalb des b2b-Bereichs pauschale Lösungen verbieten. Auch innerhalb des b2b-Geschäfts bestehen nämlich erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Schutzbedürftigkeit der Verwendergegenseite. § 310 Abs. 1 BGB trägt diesem Umstand Rechnung und gebietet es mit seinem Satz 2, 2. HS, auf die im Handelsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche angemessen Rücksicht zu nehmen. Ziel der insoweit missverständlichen Vorschrift ist es, die Flexibilität der Inhaltskontrolle im unternehmerischen Geschäftsverkehr zu gewährleisten. Dies belegen die Materialien zum AGB-Gesetz58 und zur Schuldrechtsmodernisierung59. Das Differenzierungsgebot des § 310 Abs. 1 BGB geht damit über die in Abs. 1 Satz 1 explizit vorgesehene Unterscheidung von b2b- und b2c-Verkehr hinaus. Es verlangt eine differenzierende Inhaltskontrolle auch innerhalb des b2b-Bereichs60. a) Differenzierung anhand der typischen Schutzbedürftigkeit der Kundenschicht Damit weist der Gesetzgeber Rechtsprechung und Wissenschaft die Aufgabe zu, Kriterien zu ermitteln, die eine differenzierende Inhaltskontrolle im unternehmerischen Geschäftsverkehr ermöglichen61. Das AGB-Recht bietet hierfür nur wenige unmittelbare Anhaltspunkte; insbesondere ist der missglückte Wortlaut von § 310 Abs. 1 Satz 2, 2. HS BGB insoweit nicht hilfreich. Für eine Unterscheidung nach der typischen Schutzbedürftigkeit einzelner Kundengruppen spricht die in § 310 Abs. 1 Satz 1 BGB explizit vorgesehene Differenzierung zwischen b2b- und b2c-Geschäften, die sich gerade durch die divergierende Schutzbedürftigkeit von Verbrauchern und Unternehmern erklärt62. Sie ist auch in § 2 HGB vorgesehen und beruht hier ebenfalls auf der Tatsache, dass bestimmte Gruppen von Gewerbetreibenden – also „Unternehmern“ in der Terminologie der §§ 305 ff. BGB – aufgrund ihrer wirtschaftlichen Durchsetzungsfähigkeit weniger schutzbedürftig sind als andere63. Für die Berück-

__________ 57 58 59 60 61 62 63

Wolf (Fn. 39), 122. BT-Drucks. 7/3919, S. 43. BT-Drucks. 14/6857, S. 54. Berger, ZIP 2009, 2149, 2155 f.; Berger/Kleine (Fn. 38), 2138 ff. Vgl. A. Fuchs in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 27), § 307 BGB Rz. 373 a. E. Vgl. oben 1. Vgl. BT-Drucks. 13/8444, S. 27 ff.

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sichtigung dieses Gedankens bei der AGB-Kontrolle im b2b-Bereich sprechen auch die Materialien zum AGB-Gesetz. Danach ging es dem Gesetzgeber bei der Schaffung von § 24 AGBG (heute § 310 Abs. 1 BGB) darum, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Risikoverlagerungen durch AGB im unternehmerischen Geschäftsverkehr „im Zusammenhang mit einer Vielzahl von Geschäften zwischen den Vertragspartnern zu sehen sind … und durch Vorteile anderer Art ausgeglichen werden können …, die dem privaten Letztverbraucher bei einem einmaligen Vertragsschluss über eine einmalige Leistung nicht zuteil werden“64. Das Ausmaß, in dem die Verwendergegenseite in der Lage ist, solche Vorteile für sich zu nutzen, variiert aber innerhalb des b2b-Verkehrs erheblich. Es hängt in erster Linie davon ab, in welchem Umfang es dem Kunden möglich ist, „die Tragweite einer Geschäftsbedingung zu durchschauen, deren Konsequenzen zu kalkulieren und sich auf bestimmte Nachteile in Form zusätzlicher Risiken und Pflichten einzustellen“65, – mithin von seiner Fähigkeit, sich selbst zu schützen. Für eine generelle Unterscheidung nach der typischen Schutzbedürftigkeit der Kundenschicht, mit der es ein Verwender bestimmter Klauseln im b2b-Geschäft jeweils zu tun hat, spricht schließlich vor allem die Legitimation der AGB-Kontrolle. Sie ergibt sich aus der Gefahr des Missbrauchs einseitig in Anspruch genommener Vertragsgestaltungsfreiheit66. Damit muss die Tatsache, dass die Verwendergegenseite im unternehmerischen Geschäftsverkehr in unterschiedlichem Maße zur Selbstvorsorge in der Lage ist und eine AGB-typische Gefährdungslage in bestimmten Konstellationen daher typischerweise gar nicht vorliegt, auch bei der Bestimmung des Anwendungsbereichs und des Umfangs der richterlichen Inhaltskontrolle zu einer teleologischen Rückkopplung führen67. b) Berücksichtigung von Paritätserwägungen Aufgabe von Rechtswissenschaft und Literatur muss es daher sein, die Tatbestandsmerkmale der §§ 305 ff. BGB im Hinblick auf homogene Kundengruppen, die sich durch eine vergleichbare Schutzbedürftigkeit auszeichnen, zu konkretisieren68. Nichts anderes geschieht letztendlich im Rahmen der Auslegung und vor allem bei der Einbeziehungskontrolle. So ist für die Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen sowohl nach Auffassung des BGH als auch der Literatur das Klauselverständnis eines durchschnittlichen Verwendungsgegners aus den beteiligten Verkehrskreisen maßgeblich69. Unter der Voraussetzung, dass die unterschiedlichen Kenntnisse und Verständnismög-

__________ 64 BT-Drucks. 7/3919, S. 43. 65 Lutz, AGB-Kontrolle im Handelsverkehr unter Berücksichtigung der Klauselverbote, 1991, S. 12. 66 BGHZ 130, 50; BGH, NJW 2003, 888, 890; Fastrich (Fn. 43), S. 88 ff. 67 Wackerbarth (Fn. 48), 46. 68 Vgl. auch A. Fuchs in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 27), § 307 BGB Rz. 373. 69 BGH, NJW-RR 2004, 1248, 1249; NJW-RR 2006, 1236, 1237.

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lichkeiten generalisierungsfähig sind und die Bildung abgrenzbarer Kundengruppen erlauben, ist eine unterschiedliche Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen möglich70; sie kann sogar geboten sein71. In ähnlicher Weise differenzieren Rechtsprechung und Literatur bei der Einbeziehungskontrolle: Maßgeblich für die Beurteilung einer Klausel als überraschend sind die Erwartungen des vertragstypischen Durchschnittskunden72. Auch hier kann aber eine Differenzierung anhand des Erwartungshorizontes typischer Kundengruppen geboten sein73. Ausgehend von der Legitimation der §§ 305 ff. BGB und dem Differenzierungsgebot des § 310 Abs. 1 BGB muss dieser Ansatz auch im Rahmen der Bestimmung des Anwendungsbereichs der Inhaltskontrolle und bei der Festlegung von Wirksamkeitsgrenzen Allgemeiner Geschäftsbedingungen Berücksichtigung finden74. Die Anzahl der hier zu bildenden Kundencluster ist dabei unmittelbar davon abhängig, inwieweit sich signifikante Abstufungen im AGB-typischen Schutzbedürfnis der Verwendergegenseite anhand ihres typisierten Vorsorgepotentials75 normativ feststellen lassen. Die Ermittlung einzelner Kundentypen ist somit auch von Paritätserwägungen (typisches Vorhandensein eines Rechtsbeistandes, typische wirtschaftliche Abhängigkeit der Verwendergegenseite etc.) abhängig. Die (offene) Berücksichtigung des Paritätsgedankens stößt in Rechtsprechung und Literatur jedoch überwiegend auf massive Ablehnung76, die in aller Regel mit dem Hinweis auf seine (angeblich) fehlende Justiziabilität und Aussagekraft für die Abgrenzung kontrollfreier von kontrollfähigen Bereichen begründet wird77. Doch geht es hier weder um eine Berücksichtigung der Parität im Einzelfall noch um das oft kritisierte „Kreisen um den Paritätsbegriff“78 im Sinne einer gebietsübergreifenden Rechtfertigung der richterlichen Inhaltskontrolle auf der Grundlage eines strukturellen Machtgefälles zwischen den Parteien. Dass Paritätserwägungen bei der Kalibrierung der richterlichen Inhaltskontrolle im b2b-Bereich nicht außer Acht gelassen werden können, belegen die Materialien zum AGB-Gesetz, in denen ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass die AGB-Kontrolle im unternehmerischen Geschäftsverkehr es „wegen ihrer Flexibilität ebenso wie die bisherige richterliche Inhaltskontrolle [ermöglicht], bei der Beurteilung des angemessenen

__________ 70 71 72 73 74

75 76 77 78

P. Ulmer in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 27), § 305c BGB Rz. 83. BGH, NJW-RR 2004, 1248, 1249; PWW/Berger (Fn. 15), § 305c BGB Rz. 13 a. E. BGH, NJW 1995, 2637, 2638; BGH, NJW-RR 2001, 439, 440. MünchKomm.BGB/Basedow, 5. Aufl. 2007, § 305c BGB Rz. 6. Vgl. A. Fuchs in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 27), § 307 BGB Rz. 373 f.; Raiser, Das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, 1935, S. 286 f.; Staudinger/Coester (Fn. 35), § 307 BGB Rz. 111 f.: Differenzierung nach typischen Interessen der Kundenseite („etwa zwischen Kaufleuten und Kleingewerbetreibenden“). Vgl. auch Fastrich (Fn. 43), S. 228; Lutz (Fn. 65), S. 12. Ausführlich Fastrich (Fn. 43), S. 216 ff.; Graf von Westphalen ZIP 2007, 149, 156; MünchKomm.BGB/Kieninger (Fn. 73), § 307 BGB Rz. 75; Wackerbarth (Fn. 48), 51 ff. Ausführlich Wackerbarth (Fn. 48), 51 ff. Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, 1993, S. 218.

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Interessenausgleichs etwaigen besonderen Gegebenheiten bei Geschäften mit Minderkaufleuten Rechnung zu tragen“79. Dies gestehen letztendlich auch Rechtsprechung und Literatur ein, wenn sie im Rahmen der §§ 305 ff. BGB entweder unverblümt mit Paritätserwägungen argumentieren80, besondere Möglichkeiten der Verwendergegenseite zur Eigenvorsorge betonen81 oder auf die „gruppentypisch unterschiedliche“ Schutzbedürftigkeit verschiedener AGBKundenkreise verweisen82. Auch das ICC-Schiedsgericht wies daher in seinem Schiedsspruch ergänzend darauf hin, dass ein zwischen den Vertragsparteien bestehendes wirtschaftliches Ungleichgewicht nicht erkennbar sei83.

Fazit Der ICC-Schiedsspruch Nr. 10279 liefert einen wichtigen Beitrag für eine praxisnähere, von Differenzierung statt Generalisierung geprägte Auslegung von § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB. Es überrascht daher nicht, dass Peter Schlosser in seiner Staudinger-Kommentierung des AGB-Rechts u. a. unter Berufung auf diesen Schiedsspruch für eine Umorientierung im Sinne einer flexibleren, d. h. zwischen b2c- und b2b-Geschäft differenzierenden Auslegung von § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB im b2b-Geschäft plädiert. Zu Recht hebt Schlosser hervor, es handele sich um eine „klare und grobe Übertreibung des Strebens nach Schutz vor unangemessenen vorformulierten Vertragsbedingungen, ein ‚Aushandeln‘ auch dann noch zu leugnen, wenn über einen von einer Seite formulierten Vertragsentwurf unter Partnern insgesamt intensiv verhandelt wurde“84. Mit ihrer engen Formel des Aushandelns öffnet die Rechtsprechung dagegen für praktisch alle Haftungsfreizeichnungs- und Haftungsbegrenzungsklauseln und

__________ 79 BT-Drucks. 7/3919, S. 43 (Hervorhebung durch den Verfasser). 80 Ausdrücklich für die Berücksichtigung von Paritätserwägungen Lieb, AcP 178 (1978), 196, 201 ff.; PWW/Berger (Fn. 15), § 307 BGB Rz. 36; Palandt/Grüneberg (Fn. 34), § 305 BGB Rz. 21 (Aushandeln): „Zu berücksichtigen sind alle Umstände des Einzelfalls, […] [auch] das Bestehen oder Fehlen eines wirtschaftlichen Machtgefälles“ (Hervorhebung durch den Verfasser); A. Fuchs in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 27), § 307 BGB Rz. 378: Berücksichtigung „eine[r] starke[n] wirtschaftliche[n] Abhängigkeit der unternehmerischen Vertragspartner vom Verwender“; Wolf in Wolf/ Lindacher/Pfeiffer (Fn. 27), § 307 BGB Rz. 196: „Innerhalb der Unternehmerschaft kann die Interessenlage weitgehende Differenzierungen nach Unternehmensgröße, Unternehmensfunktion und Branchen gebieten.“; Staudinger/Schlosser (Fn. 35), § 310 BGB Rz. 12 a. E.: Berücksichtigung der „Marktmacht“ von Zwischenvermarktern; aus der Rechtsprechung: LG Köln, BB 1987, 87, 88 („wirtschaftliche Potenz“ des AGB-Kunden); s. auch BGH, NJW 2005, 2006, 2007 f. 81 MünchKomm.BGB/Kieninger (Fn. 73), § 307 BGB Rz. 75; Palandt/Grüneberg (Fn. 34), § 307 BGB Rz. 40; Timm, BB 1987, 88, 90: „[persönliche] Eigenschaften und Verhältnisse des Kunden“. 82 Vgl. BGH, NJW 1987, 2575, 2576; BGH, NJW 1990, 1601, 1602; BGH, NJW 2000, 658, 660; Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, Rz. 474; Paulusch, DWiR 1992, 182, 183; Wolf in Wolf/Lindacher/Pfeiffer (Fn. 27), § 307 BGB Rz. 183 f., 196. 83 ICC-Zwischen- und Teilschiedsspruch Nr. 10279 (Fn. 22), 111. 84 Staudinger/Schlosser (Fn. 35), § 305 BGB Rz. 36a.

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damit für das „neuralgische Zentrum“ vieler b2b-Verträge den Weg zur Inhaltskontrolle gemäß den §§ 307 ff. BGB. Zugleich beurteilt sie die Wirksamkeit dieser Klauseln entgegen dem in § 310 Abs. 1 Satz 1 BGB angelegten Differenzierungsgebot in enger Anlehnung an die Klauselkataloge der §§ 308 f. BGB, denen sie im b2b-Kontext eine weitreichende Indizwirkung zuspricht85. Dies gilt wegen der von der Rechtsprechung entwickelten „Kardinalpflichtenlehre“86 über den Wortlaut von § 309 Nr. 7b BGB hinaus auch für die im nationalen und internationalen Handelsverkehr absolut üblichen standardisierten Haftungsfreizeichnungsklauseln für durch einfache Fahrlässigkeit verursachte Schäden. Das Verbot solcher Haftungsausschlüsse ist ausländischen Vertragsparteien kaum vermittelbar und beeinträchtigt zudem die Kalkulationsgrundlage zahlreicher Branchen vom Anlagenbau bis zur Zulieferindustrie und verhindert ein effektives vertragliches Risikomanagement87. Dies gilt insbesondere dort, wo – wie etwa zunehmend in der Automobilzuliefererindustrie – Versicherungsschutz nicht verfügbar ist oder aus Kostengründen ausscheidet. Im grenzüberschreitenden Handel bürdet die Rechtsprechung dem (in aller Regel deutschen) Verwender mit dem Verbot solcher formularmäßigen Haftungsfreizeichnungen zusätzlich einen Wettbewerbsnachteil auf, denn sie zwingt ihn – soweit überhaupt möglich – zur Versicherung der entsprechenden Risiken und damit letztlich zur Erhöhung seiner Preise oder zur Flucht in eine andere, etwa die schweizerische Rechtsordnung88. Zumindest in der deutschen

__________ 85 Vgl. P. Ulmer in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 27), § 310 BGB Rz. 27. 86 Nach der Rechtsprechung darf ein Haftungsausschluss oder eine Haftungsbegrenzung für leicht fahrlässig verursachte Schäden nicht zur Aushöhlung von vertragswesentlichen Rechtspositionen des Vertragspartners führen, BGH, NJW-RR 2005, 1496, 1505. Für die formularmäßige Begrenzung der Haftung gilt dies in gleichem Maße. Eine Haftungsfreizeichnung oder -beschränkung ist daher regelmäßig dann nach § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB unwirksam, wenn sie sich auch auf vertragstypische, vorhersehbare Schäden, die aus der Verletzung vertragswesentlicher Pflichten entstehen, erstreckt, BGH, NJW 2001, 292, 302; BGH, NJW 1993, 335; dies gilt auch für summenmäßige Haftungsbegrenzungen, BGHZ 138, 118, 133; BGH, NJW 2001, 292, 295 oder wenn der Verwender in besonderem Maße Vertrauen für sich in Anspruch genommen hat, BGH, NJW-RR 1986, 271, 272. Als Kardinalpflichten gelten nach der Rechtsprechung nicht nur Hauptpflichten, die im Synallagma stehen, sondern auch sonstige Hauptpflichten und vertragsprägende Nebenpflichten. Bisher hat der BGH in keinem seiner Urteile entschieden, dass eine Vertragspflicht keine Kardinalpflicht darstellt. Hierin liegt der eigentliche Grund für die Tatsache, dass derartige Klauseln heute nicht mehr wirksam in AGB vereinbart werden können. 87 Vgl. Brachert/Dietzel, ZGS 2005, 441. 88 Vgl. Hobeck, Anmerkung zu ICC-Zwischen- und Teilschiedsspruch Nr. 10279, SchiedsVZ 2005, 112: „Hier [d. h. in dem mit der Rechtsprechung verbundenen Risiko] liegt auch die Erklärung dafür, weshalb deutsche Lieferanten, wann immer dies rechtlich möglich ist, ihren Geschäftsbeziehungen eine ausländische Rechtsordnung – in erster Linie Schweizer Recht – zu Grunde legen; das Schweizer Recht differenziert in sinnvoller Weise zwischen dem Konsumentenschutz und dem (sinnvollerweise) von der Privatautonomie geprägten Geschäftsverkehr zwischen Industrieunternehmen. Will die deutsche Rechtsprechung diese Flucht in das Schweizer Recht vermeiden, müsste sie ihre Einstellung zum Aushandeln von Vertragsbedingungen überdenken.“

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rechtswissenschaftlichen Literatur hat aber seit einigen Jahren eine Trendwende hin zu einer zwischen b2c- und b2b-Geschäft differenzierenden Anwendung der §§ 305 ff. BGB eingesetzt89. Es bleibt zu hoffen, dass die Rechtsprechung den gleichen Weg einschlagen wird, denn „gerade das AGB-[Recht] verlangt nach dem Gespür für das rechte Maß“90.

__________ 89 Vgl. in chronologischer Reihenfolge: Dauner-Lieb, ZIP 2010, 309 ff.; Berger, NJW 2010, 465 ff.; Müller/Griebeler/Pfeil, BB 2009, 2658 ff.; Kessel/Stomps, BB 2009, 2666; Acker/Bopp, BauR 2009, 1040 ff.; Lenkaitis/Löwisch, ZIP 2009, 441 ff.; Merkel (Fn. 1), 144 ff.; Hochbaum, NJW Editorial, Heft 51/2008; Kessel/Jüttner, BB 2008, 1350, 1352 ff.; Berger/Kleine, EWiR § 307 BGB, 3/08, 169; Habersack/Schürnbrand (Fn. 16), 359; Lischek/Mahnken (Fn. 1), 158 ff.; Berger/Kleine (Fn. 38), 2138 ff.; Berger, ZIP 2006, 2149, 2152 ff.; Ostendorf, ZGS 2006, 222, 226 f.; Langer (Fn. 41), 1233 ff.; Brachert/Dietzel (Fn. 87), 442 ff.; Pfeiffer, ZGS 2004, 401 ff.; Staudinger/ Schlosser (Fn. 35), § 305 BGB Rz. 45; PWW/Berger (Fn. 15), § 305 BGB Rz. 14 und § 307 BGB Rz. 34; Berger (Fn. 53), 2152; Wolf (Fn. 39), 118 f.; vgl. bereits Ohlendorfvon Hertel, Kontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen im kaufmännischen Geschäftsverkehr gemäß § 24 AGB-Gesetz, 1988, S. 128; Rabe (Fn. 41), 1979; Hensen (Fn. 41); Lieb (Fn. 80), 218 f.; Baudenbender, JA 1987, 217 ff.; Alisch, JZ 1982, 706, 709; Garrn (Fn. 41), 304; Trappe (Fn. 47), 119 f. 90 Hensen (Fn. 41), 1987.

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AGB im unternehmerischen Geschäftsverkehr – Bringt das E-Commerce-Recht einen weiteren Schritt auf dem Weg zum Abschied von der Vertragsfreiheit? Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Gesetzgeberischer Rahmen für die Inhaltsfreiheit von Verträgen im Internet 1. Einführung 2. Kollisionsrechtliche Vorgaben – Art. 29a EGBGB 3. Verbraucherschutz durch das Fernabsatzrecht a) Anwendbarkeit der Regelungen zum Fernabsatzrecht b) Verbraucher und Unternehmer c) Informationspflichten nach Fernabsatzrecht d) Widerruf und Rückgabe 4. Ausblick auf Maßnahmen der EU und des Bundesgesetzgebers

III. Spannungsfeld zwischen Inhaltsfreiheit und AGB-Klauselverboten – einige Beispiele 1. Grundsätzliches a) Unterschied b2b – b2c-Verkehr b) Pauschale Beurteilung von Klauseln oder Einzelfallentscheidung? 2. Preis- und Leistungsänderungsvorbehalte 3. Beschränkung von Gewährleistung und Haftungsausschluss 4. Pauschalisierter Schadensersatz und Vertragsstrafe IV. Schlussbemerkungen

I. Einleitung Die Gesetzgebung der letzten 30 Jahre hat durch die Entwicklung des Verbraucherschutzrechts in Deutschland, verstärkt durch Vorgaben der EU, den Grundsatz der Vertragsfreiheit im Bereich des dispositiven Zivilrechts, der früher im Wesentlichen nur begrenzt wurde durch die §§ 138, 242 BGB, in weiten Bereichen praktisch aufgehoben. Zunehmende Bedeutung in der Rechtspraxis hat in den letzten 10–15 Jahren die Abwicklung von Verträgen über Waren und Dienstleistungen über das Internet – neudeutsch: E-Commerce – gewonnen, sowohl im Bereich von Verbraucherverträgen wie im unternehmerischen Geschäftsverkehr. Nicht erstaunlich ist es daher, dass sich der Gesetzgeber ebenfalls dieses Bereiches angenommen und zahlreiche detaillierte und zwingende Regelungen für den E-Commerce erlassen hat, die auch dort weiter in den Grundsatz der Vertragsfreiheit eingreifen. Diese Normen dienen in erster Linie – und aus gutem Grund! – dem Verbraucherschutz, betreffen aber in weiten Bereichen auch den unternehmerischen Geschäftsverkehr.

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Dieser Beitrag soll daher zum Einen einen Überblick über den aktuellen Stand des E-Commerce-Rechts geben1, zum Anderen aber auch noch einmal dazu Stellung nehmen, inwieweit der Ausbau des Verbraucherschutzes die Vertragsfreiheit auch im unternehmerischen Geschäftsverkehr weiter einschränkt; ein Thema, mit dem sich der Jubilar dieser Festschrift häufig und dezidiert befasst hat.

II. Gesetzgeberischer Rahmen für die Inhaltsfreiheit von Verträgen im Internet 1. Einführung Insbesondere im Bereich des Verbraucherschutzes, also in den geschäftlichen Beziehungen zwischen einem Unternehmer und einem Verbraucher, haben sich die gesetzlichen Rahmenbedingungen über die letzten drei Jahrzehnte bedeutend geändert. Vor der Schuldrechtsmodernisierung im Jahr 2001 beschränkte sich die Reformgesetzgebung in erster Linie auf die Schaffung von Nebengesetzen zum BGB, einer Fülle von Kodifizierungen des Verbraucherrechts durch zahlreiche, wenig aufeinander abgestimmte Einzelgesetze, wie das AGBG, das HausTWG, das VerbrKrG, das FernAbsG, das TzWrG usw. Diese gingen in Teilen auf die europäische Normengesetzgebung zurück, stellten also Umsetzungen von Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft dar. Im Mittelpunkt stand dabei der Schutz des Verbrauchers in besonderen Situationen, in denen er sich der Verhandlungsmacht eines Unternehmers gegenüber sah. Das Erfordernis der Umsetzung der Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie, der Zahlungsverzugs- und der E-Commerce-Richtlinie veranlassten den Gesetzgeber schließlich dazu, im Schuldrechtsmodernisierungsgesetz die „große Lösung“ zu verfolgen und die Gelegenheit zu nutzen, auch die Nebengesetze in das BGB zu integrieren. Es ist das Verdienst des Gesetzgebers, eine weitgehend stimmige und konsistente Regelung bei der Zusammenführung der zu jenem Zeitpunkt bestehenden Nebengesetze und der Umsetzung der neuen Richtlinien gefunden zu haben. Man wird die Schuldrechtsreform, die zum 1.1.2002 in Kraft trat, in diesem Punkt sicherlich als gelungen bezeichnen können2. Teilweise wird allerdings auch die berechtigte Kritik geäußert, dass der deutsche Gesetzgeber die Vorgaben der Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie übererfüllt hat, indem er die Richtlinie nicht nur in den speziellen Vorschriften zum Verbrauchsgüterkauf umgesetzt, sondern das käuferfreundliche Verbraucherrecht gleich zum Regel-Kaufrecht gemacht hat3.

__________ 1 Mein besonderer Dank gilt meinem Kollegen Herrn Dr. Ulrich Reber, Rechtsanwalt in München, für die Zusammenstellung des aktuellen Stands des E-CommerceRechts. 2 Lorenz, NJW 1995, 1889; Lorenz, NJW 2007, 1; Graf von Westphalen, BB 2008, 2. 3 Berger, ZIP 2006, 2149, 2150.

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So haben auch die Auslegungs- und Abgrenzungsfragen im Bereich des Internet erfreulicherweise kaum unlösbare Probleme aufgeworfen. Insbesondere im Bereich des Verbraucherschutzrechts, das nun in erster Linie im BGB kodifiziert ist, haben der Gesetzgeber und darauf aufbauend die Rechtsprechung überwiegend praktikable Lösungen entwickelt, die zu einer annehmbaren Rechtssicherheit im Bereich des E-Commerce geführt haben. Nachfolgend sollen die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Inhaltsfreiheit von über das Internet abgeschlossenen Verträgen dargestellt werden. Es zeigt sich, dass das gesetzgeberische Wirken und die Einschränkungen der Privatautonomie in erster Linie auf den Bereich des Rechtsverkehrs mit Verbrauchern („business-to-consumer“ oder „b2c“) beschränkt sind. Der unternehmerische bzw. kaufmännische Geschäftsverkehr („business-to-business“ oder „b2b“) ist von gesetzgeberischen Beschränkungen der Inhaltsfreiheit in diesem Regelungsbereich weitgehend unberührt geblieben. Hier kommen die allgemeinen Bestimmungen des Zivilrechts zum Tragen. Eine Besonderheit ergibt sich lediglich bei der Abweichung vom dispositiven Gesetzesrecht mittels Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Diese wird im dritten Teil dieses Beitrags beleuchtet. 2. Kollisionsrechtliche Vorgaben – Art. 29a EGBGB Eine für Verbraucherverträge generell bedeutende Sonderanknüpfung ist in Art. 29a EGBGB enthalten. Diese flankiert die kollisionsrechtliche Norm des Art. 29 EGBGB, die bereits den Schutz des Verbrauchers bei bestimmten Rechtswahlklauseln im Auge hat bzw. das Recht des gewöhnlichen Aufenthalts des Verbrauchers zur Anwendung bringt, wenn es an einer ausdrücklichen Rechtswahl fehlt. Art. 29a EGBGB ist erst im Jahr 2000 durch die Umsetzung der Fernabsatzrichtlinie in das Gesetz aufgenommen worden. Zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen mit anderen verbraucherschützenden Bestimmungen wurden auch § 12 AGBG und § 8 TzWrG aufgehoben und deren Inhalt in die neue Bestimmung des Art. 29a EGBGB integriert. Seitdem fand der Anwendungsbereich dieser Bestimmung eine weitere Erweiterung durch den Erlass der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie und deren Umsetzung durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz und die Umsetzung der Fernabsatzfinanzdienstleistungsrichtlinie im Jahre 2004. Wie es scheint, bleibt diese Bestimmung auch von dem Erlass der Rom I-Verordnung unberührt. Der kollisionsrechtliche Inhalt der betreffenden Richtlinien scheint durch die Rom I-Verordnung nicht aufgehoben zu werden4. Im Kern gewährleistet Art. 29a EGBGB den Verbraucherschutz auch bei der Wahl des Rechts eines Nicht-EU-Mitgliedstaates bzw. Nicht-EWR-Vertragsstaates im Hinblick auf die in dieser Bestimmung enumerativ aufgezählten Richtlinien. Dem Verbraucher kann der Schutz durch diese Richtlinien nicht entzogen werden, wenn ein enger Zusammenhang mit dem Gebiet eines EU-

__________ 4 So auch Thorn in Palandt, BGB, 68. Aufl. 2009, Art. 29a EGBGB Rz. 1.

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Mitgliedstaates bzw. EWR-Vertragsstaates besteht. Ob dies der Fall ist, hängt von dem Ergebnis einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls ab. Wie auch in anderen Bereichen des Kollisionsrechts spielen dafür aber Anknüpfungspunkte wie gewöhnlicher Aufenthaltsort bzw. Sitz der Parteien, Abschlussort, Erfüllungsort der Leistungen und Belegenheit des Vertragsgegenstandes eine Rolle. Absatz 2 dieser Bestimmung sieht eine Vermutung für den engen Zusammenhang vor, ein solcher ist dann gegeben, wenn der Vertrag aufgrund einer geschäftlichen Tätigkeit in der EU bzw. des EWR zustande kommt und der andere Teil bei Abgabe seiner Willenserklärung seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Gebiet hat. Dem Verbraucher kann in diesen Fällen nicht der Schutz entzogen werden, welchen die Klauselrichtlinie, die Teilzeitnutzungsrichtlinie, die Fernabsatzrichtlinie, die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie und die Fernabsatzfinanzdienstleistungsrichtlinie vorsehen. Angewendet werden dann die Umsetzungsakte des Landes der EU bzw. des EWR, mit dem der enge Zusammenhang besteht. Gibt es einen Zusammenhang mit mehreren dieser Länder, so ist das Sachrecht des Mitgliedstaates mit dem engsten Zusammenhang maßgeblich5. Vorrangig sollte dabei das Land ausschlaggebend sein, in welchem der Verbraucher seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort hat. Diese Bestimmung ist von besonders großer Bedeutung im E-CommerceHandel mit im Außer-EU-Ausland ansässigen Unternehmen in Bezug auf Angebote für Verbraucher, welche ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der EU haben. Regelmäßig finden sich in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen Rechtswahlklauseln zugunsten eines Rechts außerhalb der EU, häufig der Vereinigten Staaten. Durch Art. 29a EGBGB wird gewährleistet, dass sich diese Unternehmer den durch die Verbraucherschutzrichtlinien gewährten Mindestschutz entgegen halten lassen müssen. Im Ergebnis ist dies zu begrüßen. Im Verbund mit Art. 29 EGBGB, welcher dem Verbraucher trotz entgegenstehender Rechtswahlklausel bei bestimmten Verträgen den Schutz derjenigen zwingenden Bestimmungen zubilligt, die im Land seines gewöhnlichen Aufenthalts gelten, werden angemessen die Interessen der Verbraucher geschützt. Im Übrigen, d. h. soweit keine zwingenden Bestimmungen oder der Anwendungsbereich der in Art. 29a Abs. 4 EGBGB enumerierten Richtlinien berührt sind, kann es bei dem gewählten Recht bleiben. Dies sollte auch dann gelten, wenn das ausländische Recht in Allgemeinen Geschäftsbedingungen vereinbart wird. Als überraschend i. S. d. § 305c Abs. 1 BGB und damit nicht einbezogen dürfte eine solche Klausel lediglich dann sein, wenn tatsächlich alle maßgeblichen Anknüpfungspunkte, wie Sitz bzw. gewöhnlicher Aufenthalt der Parteien, Standort des Vertragsgegenstandes, Leistungs- und Erfolgsort sowie Vertragssprache auf ein Land weisen und „willkürlich“ dennoch eine Rechtsordnung eines Nichtmitgliedstaates der EU bzw. Nichtvertragsstaates der EWR ohne vergleichbaren Verbraucherschutz gewählt wird6. Damit dürfte es

__________ 5 Freitag/Leible, EWS 2000, 345. 6 Restriktiver tatsächlich noch OLG Düsseldorf, ZIP 1994, 289.

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dabei bleiben, dass beispielsweise ein amerikanischer Softwarehersteller für seine Softwaredownloads Allgemeine Geschäftsbedingungen benutzen darf, die dem Recht seines Sitzes unterliegen. Lediglich die zwingenden Bestimmungen und den Schutz der Verbraucherschutz-Richtlinien des Art. 29a EGBGB muss er sich ggf. entgegen halten lassen. Die Notwendigkeit einer kompletten Neulokalisation von Geschäftsbedingungen ausländischer Unternehmer ist dadurch abgeschwächt. 3. Verbraucherschutz durch das Fernabsatzrecht Das Fernabsatzrecht sieht im Wesentlichen zwei Verbraucherschutzmechanismen vor: Der Unternehmer unterliegt umfassenden Informationspflichten insbesondere in der Phase vor Vertragsschluss. Des Weiteren wird dem Verbraucher ein gesetzlich normiertes Widerrufs- bzw. Rückgaberecht zuteil. a) Anwendbarkeit der Regelungen zum Fernabsatzrecht Anwendbar sind die Bestimmungen des Fernabsatzrechts typischerweise auch auf Vertragsschlüsse über das Medium des Internet, und zwar unabhängig davon, ob die Willenserklärungen über eine Website des WWW oder durch die Versendung von E-Mails ausgetauscht werden. Der Anwendungsbereich des Fernabsatzrechts ergibt sich aus § 312b Abs. 1 BGB. Danach ist erforderlich, dass der Vertrag zwischen Unternehmer und Verbraucher über Waren oder Dienstleistungen (einschließlich seit Umsetzung der Fernabsatzfinanzdienstleistungsrichtlinie mittlerweile Finanzdienstleistungen) unter ausschließlicher Verwendung von Fernkommunikationsmitteln abgeschlossen wird. Eine Ausnahme gilt lediglich dann, wenn ein für den Fernabsatz organisiertes Vertriebs- oder Dienstleistungssystem fehlt. Ausgenommen von den Fernabsatzregelungen sollen also die Anbieter sein, die lediglich sporadisch Bestellungen per Fernkommunikation entgegennehmen7. Sobald der Unternehmer aber einen eigenen Vertriebskanal für den Fernabsatz eingerichtet hat, gilt die Ausnahme nicht, so z. B. bei der Angabe von Website, E-Mailadresse oder Telefonnummer auf Werbemitteln8. Werden bei Internetauktionsplattformen von Nutzern Waren oder Dienstleistungen sporadisch unter Nutzung von z. B. eBay angeboten, so stellt dies noch kein organisiertes Vertriebs- oder Dienstleistungssystem dar. Die Grenze, ab der ein Anbieter ein solches System bei derartigen Drittplattformen betreibt, wird aber häufig mit der Abgrenzung von Verbraucher und Unternehmer zusammenfallen9. Ferner sieht § 312b Abs. 3 BGB gewisse Bereichsausnahmen vor, die miteinander wenig zu tun haben und daher bedauerlicherweise sehr beliebig anmuten. Dies ist teilweise zu erklären mit Bereichen, in denen ähnliche bzw. leicht modifizierte Verbraucherschutzregelungen gelten. Teilweise wurde die Anwend-

__________ 7 RegE, BT-Drucks. 14/2658. 8 Kamanabrou, WM 2000, 1417, 1420; Lorenz, JuS 2000, 833, 838. 9 Dazu sogleich.

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barkeit dieser Bestimmungen für unpraktikabel gehalten. Unter die Bereichsausnahme fallen Verträge über Fernunterricht ebenso wie Versicherungen (s. hierzu allerdings §§ 48 ff. VVG), die Lieferung von Lebensmitteln, Getränken oder sonstigen Haushaltsmitteln des täglichen Bedarfs (was immer das heißen mag)10, die am Wohnsitz oder am Arbeitsplatz eines Verbrauchers von Unternehmern im Rahmen häufiger und regelmäßiger Fahrten geliefert werden. So ist z. B. ein Pizzabestellservice ausgenommen11. Ausgenommen sind aber auch beispielsweise Verträge über die Erbringung von Dienstleistungen in den Bereichen Unterbringung, Beförderung, Lieferung von Speisen und Getränken sowie Freizeitgestaltung, wenn sich der Unternehmer bei Vertragsschluss verpflichtet, die Dienstleistungen zu einem bestimmten Zeitpunkt oder innerhalb eines genau angegeben Zeitraums zu erbringen. Dies zeigt, dass der Ausnahmekatalog wohl u. a. auf erfolgreiche Lobbyarbeit zurückgeführt werden kann. Er ist beliebig, konturlos und dringend reformbedürftig. b) Verbraucher und Unternehmer Durch das gesamte Verbraucherschutzrecht zieht sich zunächst die Frage, wer Verbraucher und wer Unternehmer ist. Insbesondere angesichts der Möglichkeit, dass Einzelpersonen gegen Entgelt Waren und Dienstleistungen (z. B. über Internetauktionen) anbieten, ist diese Frage noch einmal kurz zu beleuchten. Die Begriffe des Verbrauchers und des Unternehmers werden in §§ 13, 14 BGB legaldefiniert. Der Verbraucher ist danach eine natürliche Person, die ein Rechtsgeschäft zu einem Zweck abschließt, der weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann12. Der Unternehmer hingegen ist nach der Definition eine natürliche oder juristische Person oder eine rechtsfähige Personengesellschaft, die bei dem Abschluss eines Rechtsgeschäfts in Ausübung einer gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit handelt. Darunter fallen selbstverständlich nicht nur Freiberufler, sondern grundsätzlich auch Existenzgründer13. Die Gewerbsmäßigkeit setzt ihrerseits wiederum eine gewisse dauerhafte und planmäßige Tätigkeit voraus. Diese Tatbestandsmerkmale sind auch bei der Qualifizierung von Internetauktions-Tradern relevant14. Es ist hierbei also nicht entscheidend, welchen Umsatz der Anbieter mit den von ihm angebotenen Stücken generiert, sondern ob dieser lediglich sporadisch über Stücke in seinem Eigentum verfügt, dann wird er wohl Verbraucher sein, oder dies mit einer gewissen Regelmäßigkeit und Wiederholbarkeit tut und Ware zum Zwecke des Weiterverkaufs nachkauft, dann wird er eher als Unternehmer einzustufen sein. Wer also beispielsweise seinen umfangreichen Keller oder

__________ 10 11 12 13 14

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Hierzu z. B. Roth/Schulze, RIW 1999, 924, 925. Wendehorst in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, § 312b BGB Rz. 78. Vgl. dazu näher Elßner/Schirmbacher, VuR 2003, 247. BGH, K&R 2005, 326. Dazu z. B. OLG Frankfurt a. M., MMR 2007, 378; OLG Zweibrücken, WRP 2007, 1005; OLG Frankfurt a. M., K&R 1007, 585; LG Hannover, WRP 2005, 1194; LG Hof, CR 2003, 854; LG Schweinfurt, WRP 2004, 654.

AGB im unternehmerischen Geschäftsverkehr und E-Commerce-Recht

Nachlass entrümpelt, wird trotz der Menge der angebotenen Stücke Verbraucher bleiben15. Ein Anbieter hingegen, der in regelmäßigen Abständen z. B. von ihm gekaufte Konzerttickets über Internetauktionen weiterveräußern möchte, ist Unternehmer, auch wenn die Anzahl der jeweils angebotenen Tickets gering ist. Nicht ganz unerheblich für diese Unterscheidung ist auch, ob die Ware neu bzw. aktuell ist oder, wie zum Beispiel bei benutzten Haushaltswaren, nicht mehr benötigt wird16. c) Informationspflichten nach Fernabsatzrecht Die Qualifizierung als Fernabsatzgeschäft bringt einerseits gewisse Informationspflichten für den Unternehmer (§ 312b BGB) mit sich. Im elektronischen Geschäftsverkehr wird diese Fülle von Pflichten noch ergänzt (§ 312e BGB). Die Informationspflichten können in vorvertragliche Informationspflichten und solche nach Vertragsabschluss unterschieden werden. Erstere dienen dem Zweck, den Verbraucher in die Lage zu versetzen, eine informierte Entscheidung über den Vertragsschluss zu treffen17. Eine besondere Form für die Zurverfügungstellung der Information ist nicht einzuhalten (Ausnahme: Finanzdienstleistungen). Erforderlich ist jedoch, dass der Verbraucher rechtzeitig vor Abgabe der Erklärung informiert wird, und zwar in einer dem eingesetzten Fernkommunikationsmittel entsprechenden Weise sowie klar und verständlich. Das erfordert allerdings nicht, dass bereits die Werbemittel über alle notwendigen Informationen verfügen18. Bei Bestellungen über Internetplattformen bietet sich hier die Darstellung der Information auf der jeweiligen Website an. Das ist grundlegend anders in Bezug auf die Informationspflichten, die nach Vertragsschluss fortbestehen. Hier soll dem Verbraucher eine gewisse Beweissicherheit an die Hand gegeben werden, wenn es zu Auseinandersetzungen bei der Vertragserfüllung kommt. Für diese Informationen bedarf es folglich der Erfüllung der Textform i. S. d. § 126b BGB. Der Umfang der vorvertraglichen Informationen bestimmt sich nach der BGBInfoV. Hiernach ist eine Fülle von Angaben erforderlich. Dazu zählen u. a. – Die Identität des Unternehmers, das öffentliche Unternehmensregister und Registernummer, – Angabe des Vertreters des Unternehmers in dem Wohnsitzstaat des Verbrauchers, – Ladungsfähige Anschrift des Unternehmers, bei juristischen Personen auch die Namen der Vertretungsberechtigten, – Angaben über wesentliche Merkmale der Ware oder Dienstleistung sowie darüber, wie der Vertrag zustande kommt, – Mindestlaufzeit des Vertrags bei Dauerschuldverhältnissen,

__________ 15 16 17 18

In der Tendenz ebenso LG Hannover, WRP 2005, 1194. Härting, Internetrecht, 3. Aufl. 2008, Rz. 451. RegE, BT-Drucks. 14/2658, S. 38. OLG Hamburg, MMR 2005, 318, 319; OLG Hamburg, CR 2006, 209.

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– Etwaige Leistungsvorbehalte in Bezug auf Qualität, Preis, Leistungsfähigkeit, – Gesamtpreis der Ware oder Dienstleistung, einschließlich Preisbestandteile, Steuern, etc. – Etwaige zusätzliche Liefer- und Versandkosten, – Einzelheiten hinsichtlich der Zahlung und der Lieferung und Erfüllung, – Angaben zu Bestehen bzw. Nichtbestehen eines Widerrufs- bzw. Rückgaberechts sowie Angabe zu Einzelheiten der Ausübung, – Angabe der Kosten für die Nutzung des Fernkommunikationsmittels, – Angaben zur evtl. Befristung der zur Verfügung gestellten Informationen bzw. Gültigkeitsdauer befristeter Angebote Bei Finanzdienstleistungen sind zusätzlich noch eine Fülle anderer Informationen bereitzustellen (§ 312c Abs. 2 BGB i. V. m. § 1 Abs. 2 BGB-InfoV). Die Informationspflichten, die auch nach Vertragsschluss noch andauern, sind in § 312c Abs. 2 BGB i. V. m. § 1 Abs. 4 BGB-InfoV geregelt. Danach hat der Unternehmer dem Verbraucher die Vertragsbestimmungen einschließlich der AGB zur Verfügung zu stellen, und zwar in Textform i. S. d. § 126b BGB. Auch die vorvertraglichen Informationen muss der Unternehmer nach Vertragsschluss in Textform übermitteln. Hinzu kommen die Angaben über Kundendienst und geltende Gewährleistungs- und Garantiebedingungen (soweit diese von den gesetzlichen Bestimmungen abweichen)19 sowie bei Dauerschuldverhältnissen mit einer Vertragszeit von über einem Jahr die Information über Kündigungsbedingungen. Der Unternehmer hat diese Verpflichtung alsbald, spätestens bis zur vollständigen Erfüllung des Vertrages, bei Waren spätestens bei Lieferung zu erfüllen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass sich der Verbraucher jederzeit über die Vertragsbedingungen und die Umstände des Vertragsschlusses informieren kann. Textform ist normalerweise durch die Zusendung einer E-Mail mit den oben genannten Informationen erfüllt20. Erfüllt ist sie auch dann, wenn der Nutzer die Informationen von der Website herunterlädt und ausdruckt21. Es ist hingegen nach herrschender Ansicht nicht ausreichend, wenn der Nutzer dies nicht tut, d. h. insbesondere ein Ausdruck beim Nutzer fehlt22. Diese Ansicht ist jedoch zweifelhaft. In vielen Fällen erhält der Nutzer die Möglichkeit, über ein personalisiertes Profil auf der Website des Anbieters die individuellen Angaben jederzeit abzurufen. Soweit diese Möglichkeit während der Vertragsdauer vorgehalten wird und es lediglich im Belieben des Nutzers steht, ob er die Informationen ausdrucken möchte oder nicht, erscheint es angemessen,

__________ 19 BGH, NJW 2008, 1595, 1597; a. A. Wendehorst in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, § 312c BGB Rz. 66. 20 RegE, BT-Drucks. 14/2658, S. 40. 21 KG, MMR 2007, 185, 186. 22 OLG München, MMR 2008, 677; KG, MMR 2007, 185, 186; OLG Hamburg, K&R 2006, 526, 527; OLG Stuttgart, MMR 2008, 616.

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von der Einhaltung der Textform i. S. d. § 126b BGB auch in diesen Fällen auszugehen23. Gemäß § 1 Abs. 4 Satz 3 BGB-InfoV sind bestimmte Pflichtangaben bei deren Mitteilung optisch hervorzuheben. Das gilt konkret für die ladungsfähige Anschrift und Angabe des Vertretungsberechtigten, die Widerrufsbelehrung, die Kündigungsbedingungen (bei Dauerschuldverhältnissen und Verträgen über Finanzdienstleistungen) und die Angaben zum Kundendienst und der (vom Gesetz abweichenden) Gewährleistungs- und Garantiebedingungen. Durch die Hervorhebung dieser Angaben soll insbesondere bei längeren und unübersichtlichen Vertragsbedingungen gewährleistet sein, dass diese als zentral unterstellten Punkte die Aufmerksamkeit des Verbrauchers auf sich ziehen. Insbesondere die Bestimmungen über die Lösung vom Vertrag sollen daher nicht in einem unüberschaubaren Wust von Vertragsbedingungen beerdigt werden. Zu der Art und Weise, wie die Herausstellung erfolgen muss, existiert eine Fülle von Entscheidungen, die sich anschließen an die zur „drucktechnisch deutlichen Gestaltung“ über das Widerrufsrecht im früheren Haustürwiderrufsgesetz sowie zu § 7 VerbrKrG a. F. ergangene Rechtsprechung24. Es empfiehlt sich hier, die herauszustellenden Angaben größer oder fett zu drucken, zu unterstreichen und von den anderen Vertragsbedingungen abzusetzen25. Eine wiederum befremdlich wirkende Ausnahme ist für eine Art von Dienstleistungen vorgesehen: Wird die Dienstleistung unmittelbar und sofort durch den Einsatz von Fernkommunikationsmitteln erbracht und von dem Betreiber des Fernkommunikationsmittels abgerechnet, so ist der Unternehmer von den Pflichtangaben nach Vertragsschluss befreit (§ 312c Abs. 2 Satz 2 BGB). Der dieser Regelung zugrundeliegende Gedanke scheint zu sein, dass dann, wenn schnell Dienstleistung und Geldfluss ausgetauscht werden, der Verbraucher kein Interesse mehr daran habe, die Vertragsbedingungen einzusehen. Hiervon erfasst sind z. B. Online-Zeitschriftenarchive, die nach Zahlung über Kreditkarte oder Bankeinzug den einmaligen Zugang auf Artikel gewähren. Die Ausnahme gilt schon nicht mehr, wenn der Zugang in Form eines Abos gewährt wird oder dem Verbraucher die Dienstleistung zur dauerhaften Nutzung eingeräumt wird26, z. B. beim On-Demand Angebot von Software, Musik, Videos, Texten usw. Ungeachtet dessen trifft den Unternehmer auch in diesen Fällen die Verpflichtung, die Anschrift der Niederlassung anzugeben, bei welcher der Kunde Beanstandungen vorbringen kann (§ 312c Abs. 2 Satz 3 BGB). Besondere Pflichten treffen die Unternehmer, die sich für die Leistungserbringung der Tele- und Mediendienste, heute Telemedien genannt27, bedienen. Dies dürfte für einen Großteil des E-Commerce-Bereichs gelten, nicht jedoch

__________

23 Vgl. LG Flensburg, MMR 2006, 686, 687; LG Paderborn, MMR 2007, 191; noch weitergehend Härting, Internetrecht, 3. Aufl. 2008, Rz. 549 f. 24 Dazu BGH, NJW 1996, 1964, 1965. 25 BGH, NJW 2002, 3396, 3398; OLG Schleswig, MDR 2008, 254. 26 Vgl. Wendehorst in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, § 312c BGB Rz. 93. 27 Vgl. § 1 TMG, welcher die früher schwer zu treffende Unterscheidung zwischen Telediensten i. S. d. § 2 TDG a. F. und Mediendiensten i. S. d. § 2 Abs. 2 Nr. 4 MDStV, überflüssig gemacht hat.

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bei Individualkommunikation, z. B. dem Austausch von E-Mails. Der Vertragsabschluss über Telemedien sieht über die vorgenannten Informationspflichten noch weitere, darüber hinausgehende Verpflichtungen, die in § 312e BGB geregelt sind, vor. Zu beachten ist dabei, dass diese Bestimmung nicht nur im b2c-Bereich gilt, sondern auch zwischen Unternehmern28. Der Unternehmer hat dem Kunden (gleichgültig, ob dieser Unternehmer oder Verbraucher ist) die Möglichkeit zu geben, Eingabefehler vor Abgabe seiner Bestellung zu erkennen und zu berichtigen (§ 312e Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB)29. Für Webshops empfiehlt sich damit, zwei Instrumente vorzusehen, und zwar einen „Back-Button“, mit dem der Kunde einen oder mehrere Schritte in seiner Bestellung zurückgehen kann, sowie eine überblicksweise Zusammenstellung über die gesamte Bestellung unmittelbar vor Finalisierung des Geschäfts. Nach § 312e Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BGB i. V. m. § 3 Nr. 1 BGB-InfoV ist der Unternehmer verpflichtet, den Kunden über die einzelnen Schritte im Bestellvorgang zu informieren. Bedauerlicherweise enthält § 3 BGB-InfoV noch weitere kleinliche Informationspflichten, die nicht nur im b2c-, sondern auch im b2b-Bereich Anwendung finden, jedoch in beiden Fällen über das Ziel des Kundenschutzes deutlich hinausschießen. So ist der Kunde auch darüber zu informieren, ob der Vertragstext nach Vertragsschluss gespeichert wird und ob er dem Kunden zugänglich ist, das technische Verfahren, wie Eingabefehler vor Abgabe der Bestellung erkannt und berichtigt werden können, über die für den Vertragsschluss zur Verfügung stehenden Sprachen und sämtliche einschlägigen Verhaltenskodizes, denen sich der Unternehmer unterwirft sowie die Möglichkeit eines elektronischen Zugangs zu diesen Regelwerken. Mit diesen viel zu restriktiven und daher selten praktizierten Pflichten dürfte der Gesetzgeber das Gefährdungspotential von Vertragsabschlüssen über das Internet erheblich überschätzt haben. In der Praxis stellt sich häufig der Bestellvorgang als deutlich transparenter dar als bei Alltagsgeschäften unter präsenten Parteien. Weiter muss der Unternehmer den Zugang der Bestellung unverzüglich auf elektronischem Wege bestätigen (§ 312e Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BGB). Üblich und ausreichend ist hierfür die Bestätigung per E-Mail. Ferner muss der Kunde die Möglichkeit haben, die Vertragsbestimmungen einschließlich der Allgemeinen Geschäftsbedingungen bei Vertragsschluss abzurufen und in wiedergabefähiger Form zu speichern (§ 312e Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BGB). Das schärfste Schwert bei Nichterfüllung der Informationspflichten ist neben Abmahnungen durch Wettbewerber, Verbraucherschutzverbände und Wettbewerbsvereine vor allem das Unterbleiben des Fristanlaufs für die Widerrufsfrist. Gemäß § 312d Abs. 2 Satz 1 BGB beginnt die Widerrufsfrist erst bei vollständiger Erfüllung der Informationspflichten nach § 312c Abs. 2 BGB bis maximal sechs Monate nach Vertragsschluss (§ 355 Abs. 3 Satz 1 BGB). Die zeitliche Beschränkung von sechs Monaten gilt darüber hinaus dann nicht, wenn der Verbraucher nicht ordnungsgemäß über sein Widerrufsrecht belehrt worden ist (§ 355 Abs. 3 Satz 3 BGB).

__________

28 Micklitz, EuZW 2001, 133, 141; Hassemer, MMR 2001, 635. 29 Dazu näher Hassemer, MMR 2001, 635, 636.

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d) Widerruf und Rückgabe Vor diesem Hintergrund sind hier die beiden Schutzinstrumente des Fernabsatzrechts – Informationspflichten und Widerrufs- bzw. Rückgaberecht – miteinander verzahnt. Dies gilt insbesondere für die Widerrufsbelehrung, bei der diese zwei Bereiche ineinander übergehen. Mit Erlass der BGB-InfoV wurde dort auch eine Muster-Widerrufsbelehrung vorgesehen. Diese wurde aus etwas zweifelhaften Gründen von Literatur und Rechtsprechung vielfach als unzureichend kritisiert, da sie die unterschiedlichen Regelungen des Fernabsatzund Verbraucherkreditrechts in unzulässiger Weise vermenge30. Der Gesetzgeber beendete diesen Meinungsstreit durch Verabschiedung eines neuen Textes für eine Widerrufsbelehrung. Nach Plänen der Bundesregierung soll dem Muster durch Einführung eines neuen § 360 Abs. 3 BGB Gesetzesrang zukommen31. Auch vor Verabschiedung dieser Novelle ist die Verwendung des Musters empfehlenswert. Abweichungen von dem Text erfolgen auf eigene Gefahr32, z. B. wenn in der Widerrufsbelehrung lediglich über die Pflichten des Verbrauchers im Fall des Widerrufs, nicht aber über dessen Rechte informiert wird33. Die Belehrung muss jedenfalls klar und verständlich sein. Kritisch ist dabei häufig die Vertragssprache. Ein genereller Anspruch, dass die Belehrung in der Sprache des Landes sein muss, in dem der Verbraucher seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, besteht nicht. Etwas anderes gilt aber dann, wenn Webauftritt des Unternehmers und der gesamte Bestellvorgang in dieser Sprache gehalten sind, nur die Widerrufsbelehrung in einer anderen Landessprache. Hier bestehen erhebliche Zweifel an der Wirksamkeit der Widerrufsbelehrung. Erforderlich ist weiterhin, dass der Verbraucher die zumutbare Möglichkeit der Kenntnis hat. Das ist auch durch Aktivierung eines Links denkbar, der sichtbar und eindeutig in der Bestellmaske erscheint. Nicht ausreichend ist hingegen das „Verstecken“ der Widerrufsbelehrung in den Informationen über die Kontaktadresse oder im Impressum34. Es empfiehlt sich also, den Link zu bezeichnen als „Widerrufsbelehrung“ oder „Ihre Rechte als Verbraucher“ o. Ä. Zur Klarheit und Verständlichkeit existiert eine Fülle von Rechtsprechung. Häufig werden die Anforderungen an die wirksame Widerrufsbelehrung allerdings überstrapaziert35. Das Widerrufsrecht berechtigt den Verbraucher, sich binnen zwei Wochen nach Vertragsschluss durch eine Erklärung in Textform oder durch Rücksendung der Sache von dem Vertrag zu lösen (§ 312d Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 355

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30 Vgl. LG Halle, MMR 2006, 772; LG Siegen, NJW 2007, 1826; Bodendieck, MDR 2003, 1; Masuch, NJW 2002, 2932; a. A. zu Recht LG Münster, MMR 2006, 762. 31 RefE zur Neordnung des Widerrufs- und Rückgaberechts (2008). 32 OLG München, MMR 2008, 677. 33 Vgl. BGH, CR 2007, 529. 34 OLG Hamm, GRUR-RR 2005, 285; OLG Karlsruhe, WRP 2002, 849. 35 So in der Entscheidung des OLG Frankfurt, Urt. v. 17.6.2004 – 6 U 158/03, das die Angabe der Telefonnummer in der Widerrufsbelehrung für unzulässig hielt, da die Gefahr bestehe, dass der Verbraucher irrtümlicherweise von einer Widerrufsmöglichkeit via Telefon ausgehe; ebenso OLG Hamm, MMR 2009, 850.

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Abs. 1 BGB). Eine Begründung ist nicht erforderlich. Es genügt für die Fristwahrung die rechtzeitige Absendung. Die Frist beginnt bei Fernabsatzverträgen mit dem Eingang der Waren beim Verbraucher, bei Dienstleistungen mit Vertragsschluss (§ 312d Abs. 2 BGB). Das Widerrufsrecht erlischt spätestens sechs Monate nach Vertragsschluss bzw. bei Waren nicht vor deren Eingang beim Verbraucher. Die Frist beginnt überhaupt nicht zu laufen, wenn eine ordnungsgemäße Widerrufsbelehrung unterblieben ist (§ 355 Abs. 3 Satz 3 BGB). Grundsätzlich dürften dem Verbraucher keine Kosten für die Ausübung des Widerrufsrechts entstehen. Die Fernabsatzrichtlinie gestattet es jedoch, dem Verbraucher die unmittelbaren Kosten der Rücksendung der Waren aufzuerlegen. Nach § 357 Abs. 2 Satz 3 BGB ist eine Kostenabwälzung auf den Verbraucher möglich bei Waren bis zu einem Wert von 40,00 Euro oder wenn bei einem höheren Preis der Sache der Verbraucher die Gegenleistung oder eine Teilzahlung zum Zeitpunkt des Widerrufs noch nicht erbracht hat, wobei dies nicht gilt bei Lieferung eines aliud. Streitig ist, ob der Unternehmer dem Kunden bei Widerruf auch die Versandkosten für die Hinsendung zu erstatten hat. Einzelne Gerichte haben es dem Unternehmer gestattet, die Hinsendekosten einzubehalten36. Dies wird aus Verbraucherschutzaspekten zu Recht aber auch abgelehnt37. Eine solche Durchbrechung der klar geregelten Widerrufsfolgen zu Lasten des Verbrauchers dürfte nicht gestattet sein. Der Bundesgerichtshof hat in dem Revisionsverfahren diese Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt38. Eine weitere Rechtsfolge der Ausübung des Widerrufsrechts ist die vom Verbraucher ggf. zu entrichtende Nutzungsentschädigung für die Verwendung der Sache bis zur Rücksendung. In Abweichung von den Regelungen zum Rücktritt im Übrigen, hat der Verbraucher auch dann Wertersatz für eine durch die bestimmungsgemäße Ingebrauchnahme der Sache entstandene Verschlechterung zu leisten, wenn er spätestens bei Vertragsschluss in Textform auf diese Rechtsfolge und eine Möglichkeit hingewiesen worden ist, diese zu vermeiden. Eine Nutzungsentschädigung ist jedoch dann nicht zu leisten, wenn die Verschlechterung ausschließlich auf die Prüfung der Sache zurückzuführen ist. Ob § 357 Abs. 3 Satz 1 BGB europarechtskonform ist, wurde von verschiedenen Stimmen in der Literatur bestritten39. Der EuGH hat in seiner Entscheidung durchaus klar geäußert, dass grundsätzlich die unmittelbaren Kosten der Rücksendung die einzige Belastung für den Verbraucher sein darf, mit der er bei Ausübung des Widerrufsrechts belastet wird. Eine generelle Auferlegung eines Wertersatzes für die Nutzung der Ware verstößt jedoch gegen die Bestimmungen der Fernabsatzrichtlinie40. Nach Auffassung des EuGH kann der Verbraucher durchaus aber verpflichtet werden, einen angemessenen Wert-

__________ 36 OLG Frankfurt a. M., CR 2002, 638; OLG Nürnberg, NJW-RR 2005, 1581. 37 So OLG Karlsruhe, MMR 2008, 46. 38 BGH, Beschl. v. 1.10.2008 – VIII ZR 268/07, MMR 2009, 107; Vorlage beim EuGH anhängig unter C-511/08. 39 Z. B. Tonner, BB 2000, 1413, 1416. 40 EuGH, CR 2009, 671.

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ersatz zu zahlen, wenn er die Fernabsatzware auf eine Art und Weise benutzt hat, die mit den Grundsätzen des bürgerlichen Rechts unvereinbar ist. Die Wirksamkeit und die Effektivität des Widerrufsrechts dürfe dadurch aber nicht beeinträchtigt werden. Deshalb dürfe beispielsweise die Höhe des Nutzungsersatzes nicht außer Verhältnis zum Kaufpreis der Ware stehen und dem Verbraucher nicht die Beweislast dafür auferlegt werden, dass er die Ware während der Widerrufsfrist nicht in einer Weise benutzt hat, die über das zur zweckdienlichen Ausübung seines Widerrufsrechts Erforderliche hinausgeht. Wiederum unstimmig und scheinbar willkürlich sind die vom Widerrufs- und Rückgaberecht ausgenommenen Bereiche. Nachvollziehbar scheint zunächst, dass kein Widerrufsrecht besteht für Verträge über die Lieferung von Waren, die nach Kundenspezifikation angefertigt oder eindeutig auf die persönlichen Bedürfnisse der Kunden zugeschnitten worden sind ebenso bei besonders verderblicher Ware oder solcher, deren Verfallsdatum überschritten würde (§ 312d Abs. 4 Nr. 1 BGB). Schon erheblich konturloser ist die Ausnahme, dass das Widerrufsrecht auch nicht gilt für die Lieferung von Waren, die auf Grund ihrer Beschaffenheit nicht für eine Rücksendung geeignet sind. Ausgenommen sind weiter Verträge über die Lieferung von Ton- und Bildtonträgern oder Software, wenn der gelieferte Datenträger vom Verbraucher entsiegelt worden ist (§ 312d Abs. 4 Nr. 2 BGB). Da die Inhalte mittlerweile ohne Weiteres kopiert werden können und daher der Datenträger nicht mehr erforderlich ist, ist diese Ausnahme sinnvoll. Bei dem Siegel muss es sich allerdings um ein physisches Siegel handeln, nicht hingegen eine bloße Passwortabfrage41. Das bedeutet, dass die Anbieter von Download-Content nicht in den Genuss der Ausnahmebestimmung kommen. Teilweise wird hier von der Industrie die oben erwähnte Ausnahme für Waren, die für eine Rücksendung ungeeignet sind, beansprucht. Bei Download-Content dürfte es sich jedoch schon um keine Ware handeln, so dass diese Lesart des § 312d Abs. 4 Nr. 1 BGB nicht in Betracht kommen dürfte. Einige der Ausnahmen in § 312d Abs. 4 BGB sind durch das neue Gesetz zur Bekämpfung unerlaubter Telefonwerbung modifiziert worden, das am 4.8.2009 in Kraft getreten ist42. So gilt die Ausnahme in Bezug auf die Lieferung von Zeitungen, Zeitschriften und Illustrierten ebenso wie für Wett- und Lotterieleistungen jetzt nicht mehr, wenn der Verbraucher seine Vertragserklärung telefonisch abgegeben hat. Ausgenommen sein sollen auch solche Verträge, die in der Form von Versteigerungen i. S. d. § 156 BGB geschlossen werden. Nicht hierzu gehören nach Rechtsprechung des BGH die Internetversteigerungen z. B. auf eBay43. Damit sind die gewerblichen Verkäufer auf eBay verpflichtet, in klarer und verständlicher Weise auf das Widerrufsrecht hinzuweisen, und zwar unabhängig davon, ob der Verkauf gegen Höchstgebot oder bei Sofortkauf erfolgt44.

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41 42 43 44

Vgl. LG Frankfurt a. M., CR 2003, 412. BGBl. I 2009, 2413. BGH, MMR 2005, 37 m. Anm. Spindler; vgl. auch Hoeren/Müller, NJW 2005, 949. OLG Hamm, MMR 2005, 540.

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Im Hinblick auf Dienstleistungen ist des Weiteren folgende Bestimmung zu beachten: Gemäß § 312d Abs. 3 BGB in der ab dem 4.8.2009 geltenden Fassung erlischt das Widerrufsrecht auch dann, wenn der Vertrag von beiden Seiten auf ausdrücklichen Wunsch des Verbrauchers vollständig erfüllt ist, bevor der Verbraucher sein Widerrufsrecht ausgeübt hat. Das führt dazu, dass angesichts der relativ unbemerkt gebliebenen Gesetzesänderung Dienstleister auch ihre Widerrufsbelehrung ändern müssen. Ansonsten drohen teure Abmahnungen durch Wettbewerber oder Verbände. Dem Unternehmer steht es frei, anstelle des Widerrufsrechts ein Rückgaberecht vorzusehen (§ 312d Abs. 1 Satz 2 BGB). Anders als das Widerrufsrecht setzt die Rückgabe voraus, dass der Verbraucher fristgemäß die Sache zurücksendet oder, wenn die Sache nicht als Paket versandt werden kann, die Rücknahme verlangt. Das Rückgaberecht gewährleistet dem Unternehmer daher generell, dass er die Ware gleich zurückbekommt, bevor er das erhaltene Geld an den Verbraucher zurückschickt. Voraussetzung für eine wirksame Vereinbarung des Rückgaberechts ist allerdings eine deutlich gestaltete Belehrung wie beim Widerruf sowie die Möglichkeit des Verbrauchers, hiervon eingehend Kenntnis zu nehmen und eine Vereinbarung in Textform. Letzteres ist bei der Angabe auf einer Website grundsätzlich nicht erfüllt45. 4. Ausblick auf Maßnahmen der EU und des Bundesgesetzgebers a) Vor dem Regierungswechsel in Berlin hat die alte Bundesregierung noch Änderungen im Widerrufs- und Rückgaberecht auf den Weg gebracht und vom Bundestag verabschieden lassen, die größtenteils zum 11.6.2010 in Kraft getreten sind. Das Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherkredit-Richtlinie, des zivilrechtlichen Teils der Zahlungsdienste-Richtlinie sowie zur Neuordnung der Vorschriften über das Widerrufs- und Rückgaberecht ist am 2.7.2009 vom Bundestag verabschiedet worden. Es setzt die Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.4.2008 über Verbraucherkreditverträge (Verbraucherkredit-Richtlinie) sowie den zivilrechtlichen Teil der Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.11.2007 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt (Überweisungs-Richtlinie) in deutsches Recht um. Herzstück dieses Gesetzes ist der Verbraucherdarlehen und Zahlungsdienste betreffende Teil. Dadurch soll der Verbraucher bessere Informationen bei Kreditverträgen bekommen und vor unseriösen Lockvogelangeboten geschützt werden. Dieser Teil ist bereits zum 31.10.2009 in Kraft getreten. Im Hinblick auf das Widerrufs- und Rückgaberecht erhielt das (neue) gesetzliche Muster zur Widerrufs- und Rückgabebelehrung Gesetzesrang und findet sich nun in Art. 246 EGBGB. Wer dann auf dieses Muster zurückgreift, kann sicher sein, von Abmahnungen von Wettbewerbern und Verbänden geschützt zu sein. Die Widerrufs- und Rückgabefrist wird für den Bereich E-Commerce einheitlich 14 Tage betragen, wenn dem Verbraucher spätestens bei Vertragsschluss eine den gesetzlichen Anforderungen entsprechende Widerrufsbeleh-

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45 S. oben II. 3. c) bei Fn. 19–22.

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rung in Textform mitgeteilt worden ist. Bei Fernabsatzverträgen ist es nun ausreichend, wenn die Widerrufsbelehrung unverzüglich nach Vertragsschluss in Textform mitgeteilt wird (§ 355 Abs. 2 Satz 2 BGB n. F.). Das bedeutet eine Erleichterung vor allem für die Anbieter auf Internet-Auktionsplattformen. Hier war das Problem, dass die Belehrung über den Widerruf auf der Angebotsseite nicht der Textform entsprochen hat, so dass die Widerrufsfrist einen Monat beträgt. Der Unterschied zwischen Internetshop und Auktionsplattform ist nun beseitigt. Nach der Begründung im Regierungsentwurf ist die Widerrufsbelehrung unverzüglich, wenn sie unmittelbar nach Vertragsschluss per E-Mail verschickt wird. Nur wenn dies nicht unverzüglich geschieht, gilt eine Widerrufsfrist von einem Monat (§ 355 Abs. 2 Satz 3 BGB n. F.). Änderungen ergeben sich auch zum Rückgaberecht. Dieses war vor allem eBay-Verkäufern verwehrt, da eine Einräumung des Rückgaberechts nicht in Textform gewährleistet werden konnte. Das Textformerfordernis für die Rückgabebelehrung ist durch die ersatzlose Streichung dieses Erfordernisses in § 356 Abs. 2 Nr. 3 BGB aufgehoben worden. Die Einräumung des Rückgaberechts wird nun den Anforderungen an das Widerrufsrecht angeglichen. Die Erklärungsfrist des Verbrauchers beginnt nun auch hier nicht, bevor dem Verbraucher eine den gesetzlichen Anforderungen entsprechende Rückgabebelehrung in Textform mitgeteilt worden ist. Durch diese Gesetzesänderung in § 356 BGB steht nun auch Internet-Auktionshändlern die Vereinbarung eines Rückgaberechts offen. Eine Verbesserung der Rechtslage für Internet-Auktionshändler ergibt sich auch im Hinblick auf den Wertersatz für die durch eine bestimmungsgemäße Ingebrauchnahme entstandene Verschlechterung der Ware. Nach bisheriger Rechtslage bedarf es hierzu spätestens bei Vertragsschluss eines Hinweises auf die Rechtsfolge und Möglichkeit der Vermeidung des Wertersatzes in Textform. Nach der Neufassung des § 357 Abs. 3 BGB genügt ein unverzüglich nach Vertragsschluss in Textform mitgeteilter Hinweis, vorausgesetzt eine Unterrichtung hierüber erfolgt bereits vor dem Vertragsangebot des Verbrauchers in einer dem eingesetzten Fernkommunikationsmittel entsprechenden Weise. Die Neuregelung wird jedoch nichts daran ändern, dass diese im Lichte der neuen Rechtsprechung des EuGH zum Wertersatz ausgelegt werden muss. Wie oben bereits dargestellt, unterliegt die Wertersatzverpflichtung des Verbrauchers den vom EuGH statuierten Einschränkungen. b) Ein weiterer Änderungsbedarf im Fernabsatzrecht steht dann ins Haus, wenn die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Verbraucherrechts-Richtlinie vom Oktober 200846 verabschiedet wird und umzusetzen ist. Diese hat vor allem eine Harmonisierung der Verbraucherrechte in allen Mitgliedstaaten zum Ziel. So unterscheiden sich die Informationspflichten und Widerrufsrechte zwischen den Mitgliedstaaten ganz erheblich. Nach dem Kommissionsvorschlag soll die Richtlinie alle Verträge betreffen über den Kauf von Waren

__________ 46 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Rechte der Verbraucher v. 8.10.2008, KOM(2008) 614 endg.

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und über Dienstleistungen. Neben harmonisierten Informationspflichten, einer weiteren Liste von missbräuchlichen Vertragsklauseln, Neuerungen zu Lieferzeiten, Gefahrtragung und den Gewährleistungsrechten (möglicherweise nach Initiative der schwedischen Ratspräsidentschaft vom August 2009 sogar mit auf vier Jahre verlängerten Gewährleistungsfristen) soll auch Europaeinheitlich eine Widerrufsfrist von 14 Kalendertagen eingeführt werden ebenso wie harmonisierte Regelungen zum Beginn der Widerrufsfrist und sogar ein europaweit geltendes Standard-Widerrufsformular. Das Verbraucherschutzrecht im Fernabsatzbereich entwickelt sich also aufgrund insbesondere gemeinschaftsrechtlicher Initiativen weiter. Es ist daher mit weiteren Gestaltungseinschränkungen im Hinblick auf den Vertragsschluss im Internet zu rechnen.

III. Spannungsfeld zwischen Inhaltsfreiheit und AGB-Klauselverboten – einige Beispiele 1. Grundsätzliches Eingeschränkt wird die Privatautonomie von Unternehmern im E-CommerceBereich aber nicht nur durch die zwingenden Bestimmungen des Fernabsatzrechts mit seinen umfassenden Informationspflichten und dem Schutz des Verbrauchers durch das Widerrufs- bzw. Rückgaberecht. Bedeutend sind auch die teilweise im b2b-Bereich geltenden Klauselverbote im Bereich der Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Gerade im Hinblick auf die Geltung von Klauselverboten im Rechtsverkehr zwischen Unternehmern ist die Inhaltskontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen ein Streitpunkt. Das deutsche Recht wird hier häufig als zu restriktiv gegenüber den Verwenderinteressen betrachtet. So ist von Seiten deutscher Unternehmen nach Erhebungen von Industrieverbänden vorgebracht worden, diese seien angesichts des restriktiven AGB-Rechts bei Anwendung deutschen Rechts auch im b2b-Bereich benachteiligt47. Im Wettbewerb mit anderen Rechtsordnungen wird dem deutschen Recht daher eine zu restriktive Handhabe im Hinblick auf die Privatautonomie im b2b-Verkehr attestiert. a) Unterschied b2b – b2c-Verkehr Die Rechtsprechung des BGH spielt in Bezug auf die Inhaltskontrolle von AGB im unternehmerischen Geschäft (b2b) seit langem eine prägende Rolle. Die im Verhältnis zu anderen Ländern48 eher strenge Handhabung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen gegenüber Unternehmen spaltet die Meinungen49.

__________ 47 Lischek/Mahnken, ZIP 2007, 158; Steinberger, BB 35, 2009, M1. 48 Beispielhaft sei hier das Recht der Schweiz genannt, das auch von Berger, Abschied von der Privatautonomie im unternehmerischen Geschäftsverkehr, ZIP 2006, 2149, als Zufluchtsrecht vieler Unternehmer bezeichnet wird. 49 Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, S. 216 Rz. 553.

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Der Forderung nach einer „Kehrtwendung“50 in der Rechtsprechung zur Inhaltskontrolle im unternehmerischen Geschäftsverkehr widerspricht von Westphalen in seiner hierzu Stellung nehmenden Erfolgsbilanz des AGB-Rechts mit Nachdruck; die 30 Jahre alte Rechtsprechung habe sich seiner Meinung nach bewährt und die Unternehmer hätten sich auf die konstante Tendenz in der Rechtsprechung inzwischen eingerichtet51. Allgemein anerkannt ist der Grundsatz der geringeren Schutzwürdigkeit von Unternehmern52. Laut Berger ist insoweit maßgeblich für die unternehmerische Praxis nicht die „Unterlegenheit“ des Vertragspartners in einer Verhandlungssituation, sondern seine erhöhte Verantwortung für seine geschäftlichen Belange in dieser Situation53. In § 310 Abs. 1 BGB äußert sich dieser Grundsatz, indem die § 305 Abs. 2 und 3 sowie §§ 308, 309 BGB keine Anwendung auf den unternehmerischen Geschäftsverkehr finden, eine Inhaltskontrolle also nur im Rahmen der Anwendung des § 307 BGB stattfindet, jedoch stets mit Rücksicht auf die im Handelsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche. Berger sieht dieses gesetzliche „Differenzierungsgebot“54 nicht genügend in der Rechtsprechung berücksichtigt. Durch die Indizwirkung, die die §§ 308, 309 BGB auch auf Klauseln gegenüber Unternehmern haben55, legt der BGH ähnlich strenge Anforderungen an die Inhaltskontrolle fest wie im Verbrauchergeschäft. Diese Indizwirkung wird nur dann insoweit eingeschränkt, als ausnahmsweise wegen der besonderen Interessen und Bedürfnisse des unternehmerischen Geschäftsverkehrs Angemessenheit anzunehmen ist56. Somit liegt die Argumentationslast, dass eine Klausel nicht ungültig ist, beim Verwender57. Dies ergibt sich jedoch gemäß von Westphalen allein schon aus dem Gesetzestext, der eine Vermutung der Unwirksamkeit bei nicht unerheblichem Abweichen vom dispositiven Recht ausspricht (§ 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB), was in der Regel bei einer unangemessenen Benachteiligung der Fall sein würde58, zumal durch die Schuldrechtsreform die Position von Käufern und Werkbestellern gesetzlich gestärkt worden sei59. b) Pauschale Beurteilung von Klauseln oder Einzelfallentscheidung? Wonach beurteilt sich nun – in Anwendung des § 307 BGB – die gegen Treu und Glauben verstoßende unangemessene Benachteiligung eines unternehme-

__________ 50 51 52 53 54 55 56

Berger, ZIP 2006, 2149, 2149. Graf von Westphalen, ZIP 2007, 149, 154. Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, S. 64 Rz. 185. Berger, ZIP 2006, 2149, 2151. Berger, ZIP 2006, 2149, 2151. Grundlegend: BGHZ 90, 273, 274. BGHZ 90, 273, 274; hierzu kritisch: Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, S. 218 Rz. 557; Fuchs in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 10. Aufl. 2006 § 307 BGB Rz. 382. 57 Berger, ZIP 2006, 2149, 2150. 58 Graf von Westphalen, ZIP 2007, 149, 157. 59 Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, S. 19 Rz. 64; interessant ist aber sein Beispiel in Rz. 66 zur Heranziehung des § 476 BGB im unternehmerischen Verkehr, was als unwirksame Klausel angesehen wurde, BGH, NJW 2006, 47.

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rischen Vertragspartners? Hierbei ist, der BGH-Rechtsprechung folgend, auf eine überindividuell-generalisierende Betrachtungsweise abzustellen60. Inwieweit auch die Umstände des Einzelfalls entscheidend sind61, ist umstritten, der BGH misst ihnen kaum Bedeutung bei62. Eine grundsätzliche Berücksichtigung der einzelnen Umstände und eine stärkere Differenzierung je nach Art der Vertragspartner der Klauselverwender (laut Berger sollen zum Beispiel Unternehmen mit eigener Rechtsabteilung und solche mit ständiger externer Rechtsberatung weniger schutzwürdig sein63) kann in Einzelfällen zu einer gerechteren Lösung führen. Höhere Einzelfallgerechtigkeit bringt aber wie immer, worauf auch von Westphalen hinweist, höhere Rechtsunsicherheit mit sich64. Unternehmen könnten sich nicht mehr an bestehender Rechtsprechung orientieren, um zu wissen, welche ihrer Klausen der Inhaltskontrolle standhalten. Eine solche Differenzierung brächte im Bereich der Unternehmer, die auf Augenhöhe Verträge schließen, eine Ausschaltung der Klauselkontrolle (und somit natürlich auch eine höhere Flexibilität) mit sich. Der Unterschied der unternehmerischen Position und der juristischen Beratung eines Unternehmens schlägt sich jedoch bereits bei den Vertragsverhandlungen nieder, wo einzelne Klauseln eben gerade erörtert und ausgehandelt werden können (auch mittels der juristischen Berater). Diese fallen dann ohnehin aufgrund des Vorrangs der Individualabrede aus dem Schutzbereich des AGB-Rechts heraus. Vertragsfreiheit und die Wiederherstellung der notwendigen Flexibilität unternehmerischer Vertragsgestaltung, wie sie gefordert wird65, kann nur dort garantiert werden, wo beiden Vertragspartnern diese Freiheit auch zustand66. Allerdings sind zu Recht die von Berger geforderten Wertungskriterien wie Branchenüblichkeit der Klausel, Zumutbarkeit und Üblichkeit der Versicherung des betreffenden Risikos durch den Vertragspartner und der Ausgleich des Risikos durch wirtschaftliche Vorteile anderer Art und die Absatzstufe67 bei der Angemessenheit einer Klausel zu berücksichtigen. Ob diese vom BGH schon ausreichend in die Inhaltskontrolle einbezogen wurden (so von Westphalen68), soll hier anhand einzelner Klauselverbote untersucht werden.

__________ 60 Grüneberg in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 307 BGB Rz. 40; Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, S. 216 Rz. 552. 61 Für Grüneberg in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 307 BGB Rz. 40 sind sie entscheidend unter Verweis auf BGH, NJW 2005, 2006; in dieser Entscheidung wird jedoch gerade die Auffassung vertreten, dass Einzelfallumstände keine Rolle spielen, sondern nur die generelle Ungerechtigkeit einer Klausel. 62 BGH, NJW 2005, 2006, 2008. 63 Berger, ZIP 2006, 2149, 2155. 64 Graf von Westphalen, ZIP 2007, 149, 157. 65 Berger, ZIP 2006, 2149, 2149. 66 Graf von Westphalen, ZIP 2007, 149, 152 f. 67 Berger, ZIP 2006, 2149, 2154. 68 Graf von Westphalen, ZIP 2007, 149, 157.

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2. Preis- und Leistungsänderungsvorbehalte Das in § 309 Nr. 1 BGB geregelte Klauselverbot einer kurzfristigen Preiserhöhung kann im Verkehr zwischen Unternehmern so nicht übernommen werden69. Preiserhöhungsklauseln sind auch dann zulässig, wenn die Erhöhungskriterien nicht angegeben werden und dem Kunden für den Fall einer erheblichen Preissteigerung kein Lösungsrecht eingeräumt wird. Maßgeblich ist lediglich, dass seine Interessen in anderer Weise ausreichend gewahrt werden70. Hier stellt der BGH mit Rücksicht auf § 307 BGB auf die Art der Vertragsverhandlungen und die Vertragsdauer ab71, teilweise auf den wirtschaftlichen Einfluss der Preisanpassung auf den Vertragspartner72. Der Grundgedanke des § 308 Nr. 4 BGB, also das Verbot eines Rechts des Verwenders, die versprochene Leistung zu ändern oder von ihr abzuweichen, findet hingegen aufgrund der den Leistungsänderungsvorbehalten innewohnenden Gefährlichkeit auch im unternehmerischen Geschäftsverkehr im Rahmen des § 307 BGB Anwendung73. Zulässig sind lediglich handelsübliche Mengenund Qualitätstoleranzen. Auch bei Dauerrechtsverhältnissen bzw. Rahmenverträgen, wo Anpassungsklauseln geschäftsbedingt notwendig sind, wird ihre Angemessenheit überprüft74. 3. Beschränkung von Gewährleistung und Haftungsausschluss Die Verbote von Haftungsausschlüssen bei Verletzung von Leben, Körper, Gesundheit (§ 309 Nr. 7a BGB) und für grobes Verschulden (Nr. 7b) sind auch im unternehmerischen Geschäftsverkehr über § 307 BGB anzuwenden75 und entfalten somit auch dort in demselben Umfang wie bei Verbrauchern ihre Wirkung76. Die einzige Einschränkung, die vom BGH beim Vorliegen lediglich leichter Fahrlässigkeit geduldet wird, ist die Begrenzung auf den für die Parteien vorhersehbaren Schaden77. Das weitreichende Verbot von Haftungsausschlüssen und -begrenzungen wird kritisiert insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Vertragspartner letztlich ja nur unangemessen benachteiligt werde, wenn ihm die Möglichkeit des Abschlusses einer entsprechenden Haftpflichtversicherung nicht offen stehe78. Was die Haftung für grobes Verschulden angeht, so kann diese nicht nur für eigenes Verschulden nicht ausge-

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69 Grüneberg in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 309 BGB Rz. 7 u. 9. 70 Grüneberg in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 309 BGB Rz. 9 unter Hinweis auf BGHZ 92, 203; BGHZ 93, 256. 71 Grüneberg in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 309 BGB Rz. 9. 72 BGHZ 92, 203 (die Preiserhöhung wird auf den am Markt durchgesetzten Preis beschränkt). 73 Grüneberg in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 308 BGB Rz. 24; Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, S. 312 Rz. 802. 74 Grüneberg in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 308 BGB Rz. 24. 75 Grüneberg in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 309 BGB Rz. 48; instruktiv Langer, WM 2006, 1233. 76 Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, S. 368 Rz. 979. 77 Graf von Westphalen, ZIP 2007, 149, 154 mit Hinweis auf BGH, NJW 1993, 335. 78 Berger, ZIP 2006, 2149, 2155.

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schlossen werden, sondern auch nicht für das der leitenden Angestellten oder für Organisationsverschulden79. Umstritten ist ebenfalls der Haftungsausschluss für einfache Erfüllungsgehilfen80. Kein derartiger Haftungsausschluss in AGB ist möglich, sofern Kardinalpflichten verletzt werden81. Eine betragsmäßige Haftungsdeckelung (ausgenommen für grobes Verschulden des Verwenders oder eines leitenden Angestellten) ist zulässig, solange die festgelegte Summe den vertragstypischen und vorhersehbaren Schaden abdeckt82. 4. Pauschalisierter Schadensersatz und Vertragsstrafe Grundsätzlich kann das Vertragsstrafenverbot des § 309 Nr. 6 BGB nicht auf den Verkehr zwischen Unternehmern übertragen werden, da dieses auf Verbraucher zugeschnitten ist83. Vertragsstrafen sind im unternehmerischen Geschäftsverkehr durchaus üblich und genießen einen weiten Spielraum, soweit sie den Schuldner nicht unangemessen benachteiligen84. Dies kann bei der Vereinbarung einer verschuldensunabhängigen Vertragsstrafe der Fall sein85 ebenso wie bei einer zu hohen Vertragsstrafe, die deutlich über dem zu erwartenden Schaden liegt und daher zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Verwenders führen würde86. Anderes gilt bei der Pauschalisierung von Schadensersatz, wo § 309 Nr. 5a BGB grundsätzlich entsprechend angewendet wird87. Dieser besagt, dass eine Vereinbarung über pauschalisierten Schadensersatz oder Wertminderungsersatz wirksam ist nur dann, wenn die Pauschale nicht den in den geregelten Fällen nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge zu erwartenden Schaden oder die gewöhnliche eintretende Wertminderung übersteigt und dem anderen Vertragsteil ausdrücklich der Nachweis gestattet wird, darzulegen, ein Schaden oder eine Wertminderung sei überhaupt nicht entstanden oder wesentlich niedriger als die Pauschale. Hierbei wird nur der geringe Unterschied gemacht, dass die Möglichkeit des Gegenbeweises über die niedrigere Höhe des Schadensersatzes nicht ausdrücklich in den Klauseln enthalten sein muss, solange sie nur nicht ausgeschlossen wird88.

__________ 79 Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, S. 369 Rz. 981; BGH, NJW 1978, 997, 999. 80 Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, S. 369 Rz. 982. 81 Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, S. 369 Rz. 982; BGH, NJW-RR 1998, 1426; BGH, NJW-RR 2006, 267, 269. 82 Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, S. 370 Rz. 984. 83 Grüneberg in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 309 BGB Rz. 38; Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, S. 347 Rz. 917; BGH, NJW 2003, 2158, 2161. 84 Grüneberg in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 309 BGB Rz. 38 mit Einzelbeispielen. 85 Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, S. 348 Rz. 917; BGH, NJW 1979, 105, 106. 86 Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, S. 348 Rz. 917; Graf von Westphalen, ZIP 2007, 149, 157 unter Bezugnahme auf BGH, NJW, 1994, 1060, 1068. 87 Grüneberg in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 309 BGB Rz. 32; kritisch hierzu: Berger, ZIP 2006, 2149, 2154. 88 Grüneberg in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 309 BGB Rz. 32.

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IV. Schlussbemerkungen Der aktuelle Stand der Gesetzgebung und Rechtsprechung im Spannungsverhältnis zwischen Vertragsfreiheit einerseits und der Verstärkung des dispositiven Rechts zum zwingenden Recht im Bereich standardisierter Vertragsbedingungen andererseits veranlasst mich zu folgenden Thesen: 1. Die in diesem Beitrag aufgezeigte Entwicklung des Rechts im Internet hat mit ihren rigiden Regelungen, insbesondere zu Widerrufsbelehrungen und -rechten eindeutig die Vertragsfreiheit weiter eingeschränkt, ist also ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Abschied von der Vertragsfreiheit. Dieser Schritt ist allerdings im Wesentlichen aus Verbraucherschutzgründen im b2c-Bereich bedingt. 2. Auch soweit der b2b-Bereich hiervon betroffen wird, erscheint dies angemessen, da typischerweise bei Bestellungen von Unternehmen im Internet keine Verhandlungssituation besteht. Ein „Aushandeln“ von Vertragsbedingungen findet nicht statt. Der Kunde bestellt im Wesentlichen durch Anklicken ein vom Anbieter ins Internet gestelltes Angebot zu den von diesem verwendeten und gestellten Bedingungen. Es liegt also eine typische AGBSituation vor, die den vollen Schutz des AGB-Rechts vor unangemessenen Klauseln rechtfertigt. 3. Auch wenn die hier aufgezeigte Entwicklung des Internetrechts also keine wesentliche Verschärfung der Situation des Wettbewerbsnachteils des deutschen Rechts im internationalen Vergleich mit anderen Rechtskreisen mit sich gebracht hat, zumal viele der Neuerungen ohnehin jedenfalls im gesamten EU-Bereich gelten, bleibt die Ausgangsfrage offen, ob die Rechtsprechung des BGH der letzten 30 Jahre zum AGB-Recht zu einem Wettbewerbs- und Standortnachteil für das „Law made in Germany“ geführt hat. Auch wenn Graf von Westphalen darauf verweist, dass die Unternehmer in Deutschland sich inzwischen ja hierauf „schon eingerichtet haben“ (s. oben Fn. 50), so zeigen doch die zahlreichen Stellungnahmen von Unternehmensund Verbandsjuristen, dass dieses „Einrichten“ eben auch bedeutet, dass die deutschen Unternehmen sich daran gewöhnt haben, im internationalen Geschäftsverkehr z. B. auf das Schweizer Recht auszuweichen89. 4. Die generalisierende Anwendung eines Großteils der im AGB-Recht angesiedelten Gedanken des Verbraucherschutz-Rechtes auf den unternehmerischen Geschäftsverkehr ist im internationalen Rahmen eher ungewöhnlich und stößt bei vielen Juristen im Ausland, allerdings eben auch im Inland, auf blankes Unverständnis. Auch Graf von Westphalen erkennt in Diskussionen an, dass bei einem „auf Augenhöhe“ verhandelten Vertrag zwischen Großunternehmen Regeln des Verbraucherschutzes nichts zu suchen haben. Warum soll bei einem zwischen EON und Siemens verhandelten Großanlage-Vertrag über mehrere 100 Millio-

__________ 89 Lischek/Mahnken, ZIP 2007, 158, 163; Steinberger, BB 35, 2009, M1.

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nen Euro sich eine Partei später, wenn ihr dies passt, auf die Unwirksamkeit einer ihr ungünstigen Vertragsklausel berufen können, nur weil diese Klausel von der anderen Partei als Standardklausel verwendet und gestellt wurde? Auch wenn die die Klausel stellende Vertragspartei bei den Vertragsverhandlungen erklärt hat, dass diese Klausel für sie nicht verhandelbar ist, so hat der Vertragspartner diese Klausel doch schließlich akzeptiert, weil ihm insgesamt der Vertragsabschluss als vorteilhaft erschien. Einem derartigen Vertragspartner dann aber doch noch einen Ausweg aus der akzeptierten Vertragsklausel zu gewähren, hat nichts mit Verbraucherschutz zu tun, es erscheint hingegen schlicht als unbillig. Jeder derartige Vertragspartner hat vor Vertragsunterzeichnung eine Abwägung der ihm günstigen und ungünstigen Bestimmungen vorgenommen und sich nach Abwägung aller Vor- und Nachteile für die Unterzeichnung des Vertrages entschieden. Er sollte daher nicht die Möglichkeit haben, die Balance der einzelnen Vertragsklauseln nachträglich noch zu seinen Gunsten zu verändern. Eine derartige „Inhaltskontrolle“ führt lediglich zu einer durch keinen sachlichen Grund gerechtfertigten Korrektur des Verhandlungsergebnisses durch den Richter90. Unternehmen, die auf Augenhöhe miteinander verhandeln, haben sich an das zwingende Recht zu halten. Das dispositive Recht hingegen steht im Rahmen der Verhandlungen zur Disposition, deswegen ist es eben „dispositives“ Recht. Das dispositive Gesetzesrecht ist auch nicht das klassische und geeignete Instrument zur Steuerung der Vertragsrisiken in komplexen Einzelverträgen zwischen Unternehmen im Geschäft für Anlagenbau, M & A und ähnlichen Transaktionen, sondern eben der Vertrag selbst91. Den gegebenen Unterschied zwischen zwingendem und dispositivem Recht auch im unternehmerischen Geschäftsverkehr über das AGB-Recht aufzuweichen, erscheint daher jedenfalls bei Verträgen zwischen Unternehmen mit vergleichbarem Verhandlungsgewicht unangebracht. 5. Soll also im Interesse der Einzelfallgerechtigkeit in jedem einzelnen Fall geprüft werden, ob die Verhandlungsposition des Vertragspartners eines Klauselverwenders so stark oder so schwach war, dass je nach Beantwortung dieser Frage entschieden werden kann, ob vom Klauselverwender nicht zur Disposition gestellte und daher nicht „ausgehandelte“ Vertragsklauseln anhand der AGB-Rechtsprechung des BGH zur Überprüfung gestellt werden sollen? Hier gehe ich mit Graf von Westphalen einig, dass der inhaltliche Vorteil der Einzelfallgerechtigkeit den Nachteil der Rechtsunsicherheit nicht aufwiegen würde92. Auch eine derartige Rechtsunsicherheit wäre ein Standortnachteil für das deutsche Recht im Bereich des internationalen Rechtsverkehrs und würde im

__________ 90 So im Ergebnis auch Lischek/Mahnken, ZIP 2007, 158, 159, 161, 163 unter Hinweis auf den in der Unternehmenspraxis üblichen Ablauf derartiger Vertragsverhandlungen. 91 Lischek/Mahnken, ZIP 2007, 158. 92 Graf von Westphalen, ZIP 2007, 149, 157.

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Übrigen nur dazu führen, dass die vertragsstarke Partei bei internationalen Verträgen weiterhin auf die Anwendbarkeit eines anderen als des deutschen Rechts drängen würde. Graf von Westphalen weist zu Recht auf die wirtschaftliche Macht großer Einkäufer und deren häufig einseitige Einkaufs-AGB hin93. Dies gilt sowohl für den Bereich großer Handelsketten wie Metro u.ä. wie auch im Bereich der Automobil- und sonstigen Großindustrie. Nun sind in unserer globalisierten Welt selbstverständlich auch diese Einkaufsverträge sehr häufig internationale Verträge, da sich ein Großteil der Zulieferer in diesen Bereichen im Ausland befindet; häufig in Ländern mit nicht nur niedrigem Lohnniveau, sondern auch mit einem deutlich niedrigeren Rechtsschutz-Niveau für schwächere Vertragsparteien als dieses in Deutschland gegeben ist, schon allein durch zwingende Gesetzesbestimmungen wie die §§ 138, 242 BGB. Es wäre also nicht dem von der BGH-Rechtsprechung und Graf von Westphalen angestrebten Ziel des Schutzes der schwächeren Partei dienlich, wenn in derartigen Fällen einer starken Einkaufspartei dieser ein weiteres Motiv an die Hand gegeben würde, auf der Wahl des ausländischen Rechts des Zulieferers zu bestehen. 6. Im Ergebnis plädiere ich daher dafür, durchaus generalisierend im Interesse der Rechtssicherheit das AGB-Recht im unternehmerischen Geschäftsverkehr allgemein nicht anzuwenden, solange der Verwender von Standardklauseln überhaupt bereit ist, insgesamt über die von ihm eingeführten Standard-Vertragsbestimmungen zu verhandeln. Dieses Ziel kann erreicht werden über eine praxis- und sachgerechte Auslegung der Tatbestandsmerkmale „Stellen“ und „Aushandeln“ in § 305 Abs. 1 Satz 1 und Satz 3 BGB94. Akzeptiert der Vertragspartner in einer solchen Vertragssituation die anderen, vom Verwender nicht zur Disposition gestellten Vertragsklauseln, so kann er als Unternehmer das Risiko sowie die Vor- und Nachteile des Geschäfts für sich abschätzen. Überwiegen die Nachteile, wird er den Vertrag nicht unterzeichnen; überwiegen die Vorteile, wird er ihn unterzeichnen. Dann soll er allerdings auch die Nachteile, die er sehenden Auges in Kauf genommen hat bzw. die er als Unternehmer hätte erkennen können, akzeptieren und nicht nachträglich versuchen, sich im Wege des „cherry picking“ nur auf die für ihn günstigen Klauseln zu berufen und sich unter Berufung auf das für Verbraucher entwickelte AGB-Recht aus den für ihn ungünstigen Klauseln zu befreien unter Berufung auf deren angebliche Unwirksamkeit. Nur wenn der starke Vertragspartner die von ihm verwendeten Vertragsbedingungen überhaupt nicht zur Disposition stellt („take it or leave it“) befindet sich der andere Vertragspartner in einer „Verbraucherposition“ und es erscheint angemessen, das AGB-Recht zur Anwendung zu bringen.

__________ 93 Graf von Westphalen, ZIP 2007, 149. 94 Lischek/Mahnken, ZIP 2007, 158, 163.

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7. Wir leben in einer globalisierten Welt und der unternehmerische Geschäftsverkehr ist international, insbesondere bei der Exportnation Deutschland. Soll das ansonsten durchaus attraktive „Law made in Germany“ auch im unternehmerischen internationalen Rechtsverkehr überleben können, dann dürfen wir die international agierenden deutschen Unternehmen nicht darauf verweisen, dass sie sich nach 30 Jahren AGB-Rechtsprechung des BGH an diese gewöhnen sollen. Wir müssen ihnen im deutschen Recht eine attraktive Option bieten, die sowohl der Praxis des unternehmerischen Geschäftsverkehrs gerecht wird wie auch Rechtssicherheit bietet.

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Betriebsausfallschäden als Gestaltungsproblem Inhaltsübersicht I. Gestaltungsbedürfnis in der Rechtspraxis II. Ersatzfähigkeit im System der §§ 280 ff. BGB 1. Die Entscheidung des BGH vom 19.6.2009 – V ZR 93/08 2. Zur Überzeugungskraft der Argumente 3. Fazit: Ein erhebliches Haftungsrisiko III. Umfang und Grenzen vertraglicher Gestaltungsmöglichkeiten 1. Individualvereinbarung vs. AGB 2. Der aktuelle Meinungsstand zur AGB-rechtlichen Zulässigkeit 3. Zweifel

IV. Kritik und Stellungnahme 1. Ausgangspunkt 2. Vereinbarkeit mit § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB a) Wesentlichkeit b) Vertragszweckgefährdung c) Zwischenergebnis 3. Vereinbarkeit mit § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB 4. Vereinbarkeit mit § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB 5. Zu den Besonderheiten des B2BGeschäfts V. Ergebnis und Ausblick

I. Gestaltungsbedürfnis in der Rechtspraxis Mangelbedingte Betriebsausfallschäden bilden in der unternehmerischen Kautelarpraxis für den Schuldner der Leistung einen besonders kritischen Schadensposten. Dies liegt daran, dass sie vor allem im Fall des entgangenen Gewinns der Höhe nach weit über den reinen Sachschaden hinausgehen und im Einzelfall in einem völlig unverhältnismäßigen Bezug zum Wert des Vertragsgegenstandes stehen können1. Zugleich hängen diese Schäden ausschließlich von der Disposition des Gläubigers ab, weil dieser mit dem Einsatz des Vertragsgegenstandes auch über die mögliche Schadenshöhe entscheidet. So kann derselbe Mangel einerseits zu einem vergleichsweise geringen Schaden führen, wenn der Gegenstand für ein produktionsmäßig unbedeutendes Gerät eingesetzt wird, andererseits aber eine für den Schuldner existenzbedrohende Schadenshöhe nach sich ziehen, wenn dadurch eine produktionsrelevante Anlage ausfällt und es zu einer Betriebsunterbrechung kommt2. Diese Abhängig-

__________ 1 Vgl. von Westphalen, BB 2002, 209 (210); Gruber, ZGS 2003, 130; Tettinger, AcP 205 (2005), 1 (4 f.); dazu und zum Nachfolgenden demnächst ausführlich Khan, Haftungsfreizeichnungen im unternehmerischen Verkehr am Maßstab des § 307 BGB (Diss. Köln, im Erscheinen). 2 S. Khan (Fn. 1).

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keit der Schadenshöhe von der Disposition des Gläubigers über die Verwendung der Leistung besteht bei sonstigen Schadensersatzansprüchen statt und neben der Leistung nicht in gleichem Maße. Die folgenden Überlegungen analysieren am Beispiel von Kauf- und Werkvertrag, unter welchen Voraussetzungen solche Schäden im System der §§ 280 ff. BGB zu ersetzen sind und inwieweit ein vertraglicher Haftungsausschluss in Betracht kommt. Das Themenfeld ist von hoher praktischer Bedeutung, aber auch wissenschaftlich reizvoll, werden doch die Grundsatzfragen der ratio einer Inhaltskontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen im unternehmerischen Verkehr und der Funktion vertraglicher Schadensersatzansprüche berührt. Solche Grundsatzfragen hat der Jubilar stets als Herausforderungen begriffen, denen er sich in einer ungewöhnlichen Verbindung von Praxisnähe und wissenschaftlichem Anspruch gestellt hat, und zwar stets mit der Bereitschaft, eingefahrenen Denkmustern eigene, unkonventionelle Lösungen entgegenzusetzen. Ihm ist dieser Beitrag in kollegialer Verbundenheit gewidmet.

II. Ersatzfähigkeit im System der §§ 280 ff. BGB 1. Die Entscheidung des BGH vom 19.6.2009 – V ZR 93/083 Die Ersatzfähigkeit mangelbedingter Betriebsausfallschäden bildet bekanntlich eine der strittigsten Fragen des reformierten Schuldrechts, die nunmehr höchstrichterlich im Sinne der herrschenden Lehre entschieden worden ist: Danach sollen solche Schäden bereits nach § 280 Abs. 1 BGB ersatzfähig sein4, ohne dass es auf die Voraussetzungen der §§ 280 Abs. 2, 286 BGB ankommt5.

__________ 3 BGH, NJW 2009, 2674 (vorgesehen zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung). 4 BGH, NJW 2009, 2674 (2675 f.); Canaris, ZIP 2003, 321 (326 f.); Medicus, JuS 2003, 521 (528); Lorenz/Riehm, Lehrbuch zum neuen Schuldrecht, 2002, Rz. 546 f.; Heinrichs in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 280 BGB Rz. 18, 20; Ernst in MünchKomm. BGB, Bd. 2, 5. Aufl. 2007, § 280 BGB Rz. 55 ff.; H. P. Westermann in MünchKomm. BGB, Bd. 3, 5. Aufl. 2008, § 437 BGB Rz. 33; ders. in Erman, Bd. 1, 12. Aufl. 2008, § 280 BGB Rz. 12; Otto in Staudinger, §§ 255–304 BGB (Neubearb. 2004), § 280 BGB Rz. E 29 f.; Faust in Bamberger/Roth. 14. Ed., Stand 1.9.2009, § 437 BGB Rz. 67; Reinicke/Tiedtke, Kaufrecht, 8. Aufl. 2008, Rz. 518 ff.; Kaiser in Staudinger, Eckpfeiler des Zivilrechts (Neubearb. 2008), Kap. Leistungsstörungen, F IV, S. 370 ff.; U. Huber in FS Peter Schlechtriem, 2003, S. 521 (525); Gruber, ZGS 2003, 130 (133 f.). 5 In diesem Sinne aber Dauner-Lieb/Dötsch, DB 2001, 2535 (2537); Arnold/Dötsch, BB 2003, 2250 (2253); Dauner-Lieb in dies/Heidel/Ring, Bd. 2, 2005, § 280 BGB Rz. 62; dies. in FS Horst Konzen, 2006, S. 63 (70); Büdenbender in Dauner-Lieb/Heidel/Ring, § 437 BGB Rz. 71 ff.; Dedek in Henssler/von Westphalen, Praxis der Schuldrechtsreform, 2. Aufl. 2003, § 280 BGB Rz. 18; Oekter/Maultzsch, Vertragliche Schuldverhältnisse, 3. Aufl. 2007, § 2, Rz. 267 ff.; C. Berger in Jauernig, 13. Aufl. 2009, § 437 BGB Rz. 17; Fliegner, JR 2002, 314 (322); Petersen, Jura 2002, 461 (463); Schur, ZGS 2002, 243 (244); Oechsler, NJW 2004, 1825 (1828); ebenso grds. auch Grigoleit/Riehm, AcP 203 (2003), 727 (754 ff.); dies., JuS 2004, 745 (747 f.); Teichmann/Weidmann in FS Walther Hadding, 2004, S. 287 (301 f.); Looschelders, Schuldrecht Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2009, Rz. 575.

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Gestützt wird dies unter anderem auf den Willen des Gesetzgebers6 und auf die fehlende Normierung des § 286 BGB in § 437 BGB7. Darüber hinaus wird insbesondere angeführt, dass der Schuldner durch eine mangelhafte Leistung gefährlicher in die Gütersphäre des Gläubigers eindringe als bei einer gänzlich verzögerten Leistung, so dass es mit Blick auf die Interessenlage einen Unterschied mache, „ob der Schuldner lediglich untätig bleibt oder ob er zwar leistet, die Leistung aber fehlerhaft erbringt“8. Wegen dieser höchstrichterlichen Entscheidung wird sich die Praxis darauf einzustellen haben, dass auch die Instanzgerichte dieser Lösung folgen und Betriebsausfallschäden ohne Mahnungserfordernis als ersatzfähig ansehen werden. 2. Zur Überzeugungskraft der Argumente Sachlich kann diese Ansicht freilich nach wie vor nicht überzeugen: Wenig hilfreich ist zunächst einmal der Verweis auf den Willen des Gesetzgebers, weil dieser recht undifferenziert von einer Lösung über § 280 Abs. 1 BGB ausgegangen ist, ohne sich mit den Argumenten auseinanderzusetzen, die stattdessen für eine Lösung über § 286 BGB sprechen könnten. Eine solche Lösung liegt aber gerade deshalb nahe, weil sich eine Schlechtleistung zugleich als ein Fall verspäteter ordnungsgemäßer Leistung verstehen lässt9, worauf selbst der BGH zutreffend hinweist10. Ferner geht es bei mangelbedingten Betriebsausfallschäden nicht um eine Verletzung des Integritätsinteresses, sondern um eine solche des „Leistungsinteresses in zeitlicher Hinsicht“11, was ebenfalls für eine strukturelle Nähe zu § 286 BGB spricht. Auch der dagegen vorgebrachte Hinweis auf die fehlende Normierung des § 286 BGB in § 437 BGB ist wenig aussagekräftig, weil er von der herrschenden Ansicht ohnehin nicht konsequent beachtet wird. Vielmehr greift auch die herrschende Ansicht zumindest in jenen Fällen auf §§ 437, 280 Abs. 1, Abs. 2, 286 BGB zurück, in denen der Schaden lediglich auf eine vom Schuldner zu vertretende Verzögerung der Nacherfüllung zurückzuführen ist12. Es ist aber kaum erklärbar, warum § 286 BGB in diesen Fällen trotz fehlender Normierung in § 437 BGB

__________ 6 So mit Verweis auf BT-Drucks. 14/6040, S. 225 etwa BGH, NJW 2009, 2674 (2675 f.); Lorenz/Riehm (Fn. 4), Rz. 546; H. P. Westermann in Erman (Fn. 4), § 280 BGB Rz. 12; Faust in Bamberger/Roth (Fn. 4), § 437 BGB Rz. 67; Kaiser in Staudinger, Eckpfeiler des Zivilrechts (Fn. 4), Kap. Leistungsstörungen, F IV 3, S. 371 f.; Reinicke/Tiedtke (Fn. 4), Rz. 520. 7 BGH, NJW 2009, 2674 (2676); Lorenz/Riehm (Fn. 4), Rz. 546; Faust in Bamberger/ Roth (Fn. 4), § 437 BGB Rz. 67; Beckmann in Staudinger, Eckpfeiler des Zivilrechts (Fn. 4), Kap. Kauf, C II 4 d, S. 597; Reinicke/Tiedtke (Fn. 4), Rz. 521. 8 BGH, NJW 2009, 2674 (2676) mit Verweis auf Canaris, ZIP 2003, 321 (323). 9 Vgl. die in Fn. 5 Genannten. 10 BGH, NJW 2009, 2674 (2675). 11 Grigoleit/Riehm, AcP 203 (2003), 727 (754); ähnlich dies., JuS 2004, 745 (747); Oetker/Maultzsch (Fn. 5), § 2, Rz. 268. 12 S. etwa Reinicke/Tiedtke (Fn. 4), Rz. 522; Ernst in MünchKomm.BGB (Fn. 4), § 280 BGB Rz. 59; H. P. Westermann in MünchKomm.BGB (Fn. 4), § 437 BGB Rz. 33; Faust in Bamberger/Roth (Fn. 4), § 437 BGB Rz. 59 f.; S. Lorenz, NJW 2005, 1889 (1891); ders., NJW 2007, 1 (2).

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anwendbar sein soll, nicht hingegen in sonstigen Fällen mangelbedingter Betriebsausfallschäden. Soweit argumentiert wird, dass der Schuldner durch eine mangelhafte Leistung gefährlicher in die Gütersphäre des Gläubigers eindringe als bei einer gänzlich verzögerten Leistung und man deshalb andere Maßstäbe anlegen müsse, ist dagegen einzuwenden, dass das Eindringen in die Gütersphäre des Gläubigers nur in jenen Fällen als berücksichtigungsfähig angesehen werden kann, in denen es sich um Schutzpflichtverletzungen i. S. d. § 241 Abs. 2 BGB handelt. Geht es aber wie hier um eine Hauptpflichtverletzung, so ist unerheblich, ob und wie der Schuldner in die Gütersphäre des Gläubigers eindringt, weil dieser Umstand nicht den eigentlichen Anknüpfungspunkt für die Pflichtverletzung bildet13. Für eine Lösung über §§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286 BGB spricht schließlich auch eine wertungsmäßige Gesamtschau der haftungsrechtlichen Situation, die sich für den Verkäufer als kaum interessengerecht darstellt, wenn er schon unmittelbar aus § 280 Abs. 1 BGB haften müsste: Im Gegensatz zu sonstigen Fällen mangelbedingter Schäden ist es nämlich gerade die Besonderheit von Betriebsausfallschäden, dass sie mit zunehmender Zeit ansteigen14 und deshalb eine sehr hohe Summe erreichen können, die in keinem verhältnismäßigen Bezug mehr zum Wert des Kaufgegenstandes steht15. Insofern ist es für den Verkäufer von essentieller Bedeutung, dass er vom Mangel Kenntnis erlangt und damit auch die Möglichkeit einer zeitnahen Mangelbehebung erhält, bevor er einer Haftung ausgesetzt wird. Auch der BGH unterstreicht dieses Interesse des Verkäufers ganz explizit und weist darauf hin, dass der Käufer den Mitverschuldenseinwand des § 254 BGB gegen sich gelten lassen müsse, wenn er den Verkäufer nicht auf die Mangelhaftigkeit der Sache hinweise und ihn zur Abhilfe auffordere16. Wenn man aber das Bedürfnis nach einem solchen Verkäuferschutz grundsätzlich anerkennt, wäre es dogmatisch ehrlicher, den unter allen Auslegungsgesichtspunkten gangbaren Weg über §§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286 BGB zu wählen, anstatt behelfsweise auf § 254 BGB zurückzugreifen. Der Verkäufer würde dadurch erst dann für Betriebsausfallschäden haften, wenn er gemahnt worden ist und in Verzug gerät. Da die Mahnung bereits im Nacherfüllungsverlangen gesehen werden kann17, ist dies auch keine zu hohe Hürde für den Käufer. Gegen den Vorschlag der Annahme einer Entbehrlich-

__________ 13 Dauner-Lieb in dies./Heidel/Ring (Fn. 5), § 280 BGB Rz. 64. 14 Zur Zeitabhängigkeit dieser Schäden vgl. nur Hinterscheid, Ansätze zur Bewältigung existenzbedrohender Unternehmensrisiken, 2008, S. 75; Grigoleit/Riehm, AcP 203 (2003), 727 (754); dies., JuS 2004, 745 (747). 15 Vgl. bereits oben Fn. 1. 16 BGH, NJW 2009, 2674 (2676), ebenso bereits Canaris, ZIP 2003, 321 (326, dort Fn. 30); S. Lorenz in Karlsruher Forum 2005, S. 5 (45); Ernst in MünchKomm.BGB (Fn. 4), § 280 BGB Rz. 58; Kaiser in Staudinger, Eckpfeiler des Zivilrechts (Fn. 4), Kap. Leistungsstörungen, F IV 3, S. 372; Gruber, ZGS 2003, 130 (133 f.). 17 Büdenbender in Dauner-Lieb/Heidel/Ring (Fn. 5), § 437 BGB Rz. 74; Oetker/ Maultzsch (Fn. 5), § 2, Rz. 266; Dedek in Henssler/von Westphalen (Fn. 5), § 280 BGB Rz. 19; vgl. insoweit auch Ernst in MünchKomm.BGB (Fn. 4), § 280 BGB Rz. 59; Faust in Bamberger/Roth (Fn. 4), § 437 BGB Rz. 67.

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keit der Mahnung gemäß § 286 Abs. 2 Nr. 4 BGB18 spricht, dass dieser Ausnahmetatbestand auf andere Konstellationen zugeschnitten ist und im Rahmen der hier interessierenden Fallgestaltung nicht passt19. Andererseits erscheint auch der teilweise vorgeschlagene Weg einer Abwicklung über §§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 281 BGB20 nicht sachgerecht, weil dies nicht nur ein Nacherfüllungsverlangen, sondern auch den erfolglosen Ablauf der Nachfrist erforderlich machen würde, obwohl die entstandenen Schäden durch eine Nacherfüllung nicht zu beseitigen wären21. 3. Fazit: Ein erhebliches Haftungsrisiko Vor diesem Hintergrund sprechen nach wie vor die besseren Argumente gegen eine Lösung über § 280 Abs. 1 oder §§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 281 BGB und für eine Lösung über § 286 BGB einschließlich des Mahnungserfordernisses. Das bedeutet zwar keineswegs, dass alle durch eine Schlechtleistung entstandenen Schäden über §§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286 BGB zu ersetzen sind – es besteht vielmehr ein jeweils eigenständiger Raum für Schadensersatzansprüche aus § 280 Abs. 1 und §§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 281 BGB22 – doch stellt sich diese Lösung für den speziellen Fall mangelbedingter Betriebsausfallschäden aus den genannten Gründen als interessengerecht und systematisch überzeugend dar. Im Bereich der werkvertraglichen Haftung gilt diese Argumentation wegen der vergleichbaren Rechtslage gleichermaßen. Da Rechtsprechung und herrschende Lehre diesen Weg aber nicht gehen, haftet der Schuldner sofort ab Lieferung eines mangelhaften Vertragsgegenstandes für mangelbedingte Betriebsausfallschäden in voller Höhe. Diese äußerst strenge Haftung steht in deutlichem, bisher nicht ausreichend wahrgenommenen Kontrast zur Rechtslage vor der Schuldrechtsreform: Nach altem Recht haftete der Schuldner für Betriebsausfallschäden nach ganz herrschender Auffassung nur bei Übernahme eines Haftungsrisikos in Form einer Eigenschaftszusicherung oder bei arglistiger Täuschung; bei Fahrlässigkeit wurde für Betriebsausfallschäden überhaupt nicht gehaftet23. Umso größer ist für den Verkäufer bzw. Werkunternehmer nunmehr das Bedürfnis, diese Haftung zumindest vertraglich auszuschließen oder zu begrenzen.

__________ 18 Grigoleit/Riehm, AcP 203 (2003), 727 (755 ff.); dies., JuS 2004, 745 (747 f.); Teichmann/Weidmann in FS Hadding (Fn. 5), S. 287 (301 f.); Looschelders (Fn. 5), Rz. 575. 19 Vgl. im Einzelnen Dauner-Lieb in dies./Heidel/Ring (Fn. 5), § 280 BGB Rz. 66; kritisch auch Oetker/Maultzsch (Fn. 5), § 2, Rz. 270. 20 P. Huber in ders./Faust, Schuldrechtsmodernisierung, 2002, 3. Teil, 13. Kap., Rz. 106, 108; Recker, NJW 2002, 1247 f.; Ady, ZGS 2003, 13 (15). 21 Dauner-Lieb/Dötsch, DB 2001, 2535 (2537); Dauner-Lieb in dies./Heidel/Ring (Fn. 5), § 280 BGB Rz. 61. 22 Eingehend Dauner-Lieb in dies./Heidel/Ring (Fn. 5), § 280 BGB Rz. 68 ff. 23 Dazu näher unter IV.2.a.

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III. Umfang und Grenzen vertraglicher Gestaltungsmöglichkeiten 1. Individualvereinbarung vs. AGB Weichenstellend für die rechtliche Beurteilung eines solchen Haftungsausschlusses ist zunächst, ob es sich dabei um eine Individualvereinbarung oder um AGB handelt. Die individualvertraglichen Grenzen solcher Ausschlüsse sind bekanntermaßen äußerst weit gesteckt, weil hier außerhalb der §§ 138, 242 BGB kaum Beschränkungen bestehen. Demnach kann die Haftung wegen § 276 Abs. 3 BGB und § 475 Abs. 3 BGB sogar für grobe Fahrlässigkeit und selbst gegenüber Verbrauchern ausgeschlossen werden. Faktisch ist freilich der Spielraum für einen individualvertraglichen Haftungsausschluss sehr gering, und zwar – hier liegt die eigentliche Problematik – auch in dem für die Betriebsausfallschäden relevanten B2B-Geschäft. Dies liegt daran, dass die Rechtsprechung unabhängig davon, ob es sich um B2C-Verträge oder B2B-Verträge handelt, fast unerfüllbare Anforderungen an das Vorliegen eines Individualvertrages stellt, insbesondere an ein individuelles Aushandeln i. S. v. § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB. So fordert sie, dass sich ein Aushandeln i. S. d. § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB im Regelfall grundsätzlich in einer konkreten Änderung der entsprechenden Bestimmung niederschlagen müsse und andernfalls nur unter besonderen Umständen zu bejahen sei24. Dies bedeutet, dass eine vorformulierte Haftungsausschlussklausel selbst dann nicht als individuell ausgehandelt beurteilt wird, wenn die Vertragsparteien gründlich über sie verhandelt und sich letztlich mit ihrer Geltung einverstanden erklärt haben, ohne den Klauseltext zu ändern25. Schon deshalb besteht nach der derzeitigen Praxis des BGH im Hinblick auf eine Freizeichnung von der Haftung für mangelbedingte Schäden kein relevanter Unterschied zwischen B2C-Verträgen und B2B-Verträgen; außerdem wird die Grenze zwischen AGB und Individualvereinbarung soweit verschoben, dass für einen Haftungsausschluss durch individuelle Absprache kaum mehr Raum bleibt. Die Praxis muss sich daher darauf einstellen, dass Haftungsausschlüsse für Betriebsausfallschäden so gut wie immer einer richterlichen Überprüfung nach Maßgabe der §§ 305 ff. BGB unterliegen.

__________ 24 S. etwa BGH, NJW-RR 1987, 144 (145); NJW 1988, 410; NJW 1998, 2600 (2601); BGHZ 143, 103 (111 f.); 153, 311 (321), jeweils m. w. N. 25 Vgl. insoweit auch von Westphalen in dens., Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, 25. EL v. März 2009, Bd. 1: Vertragsrecht, Stand März 2005, Kap. 17, Rz. 11 ff., 14; dens., NJW 2009, 1799; dens., NJW 2009, 2355 (2362); dens., BB 2010, 195 (197 ff.); Grünberger, Jura 2009, 249 (256); kritisch zu diesen strengen Anforderungen bereits Rabe, NJW 1987, 1978 (1980); ebenso Lieb in Abels/Lieb, AGB im Spannungsfeld zwischen Kautelarpraxis und Rechtsprechung, 2007, S. 109 ff.; Schlosser in Staudinger, §§ 305–310 BGB (Neubearb. 2006), § 305 BGB Rz. 36a; Grüneberg in Palandt (Fn. 4), § 305 BGB Rz. 22; K. P. Berger, NJW 2001, 2152 (2153 f.); ders., ZGS 2004, 415 (420 ff.); ders., ZIP 2006, 2149 (2152); ders., NJW 2010, 465 (467 ff.); ders. in Prütting/ Wegen/Weinreich, 4. Aufl. 2009, § 305 BGB Rz. 14; ders./Kleine, BB 2007, 2137; Lischek/Mahnken, ZIP 2007, 158 (160 ff.); Kessel/Jüttner, BB 2008, 1350 ff.; Müller/ Griebeler/Pfeil, BB 2009, 2658 (2660 ff.); Dauner-Lieb/Axer, ZIP 2010, 309 (311, 314); Khan (Fn. 1).

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2. Der aktuelle Meinungsstand zur AGB-rechtlichen Zulässigkeit Dabei sind zunächst die besonderen Klauselverbote des § 309 Nr. 7 lit. a und b BGB zu beachten. Sie haben zwar an sich nur Indizwirkung nach § 310 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 1. Halbsatz BGB; gemäß § 310 Abs. 1 Satz 2 2. Halbsatz BGB ist auf die im Handelsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche angemessen Rücksicht zu nehmen. Diese Indizwirkung wird freilich von der Rechtsprechung extensiv gehandhabt, so dass auch insoweit faktisch eine Annäherung der Inhaltskontrolle von B2C-Verträgen und B2B-Verträgen erreicht wird26. Für den speziellen Fall von Schäden aus der Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit statuiert § 309 Nr. 7 lit. a BGB ein absolutes Freizeichnungsverbot. Für alle sonstigen Fälle, also insbesondere auch Vermögensschäden bzw. Betriebsausfallschäden, untersagt § 309 Nr. 7 lit. b BGB lediglich den Ausschluss der Haftung für grobe Fahrlässigkeit. Damit bleibt die Frage offen, wie der Ausschluss der Haftung bei Vermögensschäden für Fälle leichter Fahrlässigkeit zu beurteilen ist. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hatte dazu schon vor Geltung des alten AGB-Gesetzes eine äußerst restriktive Linie entwickelt, die später in § 9 Abs. 2 Nr. 2 AGBG ihre kodifikatorische Verankerung gefunden hat27 und mit der Schuldrechtsreform in § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB überführt worden ist: Die Kernaussage dieser als Kardinalpflichtenrechtsprechung bekannt gewordenen Judikatur lässt sich aus dem Wortlaut des § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB entnehmen, der es untersagt, wesentliche Rechte oder Pflichten, die sich aus der Natur des Vertrages ergeben, so einzuschränken, dass dadurch die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet wird28. Kardinale bzw. wesentliche Pflichten i. S. d. § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB sind nach der Rechtsprechung vor allem solche, deren Einhaltung die Durchführung des Vertrages erst ermöglicht und auf die der Vertragspartner regelmäßig vertraut und vertrauen darf29. Im alten Kaufrecht wurde dabei auch die Pflicht zur Verschaffung einer fehlerfreien Sache als wesentlich angesehen30. Zugleich beurteilt die Rechtsprechung nicht nur den Ausschluss einer wesentlichen Pflicht an sich als vertragszweckgefährdend, sondern stuft auch einen entsprechenden Haftungsausschluss als mittelbare Aushöhlung der wesentlichen Pflicht ein und geht hier ebenfalls von einer Unzulässigkeit aus31. In gleicher Weise wird auch werkvertraglichen Haftungsfreizeichnungen die Wirksamkeit versagt32, wobei prinzipiell auch Betriebsausfallschäden von diesen Grundsätzen erfasst werden33. Zulässig sind

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26 BGHZ 174, 1 (5 f.); A. Fuchs in Ulmer/Brandner/Hensen, 10. Aufl. 2006, § 307 BGB Rz. 283, 285; vgl. ferner BGHZ 90, 273 (278); BGHZ 103, 316 (328); BGH, NJW-RR 2005, 247 (248); dazu auch Dauner-Lieb/Axer, ZIP 2010, 309 (310 f.); K. P. Berger, NJW 2010, 465. 27 Vgl. BT-Drucks. 7/3919, S. 9, 23. 28 Für eine ausführliche Analyse der Kardinalpflichtenrechtsprechung s. Khan (Fn. 1). 29 BGH, NJW-RR 1986, 271 (272); NJW 1993, 335 (336); NJW-RR 2006, 267 (269 f.). 30 BGHZ 145, 203 (244 f.). 31 BGHZ 71, 167 (173); BGH, NJW 1985, 914 (916); NJW 1993, 335 (336); BGHZ 149, 57 (62); 149, 89 (97 f.). 32 BGH, NJW 1985, 3016 (3017 f.); NJW-RR 2001, 342 (343); BGHZ 149, 57 (62). 33 BGH, NJW 2001, 342.

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nach der Rechtsprechung lediglich summenmäßige Haftungsbegrenzungen, die aber mindestens den vertragstypischen, vorhersehbaren Schaden abdecken müssen34. Sonstige Haftungsausschlüsse und -begrenzungen für leichte Fahrlässigkeit kommen demnach nur in Betracht, soweit nichtwesentliche Vertragspflichten tangiert sind. Freilich hat die Rechtsprechung im Geltungsbereich des neuen Schuldrechts bislang nicht explizit zur Frage Stellung genommen, ob in der Lieferung einer mangelhaften Sache eine Kardinalpflichtverletzung liegt, im Rahmen derer die Haftung für leichte Fahrlässigkeit nicht ausgeschlossen werden kann35. Gerade für den speziellen Fall von Betriebsausfallschäden liegen noch keine verwertbaren Entscheidungen vor. Zwar wird man sich insoweit angesichts der bereits zum alten Recht formulierten Grundsätze keinen großen Hoffnungen hingeben dürfen, doch hat sich der BGH immerhin noch nicht so ausdrücklich festgelegt wie im Bereich der oben geschilderten schadenstypologischen Einordnung von Betriebsausfallschäden. In der Literatur ist diese strenge Rechtsprechungslinie ganz überwiegend auf Zustimmung gestoßen, so dass in kauf- und werkvertraglichen Haftungsausschlüssen für leichte Fahrlässigkeit ein Verstoß gegen § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB erblickt wird; sie wird ohne allzu großes Problembewusstsein auch auf die Rechtslage nach der Schuldrechtsreform übertragen36. Zur Begründung wird wie auch in der Rechtsprechung darauf hingewiesen, dass die Pflicht zur Lieferung einer mangelfreien Sache bzw. zur Herstellung eines mangelfreien Werkes eine wesentliche Pflicht darstelle37 und jedenfalls bei der Geltendmachung des „großen Schadensersatzes“ gemäß § 281 Abs. 1 Satz 3 BGB immer eine wesentliche Pflicht verletzt sein müsse, weil hier eine erhebliche Pflichtverletzung vorausgesetzt werde38. Zeichne sich der Schuldner aber von der entsprechenden Haftung frei, so führe das zu einer Vertragszweckgefährdung, weil dadurch trotz einer Primärpflichtverletzung auch noch die Sekundärpflicht in

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34 BGHZ 89, 363 (368 f.); BGH, NJW 1985, 3015 (3016); NJW-RR 1996, 783 (788); BGHZ 138, 118 (133); 145, 203 (218). 35 Die vielzitierte Entscheidung BGHZ 164, 11 befasste sich zwar grundsätzlich mit kaufvertraglichen Schadensersatzansprüchen, doch war hier auf die o. g. Frage nicht mehr einzugehen, weil der Senat einen entsprechenden Haftungsausschluss bereits wegen Intransparenz als unwirksam ansah, vgl. a. a. O., S. 35 ff. 36 Vgl. dazu von Westphalen in Henssler/von Westphalen (Fn. 5), § 307 BGB Rz. 16 f., § 309 BGB Rz. 44 ff.; dens. in dens., Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke (Fn. 25), Kap. 10, Rz. 51 ff., 71; dens., NJW 2002, 12 (22); dens., NJW 2002, 1688 (1694); dens., BB 2002, 209 (212 f.); s. ferner Christensen in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 26), § 309 BGB Rz. 38; K. P. Berger in Prütting/Wegen/Weinreich (Fn. 25), § 307 BGB Rz. 29 f.; Arnold, ZGS 2004, 16 (20 f.); Pfeiffer in Dauner-Lieb/Konzen/Schmidt, Das neue Schuldrecht in der Praxis, 2003, S. 225 (234 f.); Matusche-Beckmann in Staudinger, §§ 433–487 BGB (Neubearb. 2004), § 475 BGB Rz. 102; Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, Rz. 982; Schulze/Ebers, JuS 2004, 462 (466); Stölting, ZGS 2005, 299 (301); eingehend zum Meinungsstand Khan (Fn. 1). 37 Arnold, ZGS 2004, 16 (20); K. P. Berger in Prütting/Wegen/Weinreich (Fn. 25), § 307 BGB Rz. 30; Pfeiffer in Dauner-Lieb/Konzen/Schmidt (Fn. 36), S. 225 (235); Matusche-Beckmann in Staudinger (Fn. 36), § 475 BGB Rz. 102; Schulze/Ebers, JuS 2004, 462 (466). 38 von Westphalen in ders., Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke (Fn. 25), Kap. 10, Rz. 51 ff.

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Form des Schadensersatzes bei leichter Fahrlässigkeit wegfalle39. Gestattet wird deshalb auch hier lediglich eine Begrenzung auf den typischen, vorhersehbaren Schaden40. Zugleich gehen die Vertreter dieser Auffassung zusätzlich von einem Verstoß gegen § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB aus, weil durch einen entsprechenden Haftungsausschluss das in § 325 BGB zum Ausdruck kommende Wahlrecht des Gläubigers zwischen Rücktritt und Schadensersatz unterlaufen werde41. Teilweise wird im Schrifttum stattdessen nach der Art des Schadens oder des Vertragsgegenstandes differenziert und jedenfalls bei Schadensersatzansprüchen statt der Leistung42, Schadensersatzansprüchen neben der Leistung43 oder bei neuen Sachen eine Unzulässigkeit von Freizeichnungen angenommen44. 3. Zweifel Allerdings werden neuerdings gewichtige Zweifel daran geäußert, ob eine undifferenzierte Übertragung der Kardinalpflichtenrechtsprechung auf die Haftung für fahrlässig verursachte mangelbedingte Schäden tragfähig ist. So hat insbesondere Tettinger bedenkenswerte Einwände formuliert45. Er verweist vor allem darauf, dass der Nacherfüllungsanspruch bereits eine ordnungsgemäße Vertragserfüllung sicherstelle, so dass es zur Vermeidung einer Vertragszweckgefährdung auf die Haftung für leichte Fahrlässigkeit nicht mehr ankomme46. Ferner nimmt er mit der Erwägung auf die Wertungen des alten Rechts Bezug, dass hier noch nicht einmal eine Anspruchsgrundlage für eine Fahrlässigkeitshaftung im Bereich von Betriebsausfallschäden existierte47 und es daher als bedenklich anzusehen sei, diese Haftung heute als vertragsresistent zu beurteilen48.

__________ 39 von Westphalen, BB 2002, 209 (213); Christensen in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 26), § 309 Nr. 7 BGB Rz. 38. 40 von Westphalen in Henssler/von Westphalen (Fn. 5), § 309 BGB Rz. 48; ders. in ders., Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke (Fn. 25), Kap. 10, Rz. 97. 41 von Westphalen, NJW 2002, 12 (22); vgl. auch Christensen (Fn. 26) in Ulmer/ Brandner/Hensen, § 307 BGB Rz. 38. 42 Vgl. Artz in Schwab/Witt, Examenswissen zum neuen Schuldrecht, 2. Aufl. 2003, S. 304 f.; dens., JuS 2002, 528 (531 f.); ähnlich Fliegner, AnwBl. 2001, 676 (677); ders., Der Leistungsbegriff des neuen Schuld- und AGB-Rechts, 2006, S. 143 ff., 158 ff. 43 Tiedtke/Burgmann, NJW 2005, 1153 (1156); Becker in Bamberger/Roth (Fn. 4), § 309 Nr. 8 BGB Rz. 30, 35, § 309 Nr. 7 BGB Rz. 22; in diese Richtung auch Grunewald, Kaufrecht, 2006, § 10 I, Rz. 41. 44 Litzenburger, NJW 2002, 1244 (1245); ähnlich Grüneberg in Palandt (Fn. 4), § 307 BGB Rz. 34a; Kieninger in MünchKomm.BGB, Bd. 2 (Fn. 4), § 309 Nr. 7 BGB Rz. 29. 45 Tettinger, AcP 205 (2005), 1 (13 ff.); ders. in Abels/Lieb, AGB und Vertragsgestaltung nach der Schuldrechtsreform, 2005, S. 145 (155 ff.); i. E. auch A. Fuchs in Ulmer/ Brandner/Hensen (Fn. 26), § 307 BGB Rz. 292 ff., 316; S. Roloff in Erman (Fn. 4), § 309 BGB Rz. 74; Kessel/Stomps, BB 2009, 2666 ff.; weiterführend Khan (Fn. 1). 46 Tettinger, AcP 205 (2005), 1 (18 f.); ders. in Abels/Lieb (Fn. 45), S. 145 (156 f.). 47 Dazu sogleich unter IV.2.a. 48 Tettinger, AcP 205 (2005), 1 (4 f., 17 f.).

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IV. Kritik und Stellungnahme 1. Ausgangspunkt Die bisherige Linie von Rechtsprechung und überwiegendem Schrifttum bedarf schon deshalb einer kritischen Überprüfung im Hinblick auf die durch die Schuldrechtsreform eingetretene Rechtsänderung, weil sie dazu führen könnte, dass der Schuldner das Risiko einer Haftung für Betriebsausfallschäden des Gläubigers überhaupt nicht mehr begrenzen könnte. Die von der Rechtsprechung zugebilligte Möglichkeit einer summenmäßigen Haftungsbegrenzung auf den typischen, vorhersehbaren Schaden hilft dem Schuldner nicht weiter: Einerseits sind Betriebsausfallschäden fast immer typisch und vorhersehbar, wenn der Vertragsgegenstand vom Gläubiger selbst gewerblich genutzt werden soll49; etwas anderes gilt lediglich dann, wenn es um die Veräußerung eines Gegenstandes im Rahmen einer Lieferkette geht, an deren Ende ein Verbraucher steht. Dann liegt andererseits im Einzelfall ein vertragsatypischer und unvorhersehbarer Schaden vor, der in der Mehrzahl der Fälle mangels adäquater Kausalität ohnehin nicht zu ersetzen ist, so dass die Rechtsprechung mit ihrer Begrenzungswendung lediglich die gesetzlichen Grenzen der Ersatzpflicht wiederholt, ohne eine praktisch wirksame Begrenzungsmöglichkeit an die Hand zu geben50. Für den Schuldner bietet eine solche Haftungsbegrenzung demnach keinen Mehrwert51. Folglich kommt es entscheidend auf die Frage an, ob auch ein kompletter Ausschluss der Haftung für leichte Fahrlässigkeit möglich ist. 2. Vereinbarkeit mit § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB a) Wesentlichkeit Wie oben ausgeführt wurde, verneint die herrschende Ansicht die Möglichkeit eines solchen Ausschlusses insbesondere mit dem Argument, dass die Pflicht zur mangelfreien Lieferung der Kaufsache bzw. die Pflicht zur mangelfreien Herstellung des Werkes als wesentlich zu qualifizieren sei. Schon dies überzeugt nicht: Es geht nicht um einen Ausschluss dieser Hauptpflicht, sondern um einen Ausschluss bzw. eine Begrenzung der Sanktion für den Fall einer nicht vollständig korrekten Erfüllung dieser Hauptpflicht. Die „Vermischung“ dieser beiden Pflichten steht im Widerspruch zum Wortlaut des § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB. Dieser untersagt nur die Einschränkung von wesentlichen Pflichten; nicht geregelt ist aber die Konstellation, dass die gesetzliche Sanktion für die Verletzung einer Kardinalpflicht abbedungen wird. § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB wäre daher seinem Wortlaut nach überhaupt nur einschlägig, wenn die gesetzliche Haftung für mangelbedingte Schäden selbst als wesentliche Pflicht anzu-

__________ 49 Ostendorf, ZGS 2006, 222 (225); Tettinger, AcP 2005, 1 (11); Kollmann in DaunerLieb/Heidel/Ring (Fn. 5), § 307 BGB Rz. 39. 50 Vgl. Khan (Fn. 1); so auch schon Reiff, AnwBl 1997, 3 (5). 51 Vgl. auch Dauner-Lieb/Dötsch, Entwicklungstendenzen und Problemschwerpunkte zwei Jahre nach der Schuldrechtsreform, 2003, S. 29.

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sehen wäre. Für die Fälle leichter Fahrlässigkeit erscheint dies schon deshalb äußerst fraglich, weil im Rahmen individualvertraglicher Vereinbarungen Schadensersatzansprüche selbst bei grober Fahrlässigkeit auszuschließen sind, und zwar auch gegenüber Verbrauchern. Vor diesem Hintergrund leuchtet es aber nicht ein, warum die Haftung für leichte Fahrlässigkeit sogar gegenüber unternehmerischen Vertragspartnern im Anwendungsbereich der §§ 305 ff. BGB als wesentliche Vertragspflicht anzusehen sein soll. Auch die Gesetzgebungsgeschichte spricht gegen eine solche Deutung: Ursprünglich sollte ein Ausschluss der Haftung für leichte Fahrlässigkeit in die Klauselverbote der §§ 308 f. BGB aufgenommen werden; darauf wurde später ausdrücklich mit der Begründung verzichtet, dass dies im Kauf- und Werkvertragsrecht zu weit gehe52. Daher liegt der Umkehrschluss nahe, dass ein Ausschluss oder eine Begrenzung der Haftung für Vermögensschäden für die Fälle leichter Fahrlässigkeit möglich bleiben sollten. Jedenfalls hat der Gesetzgeber dieser Haftung einen deutlich geringeren Stellenwert eingeräumt als den in den besonderen Klauselverboten statuierten Haftungsvarianten; es stände im Widerspruch zu dieser gesetzgeberischen Wertung, wollte man dieser Haftung den Charakter einer Kardinalpflicht beimessen53. Gegen eine Qualifizierung der Haftung für leichte Fahrlässigkeit als Kardinalpflicht spricht auch der Vergleich mit dem vor der Schuldrechtsreform geltenden Kaufrecht: Nutzungsausfall und entgangener Gewinn wurden nach altem Recht nach nahezu einhelliger Auffassung als Mangelschaden eingeordnet, so dass ein Ersatz entsprechender Schäden nur unter den engen Voraussetzungen der §§ 463, 480 Abs. 2 BGB a. F. in Betracht kam54. Im Ergebnis bedeutete dies, dass der Verkäufer für solche Schäden nur bei einer Eigenschaftszusicherung oder bei einem arglistigen Verschweigen eines Fehlers, nicht aber bei einem fahrlässig verursachten oder nicht offenbarten Fehler haftete. Eine Fahrlässigkeitshaftung wurde nur für Mangelfolgeschäden als Konsequenz einer Verletzung von Integritätsinteressen angenommen; sie wurde über das Rechtsinstitut der pVV konstruiert. Dagegen wurde für Mangel- und Betriebsausfallschäden, also bei bloßer Verletzung des Äquivalenzinteresses, eine Haftung aus pVV abgelehnt55. Unter der Geltung des alten Kaufrechts haftete der Verkäufer also für mangelbedingte Betriebsausfallschäden bei Fahrlässigkeit überhaupt nicht, so dass ein Haftungsausschluss überhaupt nicht erforderlich war. Der Gläubiger hatte das Risiko von mangelbedingten Betriebsausfallschäden regelmäßig selbst zu tragen, es sei denn, der Verkäufer hatte für bestimmte Beschaffenheiten der Kaufsache eine Garantie übernommen. Vor diesem Hinter-

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52 BT-Drucks. 14/6040, S. 157; BT-Drucks. 14/6857, S. 16, 53, jeweils zu Nr. 48. 53 Vgl. Khan (Fn. 1); S. Roloff in Erman (Fn. 4), § 309 BGB Rz. 74. 54 BGHZ 77, 215 (218); U. Huber in Soergel, Bd. 3, 12. Aufl., Stand Frühjahr 1991, Anh. § 463 BGB Rz. 23, 28; Honsell in Staudinger, §§ 433–543 BGB (13. Bearb. 1995), § 463 BGB Rz. 48; Heinrichs in Palandt, 60. Aufl. 2001, § 276 BGB Rz. 110; a. A. nur Grunewald in Erman, Bd. 1, 10. Aufl. 2000, Vor § 459 BGB Rz. 34. 55 Ganz h. M., vgl. BGHZ 77, 215 (218); BGHZ 101, 337 (339); BGH, NJW-RR 1989, 559 (560); NJW-RR 1994, 601 (602); Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. 2/1, 13. Aufl. 1986, § 41 II, S. 70; Putzo in Palandt, 60. Aufl. 2001, Vorb. § 459 BGB Rz. 6; Wiedemann in Soergel, Bd. 2, 12. Aufl., Stand Juli 1990, Vor § 275 BGB Rz. 360, 419 f.

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grund erscheint es schwer vertretbar, die Haftung für solche Schäden selbst bei leichter Fahrlässigkeit als so gewichtig zu beurteilen, dass ihr der Rang einer Kardinalpflicht zugebilligt werden könnte56. Dies gilt umso mehr, als es keinerlei Hinweise dafür gibt, dass der Gesetzgeber eine so radikale Haftungsverschärfung im Blick hatte; die Materialien sprechen – wie dargelegt – im Gegenteil dafür, dass der Gesetzgeber die Option eines Haftungsausschlusses für die Fälle leichter Fahrlässigkeit offenhalten wollte57. Damit ist bereits das erste Tatbestandsmerkmal des § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB nicht erfüllt. b) Vertragszweckgefährdung Überprüfungsbedürftig ist auch die höchstrichterliche Annahme, dass ein Ausschluss der Haftung für leichte Fahrlässigkeit jedenfalls zu einem mittelbaren Ausschluss der Hauptpflicht führe und deshalb den Vertragszweck gefährde. Diese Annahme ist bisher in keiner Entscheidung näher begründet worden. Vielmehr wurde offensichtlich unterstellt, dass eine solche Haftung die einzige effektive Sanktion bilde, die eine ordnungsgemäße Vertragserfüllung gewährleisten könne58. In ähnlicher Weise geht auch die herrschende Lehre implizit davon aus, dass ein solcher Haftungsausschluss zu einer unsorgfältigen Erfüllung der Hauptpflicht verführen könne oder umgekehrt, dass die Haftung den wesentlichen Anreiz zur sorgfältigen Erfüllung der Hauptpflicht bilde59. Möglicherweise dokumentiert sich in diesen Überlegungen eine pauschalpopuläre Rezeption von Ansätzen, die die ökonomische Analyse insbesondere für das Deliktsrecht entwickelt hat60. Der Rückgriff auf allgemeine Anreizund Präventionsgesichtspunkte ist freilich zu undifferenziert, um eine Freizeichnungsfestigkeit der Haftung auch für einfache Fahrlässigkeit legitimieren zu können. Um belastbar begründete Ergebnisse erzielen zu können, muss das gesamte, sehr differenzierte System der Sanktionen von Pflichtverletzungen gemäß §§ 437, 634, 280 ff. BGB in den Blick genommen werden: So führen schon die Nacherfüllungspflicht des Schuldners und die Rücktrittsund Minderungsrechte des Gläubigers zu einem fühlbaren Erfüllungsdruck auf primärer Erfüllungsebene, der es fraglich erscheinen lässt, ob die ordnungsgemäße Vertragserfüllung tatsächlich nur von der Haftung für leichte Fahrlässigkeit abhängt61. Da die Haftung für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit ohnehin nicht ausgeschlossen werden kann, sieht sich der Schuldner auch insoweit einem erheblichen Sanktionsdruck ausgesetzt. Er ist für den Schuldner umso

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56 Tettinger, AcP 205 (2005), 1 (12 f., 17 f.); ders. in Abels/Lieb (Fn. 45), S. 145 (150 f.); ausführlich dazu nunmehr Khan (Fn. 1). 57 S. die Nachweise in Fn. 52. 58 Vgl. etwa BGHZ 71, 167 (173); BGH, NJW 1985, 914 (916); NJW 1993, 335 (336); BGHZ 149, 57 (62); 149, 89 (97 f.). 59 S. bereits die in Fn. 36 Genannten; vgl. auch Dammann in Wolf/Lindacher/Pfeiffer (5. Aufl. 2009), § 309 Nr. 7 BGB Rz. 96. 60 S. nur Wagner in MünchKomm.BGB, Bd. 5, 5. Aufl. 2009, Vor § 823 BGB Rz. 45 ff. 61 Speziell zur Nacherfüllungspflicht Tettinger, AcP 205 (2005), 1 (18 f.); ders. in Abels/ Lieb (Fn. 45), S. 145 (156 f.); ausführlich zu den Anreizwirkungen der hier geschilderten Sanktionen Khan (Fn. 1).

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gewichtiger, als sich die Haftung für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit nicht nur auf die ursprüngliche Schlechtleistung bezieht, sondern auch auf die spätere Nichterfüllung einer Nacherfüllungspflicht erstreckt wird. So macht sich der Verkäufer einer mangelhaften Sache nach herrschender Auffassung selbst dann schadensersatzpflichtig, wenn er die ursprüngliche Schlechtleistung nicht zu vertreten hat, wohl aber vorsätzlich oder grob fahrlässig seine Nacherfüllungspflicht nicht oder mangelhaft erfüllt62. Dieser doppelte Anknüpfungspunkt für das Verschulden birgt demnach selbst im Falle einer fehlenden Haftung für leichte Fahrlässigkeit ein erhebliches Sanktionspotential, das ebenfalls deutliche verhaltenssteuerende Wirkungen haben kann63. Nicht unterschätzt werden sollten schließlich auch die aus möglichen Vertragsstrafenvereinbarungen und außerrechtlichen Sanktionsmechanismen erwachsenden Anreizaspekte im unternehmerischen Verkehr64. Der Verkäufer bzw. Werkunternehmer ist schon im Hinblick auf seinen guten geschäftlichen Ruf und die Notwendigkeit der Kundenbindung einem Anreiz zur ordnungsgemäßen Vertragserfüllung ausgesetzt, der von rechtlichen Sanktionsmechanismen unabhängig ist65. Im Werkvertragsrecht besteht darüber hinaus gemäß §§ 634 Nr. 2, 637 BGB auch ein verschuldensunabhängiger Anspruch auf Ersatz der Selbstvornahmekosten, der als weiterer Sanktions- und Anreizaspekt in Rechnung zu stellen ist66. All diese Gesichtspunkte führen jeweils für sich genommen – und erst recht in einer Gesamtbetrachtung – bereits zu einem ausreichenden Vertragserfüllungsdruck für den Schuldner. Zur Vermeidung einer Vertragszweckgefährdung erscheint daher eine darüber hinaus gehende Haftung für leichte Fahrlässigkeit nicht erforderlich. Für diese Einschätzung spricht auch ein erneuter Blick auf die alte Rechtslage: Wie bereits dargelegt wurde, waren unter der Geltung des alten Kaufrechts nur fahrlässig verursachte, mangelbedingte Betriebsausfallschäden überhaupt nicht ersatzfähig. Dennoch zog niemand aus dieser Rechtslage die Konsequenz einer generellen Gefährdung der Vertragserfüllung. Lag aber schon nach alten Recht trotz fehlender Fahrlässigkeitshaftung keine generelle Vertragszweckgefährdung vor, so ist nicht erklärbar, warum dies heute allein wegen der geänderten Rechtslage der Fall sein soll67. c) Zwischenergebnis Die herrschende Auffassung wählt weder beim Tatbestandsmerkmal der Wesentlichkeit noch bei jenem der Vertragszweckgefährdung den richtigen Be-

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62 So die h. M., vgl. nur Dauner-Lieb in dies./Heidel/Ring (Fn. 5), § 280 BGB Rz. 37; Faust in Bamberger/Roth (Fn. 4), § 437 BGB Rz. 67; Reinicke/Tiedtke (Fn. 4), Rz. 542, jeweils m. w. N.; s. umfassend zu diesem Problemkreis Dauner-Lieb in FS Konzen (Fn. 5), S. 63 (73 ff.). 63 S. Khan (Fn. 1). 64 Khan (Fn. 1). 65 Vgl. bereits M. Wolf, NJW 1980, 2433 (2440); s. ferner Ackermann, Der Schutz des negativen Interesses, 2007, S. 221 ff.; Khan (Fn. 1). 66 Khan (Fn. 1). 67 Khan (Fn. 1).

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zugspunkt. Bei der Wesentlichkeitsprüfung ist nicht auf die Haupt-, sondern auf die Sekundärpflicht in Form des Schadensersatzanspruchs abzustellen, der aber nicht der Charakter einer Kardinalpflicht beigemessen werden kann, soweit es um die Haftung für leichte Fahrlässigkeit geht. Eine Vertragszweckgefährdung bei Ausschluss einer Haftung für leichte Fahrlässigkeit lässt sich auch nicht unter dem Gesichtspunkt der verhaltenssteuernden Wirkung der Fahrlässigkeitshaftung begründen, weil ausreichend andere Anreize für den Regelfall eine ordnungsgemäße Vertragserfüllung sicherstellen. Als Zwischenergebnis lässt sich damit festhalten, dass der Ausschluss der Haftung für leichte Fahrlässigkeit im Kauf- und Werkvertragsrecht nicht zu einer vertragszweckgefährdenden Einschränkung wesentlicher Rechte oder Pflichten führt. Ein Verstoß gegen § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB liegt demnach – unabhängig von der Art des Schadens oder des Vertragsgegenstandes – nicht vor; eine Haftung für Betriebsausfallschäden kann für die Fälle leichter Fahrlässigkeit ausgeschlossen werden. 3. Vereinbarkeit mit § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB Teile des Schrifttums sehen in einer Freizeichnung von der Haftung für leichte Fahrlässigkeit einen Verstoß gegen § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB unter dem Gesichtspunkt einer Abweichung von dem wesentlichen Grundgedanken des § 325 BGB, weil das Wahlrecht des Gläubigers zwischen Rücktritt und Schadensersatz unterlaufen werde68. Die Entstehungsgeschichte des § 325 BGB zeigt allerdings deutlich, dass mit der Norm lediglich ein im alten Schuldrecht bestehender Wertungswiderspruch aufgelöst werden sollte: Der Gläubiger konnte in zahlreichen Fällen, in denen er Schadensersatz verlangt hatte, im Ergebnis die Rechtsfolgen von Schadensersatz und Rücktritt kombinieren69, dagegen war ihm aber umgekehrt die Geltendmachung von Schadensersatz verwehrt, wenn er vorher vom Vertrag zurückgetreten war bzw. Wandelung verlangt hatte70. Der Reformgesetzgeber hat dieses Spannungsverhältnis aufgelöst, § 325 BGB gestattet nunmehr die gleichzeitige Geltendmachung beider Rechtsbehelfe71. Diese Möglichkeit bleibt dem Gläubiger aber auch dann unbenommen, wenn der Schuldner die Haftung für leichte Fahrlässigkeit ausschließt, weil der Gläubiger jedenfalls seine verbleibenden Schadensersatzansprüche weiterhin mit einem Rücktritt kombinieren kann, ohne dass es auf die zeitliche Reihenfolge der Geltendmachung dieser Rechtsbehelfe ankommt. Ein Verstoß gegen den Regelungskern des § 325 BGB ist deshalb entgegen der herrschenden Auffassung nicht ersichtlich72.

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68 Vgl. oben Fn. 41. 69 Zu den entsprechenden Fallkonstellationen vgl. etwa U. Huber in Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Bd. 1, 1981, S. 647 (713 f.); BTDrucks. 14/6040, S. 188; Otto in Staudinger, §§ 315–326 BGB (Neubearb. 2004), § 325 BGB Rz. 12. 70 Vgl. BGH, NJW 1982, 1274 (1280); NJW 1990, 2068 (2069); NJW 1995, 449 (450). 71 S. BT-Drucks. 14/6040, S. 188. 72 Ähnlich A. Fuchs in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 26), § 307 BGB Rz. 293; S. Roloff in Erman (Fn. 4), § 309 BGB Rz. 74; ausführlich zu diesem Gesichtspunkt Khan (Fn. 1).

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Es könnte allenfalls überlegt werden, ob man bei der Ermittlung eines wesentlichen Grundgedankens der gesetzlichen Regelung statt auf § 325 BGB nicht ganz allgemein auf die Gewährleistungsregeln der §§ 437, 634, 280 ff. BGB abstellen kann, mit denen ein Haftungsausschluss unvereinbar wäre. Das erscheint allerdings ebenfalls fragwürdig, weil eine Unvereinbarkeit mit den wesentlichen Grundgedanken des Gesetzes nur anzunehmen ist, wenn durch die Vertragsbestimmung das gesetzliche Schutzanliegen gänzlich unterlaufen würde und noch nicht einmal mehr in Grundsatz gewahrt wäre73. Davon kann bei einem Ausschluss der Haftung für leichte Fahrlässigkeit allerdings nicht gesprochen werden, solange dem Gläubiger die übrigen Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, weil diese das gesetzliche Schutzanliegen jedenfalls im Grundsatz ohne weiteres wahren, ohne dass es auf die Haftung für leichte Fahrlässigkeit ankommt74. Selbst wenn man aber lediglich auf die Schadensersatzhaftung abstellen und die übrigen Rechtsbehelfe außer Betracht lassen wollte, so müsste auf das zur Wesentlichkeitsprüfung i.R.d. § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB Gesagte verwiesen werden, weil der Ausschluss einer Pflicht, die nicht wesentlich ist, auch nur schwerlich als mit dem wesentlichen Grundgedanken des Gesetzes unvereinbar angesehen werden kann75. Insgesamt verstoßen solche Haftungsausschlussklauseln damit auch nicht gegen § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB. 4. Vereinbarkeit mit § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB Ein Ausschluss der Haftung für die Fälle leichter Fahrlässigkeit fällt auch nicht unter die Generalklausel des § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB, nach der eine AGBKlausel die Verwendergegenseite nicht unangemessen gegen Treu und Glauben benachteiligen darf. Bei der dafür erforderlichen Interessenabwägung können zunächst Gesichtspunkte der Versicherbarkeit der Schäden eine Rolle spielen, die eine Unangemessenheit der Klausel nahelegen würden, wenn sich der Klauselverwender besser gegen die Schäden versichern kann, von denen er sich freizeichnet76. Bei Betriebsausfallschäden spricht dieser Aspekt freilich genau im Gegenteil für eine Zulässigkeit einer Haftungsbegrenzung, weil diese zum einen von der Betriebshaftpflichtversicherung des Verkäufers bzw. Werkunternehmers grundsätzlich ausgenommen sind und zum anderen auch von der erweiterten Produkthaftpflichtversicherung nur sporadisch erfasst werden. Der Grund dafür liegt wahrscheinlich darin, dass die Höhe eines mangelbedingten Betriebsausfallschadens vom Schuldner nicht beherrschbar ist, son-

__________ 73 S. Coester in Staudinger (Fn. 25), § 307 BGB Rz. 254; A. Fuchs in Ulmer/Brandner/ Hensen (Fn. 26), § 307 BGB Rz. 229. 74 Khan (Fn. 1). 75 Khan (Fn. 1); zu den Überschneidungen zwischen § 307 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 1 BGB s. auch Grüneberg in Palandt (Fn. 4), § 307 BGB Rz. 31; Kieninger in MünchKomm. BGB. Bd. 2 (Fn. 4), § 307 BGB Rz. 65. 76 Vgl. etwa BGHZ 103, 316 (326 f.); Coester in Staudinger (Fn. 25), § 307 BGB Rz. 169; A. Fuchs in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 26), § 307 BGB Rz. 156 ff.; Grüneberg in Palandt (Fn. 4), § 307 BGB Rz. 15.

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dern wesentlich davon abhängt, was der Gläubiger mit dem Vertragsgegenstand anfängt77. Weiterhin können im Rahmen der Abwägung gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB auch Aspekte der Branchenübung und Preiskompensation eine Rolle spielen. Sie lassen freilich für die hier interessierenden Fallgestaltungen ebenfalls keine klaren Schlüsse zu: Eine für oder gegen solche Freizeichnungen sprechende Branchenübung ist hier ohnehin nicht ersichtlich78, während für eine preiskompensatorische Vertragsgestaltung nach herrschender Ansicht eine offene Tarifwahl mit unterschiedlichen Tarifvarianten notwendig wäre, die die Kosten des Risikos angemessen abbildet79. Eine solche angemessene Abbildung ist aber im Bereich von Betriebsausfallschäden schon deshalb nicht möglich, weil diese in der Regel weit über den Wert des Vertragsgegenstandes hinausgehen und das Schadensrisiko deshalb nicht im Preis ausgedrückt werden kann80. 5. Zu den Besonderheiten des B2B-Geschäfts Bei der Interessenabwägung sind schließlich auch gruppenspezifische Differenzierungen erforderlich81, die hier besondere Bedeutung gewinnen. Gerade im unternehmerischen Verkehr ist prinzipiell von einer weit geringeren AGBrechtlichen Schutzbedürftigkeit des Vertragspartners auszugehen als bei einer nicht-unternehmerischen Verwendergegenseite: Das ergibt sich nicht nur aus § 310 Abs. 1 BGB, sondern auch aus dem Umstand, dass unternehmerische Vertragspartner aufgrund der größeren Geschäftserfahrung und Professionalität viel besser in der Lage sind, Vertragswerke zu durchschauen und ihre Interessen durchzusetzen82. Insofern können bei der Angemessenheitsprüfung auch solche Klauseln, die gegenüber Verbrauchern möglicherweise unwirksam sind, im unternehmerischen Verkehr als zulässig anzusehen sein. Das erscheint gerade bei Haftungsausschlüssen zutreffend, weil diese individualvertraglich

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77 S. § 1.2 Abs. 3 der Allgemeinen Haftpflichtbedingungen und § 6.1 der Besonderen Bedingungen und Risikobeschreibungen für die Produkthaftpflichtversicherung von Industrie- und Handelsbetrieben (Produkthaftpflichtmodell), jeweils nach dem Muster des Gesamtverbands der deutschen Versicherungswirtschaft, einsehbar unter www.gdv.de, vgl. dazu im Einzelnen Khan (Fn. 1). 78 Zur allgemeinen Heranziehbarkeit dieses Aspekts vgl. A. Fuchs in Ulmer/Brandner/ Hensen (Fn. 26), § 307 BGB Rz. 141. 79 A. Fuchs in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 26), § 307 BGB Rz. 148; Stoffels (Fn. 36), Rz. 494; M. Wolf in ders./Lindacher/Pfeiffer (Fn. 59), § 307 BGB Rz. 227. 80 S. dazu bereits oben Fn. 1. 81 M. Wolf in ders./Lindacher/Pfeiffer (Fn. 59), § 307 BGB Rz. 183 ff.; A. Fuchs in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 26), § 307 BGB Rz. 371 ff.; Coester in Staudinger (Fn. 25), § 307 BGB Rz. 112. 82 Vgl. A. Fuchs in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 26), § 307 BGB Rz. 372, 375; M. Wolf in Wolf/Lindacher/Pfeiffer (Fn. 59), § 307 BGB Rz. 187; Pfeiffer in Pfeiffer, Handbuch der Handelsgeschäfte, 1999, § 9, Rz. 2 f.; K. P. Berger, NJW 2001, 2152 (2153); dens., ZIP 2006, 2149 (2151); dens./Kleine, BB 2007, 2137 (2138 f.); Pres, Maßgaben für die Inhaltskontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen im Handelsverkehr, 2005, S. 171 ff.; Lenkaitis/S. Löwisch, ZIP 2009, 441 (443); Müller/Griebeler/Pfeil, BB 2009, 2658 ff.; Kessel/Stomps, BB 2009, 2666 (2669 f.); Dauner-Lieb/Axer, ZIP 2010, 309 (313 f.); K. P. Berger, NJW 2010, 465 ff.; Khan (Fn. 1).

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nicht nur für leichte, sondern auch für grobe Fahrlässigkeit möglich sind und im unternehmerischen AGB-Verkehr aufgrund der dargelegten Aspekte eine gewisse Nähe zum Individualvertrag gegeben ist, die bei der Angemessenheitsprüfung berücksichtigt werden muss83. Eine solche Individualvertragstendenz ist umso mehr anzunehmen, als von der Rechtsprechung auch im unternehmerischen Verkehr äußerst strenge Anforderungen an individuell ausgehandelte Vertragsbedingungen angelegt werden, die dazu führen, dass solche Klauseln regelmäßig auch dann nicht als Individualvereinbarung gewertet werden können, wenn gründlich über sie verhandelt wurde und sie vom Vertragspartner akzeptiert worden sind84. Stellt man ergänzend in Rechnung, dass dem Gläubiger im Kauf- und Werkvertragsrecht ohnehin zahlreiche weitere Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, die sein Äquivalenz- und Integritätsinteresse hinreichend wahren, so kann insgesamt nicht davon ausgegangen werden, dass es eine unangemessene und gegen Treu und Glauben verstoßende Benachteiligung darstellt, wenn er lediglich in den Fällen leichter Fahrlässigkeit keinen Schadensersatzanspruch geltend machen kann. Deshalb scheitern solche Haftungsausschlussklauseln auch nicht an § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB.

V. Ergebnis und Ausblick Entgegen der herrschenden Auffassung kann in kauf- und werkvertraglichen Haftungsausschlüssen für leichte Fahrlässigkeit kein Verstoß gegen § 307 Abs. 2 Nr. 2 oder die übrigen Tatbestandsvarianten des § 307 BGB erblickt werden. Vor dem Hintergrund der Kardinalpflichtenrechtsprechung und der h. M. im Schrifttum muss die Praxis freilich vorläufig damit rechnen, dass ein gerichtsfester Ausschluss der Haftung für leichte Fahrlässigkeit nicht möglich ist. Dies hätte zur Konsequenz, dass mangelbedingte Betriebsausfallschäden schon ohne weitere Voraussetzungen nach § 280 Abs. 1 BGB in voller Höhe ersatzfähig wären und der Schuldner entsprechende Risiken nicht begrenzen könnte. Schon aus den skizzierten dogmatischen Gründen ist eine Neuorientierung der Rechtsprechung dringend geboten. Die Problematik der Beschränkbarkeit der Haftung für mangelbedingte Betriebsausfallschäden muss jedoch auch im größeren Kontext der Diskussion über die zukünftige Rolle der Privatautonomie neu beleuchtet werden. In Wirtschaftskreisen ist nach wie vor die Vorstellung weit verbreitet, dass die auf europäischer und nationaler Ebene zu verzeichnende Tendenz zur Einschränkung der vertraglichen Gestaltungsfreiheit fast ausschließlich das B2CGeschäft betrifft und auch die Schuldrechtsreform für das B2B-Geschäft keine Veränderungen bewirkt hat. Die vorangegangenen Überlegungen haben gezeigt, dass dieser Optimismus nicht gerechtfertigt ist. Dies liegt einerseits daran, dass der BGH die verschiedenen Stellschrauben der §§ 305 ff. BGB immer fester zu Lasten der Privatautonomie anzieht, und zwar gleichermaßen für

__________ 83 Vgl. Tettinger, AcP 205 (2005), 1 (31 f.); Kessel/Stomps, BB 2009, 2666 (2668 ff.); Khan (Fn. 1). 84 S. bereits oben Fn. 24.

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B2C-Verträge und B2B-Verträge. Gleichzeitig werden im Schrifttum für das alte Schuldrecht entwickelte Lösungskonzepte ohne Problembewusstsein und ohne ausdrückliches Mandat des Gesetzgebers auf die völlig veränderte gesetzliche Ausgangslage übertragen. Diese Tendenz ist angemessen und gerecht, so lautet der Standpunkt des Jubilars; die richtige rechtspolitische Zielstellung sei für die Zukunft ohnehin die Beseitigung der Vertragsfreiheit innerhalb der Verteilerkette vom Hersteller bis zum Verbraucher85. Die Unternehmen brauchen eine kalkulierbare Ordnung, die Spielräume für Privatautonomie lässt; die derzeitige Handhabung der §§ 305 ff. BGB ist für den B2B-Bereich weit entfernt von den Realitäten des kaufmännischen Geschäftsverkehrs und seinen spezifischen Bedürfnissen, so lautet die Position der Wirtschaft86. Als Ausweg wird teilweise bereits die „Flucht ins Schweizer Recht“ in den Raum gestellt87. Noch bedenklicher erscheint, dass möglicherweise gerade vor dem Hintergrund der geschilderten Gesamtproblematik Teile der Wirtschaft auf europäischer Ebene eine konsequente Ausdifferenzierung von Sonderprivatrechten für den B2C-Bereich und den B2B-Bereich betreiben88. In der Wissenschaft neu gestellt werden muss die Frage, ob die (vor allem systematisch motivierte) Anordnung einer Fahrlässigkeitshaftung für mangelbedingte Vermögensschäden sich wertungsmäßig bewährt hat. Die Problematik der Betriebsausfallschäden zeigt, dass erhebliche Zweifel angebracht sind. Die Höhe von Schäden, die Konsequenz einer bloßen Verletzung der Äquivalenzinteressen des Gläubigers sind, hängt ganz wesentlich von der Verwendung des Vertragsgegenstandes ab, über die allein der Gläubiger entscheidet. Möglicherweise lag eine hohe Weisheit in der alten Rechtslage, eine Ersatzfähigkeit entsprechender Schäden von einer Garantie oder von Arglist des Schuldners abhängig zu machen89.

__________ 85 von Westphalen, ZGS 2006, 81. 86 Brachert/Dietzel, ZGS 2005, 441; Lischek/Mahnken, ZIP 2006, 158; vgl. dazu jüngst Dauner-Lieb/Axer, ZIP 2010, 309 ff. 87 Brachert/Dietzel, ZGS 2005, 441. 88 Zur Problematik der Ausbildung von entsprechenden Sonderprivatrechten s. bereits Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, 1983; s. neuerdings auch Reymann, Das Sonderprivatrecht der Handelsund Verbraucherverträge, 2009. 89 Entsprechend problematisch ist die zu § 284 BGB n. F. entwickelte Auffassung, es sei unschädlich, dass Aufwendungen bei objektiver Betrachtungsweise überhöht oder überflüssig gewesen seien, der Gläubiger sei in der Entscheidung in eigenen Angelegenheiten frei, so Canaris, JZ 2001, 499 (517); kritisch Dauner-Lieb in dies./Heidel/ Lepa/Ring, Das Neue Schuldrecht, 2002, § 2, Rz. 56.

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Handelsbräuche und Allgemeine Geschäftsbedingungen Inhaltsübersicht I. Die Berücksichtigung von Handelsbräuchen gemäß § 310 Abs. 1 Satz 1 BGB II. Die Wirkungsweisen von Handelsbräuchen unter AGB-Gesichtspunkten 1. Einbeziehung von AGB kraft Handelsbrauchs

2. Inhaltliche Geltung von AGB kraft Handelsbrauchs III. Inhaltskontrolle nach dem AGB-Recht 1. Verweisung auf AGB kraft Handelsbrauchs 2. AGB-Inhalte kraft Handelsbrauchs

Handelsbräuche, d. h. die im Handelsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche, werden auch bezeichnet als die „Verkehrssitte des Handels“1. Während jedoch für Willenserklärungen und Rechtsgeschäfte von bzw. zwischen Privaten Verkehrssitten lediglich als Auslegungshilfe herangezogen werden können, sind Handelsbräuche mehr als bloße Usancen, sie wirken normativ und sind praktisch von einer Norm des dispositiven Handelsgewohnheitsrechts nicht zu unterscheiden. Handelsbräuche sind allerdings – im Gegensatz zum Handelsgewohnheitsrecht – nicht Rechtsquelle im Sinne einer gesetzlichen Geltung, sie erzeugen entweder durch vertragliche Bindung oder über § 346 HGB Rechtswirkungen. § 346 HGB ergänzt nicht nur für die Auslegung von Willenserklärungen und Verträgen die §§ 133, 157 BGB, sondern hat darüber hinaus für die Rechtsfolgen von Willenserklärungen und anderen Handlungen bzw. Unterlassungen eine normative Funktion2.

I. Die Berücksichtigung von Handelsbräuchen gemäß § 310 Abs. 1 Satz 1 BGB § 310 Abs. 1 Satz 2 BGB knüpft an § 346 HGB an und regelt für den Bereich Allgemeiner Geschäftsbedingungen im unternehmensbezogenen Geschäftsverkehr, dass auf die im Handelsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche angemessen Rücksicht zu nehmen ist. Teilweise wird dieser Vorschrift ein relevanter Regelungsgehalt abgesprochen mit der Begründung, es werde praktisch nur das wiederholt, was § 346 HGB ohnehin vorschreibe und es sei letztlich eine Selbstverständlichkeit, bei der Inhaltskontrolle von AGBKlauseln die im Handelsverkehr zwischen Kaufleuten geltenden Gewohn-

__________ 1 BGH, NJW 1993, 1798; Karsten Schmidt, HandelsR, 5. Aufl., § 1 III 3a. 2 BGH, BB 1973, 636; Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, 2. Aufl., § 346 HGB Rz. 2.

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heiten und Gebräuche angemessen zu berücksichtigen3. Dabei wird allerdings nicht hinreichend berücksichtigt, dass gerade § 310 Abs. 1 Satz 2 BGB den Weg ebnet, die Handelsüblichkeit als eine Regelung bei der Inhaltskontrolle und auch bei der Interessenabwägung im Rahmen des § 307 BGB zu berücksichtigen4. Handelsbräuche gelten nach § 346 HGB grundsätzlich nur im Rechtsverkehr „unter Kaufleuten“. Sie erfordern – eine tatsächliche Übung, die sich nicht nur auf einzelne Parteien, sondern auf bestimmte (u. U. auch lokal oder regional begrenzte) Verkehrskreise erstreckt, – eine gleichmäßige Übung innerhalb der jeweiligen Verkehrskreise über einen ausreichend bemessenen Zeitraum, der sich abhängig von der Handelssituation nach den jeweiligen konkreten Gegebenheiten bestimmt, – die Zustimmung der beteiligten Verkehrskreise, die die jeweilige Übung von sich aus als maßgeblich im Sinne einer von ihnen anerkannten Verkehrserwartung billigen5. Die Rechtsprechung hat mit unterschiedlichen Begründungen auch Nichtkaufleute in Handelsbräuche einbezogen6. Voraussetzung ist allerdings, dass sich dann in dem jeweiligen Unternehmensbereich ein gleicher Brauch entwickelt und zu einer Verkehrssitte im Sinne eines Handelsbrauchs verfestigt hat. Die Einführung des Unternehmerbegriffs anstelle des ursprünglichen Kaufmannsbegriffs im damaligen AGBG durch das Handelsrechtsreformgesetz vom 22.6.19987 wird mittelfristig dazu führen, vor allem im Rahmen der AGBKontrolle bei der Verwendung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen gegenüber einem nichtkaufmännischen Unternehmer die „Handelsüblichkeit“ von Klauseln in stärkerem Maße als bisher zu berücksichtigen.

II. Die Wirkungsweisen von Handelsbräuchen unter AGB-Gesichtspunkten Im Rahmen des § 310 Abs. 1 Satz 2 BGB sind die unterschiedlichen Wirkungsweisen von Handelsbräuchen zu beachten, je nachdem, ob sie lediglich für die Einbeziehung von AGB oder einzelner Klauseln in Verträge bestehen oder ob sie sich auf bestimmte (ergänzende) Vertragsinhalte erstrecken.

__________ 3 Vgl. z. B. Graf von Westphalen in Löwe/Graf von Westphalen/Trinkner, 2. Aufl., § 24 AGBG Rz. 19 m. w. N. 4 Vgl. Basedow, ZHR 150 (1986), 490; Wolf in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 5. Aufl., § 310 Abs. 1 BGB Rz. 25. 5 Vgl. im Einzelnen Hopt in Baumbach/Hopt, HGB, 33. Aufl., § 346 HGB Rz. 12; Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, 2. Aufl., § 346 HGB Rz. 12 f. 6 Vgl. z. B. OLG Koblenz, BB 1988, 1138; ferner Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, 2. Aufl., § 346 HGB Rz. 12. 7 BGBl. I 1998, 1474 Art. 2.

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1. Einbeziehung von AGB kraft Handelsbrauchs AGB gelten nicht bereits dann kraft Handelsbrauchs, wenn sie branchenüblich sind. Branchenübliche AGB können allerdings ohne ausdrückliche Bezugnahme Vertragsbestandteil werden, sofern ein (konkludenter) Einbeziehungswille der Vertragsparteien festgestellt werden kann8. Ein Indiz für einen konkludenten Einbeziehungswillen ergibt sich allerdings bereits aus der starken Verkehrsgeltung einzelner (nicht sämtlicher) branchenüblicher Allgemeiner Geschäftsbedingungen. Im Gegensatz dazu ist nicht einmal ein konkludenter Einbeziehungswille erforderlich in den Fällen, in denen Allgemeine Geschäftsbedingungen kraft Handelsbrauchs „gelten“. Sie werden dann gemäß § 346 HGB per se Vertragsbestandteil. Die Unterschiede zwischen der Geltung Allgemeiner Geschäftsbedingungen aufgrund konkludenter Einbeziehung und kraft Handelsbrauchs sind also im Ergebnis marginal. In beiden Fällen muss der Kunde bei Vertragsschluss Widerspruch erheben, sofern er mit der Einbeziehung der AGB in den Vertrag nicht einverstanden ist. Eine durch starke Verkehrsgeltung gerechtfertigte konkludente Einbeziehung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen wird anerkannt für – – – – – –

die ADSp.9 die AGB der Banken10 die AGB kommunaler Hafenbetriebe11 die Flugplatzbenutzungsordnungen von Flughafenunternehmen12 für Konnossementsbedingungen13 Lager- und Hafenbetriebsbedingungen14.

Bei anderen ebenfalls durchaus branchenüblichen Bedingungen verneint die Rechtsprechung eine die konkludente Einbeziehung in Verträge rechtfertigende Verkehrssitte, etwa – bei (branchenüblichen) Verkaufsbedingungen15 – für Lieferbedingungen im Mineralölhandel16 – bei den ebenfalls branchenüblichen AGNB17.

__________ 8 BGH, NJW-RR 1992, 626; Pfeiffer in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 5. Aufl., § 305 BGB Rz. 127; Ulmer in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 10. Aufl., § 305 BGB Rz. 173 m. w. N. zum derzeitigen Meinungsstand. 9 Vgl. z. B. BGH, NJW-RR 1996, 1313; BGH, NJW 1985, 2411, 2412; einschränkend: BGH, NJW 2003, 1397, 1398 (im Hinblick auf § 449 Abs. 2 Nr. 1 HGB); a. A. z. B. Hensen in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 10. Aufl., Anh. § 310 BGB Rz. 387. 10 BGH, NJW 1971, 2126, 2127. 11 BGH, LM AGB Nr. 21a. 12 OLG Karlsruhe, VersR 1971, 158, 160. 13 LG Hamburg, VersR 1982, 140, 141; Rabe, TranspR 1985, 87. 14 Str. vgl. einerseits Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, 2. Aufl., § 346 HGB Rz. 51; andererseits OLG Hamburg, EWiR 1997, 895. 15 BGH, NJW-RR 1992, 626 f. 16 BGH, NJW 1978, 2243. 17 Vgl. OLG Hamm, VersR 1994, 134: „Reine Geschäftsbedingungen“.

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Die Geltung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen kraft Handelsbrauchs beschränkt sich auf Ausnahmefälle. Anerkannt wird dies für – die Allgemeinen Deutschen Seeversicherungsbedingungen (ADS) von 191918 – die Bedingungen der Reederei in der Rheinschifffahrt19 – die Tegernseer Gebräuche im Holzhandel und für die Vermittlung von Holzgeschäften20. Für alle weiteren großen und weit verbreiteten standardisierten Geschäftsbedingungen wird eine Geltung kraft Handelsbrauchs verneint. Die von der Internationalen Handelskammer in Paris aufgestellten und primär für den internationalen Handelsverkehr bestimmten Incoterms sind teilweise aus Handelsbräuchen hervorgegangen und haben sich teilweise zu solchen entwickelt21. Die Incoterms insgesamt gelten jedoch nicht kraft Handelsbrauchs, es handelt sich vielmehr um empfohlene Geschäftsbedingungen, die nur dann Anwendung finden, wenn sie in den jeweiligen Vertrag einbezogen sind22. In ihrer Gesamtheit als AGB zu qualifizieren sind darüber hinaus die ebenfalls von der Internationalen Handelskammer veröffentlichten einheitlichen Richtlinien und Gebräuche für Dokumenten-Akkreditive (ERA) einschließlich Anhang für die Vorlage elektronischer Dokumente (el.ERA) sowie die einheitlichen Richtlinien für Inkassi (ERI). Die ERA und die el.ERA sind in ihrer Gesamtheit weder Gewohnheitsrecht noch gelten sie insgesamt kraft Handelsbrauchs23. Die ERI gelten ebenfalls in ihrer Gesamtheit nicht kraft Handelsbrauchs, sondern als AGB aufgrund vertraglicher Einbeziehung. Die in der Praxis wichtigste Art und Weise, wie AGB aufgrund Handelsbrauchs in Verträge einbezogen werden können, ist die Bindung des Vertragspartners an ein unwidersprochen gebliebenes kaufmännisches Bestätigungsschreiben. Während bei der Auftragsbestätigung die Erklärung, man akzeptiere den erteilten Auftrag nur unter Einbeziehung eigener AGB gemäß § 150 BGB als neues Angebot gilt, das der Annahme durch den anderen Vertragspartner bedarf, liegen die Dinge beim kaufmännischen Bestätigungsschreiben anders: Wird dort auf AGB verwiesen, können diese Vertragsbestandteil werden, auch wenn sie nicht Gegenstand der Vorverhandlungen waren24. Die im Bestätigungsschreiben zum Ausdruck gebrachte Erklärung, man betrachte den Vertrag als (stillschweigend) auf der Basis bestimmter Allgemeiner Bedingungen geschlossen, reicht also grundsätzlich aus. Aufgrund eines inzwischen zum Gewohnheits-

__________ 18 Palandt/Grüneberg, 69. Aufl., § 305 BGB Rz. 58; Ulmer in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 10. Aufl., § 305 BGB Rz. 181. 19 Staudinger/Schlosser, 2006, § 305 BGB Rz. 188. 20 BGH, NJW-RR 1987, 94, 95; BGH, WM 1983, 684; OLG Koblenz, BB 1988, 1138. 21 Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, 2. Aufl., § 346 HGB Rz. 112. 22 Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, 2. Aufl., § 346 HGB Rz. 111. 23 Str.; vgl. im Einzelnen Graf von Westphalen, WM 1980, 178 f.; ders., RIW 1994, 453; BGH, WM 1984, 1443; OLG Frankfurt, WM 1997, 610. 24 BGH, NJW 1982, 1751; BGH, NJW 1978, 2244.

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Handelsbräuche und Allgemeine Geschäftsbedingungen

recht verfestigten Handelsbrauchs gilt – im Gegensatz zur modifizierten Auftragsbestätigung – Schweigen auf das Bestätigungsschreiben als Zustimmung, d. h. der Vertrag erhält den dort vorgegebenen Inhalt, sofern dieser sich nicht so weit vom tatsächlichen Verhandlungsergebnis entfernt, dass der Bestätigende vernünftigerweise nicht mit dem Einverständnis des anderen Vertragspartners rechnen kann25. Die Regeln über das kaufmännische Bestätigungsschreiben galten ursprünglich nur als Handelsbrauch zwischen Kaufleuten. Sie sind heute allerdings entsprechend auf andere nichtkaufmännische Unternehmer anwendbar, sofern sie in größerem Umfang am Geschäftsleben teilnehmen und von ihnen deshalb erwartet werden kann, dass sie einem Bestätigungsschreiben wenn nötig widersprechen26. 2. Inhaltliche Geltung von AGB kraft Handelsbrauchs Allgemeine Geschäftsbedingungen oder einzelne Klauseln können Handelsbräuche wiedergeben oder sich zu solchen entwickeln. Dies setzt voraus, dass die jeweilige Regelung auch ohne besondere Vereinbarung oder Empfehlung von den jeweils maßgeblichen Verkehrskreisen freiwillig befolgt würde27. Als inzwischen handelsgebräuchlich anerkannt werden für einzelne Branchen einfache und verlängerte Eigentumsvorbehalte28. Schiedsklauseln können bereits kraft Handelsbrauchs gelten29. Verschiedene Trade Terms geben Handelsbräuche wieder30. Einzelne Klauseln der Incoterms gelten als Handelsbrauch31. Ein Großteil der ERA-Regeln enthält bestehende Handelsbräuche32, Gleiches gilt für die ERI-Richtlinien33.

__________ 25 Vgl. dazu im Einzelnen Hopt in Baumbach/Hopt, 33. Aufl., § 346 HGB Rz. 27 m. w. N.; zu den Grenzen einer nachträglichen Einbeziehung von AGB durch ein kaufmännisches Bestätigungsschreiben: Pfeiffer in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGBRecht, 5. Aufl., § 305 BGB Rz. 135 m. w. N. 26 Vgl. z. B. BGH, NJW 1987, 1940 (Insolvenzverwalter); OLG Bamberg, BB 1973, 1372 (Rechtsanwalt); BGHZ 40, 43 (Grundstücksmakler); BGH, WM 1973, 1376 (Architekt). 27 BGH, BB 1980, 1552; Basedow, ZHR 150 (1986), 469, 486. 28 LG Marburg, NJW-RR 1993, 1505 für den Bereich der Textilindustrie; u. U. auch für den Vertrieb von Windkraftanlagen, vgl. insoweit BGH, NJW-RR 2004, 555; verneinend für den Lebensmittelsektor: OLG Hamm, NJW-RR 1993, 1445; für die Maklerbranche: OLG Dresden, NJW-RR 1999, 846; zur Geltung des einfachen Eigentumsvorbehalts kraft Handelsbrauchs im Weinhandel und zwischen Verleger und Buchhändler s. Pfeiffer in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 5. Aufl., § 305 BGB Rz. 147 m. w. N. 29 BGH, NJW 1993, 1798 für eine Schiedsvereinbarung im internationalen Handel mit Fellen; zur Schiedsklausel im Rahmen eines kaufmännischen Bestätigungsschreibens vgl. Graf von Westphalen, in Graf von Westphalen, Vertragsrecht und AGB Klauselwerke, 2009, Vertragsrecht, Schiedsgerichtsklauseln Rz. 4. 30 Vgl. Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, 2. Aufl., § 346 HGB Rz. 110. 31 Vgl. z. B. für die c.i.f.-Klausel OLG Düsseldorf, IPRax 1982, 101, 102; ferner Saenger in Bamberger/Roth, BGB, 2. Aufl., Art. 9 CISG Rz. 2. 32 Nielsen in MünchKomm.HGB, 2. Aufl., ZahlungsV Rz. H 41. 33 Vgl. OLG Hamburg, MDR 1970, 335; Wälzholz, WM 1994, 1457, 1458.

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Von der Handelsbrauchsqualität einzelner AGB-Klauseln zu unterscheiden ist die Einbeziehung durchformulierter Klauselwerke. Soweit kraft Handelsbrauchs auf branchenübliche AGB zur Vertragsergänzung verwiesen wird, hat der „Verweisungsbrauch“ selbst keinen materiellen Regelungsgehalt, sondern lediglich die Funktion, bestimmte geschäftliche Inhalte mit den dafür geschaffenen Vertragsbedingungen zu verbinden. Hierin erschöpft sich die Verweisung, ob darüber hinaus die AGB insgesamt oder einzelne Klauseln handelsgebräuchliche Regelungen inhaltlich wiedergeben, ist für die Frage der Einbeziehung irrelevant34. Dass ganze Klauselwerke inhaltlich zum Handelsbrauch werden oder gelten, wird auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben und ist bisher auch in der Rechtsprechung nur vereinzelt anerkannt worden und zwar für die bereits erwähnten Allgemeinen Deutschen Seeversicherungsbedingungen, die Bedingungen der Reederei in der Rheinschifffahrt und die Tegernseer Gebräuche im Holzhandel und für die Vermittlung von Holzgeschäften35. Soweit AGB inhaltlich kraft Handelsbrauchs gelten, werden sie gemäß § 346 HGB per se Vertragsbestandteil. Dies gilt unabhängig davon, ob die jeweiligen Handelsklauseln oder die inhaltlich zum Handelsbrauch gewordenen Bedingungen bzw. durchformulierten Klauselwerke in dem jeweiligen Vertrag erwähnt bzw. in diesen „einbezogen“ werden, sofern sie mit den Grundsätzen von Treu und Glauben (§ 242 BGB) im Einklang stehen und nicht gegen zwingendes Recht verstoßen (ein gesetzes-, sitten- oder treuwidriger „Handelsbrauch“ ist als „Handelsmissbrauch“ unbeachtlich)36.

III. Inhaltskontrolle nach dem AGB-Recht Ob und inwieweit aufgrund Handelsüblichkeit in einen Vertrag einbezogene AGB-Klauseln einer Inhaltskontrolle gemäß § 307 Abs. 1 BGB unterliegen, hängt von der jeweiligen Wirkungsweise des Handelsbrauchs ab. 1. Verweisung auf AGB kraft Handelsbrauchs Dient der Handelsbrauch lediglich als Bindeglied zwischen Vertrag und vertragsüblichen Bedingungen, erschöpft er sich also in der bloßen Verweisung auf derartige Klauseln, werden dadurch im Grunde genommen lediglich die auch im unternehmerischen Geschäftsverkehr notwendigen rechtsgeschäftlichen Voraussetzungen für die Einbeziehung von AGB in Verträge ersetzt. An die Stelle des rechtsgeschäftlichen Einbeziehungswillens tritt die Handelsüblichkeit, das Einverständnis des anderen Vertragspartners wird durch dessen fehlenden Widerspruch dokumentiert. „Verwender“ der kraft Handelsbrauchs

__________ 34 Basedow, ZHR 150 (1986), 469, 487. 35 S. oben Fn. 18 bis 20. 36 BGH, NJW 1974, 852, 855; Heymann/Horn, 2. Aufl., § 346 HGB Rz. 25; Hopt in Baumbach/Hopt, 33. Aufl., § 346 HGB Rz. 10 f.

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Handelsbräuche und Allgemeine Geschäftsbedingungen

geltenden AGB ist im Zweifel derjenige, dem sie zuzurechnen sind. Die aufgrund handelsgebräuchlicher Verweisung geltenden (branchenüblichen) Bedingungen unterliegen, soweit sie nicht selbst zu Handelsbräuchen geworden sind oder solche wiedergeben, der Inhaltskontrolle in gleicher Weise wie andere rechtsgeschäftlich einbezogene AGB im unternehmerischen Geschäftsverkehr. 2. AGB-Inhalte kraft Handelsbrauchs Soweit Allgemeine Geschäftsbedingungen oder AGB-Klauseln Handelsbräuche wiedergeben oder zu solchen werden, gilt Folgendes: – Zum Handelsbrauch erstarken können AGB nur unter Beachtung zwingender Vorschriften, zu denen auch § 307 BGB gehört. Klauseln, die gemäß § 307 BGB unwirksam sind, könnten auch dann, wenn sie einer branchenüblichen Praxis entsprechen sollten, nicht die Qualität eines Handelsbrauchs erlangen37. – Soweit Allgemeine Geschäftsbedingungen oder einzelne Klauseln inhaltlich als Handelsbrauch gelten, scheidet § 307 Abs. 1 BGB als Prüfungsmaßstab aus38. Die Gegenansicht39 lässt außer Acht, dass die Vertragsbedingungen, die inhaltlich als Handelsbrauch zu qualifizieren sind, auch dann gelten würden, wenn sie im Vertrag nicht erwähnt, also letztlich nicht „einbezogen“ wären. Deshalb verfängt auch nicht der Hinweis auf den zwingenden Charakter des § 307 BGB40, denn es handelt sich der Sache nach um Handelsbräuche, die gemäß § 346 HGB Vertragsbestandteil werden unabhängig davon, ob sie als Allgemeine Geschäftsbedingungen abgefasst sind. Die Situation ist insoweit vergleichbar mit vorformulierten Vertragsbestimmungen, die lediglich den Gesetzeswortlaut wiederholen oder damit inhaltlich vollkommen übereinstimmen. Derartige deklaratorische AGB-Klauseln sind der Inhaltskontrolle entzogen, die Überprüfung beschränkt sich auf die Transparenzkontrolle gemäß § 307 Abs. 3 Satz 2 BGB. Für die AGB-Kontrolle von Handelsbräuchen kann nichts anderes gelten.

__________ 37 Vgl. BGH, NJW 1974, 852, 855 zum Fall einer kartellrechtswidrigen Handelspraxis; ferner Ulmer in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 10. Aufl., § 305 BGB Rz. 84; insoweit auch zutreffend Basedow in MünchKomm.BGB, 5. Aufl., § 310 BGB Rz. 10. 38 BGH, NJW-RR 1987, 94, 95 zu den Tegernseer Gebräuchen für die Vermittlung von Holzgeschäften; Hopt in Baumbach/Hopt, 33. Aufl., § 346 HGB Rz. 11; Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, 2. Aufl., § 346 HGB Rz. 52; Staudinger/Schlosser, BGB, 2006, § 310 BGB Rz. 13; Pfeiffer in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 10. Aufl., § 305 BGB Rz. 147; ebenso: Ulmer in Ulmer/Brandner/Hensen, AGBRecht, 10. Aufl., § 305 BGB Rz. 84. 39 Graf von Westphalen in Löwe/Graf von Westphalen/Trinkner, 2. Aufl., § 24 AGBG Rz. 20; Basedow, ZHR 150 (1986), 469, 489 f.; ders. in MünchKomm.BGB, 5. Aufl., § 310 BGB Rz. 10. 40 So aber Graf von Westphalen (Fn. 39) im Hinblick auf § 9 AGBG und Basedow in MünchKomm.BGB (Fn. 39).

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Davon zu unterscheiden ist die Auslegung Allgemeiner Vertragsbedingungen im unternehmensbezogenen Geschäftsverkehr unter Berücksichtigung bestehender Handelsbräuche41. Es geht dabei um AGB-Klauseln, die entweder aufgrund rechtsgeschäftlicher Einbeziehungsvereinbarung oder kraft „Verweisungsbrauchs“ Vertragsbestandteil geworden sind, ohne inhaltlich selbst einen Handelsbrauch wiederzugeben oder als solcher zu gelten. Derartige Klauseln unterliegen der Inhaltskontrolle gemäß § 307 BGB, bei der jedoch gemäß § 310 Abs. 1 Satz 2 BGB abweichend von § 305c Abs. 2 BGB auf bestehende Handelsbräuche angemessen Rücksicht zu nehmen ist.

__________ 41 Vgl. im Einzelnen Pfeiffer in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 5. Aufl., § 305 BGB Rz. 149.

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Schiedsvereinbarungen in Verbraucherverträgen Inhaltsübersicht Einführung I. Begriffsbestimmung 1. Verbraucher 2. Schiedsvereinbarung II. Schiedsvereinbarungen in den USA 1. Rechtsgrundlagen für Schiedsvereinbarungen 2. Verbreitung 3. Verbraucherschutz im US-amerikanischen Schiedsrecht III. Schiedsklauseln in anderen Ungleichgewichtslagen 1. Unternehmerische Tätigkeit a) Auslandsinvestitionen b) Kaufmännische Schiedsgerichte 2. Andere Bereiche a) Sportgerichtsbarkeit b) Spezialregelungen IV. Grundsätze des deutschen Schiedsverfahrensrechts

V. Schiedsvereinbarungen in Verbraucherverträgen 1. Rechtsfolge 2. Anwendbarkeit deutschen Rechts 3. Allgemeine Unwirksamkeitsgründe 4. Schiedsvereinbarung als AGB a) Schiedsvereinbarung als überraschende Klausel – § 305c BGB b) Eröffnung der Inhaltskontrolle – § 307 Abs. 3 BGB c) Mit Grundgedanke der disponierten Regelung nicht vereinbar – § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB aa) Von welchen Regelungen wird abgewichen? bb) Schiedsvereinbarung an sich als wesentliche Abweichung d) Sonstige Inhaltskontrolle – §§ 309, 308, 307 Abs. 1 BGB VI. Zusammenfassung

Einführung In die US-amerikanische Verbraucherschiedsgerichtsbarkeit kommt Bewegung. Nach einem langen Zeitraum, in dem Unternehmen verschiedener Branchen Schiedsverfahren als üblichen Weg für die Streitbeilegung mit Verbrauchern ansahen und die Gerichte schiedsfreundlich zu entscheiden pflegten, verläuft die jüngste Entwicklung nun in die entgegengesetzte Richtung. Zwei Änderungsvorschläge zum Federal Arbitration Act (FAA) sehen vor, dass Schiedsvereinbarungen in Verbraucher-, Arbeitnehmer und Franchise-Verträgen generell ungültig sein sollen1. Der FAA sei für Streitigkeiten zwischen Unternehmen mit annähernd gleichen Rechtskenntnissen und annähernd gleicher Ver-

__________ 1 Arbitration Fairness Act 2009, House Bill 1020, abrufbar unter http://govtrack.us/ congress/billtext.xpd?bill=h111-1020, Section 4; Arbitration Fairness Act 2009, Senate Bill 931, abrufbar unter http://www.govtrack.us/congress/billtext.xpd?bill=s111-931 Section 3.

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handlungsmacht konzipiert worden2. Entsprechend wurden diese Vorschläge schon als anti-arbitration bills bezeichnet3. Zusätzlich hat die Praxis der USamerikanischen Großbanken, standardisierte Schiedsklauseln zu verwenden, aus kartellrechtlichen Gründen die Aufmerksamkeit der Gerichte auf sich gezogen4. Diese Entwicklungen in Legislative und Judikative zeigen offenbar schon jetzt Wirkung. Am 14.7.2009 leitete Minnesota Attorney General Lori Swanson ein Verfahren gegen eine der größten US-amerikanischen Schiedsinstitutionen ein, das National Arbitration Forum (NAF). Der Vorwurf lautete Bevorzugung der Gläubiger in Schiedsverfahren. Die NAF, führend bei Streitigkeiten im Zusammenhang mit Kreditkarten und der Beitreibung von Forderungen gegen Verbraucher, gab kurz darauf bekannt, keine weiteren Schiedsverfahren mehr annehmen zu wollen, die beispielsweise von Banken oder Mobilfunkunternehmen initiiert wurden5. Mit der American Arbitration Association (AAA) entschied sich eine weitere bedeutende Schiedsinstitution zu einer ähnlichen Maßnahme und setzte die Teilnahme an Beitreibungsverfahren aus, um die weitere Entwicklung abzuwarten6. Die Aufregung blieb nicht auf Schiedsinstitutionen beschränkt. Am 13.8.2009 gab die Bank of America bekannt, die bislang obligatorischen Schiedsklauseln aus Kreditkarten- und Darlehensverträgen zu streichen7, JP Morgan Chase folgte bald darauf8. Diese Entwicklung und die Verdienste des Jubilars um die rechtliche Beurteilung von Schiedsvereinbarungen in AGB9 berechtigen zu der Frage, wie es im Zusammenhang mit Schiedsvereinbarungen um den Verbraucherschutz in Deutschland bestellt ist. Dabei sei in Erinnerung gerufen: Vertragsfreiheit ist

__________ 2 „The Federal Arbitration Act (…) was intended to apply to disputes between commercial entities of generally similar sophistication and bargaining power.“ Arbitration Fairness Act 2009, House Bill 1020, Section 2 para (1). Damit bestehen gewisse Parallelen zu der Verbraucherschutzproblematik, mit welcher sich derzeit die EG-Kommission – allerdings bezüglich staatlicher Gerichte – befasst; zur Übersicht über entsprechende europäische Bemühungen s. http://ec.europa.eu/consumers/redress_cons/ collective_redress_en.htm. 3 Robertson, The Arbitration Fairness Acts of 2009: The United States Anti-Arbitration Bills, Asian Dispute Review 2009, S. 82–85. 4 Dazu US Second Circuit Court of Appeals, Ross v. Bank of America, Urteil vom 25.4.2008. 5 Informationen der Website des Minnesota Attorney General, http://www.ag.state.mn. us/Consumer/PressRelease/090720NationalArbitrationAgremnt.asp. 6 http://www.creditcards.com/credit-card-news/credit-card-binding-arbitration-systemcrumbling-1282.php. 7 „Bank of America ends arbitration of card disputes“, Reuters-Meldung vom 14.8.2009, abrufbar unter http://www.reuters.com/article/creditMarkets/idUSTRE57D03E20090 814?pageNumber=1&virtualBrandChannel=0. Für den vorliegenden Beitrag wurde die Entwicklung bis einschließlich November 2009 berücksichtigt. 8 „JP Morgan Chase Ends Credit Card Arbitration“, American Banker vom 20.11.2009, abrufbar unter http://www.americanbanker.com/news/jpmorgan-chase-ends-creditcard-arbitration-1004177-1.html. 9 Von Westphalen, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, 25. Lieferung, 2009, Ziffer 28.

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Schiedsvereinbarungen in Verbraucherverträgen

die durch die Verfassung garantierte Freiheit der Entscheidung, ob und wie Verträge abgeschlossen werden, und zwar sowohl des Verbrauchers als auch seines (potentiellen) Vertragspartners10. Verbraucherschutz dagegen wirkt zunächst einseitig, also zugunsten des Verbrauchers und zulasten seines Vertragspartners11. Dies wird damit begründet, dass eine „typisierbare Fallgestaltung“ gegeben sei, in der eine „strukturelle Unterlegenheit“ des einen Vertragsteils – mit anderen Worten: eine sogenannte Ungleichgewichtslage – vorliege12. In Bezug auf Schiedsvereinbarungen bedeutet dies: Vertragsfreiheit ist auch die Freiheit der Entscheidung, ob eine Schiedsvereinbarung abgeschlossen und wie sie ausgestaltet werden soll, sowohl des Verbrauchers als auch des Vertragspartners. Verbraucherschutz dagegen ist auch – was? Der Schutz vor bestimmten Schiedsvereinbarungen? Der Schutz vor Schiedsvereinbarungen allgemein? Dieser Frage soll im vorliegenden Beitrag nachgegangen werden. Die umfangreiche Diskussion in der Literatur und die Rechtsfortbildung durch die Gerichte lassen dabei vermuten, dass rechtlicher Handlungsbedarf dank der Rechtsbehelfe des allgemeinen Zivilrechts in Deutschland ebenso wenig besteht, wie faktisch in naher Zukunft eine Überflutung von Verbrauchern mit Schiedsklauseln zu befürchten ist. Nach einer Begriffsbestimmung (I.) wird am Beispiel der USA demonstriert, dass eine weite Verbreitung von Schiedsklauseln auch in sogenannten „Ungleichgewichtslagen“ nicht nur ein bloßes Gedankenspiel sein muss (II.). Dieses Beispiel steht in Gegensatz zu der gegenwärtigen Verbreitung von Schiedsvereinbarungen in Deutschland (III.). Es folgen Grundsätze des deutschen Schiedsverfahrensrechts (IV.), welche die Basis für die rechtlichen Ausführungen zu Schiedsvereinbarungen in Verbraucherverträgen liefern (V.). Der Beitrag schließt mit einer Zusammenfassung (VI.).

I. Begriffsbestimmung Zunächst ist allerdings die Bestimmung der Begriffe „Verbraucher“ (1.) und „Schiedsvereinbarung“ (2.) erforderlich. 1. Verbraucher Der Begriff des „Verbrauchers“ wird im Folgenden für jede natürliche Person verwendet, die ein Rechtsgeschäft zu einem Zwecke abschließt, der weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet

__________

10 Grundlegend BVerfG, NJW 1994, 36 ff., 38. Zur Differenzierung zwischen Vertragsabschluss- und -gestaltungsfreiheit jüngst wieder von Westphalen, Wider einen Reformbedarf beim AGB-Recht im Unternehmerverkehr, NJW 2009, 2977 ff., 2981. 11 In einschlägigen Diskussionen wird zugunsten einer Ausweitung des Verbraucherschutzes allerdings häufig (sinngemäß) angeführt, ein verbesserter Verbraucherschutz begünstige das Vertrauen in die Rechts- und Wirtschaftsordnung und komme damit allen Marktteilnehmern zugute. Vgl. nur das „Grünbuch über kollektive Rechtsdurchsetzungsverfahren für Verbraucher“ der EG-Kommission vom 27.11.2008, Absatz 1. 12 BVerfG, NJW 1994, 36 ff., 38. Weitere Erläuterungen und Nachweise bei Micklitz in MünchKomm.BGB, Vorbemerkung zu §§ 13, 14 BGB Rz. 68 ff.

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werden kann. Dies ist die Definition des § 13 BGB, und als solche ist sie maßgeblich insbesondere für die Terminologie der §§ 305 ff. BGB. Ihre Verwendung erleichtert daher die Subsumtion unter diese Vorschriften. Zwei Problemkreise klammern diese Definition und dieser Beitrag aus: – Nicht beurteilt werden soll an dieser Stelle, ob auch Kleinunternehmen in den Genuss verbraucherschützender Vorschriften kommen sollen, wie dies teilweise auf europäischer Ebene erwogen worden ist13. – Für die Zwecke dieses Beitrages ist auch die Beantwortung der Frage unnötig, inwieweit verbraucherschützende Vorschriften sinngemäß auf das Rechtsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Anwendung finden sollen. Denn für individualarbeitsrechtliche Streitigkeiten ist die Vereinbarung der Schiedsgerichtsbarkeit ausgeschlossen, wie sich im Umkehrschluss aus §§ 2, 4 ArbGG ergibt. 2. Schiedsvereinbarung Der Begriff „Schiedsvereinbarung“ wird im Folgenden gemäß der Definition des § 1029 Abs. 1 ZPO verstanden, also als Vereinbarung, alle oder einzelne Streitigkeiten, die zwischen den Parteien in Bezug auf ein bestimmtes Rechtsverhältnis vertraglicher oder nichtvertraglicher Art entstehen, der Entscheidung durch ein Schiedsgericht zu unterwerfen. Entscheidend ist dabei zweierlei: – Die Vereinbarung muss – ihre Wirksamkeit vorausgesetzt – für zumindest eine Partei verbindlich sein. Vereinbarungen, die lediglich die grundsätzliche Bereitschaft der Parteien zur Durchführung eines Schiedsverfahrens festhalten, fallen nicht unter den Begriff. – Das vereinbarte Schiedsverfahren muss nach dem Parteiwillen das Verfahren vor staatlichen Gerichten ersetzen. Verfahren, die nur zu unverbindlichen Empfehlungen führen, sind hier ebenso wenig von Interesse wie Verfahren, die von den Parteien gleichsam als „Vorinstanz“ zum staatlichen Prozess vereinbart wurden.

II. Schiedsvereinbarungen in den USA Überlegungen zum Verhältnis von Vertragsfreiheit und Verbraucherschutz hinsichtlich der Verwendung von Schiedsvereinbarungen in Verbraucherverträgen sind derzeit vor allem in den USA von praktischer Bedeutung. Nach einer kurzen Einführung in die Rechtsgrundlagen (1.) wird im Folgenden aufgezeigt, dass Schiedsklauseln dort weit verbreitet sind, und zwar nicht nur in Verträgen zwischen Unternehmen (B2B – „business to business“), sondern

__________ 13 Vgl. das Grünbuch „Die Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz“ der EG-Kommission v. 8.2.2007, S. 17.

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Schiedsvereinbarungen in Verbraucherverträgen

auch in Verträgen zwischen Unternehmen und Verbrauchern (2.). Auch im USamerikanischen Schiedsrecht finden Grundsätze des Verbraucherschutzes Beachtung (3.). 1. Rechtsgrundlagen für Schiedsvereinbarungen Zentrale Kodifikation des Schiedsrechts der USA ist der FAA aus dem Jahr 192514. In ihm sind wesentliche Fragen des Schiedsverfahrens geregelt, etwa zur Gültigkeit von Schiedsabreden (§ 2 FAA), der Einrede der Schiedsvereinbarung (§ 3 FAA) und dem Umfang der richterlichen Kontrolle von Schiedssprüchen (§§ 10, 11 FAA). Da US-amerikanisches Recht dem common law zuzuordnen ist, kommt der Rechtsprechung eine bedeutende Rolle bei der Rechtsfortbildung zu. Die Rechtsprechung zu Fragen des Schiedsrechts bildet insofern keine Ausnahme. Teilweise bestehen dabei durchaus Parallelen zur deutschen (Rechts-)Lage. Drei Beispiele zu Schiedsvereinbarungen und -verfahren seien genannt: – Laut einer jüngeren Entscheidung des Supreme Court soll die bundesrechtliche Regelung der Aufhebungsgründe in §§ 10, 11 FAA abschließend sein15. Entsprechendes gilt für die deutsche Regelung der Aufhebungsgründe in § 1059 ZPO16. – Gegen Urteile staatlicher Gerichte, mit denen Klagen wegen der Einrede der Schiedsvereinbarung abgewiesen werden, ist der Instanzenzug eröffnet17. Nichts anderes gilt in Deutschland: Dass gerade die Einrede der Schiedsvereinbarung zur Abweisung der Klage geführt hat, führt nicht zum Wegfall des Instanzenzugs, wie sich an der umfangreichen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte und des BGH zur Einrede der Schiedsvereinbarung ablesen lässt18. – Bundesrechtlich soll die Schiedsgerichtsbarkeit grundsätzlich gefördert werden19. Dies erinnert an das deutsche Prinzip der „schiedsfreundlichen Auslegung“20. Daneben rückt in den USA, bedingt durch die stark föderale Struktur, immer wieder die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem bundesrechtlichen FAA und dem Recht der Einzelstaaten in den Vordergrund. Die starke Verbreitung von Schiedsklauseln wird teilweise darauf zurückgeführt, dass der Supreme

__________ 14 U.S. Code Collection, Title 9. 15 US Supreme Court, Hall Street Associates, LLC. v. Mattel, inc., Urteil v. 25.3.2008. 16 Dies folgt bereits aus dem eindeutigen Gesetzeswortlaut. S. auch OLG München, Beschluss v. 20.4.2009 – 34 Sch 017/08. 17 US Supreme Court, Green Tree Financial Corp.-Alabama et al. v. Randolph, Urteil v. 11.12.2000. 18 Exemplarisch BGH, SchiedsVZ 2009, 122 ff. 19 US Supreme Court, Shearson/American Express inc. v. McMahon, Urteil v. 8.6.1987. 20 Exemplarisch Kröll, Die schiedsrechtliche Rechtsprechung 2008, SchiedsVZ 2009, 161 ff.

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Court bislang dem (schiedsfreundlichen) Bundesrecht den Vorrang vor dem teilweise restriktiveren Staatenrecht einräumte21. So dürfen nach Ansicht des Supreme Court Schiedsrichter selbst dann Strafschadensersatz (punitive damages) verhängen, wenn ihnen dies nach dem anwendbaren Staatenrecht untersagt ist22. Nach einer anderen insofern beispielhaften Entscheidung kann eine Schiedsvereinbarung auch für Streitigkeiten getroffen werden, die gemäß Staatenrecht von einer Verwaltungsbehörde und nicht von einem Gericht zu entscheiden wären23. 2. Verbreitung Die Nutzung von Schiedsklauseln ist in den USA weitverbreitet. Sie beschränkt sich nicht auf handelsrechtliche Streitigkeiten, weder nach dem engeren deutschen Verständnis des Begriffs „Handels“, noch nach dem weiteren Verständnis des Art. 1 UNCITRAL-Modellgesetz24. Eine Stichprobe aus dem Jahr 2007 ergab, dass rund 75 % der standardisierten Verbraucherverträge von Unternehmen Schiedsklauseln enthielten25. Verbreitet sind Schiedsklauseln zunächst bei Wertpapiertransaktionen. Dies hat den besonderen Hintergrund, dass aufgrund der für Wertpapierhändler geltenden Vorschriften Investoren – nicht aber die Wertpapierhändler – von Gesetzes wegen ein Wahlrecht zwischen staatlicher und Schiedsgerichtsbarkeit haben. Da Investoren in vielen Fällen durchaus Verbraucher nach deutschem Verständnis sein können, scheint die gesetzliche Regelung also verbraucherfreundlich. Von Seiten der Wertpapierhändler werden nun aber Schiedsklauseln in Verträge aufgenommen, um bereits bei Vertragsschluss Klarheit über die zuständige Gerichtsbarkeit zu haben – und nicht erst im Streitfall. Im Ergebnis ist der Wertpapierhandel dadurch möglicherweise jenes Geschäftsfeld, bei dem Kunden sich Schiedsklauseln am wenigsten entziehen können26. Verbreitet ist sodann die Nutzung von Schiedsklauseln in Kredit- und Kreditkartenverträgen. Derartigen Verträgen kommt aufgrund der hohen Verschuldung US-amerikanischer Privathaushalte großes wirtschaftliches Gewicht

__________ 21 Stipanowich, Due Process Protocol Protects Consumer Rights, Dispute Resolution Journal 1998, 9 ff., 9. 22 US Supreme Court, Mastrobuono v. Shearson Lehman Hutton, inc., Urteil v. 6.3.1995. 23 US Supreme Court, Preston v. Ferrer, Urteil v. 20.2.2008. 24 Dazu Schumacher, Das neue 10. Buch der Zivilprozessordnung im Vergleich zum UNCITRAL-Modellgesetz über die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit; Beilage zu BB 1998 Heft 12, S. 6 ff., 8. 25 Eisenberg/Miller/Sherwin, Arbitration’s Summer Soldiers: An Empirical Study of Arbitration Clauses in Consumer and Nonconsumer Contracts, Cornell Law School/ New York University Research Paper, abrufbar unter http://papers.ssrn.com/sol3/ papers.cfm?abstract_id=1076968. 26 So Ware, What Makes Securities Arbitration Different from other Consumer and Employment Arbitration?, University of Cincinnati Law Review, Vol. 76, S. 447 ff., 452: „As it stands, securities industry customers may have a harder time than any other industry’s customers in finding a way to do business without an arbitration clause“.

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Schiedsvereinbarungen in Verbraucherverträgen

zu27. Entsprechend bedeutsam ist die Frage nach der Lösung von Streitigkeiten aus diesen Verträgen. In dieser Hinsicht hat sich die Verwendung von Schiedsklauseln etabliert: Neben den bereits erwähnten (mittlerweile ausgestiegenen) Instituten Bank of America und JP Morgan Chase verwenden auch American Express und Citigroup – und damit vier marktführende Kreditinstitute – Schiedsklauseln28. Schiedsklauseln finden darüber hinaus auch Anwendung in individualarbeitsrechtlichen Streitigkeiten. Nach einer Stichprobe sind sie in rund 90 % der standardisierten Arbeitsverträge enthalten29. Schiedsklauseln werden beispielsweise vereinbart im US-amerikanischen Pendant zu Tarifverträgen, den collective bargaining agreements, und zwar nicht nur für Streitigkeiten der Tarifparteien untereinander, sondern auch für Streitigkeiten einzelner Gewerkschaftsmitglieder als Arbeitnehmer mit den Arbeitgebern. Die Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft kann, mit anderen Worten, bei Streitigkeiten mit dem Arbeitgeber zur Verweisung auf die Schiedsgerichtsbarkeit führen, sofern die entsprechende Gewerkschaft mit dem jeweiligen Arbeitgeber eine Schiedsvereinbarung getroffen hat. Inhaltlich können solche Schiedsvereinbarungen durchaus von großer Weite sein und beispielsweise Streitigkeiten wegen altersbedingter Diskriminierung abdecken30. 3. Verbraucherschutz im US-amerikanischen Schiedsrecht Das US-amerikanische Schiedsrecht kennt Sonderregelungen für bestimmte Rechtsverhältnisse. Beispiele sind etwa der Magnuson-Moss Warranty Act für Streitigkeiten aus Produktgarantien zugunsten von Verbrauchern31 oder die erwähnten Regelungen der nationalen Wertpapierbörsen für Streitigkeiten zwischen (unter anderem) Händlern und Investoren32.

__________ 27 Die Gesamtverschuldung US-amerikanischer Haushalte lag 2008 nach Auskunft der Federal Reserve bei 13832,9 Milliarden US$ (http://www.federalreserve.gov/releases/ z1/Current/z1.pdf, S. 16), was ca. 9813,84 Milliarden Euro zum Wechselkurs vom 31.12.2008 entspricht. Die durchschnittlichen Kreditkartenschulden betrugen Ende 2008 8329 US$ pro Haushalt (Nilson Report April 2009, zitiert nach http://www. creditcards.com/credit-card-news/credit-card-industry-facts-personal-debt-statistics1276.php). Zum Vergleich: 2008 lag das Gesamtvolumen der in Deutschland bankenmäßig an Privatpersonen vergebenen Kredite nach Auskunft der SCHUFA bei 1015 Milliarden Euro (http://www.schufa-kredit-kompass.de/de/statistiken/kredit kompassjahresbericht/trendsderprivkreditaufnahme/trendskreditaufnahme.jsp). 28 „Bank of America ends arbitration of card disputes“, Reuters-Meldung vom 14.8.2009. Übersicht über die Marktanteile und weitere Informationen unter http:// www.creditcards.com/credit-card-news/credit-card-industry-facts-personal-debt-statis tics-1276.php. 29 Eisenberg/Miller/Sherwin (Fn. 25), S. 17, allerdings auf nur schmaler statistischer Grundlage. 30 US Supreme Court, 14 Penn Plaza LLC et al. v. Pyett et al., Urteil v. 1.4.2009. 31 Dazu Grossberg, The Magnuson-Moss Warranty Act, the Federal Arbitration Act, and the Future of Consumer Protection, Cornell Law Review 2008, 659 ff. 32 Dazu Ware (Fn. 26).

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Die Verbreitung von Schiedsklauseln auch in Ungleichgewichtslagen führte zur Entwicklung einer besonderen Verhaltensrichtlinie der AAA. Diese Verhaltensrichtlinie, das „Consumer Due Process Protocol“ vom 17.4.1998, statuiert Grundsätze (principles) für Schiedsvereinbarungen und -verfahren, die bei Beteiligung von Verbrauchern besondere Beachtung finden sollen33. Hierzu zählen etwa die Begrenzung von Kosten auf ein vernünftiges Maß (Principle 6: Reasonable Cost), die Auswahl eines angemessenen Schiedsortes (Principle 7: Reasonable Convenient Location) und deutliche Hinweise auf die Schiedsabrede bei Vertragsschluss (Principle 11: Agreements to Arbitrate). Durchaus vergleichbare Grundsätze wurden auch europäischen Mediatoren im „European Code of Conduct for Mediators“ nahegelegt, und zwar unabhängig vom Vorliegen einer Ungleichgewichtslage34. Obgleich damit die bedeutendste US-amerikanische Schiedsinstitution Rücksicht auf die Belange von Verbrauchern nimmt, wird die Rechtsstellung von Verbrauchern in Bezug auf Schiedsvereinbarungen und -verfahren als unzureichend angesehen. Wie eingangs erwähnt, ist insbesondere die Verwendung von Schiedsklauseln in Kreditkartenverträgen in jüngerer Zeit auf Kritik gestoßen. Gegner verweisen auf die angeblich geringe Erfolgswahrscheinlichkeit für Verbraucher in Schiedsverhandlungen. So sollen beispielsweise die von Schiedsrichtern der NAF erlassenen Schiedssprüche in Verbraucherstreitigkeiten zu 94 % zugunsten der Unternehmer getroffen worden sein. Dementsprechend sollen auch lediglich 118 der rund 34000 Verfahren der NAF in Kalifornien zwischen Januar 2003 und März 2007 von Verbrauchern eingeleitet worden sein35. Zwar wird von anderer Seite die Wissenschaftlichkeit der genannten Statistiken bezweifelt36. Vielmehr sei die Schiedsgerichtsbarkeit erheblich schneller, oftmals kostengünstiger, und natürliche Personen würden üblicherweise bessere Resultate mit ihr erzielen als mit staatlichen Verfahren37. So sind nach Auskunft der AAA 48 % der Verbraucherklagen und 74 % der Unternehmens-

__________ 33 Einsehbar mit Genese und Kommentierung unter http://www.adr.org/sp.asp?id= 22019; Besprechung bei Stipanowich (Fn. 21). 34 Abrufbar unter http://ec.europa.eu/civiljustice/adr/adr_ec_en.htm. 35 Zahlen aus „The Arbitration Trap – How Credit Card Companies Ensnare Consumers“, S. 2 – Studie der Verbraucherschutzorganisation Public Citizen aus September 2007, abrufbar unter http://www.citizen.org/documents/Final_wcover.pdf. 36 So mit beachtlichen Argumenten Rutledge, Arbitration – A Good Deal for Consumers, S. 10 ff. (http://www.adrforum.com/rcontrol/documents/ResearchStudiesAnd Statistics/200804ArbitrationGoodForConsumers-Rutledge.pdf): Ein schwerwiegender Mangel in der zitierten Statistik sei die Beschränkung der Daten auf Verfahren zur Forderungsdurchsetzung von Banken; in solchen Verfahren sei das Unterliegen des Verbrauchers voraussehbar. 37 Rutledge (Fn. 36), S. 6 ff. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt hinsichtlich des Verfahrens der American Arbitration Association die umfangreiche Studie „Consumer Arbitration Before the American Arbitration Association“ des Searle Civil Justice Institute vom März 2009, abrufbar unter http://www.searlearbitration.org/p/full_report .pdf.

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klagen erfolgreich38. Am gegenwärtigen Trend vermag solcher Widerspruch allerdings bislang nichts zu ändern: Die Ansicht, Schiedsverfahren seien verbraucherfreundlich oder überhaupt auch nur mit dem Verbraucherschutz vereinbar, scheint sich – wie eingangs geschildert – auf dem Rückzug zu befinden.

III. Schiedsklauseln in anderen Ungleichgewichtslagen Ein anderes Bild bietet sich in Deutschland: Hier erfreuen sich Schiedsverfahren zumindest bislang bei Verbrauchern nicht einer Beliebtheit, die in Missbrauch umschlagen könnte. Wegen der größeren Verbreitung sollen hier zunächst Vereinbarungen bei unternehmerischer Tätigkeit (1.) und sodann Vereinbarungen in Ungleichgewichtslagen dargestellt werden (2.). 1. Unternehmerische Tätigkeit a) Auslandsinvestitionen Für die unternehmerische Tätigkeit von Bedeutung sind Schiedsklauseln in bilateralen Investitionsschutzabkommen (bilateral investment treaties – BITs). Von letzteren hat Deutschland derzeit 147 abgeschlossen und verfügt damit über das dichteste Investitionsschutznetz39. Welche Rechte vor dem Schiedsgericht geltend gemacht werden können, ergibt sich aus dem jeweiligen BIT. Viele dieser BITs sehen für Investoren die Möglichkeit vor, statt eines staatlichen Gerichts ein Schiedsgericht anzurufen, wenn sich im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit Rechtsstreitigkeiten ergeben. Dabei besteht eine gewisse Standardisierung: Hat der Investitionsstaat das Abkommen des International Centre for Settlement of Investment Disputes (ICSID) ratifiziert, kann das in diesem Abkommen geregelte ICSID-Schiedsverfahren zum Einsatz kommen. Dem ICSID kommt folglich insofern die Rolle zu, welche bei konventionellen Schiedsverfahren häufig die Schiedsinstitutionen übernehmen. Ein Beispiel für ein derartiges Verfahren wäre der von Siemens angestrengte, mittlerweile durch Klagerücknahme beendete Prozess gegen die Republik Argentinien40. Die Schiedsklausel in einem BIT wird nicht zwischen den Parteien eines potentiellen Schiedsverfahrens vereinbart. Vertragsparteien sind vielmehr der Investitionsstaat und der Investorstaat. Im Verhältnis zum Investor stellt sich das BIT als Vertrag zugunsten Dritter dar41. Es stellt sich daher insbesondere die Frage nicht, ob eine – eventuell „strukturell schwächere“ – Partei der Schiedsklausel durch die Verweisung auf ein Schiedsverfahren unangemessen benachteiligt wurde.

__________ 38 „Analysis of the American Arbitration Association’s Consumer Arbitration Caseload“, 2007 (http://www.adr.org/si.asp?id=5027). 39 Information von http://icsid.worldbank.org/ICSID/Index.jsp. 40 Dazu Newmark/Poulton, Siemens -v- Argentina: Most favoured nation clause (re)visited, SchiedsVZ 2005, 30 ff. 41 Happ, Beilegung von Steuerstreitigkeiten zwischen Investoren und ausländischen Staaten durch Schiedsgerichte, IStR 2006, 649 ff.

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Vorteile, wie sie ein BIT mit einer Schiedsklausel für Investoren mit sich bringt, können aber bei entsprechender Ausgestaltung auch den Parteien einer Schiedsvereinbarung zugutekommen, also auch der unterlegenen Partei in einer Ungleichgewichtslage: – Ein BIT mit einer Schiedsklausel statuiert unabhängig vom Recht des Investitionsstaates einklagbare Rechte für Investoren. Entsprechend können die Parteien einer Schiedsvereinbarung abweichend vom geltenden Kollisionsrecht grundsätzlich jenes Sachrecht vereinbaren, welches ihnen angemessen erscheint (vgl. Art. 28 Abs. 1 des UNCITRAL-Modellgesetzes)42. Dies mag ihnen zwar in der Theorie auch ohne eine Schiedsvereinbarung möglich sein. Im Schiedsverfahren können die Parteien aber zudem Schiedsrichter auswählen, welche mit dem gewählten Recht vertraut sind43. – Das BIT macht die Durchsetzung der gewählten Rechte unabhängig von der Qualität der Zivilgerichte des Investitionsstaates44. Entsprechendes gilt für die Parteien einer Schiedsvereinbarung hinsichtlich der Qualität der Zivilgerichte ihrer jeweiligen Sitzstaaten. Unabhängig von der Qualität deutscher Zivilgerichte ist dies zumindest als Möglichkeit zu begrüßen. b) Kaufmännische Schiedsgerichte Traditionsreich sind die kaufmännischen Schiedsgerichte und Schiedsgerichtsordnungen. Beispielsweise unterhält die Handelskammer Bremen das Wollschiedsgericht für Streitigkeiten aus dem Textilhandel, und sowohl der WarenVerein der Hamburger Börse e. V.45 als auch der Deutsche Kaffeeverband e. V. bieten eine Schiedsgerichtsordnung an. Bereits die Bezeichnungen sind indes Hinweis darauf, dass die entsprechende Schiedstätigkeit nicht für Verbraucher konzipiert ist. 2. Andere Bereiche a) Sportgerichtsbarkeit Soweit die Sportgerichtsbarkeit Streitigkeiten zwischen Vereinen regelt, befasst sie sich mit unternehmerischer Tätigkeit. Hinsichtlich der Sportgerichtsbarkeit für Streitigkeiten zwischen Vereinen und Spielern ist zunächst zu trennen zwischen der Schiedsgerichtsbarkeit im Sinne der §§ 1025 ff. ZPO (im Folgenden: Sportschiedsgerichtsbarkeit) und der internen Gerichtsbarkeit der

__________ 42 Zur Einschränkung der Rechtswahlfreiheit bei Verbraucherverträgen s. unten. 43 Zur Bedeutung eines mit dem gewählten Recht vertrauten Tribunals vgl. von Westphalen, Fallstricke bei Verträgen und Prozessen mit Auslandsberührung, NJW 1994, 2113 ff., 2116. 44 Zur Effizienz der BITs Wehland/Wagner, Unterschätzt die deutsche Wirtschaft die Wirksamkeit des völkerrechtlichen Investitionsschutzes?, SchiedsVZ 2006, 225 ff. 45 Insofern ist zu differenzieren zwischen einem Schiedsverfahren im vorliegend relevanten Sinn und der sogenannten Qualitätsarbitrage, die ihrerseits nur ein Schiedsgutachten darstellt – dazu Schwab/Walter, Kap. 2 Rz. 18 ff.

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Sportverbände (Verbandsgerichtsbarkeit). Letztere beruht auf der Vereinsautonomie gemäß § 25 BGB und Art. 9 Abs. 1 GG, ihr Verhältnis zur staatlichen Gerichtsbarkeit ist umstritten46. Nach Ansicht des Bundesgerichtshofs sollen Entscheidungen der Verbandsgerichtsbarkeit „nach den allgemeinen Vorschriften, das heißt in der Regel mit der Klage nach den §§ 253 ff. ZPO“ überprüfbar sein47. Damit sind Entscheidungen der Verbandsgerichtsbarkeit einer wesentlich umfassenderen gerichtlichen Prüfung ausgesetzt als „echte“ Schiedssprüche, welche nur nach Maßgabe des § 1059 ZPO angreifbar sind. Die Verbandsgerichtsbarkeit stellt sich somit als der staatlichen Gerichtsbarkeit untergeordnet dar. Der staatlichen Gerichtsbarkeit gleichgeordnet ist hingegen die Sportschiedsgerichtsbarkeit. Sie ist durchaus verbreitet, wobei indes die Bezeichnung als „Schiedsgericht“ an sich ein Entscheidungsgremium noch nicht zum Schiedsgericht im Sinne der §§ 1025 ff. ZPO macht48. Zwei Beispiele für „echte“ Schiedsgerichte sollen hier genügen: Ein Schiedsgericht im Sinne dieser Normen ist das Ständige Schiedsgericht für Vereine und Kapitalgesellschaften der Lizenzligen des DFB-Ligaverbands, welches über bestimmte Streitigkeiten zwischen dem Ligaverband und seinen Mitgliedern richtet49. Das Pendant für Streitigkeiten unter Beteiligung von Lizenzspielern ist das Ständige Schiedsgericht für Lizenzspieler50. Beide Schiedsgerichte sind der Verbandsgerichtsbarkeit übergeordnet und richten unter Ausschluss des ordentlichen Rechtswegs. Das Verdikt von Lindemann, Schiedsgerichte nach §§ 1025 ff. ZPO seien „kaum geeignete Instrumente für die Sportgerichtsbarkeit“51, trifft somit weder der Sache nach zu noch spiegelt es die Rechtspraxis wider. Bei den von der Sportschiedsgerichtsbarkeit behandelten Streitigkeiten zwischen Vereinen und Sportlern könnte man an eine Ungleichgewichtslage denken, die gewisse Parallelen mit anderen Verhältnissen zwischen „strukturell stärkeren“ und „strukturell schwächeren“ Parteien aufweist52. Welche rechtlichen Konsequenzen hieran zu knüpfen sind, soll vorliegend nicht behandelt werden53. Festzuhalten ist, dass Schiedsvereinbarungen in Ungleichgewichtslagen auch in Deutschland möglich sind. Eine in Zukunft weitere Verbreitung bei der speziellen Ungleichgewichtslage in Verbraucherverträgen ist daher denkbar.

__________ 46 Dazu Reuter in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, § 25 BGB Rz. 34 ff. Zur Rechtsgrundlage ausführlich Monheim, Sportlerrechte und Sportgerichte im Lichte des Rechtsstaatsprinzips – auf dem Weg zu einem Bundessportgericht, München 2006. 47 BGH, NJW 2004, 2226 ff., 2227. 48 Zur Abgrenzung BGH, NJW 2004, 2226 ff., 2227. 49 Vgl. § 13 der Satzung des Ligaverbands, abrufbar unter http://www.bundesliga.de/ media/native/dfl/satzung/satzung_ligaverband_04-07-31_stand.pdf. 50 Muster-Schiedsvereinbarung abrufbar unter http://www.dfb.de/uploads/media/recht undverfahren.pdf. 51 Lindemann, Sportgerichtsbarkeit – Aufbau, Zugang, Verfahren, SpuRT 1994, 17 ff., 18. 52 Haas/Hauptmann, Schiedsvereinbarungen in „Ungleichgewichtslagen“ – am Beispiel des Sports, SchiedsVZ 2004, 175 ff. 53 Dazu Haas/Hauptmann (Fn. 52).

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b) Spezialregelungen Darüber hinaus sind Schiedsvereinbarungen von Gesetzes wegen für bestimmte Rechtsverhältnisse unter Beteiligung bestimmter Parteien untersagt. Bereits erwähnt wurden die §§ 2, 4 ArbGG, die zwar Schiedsvereinbarungen nicht explizit untersagen, aber individualarbeitsrechtliche Streitigkeiten zwingend an die (staatlichen) Arbeitsgerichte verweisen. Unwirksam sind sodann gemäß § 1030 Abs. 2 Satz 1 ZPO Schiedsvereinbarungen über Streitigkeiten aus Wohnraummietverträgen. In beiden Fällen können die jeweiligen Streitigkeiten daher unter keinen Umständen vor ein Schiedsgericht gebracht werden. Einen anderen Weg ist der Gesetzgeber bei Wertpapierstreitigkeiten gegangen. Laut § 37h WpHG sind Schiedsvereinbarungen über zukünftige Streitigkeiten aus bestimmten Wertpapiergeschäften nicht verbindlich, wenn nicht beide Vertragsparteien Kaufleute oder juristische Personen des öffentlichen Rechts sind. Der Gesetzgeber hat also auch hier eine Ungleichgewichtslage im Blick, knüpft aber an die (weitaus ältere) Differenzierung zwischen Kaufleuten und Nichtkaufleuten an – anders als übrigens die Rechtsprechung vor Einführung des § 37h WpHG54. Die Regelung führt nach wohl herrschender Meinung zu einer Einschränkung der subjektiven Schiedsfähigkeit55. Ein dennoch ergehender Schiedsspruch wäre daher stets gemäß § 1059 Abs. 2 Nr. 1a Var. 1 ZPO aufhebbar. Das deutsche Recht trifft damit für die Beilegung von Wertpapierstreitigkeiten eine grundlegend andere Entscheidung als das US-amerikanische. Andererseits sind Schiedsverfahren in solchen Streitigkeiten – anders als in den beiden oben erwähnten Fallgruppen – nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Es steht den Parteien vielmehr frei, im Zuge der Streitbeilegung eine Schiedsvereinbarung zu schließen: Denn § 37h WpHG bezieht sich eben nur auf zukünftige, nicht aber auf gegenwärtige Streitigkeiten. Die Regelung hat zu Recht Kritik erfahren56. In Anlehnung an den Titel dieser Festschrift lässt sich festhalten: § 37h WpHG ist hinsichtlich des Verbraucherschutzes unnötig, weil sich differenzierte Lösungen – statt eines pauschalen Verbots – auf der Basis des allgemeinen Zivilrechts finden lassen, wie im Folgenden gezeigt werden wird57. Und hinsichtlich der Vertragsfreiheit ist die Norm unerfreulich, weil sie eine national wie international geförderte Form der Streitbeilegung ohne Not dem Wirtschaftsverkehr vorenthält.

__________ 54 Rechtsprechung – und Literatur – betrachteten Privatanleger beim Abschluss von Finanztermingeschäften regelmäßig als Verbraucher gemäß § 13 BGB. Dazu Berger (Fn. 55), S. 79 m. w. N. 55 Zimmer in Schwark, 3. Aufl. 2004, § 37h WpHG Rz. 10; Jordans, Zur Europarechtswidrigkeit von § 37h WpHG, EuZW 2007, 655 ff., 655; Lehmann, Wertpapierhandel als schiedsfreie Zone? – Zur Wirksamkeit von Schiedsvereinbarungen nach § 37h WpHG, SchiedsVZ 2007, 219 ff., 221. Ebenso Berger, Schiedsgerichtsbarkeit und Finanztermingeschäfte – Der „Schutz“ der Anleger vor der Schiedsgerichtsbarkeit durch § 37h WpHG, ZBB 2003, 77 ff. 56 Exemplarisch Berger (Fn. 55) m. w. N. 57 S. unten V.

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IV. Grundsätze des deutschen Schiedsverfahrensrechts Aus der Notwendigkeit einer Schiedsvereinbarung folgt, dass staatliche Gerichtsverfahren rechtlich gesehen die Regel, Schiedsverfahren hingegen die Ausnahme sind. Inwieweit Verbraucher beim Abschluss von Schiedsvereinbarungen schutzbedürftig sind, ergibt sich daher in erster Linie aus einem Vergleich von Verfahren vor staatlichen Gerichten einerseits und Schiedsverfahren andererseits. Hinsichtlich der Einzelaspekte des Verfahrens bestehen viele Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten, von denen hier nur die relevanten genannt und diskutiert werden sollen: Einbeziehung von Dritten: In Verfahren vor staatlichen Gerichten kann die Beteiligung von Dritten auf verschiedene Arten geschehen – über eine Drittwiderklage, eine Nebenintervention (oder mit demselben Ergebnis: eine Streitverkündung) oder eine Streitgenossenschaft. Da die Schiedsvereinbarung nur inter partes wirkt, stehen diese Möglichkeiten im Schiedsverfahren regelmäßig nicht zur Verfügung. Die Einbeziehung von Dritten ist grundsätzlich nur mit Zustimmung aller Beteiligten möglich58. Für den Verbraucher muss dies nicht unbedingt ein Nachteil sein. Er hat Gewissheit, sich nur mit dem Unternehmer auseinandersetzen zu müssen. Insbesondere muss er nicht die Streitverkündung des Unternehmers an dessen Lieferanten fürchten, die dem Unternehmer wegen § 478 BGB ansonsten grundsätzlich offenstünde59. Die Schiedsvereinbarung begünstigt somit weder den einen noch den anderen Vertragsteil, sodass trotz der grundsätzlichen Ungleichgewichtslage insofern kein rechtlicher Handlungsbedarf besteht. Kosten (Berechnung): Ebenso wie die Gerichtskosten werden die Kosten der Schiedsrichter häufig streitwertabhängig berechnet60. Gemäß dem „Textmuster für eine Vereinbarung über die Vergütung der Schiedsrichter“, herausgegeben vom DAV im Einvernehmen mit dem Deutschen Richterbund, erfolgt die Berechnung nach Maßgabe des RVG61. Unabhängig von der Höhe der Kosten ist daher zumindest die Berechnung nicht komplizierter als im staatlichen Verfahren, das Schiedsverfahren insofern also nicht weniger verbraucherfreundlich. Kosten (Höhe): Verbreitet ist die Ansicht, Schiedsverfahren zeichneten sich dadurch aus, dass sie kostengünstig seien62. Zumindest bei der derzeit

__________

58 Dazu Kleinschmidt, Die Widerklage gegen einen Dritten im Schiedsverfahren, SchiedsVZ 2006, 142 ff. 59 Lorenz in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2008, § 478 BGB Rz. 20. 60 Dies gilt insbesondere für die sogenannte Ad-hoc-Schiedsgerichtsbarkeit und die Schiedsgerichtsbarkeit der DIS; dazu Lachmann, Handbuch für die Schiedsgerichtspraxis, 3. Aufl. 2008, Rz. 4673 ff. Nur zur Vollständigkeit sei erwähnt, dass einige Schiedsordnungen eine Abrechnung auf Stundenbasis vorsehen, etwa jene der Londoner LCIA und der US-amerikanischen AAA. 61 Abrufbar unter http://anwaltverein.de/downloads/praxis/mustervertrag/Schiedsrich terverguetungDAV-DRiB.pdf. S. Lachmann (Fn. 60), Rz. 4674 ff. 62 Exemplarisch Semler, Schnelligkeit und Wirtschaftlichkeit in Schiedsverfahren, NJW 2009, 149 ff., 149; Gottwald/Adolphsen, Das neue deutsche Schiedsverfahrensrecht, DStR 1998, 1017 ff., 1017; BGH, NJW-RR 1991, 423 ff., 424.

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üblichen Ausgestaltung sind Schiedsverfahren zwar regelmäßig teurer als erstinstanzliche Verfahren vor staatlichen Gerichten63. Eine pauschale Antwort ist aber nicht möglich, denn die Kosten eines Schiedsverfahrens können stark variieren, unter anderem wegen der großen Freiräume bei der Ausgestaltung des Verfahrens. Bei Nutzung dieser Freiräume können die Parteien das Schiedsverfahren durchaus so gestalten, dass es kostengünstiger ist als ein Verfahren vor staatlichen Gerichten. Für einen auf typisierender Betrachtung beruhenden Verbraucherschutz besteht daher kein Anlass. Vielmehr ist zu prüfen, ob im Einzelfall die Ungleichgewichtslage eine für den Verbraucher nachteilige Ausgestaltung des Schiedsverfahrens bedingt hat. Diese Prüfung ist insbesondere im Rahmen der AGB-Kontrolle vorzunehmen64. Prozesskostenhilfe: Für die im Rahmen des Schiedsverfahrens entstehenden Kosten kann keine Prozesskostenhilfe gemäß §§ 114 ff. ZPO gewährt werden65. Ein vor einem Schiedsgericht klagender Verbraucher wird daher mit Kosten belastet, und zwar stets zunächst, und letztendlich nur dann nicht, wenn er in der Hauptsache obsiegt und § 91 ZPO Anwendung findet. Auch wird, anders als im staatlichen Verfahren, nicht das Kostenrisiko reduziert, indem der Beklagte seinerseits nach § 122 Abs. 2 ZPO von den Kosten teilweise freigestellt wird. Das aber muss für einen um Schadensersatz bemühten Verbraucher nicht nur nachteilig sein. Denn die Kosten des Schiedsverfahrens stellen auch für den potentiellen Beklagten ein Hindernis dar und können den Vergleichsdruck erhöhen. Selbst wenn man davon ausgeht, dass Verbraucher regelmäßig wirtschaftlich schwächer sind als Unternehmer und daher vom Wegfall der Prozesskostenhilfe stärker getroffen werden, führt dies indes nicht zwingend dazu, dass aufgrund der bestehenden Ungleichgewichtslage eine Schiedsvereinbarung per se aus Gründen des Verbraucherschutzes bedenklich wäre. Denn wie gezeigt können mit entsprechender Ausgestaltung die Kosten des Schiedsgerichtes niedrig gehalten werden, sodass der Mangel an Prozesskostenhilfe weniger ins Gewicht fällt. Und soweit die Prozesskosten durch Anwaltshonorare entstehen, besteht dank der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der aus ihr folgenden (begrenzten) Zulassung von Erfolgshonoraren ausreichend Spielraum, um auch wirtschaftlich schwachen Parteien Rechtsschutz zukommen zu lassen66. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit eines Erfolgshonorars die Prozesskostenhilfe nicht ersetzt67. Die vom Senat angeführte Argumentation verfängt aber nicht, solange auch das Erfolgshonorar unter die Kostenregelung des § 91 ZPO fällt: Dann nämlich muss auch eine finanziell schlechter gestellte Partei den

__________ 63 Umfangreicher Vergleich bei Lachmann (Fn. 60), Rz. 4682 ff. 64 S. unten V.4. 65 OLG Stuttgart, BauR 1983, 486 ff.; Motzer in MünchKomm.ZPO, § 114 ZPO Rz. 34; Philippi in Zöller, 27. Aufl. 2009, § 114 ZPO Rz. 1. 66 BVerfG, NJW 2007, 979 ff. 67 BVerfG, NJW 2007, 979 ff., 981.

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Rechtsschutz nicht mit einem Teilverzicht der realisierten Forderung erkaufen68. Rechtsmittel: Der gerichtlichen Kontrolle eines Schiedsspruches sind wesentlich engere Grenzen gesetzt als jener eines staatlichen Gerichtsurteils. In Betracht kommt lediglich die Aufhebung; mögliche Gründe hierfür sind abschließend geregelt in § 1059 Abs. 2 ZPO. Kein Aufhebungsgrund ist insbesondere die inhaltliche Unrichtigkeit des Schiedsspruches, eine revision au fond findet nicht statt. Auch hier ist nicht ersichtlich, dass die eine oder andere Partei durch diese schiedsrechtliche Besonderheit benachteiligt würde. Sonstige Verfahrensgestaltung: Soweit das 10. Buch der ZPO Anwendung findet, steht den Parteien die Ausgestaltung des Verfahrens im Übrigen weitgehend frei (§ 1042 Abs. 3 ZPO). Möglich ist beispielsweise die Vereinbarung der Schiedsordnung einer Schiedsinstitution als Verfahrensordnung69. Die gesetzliche Prozessordnung erscheint daher als „(dispositive) Auffangordnung“ für die Parteien70. Einer einseitig vorteilhaften Verfahrensgestaltung steht dabei § 1042 Abs. 1 ZPO entgegen. Die Ungleichgewichtslage bei Verbraucherverträgen kann daher insofern nicht ausgenutzt werden. Verfahrensdauer: Schiedsverfahren können schneller zu einem Ergebnis kommen als staatliche Verfahren. Hierzu trägt auch, aber nicht nur der Fortfall weiterer Instanzen bei. Die Parteien eines Schiedsverfahrens haben ein besseres Druckmittel, um eine Beschleunigung des Verfahrens zu erwirken, als die Parteien des staatlichen Verfahrens: Sie können bei unangemessener Verfahrensdauer die Schiedsrichter wegen Verletzung des Schiedsrichtervertrages in Anspruch nehmen71. Dagegen ist der Rechtsschutz gegen die überlange Dauer eines gerichtlichen Verfahrens begrenzt und vom EGMR ausdrücklich als unzureichend bezeichnet worden72. Hinzu kommt, dass jedenfalls in Deutschland staatliche Gerichte einer hohen Arbeitsbelastung unterliegen: Allein im Jahr 2007 wurden über 1,6 Millionen neue Verfahren vor Zivilgerichten eingeleitet73. Hinsichtlich des Verbraucherschutzes ist eine kürzere Verfahrensdauer zu begrüßen, solange sie nicht auf Kosten der Qualität geht, ist doch zu befürchten, dass die Verfahrenslänge als Hemmschwelle gegen eine Klageerhebung wirkt. Verfahrensort: Die Parteien eines Schiedsverfahrens können den Schiedsort gemäß § 1043 Abs. 1 ZPO frei wählen. Allerdings findet das 10. Buch der ZPO gemäß § 1025 Abs. 1 ZPO nur Anwendung, wenn der Schiedsort in Deutschland liegt.

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68 S. unten V.4.d). 69 Zum Streit über die Verdrängung des nationalen Prozessrechts Schwab/Walter, Kap. 50 Rz. 2 ff. 70 Münch in MünchKomm.ZPO, § 1042 ZPO Rz. 8. 71 Schwab/Walter, Kap. 12 Rz. 9; wohl auch Schlosser in Stein/Jonas, 22. Aufl. 2002, vor § 1025 ZPO Rz. 16. 72 EGMR, NJW 2006, 2389 ff. 73 Information des Statistischen Bundesamts, http://www.destatis.de/jetspeed/portal/ cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/Statistiken/Rechtspflege/Gerichtsverfahren /Tabellen/Content75/Gerichtsverfahren.

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Insofern besteht bei Schiedsverfahren größerer Spielraum als bei staatlichen Verfahren, bei denen eine solch freie Wahl des Verfahrensortes gemäß § 38 ZPO nur bestimmten Personen oder nur unter bestimmten Bedingungen offensteht. Diese Norm findet auf Vereinbarungen des Schiedsortes keine Anwendung74. Ebensowenig findet die verbraucherschützende Vorschrift des Art. 16 EuGVVO Anwendung – gemäß Art. I II b EuGVVO sind Schiedsverfahren vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgenommen75. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die Wahl eines Schiedsortes andere Konsequenzen mit sich bringt als eine Gerichtsstandsvereinbarung. Neben der erwähnten Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit des 10. Buches bedingt die Wahl des Schiedsortes, – ob ein Schiedsspruch inländisch ist (vgl. §§ 1060, 1061 ZPO), und – welches Oberlandesgericht für die in § 1062 ZPO genannten Entscheidungen zuständig ist. Nicht erreichen lässt sich durch die Wahl des Schiedsortes insbesondere, dass Streitigkeiten einem als wohlgesonnen empfundenen Tribunal vorgelegt werden – anders als bei Gerichtsstandsvereinbarungen (oder -streitigkeiten), bei denen dies durchaus der Fall sein kann. Insofern könnte sich ein Schiedsverfahren sogar als verbraucherfreundlich darstellen, denn die Ungleichgewichtslage kann vom „überlegenen“ Unternehmer nicht ausgenutzt werden. Bedenken bestehen lediglich dann, wenn der Schiedsort so gewählt wird, dass er von einer Klageerhebung abschreckt76. Vollstreckbarkeit: Auch ein auf Leistung gerichteter Schiedsspruch muss von einem staatlichen Gericht für vollstreckbar erklärt werden, bevor er vollstreckt werden kann. Die Vollstreckbarerklärung ist allerdings gemäß § 1060 ZPO nur bei Vorliegen eines Aufhebungsgrundes zu verweigern, sodass sie häufig bloße Formalität ist. Eine Benachteiligung steht insofern nicht zu befürchten.

V. Schiedsvereinbarungen in Verbraucherverträgen Stehen damit zwingende Belange des Verbraucherschutzes der Vereinbarung von Schiedsverfahren grundsätzlich nicht entgegen, so stellt sich die Frage, ob innerhalb der großen Bandbreite möglicher Schiedsvereinbarungen nicht bestimmte Vereinbarungen als mit solchen Belangen unvereinbar erachtet werden müssen. Um die rechtliche Beurteilung auf eine sichere Grundlage zu stellen, ist zunächst eine Betrachtung der Folgen erforderlich, welche eine Unwirksamkeit einer Schiedsvereinbarung hätte: Nur so lässt sich die Abwägung zwischen Wirksamkeit und Unwirksamkeit sinnvoll treffen (1.). Sodann wird erläutert, in welchen Fällen die Wirksamkeit einer Schiedsklausel nach deutschem Recht zu beurteilen ist (2.). Schließlich werden möglich Gründe für

__________ 74 Münch in MünchKomm.ZPO, § 1043 ZPO Rz. 7. 75 Dazu Schlosser, ‚Brüssel I‘ und Schiedsgerichtsbarkeit, SchiedsVZ 2009, 129 ff. 76 S. unten V.4.d).

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eine Unwirksamkeit dargestellt und diskutiert, und zwar sowohl allgemeine Unwirksamkeitsgründe (3.) als auch die Unwirksamkeit gemäß den §§ 305 ff. BGB (4.). 1. Rechtsfolge Ist die Schiedsvereinbarung hinsichtlich der Verweisung auf die Schiedsgerichtsbarkeit unwirksam77, hängen die Auswirkungen von den Umständen des Einzelfalls ab: – Hat eine der Parteien bereits Klage erhoben, und macht die andere Partei die Einrede der Schiedsvereinbarung geltend, so hängt der Erfolg der Einrede davon ab, dass die Schiedsvereinbarung weder nichtig noch unwirksam noch undurchführbar ist (§ 1032 Abs. 1 ZPO). Ist also ein Verbraucher Partei einer unwirksamen Schiedsvereinbarung, braucht er in einer Klage vor einem staatlichen Gericht die Einrede der Schiedsvereinbarung durch die Gegenseite nicht zu fürchten. – Wurde bereits ein Schiedsspruch erwirkt, so kann die Ungültigkeit der Schiedsvereinbarung gemäß § 1059 Abs. 2 Nr. 1a Var. 2 ZPO einen Aufhebungsantrag begründen. Dabei ist unabhängig von dem Status der Parteien grundsätzlich unerheblich, ob die Ungültigkeit schon im schiedsrichterlichen Verfahren gerügt wurde78. In jedem Fall unerheblich ist dies, wenn eine der Parteien Verbraucher ist und die Unwirksamkeit aus der Richtlinie 93/13 EWG über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen folgt79. Wird der Schiedsspruch auf Grundlage von § 1059 Abs. 2 Nr. 1a Var. 2 ZPO aufgehoben, steht den Parteien der Weg zu den staatlichen Gerichten offen. § 1059 Abs. 5 ZPO findet insofern keine Anwendung, denn es fehlt ja bereits an einer wirksamen Schiedsvereinbarung, die „wiederaufleben“ könnte80. 2. Anwendbarkeit deutschen Rechts Damit eine Kontrolle der Schiedsvereinbarung auf ihre Vereinbarkeit mit deutschem Recht stattfinden kann, muss überhaupt erst deutsches Recht auf die Schiedsvereinbarung Anwendung finden. Hiervon sind zwei weitere Problemkreise abzugrenzen: – Schiedsvereinbarung und Hauptvertrag sind voneinander unabhängig. Das auf die Schiedsvereinbarung anwendbare Recht ist deshalb nicht zwangsläufig identisch mit dem auf den Hauptvertrag anwendbaren Recht. Art. 31

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77 Das Bestehen des Hauptvertrags ist hiervon wegen der Eigenständigkeit der Schiedsvereinbarung unberührt, auch § 139 BGB findet keine Anwendung (Schwab/Walter, Kap. 4 Rz. 16 ff.). Denkbar wäre zwar, den sonstigen Inhalt der Schiedsvereinbarung bestehen zu lassen, also beispielsweise die Vereinbarung eines Schiedsortes als Gerichtsstandsvereinbarung zu interpretieren. Bei einer Beteiligung von Verbrauchern wäre dies indes wegen § 38 Abs. 1 ZPO, wie erwähnt, nur begrenzt möglich. 78 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, 68. Aufl. 2010, § 1059 ZPO Rz. 6. 79 EuGH, Elisa Maria Mostaza Claro v. Centro Móvil Milenium SL, Urteil v. 26.10. 2006. 80 So im Ergebnis auch Münch in MünchKomm.BGB, § 1059 BGB Rz. 77.

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EGBGB, der für die Bestimmung des für die Beurteilung der Wirksamkeit maßgeblichen Rechts das Bestehen des Vertrages fingiert, hilft daher nur bedingt weiter. – Das auf die Schiedsvereinbarung anwendbare Recht ist aber auch nicht zwangsläufig das Vertragsrecht jener Rechtsordnung, nach deren Verfahrensrecht das Schiedsverfahren stattfinden soll. Im Ergebnis können daher bis zu drei verschiedene Rechtsordnungen Anwendung finden: – eine zur Beurteilung des Hauptvertrags, – eine zweite zur Beurteilung der Schiedsvereinbarung – und eine dritte zur Regelung des Schiedsverfahrens. Entsprechend ist für jeden Problemkreis das anzuwendende Recht gesondert zu bestimmen. Maßgeblich ist dabei zunächst die Rechtswahl der Parteien. Hinsichtlich des auf die Schiedsvereinbarung anzuwendenden Rechts ergibt sich dies unter anderem im Umkehrschluss aus § 1059 Abs. 2 Nr. 1a ZPO. Ohne eine solche Rechtswahl findet laut dieser Norm auf die Schiedsvereinbarung deutsches Recht Anwendung. Folglich führt mangels einer Rechtswahlklausel für die Schiedsvereinbarung die Vereinbarung eines Schiedsortes in Deutschland zur Anwendung deutschen Vertragsrechts auf die Schiedsvereinbarung (aber nicht zwingend zur Anwendung deutschen Vertragsrechts auf den Hauptvertrag). Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob die Rechtswahl der Parteien auch dann Priorität hat, wenn eine der Parteien Verbraucher ist. Dies könnte man bei der Anwendung von Art. 29 EGBGB verneinen. Zwar gibt es in Deutschland kein Rechtswahlverbot für Verbraucher (mehr)81. Laut Art. 29 EGBGB aber finden unabhängig von der Rechtswahl zwingende Normen des Verbraucherschutzes Anwendung. Es stellt sich daher die Frage, ob Art. 29 EGBGB auch für Schiedsvereinbarungen gilt und damit AGB-Schiedsklauseln in Verbraucherverträgen unabhängig von der Rechtswahl der Kontrolle durch deutsches AGB-Recht unterwirft82. Dies dürfte nicht der Fall sein. Art. 29 EGBGB bezieht sich auf den Hauptvertrag und die mit ihm verbundenen Finanzierungsgeschäfte. Vereinbarungen hinsichtlich der Streitbeilegung werden nicht genannt. Dies lässt sich mit der Entstehungsgeschichte erklären: Art. 29 EGBGB dient der Umsetzung des Art. 5 Abs. 2 des europäischen Übereinkommens über vertragliche Schuldverhältnisse (EVÜ), und Art. 1 Abs. 2d EVÜ sieht ausdrücklich vor, dass das Übereinkommen auf Schieds- und Gerichtsstandsvereinbarungen nicht anwendbar sein soll83. Aus demselben Grund scheidet eine Anwendung deutschen AGB-Rechts über Art. 34 EGBGB aus.

__________ 81 Martiny in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2006, Art. 29 EGBGB Rz. 54. 82 Hiervon zu trennen ist die Frage, inwieweit Art. 29 EGBGB auf Klauseln zur Rechtswahl hinsichtlich des Hauptvertrags Anwendung findet; dazu s. unten. 83 Dazu s. den Bericht von Giuliano/Lagarde, BT-Drucks. 10/503, S. 43–44.

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Mithin steht es den Parteien frei, für die Schiedsvereinbarung ein anderes Recht als das deutsche für maßgeblich zu erklären, und zwar selbst wenn – der Schiedsort in Deutschland liegt und – eine der Parteien Verbraucher ist. Die folgenden Ausführungen zur Überprüfung von Schiedsvereinbarungen auf ihre Vereinbarkeit mit deutschem Recht gelten daher nur für Fälle, in denen die Parteien keine derartige Rechtswahl getroffen haben. 3. Allgemeine Unwirksamkeitsgründe Unabhängig davon, ob Schiedsvereinbarungen als Prozessverträge, als materiell-rechtliche Verträge oder als Mischform einzustufen sind84, gilt für sie grundsätzlich die Rechtsgeschäftslehre des BGB85, einschließlich der Unwirksamkeitsgründe. Eine Schiedsvereinbarung ist daher nichtig, wenn eine der Parteien geschäftsunfähig war (§ 105 BGB) oder die Vereinbarung wirksam angefochten wurde (§ 142 BGB). Hingegen bestehen keine grundlegenden Zweifel bezüglich der Sittenmäßigkeit von Schiedsvereinbarungen, wie dargestellt auch nicht unter der Berücksichtigung der spezifischen Ungleichgewichtslage bei Verbraucherverträgen, sodass die Anwendung von § 138 BGB nicht näher liegt als bei einem beliebigen anderen Vertrag: Da eine Schiedsvereinbarung grundsätzlich keine unangemessene Benachteiligung im Sinne des § 307 Abs. 1 BGB darstellt86, sind die strengeren Voraussetzungen des § 138 BGB87 erst recht nicht erfüllt. Andererseits gelten für Schiedsvereinbarungen Sonderregelungen – etwa der erwähnte § 37h WpHG –, die zur Unwirksamkeit einer Vereinbarung führen können. Zudem gelten bei Beteiligung von Verbrauchern gemäß § 1031 Abs. 5 ZPO besondere Formanforderungen: Die Schiedsvereinbarung muss in einer eigenständig unterzeichneten Urkunde enthalten sein, welche ihrerseits keine anderen Vereinbarungen enthalten darf als jene, die sich auf das Schiedsverfahren beziehen. Genügt die Schiedsvereinbarung diesem Formerfordernis nicht, ist sie gemäß § 125 BGB nichtig. Die hiermit verbundene Warnfunktion entkräftet Bedenken hinsichtlich der mit Schiedsverfahren stets verbundenen Besonderheiten und deren Vereinbarkeit mit dem Verbraucherschutz. Der beispielsweise vom „Consumer Due Process Protocol“ der US-amerikanischen AAA angestrebte Schutz wird daher insofern schon verwirklicht.

__________ 84 Übersicht über den Streitstand bei Schwab/Walter, Kap. 7 Rz. 37. 85 Münch in MünchKomm.ZPO, § 1029 ZPO Rz. 16. Vgl. auch Hanefeld/Wittinghofer, Schiedsklauseln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, SchiedsVZ 2005, 217 ff., 224. 86 S. unten V.4.c). Die Unwirksamkeit nach AGB-Recht stellt noch keinen Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot dar und bedingt somit auch nicht die Nichtigkeit; vgl. Kieninger in MünchKomm.BGB, vor §§ 305 ff. BGB Rz. 9. 87 Grüneberg in Palandt, 68. Aufl. 2009, vor § 307 BGB Rz. 16.

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4. Schiedsvereinbarung als AGB Eine Schiedsvereinbarung kann nicht nur als Individualabrede, sondern auch im Rahmen von AGB vereinbart werden. Tatsächlich werden Schiedsvereinbarungen, insbesondere im Bereich der institutionellen Schiedsgerichtsbarkeit, oftmals vorformulierte Klauseln sein, welche von der jeweiligen Schiedsinstitution empfohlen wurden. Die Annahme von AGB liegt dann nahe88, denn für AGB ist es nicht erforderlich, dass der Verwender die Bedingungen selbst vorformuliert hat89. Dieses tendenziell weite Verständnis von AGB ist insofern für die Rechtsanwendung von Vorteil, als sich auf Grundlage der §§ 305 ff. BGB differenzierte Lösungen finden und, anders als grundsätzlich nach § 139 BGB, Verträge mit dem gültigen (Rest-)Inhalt aufrechterhalten lassen. a) Schiedsvereinbarung als überraschende Klausel – § 305c BGB Gemäß § 305c Abs. 1 BGB wird eine Schiedsklausel nicht Vertragsbestandteil, wenn sie überraschend ist. Dies wird zumindest im unternehmerischen Verkehr nur in Ausnahmefällen gegeben sein90. Anders mag es bei Verbraucherverträgen aussehen. Ob die tatsächliche Nutzung von Schiedsklauseln in Verbraucherverträgen einem Überraschungseffekt entgegensteht, kann hier dahingestellt sein91. Denn, wie erwähnt, ist die Einbeziehung von Schiedsklauseln in Verbraucherverträge gemäß § 1031 Abs. 5 ZPO an das Erfordernis einer eigenhändigen Unterzeichnung gebunden. Damit ist zwar immer noch eine Einbeziehung als AGB möglich92, denn auch eigenhändig unterzeichnete Urkunden können für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierte Bedingungen enthalten. Mit der Unterzeichnung ist aber eine gewisse Warnfunktion verbunden. Deshalb kann von einer überraschenden Klausel in der Regel nicht ausgegangen werden93. b) Eröffnung der Inhaltskontrolle – § 307 Abs. 3 BGB Für eine inhaltliche Kontrolle der Schiedsklausel auf Vereinbarkeit mit AGBRecht müssten zunächst die Voraussetzungen des § 307 Abs. 3 BGB vorliegen. Die Schiedsklausel müsste also eine von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelung sein. Daran könnte insofern gezweifelt werden, als die Möglichkeit, Schiedsverfahren statt staatlicher Verfahren durchzuführen,

__________ 88 So auch Wagner/Quinke, Ein Rechtsrahmen für die Verbraucherschiedsgerichtsbarkeit, JZ 2005, 932 ff., 934. 89 Basedow in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, § 305 BGB Rz. 14. 90 Hanefeld/Wittinghofer, Schiedsklauseln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, SchiedsVZ 2005, 217 ff., 222. 91 So Wagner/Quinke, Ein Rechtsrahmen für die Verbraucherschiedsgerichtsbarkeit, JZ 2005, 932 ff., 934. 92 Anders aber Wagner, Prozessverträge, Tübingen 1998, S. 135: „Im Rechtsverkehr mit dem Verbraucher wird die formularmäßige Vereinbarung einer Schiedsklausel seit jeher praktisch unmöglich gemacht“. 93 BGH, NJW 2005, 1125 ff., 1126.

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im Gesetz ja ausdrücklich vorgesehen ist – eben im 10. Buch der ZPO. Eine die Rechtsvorschriften ergänzende Regelung könnte aber auch in einer AGB zu sehen sein, die von der Erlaubnis einer gesetzlichen (Spezial-)Vorschrift Gebrauch macht, von der gesetzlichen Grundregel abzuweichen94. Gerade dies ist bei Schiedsvereinbarungen der Fall. Daher sieht die Rechtsprechung bei Schiedsklauseln in AGB die Inhaltskontrolle als eröffnet an95. Dagegen ist von der höchstrichterlichen Rechtsprechung noch nicht eindeutig geklärt worden, ob § 1031 Abs. 5 ZPO auch die Inhaltskontrolle nach §§ 307 ff. BGB ausschließt96. Dies dürfte zumindest in dieser Pauschalität zu verneinen sein. Denn der Gesetzgeber hat in § 309 Nr. 11 und 12 BGB ausschließlich bestimmte Klauseln vom eigentlich geltenden Verbot freigestellt, sofern eine separate Unterzeichnung vorliegt. Im Umkehrschluss ist eine Unterzeichnung wie nach § 1031 Abs. 5 ZPO für alle übrigen Klauselverbote unerheblich. Sie ist allerdings bei der Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 und 2 BGB zu berücksichtigen. Dafür liefert § 310 Abs. 3 Nr. 3 BGB den erforderlichen Anknüpfungspunkt, denn die Norm gilt nach herrschender Meinung auch für Umstände, welche die Unwirksamkeitskontrolle zu Lasten des Verbrauchers beeinflussen können97. Es ist daher anhand des Einzelfalls zu beurteilen, inwieweit die Unterzeichnung zur Angemessenheit der Schiedsklausel beiträgt98. Darüber hinaus dürfte § 1031 Abs. 5 ZPO dazu führen, dass die Einbeziehung der AGB-Schiedsklausel nicht an § 305 Abs. 2 Nr. 1 BGB scheitert. c) Mit Grundgedanke der disponierten Regelung nicht vereinbar – § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB Damit bleibt die Frage, ob die Verwendung einer Schiedsklausel in AGB eine unangemessene Benachteiligung entgegen den Geboten von Treu und Glauben gemäß § 307 BGB darstellt. aa) Von welchen Regelungen wird abgewichen? Beachtlich ist dabei das Regelbeispiel aus § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB. Die gesetzliche Regelung, von der abgewichen werden kann, ist zunächst das 10. Buch der ZPO99. Darüber hinaus kann § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB einen Vergleich mit dem staatlichen Verfahren gebieten, wenn die Vereinbarung des Schiedsverfahrens (und nicht nur seine Ausgestaltung) durch AGB erfolgt. In diesem Fall ist die gesetzliche Regelung, von der durch AGB abgewichen wird, das staatliche Verfahren. Von dessen Grundgedanken darf die Schiedsvereinbarung daher ebenfalls nicht abweichen, andernfalls ist sie unwirksam.

__________

94 Kieninger in MünchKomm.BGB, § 307 BGB Rz. 10; ebenso Hau in Wolf/Lindacher/ Pfeiffer, 5. Aufl. 2009, S. 1764. 95 Exemplarisch BGH, BB 1992, 229 ff.; OLG Düsseldorf, NJW 1996, 400 ff. 96 Bewusst offengelassen in BGH, SchiedsVZ 2007, 163 ff. 97 OLG Frankfurt, NJW-RR 2001, 780 ff.; Kieninger in MünchKomm.BGB, § 310 BGB Rz. 75 m. w. N.; Grüneberg in Palandt, § 310 BGB Rz. 21 m. w. N. 98 Ähnlich Kieninger in MünchKomm.BGB, § 307 BGB Rz. 286. 99 Hau in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, S. 1769.

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Dies wirkt sich vor allem dann aus, wenn der Schiedsspruch aufgehoben werden soll (siehe oben). Wäre die Schiedsklausel individualvertraglich vereinbart, so würde eine Abweichung von der gesetzlichen Regelung (oder der Parteivereinbarung) zur Aufhebbarkeit führen, wenn die Abweichung sich auf den Schiedsspruch ausgewirkt hätte (§ 1059 Abs. 2 Nr. 1d ZPO). Hingegen könnte bei einer Schiedsklausel in AGB, unabhängig von den Auswirkungen auf den Schiedsspruch, eine Abweichung vom Grundgedanken der Regelung zur Unwirksamkeit und damit zur Aufhebbarkeit nach § 1059 Abs. 2 Nr. 1a ZPO führen. Die zivilprozessrechtlichen Regelungen, die im Rahmen des § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB heranzuziehen sind, sind die der ZPO, wenn ein deutscher Verbraucher beteiligt ist. Denn soweit ein deutscher Verbraucher in einem (hypothetischen) Verfahren Beklagter wäre, wäre zumindest ein europäischer Unternehmer auf die deutschen Gerichte verwiesen (Art. 16 Abs. 2 EuGVVO). Und ein klagewilliger deutscher Verbraucher könnte zumindest gegen einen europäischen Unternehmer vor deutschen Gerichten Klage einreichen (Art. 16 Abs. 1 EuGVVO). bb) Schiedsvereinbarung an sich als wesentliche Abweichung In der Schiedsvereinbarung an sich, also dem Ob, ist eine solche Abweichung allerdings nicht zu sehen. Zwar sollen nach einer in der Literatur vertretenen Ansicht Schiedsklauseln in AGB nur zulässig sein, wenn auf Seiten des Verwenders anerkennenswerte Gründe vorliegen würden (die im Verkehr mit Verbrauchern in der Regel nicht gegeben seien). Denn Schiedsvereinbarungen würden den Zugang zu den staatlichen Gerichten ausschließen und deshalb den Rechtsschutz beschränken100. Diese Folgerung erscheint aus zwei Gründen zweifelhaft. Zum einen müssen auch Schiedsverfahren rechtsstaatlichen Anforderungen genügen – etwa der Gewährung rechtlichen Gehörs, dessen Verweigerung durch das Schiedsgericht einen Aufhebungsgrund darstellt (§ 1059 Abs. 2 Nr. 1b ZPO). Dem Rechtsschutzbedürfnis ist daher Genüge getan. Zum zweiten lässt sich, wie gezeigt, eine Beschränkung des Rechtsschutzes ohne Ansehen des im Einzelfall vereinbarten Schiedsverfahrens nicht konstatieren. Vereinbaren die Parteien beispielsweise, das Schiedsverfahren gemäß den Verfahrensregeln der ZPO durchzuführen, kann kaum von einer „Beschränkung“ die Rede sein. Der Wegfall des Instanzenzugs allein wird keine „Beschränkung“ darstellen, wenn (im Idealfall) das Verfahren von sachkundigen Schiedsrichtern abgewickelt wird101. Und selbst ohne eine solche Vereinbarung kann das Schiedsgericht auf

__________ 100 Roloff in Erman, 12. Aufl. 2008, § 307 BGB Rz. 155; s. auch die Literaturhinweise bei Hau in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, S. 1766 Fn. 6. 101 Darauf, dass die Kompetenz von Schiedsrichtern nicht als selbstverständlich angenommen werden kann, weist indes von Westphalen hin – „Abgrundtiefes Misstrauen gegen die Justiz“, ZIP 1995, 175.

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die in der ZPO statuierten Regeln zurückgreifen, und zwar auf dem Wege der Auslegung der Schiedsvereinbarung102. Es ist daher dem BGH vorbehaltlos zuzustimmen, dass „ein besonderes Bedürfnis für die Einsetzung eines Schiedsgerichts seitens des Verwenders nicht vorliegen“ muss. Deshalb stellt eine „in Allgemeinen Geschäftsbedingungen niedergelegte Schiedsvereinbarung (…) als solche keine unangemessene Benachteiligung (…) des Vertragspartners dar“103. Eine Unwirksamkeit nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB kann daher nur aus der Ausgestaltung des Schiedsverfahrens folgen. Begünstigen solche Abweichungen den Verwender bereits formell – etwa ein einseitiger antizipierter Beweismittelverzicht des Verbrauchers oder eine einseitige Begrenzung der Anzahl der Schriftsätze – muss indes nicht die AGBrechtliche Inhaltskontrolle bemüht werden. Denn eine derartige Preisgabe der Waffengleichheit im Prozess und/oder des Rechts auf rechtliches Gehör steht, wie erwähnt, gemäß § 1042 Abs. 1 ZPO nicht zur Disposition der Parteien104. d) Sonstige Inhaltskontrolle – §§ 309, 308, 307 Abs. 1 BGB Der Anwendungsbereich der Inhaltskontrolle beschränkt sich mithin auf Fälle, in denen Regelungen zu einer faktischen Besserstellung des Verwenders führen, indem sie etwa dem Verbraucher das Verfahren erschweren oder unattraktiv erscheinen lassen. Insbesondere folgende Ausgestaltungen sind von Interesse: Anwaltszwang: Bei allen Vorzügen anwaltlicher Beratung ist nicht von der Hand zu weisen, dass ein Anwaltszwang im Verfahren insgesamt die Kostenlast erhöht. Für die Parteien stellt sich dies vorrangig als Kostenrisiko dar: Die unterlegene Partei trägt das Risiko, auch mit den Anwaltskosten der Gegenpartei belastet zu werden, jedenfalls soweit diese von dem prozessrechtlichen Kostenerstattungsanspruch aus § 91 ZPO abgedeckt sind105. Dieses Risiko ist im Einzelnen abhängig von den Erfolgsaussichten der Sache der jeweiligen Partei. Das Kostenrisiko führt möglicherweise zu einer subjektiven Zurückhaltung, es auf einen Prozess ankommen zu lassen. Diese Sorge dürfte umso geringer sein, je besser die Vermögensverhältnisse der jeweiligen Partei sind. Nun wird man indes nicht pauschal formulieren können, dass die Vermögensverhältnisse von Unternehmern generell besser sind als jene von Verbrauchern; auch die typisierende Betrachtung dürfte hier an ihre Grenzen stoßen. Überdies finden

__________ 102 Schiedsgericht Handelskammer Hamburg, NJW 1997, 613 ff. 103 BGH, MittBayNot 2007, 312 ff., 313. 104 Auch soweit die Parteien disponieren können, müssen Abweichungen für beide gleichermaßen gelten: So schon Wagner, Prozessverträge, Tübingen 1998, S. 154. 105 Die Pflicht der unterlegenen Partei zur Erstattung von Anwaltskosten beschränkt sich auf erforderliche Kosten. Nicht als erforderlich angesehen werden insbesondere Anwaltshonorare, soweit sie über die im RVG statuierten Sätze hinausgehen; dazu Giebel in MünchKomm.ZPO, § 91 ZPO Rz. 49.

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die konkreten Vermögensverhältnisse des AGB-Verwenders und seines Vertragspartners bei der Interessenabwägung im Rahmen einer AGB-Kontrolle keine Berücksichtigung106. Das Kostenrisiko führt daher nicht etwa zu einer einseitigen Benachteiligung des Klägers, denn auch der Beklagte wird ihm im Anwaltsprozess ausgesetzt. Das Kostenrisiko könnte aber die Bereitschaft reduzieren, eine Klage einzureichen. Statistische Erhebungen der EU-Kommission haben ergeben, dass das Kostenrisiko ein bedeutender Grund ist, auf gerichtlichen Rechtsschutz zu verzichten107. Auch dies trifft zwar grundsätzlich beide Vertragsparteien und scheint daher auf den ersten Blick nicht verbraucherfeindlich. Indes wird die (potentiell vom Unternehmer einzuklagende) Leistung des Verbrauchers regelmäßig in einer bloßen Zahlungspflicht bestehen. Insofern kann sich der Unternehmer schon bei Vertragsschluss absichern, indem er eine Vorleistungspflicht aushandelt. Dieser Weg steht Verbrauchern beispielsweise bei Kaufverträgen nicht offen, denn der Leistungs-(=Sach-)mangel, der die einzuklagenden Gewährleistungsrechte auslöst, mag sich erst einige Zeit nach der Leistungsabwicklung zeigen. Es ist daher möglich, dass Klagehindernisse grundsätzlich eher dem Unternehmer zugute kommen als dem Verbraucher. Folglich kann eine Klausel unwirksam sein, die auch für Verfahren mit geringem Streitwert Anwaltszwang vorsieht. Hingegen ist eine Klausel, die hinsichtlich des Anwaltszwangs die Konzeption des § 23 GVG i. V. m. § 78 ZPO übernimmt, schon gemäß § 307 Abs. 3 BGB unbedenklich. Berechtigung zum Schiedsverfahren: Hinsichtlich der Berechtigung, das Schiedsverfahren einzuleiten, ist eine formelle Gleichstellung der Parteien nicht erforderlich. Es stellt daher an sich noch keine unangemessene Benachteiligung dar, wenn die Schiedsklausel nur einer Partei ein Wahlrecht zugesteht (wie beispielsweise gemäß der gesetzlichen Regelung für Wertpapierhandel in den USA)108. Teilweise lässt sich dies bereits aus dem Postulat einer Gleichwertigkeit von staatlichem Gerichts- und Schiedsverfahren herleiten: Ein einseitiges Wahlrecht kann keine Benachteiligung darstellen, wenn keine der zur Wahl stehenden Optionen die Gegenpartei benachteiligt. Kostenerstattung: Entsprechend lässt sich im Zusammenhang mit Klauseln argumentieren, welche die Kostenerstattung abweichend von § 91 Abs. 1 ZPO regeln, also beispielsweise jede Partei unabhängig vom Verfahrensausgang die eigenen Kosten tragen lassen. Derartige Klauseln reduzieren das Kostenrisiko, erhöhen aber die Fixkosten. Sie können auf potentielle Kläger abschreckend wirken und damit den Zugang zum Rechtsschutz beschränken. Insbesondere haben derartige Klauseln zur Folge, dass Klagen, deren Streitwert unterhalb der Kosten liegt, wirtschaftlich sinnlos sind. Im US-amerikanischen System wird

__________ 106 Vgl. die Aufzählungen bei Kieninger in MünchKomm.BGB, § 307 BGB Rz. 33 ff.; Heinrichs in Palandt, § 307 BGB Rz. 8. 107 Exemplarisch die Studie „Evaluation of the effectiveness and efficiency of collective redress mechanisms in the European Union“ der EG-Kommission, dort u. a. S. 47. 108 BGH, NJW 1992, 575 ff., 576.

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dies durch die Möglichkeit kompensiert, Erfolgshonorare zu vereinbaren, wodurch die unterliegende Partei zumindest nicht mit den Anwaltskosten belastet wird. Nach deutschem Recht sind derartige Vereinbarungen allerdings gemäß § 4a RVG, § 49b Abs. 2 BRAO grundsätzlich unzulässig. Aus der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lässt sich nichts Gegenteiliges herleiten. Denn soweit das Gericht das Fehlen von Ausnahmetatbeständen bemängelt, bezieht es sich auf Fälle, in denen dem Einzelnen der Rechtsschutz aufgrund seiner wirtschaftlichen Lage verwehrt wird109. Eine Zulassung von Erfolgshonoraren für Fälle, in denen die Rechtsverfolgungskosten den Streitwert übersteigen würden, fordert das Gericht nicht. Man wird daher von § 91 ZPO abweichende Regelungen zur Kostenerstattung als unangemessen und unwirksam einzustufen haben. Kostenhöhe: Wiederum Entsprechendes gilt hinsichtlich der Kostenhöhe. Diese ist in den USA einer der Hauptkritikpunkte an Schiedsvereinbarungen in Verbraucherverträgen110. Generell sind Verfahrensgestaltungen, welche die Kosten über das erforderliche Maß erhöhen, kritisch zu betrachten, wie es auch die AAA in ihrem „Consumer Due Process Protocol“ erkannt hat. Drei Beispiele seien hier genannt: – Zwar steht es den Parteien frei, die Vergütung der Schiedsrichter nach ihrem Ermessen zu regeln. Eine höhere Vergütung dürfte aber nur bis zu einer gewissen Grenze für ein Mehr an Qualität sorgen, und deshalb nur in gewissem Maße erforderlich sein. Als Vergleichsmaßstab bietet sich insofern das bereits erwähnte „Textmuster für eine Vereinbarung über die Vergütung der Schiedsrichter“ des DAV an. – Auch die Anzahl der Schiedsrichter kann von den Parteien vereinbart werden (§ 1034 ZPO). Es stellt sich aber die Frage, ob die Bestellung von mehr als einem Schiedsrichter erforderlich ist, zumal in einfachen Fragen des Gewährleistungsrechts. Das staatliche Verfahren als Vergleichsmaßstab für die Abweichung von der gesetzlichen Norm kommt regelmäßig mit einem Einzelrichter aus. Eine Klausel, welche drei Schiedsrichter vorsieht, ist allerdings noch nicht an sich bedenklich: Die Anzahl der Schiedsrichter ist insofern ein Sonderfall, als die gesetzliche Standardregelung für Schiedsverfahren selbst drei Schiedsrichter vorsieht (§ 1034 Abs. 1 ZPO). Allerdings wird eine besonders großzügige Kostenregelung mit steigender Anzahl der Schiedsrichter bedenklicher. – Eine genauere Betrachtung erfordern schließlich Klauseln, welche das Verfahren der Betreuung durch eine Schiedsinstitution unterwerfen. Derartige Institutionen haben häufig einen Sockelbetrag, den die Kosten unabhängig vom Streitwert nicht unterschreiten. In den USA zielt die Kritik hauptsächlich auf die Kosten institutioneller Schiedsgerichtsbarkeit111. Insbesondere

__________ 109 BVerfG, NJW 2007, 979 ff., 983 f. 110 Public Citizen (Fn. 35), S. 34 ff. 111 Public Citizen (Fn. 35), S. 34 ff.

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für absehbar geringwertige Streitigkeiten dürfte das Einschalten einer Schiedsinstitution nicht erforderlich sein112. Rechtswahl: Scharf zu trennen von der oben angesprochenen Wirksamkeit von Rechtswahlklauseln bezüglich der Schiedsvereinbarung ist die Wirksamkeit von Rechtswahlklauseln hinsichtlich des Hauptvertrags. Die Frage nach dem Verhältnis von Art. 27 ff. EGBGB und § 1051 ZPO ist als eines der „ungeklärten Probleme der Schiedsverfahrensrechts-Reform von 1997“ bezeichnet worden113 und ist in hohem Maße umstritten114. Dabei sprechen die besseren Argumente für eine unbeschränkte Rechtswahl. Entscheidend ist zwar nicht, dass eine Einschränkung der Wahlfreiheit mit dem Ziel unvereinbar sei, Deutschland als Schiedsort zu stärken und daher eine einfache und überschaubare Regelung zu treffen115. Eine solche Unvereinbarkeit führt lediglich dazu, dass zwischen Wahlfreiheit und Verbraucherschutz eine Abwägung zu treffen ist. Dies aber hat der Gesetzgeber mit § 1051 Abs. 1 ZPO getan: Nicht nur ist diese Norm neueren Datums als die Art. 27 ff. EGBGB. Sie statuiert auch, dass sich die Rechtswahl durchaus auf Kollisionsnormen beziehen kann (argumentum e contrario Satz 2), also beispielsweise die Vorschriften des EGBGB durch eine entsprechende Verweisung abbedungen werden können. Verfahrensort: Der Verfahrensort ist nicht mit dem Schiedsort identisch, sondern vielmehr der Ort, an dem die Verhandlung tatsächlich stattfindet. Da § 38 ZPO im Schiedsverfahren keine Anwendung findet, gilt auch nicht der Umkehrschluss, dass eine vom gesetzlichen Gerichtsstand abweichende Wahl des Verfahrensortes bei Beteiligung von Verbrauchern generell unzulässig wäre116. Andererseits unterliegen sogar Gerichtsstandsklauseln von Kaufleuten der AGB-Kontrolle nach §§ 305c, 307 BGB117. Nichts anderes kann daher für die Wahl des Verfahrensortes bei Beteiligung von Verbrauchern gelten. Eine Unwirksamkeit nach § 305c BGB kommt zwar, wie gezeigt, nur in Ausnahmefällen in Betracht. Die Wahl des Verfahrensortes ist indes unwirksam, wenn sie unangemessen ist, und zwar nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB oder nach § 307

__________ 112 So im Ergebnis auch LG Düsseldorf, NJW-RR 2008, 441 ff., das allerdings die Unwirksamkeit aufgrund des Überraschungseffekts einer derartigen Klausel über § 305c BGB erreicht. 113 Junker, Deutsche Schiedsgerichte und internationales Privatrecht (§ 1051 ZPO), in FS Sandrock zum 70. Geburtstag, S. 443 ff., 450. Dies darf indes nicht verwechselt werden mit der Frage, ob die Art. 27 ff. EGBGB auch im Rahmen des § 1051 Abs. 2 ZPO, also in Ermangelung einer Rechtswahl, Anwendung finden. 114 Für unbeschränkte Rechtswahl exemplarisch BT-Drucks. 13/5274, S. 52; vgl. auch Junker (Fn. 113), S. 456. Voit in Musielak, 7. Aufl. 2009, § 1051 ZPO Rz. 3 (mit umfangreichen weiteren Nachweisen). Dagegen aber Geimer in Zöller, § 1051 ZPO Rz. 3; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, § 1051 ZPO Rz. 2; Münch in MünchKomm.ZPO, § 1051 ZPO Rz. 16 ff. (mit umfangreichen weiteren Nachweisen). 115 Voit in Musielak, § 1051 ZPO Rz. 3. 116 Wie hier wohl Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Übersicht § 38 ZPO Rz. 2. 117 Patzina in MünchKomm.ZPO, 3. Aufl. 2008, § 38 ZPO Rz. 22.

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Abs. 1 BGB – beispielsweise wenn der designierte Verfahrensort die Anreise erheblich erschwert und somit ein Versäumnisurteil gegen den klagenden Verbraucher nach § 330 ZPO wahrscheinlicher wird. Auch dem Bestreben nach einer „reasonable convenient location“ für Verbraucherschiedsverfahren (wie etwa jenem der AAA) kann daher mittels der Inhaltskontrolle genügt werden. Verfahrenssprache: Auch bei der Verfahrenssprache wirkt sich das Formerfordernis gemäß § 1031 Abs. 5 ZPO aus, denn aufgrund der Warnfunktion dieser Norm dürfte auch eine „exotische“ Verfahrenssprache kaum als überraschend anzusehen sein. Eine entsprechende Klausel kann aber durchaus den Verbraucher unangemessen benachteiligen, selbst wenn „nur“ Englisch als Verfahrenssprache vereinbart wird. Während im Geschäftsverkehr die englische Sprache verbreitet ist und daher Unternehmer an ihre Benutzung gewohnt sein mögen, dürften Verbraucher tendenziell weniger in der Lage sein, einen ganzen Prozess auf Englisch zu führen. Damit erschwert die Wahl einer anderen Verfahrenssprache als Deutsch den Zugang zum Rechtsschutz. Auch wird man die Verbraucher nicht darauf verweisen können, dass sie auf anwaltliche Hilfe zurückgreifen können. Denn zum einen wird auch nicht jeder Anwalt zur Prozessführung auf Englisch fähig sein, zum anderen würde so ein quasi „faktischer“ Anwaltszwang geschaffen, welcher aus den genannten Gründen für geringwertige Verfahren unangemessen ist.

VI. Zusammenfassung Trotz in manchen Aspekten ähnlichen rechtlichen Voraussetzungen stellt sich die Lage hinsichtlich der Verbreitung von Schiedsklauseln in Ungleichgewichtslagen in Deutschland erheblich weniger gewichtig dar als in den USA. Das Schiedsverfahren mag vom Gesetzgeber als vollwertige Alternative zum Verfahren vor staatlichen Gerichten konzipiert sein, eine echte Konkurrenz ist es in den vorliegend interessierenden Fallgestaltungen in tatsächlicher Hinsicht (noch) nicht. Es kann dahingestellt bleiben, ob auf diese mangelnde Verbreitung zurückzuführen ist, dass sich die Rechtsprechung bislang auch kaum mit dem Missbrauch von Schiedsklauseln befassen musste, also dem Ausnutzen der Ungleichgewichtslage zur Verschlechterung des Rechtsschutzes. Nutzt die „strukturell stärkere“ Partei die Vertragsfreiheit zur Benachteiligung der Gegenseite aus, so muss selbstverständlich im Sinne des Verbraucherschutzes gegengesteuert werden. Es stehen aber ausreichend Rechtsbehelfe zur Verfügung, um im Einzelfall Verbraucherinteressen vor unangemessener Benachteiligung durch Schiedsvereinbarungen zu schützen. Reformbestrebungen wie in den USA, wo das Pendel derzeit umso stärker in die andere Richtung, nämlich bis hin zu Vorschlägen eines vollständigen Verbots von Schiedsvereinbarungen in Verbraucherverträgen ausschlägt, sind daher unnötig. Soweit deutsches Recht Anwendung findet, sind Verbraucher hinreichend geschützt. Missstände, wie sie derzeit in den USA kritisiert werden, lassen sich durch entsprechende Vertragsgestaltung verhindern und auf der 107

Christian Duve / Maximilian Sattler

Grundlage geltenden Rechts bekämpfen. Dies ist einem pauschalen Verbot allemal vorzuziehen. Denn Schiedsverfahren können durchaus Vorteile mit sich bringen, auch für üblicherweise „strukturell schwächere“ Parteien. Gegenüber den schematisierten Rechtsbehelfen der staatlichen Gerichtsbarkeit bleibt den Parteien großer Spielraum bei der Ausgestaltung des Verfahrens. Und in Zeiten chronisch überlasteter Gerichte kommt eine überschaubare Verfahrensdauer gerade Verbrauchern zugute, die beispielsweise Gewährleistungsrechte durchsetzen wollen.

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Siegfried H. Elsing*

Zur Auslegung von Schiedsvereinbarungen Inhaltsübersicht I. Einführung II. Das für die Auslegung von Schiedsklauseln maßgebliche Recht 1. Das Autonomieprinzip 2. Schiedsverfahren mit Sitz in Deutschland a) Art. 27 ff. EGBGB oder Sonderkollisionsrecht? b) Primäres Anknüpfungskriterium: Der Parteiwille aa) Ausdrückliche Rechtswahl bb) Stillschweigende Rechtswahl c) Sekundäres Anknüpfungskriterium: deutsches Recht

III. Die Auslegung von Schiedsklauseln nach deutschem Recht 1. Das Prinzip der weiten Auslegung 2. Ausgewählte Fragestellungen a) Enge und weite Schiedsklauseln b) Ansprüche wegen Unterkapitalisierung und Insolvenzverursachung c) Markenrechtlicher Unterlassungsanspruch bei nichtigem Lizenzvertrag IV. Ausblick

I. Einführung In der Praxis der Schiedsgerichtsbarkeit – in der sich ja auch der Jubilar als Schiedsrichter und Parteivertreter verdient gemacht hat – kommt es immer wieder zu Zweifelsfragen im Zusammenhang mit der Auslegung von Schiedsvereinbarungen. Solche Fragen betreffen üblicherweise die gegenständliche Reichweite der Schiedsvereinbarung, also die Bestimmung der von ihr erfassten Ansprüche oder Rechtsverhältnisse. Durch Auslegung der Schiedsvereinbarung kann aber etwa auch zu ermitteln sein, ob sich die Parteien auf die Durchführung eines Mehrparteienschiedsverfahrens geeinigt haben1. Derartige Auslegungsprobleme können sich in jedem Verfahrensstadium stellen, d. h. nicht nur dem Einrederichter (§ 1032 ZPO) oder dem Schiedsrichter (§ 1040 ZPO), sondern auch dem Aufhebungsrichter (§ 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. a und lit. c ZPO) und dem Anerkennungsrichter (§ 1061 ZPO), wenn jeweils über das Bestehen und die Gültigkeit der Schiedsvereinbarung zu entscheiden ist. Nicht zuletzt sind auch die Schiedsparteien (und ihre Anwälte) betroffen, wenn zu bestimmen ist, ob Klage vor dem Schiedsgericht oder dem staatlichen Gericht oder – aus anwaltlicher Vorsicht – gar vor beiden zu erheben ist.

__________ * Der Autor dankt Rechtsanwalt Dr. Nicholas Kessler für seine wertvolle Unterstützung bei der Vorbereitung dieses Beitrags. 1 OLG Frankfurt, SchiedsVZ 2006, 219, 222; Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit, 7. Aufl. 2005, Kap. 10 Rz. 15.

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Vielfach beruhen solche Schwierigkeiten auf einem mangelnden Problembewusstsein. Es werden Standardklauseln verwendet, ohne auf die Besonderheiten und die Interessenlagen des konkreten Falles Rücksicht zu nehmen. Außerdem widmen die Parteien Schiedsklauseln oft nur geringe Aufmerksamkeit, sei es aufgrund zu großer Erschöpfung am Ende eines mühsamen Verhandlungsmarathons oder aufgrund einer verständlichen Aversion, sich bereits vor Vertragsschluss mit künftigen Streitigkeiten auseinanderzusetzen. Dies in Zukunft zu vermeiden, ist das Anliegen dieses Beitrages.

II. Das für die Auslegung von Schiedsklauseln maßgebliche Recht Die mit der Auslegung von Schiedsvereinbarungen in der Sache verbundenen Schwierigkeiten (dazu III.) werden in Schiedsverfahren mit Auslandsbezug zusätzlich dadurch verstärkt, dass in einem ersten Schritt zu klären ist, nach welchem nationalen Recht die Auslegung zu erfolgen hat. Diese Vorfrage ist oft von sehr weit reichender, nicht selten gar von Streit entscheidender Bedeutung. Denn die Unterschiede zwischen den nationalen Rechtsordnungen sind groß. So wird etwa auf internationaler Ebene und namentlich im angloamerikanischen Rechtskreis der Unterscheidung zwischen der Formulierung „Streitigkeiten im Zusammenhang mit diesem Vertrag“ und „Streitigkeiten aus diesem Vertrag“ weitaus größere Bedeutung für die gegenständliche Reichweite einer Schiedsklausel beigemessen als in Deutschland (dazu III. 2. a)2. 1. Das Autonomieprinzip Dass die Schiedsvereinbarung überhaupt einem eigenen, möglicherweise vom Hauptvertrag verschiedenen Recht unterliegen kann, ist Folge der Erkenntnis, dass es sich um eine vom Hauptvertrag zu trennende Vereinbarung handelt, deren rechtliches Schicksal grundsätzlich von dem des Hauptvertrages unabhängig und getrennt zu beurteilen ist. Dieses sog. Autonomieprinzip wurde in Deutschland nach anfänglicher Ablehnung durch das Reichsgericht3 erst 1970 vom Bundesgerichtshof4 höchstrichterlich anerkannt. Es ist im deutschen Schiedsverfahrensrecht mittlerweile in § 1040 Abs. 1 Satz 2 ZPO verankert und unter der Bezeichnung „doctrine of separability“ auch international allgemein akzeptiert5. Für eine Schiedsabrede, also eine selbständig neben den Hauptvertrag tretende Schiedsvereinbarung (vgl. § 1029 Abs. 2 Alt. 1 ZPO), leuchtet die rechtliche Unabhängigkeit vom Hauptvertrag auch ohne Weiteres ein, namentlich wenn

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2 Lachmann, Handbuch für die Schiedsgerichtspraxis, 3. Aufl. 2008, Rz. 474; Lew/ Mistelis/Kröll, Comparative International Commercial Arbitration, 2003, Rz. 7-63 ff.; Born, International Commercial Arbitration, 2009, S. 1097. 3 RG, JW 1935, 2617, 2617. 4 BGH, BGHZ 53, 315, 322. 5 Lew/Mistelis/Kröll (Fn. 2), S. 104. Vgl. etwa auch Art. 16 Abs. 1 UNCITRAL-Modellgesetz, Art. 21 Abs. 2 der UNCITRAL-SchO, Art. 6 Abs. 4 ICC-SchO, Art. 178 Abs. 3 des Schweizer IPRG.

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sie mit einem gewissen zeitlichem Abstand zu diesem geschlossen wird. Ist die Schiedsvereinbarung dagegen wie in der absolut überwiegenden Zahl der Fälle als bloße Schiedsklausel (vgl. § 1029 Abs. 2 Alt. 2 ZPO) ausgestaltet und damit lediglich eine Bestimmung unter vielen innerhalb eines einheitlichen Hauptvertrages, so bedarf diese Annahme einer besonderen Begründung. Eine solche liegt zum einen darin, dass der Willen der Parteien, ihre Streitigkeiten aus dem Hauptvertrag durch ein Schiedsgericht entscheiden zu lassen, ohne eine solche rechtliche Trennung vom Hauptvertrag allzu leicht durch eine Berufung auf dessen Unwirksamkeit umgangen werden könnte6. Dies wird anschaulich durch die oben erwähnte Entscheidung des Reichsgerichts illustriert, das die Einrede der Schiedsvereinbarung gegen die auf die Nichtigkeit des Vertrages wegen arglistiger Täuschung gestützte Klage mit dem bloßen Argument zurückwies, die Schiedsvereinbarung umfasse nur Streitigkeiten „aus“ dem Vertrag und setze somit dessen Bestehen voraus7. Zum anderen dürfte der Willen der Parteien bei verständiger Würdigung regelmäßig darauf zielen, dass die übliche Formulierung „Streitigkeiten aus dem Vertrag“ gerade auch einen Disput über dessen Wirksamkeit umfassen soll. Schließlich macht auch die Anwendung des § 139 BGB auf die Schiedsvereinbarung keinen Sinn, weil diese stets nicht ohne den Hauptvertrag geschlossen worden wäre8. Auf Grundlage des Autonomieprinzips kann kollisionsrechtlich zwischen dem auf den Hauptvertrag (Statut des Streitgegenstandes), dem auf das Schiedsverfahren (Schiedsverfahrensstatut) sowie dem auf die Schiedsvereinbarung (Schiedsvereinbarungsstatut) anzuwendenden Recht unterschieden werden. 2. Schiedsverfahren mit Sitz in Deutschland Im Unterschied etwa zu den USA9 unterliegt in einem Schiedsverfahren mit Sitz in Deutschland die Auslegung der Schiedsvereinbarung dem auf diese anwendbaren Recht, also dem Schiedsvereinbarungsstatut10. Nach diesem richtet sich ebenfalls das Zustandekommen und Bestehen sowie die Gültigkeit einer Schiedsvereinbarung11.

__________ 6 Lew/Mistelis/Kröll (Fn. 2), S. 101; Yves Derains/Eric Schwarz, A Guide to the ICC Rules of Arbitration, 2. Aufl. 2005, S. 110; s. auch BGH, BGHZ 53, 315, 322. 7 RG, JW 1935, 2617, 2617. 8 BGH, BGHZ 53, 315, 318; Saenger in Saenger, 2. Aufl. 2007, § 1029 ZPO Rz. 3; Schwab, KTS 1961, 17, 20; a. A. wohl BGH, NJW 1977, 1397, 1397. 9 Born (Fn. 2), S. 1083 m. N. Hier wird auf ein „federal substantive law of arbitrability, applicable to any arbitration agreement within the coverage of the Act“ als die lex fori abgestellt. 10 Aden, Internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit, 2. Aufl. 2003, Kap. 4, Rz. 11; Geimer in Zöller, 27. Aufl. 2009, § 1029 ZPO Rz. 108; OLG Düsseldorf, RIW 1996, 239, 239; Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 6. Aufl. 2009, Rz. 3791; BTDrucks. 13/5274, S. 43, rechte Spalte, letzter Absatz; vgl. Wagner in Weigand, Practitioner’s Handbook on International Arbitration, 2002, Part 4 Rz. 43; vgl. auch Art. 32 Abs. 1 Nr. 1 EGBGB. 11 S. Koussoulis in FS Peter Schlosser, 2005, S. 415, 415; Schlosser, Recht der Internationalen Schiedsgerichtsbarkeit, 2. Aufl. 1989, Rz. 420.

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Allerdings existiert im deutschen Schiedsverfahrensrecht keine einheitliche (jedenfalls ausdrückliche) Regelung über das Schiedsvereinbarungsstatut12. Die Kompetenz-Kompetenz des Schiedsgerichts bezieht sich nach § 1040 ZPO zwar ausdrücklich auch auf das „Bestehen und die Gültigkeit der Schiedsvereinbarung“13, doch schweigt die Regelung dazu, nach welchem Recht diese zu beurteilen sind. Dasselbe gilt für staatliche Gerichte bei der Entscheidung gemäß § 1032 ZPO, wenn nicht ausnahmsweise Art. VI Abs. 2 des Europäischen Übereinkommens über die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit von 1961 (EuÜbkIntSch) eingreift14. Nach dieser Regelung ist das Bestehen und die Gültigkeit der Schiedsvereinbarung durch die staatlichen Gerichte primär nach dem gewählten Recht, subsidiär nach dem Recht des Staates, in dem der Schiedsspruch ergehen soll, und schließlich nach dem Kollisionsrecht des angerufenen Gerichts zu beurteilen15. Demgegenüber ist in den Vorschriften über die Aufhebung (§ 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. a ZPO) und Vollstreckung (§ 1060 Abs. 2 Satz 1 ZPO) inländischer Schiedssprüche zwar bestimmt, dass ein Schiedsspruch aufgehoben bzw. seine Vollstreckbarerklärung abgelehnt werden kann, wenn „die Schiedsvereinbarung nach dem Recht, dem die Parteien sie unterstellt haben, oder, falls die Parteien hierüber nichts bestimmt haben, nach deutschem Recht ungültig ist“. Eine parallele Regelung stellt § 1061 ZPO über die Verweisung auf Art. V Abs. 1 lit. a der New Yorker Konvention auch für die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche auf16. Doch richten sich die §§ 1059, 1060, 1061 ZPO ausschließlich an den Exequatur- bzw. Aufhebungsrichter und haben damit einen eng begrenzten Anwendungsbereich. a) Art. 27 ff. EGBGB oder Sonderkollisionsrecht? Angesichts dieses Befundes nimmt es nicht wunder, dass die Bestimmung des auf die Schiedsvereinbarung anwendbaren Rechtes in den von §§ 1059, 1060, 1061 ZPO nicht erfassten Situationen, insbesondere also durch den Einrederichter (§ 1032 ZPO) und den Schiedsrichter (§ 1040 ZPO), streitig ist.

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12 Anders dagegen Art. 178 Abs. 2 des Schweizer IPRG: „Die Schiedsvereinbarung ist im Übrigen gültig, wenn sie dem von den Parteien gewählten, dem auf die Streitsache, insbesondere dem auf den Hauptvertrag anwendbaren oder dem schweizerischen Recht entspricht“. 13 Unter diesen Begriff fällt auch die Bestimmung der sachlichen Reichweite einer Schiedsklausel, vgl. OLG Frankfurt, NJW 1986, 2202, 2203 (zu Art. VI des Europäischen Übereinkommens über die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit von 1961). 14 Voraussetzung ist, dass die Vertragsparteien ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder Sitz bei Vertragsschluss in verschiedenen Vertragsstaaten haben und dass es sich um eine Streitigkeit aus einem internationalen Handelsgeschäft handelt. 15 S. etwa OLG Hamburg, RIW 1996, 510, 510; OLG Frankfurt, NJW 1986, 2202, 2203. 16 Die Anerkennung und Vollstreckung kann demnach versagt werden, wenn die Schiedsvereinbarung „nach dem Recht, dem die Parteien sie unterstellt haben, oder, falls die Parteien hierüber nichts bestimmt haben, nach dem Recht des Landes, in dem der Schiedsspruch ergangen ist, ungültig ist“. Dabei ist landläufig anerkannt, dass ein Schiedsspruch in dem Land ergeht, in dem der Ort des Schiedsgerichtes liegt (etwa Schlosser in Stein/Jonas, Anhang § 1061 ZPO Rz. 78).

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Zur Auslegung von Schiedsvereinbarungen

Nach der wohl als herrschend zu bezeichnenden Literaturansicht bestimmt sich das Schiedsvereinbarungsstatut losgelöst von den Regeln des deutschen internationalen Privatrechts (Art. 27 ff. EGBGB – zukünftig Art. 3 ff. Rom I-VO) primär nach der von den Parteien getroffenen Rechtswahl. Fehlt es an einer ausdrücklichen oder stillschweigenden Bestimmung, so soll subsidiär das Sachrecht des Schiedsortes zur Anwendung kommen, mithin deutsches Recht17. Die Gegenauffassung stellt auf die Kollisionsregeln der Art. 27 ff. EGBGB ab, nach denen es zwar ebenfalls in erster Linie auf das von den Parteien ausdrücklich oder stillschweigend gewählte Recht ankommt (Art. 27 EGBGB), subsidiär aber auf diejenige Rechtsordnung, zu der die Schiedsvereinbarung die engsten Beziehungen aufweist (Art. 28 EGBGB)18. Dabei soll sowohl an das Recht des Hauptvertrages als auch an den Sitz des Schiedsgerichts, an das gewählte Verfahrensrecht oder an diejenige Rechtsordnung angeknüpft werden können, in der die Schiedsrichter (insbesondere der Vorsitzende) besonders verwurzelt ist19. Diese Ansicht kann sich auf ältere Entscheidungen des BGH und der Instanzgerichte aus der Zeit vor der Reform der Schiedsverfahrensrechts 1998 stützen20. Bei der Bestimmung des richtigen methodischen Ansatzes zur Ermittlung des Schiedsvereinbarungsstatutes ist den Bedürfnissen der internationalen Handelsschiedsgerichtsbarkeit so weit wie möglich Rechnung zu tragen. Dabei sind insbesondere zwei Parameter von besonderer Bedeutung: Die Vorhersehbarkeit des auf die Schiedsvereinbarung anzuwendenden Rechts und die Effektivität der Durchsetzung eines unter Anwendung dieses Rechtes ergangenen Schiedsspruches, insbesondere also dessen Anerkennungsfähigkeit und Vollstreckbarkeit im Ausland21. Vor diesem Hintergrund ist die auf Art. 27 ff. EGBGB abstellende Lösung weniger überzeugend. Denn wegen des bei der Ermittlung der „engsten Beziehung“ gegebenen gerichtlichen Beurteilungsspielraums ist das anzuwendende Recht in erheblichem Maße von den Umständen des Einzelfalles abhängig und damit nur beschränkt bei Vertragsschluss absehbar. Diese Unsicherheit wird auch nicht durch die Vermutung des Art. 28 Abs. 2 EGBGB beseitigt, da Schiedsvereinbarungen den Parteien identische Rechte und Pflichten vermitteln und

__________ 17 Geimer in Zöller, 27. Aufl. 2009, § 1029 ZPO Rz. 107; ders., Internationales Zivilprozessrecht, 6. Aufl. 2009, Rz. 3789; Münch in MünchKomm.ZPO, 3. Aufl. 2008, § 1029 ZPO Rz. 31; Voit in Musielak, 7. Aufl. 2009, § 1029 ZPO Rz. 28; S. Koussoulis in FS Peter Schlosser, 2005, S. 415, 424; Trittmann/Hanefeld in Böckstiegel/Kröll/ Nacimiento (Hrsg.), Arbitration in Germany: The Model Law in Practice, 2007, § 1029 Rz. 11; Wagner (Fn. 10), Part 4 Rz. 41; für eine internationale Betrachtung: Fouchard/Gaillard/Goldmann, International Commercial Arbitration, 1999, Rz. 429. 18 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, 67. Aufl. 2009, § 1029 ZPO Rz. 11; vgl. auch Lachmann (Fn. 2), Rz. 267 ff. 19 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, 67. Aufl. 2009, § 1029 ZPO Rz. 11. 20 Etwa BGH, NJW 1964, 591, 592; BGH, NJW 1968, 1233, 1233; OLG Düsseldorf, RIW 1996, 239, 240. 21 So zu Recht S. Koussoulis in FS Peter Schlosser, 2005, S. 415, 418.

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daher keine „charakteristische Leistung“ feststellbar ist22. Dazu tritt die Gefahr, dass die Schiedsvereinbarung nach dem so ermittelten Recht zwar wirksam ist, nicht aber nach dem Recht des Schiedsortes, so dass eine spätere Anerkennung und Vollstreckung des so ergangenen Schiedsspruches im Ausland an Art. V Abs. 1 lit. a der New Yorker Konvention scheitert. Bis zur Modernisierung des Schiedsverfahrensrechtes war diese Lösung dagegen aus methodischer Sicht vorzuziehen. Denn aus der weithin akzeptierten Qualifikation der Schiedsvereinbarung als materiellrechtlicher Vertrag oder jedenfalls als „materiellrechtlicher Vertrag über prozessrechtliche Beziehungen“23 folgt zwanglos die – zumindest analoge – Anwendung der für vertragliche Schuldverhältnisse allgemein geltenden Kollisionsregeln in Art. 27 ff. EGBGB. Dagegen wird die Lösung der herrschenden Literaturansicht (Rechtswahl der Parteien, subsidiär deutsches Sachrecht) zwar den Anforderungen des internationalen Handelsverkehrs gerecht. Sie ist aber in ihrer Begründung nicht überzeugend, soweit sie sich, wie überwiegend vertreten, auf eine Analogie zu Art. V Abs. 1 lit. a der New Yorker Konvention (i. V. m. § 1061 ZPO) stützt24. Denn die für eine solche Analogie erforderliche vergleichbare Interessenlage ist zu verneinen25. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift (wie der des § 1061 ZPO) ist beschränkt auf das Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahren, also auf ein Verfahrensstadium, in dem bereits ein Schiedsverfahren vollständig durchgeführt worden und ein (ausländischer) Schiedsspruch in der Welt ist. Der hierfür eingesetzte Aufwand an Zeit und Geld und der Respekt vor der ergangenen Entscheidung rechtfertigen die einheitliche Anwendung des am Ort des Schiedsgerichts geltenden Rechts. Außerdem machen es die Bedürfnisse des internationalen Wirtschaftsverkehrs erforderlich, dass das vollendete Schiedsverfahren nicht später durch eine Versagung der Anerkennung oder Vollstreckbarerklärung frustriert wird. Dagegen befindet sich der Einrederichter (§ 1032 ZPO) bzw. der Schiedsrichter (§ 1040 ZPO) in einer grundlegend anderen Wertungssituation. Sie sind – üblicherweise noch vor oder zu Beginn des (inländischen) Schiedsverfahrens – konfrontiert mit einer in wesentlichen Teilen erst noch zu erfüllenden Schiedsvereinbarung, deren Gültigkeit und Umfang sie daher noch relativ unbefangen bestimmen können. In diesem Verfahrensstadium mag sogar noch nicht einmal feststehen, in welchem Land das Schiedsverfahren durchgeführt werden (§ 1043 ZPO) und ob überhaupt eine Vollstreckung erforderlich sein wird.

__________ 22 Vgl. auch Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 6. Aufl. 2009, Rz. 3788. 23 BGH, NJW 1964, 591, 592; BGH, NJW 1968, 1233, 1233; Lachmann (Fn. 2), Rz. 266; Münch in MünchKomm.ZPO, 3. Aufl. 2008, § 1029 ZPO Rz. 12; a. A. Geimer in Zöller, 27. Aufl. 2009, § 1029 ZPO Rz. 107. 24 Schwab/Walter (Fn. 1), Kap. 43 Rz. 5 ff.; Geimer in Zöller, 27. Aufl. 2009, § 1029 ZPO Rz. 107 (für ausländische Schiedssprüche folge dies aus dem Rechtsgedanken des Art. V Abs. 1 a der New Yorker Konvention i. V. m. § 1061 ZPO); Lionnet/ Lionnet, Handbuch der internationalen und nationalen Schiedsgerichtsbarkeit, 3. Aufl. 2005, S. 170; Schlosser in Stein/Jonas, 22. Aufl. 2002, § 1029 ZPO Rz. 41. 25 Zweifelnd auch schon S. Koussoulis in FS Peter Schlosser, 2005, S. 415, 419 f., 426.

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Zur Auslegung von Schiedsvereinbarungen

§ 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. a ZPO bietet ebenfalls keine ausreichende Grundlage für einen Analogieschluss26. Natürlich ist es wenig sinnvoll, im Rahmen eines inländischen Schiedsverfahrens auf die Schiedsvereinbarung in Ermangelung einer Rechtswahl durch die Parteien ein anderes als das deutsche Recht zur Anwendung zu bringen, so dass die Gefahr einer späteren Aufhebung nach dieser Vorschrift heraufbeschworen wird. Doch ist auch § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. a ZPO auf die nachträgliche Kontrolle eines existenten Schiedsspruches angelegt und betrifft damit wie Art. V Abs. 1 lit. a der New York Konvention (und § 1061 ZPO) eine zunächst einmal grundlegend verschiedene Interessenlage. Zudem richtet sie sich an die staatlichen Gerichte und bezieht sich lediglich auf inländische Schiedssprüche. Angesichts dieser methodischen Bedenken gegen eine Analogie rückt als alternativer Begründungsansatz für die h. M. eine entsprechende – gegenüber der Analogie ohnehin vorrangige – Auslegung der betreffenden Vorschriften, namentlich also der §§ 1032 und 1040 ZPO, in den Vordergrund. Insoweit ist zunächst zu konstatieren, dass der Wortlaut dieser Vorschriften im Hinblick auf das auf die Schiedsvereinbarung anzuwendende Recht völlig offen ist. In systematischer Hinsicht kann zudem an §§ 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. a, 1060 Abs. 2 ZPO für inländische und an § 1061 ZPO i. V. m. Art. V. Abs. 1 lit. a der New Yorker Konvention für ausländische Schiedssprüche angeknüpft werden. Vor allem aber ist auf die Entstehungsgeschichte des § 1040 ZPO und des § 1059 ZPO zu verweisen, die in der Diskussion bislang nicht ausreichend gewürdigt worden ist: Die Reform von 1998 bezweckte in ihrem Kern, das veraltete deutsche Schiedsverfahrensrecht zu modernisieren und hierbei den Bedürfnissen der in ihrer Bedeutung gewachsenen internationalen Schiedsgerichtsbarkeit Rechnung zu tragen, vor allem durch eine Harmonisierung mit internationalen Standards27. Das neue Schiedsverfahrenrecht ist deshalb maßgeblich an das UNCITRALModellgesetz von 1985 angelehnt. So hat der Gesetzgeber etwa die Aufhebungsgründe in § 1059 Abs. 2 lit. a ZPO im Wesentlichen unverändert aus Art. 36 Abs. 1 (a) (i) des Modellgesetzes übernommen. Dies geschah erklärtermaßen aus Gründen der Rechtsklarheit und der Rechtsvereinheitlichung28. Dagegen ist die Regelung der Kompetenz-Kompetenz in § 1040 ZPO Art. 16 des Modellgesetzes29 nachgebildet. In diesem Zusammenhang führt die Gesetzesbegründung aus: „Die Gültigkeit der Schiedsvereinbarung ist nach den in § 1059 Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a […] enthaltenen Kollisionsregeln zu beurteilen; denn für die Entscheidung des Schieds-

__________ 26 Münch in MünchKomm.ZPO, 3. Aufl. 2008, § 1029 ZPO Rz. 35 knüpft an dieser Vorschrift an („normativer Anhalt“), ohne sich allerdings methodisch festzulegen. 27 BT-Drucks. 13/5274, S. 22 ff. 28 BT-Drucks. 13/5274, S. 59 linke Spalte, 2. Absatz, und rechte Spalte, letzter Absatz. 29 Art. 16 Abs. 1 des Modellgesetzes lautet: „The arbitral tribunal may rule on its own jurisdiction including any objections with respect to the existence or validity of the arbitration agreement. […]“.

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Siegfried H. Elsing gerichts kann insoweit nichts anderes gelten als für das staatliche Gericht im Rahmen des Aufhebungsverfahrens.“

In Bezug auf die Rüge einer Kompetenzüberschreitung gem. § 1040 Abs. 2 Satz 3 ZPO – ein Aufhebungsgrund gemäß § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. c ZPO – stellt die Gesetzesbegründung zudem ausdrücklich klar, dass die Kollisionsregel des § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. a ZPO auch für die im Wege der Auslegung zu bestimmende Reichweite der Schiedsvereinbarung geltend soll30. Damit hat der Gesetzgeber eine eindeutige Aussage darüber getroffen, dass auch das Schiedsgericht bei der Prüfung der Gültigkeit und Reichweite der Schiedsvereinbarung in der von § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. a ZPO vorgegebenen Reihenfolge primär auf das gewählte Recht und subsidiär auf das deutsche Recht abzustellen hat. Dass § 1059 ZPO nur inländische Schiedssprüche betrifft, schmälert die Allgemeingültigkeit dieser Aussage in keiner Weise. Denn zum einen enthält das geltende Recht in § 1061 ZPO eine nahezu parallele31 Bestimmung für die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche. Und zum anderen war die Reform von 1998 gerade darauf gerichtet, ein „einheitliches Gesetz für nationale und internationale Verfahren“ auf den Weg zu bringen32. Folglich unterscheidet § 1040 ZPO auch nicht zwischen inländischen und ausländischen Schiedsvereinbarungen. Die Gesetzesbegründung kann somit nur dahin verstanden werden, dass es sich bei § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. a ZPO um eine allgemeingültige Kollisionsnorm handelt, die in sämtliche Verfahrensstadien ausstrahlt und für staatliche Gerichte und Schiedsgerichte gleichermaßen Geltung beansprucht. Allein ein solch weites Verständnis entspricht auch den Bedürfnissen der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit nach möglichst weitgehender Harmonisierung. Daher gilt dieser Grundsatz auch ohne entsprechende Klarstellung in der Gesetzesbegründung uneingeschränkt auch für den Einrederichter (§ 1032 ZPO). Das gilt umso mehr, als der in der Gesetzesbegründung vollzogene Rückschluss von § 1059 ZPO (staatliches Gericht) auf § 1040 ZPO (Schiedsgericht) erst Recht für § 1032 ZPO (staatliches Gericht) gelten muss. Der Gesetzgeber hat also die in § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. a ZPO enthaltene Rangfolge des auf die Schiedsvereinbarung anwendbaren Rechtes zu einer eigenständigen Kollisionsnorm für das Schiedsvereinbarungsstatut erhoben und damit zugleich der an Art. 27 ff. EGBGB orientierten Auffassung eine Absage erteilt. b) Primäres Anknüpfungskriterium: Der Parteiwille Vorrangiges Anknüpfungskriterium für das Schiedsverfahrensstatut ist damit der (ausdrückliche oder stillschweigende) Parteiwille. Dies entspricht dem Grundsatz der Parteiautonomie, der obersten Maxime der internationalen

__________ 30 BT-Drucks. 13/5274, S. 43, rechte Spalte, letzter Absatz. 31 Vgl. oben Fn. 16. 32 BT-Drucks. 13/5274, S. 25 f.

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Zur Auslegung von Schiedsvereinbarungen

Schiedsgerichtsbarkeit33, und wird auch international durchgehend so gehandhabt34. aa) Ausdrückliche Rechtswahl Obwohl es an entsprechenden Empfehlungen nicht mangelt35, sind ausdrückliche Bestimmungen des auf die Schiedsvereinbarung anzuwendenden Rechts in der schiedsgerichtlichen Praxis allerdings weitgehend unbekannt. Oft werden sie vermutlich als unnötige Förmelei abgetan. Bezeichnenderweise empfehlen auch die Musterklauseln der namenhaften Schiedsgerichtsinstitutionen keine solche Rechtswahl, sondern allenfalls eine Festlegung des auf den Hauptvertrag anzuwendenden Rechts. Denkbar wäre etwa die folgende Formulierung: „Dieser Vertrag, einschließlich der Schiedsklausel, unterliegt dem materiellen Recht von […] mit Ausnahme des internationalen Privatrechts und des UN-Kaufrechts“.

Aus der Praxis des Verfassers verdient die folgende Schiedsklausel eine genauere Betrachtung: Alle Streitigkeiten aus diesem Vertrag werden unter Ausschluss des ordentlichen Rechtswegs sowie unter Anwendung des französischen Rechts nach der Schiedsgerichtsordnung der Deutschen Institution für Schiedsgerichtsbarkeit e.V. (DIS) endgültig entschieden. Der Ort des Schiedsverfahrens ist München.

Die in dieser Klausel getroffene ausdrückliche Rechtswahl zugunsten des französischen Rechts erstreckt sich nach ihrem Wortlaut jedenfalls auf den Hauptvertrag. Sie gibt allerdings nicht völlig eindeutig zu erkennen, ob sie auch die Schiedsklausel selbst umfasst, und ist insoweit auslegungsfähig und -bedürftig. Im Rahmen der Auslegung – die sich entsprechend der zu Art. 27 Abs. 1 Satz 1 EGBGB wohl h. M. nach der lex fori richtet36 – ist zu berücksichtigen, dass die Parteien eine Verbindung zwischen Rechtswahl- und Schiedsklausel geschaffen haben, wie sie enger kaum sein könnte. Offenbar war den Parteien auch die Trennung zwischen Haupt- und Schiedsvertrag nicht geläufig. Vor allem aber haben sie die „Anwendung des französischen Rechts“ nicht, wie sonst üblich, nur „auf den Vertrag“ beschränkt. Daraus kann geschlossen werden, dass das französische Recht für sämtliche materiell-rechtlichen Fragen im Zusammenhang mit dem Schiedsverfahren gelten sollte, wozu auch die Auslegung bzw.

__________ 33 S. Koussoulis in FS Peter Schlosser, 2005, S. 415, 425; Berger, Internationale Wirtschaftsschiedsgerichtsbarkeit, 1992, S. 116. 34 Redfern/Hunter, Law And Practice of International Commercial Arbitration, 4. Aufl. 2004, Rz. 2-94; Born (Fn. 2), S. 1083. 35 Craig/Park/Paulsson, ICC Arbitration, 3. Aufl. 2000, S. 108; Born, International Arbitration and Forum Selection Agreements: Drafting and Enforcing, 2. Aufl. 2006, S. 74; Redfern/Hunter, Law And Practice of International Commercial Arbitration, 4. Aufl. 2004, Rz. 2-86. 36 Vgl. Martiny in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2006, Art. 27 EGBGB Rz. 44; a. A. Spickhoff in Bamberger/Roth, BGB, 2. Aufl. 2008, Art. 27 EGBGB Rz. 35 (autonome Auslegungsmaßstäbe aus dem EVÜ).

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die Gültigkeit der Schiedsvereinbarung zählt37. Die Auslegung dieser Schiedsklausel führt somit zur einheitlichen Anwendung französischen Rechts auf Haupt- und Schiedsvertrag. bb) Stillschweigende Rechtswahl Fehlt dagegen wie so oft eine speziell auf die Schiedsvereinbarung bezogene Rechtswahl, kommt noch eine stillschweigende Bestimmung in Betracht38. Dabei ist jedoch zu beachten, dass sich aus dem Grundsatz der Privatautonomie, auf den dieses Anknüpfungskriterium gründet, zugleich auch Einschränkungen ergeben: Erforderlich ist stets das Vorliegen eines – wie auch immer geäußerten – realen Parteiwillens, während ein bloß mutmaßlicher (hypothetischer) Wille unbeachtlich bleiben muss39. Nach der jedenfalls bis zur Reform 1998 herrschenden, vom BGH angeführten Auffassung soll der (stillschweigende) Parteiwille „nach allgemeinen Erfahrungssätzen“ regelmäßig darauf gerichtet sein, die Schiedsvereinbarung demselben Recht zu unterstellen wie das zu regelnde materielle Rechtsverhältnis, wenn nicht aufgrund besonderer Umstände etwas anderes anzunehmen ist40. Es erscheint in der Tat auf den ersten Blick lebensfremd, dass die Parteien eines deutsch-kanadischen Liefervertrages diesen kanadischem Recht, die im Zusammenhang damit abgeschlossene Schiedsvereinbarung aber deutschem (oder gar einem ganz anderem) Recht unterwerfen wollen41. Allerdings trägt eine solche Annahme dem Prinzip der Autonomie der Schiedsvereinbarung nicht hinreichend Rechnung (oben 1.). Die Schiedsvereinbarung dient anderen Zwecken als der Hauptvertrag, und sie ist eben nicht bloß ein separater mate-

__________ 37 Noch weitgehender BGH, NJW 1976, 1591, 1591, dem zufolge die Klausel „der Vertrag und die sich daraus ergebenden Beziehungen unterliegen ausschließlich den Vorschriften der rumänischen Gesetze“ auch die Schiedsvereinbarung erfasse; vgl. auch OLG Hamburg, RIW 1996, 510, 510 in einem ähnlich gelagerten Fall (i. E. offen gelassen wegen Artikel VI Abs. 2 Alt. 2 EuÜbkSchG 1961). 38 Normativ lässt sich dies sowohl aus Art. V Abs. 1 lit. a der New Yorker Konvention („under the law to which the parties have subjected it or, failing any indication thereon, under …“) als auch aus dem an dieser Regelung angelehnten § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. a ZPO („nach dem Recht, dem die Parteien sie unterstellt haben oder, falls die Parteien hierüber nichts bestimmt haben, nach …“) ableiten. Denn beide Regelungen beschränken sich nicht auf eine ausdrückliche Festlegung, und Art. V Abs. 1 lit. a der New Yorker Konvention nennt sogar eindeutig bloße „Anzeichen“ (indication) als ausreichend. 39 Vgl. zu Art. 27 Abs. 1 EGBGB: G. Hohloch in Erman, BGB, 12. Aufl. 2008, Art. 27 EGBGB Rz. 11; Heldrich in Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, Art. 27 EGBGB Rz. 5 f. 40 BGH, NJW 1964, 591, 592; OLG Hamburg, RIW 1989, 574, 575; Schütze in Schütze/ Tschernig/Wais, Handbuch des Schiedsverfahrens, 2. Aufl. 1990, Rz. 560; Aden, Internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit, 2. Aufl. 2003, Art. 6 ICC-SchO Rz. 24; Wagner (Fn. 10), Part 4 Rz. 42; Trittmann/Hanefeld (Fn. 17), § 1029 Rz. 11; i. E. auch OLG München, RIW 1990, 585, 586; BayObLG, SchiedsVZ 1004, 163, 165; für die internationale Handhabung s. Redfern/Hunter, Law And Practice of International Commercial Arbitration, 4. Aufl. 2004, Rz. 2-87. 41 So Schütze in Schütze/Tschernig/Wais, Handbuch des Schiedsverfahrens, 2. Aufl. 1990, Rz. 560.

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riell-rechtlicher Vertrag, sondern zeitigt auch prozessuale Wirkungen42. Dies ist den Parteien freilich meistens völlig unbekannt. Sie kennen deshalb weder die Notwendigkeit, eine doppelte Rechtswahl zu treffen, noch die mit der Wahl verbundenen Folgen für die Schiedsvereinbarung und das Schiedsverfahren. Der aufgestellte Erfahrungssatz läuft somit auf eine bloße Fiktion des mutmaßlichen Parteiwillens hinaus und verlässt die durch die Parteiautonomie gesetzten Grenzen. Lässt sich dagegen ausnahmsweise die gemeinsame Vorstellung der Parteien belegen, das auf den Hauptvertrag anwendbare Recht erfasse zugleich auch die Schiedsvereinbarung, wird man ohne Weiteres von einer Rechtswahl ausgehen können43. Entsprechende Bedenken bestehen zudem gegen den Schluss von einer ausdrücklichen Bestimmung des Schiedsverfahrensstatuts oder einer Schiedsgerichtsinstitution auf eine stillschweigende Wahl des auf die Schiedsvereinbarung anwendbaren Rechts44. c) Sekundäres Anknüpfungskriterium: deutsches Recht Das extensive Verständnis des BGH von einem stillschweigenden Parteiwillen mag auch dadurch motiviert sein, die Unsicherheiten einer objektiven Anknüpfung gemäß Art. 28 EGBGB zu vermeiden, der nach der bisherigen Auffassung des Gerichtshofes bei Fehlen einer Rechtswahl zur Anwendung kommt (vgl. 2. a) oben). Im geltenden Schiedsverfahrensrecht besteht dafür allerdings kein Bedürfnis mehr. Denn nach der hier vorgeschlagenen Lösung gilt nunmehr eine eigenständige Kollisionsnorm, die in solchen Fällen einheitlich subsidiär auf das deutsche Recht verweist.

III. Die Auslegung von Schiedsklauseln nach deutschem Recht In Schiedsverfahren mit Sitz in Deutschland wird somit überwiegend deutsches Recht auf die Schiedsvereinbarung zur Anwendung kommen. Deren Auslegung richtet sich dann nach den allgemeinen Regeln der §§ 133, 157 BGB45. Es ist also nicht an dem buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu verhaften, sondern der tatsächlichen Wille der Parteien zu ermitteln, wobei ausgehend vom Wortlaut alle Umstände des Einzelfalles heranzuziehen sind, insbesondere die Interessen der Parteien und die von ihnen verfolgten Zwecke, soweit sie gegenseitig bekannt sind. Dabei gelangen auch die Grundsätze der ergänzenden Vertragsauslegung zur Anwendung46.

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42 Zu diesen Einwendungen schon Lionnet/Lionnet (Fn. 24), S. 170; Münch in MünchKomm.ZPO, 3. Aufl. 2008, § 1029 ZPO Rz. 35; S. Koussoulis in FS Peter Schlosser, 2005, S. 415, 421; Berger (Fn. 33), S. 116 f. 43 Vgl. auch Craig/Park/Paulsson, ICC Arbitration, 3. Aufl. 2000, S. 108. 44 So etwa Berger (Fn. 33), S. 116 f.; Schlosser in Stein/Jonas, 22. Aufl. 2002, § 1029 ZPO Rz. 42; Geimer, Internationales Zivilrozessrecht, 6. Aufl. 2009, Rz. 3790, 3832. 45 BGH, BGHZ 40, 320, 322 ff.; OLG Karlsruhe, NJOZ 2007, 5365, 5370; Wagner (Fn. 10), Part 4 Rz. 43. 46 OLG Karlsruhe, NJOZ 2007, 5365, 5370; OLG Frankfurt, NJOZ 2003, 3559, 3561; vgl. Lachmann (Fn. 2), Rz. 321.

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1. Das Prinzip der weiten Auslegung Der BGH hat bei der Auslegung von Schiedsvereinbarungen seit jeher einen schiedsverfahrensfreundlichen Ansatz vertreten. Demnach sind Abreden, die Meinungsverschiedenheiten oder Streitigkeiten aus einem Vertrag allgemein einem Schiedsgericht zuweisen, grundsätzlich weit auszulegen47. In der Leitentscheidung aus dem Jahre 1970 – in der auch das Autonomieprinzip anerkannt wurde (II. 1.) – hat der Gerichtshof eine solche Zweifelsregel mit dem Bedürfnis gerechtfertigt, Zufallsergebnisse bei der Auslegung von vielfach gleich lautenden oder jedenfalls inhaltlich identischen Schiedsklauseln zu vermeiden. Maßgeblich sei deshalb, was verständige Parteien im Allgemeinen als ihren Interessen entsprechend ansehen würden, wobei anzunehmen sei, dass die Parteien in der Regel eine umfassende Zuständigkeit des Schiedsgerichts wünschten, um insbesondere die unliebsamen Folgen einer gespalteten Zuständigkeit zwischen Schiedsgericht und staatlichem Gericht zu verhindern. Diesem – auch international verbreiteten48 – Prinzip der weiten Auslegung hat sich die Literatur angeschlossen49. Auf seiner Grundlage erstreckt sich eine Schiedsvereinbarung beispielsweise im Zweifel auch auf alle für das rechtliche Schicksal des geltend gemachten Anspruchs bedeutende Umstände, auf Bereicherungsansprüche oder auf deliktische Ansprüche, jedenfalls soweit sie sich tatbestandlich mit einer Vertragsverletzung decken50. 2. Ausgewählte Fragestellungen Trotz der zwischenzeitlichen Konkretisierung dieses Grundsatzes in Literatur und Rechsprechung, verbleibt jedoch eine Grauzone, innerhalb derer die Grenzen des Prinzips einer weiten Auslegung nur schwer zu bestimmen sind. Dies soll zum Anlass genommen werden, einige ausgewählte Beispiele zu erörtern, mit denen der Verfasser in der jüngeren Vergangenheit befasst war. a) Enge und weite Schiedsklauseln Schiedsparteien greifen zunehmend auf vorformulierten Standardklauseln zurück, die üblicherweise alle Streitigkeiten erfassen, die sich „aus oder im Zusammenhang mit dem Vertrag“51 oder „im Zusammenhang mit dem Vertrag oder über seine Gültigkeit“52 ergeben (sog. weite Schiedsklauseln). Vor

__________ 47 BGH, BGHZ 53, 315, 320 f.; BGH, BB 1971, 369, 370; BGH, NJW-RR 2002, 387, 387; OLG Karlsruhe, NJOZ 2007, 5365, 5370; OLG Hamburg, RIW 1989, 574, 578. 48 Etwa Österreich (öOGH, RIW 1999, 789, 789), USA (U.S.D.C. New York (S.D.), YCA XII (1987), 532, 534; YCA XXII (1997), 944, 946; U.S.D.C. Illinois (N.D.), YCA XXI (1996), 793, 796); s. auch Lew/Mistelis/Kröll (Fn. 2), Rz. 7-59 ff. 49 Schlosser in Stein/Jonas, 22. Aufl. 2002, § 1029 ZPO Rz. 18; Schwab/Walter (Fn. 1), Kap. 3 Rz. 19; Trittmann/Hanefeld (Fn. 17), § 1029 Rz. 31. 50 Vgl. etwa Lachmann (Fn. 2), Rz. 478 ff. 51 So die Musterklausel der ICC-Rules. 52 So etwa die Musterklausel aus der DIS-SchO.

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allem ältere Verträge begnügen sich dagegen mit sog. engen Schiedsklauseln, die sich auf sämtliche Streitigkeiten „aus dem Vertrag“ oder – etwas weiter – „aus dem Vertragsverhältnis“ erstrecken. Es stellt sich hier immer wieder die Frage, welche Rückschlüsse aus dem unterschiedlichen Wortlaut für die sachliche Reichweite solcher Klauseln gezogen werden können, insbesondere unter Beachtung der gebotenen (und notwendigen) weiten Auslegung. Beim Wort genommen besteht ein erheblicher Unterschied zwischen diesen beiden Klauseltypen in Bezug auf die durch sie erfassten Ansprüche. So ist es bei einem strengen Wortlautverständnis durchaus zweifelhaft, dass etwa Ansprüche aus culpa in contrahendo oder aus Delikt von einer engen Klausel erfasst werden. Während auf internationaler Ebene und namentlich in commonlaw-Jurisdiktionen diese Unterschiede auch eher streng gehandhabt werden53, ist die deutsche Rechtsliteratur deutlich zurückhaltender und geht von keiner54 oder allenfalls geringer55 Unterscheidungskraft aus. Das Prinzip einer weiten Auslegung ist maßgeblich in Ansehung enger Schiedsklauseln entwickelt worden und hat deren sachliche Reichweite von den durch ihren Wortlaut vorgegebenen Beschränkungen gelöst. Die Rechtsprechung des BGH, dass sowohl die Nichtigkeit des Hauptvertrages samt der daraus folgenden Rückabwicklungsansprüche56 als auch mit vertraglichen Ansprüchen konkurrierende deliktische Ansprüche57 in der Regel von der Schiedsklausel umfasst werden, betraf gerade enge Schiedsklauseln. Allerdings ist eine weite Auslegung auch bei weiten Schiedsklauseln geboten, die deshalb – so der BGH – „umso größzügiger“ zu interpretieren sind58. Die weite Auslegung enger Klauseln macht diese also nicht deckungsgleich mit ihrerseits extensiv verstandenen weiten Klauseln. Es bleibt deshalb zulässig und richtig, mit der unterschiedlichen Fassung von Schiedsklauseln zu argumentieren59. Jedoch führt diese Emanzipation der Schiedsklauseln von ihrem Wortlaut dazu, dass die Übergänge zwischen engen und weiten Fassungen fließend sind und dass sich kategorische Aussagen über deren jeweilige Reichweit nicht treffen lassen. Eben aus diesem Grunde besitzen die Unterschiede zwischen engen und weiten Klauseln nur eingeschränkte Unterscheidungskraft. Gleichwohl dürfte sich die folgende Regel formulieren lassen: Durch die Wahl einer weiten Klausel bekunden die Parteien ihren Willen, eine umfassende

__________ 53 Lachmann (Fn. 2), Rz. 474, 481; ders., SchiedsVZ 2003, 29; Lew/Mistelis/Kröll (Fn. 2), Rz. 7-63 ff.; Born (Fn. 2), S. 1097. 54 Münch in MünchKomm.ZPO, 3. Aufl. 2008, § 1029 ZPO Rz. 110 (bloße „Kurzformel“); wohl auch Schlosser (Fn. 11), Rz. 421. 55 Lachmann (Fn. 2), Rz. 479 (vorvertragliche Pflichtverletzungen würden von einer engen Klausel im Zweifel nicht erfasst). 56 BGH, BGHZ 53, 315, 323. 57 BGH, NJW 1988, 1215, 1215; BGH, NJW 1965 300, 300; zustimmend etwa Schlosser in Stein/Jonas, 22. Aufl. 2002, § 1029 ZPO Rz. 19; Münch in MünchKomm.ZPO, 3. Aufl. 2008, § 1029 ZPO Rz. 72. 58 BGH, BB 1971, 369, 370. 59 Auf die Unterschiede abstellend etwa BGH, NJW-RR 1991, 423, 424; BGH, NJW-RR 2002, 387, 387.

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Zuständigkeit des Schiedsgerichts zu begründen, die gerade nicht nur auf Ansprüche „aus dem Vertrag“ beschränkt ist, sondern auch sonstige Ansprüche umfasst, die mit diesem einen einheitlichen Lebensvorgang60 bilden („im Zusammenhang mit“), also etwa wegen vorvertraglicher Pflichtverletzungen oder wegen deliktischer Handlungen, die mit dem Vertrag verbunden sind, auch ohne notwendigerweise mit vertraglichen Ansprüchen materiell zu konkurrieren. Hier muss die sich auf die fehlende Schiedsbindung berufende Partei Umstände für eine einschränkende Auslegung darlegen und beweisen. Eine enge Klausel dagegen beinhaltet keinen definitiven Ausschluss einer schiedsgerichtlichen Zuständigkeit für nichtvertragliche Ansprüche. Entscheidend ist und bleibt natürlich der Parteiwillen. Lässt sich also belegen, dass die Parteien gezielt eine enge Klausel gewählt haben, um die Zuständigkeit des Schiedsgerichtes zu begrenzen, oder die Klausel bewusst weit formuliert haben, um gewisse Ansprüche einzubeziehen, muss diese Entscheidung vollumfänglich respektiert werden. Ein solcher Nachweis wird aber regelmäßig nicht geführt werden können. In diesem Falle bietet es sich an, stattdessen darauf abzustellen, inwieweit der fragliche Anspruch bei Abschluss des Vertrages vorhersehbar war und mit welcher Wahrscheinlichkeit die Parteien mit seinem Vorliegen zu rechnen hatten. Hierbei ist auf die Umstände des Einzelfalles und insbesondere auf die Besonderheiten des jeweiligen Hauptvertrages (z. B. sein Gegenstand, Laufzeit etc.) Rücksicht zu nehmen. Eine enge Klausel wird regelmäßig nur die in gesteigertem Maße wahrscheinlichen und vorhersehbaren Ansprüche umfassen. b) Ansprüche wegen Unterkapitalisierung und Insolvenzverursachung In einem internationalen Schiedsverfahren stellte sich der folgende stark vereinfachte Sachverhalt: Zur Vorbereitung der Ausgliederung der X-GmbH aus der Konzern der Schiedsbeklagten verpflichtete sich diese gegenüber der X-GmbH, eine Stammeinlage in Höhe von 50 Euro zu übernehmen und hierfür einen Teilbetrieb in die X-GmbH einzubringen. Dieser Teilbetrieb war jedoch hoch defizitär und verursachte die Insolvenz der X-GmbH. Daraufhin machte der Schiedskläger in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter der X-GmbH Ansprüche wegen Unterkapitalisierung sowie Schadenersatz wegen schuldhafter Verursachung der Insolvenz der X-GmbH gegen die Schiedsbeklagte geltend. Im Zusammenhang mit der Unterkapitalisierung kamen eine Reihe gesetzlicher Ansprüche (§§ 7, 9, 9a, 56, 56a oder 30, 31 GmbHG) in Betracht, bei denen aufgrund ihrer gesellschaftsrechtlichen Natur fraglich war, ob sie der in dem Einbringungsvertrag enthaltenen weiten Schiedsklausel unterfielen

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60 Da die Parteien regelmäßig ein bestimmtes Rechtsverhältnis, nicht aber bestimmte Ansprüche der Entscheidung durch ein Schiedsgericht unterstellen, kommt es für dessen Zuständigkeit allein auf den zur Entscheidung gestellten Sachverhalt, nicht auf die einschlägige zivilrechtlichen Anspruchsgrundlage (BGH, NJW 1988, 1215, 1215; BGH, NJW-RR 2002, 387, 387). Außerdem entspricht es in der Regel nicht dem Willen der Parteien, einen einheitlichen Sachverhalt durch verschiedene Gerichte entscheiden zu lassen.

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(„sämtliche Streitigkeiten, die sich aus oder in Verbindung mit dieser Vereinbarung ergeben“). Ausgangspunkt der Lösung war der Umstand, dass sich aus dem Einbringungsvertrag eine parallele vertraglich begründete Kapitaleinbringungspflicht ableitete, deren Verletzung zu Ansprüchen wegen Nichterfüllung (§ 280 BGB) bzw. wegen Unmöglichkeit (§§ 280, 283 BGB) führen konnte. Diese sekundärrechtlichen Ansprüche sind vertraglicher Natur und damit von der Schiedsklausel umfasst („aus dieser Vereinbarung“). Damit war der Weg bereitet für die Erfassung der Ansprüche aus dem GmbHG. Denn nach der h. M. umfasst eine Schiedsvereinbarung im Zweifel sämtliche mit dem geltend gemachten vertraglichen Anspruch konkurrierenden gesetzlichen Ansprüche gleich welcher Rechtsnatur, sofern sie nur auf demselben Lebenssachverhalt beruhen61. Dies folgt aus dem Prinzip der weiten Auslegung und trägt dem Umstand Rechnung, dass die Parteien eine Rechtszersplitterung regelmäßig zu vermeiden suchen (vgl. 1.). Außerdem soll es der klagende Vertragspartner nicht in der Hand haben, die Zuständigkeit des staatlichen Gerichts dadurch herbeizuführen, dass er sein Klagebegehren auf eine deliktische statt auf eine vertragliche Anspruchsgrundlage gründet. Zusammengehörendes soll auch zusammen bleiben62. Dass dies insbesondere auch für gesellschaftsrechtliche Ansprüche gilt, ist aus der obergerichtlichen Rechtsprechung zu gesellschaftsvertraglichen Schiedsklauseln zu schließen, die trotz ihrer vertraglichen Natur auch gesetzliche gesellschaftsrechtliche Ansprüche (etwa § 51a GmbHG) umfassen63. Nichts anderes kann dann für die Schiedsklausel in dem Einbringungsvertrag gelten, vor allem wenn sie – wie hier – besonders weit gefasst ist. Die Ansprüche wegen Insolvenzverursachung stützten sich auf eine Reihe unterschiedlicher Tatsachenkomplexe wie etwa eine fehlerhafte Ausstattung der X-GmbH mit Kapital (bzw. ein existenzvernichtender Eingriff), eine pflichtwidrige Zurückhaltung fälliger Zahlungen durch Tochtergesellschaften der Schiedsbeklagten oder eine Täuschung über die tatsächliche Bilanzprognose für den Teilbetrieb. Für sämtliche dieser Vorwürfe kam insbesondere ein Schadenersatzanspruch aus § 826 BGB wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung in Betracht. Die schädigenden Handlungen fielen jedoch nur dann in die Zuständigkeit des Schiedsgerichtes, wenn sie jeweils zumindest auch einen von der Schiedsklausel erfassten Anspruch begründeten (vgl. soeben). Auch hier kam der Schiedsklägerin die gebotene weite Auslegung „zur Hilfe“. Denn es ist anerkannt, dass jedenfalls Klauseln, die sich (wie die vorliegende) auf alle Streitigkeiten „im Zusammenhang mit“ einem Vertrag erstrecken, auch quasi-vertragliche Ansprüche und damit insbesondere auch vor- und nach-

__________ 61 Voit in Musielak, 7. Aufl. 2008, § 1029 ZPO Rz. 23; Münch in MünchKomm.ZPO, 3. Aufl. 2008, § 1029 ZPO Rz. 110 und Rz. 71 („prozessualer Anspruch (Streitgegenstände)“); Wagner (Fn. 10), Part. 4 Rz. 67; Haas in Weigand, Practitioner’s Handbook on International Arbitration 2002, Part. 3 Rz. 78 (zur New Yorker Konvention); BGH, NJW 1965, 300; BGH, NJW 1988, 1215, 1215; OLG Hamburg, RIW 1989, 574, 578. 62 Münch in MünchKomm.ZPO, 3. Aufl. 2008, § 1029 ZPO Rz. 110. 63 Vgl. OLG Hamm, NZG 2000, 1182; OLG Koblenz, NJW-RR 1990, 1374.

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vertragliche Pflichtverletzungen erfassen64. Es gelang der Schiedsklägerin darzulegen, dass in der Zurückhaltung fälliger Zahlungen zugleich auch eine Verletzung des nachvertraglichen Verbotes der Entziehung des Vertragserfolgs und somit ein Anspruch aus §§ 280, 241 Abs. 2 BGB begründet lag. Für die Bilanztäuschung konnte sie dagegen an der Verletzung einer vorvertraglichen Aufklärungspflicht gemäß §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 BGB anknüpfen. Die fehlerhafte Kapitalisierung stellte zugleich auch eine Verletzung des Einbringungsvertrages dar (vgl. soeben). Die Schiedsklägerin konnte so für jeden dieser Tatsachenkomplexe eine Anknüpfung zur Schiedsklausel herstellen und damit eine umfassende Zuständigkeit des Schiedsgerichtes herleiten. c) Markenrechtlicher Unterlassungsanspruch bei nichtigem Lizenzvertrag In einem weiteren Fall aus der Praxis begehrte die klagende Lizenzgeberin auf Grundlage einer engen Schiedsklausel („alle Streitigkeiten aus diesem Vertrag“) Feststellung, dass der mit der Schiedsbeklagten geschlossene Lizenzvertrag nichtig ist, und außerdem Unterlassung der weiteren Nutzung der Markenrechte, die Gegenstand jenes Vertrages waren, durch die Schiedsbeklagte (§ 14 Abs. 5 MarkenG). Aus dem Zusammenwirken von Autonomieprinzip (I. 1.) und dem Prinzip einer weiten Auslegung (1.) folgt zunächst, dass die Schiedsklausel jedenfalls den Feststellungsantrag umfasst. Wie der BGH zu Recht angenommen hat, ist eine Schiedsklausel nicht nur als eigenständige Vereinbarung von der behaupteten Nichtigkeit des Hauptvertrags unabhängig. Sie ist darüber hinaus auch grundsätzlich weit dahingehend auszulegen, dass das Schiedsgericht „auch über die Frage der Gültigkeit des Vertrags“ entscheiden soll65, und zwar selbst dann, wenn die Schiedsklausel – wie im vorliegenden Fall – nur von „allen Streitigkeiten aus diesem Vertrag“ und nicht von „allen Streitigkeiten im Zusammenhang mit diesem Vertrag“ spricht66. Genauerer Betrachtung bedarf dagegen die Frage, ob der markenrechtlichen Unterlassungsanspruch einen Anspruch „aus dem Vertrag“ darstellt und mithin der Zuständigkeit des Schiedsgerichts (§ 1040 ZPO) unterfällt. Das war im Ergebnis zu bejahen. Bei Nichtigkeit des Hauptvertrages umfasst die Schiedsvereinbarung nach herrschender Ansicht im Zweifel auch Bereicherungs-67 und Rückabwicklungsansprüche68. Mit diesen hat der vorliegende Unterlassungsanspruch gemein, dass auch er die Nichtexistenz des Hauptvertrages zur Voraussetzung hat. Dass er keinen vertraglichen Anspruch darstellt, schadet insoweit also

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64 Lachmann (Fn. 2), Rz. 465, 479 (vorvertraglich), vgl. Rz. 466 ff. (nachvertraglich); Schlosser (Fn. 11), Rz. 421; enger wohl Geimer in Zöller, 27. Aufl. 2009, § 1029 ZPO Rz. 80. 65 BGH, BGHZ 53, 315, 322. 66 BGH, BGHZ 53, 315, 320; Geimer in Zöller, 27. Aufl. 2009, § 1029 ZPO Rz. 91; Schlosser in Stein/Jonas, 22. Aufl. 2002, § 1029 ZPO Rz. 18. 67 Geimer in Zöller, 27. Aufl. 2009, § 1029 ZPO Rz. 80; Voit in Musielak, 3. Aufl. 2002, § 1040 ZPO Rz. 4; Schwab/Walter (Fn. 1), Kap. 4 Rz. 16 m. w. N. 68 BT-Drucks. 13/5274, S. 43; Münch in MünchKomm.ZPO, 3. Aufl. 2008, § 1029 ZPO Rz. 111 (wohl noch weitergehender § 1040 Rz. 9).

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nicht. Zwar stellt der Unterlassungsanspruch aufgrund seiner Zukunftsgerichtetheit keinen bereicherungs- (§§ 812 ff. BGB) oder rückabwicklungsrechtlichen (§§ 346 ff. BGB) Anspruch im klassischen Sinne dar, doch ist zu berücksichtigen, dass er in seiner wirtschaftlichen Bedeutung solchen Ansprüchen gleichsteht. Denn die „Rückgewähr“ des durch den Lizenzvertrag eingeräumten Nutzungsrechtes besteht nicht nur in der Leistung von Wertersatz für die Vergangenheit (§§ 812, 818 BGB), sondern gerade auch darin, dieses in Zukunft nicht mehr auszuüben. Im Übrigen ist der Unterlassungsanspruch wegen des Erfordernisses einer begangenen Markenverletzung (Wiederholungsgefahr) auch in der Vergangenheit verwurzelt. Zu berücksichtigen ist zudem, dass die vom BGH verwendete Formel deutlich weiter gefasst ist und sich nicht auf Bereicherungs- oder Rückabwicklungsansprüche beschränkt. Der Gerichtshof nimmt nämlich im Falle eines nichtigen Hauptvertrages eine schiedsgerichtliche Zuständigkeit ganz allgemein für die „die bei Nichtigkeit (oder auch schwebender Unwirksamkeit) gegebenen Ansprüche“69 an. Denn zum einen werfe die Beurteilung der Folgen eines unwirksamen Vertrages oft Fragen auf, die sich auch bei einem gültigen Vertrag stellten. Und zum anderen wollten verständige Parteien gerade verhindern, dass das eine Gericht seine Tätigkeit bis zur Klärung der Wirksamkeit durch das andere Gericht unterbrechen müsse oder dass die Wirksamkeit sogar unterschiedlich beurteilt werde70. Nach dieser Begründung umfasst eine Schiedsklausel somit all diejenigen Ansprüche, die die Nichtigkeit bzw. Unwirksamkeit des Hauptvertrages zur Voraussetzung haben. Das gilt aber eben auch für den vorliegenden markenrechtlichen Unterlassungsanspruch, der bei Gültigkeit des Lizenzvertrages die Markennutzung ja gerade gestattete. Es kann nicht dem Parteiwillen entsprochen haben, dass die Lizenzgeberin zur Durchsetzung dieses Anspruches ein staatliches Gericht anrufen muss, obwohl die hierfür vorgreifliche Frage der Nichtigkeit des Lizenzvertrages ausschließlich durch das Schiedsgericht zu entscheiden ist. Mit Blick auf den Parteiwillen ist ferner zu berücksichtigen, dass die Parteien nicht einzelne Ansprüche, sondern ein gesamtes Rechtsverhältnis (den Lizenzvertrag samt Rechteeinräumung) der Zuständigkeit des Schiedsgerichts unterstellt haben. Mit diesem Rechtsverhältnis bildet der Unterlassungsanspruch aber bei natürlicher Betrachtung einen einheitlichen Lebenssachverhalt (vgl. b) oben). Zwar besteht im konkreten Fall infolge der Nichtigkeit des Lizenzvertrages keine materielle Anspruchskonkurrenz zu einem vertraglichen Anspruch. Bei Gültigkeit des Vertrages wäre aber eine solche Anspruchskonkurrenz möglich gewesen, wenn nämlich die Schiedsbeklagte als Lizenznehmerin die Marke jenseits der ihr eingeräumten Berechtigung genutzt hätte (§ 30 Abs. 2 MarkenG). In diesem Fall hätten vertragliche Ansprüche aus §§ 280 ff. BGB neben kennzeichnungsrechtlichen Ansprüchen aus § 14 Abs. 5 und ggf. Abs. 6 MarkenG bestanden71, für die insgesamt allein das Schiedsgericht zu-

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69 BGH, BGHZ 53, 315, 323. 70 BGH, BGHZ 53, 315, 322. 71 McGuire/Donle/Grabienski et. al, GRUR Int 2008, 923, 932; Ingerl/Rohnke, MarkenG, 2. Aufl. 2003, § 30 Rz. 62.

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ständig gewesen wäre. Das spricht dafür, dass bei Unwirksamkeit des Lizenzvertrages keine abweichende Zuständigkeit beabsichtigt war. Schließlich sei noch angemerkt, dass sich der Gesetzgeber bei der Reform des Schiedsverfahrensrechts nicht nur die vorgenannte Rechsprechung des BGH ausdrücklich zu eigen gemacht, sondern in diesem Zusammenhang auch auf Art. 6 Abs. 4 ICC-SchO72 Bezug genommen hat73. Nach dieser Vorschrift „bleibt [das Schiedsgericht] auch dann befugt, über die Rechtsbeziehungen der Parteien und ihre Anträge und Ansprüche zu entscheiden, wenn der Vertrag im übrigen nicht bestehen oder unwirksam sein sollte“74. Da diese Regelung noch weiter gefasst ist als die Formel des BGH, besteht Grund zu der Annahme, dass auch der Gesetzgeber eine eher weit reichende Zuständigkeit des Schiedsgerichts bei Nichtigkeit des Hauptvertrages befürwortet. Auch das war hier zu berücksichtigen.

IV. Ausblick Die Bestimmung des auf die Auslegung einer Schiedsvereinbarung anwendbaren Rechtes ist nach der Reform des Schiedsverfahrensrechts deutlich einfacher geworden, da nunmehr nach dem Willen des Gesetzgebers eine eigenständige Kollisionsnorm zur Anwendung kommt, die in § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. a ZPO für einen Spezialfall explizit geregelt wurde, die aber in sämtliche Verfahrensstadien ausstrahlt und staatliche Gerichte (§ 1032 ZPO) sowie Schiedsgerichte (§ 1040 ZPO) gleichermaßen bindet. Demnach ist in Schiedsverfahren mit Sitz in Deutschland primär auf den Parteiwillen und subsidiär auf das deutsche Recht abzustellen. Da außerdem in einer ausdrücklichen Rechtswahl in Bezug auf das Statut des Hauptvertrages oder des Schiedsverfahrens nicht zugleich auch eine stillschweigende Rechtswahl in Bezug auf Schiedsvereinbarungsstatut gesehen werden kann, unterliegen Schiedsvereinbarungen in deutschen Schiedsverfahren regelmäßig deutschem Recht. Es verbleiben aber im Einzelfall erhebliche Schwierigkeiten bei der Auslegung von Schiedsklauseln und namentlich bei der Bestimmung ihrer gegenständlichen Reichweite, die in diesem Beitrag anhand von ausgewählten Beispielen illustriert und diskutiert worden sind. In Anbetracht der verbleibenden Unsicherheiten kann den Vertragsschließenden nur geraten werden, die Entscheidung zwischen einer engen und weiten Schiedsklausel wohl zu bedenken und in jedem Falle in diese einen Katalog aufzunehmen, der die umfassten oder nicht umfassten Ansprüche aufzählt. Nur so können sie letztlich Rechtssicherheit schaffen.

__________ 72 In der Gesetzesbegründung: Art. 8 Abs. 4 der ICC-SchO a. F. 73 BT-Drucks. 13/5274, S. 43. 74 Art. 6 Abs. 4 Satz 2 ICC-SchO 2008 lautet im englischen Original: „The Arbitral Tribunal shall continue to have jurisdiction to determine the respective rights of the parties and to adjudicate their claims and pleas even though the contract itself may be non-existent or null and void“.

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Volker Emmerich

Verbraucherschutz bei Schönheitsreparaturen Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die Abwälzung der Schönheitsreparaturen in Formularverträgen auf den Mieter III. Einzelne Klauseln 1. Anfangs- und Endrenovierungsklauseln

2. Renovierungsfristen 3. Fachhandwerker- und Farbwahlklauseln 4. Quotenklauseln IV. Ersatzstrategien V. Schluss

I. Einleitung Der Jubilar, dem diese Zeilen in alter Verbundenheit gewidmet sind, gilt zu Recht als einer der Großmeister des deutschen AGB-Rechts. Er hat wie wenige dazu beigetragen, in dieser wildwuchernden Materie wieder langsam für die Beachtung des Gesetzes zu sorgen – auch und gerade im Interesse eines hier besonders wichtigen, verstärkten Verbraucherschutzes. Vielleicht finden deshalb die folgenden Zeilen seine Beachtung, die die Aufmerksamkeit des geneigten Lesers auf eine Materie lenken möchten, in der seit einigen Jahren ein besonders heftiger Kampf um die Zulässigkeit der üblichen Geschäftsbedingungen, hier meistens Formularverträge genannt, tobt, ohne dass es doch bislang lang gelungen wäre, den Verbraucherschutz in dem gebotenen Maße durchzusetzen. Gemeint ist die delikate Materie der Schönheitsreparaturen, wobei sich die folgenden Ausführungen im Wesentlichen auf die Wohnraummiete beschränken sollen. Nun kann es nicht die Aufgabe eines kurzen Beitrags zu einer Festschrift sein, die Problematik der Schönheitsreparaturen insbesondere bei der Wohnraummiete in voller Breite aufzurollen. Insoweit kann ohne Bedenken auf Veröffentlichungen an anderer Stelle verwiesen werden1. Das Ziel des folgenden Beitrags ist vielmehr bescheidener: Es geht allein um die Frage, ob bei der Behandlung der üblichen Klauseln zu den Schönheitsreparaturen mittlerweile der Verbraucherschutz, vorliegend in Gestalt des Mieterschutzes, – endlich – in dem gebotenen Maße beachtet wird oder ob hier nach wie vor vieles im argen liegt, so dass es Zeit zum Umdenken, schlicht zur Rückkehr zum Gesetz ist. Es wird sich zeigen, dass es sich in der Tat so verhält – trotz der ständig verschärften Rechtsprechung des BGH zu den üblichen Klauseln.

__________ 1 S. statt aller Emmerich in Staudinger, BGB, (demnächst) 2010, § 535 BGB Rz. 101 ff.

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II. Die Abwälzung der Schönheitsreparaturen in Formularverträgen auf den Mieter Mit den Schönheitsreparaturen meint man im Kern die malermäßige Beseitigung der üblichen Dekorationsmängel infolge der unvermeidlichen Abnutzung der Räume durch den vertragsgemäßen Gebrauch des Mieters (vgl. § 28 Abs. 4 Satz 3 der II. BV). Die genaue Grenzziehung ist umstritten, kann hier aber dahinstehen. Wichtig ist allein, dass diese Reparaturen ebenso wie alle sonstigen Reparaturen nach dem Gesetz grundsätzlich dem Vermieter und nicht etwa dem Mieter obliegen, sobald die Wohnung infolge des normalen Verschleißes Mängel aufweist und dass in diesem Fall deshalb der Mieter (nicht etwa der Vermieter) von dem anderen Teil die Beseitigung der Mängel verlangen kann. Das ergibt sich unmittelbar aus § 535 Abs. 1 Satz 2 und § 536 BGB und steht außer Frage. Bei dieser Reparaturpflicht des Vermieters handelt es sich sogar um ein Wesensmerkmal der Miete, durch das sie sich vom Kauf unterscheidet, wie die §§ 433 und 434 bei einem Vergleich mit § 535 BGB zeigen. Anders als der Käufer zahlt der Mieter die Miete gerade dafür, dass die Mietsache während der ganzen Vertragsdauer in einem zum vertragsgemäßen Gebrauch geeigneten Zustand erhalten wird. So verhielt es sich denn auch tatsächlich ursprünglich in der Mietpraxis. Dies änderte sich erst mit der Mietnotgesetzgebung nach 1917, unter anderem gekennzeichnet durch eine strikte Begrenzung der Mieten, wodurch sich die Vermieter, weil nämlich die künstlich niedrig gehaltenen Mieten nicht mehr zur Bezahlung der laufenden Kosten ausreichten, genötigt sahen, den Reparaturaufwand nach Möglichkeit auf die Mieter abzuwälzen. So wurde es angeblich zur „Verkehrssitte“, dass die Mieter die Schönheitsreparaturen tragen müssen. Die Mietnotgesetzgebung aus den Jahren nach 1917 und dann wieder nach 1936 gehört mittlerweile längst der Vergangenheit an. Aber bei der angeblichen Verkehrssitte der Abwälzung der Schönheitsreparaturen auf den Mieter in den üblichen Formularverträgen der großen Vermieter und Vermieterverbände, allesamt Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB), ist es bis heute geblieben, jetzt „gerechtfertigt“ mit der frei erfundenen „Entgeltthese“ des BGH, nach der der Vermieter die Abwälzung der Schönheitsreparaturen auf den Mieter (angeblich) bei der Kalkulation der Miete berücksichtigt (so dass im Ergebnis die Schönheitsreparaturen einen Teil der Gegenleistung des Mieters bildeten). Tatsächlich widerspricht diese These indessen jeder wirtschaftlichen Erfahrung. Denn – natürlich – verlangt jeder Vermieter immer genau die Miete, die der Markt erlaubt, – und versucht außerdem, so viele Kosten wie möglich auf den Mieter abzuwälzen2.

__________ 2 Emmerich, NZM 2000, 1155, 1158; Emmerich, NZM 2006, 761; Emmerich, NZM 2009, 16; Derleder in FS Bub, 2007, S. 305, 319; Hannemann in FS Blank, 2006, S. 189, 197; Sternel, PiG 79 (2007), 41, 57; anders z. B. Kraemer, PiG 75 (2006), 37, 40 ff.; Kraemer, PiG 79 (2007), 15, 22 f. (deutlich zurückhaltender).

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Die Folgerungen liegen auf der Hand: Die gängige Praxis, nach der die Abwälzung der Schönheitsreparaturen auf den Mieter in Formularverträgen, d. h. in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, grundsätzlich zulässig ist – als Teil der Gegenleistung des Mieters –, ist schon lange nicht mehr haltbar. Sie verstößt vielmehr eindeutig gegen § 307 Abs. 2 Nr. 1 i. V. m. § 535 Abs. 1 Satz 2 BGB (weil die Reparaturpflicht des Vermieters zu den Grundgedanken der gesetzlichen Regelung gehört), gegen § 536 Abs. 4 BGB (weil die Abwälzung der Schönheitsreparaturen auf den Mieter dazu führt, dass dieser Mängel der Dekoration selbst beseitigen muss) sowie gegen § 556 Abs. 4 BGB, nach dem nur die Betriebskosten und eben nicht auch die Schönheitsreparaturen bei der Wohnraummiete auf den Mieter abgewälzt werden dürfen3. Nichts anderes gilt – erst recht – für eine ganze Reihe weiterer in diesem Zusammenhang üblicher Klauseln in Wohnraummietverträgen, wie jetzt zu zeigen ist.

III. Einzelne Klauseln Die Rechtsprechung steht bekanntlich – gewiss auch in Anerkennung der hier angedeuteten Zusammenhänge – neuerdings wieder zahlreichen Klauseln über Schönheitsreparaturen in Formularverträgen ausgesprochen kritisch gegenüber. Das braucht hier nicht im einzelnen nochmals referiert zu werden. Im vorliegenden Zusammenhang interessieren vielmehr allein diejenigen Klauseln, die immer noch oder wieder – zu Unrecht – die Billigung der Gerichte gefunden haben. Eine kleine Auswahl derartiger Klauseln soll im Folgenden näher betrachtet werden. 1. Anfangs- und Endrenovierungsklauseln Besonders kritisch stehen die Gerichte Anfangs- und Endrenovierungsklauseln in Formularverträgen gegenüber, weil sich derartige Klauseln besonders weitgehend von dem gesetzlichen Leitbild der Miete entfernen (§§ 307 Abs. 2 Nr. 1, 535 Abs. 1 Satz 2 BGB). Zulässig sind dagegen entsprechende individualvertragliche Abreden (§ 311 Abs. 1 BGB). Anders dagegen schon wieder – wegen des so genannten Summierungseffektes –, wenn sie mit der formularvertraglichen Abwälzung der laufenden Schönheitsreparaturen zusammentreffen. So weit, so gut. Von dieser wohlbegründeten Regel will der BGH aber neuerdings wieder eine Ausnahme machen, wenn die Endrenovierungspflicht individualvertraglich ganz unabhängig von der formularvertraglichen Abwälzung der Schönheitsreparaturen begründet wurde, weil dann nämlich kein Raum für die Anwendung des § 307 BGB sei4.

__________ 3 So schon Emmerich in FS Bärmann und Weitnauer, 1990, S. 233, 239 ff.; Emmerich, NZM 2006, 761; Emmerich, NZM 2009, 16. 4 BGH, GE 2009, 321 f. Tz. 12, 14 = NJW 2009, 1075 m. abl. Anm. Kappus = NZM 2009, 233 m. abl. Anm. Derleder = ZMR 2009, 359 m. Anm. A. Disput; BGH, GE 2009, 647, 648 Tz. 19, 21 = NZM 2009, 397, 398 = NJW-RR 2009, 947; s. dazu Horst, DWW 2009, 174.

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Im Schrifttum ist diese ganz formalistisch begründete Ausnahme von der Unwirksamkeit von formularvertraglichen Endrenovierungsklauseln auf verbreitete Kritik gestoßen5, zumal sie auch mit der Rechtsprechung zum Summierungseffekt in Widerspruch steht6. Der Haupteinwand ist, dass eine derartige, an Äußerlichkeiten der Vertragsgestaltung haftende Rechtsprechung Vermietern Spielräume für strategische Verhaltensweisen zum Nachteil der Mieter eröffnet. Das aber ist offenbar mit einem recht verstandenen modernen Verbraucherschutz unvereinbar. 2. Renovierungsfristen Jedermann weiß heute, dass starre Renovierungsfristen in Formularverträgen unwirksam sind, – wovon angeblich die Hälfte bis drei Viertel der Altverträge betroffen sein sollen, für die es auch keinen Vertrauensschutz gibt7. Als zulässig sieht der BGH dagegen nach wie vor so genannte weiche Fristenpläne an, so dass hier ebenfalls alles auf die Formulierung ankommt. Denn während „regelmäßige“ oder „übliche“ Fristen als starr und damit als unzulässig gelten, werden Fristenpläne mit Zusätzen wie „im allgemeinen, normalerweise, grundsätzlich“ oder „im Regelfall“ als hinreichend „weich“ auch für den verständigen Mieter angesehen und deshalb gebilligt. Das kann nicht richtig sein. Abgesehen davon, dass der „verständige Durchschnittsmieter“, der solche semantischen Spitzfindigkeiten nachzuvollziehen vermag, erst noch gefunden werden muss, ist schon der ganze Ansatz dieser Rechtsprechung verfehlt. Nicht nur, dass die Renovierungsfristen des so genannten Mustermietvertrages des Bundesministeriums der Justiz von 1976 auf den Verhältnissen der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts beruhen und deshalb völlig überholt sind, mögen sie nun generell oder nur „im allgemeinen“ gelten, es kommt auch überhaupt nicht auf Renovierungsfristen an, und dies aus folgenden Gründen: Die Schönheitsreparaturen sind, bei Lichte besehen, nichts anderes als ein aus historischen Gründen besonders hervorgehobener Teil der allgemeinen Reparaturpflicht des Vermieters aufgrund des § 535 Abs. 1 Satz 2 BGB und sonst nichts. Lässt man – zu Unrecht – die formularvertragliche Abwälzung dieses Teils der Reparaturpflicht des Vermieters auf den Mieter zu, so sollte es sich angesichts der §§ 242 und 307 BGB eigentlich von selbst verstehen, dass den Mieter danach auf keinen Fall eine weitergehende Reparaturpflicht als nach dem Gesetz den Vermieter treffen kann. Alles andere wäre ein wahrlich eklatanter Verstoß gegen § 307 BGB. Genau das aber ist der Fall bei Fristenplänen welcher Art auch immer. Denn für die Reparaturpflicht des Vermieters besteht überhaupt kein Fristenplan, weder kraft Gesetzes noch kraft Verkehrssitte; er muss vielmehr immer und nur dann reparieren, wenn die Wohnung mangel-

__________ 5 Nachw. s. Fn. 4. 6 BGH, NJW 2006, 2116 = NZM 2006, 623 Tz. 17 m. Anm. Emmerich, JuS 2006, 933. 7 BGH, NJW 2008, 1438 Tz. 20; BGH, NJW 2009, 62 Tz. 20.

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haft ist (§§ 535 Abs. 1 Satz 2, 536 BGB). Für den Mieter kann dann nichts anderes gelten. Wenn er schon die Schönheitsreparaturen tragen muss, dann ebenso wie der Vermieter immer und nur, wenn die Wohnung infolge der Abnutzung der Dekoration tatsächlich mangelhaft i. S. d. § 536 BGB ist. Jedenfalls in Formularverträgen kann nichts anderes vereinbart werden, wie sich unmittelbar aus den §§ 307 und 535 BGB i. V. m. § 536 BGB ergibt, – mit der Folge, dass alle Fristenpläne, auch noch so „weiche“, gegen das Gesetz verstoßen und zur Unwirksamkeit der Abwälzung der Schönheitsreparaturen auf den Mieter führen. Es wird Zeit, dem Unfug der Fristenpläne, einer Erfindung ausgerechnet des Bundesministeriums der Justiz, ein unrühmliches Ende zu bereiten, – sofern man das Gesetz noch ernst nimmt, woran freilich wachsende Zweifel begründet sind. 3. Fachhandwerker- und Farbwahlklauseln Durch Fachhandwerker- und Farbwahlklauseln soll dem Mieter (obendrein) vorgeschrieben werden, durch wen und wie er die Schönheitsreparaturen vorzunehmen hat. Sie stellen im Ergebnis einen durch nichts zu rechtfertigenden Eingriff in die persönliche Lebensgestaltung des Mieters seitens des Vermieters dar. Man ist sich deshalb heute in der Ablehnung derartiger Klauseln, die an die unseligen Installationsmonopole der Energieversorgungsunternehmen erinnern, im Prinzip einig, aber eben nur im Prinzip. Denn zulässig sind nach Meinung des BGH doch die so genannten Rückgabeklauseln, durch die dem Mieter die farbliche Gestaltung der Dekoration „wenigstens“ bei Rückgabe vorgeschrieben werden soll8. Auch dies kann nicht richtig sein. Derartige Klauseln lassen dem Mieter nur die Wahl zwischen der Beachtung der vorgeschriebenen Farben während der ganzen Vertragsdauer – dann handelt es sich um eine unzulässige Farbwahlklausel – oder einer erneuten Renovierung bei Rückgabe in den vorgeschriebenen Farben – dann haben wir nichts anderes als eine unzulässige Endrenovierungsklausel vor uns (oben III. 1.). Rückgabeklauseln verstoßen deshalb ebenfalls gegen das Gesetz (§§ 242, 307 und 535 BGB). 4. Quotenklauseln Durch Quotenklauseln, auch Abgeltungsklauseln genannt, soll der Mieter – über die laufenden Schönheitsreparaturen hinaus –, auch wenn er vor Fälligkeit der nächsten Schönheitsreparaturen auszieht, wenigstens partiell an deren

__________ 8 BGH, NJW 2007, 1743 Tz. 8 f. = NZM 2007, 398; BGH, NJW 2008, 2499 = NZM 2008, 605 Tz. 17 ff.; BGH, NJW 2009, 62 Tz. 13 ff. = NZM 2008, 926; BGH, WuM 2009, 224, 225 Tz. 12 = NZM 2009, 313 = NJW-RR 2009, 656; LG Berlin, GE 2007, 194, 195; LG Berlin, GE 2007, 854, 856; LG Berlin, GE 2008, 869; LG Berlin, GE 2009, 847; AG/LG Köln, WuM 2007, 125; LG Hamburg, WuM 2007, 194, 195; Beyer, NJW 2008, 2065, 2067 f.

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Kosten beteiligt werden9. Deshalb wird bestimmt, dass der Mieter zeitanteilig, d. h. im Verhältnis der bereits abgelaufenen Renovierungsfrist zu der vermutlichen gesamten Renovierungsfrist die zukünftigen Renovierungskosten aufgrund einer Schätzung partiell mittragen muss. Derartige Klauseln werden heute nur noch unter engen Voraussetzungen von den Gerichten in Formularverträgen zugelassen, insbesondere bei hinreichender Transparenz, bei Verbindung mit weichen Fristen und bei Fristbeginn erst mit Übergabe der Wohnung an den Mieter. Unbedenklich soll es darüber hinaus aber auch sein, wenn dem Mieter seinerzeit eine nicht renovierte Wohnung übergeben wurde. Das ist ebenso unhaltbar wie die Auffassung, durch eine unwirksame Quotenklausel werde die für sich wirksame Abwälzung der laufenden Schönheitsreparaturen (mit weichen Fristen) nicht infiziert10, weil das erste auf eine verkappte Kombination einer Anfangs- und einer Endrenovierungsklausel und das zweite auf eine unzulässige geltungserhaltende Reduktion hinausläuft. Eine transparente, für den durchschnittlichen Mieter nachvollziehbare Formulierung von Quotenklauseln in Verbindung mit weichen Fristen dürfte ohnehin nicht möglich sein, ganz abgesehen davon, dass es auch auf weiche Fristen gar nicht ankommt (oben III. 2.), so dass für Quotenklauseln, die sich besonders weit von dem gesetzlichen Leitbild der Miete entfernen, wohl endgültig kein Raum mehr sein dürfte.

IV. Ersatzstrategien Infolge des absehbaren Endes der formularvertraglichen Abwälzung der Schönheitsreparaturen auf den Mieter „wimmelt“ es von Ersatzstrategien, mittels derer von der ach so schönen, aber eben dem Gesetz widersprechenden Abwälzung der Schönheitsreparaturen auf den Mieter in Formularverträgen so viel gerettet werden soll wie irgend möglich. Einer Reihe solcher Strategien haben die Gerichte bereits einen Riegel vorgeschoben; andere werden dagegen noch grundlos geduldet. Nur auf die Letzteren ist hier einzugehen. Es versteht sich von selbst, dass die (angebliche) „Vertragslücke“ infolge des Wegfalls der Klauseln über die Abwälzung der Schönheitsreparaturen auf den Mieter nicht im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung oder auf dem Weg über § 313 BGB geschlossen werden kann, weil gar keine Vertragslücke vorliegt (§ 535 Abs. 1 Satz 2 BGB). Ebenso wenig kommt ein Zuschlag zu der Miete in Betracht, wenn der Vermieter jetzt die Schönheitsreparaturen (wieder) tragen muss, weil dafür jede gesetzliche Grundlage fehlt, weil solcher Zuschlag überhaupt nicht zu berechnen ist und weil dadurch der Mieter ohne gesetz-

__________ 9 S. dazu Artz, NZM 2007, 265; Beyer, PiG 75 (2006), 3, 12 f.; Beyer, GE 2007, 122; Beyer, NJW 2008, 2065; Bub/von der Osten, NZM 2007, 76; Heinrichs, WuM 2005, 155 = NZM 2005, 201; Kappus, NJW 2007, 3635; Kappus, ZMR 2007, 31; Kraemer, PiG 73 (2006), 37, 51 f.; Kraemer, PiG 79 (2007), 15, 29 f.; Langenberg, WuM 2007, 231. 10 So BGH, NJW 2006, 3778 = NZM 2006, 924, 926 Tz. 18; BGH, WuM 2009, 36 = NZM 2009, 177.

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liche Grundlage um die Vorteile eines günstigen Vertragsabschlusses gebracht würde, wie der BGH mittlerweile klargestellt hat11. In den so genannten Orientierungshilfen zu einem (qualifizierten) Mietspiegel kann gleichfalls für den Regelfall nichts anderes „bestimmt“ werden12. Anders entscheidet der BGH freilich nach wie vor, wenn bei einer (in seinen Augen) wirksamen Abwälzung der Schönheitsreparaturen in einem Formularvertrag nach Vertragsende die Vornahme der Schönheitsreparaturen sinnlos wird, weil der Vermieter die Räume umbaut. Dem Vermieter wird dann – auf unklarer gesetzlicher Grundlage – ein Ausgleichsanspruch zugebilligt. der sich der Höhe nach im wesentlichen auf die Personal- und Sachkosten beschränkt, die der Mieter infolge der jetzt nicht mehr möglichen Durchführung der Schönheitsreparaturen erspart hat13. Zu dieser merkwürdigen Auffassung hat die Gerichte die Entgeltthese verführt, die es rechtfertigen soll, „im Wege ergänzender Vertragsauslegung“ die nicht mehr zu realisierende „Gegenleistung“ (in Gestalt der Schönheitsreparaturen) schlicht durch eine Geldforderung zu ersetzen. Die Entgeltthese ist jedoch nicht haltbar (oben II.), – womit dieser ganzen Rechtsprechung bereits die Grundlage entzogen ist, durch die der Mieter ohne Grund und letztlich auch ohne tragfähige Begründung unnötig belastet wird. Im Ergebnis nicht besser steht es mit der jedenfalls früher vom BGH vertretenen Auffassung, an der (angeblichen) Verpflichtung des Mieters zur Durchführung der Schönheitsreparaturen ändere es nichts, wenn es dem Vermieter gelinge, die Schönheitsreparaturen (wiederum angeblich wirksam) auf den Nachmieter abzuwälzen14. Man muss sich vor Augen führen, was das heißt: Nach dem Gesetz obliegen dem Vermieter die Schönheitsreparaturen, mag er sie in Formularverträgen auf den Mieter abgewälzt haben oder nicht (oben II.). Daraus macht der BGH, dass der Vermieter – entgegen dem Gesetz – die Schönheitsreparaturen gleich zweimal verlangen kann, nämlich von dem alten und von dem neuen Mieter. Ein Kommentar erübrigt sich. Die Aufgabe dieser Praxis ist überfällig.

__________ 11 BGHZ 177, 186, 189 ff. Tz. 11 ff. = NJW 2008, 2840; BGH, WuM 2008, 487 = GE 2008, 1046 Tz. 15 ff.; BGH, NJW 2009, 1410 = WuM 2009, 240 Tz. 10 = NZM 2009, 313; LG Nürnberg-Fürth, NZM 2006, 53 = WuM 2006, 38; LG Bonn, WuM 2009, 466; Emmerich, NZM 2006, 761, 764 f. m. Nachw.; ebenso im sozialen Wohnungsbau nach dem WoBindG Wüstefeld, WuM 2008, 697; anders AG Wetzlar, WuM 2009, 172; Bellinger, WuM 2009, 158. 12 LG Bonn, WuM 2009, 466. 13 BGHZ 77, 301, 304 f. = NJW 1980, 2347; BGHZ 85, 267, 273 f. = NJW 1983, 446; BGHZ 92, 363, 369 ff. = NJW 1985, 480; BGHZ 96, 141, 145 f. = NJW 1986, 309; BGHZ 151, 53, 57 ff. = NJW 2002, 2383 = NZM 2002, 655 = WuM 2002, 484; BGH, WuM 2005, 50, 52 = NZM 2005, 58 = GE 2005, 51; BGH, WuM 2006, 308, 309 Tz. 17 = NJW 2006, 2115 = NZM 2006, 621; BGH, GE 2009, 111, 112 Tz. 30; KG, WuM 2008, 724, 725 = ZMR 2009, 277, 279; OLG Oldenburg, WuM 2000, 301 = NZM 2000, 828; LG Berlin, GE 2004, 821; LG Berlin, GE 2006, 1038. 14 BGHZ 49, 56, 61 ff. = NJW 1968, 491; KG, NZM 2005, 181, 182; LG Duisburg, NJWRR 1999, 736, 737.

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V. Schluss Die im vorstehenden kritisierte Rechtsprechung zu den Schönheitsreparaturen ist ein bedrückendes Beispiel dafür, wie sich eine in einer Notsituation begründete und seinerzeit vielleicht vertretbarer Praxis einfach aus Gewohnheit – „weil es so schön ist“ – fortschleppt, obwohl die am Anfang der Praxis stehende Notsituation – hier das Mietnotrecht während und nach den beiden Weltkriegen – buchstäblich seit Jahrzehnten entfallen ist. Statt die längst obsolete Praxis deshalb zu ändern, wird dann eine Scheinrationalisierung nachgeschoben, hier in Gestalt der nicht haltbaren Entgeltthese. Und unter Berufung auf diese Scheinbegründung wird dann munter weiter gemacht wie bisher, – obwohl die Voraussetzungen längst nicht mehr stimmen und die Konsequenzen daher fatal sind. Die Antwort kann nur lauten: Zurück zum Gesetz, d. h. hier strikte Beachtung der §§ 307, 535 Abs. 1 Satz 2 und 536 Abs. 4 BGB. Zumindest diese „Wende“ ist überfällig.

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Verbraucherschutz und öffentliches Recht Inhaltsübersicht I. Verbraucherschutz bei Verträgen über einen Leistungsaustausch mit der öffentlichen Hand 1. Fiskalgeschäfte 2. Verträge zur Verfolgung öffentlicher Zwecke a) Zur Abgrenzung von zivilrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Verträgen b) Zivilrechtliche Verträge c) Öffentlich-rechtliche Verträge d) Prozessuales II. Verbraucherschutz gegenüber Verwaltungsakten? III. Schutzpflichten des Gesetzgebers zur Durchsetzung von Verbraucherschutzinteressen IV. Schutzmöglichkeiten und Schutzpflichten von Behörden zur Durchsetzung von Verbraucherschutzinteressen 1. Schutz der Gesundheit des Verbrauchers gegenüber gefährlicher

Beschaffenheit von Waren oder Verkaufsstätten 2. Schutz des Verbrauchers vor Täuschung 3. Schutz des Vermögens des Verbrauchers gegenüber Gefährdungen durch einen nicht leistungsfähigen Vertragspartner 4. Schutz des Persönlichkeitsrechts des Verbrauchers 5. Schutz des Verbrauchers vor Vertragsgestaltungen, die gegen den Schutz des schwächeren Vertragspartners bezweckende Rechtsvorschriften verstoßen V. Gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch bei fehlenden oder verspäteten Umsetzungen von Richtlinien-Vorgaben zum Verbraucherschutz VI. Abschlussbemerkung

Einer der Schwerpunkte des wissenschaftlichen Schaffens von Fritz von Westphalen war und ist die Befassung mit der Materie des Verbraucherschutzrechts. Dies gibt Anlass, der Frage nachzugehen, inwieweit Gesichtspunkte des Verbraucherschutzes auch durch öffentliches Recht beeinflusst sind und ihrerseits in diesem eine Rolle spielen.

I. Verbraucherschutz bei Verträgen über einen Leistungsaustausch mit der öffentlichen Hand Insoweit ist zunächst an Verträge zwischen der öffentlichen Hand und Privaten zu denken, durch welche ein Leistungsaustausch erfolgt.

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1. Fiskalgeschäfte Eine erste Gruppe derartiger Verträge stellen die sog. Fiskalgeschäfte dar. Fiskalgeschäfte sind solche, bei denen die öffentliche Hand zur Deckung eigenen Bedarfs Waren oder Leistungen bezieht (Beispiel: der Kauf von Heizöl oder Schreibpapier1) oder bei denen sie Gegenstände, die sie nicht benötigt, ihrerseits veräußert, ohne mit dieser Veräußerung einen bestimmten öffentlichen Zweck zu verfolgen (Beispiel: der Verkauf von Holz aus dem Gemeindewald2). Derartige Fiskalgeschäfte unterliegen, wie auch in der Zuständigkeit der Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit für hieraus folgende Rechtsstreite3 zum Ausdruck kommt, ohne Wenn und Aber dem Zivilrecht und damit auch dessen Maßstabsnormen, somit bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen auch den §§ 305 bis 309 BGB. 2. Verträge zur Verfolgung öffentlicher Zwecke Eine zweite Gruppe stellen Verträge dar, mit denen die öffentliche Hand – häufig in Gestalt einer Gemeinde, eines Landkreises oder einer auf kommunalrechtlicher Grundlage gebildeten juristischen Person des öffentlichen Rechts – öffentliche Zwecke verfolgt. Dabei sind wiederum zwei Fallgestaltungen denkbar. Zum einen kann die öffentliche Hand zur Verfolgung der entsprechenden öffentlichen Zwecke in den Formen des sogenannten Verwaltungsprivatrechts4 tätig werden und demgemäß zivilrechtliche Verträge abschließen. Zum anderen kommt auch ein Abschluss öffentlich-rechtlicher Verträge in Betracht. a) Zur Abgrenzung von zivilrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Verträgen Da für die richterliche Inhaltskontrolle – wie im folgenden noch zu erörtern sein wird – für jede der beiden Varianten unterschiedliche Maßstabsnormen gelten5, stellt sich zunächst die Frage, wie der Rechtscharakter entsprechender Verträge zu bestimmen ist. Bei einem gemischten Vertrag, also einem Vertrag, der sowohl öffentlich-rechtliche als auch privat-rechtliche Elemente enthält, kommt es bei einem synallagmatischen Verhältnis darauf an, ob die vertraglichen Regelungen mit ihrem Schwerpunkt öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich ausgestaltet sind und welcher Teil dem Vertrag das entscheidende Gepräge gibt, weil Leistung und Gegenleistung des Vertrages regelmäßig nur einheitlich beurteilt werden können6. Nur soweit eine solche gegenseitige Abhängigkeit zwischen Leistung und Gegenleistung nicht besteht, ist dagegen Raum für eine inhaltliche Aufspaltung rechtlich selbständiger, nur äußerlich

__________ 1 2 3 4 5 6

Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl. 2008, Rz. 901 m. w. N. Vgl. VGH München, Urteil v. 30.10.1985 – 3 B 85.1122, BayVBl. 1986, 726 f. Vgl. VG Ansbach, Beschluss v. 2.9.2008 – AN 4 E 08.01365, juris. BGH, Urteil v. 17.6.2003 – XI ZR 195/02, BGHZ 155, 166, 173. Hierzu BGH, Urteil v. 29.11.2002 – V ZR 105/02, BGHZ 153, 93, 97 f. BVerwG, Urteile v. 6.7.1973 – IV C 22.72, BVerwGE 42, 331, 335 und v. 1.2.1980 – IV C 40/77, NJW 1980, 2538 sowie BGH (GS), Beschluss v. 22.3.1976 – GSZ 2/75, BGHZ 67, 81, 88 und v. 4.11.2003 – KZB 8/03, IR 2004, 46 f.

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in einer Urkunde zusammengefasster Rechte und Pflichten eines sog. zusammengesetzten Vertrages7. Als Beispiel sind Verträge im sogenannten „Einheimischenmodell“ zu nennen, also solche, mit denen eine Gemeinde bauwilligen Einheimischen Grundstücke zu einem subventionierten Preis verkauft, um etwa eine bestimmte Zusammensetzung der Wohnbevölkerung zu erhalten8. Die Frage, – ob derartige Verträge als öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche Verträge anzusehen sind, und – ob die gerichtliche Inhaltskontrolle daher – in erster Linie – am Angemessenheitserfordernis des § 11 Abs. 2 BauGB oder an den §§ 305 bis 309 BGB vorzunehmen ist, wird danach maßgeblich davon abhängen, – ob für den Abschluss des entsprechenden Vertrags in erster Linie öffentliche Zwecke oder das Interesse der Gemeinde am Erlös eines Kaufpreises maßgeblich waren, und – ob die städtebaulichen Zwecken dienenden Vertragsregelungen das wesentliche Gepräge des Vertrags ausmachen. Demgemäß wird eine Qualifizierung als zivilrechtlicher oder öffentlich-rechtlicher Vertrag regelmäßig nur nach Ermittlung der Regelungsschwerpunkte im konkreten Einzelfall möglich sein. Diese Grundsätze gelten über Einheimischen-Verträge hinaus auch für sonstige Verträge zwischen der Gemeinde und einem Privaten mit kaufvertraglichen Elementen. So stellt etwa ein Vertrag, der zwar (auch) einen Anspruch auf Eigentumsübertragung an einem Grundstück enthält, dessen Schwerpunkt aber eine Verpflichtung zur Durchführung von Erschließungsmaßnahmen darstellt, einen öffentlich-rechtlichen Vertrag dar9. Umgekehrt soll dann, wenn sich ein Grundstückskäufer in einem Kaufvertrag mit der Gemeinde dazu verpflichtet, den Sitz seines Unternehmens in das Gemeindegebiet zu verlegen, das Grundstück zu bebauen und die Bebauung unabhängig vom öffentlichrechtlichen Baugenehmigungsverfahren mit der Gemeinde abzustimmen sowie im Falle von Verstößen hiergegen einen Rückbau vorzunehmen, davon

__________ 7 OVG Magdeburg, Beschluss v. 18.3.2008 – 3 O 15/07, juris; vgl. auch Stelkens/Bonk/ Sachs, 7. Aufl., § 54 VwVfG Rz. 77 m. w. N. 8 Vgl. allgemein zu Einheimischenmodellen Huber/Wollenschläger, Einheimischenmodelle – Städtebauliche Zielverwirklichung an der Schnittstelle von europäischem und nationalem, öffentlichem und privatem Recht, 2008; Grziwotz, Probleme der sog. „Einheimischen-Modelle“, NJW 1993, 2665–2667; ders., Gestaltungsmöglichkeiten bei Einheimischenmodellen, ZfIR 1999, 254–259; ders., Risiken für Einheimischenmodelle und Gestaltungsvorschläge, KommJur 2007, 470–453. 9 OLG Schleswig, Beschluss v. 28.2.2008 – 16 W 122/07, NVwZ-RR 2008, 743 f.

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auszugehen sein, dass der Schwerpunkt des Vertrages auf dem Gebiet des Zivilrechts liegt10. Im Übrigen kann es das Gericht dann, wenn der betreffende Vertrag im Rahmen richterlicher Inhaltskontrolle sowohl den Maßstäben des Zivilrechts als auch des öffentlichen Rechts standhalten würde, dahinstehen lassen, welche Maßstabsnormen im konkreten Fall anwendbar sind11. b) Zivilrechtliche Verträge Erfolgt eine Qualifizierung als zivilrechtlicher Vertrag, so ist die richterliche Inhaltskontrolle regelmäßig zunächst anhand der durch das Privatrecht vorgegebenen Maßstäbe vorzunehmen. Im hier interessierenden Kontext handelt es sich dabei in erster Linie um die §§ 305 bis 309 BGB. § 310 Abs. 1 Satz 1 BGB führt zu keiner Einschränkung, weil diese Bestimmung den umgekehrten Fall erfasst, dass nämlich Allgemeine Geschäftsbedingungen gegenüber einer juristischen Person des öffentlichen Rechts oder einem öffentlich-rechtlichen Sondervermögen verwendet werden. Weiter ist zu beachten, dass im Anwendungsbereich des Verwaltungsprivatrechts die Normen des Privatrechts durch Bestimmungen des öffentlichen Rechts ergänzt, überlagert und modifiziert werden. Es besteht dann nicht nur eine Bindung an die Grundrechte, insbesondere an den Gleichheitssatz und das daraus folgende Willkürverbot, sondern auch an das Übermaßverbot12. Demgemäß ist im Rahmen des § 307 BGB die Prüfung der Angemessenheit von Bestimmungen eines Vertrags mit einem Träger öffentlicher Gewalt auch unter Berücksichtigung von Umfang und Reichweite einschlägiger Grundrechte vorzunehmen. So ist von der Rechtsprechung etwa die Unangemessenheit der in einem als zivilrechtliches Rechtsgeschäft qualifizierten Einheimischen-Vertrag enthaltenen Verpflichtung, das eigene Haus mindestens 20 Jahre lang selbst zu bewohnen, auch mit Blick auf die Grundrechte der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG, die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG und die Freizügigkeit nach Art. 11 GG angenommen worden13. Zudem sind bereichsspezifische Sonderregelungen zu berücksichtigen. So sind etwa allgemeine Versorgungsbedingungen für Verträge zwischen Fernwärmeversorgungsunternehmen und Tarifkunden am Maßstab der §§ 2 bis 34 der Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Versorgung mit Fernwärme14 zu überprüfen. Eine derartige Verordnung unterliegt ihrerseits als Rechtsnorm

__________ 10 BGH, Beschluss v. 2.10.2003 – V ZB 8/03, NVwZ 2004, 253 f. 11 So ausdrücklich BGH, Urteil v. 13.10.2006 – V ZR 33/06, NotBZ 2007, 140 = BRS 70 Nr. 222. 12 BGH, Urteile v. 17.6.2003 – XI ZR 195/02, BGHZ 155, 166, 175 und v. 15.10.1993 – V ZR 19/92, WM 1994, 351, 354. 13 OLG Frankfurt, Urteil v. 27.8.2009 – 22 U 213/07, juris. 14 Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Versorgung mit Fernwärme v. 20.6. 1980, BGBl. I 1980, 742, zuletzt geändert durch Art. 20 des Gesetzes v. 9.12.2004, BGBl. I 2004, 3214.

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keiner richterlichen Inhaltskontrolle im eigentlichen Sinne; vielmehr ist die gerichtliche Kontrolle darauf beschränkt, – ob ihre Regelungen durch die in Bezug genommene Ermächtigungsgrundlage gedeckt sind, und – ob diese Regelungen auch im übrigen mit höherrangigem Recht vereinbar sind. Für Sonderabnehmer ist die in § 310 Abs. 2 BGB enthaltene Einschränkung der Anwendbarkeit von §§ 308 und 309 BGB zu beachten sowie das daraus folgende Gebot der Gleichbehandlung von Tarifkunden und Normsonderkunden nebst dem bei Preisanpassungsklauseln bedeutsamen Verhältnis von § 307 BGB und § 315 BGB15. Im Übrigen stellt nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine Preisanpassungsklausel, die ein gesetzliches Preisänderungsrecht unverändert in einen formularmäßigen Vertrag mit Normsonderkunden übernimmt, mithin nicht zum Nachteil des Kunden von der gesetzlichen Regelung des Preisänderungsrechts für den Grundversorger abweicht, keine unangemessene Benachteiligung des Sonderkunden im Sinne von § 307 Abs. 1 Satz 1 oder 2 BGB dar16. c) Öffentlich-rechtliche Verträge Bei einem öffentlich-rechtlichen Vertrag ist die Inhaltskontrolle regelmäßig anhand der durch das einschlägige öffentliche Recht vorgegebenen Maßstäbe vorzunehmen. Als Beispiele sind etwa die Angemessenheitserfordernisse oder die Koppelungsverbote aus § 11 Abs. 2 und § 124 Abs. 3 Satz 1 BauGB oder § 56 Abs. 1 Satz 2 des jeweils einschlägigen Verwaltungsverfahrensgesetzes bzw. von § 123 Abs. 1 Satz 2 LVwG S-H17 zu nennen. Dabei ist zu beachten, dass das Gebot angemessener Vertragsgestaltung aus den vorgenannten Vorschriften nicht nur eine Kontrolle des vertraglichen Austauschverhältnisses, sondern auch eine Überprüfung der einzelnen Vertragsklauseln ermöglicht. Bei dieser erlangen wiederum – unter Berücksichtigung der besonderen Interessenlage des entsprechenden Vertragszwecks – auch die den §§ 305 bis 309 BGB zugrunde liegenden Wertungen Bedeutung. Es ist jedoch – weitergehend als nach dem Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen – eine Kompensation von Vertragsklauseln, die für sich genommen unangemessen sind, durch vorteilhafte Bestimmungen im übrigen Vertrag möglich18.

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15 Vgl. BGH, Urteil v. 29.4.2008 – KZR 2/07, BGHZ 176, 244, 248 f.; zu den Folgen einer Fehlerhaftigkeit von Preisanpassungsklauseln von Westphalen, Preisanpassungsklauseln in Energielieferungsverträgen mit Normsonderkunden, ZIP 2008, 669, 671. 16 BGH, Urteil v. 15.7.2009 – VIII ZR 56/08, NJW 2009, 2667, 2669. 17 Allgemeines Verwaltungsgesetz für das Land Schleswig-Holstein (Landesverwaltungsgesetz – LVwG –) i. d. F. d. B. v. 2.6.1992, GVOBl. 1992, 243, 534, zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes v. 17.9.2009, GVOBl. 2009, 573. 18 BGH, Urteil v. 29.11.2002 – V ZR 105/02, BGHZ 153, 93, 102.

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Eine weitere für den „Verbraucherschutz“ des Privaten gegenüber der Behörde bedeutsame Vorschrift stellt § 56 Abs. 2 VwVfG19 dar. Danach kann dann, wenn auf die Leistung der Behörde ein Anspruch besteht, nur eine solche Gegenleistung vereinbart werden, die bei Erlass eines Verwaltungsaktes Inhalt einer rechtlich zulässigen Nebenbestimmung sein könnte. Im Übrigen stellt sich die Frage, ob im Falle einer Qualifizierung des betreffenden Rechtsgeschäfts als öffentlich-rechtlicher Vertrag – Vorschriften des BGB über den Verbraucherschutz als Maßstabsnormen von vornherein gänzlich außer Betracht zu bleiben haben, oder – ob sie lediglich auf eine subsidiäre und entsprechende Anwendbarkeit beschränkt sind. Anlass für eine derartige Überlegung bietet § 62 des jeweiligen Verwaltungsverfahrensgesetzes20, wonach dann, wenn sich aus den §§ 54 bis 61 dieses Gesetzes nichts Abweichendes ergibt, zunächst die übrigen Vorschriften des betreffenden Gesetzes und ergänzend die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechend gelten. Aus dieser Kaskade folgt, dass die betreffenden Vertragsbestimmungen – zunächst auf ihre Vereinbarkeit mit den „verbraucherschützenden“ Vorschriften aus dem Abschnitt des betreffenden Verwaltungsverfahrensrechts über den öffentlich-rechtlichen Vertrag – insbesondere § 56 VwVfG –, – sodann auf ihre Konformität mit den übrigen Vorschriften dieses Verwaltungsverfahrensrechts, und – schließlich am Maßstab der entsprechend anwendbaren Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches zu prüfen sind. In letzterer Hinsicht ist zu beachten, dass die nur entsprechende Anwendbarkeit der Bestimmungen des BGB nach allgemeinen methodologischen Regelungen dazu führt, dass für einen – auch nur subsidiären – Rückgriff dann kein Raum ist, wenn der entsprechende Regelungskomplex nicht selbst im einschlägigen öffentlich-rechtlichen Fachgesetz oder dem maßgeblichen Verwaltungsverfahrensrecht abschließend geregelt ist21. Bedenkt man aber, dass die insoweit bestehenden Vorschriften ersichtlich darauf abzielen, der besonderen Beziehung zwischen dem betreffenden Hoheitsträger und dem seiner Gewalt

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19 Dem entspricht im schleswig-holsteinischen Verwaltungsverfahrensrecht § 123 Abs. 2 LVwG S-H. 20 Zum beschränkten Anwendungsbereich des Verwaltungsverfahrensgesetzes des Bundes vgl. dessen § 1, insbesondere Abs. 3, wonach dieses Gesetz für die Ausführung von Bundesrecht durch die Länder nicht gilt, soweit die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Behörden landesrechtlich durch ein Verwaltungsverfahrensgesetz geregelt ist. 21 Vgl. Kopp/Ramsauer, 10. Aufl. 2008, § 62 VwVfG Rz. 4–6.

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unterworfenen Bürger Rechnung zu tragen, so spricht dies deutlich dafür, dass sie als abschließend anzusehen sind, mit der Folge, dass für eine ergänzende Überprüfung der materiellen Richtigkeitsgewähr am Maßstab der Vorgaben des bürgerlichen Rechts kein Raum ist. d) Prozessuales Für die Frage, welche Maßstabsnormen anzuwenden sind, ist es unerheblich, vor welchem Gericht über die Rechtswirksamkeit des betreffenden Vertrags gestritten wird. Dies folgt schon daraus, – dass nach § 17a Abs. 5 GVG in der Rechtsmittelinstanz für eine Prüfung der Rechtswegzuständigkeit kein Raum mehr ist, – dass mithin das Rechtsmittelgericht immer das rechtswegmäßig zuständige Gericht ist, und – dass das rechtswegmäßig zuständige Gericht nach § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu entscheiden hat. Dies hat zur Folge, dass etwa dann, – wenn aus einem objektiv öffentlich-rechtlichen Vertrag wegen Verkennung dieses Rechtscharakters Klage vor dem Zivilgericht erhoben worden ist, und – wenn die fehlende Rechtswegzuständigkeit erst in der Berufungsinstanz deutlich wird, das Berufungsgericht den Rechtsstreit nicht an die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit verweisen kann, sondern ihn nach den für diese geltenden Maßstabsnormen des öffentlichen Rechts zu entscheiden hat. Prozessual ist weiter zu beachten, dass bei öffentlich-rechtlichen Verträgen die bereits angesprochene nachrangige Geltung der Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs – damit auch der §§ 305 bis 309 BGB – nur kraft Verweisung erfolgt. Geschieht diese Verweisung nicht aufgrund von § 62 des Verwaltungsverfahrensgesetzes des Bundes, sondern aufgrund der entsprechenden Vorschrift des einschlägigen Landesverwaltungsverfahrensrechts, so folgt daraus, dass auch den durch eine derartige Verweisung geltenden Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzesbuches nur die Qualität von Landesrecht zukommt. Dies wiederum ist deshalb von Bedeutung, weil in derartigen Fällen eine Revisibilität von Rechtsfragen, die sich im Zusammenhang mit der nur entsprechenden Anwendung der Vorschriften des BGB kraft landesrechtlicher Verweisung stellen, gemäß § 137 Abs. 1 VwGO nicht gegeben ist22.

__________ 22 BVerwG, Beschluss v. 2.7.2009 – 7 B 9/09, NVwZ 2009, 1037, v. 7.6.2002 – 9 B 30.02, juris, und v. 10.8.2007 – 9 B 19.07, Buchholz 310 § 137 Abs. 1 VwGO Nr. 29.

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II. Verbraucherschutz gegenüber Verwaltungsakten? Des Weiteren stellt sich die Frage, ob Gesichtspunkte des Verbraucherschutzes auch dann von Belang sein können, wenn ein Träger öffentlicher Gewalt einseitig hoheitlich gegenüber einem Privaten tätig wird. Insoweit ist von dem Grundsatz auszugehen, dass dann, wenn eine Behörde gegenüber dem Bürger Verwaltungsakte erlässt, diese allein am Maßstab des einschlägigen Fach- und Verfahrensrechts sowie des Verfassungsrechts zu überprüfen sind. Für einen – auch nur ergänzenden – Rückgriff auf Grundsätze oder Regelungen des auf die Ebene der Gleichordnung zugeschnittenen Rechts des Verbraucherschutzes ist hingegen in derartigen Fällen demgegenüber regelmäßig kein Raum. So ist etwa vom Bundesverwaltungsgericht festgestellt worden, dass dann, wenn eine Gemeinde durch Satzung für ein Wohngebiet aus Gründen des Immissionsschutzes den Zwang zur Benutzung der öffentlichen Fernwärmeversorgung angeordnet hat, ohne in der Satzung eine Ausnahme für den Betrieb von holzbefeuerten Kachelöfen vorzusehen, eine solche Ausnahme auch nicht aufgrund der verbraucherschutzrechtlichen Bestimmung des § 3 Satz 3 AVBFernwärmeV beansprucht werden kann, sofern durch die Zulassung des Betriebs der Öfen das mit der Anordnung des Benutzungszwangs verfolgte Ziel der Luftreinhaltung vereitelt werden würde23. Schon zuvor war durch das Bundesverwaltungsgericht judiziert worden, dass ein durch eine als bundesrechtliche Rechtsverordnung erlassene Allgemeine Versorgungsbedingung statuiertes Kündigungsrecht einem aus Gründen der Volksgesundheit aufgrund landesrechtlicher Ermächtigung verfügten Zwang zur Benutzung der öffentlichen Wasserversorgungsanlage nicht entgegengesetzt werden kann24.

III. Schutzpflichten des Gesetzgebers zur Durchsetzung von Verbraucherschutzinteressen Das Bundesverfassungsgericht hat auf Basis der Grundsätze seiner zunächst zum Schutz von Leben und Gesundheit entwickelten Schutzpflichttheorie25 im Jahre 2005 judiziert, dass die in Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG enthaltenen objektivrechtlichen Schutzaufträge den Gesetzgeber verpflichten, Vorkehrungen dafür zu treffen, dass die Versicherten einer kapitalbildenden Lebensversicherung mit Überschussbeteiligung an den durch die Prämienzahlung geschaffenen Vermögenswerten bei der Ermittlung des Schlussüberschusses angemessen beteiligt werden. In den Gründen wird u. a. festgestellt, – dass Privatautonomie voraussetzt, dass die Bedingungen der Selbstbestimmung des Einzelnen auch tatsächlich gegeben sind, und – dass dann, wenn auf Grund erheblich ungleicher Verhandlungspositionen der Vertragspartner einer von ihnen ein solches Gewicht hat, dass er den

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23 BVerwG, Beschluss v. 12.7.1991 – 7 B 17/91, Buchholz 415.1 AllgKommR Nr. 113. 24 BVerwG, Beschluss v. 15.7.1988 – 7 B 195/87, NVwZ 1988, 1126 f. 25 BVerfG, Urteil v. 26.7.2005 – 1 BvR 80/95, NJW 2005, 1127 ff.

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Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann, es Aufgabe des Rechts ist, auf die Wahrung der Grundrechtspositionen der beteiligten Parteien hinzuwirken, um zu verhindern, dass sich für einen oder mehrere Vertragsteile die Selbstbestimmung in eine Fremdbestimmung verkehrt26. In ähnlichem Sinne hatte das Bundesverfassungsgericht bereits zuvor in der Entscheidung zur richterlichen Kontrolle von Bürgschaftsverträgen aus dem Jahre 1993 eine Pflicht der Zivilgerichte zur inhaltlichen Überprüfung von Verträgen, die einen der beiden Vertragspartner ungewöhnlich stark belasten und das Ergebnis strukturell ungleicher Verhandlungsstärke sind, festgestellt27. Auch wenn der Verbraucherschutz als solcher kein Rechtsgut von Verfassungsrang ist28, so wird doch der Umstand, dass bei zahlreichen mit Verbrauchern geschlossenen Verträgen durch Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Rechtsgüter tangiert sind, die Zivilgerichte zunehmend veranlassen müssen, darauf zu achten, – dass die Bestimmungen des einfachen Rechts in entsprechenden Fällen stets mit Blick auf Umfang und Reichweite dieser Grundrechte angewandt werden, und – dass nicht dadurch gegen die grundrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie und des Sozialstaatsprinzips verstoßen wird, dass das Problem gestörter Vertragsparität gänzlich negiert oder mit untauglichen Mitteln versucht wird zu korrigieren29.

IV. Schutzmöglichkeiten und Schutzpflichten von Behörden zur Durchsetzung von Verbraucherschutzinteressen Weiter stellt sich die Frage, ob eine Behörde ggf. dann einschreiten kann oder ggf. sogar muss, wenn gegen Vorschriften verstoßen wird, die zugunsten von Personen, die im weitesten Sinne als „Verbraucher“ anzusehen sind, erlassen wurden. Dabei ist zwischen verschiedenen Gefährdungen zu unterscheiden, insbesondere zwischen Gefahren, – die dem Abnehmer durch eine bestimmte tatsächliche Beschaffenheit von in Verkehr gebrachten Waren oder den zur Inverkehrbringung vorgesehenen Einrichtungen drohen, – die ihre Ursache in Täuschungen über die Beschaffenheit der Ware oder Leistung haben,

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26 BVerfG, Urteil v. 26.7.2005 – 1 BvR 80/95, BVerfGE 114, 73, 97 ff. 27 BVerfG, Beschluss v. 19.10.1993 – 1 BvR 567/89, 1 BvR 1044/89, BVerfGE 89, 214, 232. 28 So ausdrücklich OVG Schleswig, Beschluss v. 22.6.2005 – 4 LB 30/04, NuR 2006, 327, 329. 29 BVerfG, Beschluss v. 19.10.1993 – 1 BvR 567/89, 1 BvR 1044/89, BVerfGE 89, 214, 232, 233.

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– die in fehlender wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit („Vertragserfüllungsfähigkeit“) des Vertragspartners liegen, – die den Verbraucher in seinem Persönlichkeitsrecht beeinträchtigen können, und – die den Verbraucher dadurch treffen können, dass der Vertragspartner ihn im rechtsgeschäftlichen Verkehr treffende Pflichten verletzt. 1. Schutz der Gesundheit des Verbrauchers gegenüber gefährlicher Beschaffenheit von Waren oder Verkaufsstätten In ersterer Hinsicht ist regelmäßig eine Möglichkeit der zuständigen Behörde zum Einschreiten eröffnet. Dies gilt etwa dann, wenn bestehende gesetzliche Hygieneanforderungen an die Ausrüstung eines dem Handel mit Lebensmitteln dienenden Verkaufsfahrzeugs nicht eingehalten werden30 oder wenn die Inverkehrbringung kontaminierter Backwaren droht31. Es liegt auf der Hand, dass sich das Ermessen zum Einschreiten bei akuten und schweren Gefahren für die Gesundheit dahingehend auf Null reduzieren kann, dass im Ergebnis eine Pflicht zum Tätigwerden besteht. Ist von einer Gesundheitsschädlichkeit eines entsprechenden Produktes auszugehen, ist die zuständige Behörde auch dazu berechtigt, eine entsprechende Meldung gegenüber dem europäischen Schnellwarnsystem für Lebensmittel und Futtermittel vorzunehmen32. Allerdings ist stets genau zu prüfen, ob die entsprechenden Vorschriften, gegen die verstoßen wird, dem Verbraucherschutz oder dem Schutz gänzlich anderer Rechtsgüter dienen33. Die Möglichkeit zum Erlass behördlicher Anordnungen zur Abwehr drohender Gefahren für die Gesundheit von Verbrauchern ist nicht auf den lebensmittelrechtlichen Bereich beschränkt. Vielmehr kann etwa auch ein Verbot der Inverkehrbringung von Spielzeug, das gegen die einschlägigen Sicherheitsvorschriften verstößt, ausgesprochen werden34. Dem Zweck des Verbraucherschutzes dient schließlich auch die Untersagung von Dienstleistungen, die – wie etwa eine bestimmte Behandlungsmethode eines Heilpraktikers – zu konkreten Gefahren für die Gesundheit des Leistungsnehmers führen können35. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass höchstrichterlich anerkannt ist, dass die der Regierung von der Verfassung übertragene Aufgabe der politischen Krisenbewältigung durch Information und Warnung der Öffentlichkeit die Befugnis einschließt, bestimmte Unternehmer und damit konkrete Grund-

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30 S. als Beispiel etwa den Beschluss des OVG Münster v. 28.8.2009 – 13 A 624/09, juris. 31 VG Sigmaringen, Urteil v. 15.3.1989 – 7 K 1052/88, UPR 1989, 357 f. 32 VGH München, Beschluss v. 14.11.2007 – 25 CE 07.2990, Dt LebensmittelRdsch 2008, 294 f. 33 Vgl. VG Schleswig, Urteil v. 28.7.1999 – 1 A 72/98, juris. 34 S. das Beispiel der „Blechente“ aus dem Beschluss des OVG Münster v. 28.11.2003 – 21 A 1075/01, GewArch 2004, 166 f. 35 S. das Beispiel im Urteil des OVG Münster v. 4.12.1985 – 13 A 959/84, NJW 1986, 2900 f.

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rechtsträger als Quelle der bestehenden Gefahrensituation zu bezeichnen, wenn dies zur Erfüllung der genannten Aufgabe erforderlich ist und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt ist36. Allerdings verletzt eine Behörde ihr gegenüber dem Hersteller oder Inverkehrbringer eines Produkts bestehenden Amtspflichten, wenn sie sich bei einer entsprechenden Produktwarnung auf ein Sachverständigengutachten bezieht, ohne zu überprüfen, ob der Gutachter von zutreffenden Tatsachen ausgegangen ist und ob nicht das Ergebnis des Gutachtens unter einer einschränkenden Bedingung steht37. 2. Schutz des Verbrauchers vor Täuschung Im Übrigen besteht eine Befugnis zum Einschreiten der Behörde auch dann, wenn bei der Inverkehrbringung gegen bestimmte zum Schutz des Verbrauchers vor einer Täuschung über bestimmte Produkteigenschaften erlassene Vorschriften verstoßen wird38. In diesem Kontext hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass der in den Vorschriften des Lebensmittelrechts normierte Schutz des Verbrauchers vor Täuschung ein vernünftiger Grund des Gemeinwohls ist, der Berufsausübungsbeschränkungen rechtfertigen kann39. Insoweit ist festzuhalten, dass alleiniges Wertungskriterium etwa für die Frage, ob eine Irreführung im Sinne des § 17 Abs. 1 Nr. 5 LMBG vorliegt, der Verbraucherschutz ist und dass dabei auf die „berechtigte Verbrauchererwartung“ abzustellen ist40. Maßstabsbildend ist jedoch nicht der oberflächliche, „flüchtige“, sondern der „vernünftige“ und „informationsfähige“ Verbraucher, der seine Kaufentscheidung anhand der – zutreffenden – Angaben über die Beschaffenheit des Produktes trifft41. Im Übrigen ist für die Annahme einer irreführenden Bezeichnung und den Erlass eines Verkehrsverbots dann kein Raum, wenn die entsprechende Bezeichnung durch Gemeinschaftsrecht zugelassen ist42. Soweit bei entsprechenden Täuschungshandlungen – etwa durch widerrechtliche Verwendung bestimmter Begriffe – ein Tätigwerden der Behörde – insbesondere durch gemeinschaftsrechtliche Rechtsvorschriften – vorgeschrieben ist, besteht sogar eine Pflicht der Behörde zum Einschreiten43.

__________ 36 Hierzu die Glykol-Entscheidung des BVerwG v. 18.10.1990 – 3 C 2/88, Buchholz 11 Art. 12 GG Nr. 209. 37 LG Stuttgart, Urteil v. 23.5.1989 – 17 O 411/88, NJW 1989, 2257, 2262. 38 Hierzu etwa BVerwG, Urteil v. 21.2.1980 – 3 C 123/79, BVerwGE 60, 69, 72 f. 39 BVerfG, Beschluss v. 16.1.1980 – 1 BvR 249/79, BVerfGE 53, 135, 145 f. 40 So ausdrücklich OVG Münster, Beschluss v. 12.8.2003 – 3 W 31/03, juris. 41 OVG Koblenz, Urteil v. 10.10.1995 – 6 A 11213/95, LRE 33, 406, 408 f. 42 BVerwG, Urteil v. 23.1.1992 – 3 C 33/89, BVerwGE 89, 320, 322. 43 Vgl. am Beispiel einer gegen einschlägiges Gemeinschaftsrecht verstoßenden Verwendung des Begriffs „Bio“ den Beschluss des OVG Greifswald v. 21.1.2002 – 2 M 124/01, juris.

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3. Schutz des Vermögens des Verbrauchers gegenüber Gefährdungen durch einen nicht leistungsfähigen Vertragspartner Dass der Schutzzweck von verwaltungsrechtlichen Vorschriften über höchstpersönliche Rechtsgüter hinaus auch das Vermögen des Verbrauchers umfassen kann, hat darin Ausdruck gefunden, dass etwa dem Inhaber eines Antiquitätengeschäfts, der mehrfach wegen Vermögensdelikten bestraft worden ist, die weitere Ausübung einer derartigen Tätigkeit gewerberechtlich untersagt werden kann. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich auf die Feststellung gestützt, dass ein unzuverlässiger Einzelhändler Verbrauchern (Kunden) und anderen Personen erhebliche wirtschaftliche Schäden zufügen kann44. Dass nicht nur mangelnde Zuverlässigkeit sondern auch mangelnde Leistungsfähigkeit entsprechende Maßnahmen zum Schutz des Verbrauchers rechtfertigen können, hat in der gerichtlichen Bestätigung dessen Niederschlag gefunden, dass die zuständige Behörde berechtigt ist, gegenüber einem Fernunterrichtsunternehmen die Neuaufnahme von Lehrgangsteilnehmern zu untersagen, wenn der Insolvenzfall eingetreten ist45. 4. Schutz des Persönlichkeitsrechts des Verbrauchers Auch zum Schutz des Persönlichkeitsrechts des Verbrauchers darf die zuständige Behörde einschreiten, indem sie etwa einem Unternehmen, das Inhalte von ihr zugeteilten Mehrwertdienstenummern anbietet, untersagt, rechtswidrig Werbung an Verbraucher oder sonstige Marktteilnehmer mittels Telekommunikationsmitteln zu versenden46. 5. Schutz des Verbrauchers vor Vertragsgestaltungen, die gegen den Schutz des schwächeren Vertragspartners bezweckende Rechtsvorschriften verstoßen Schließlich ist in einzelnen Fällen auch anerkannt, dass die zuständige Behörde befugt sein kann, eine Einhaltung von die Vertragsgestaltung betreffenden Schutzvorschriften durch ordnungsbehördliche Anordnung zu erzwingen. So wurde etwa vom Verwaltungsgericht Frankfurt die behördliche Untersagung eines Bildschirmtextangebotes dann für rechtmäßig gehalten, wenn der Anbieter den Btx-Teilnehmer vor Abruf eines Angebots nicht auf die entstehenden Gesamtkosten unmissverständlich hingewiesen hat47. Schließlich wurde höchstrichterlich anerkannt, dass das – in der heutigen Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) aufgegangene – Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen auch nach dem Wegfall der präventiven Kontrolle von Versicherungsbedingungen befugt war, im Wege anlassbezogener nachträglicher Missstandsaufsicht eine Klausel zu verbieten, deren Verwendung die

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44 BVerwG, Urteil v. 17.1.1972 – I C 33.68, BVerwGE 39, 247, 251. 45 Vgl. VG Braunschweig, Beschluss v. 12.3.1990 – 1 B 1023/90, NVwZ 1991, 295 f. 46 Hierzu OVG Münster, Beschluss v. 26.9.2008 – 13 B 1395/08, NJW 2008, 3656, 3657 f. 47 VG Frankfurt, Beschluss v. 11.1.1990 – V/2 H 2388/89, NJW 1990, 1617, 1618.

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Versicherten unangemessen benachteiligt, ohne dass es darauf ankam, ob die Klausel bereits aufgrund einer zivilgerichtlichen Inhaltskontrolle für unwirksam erklärt worden war48. Als weiteres Beispiel ist anzuführen, dass etwa die Befugnis der Heimaufsichtsbehörde, die durch die inzwischen aufgehobene Vorschrift des § 8 HeimG49 normierten Vorgaben zur Vertragsdauer des Heimvertrags ordnungsbehördlich durchzusetzen, gerichtlicherseits nicht in Zweifel gezogen wurde50. Dass sich das Bestehen einer entsprechenden behördlichen Handlungsmöglichkeit gegenüber rechtsgeschäftlichen Maßnahmen im Einzelfall in eine Pflicht zum Einschreiten verdichten kann, erscheint zumindest nicht ausgeschlossen. Geht man nämlich mit dem Bundesverfassungsgericht von einem grundrechtlichen Schutzauftrag zur Gewährleistung der Privatautonomie aus, so erscheint es nicht fern liegend, anzunehmen, dass ein solcher über rein legislative Tätigkeiten hinausgehend dann auch behördliche Maßnahmen umfasst, wenn diese erforderlich sind, um den in Vollzug des Verfassungsauftrags erlassenen gesetzlichen Regelungen zur Durchsetzung zu verhelfen. Ausgehend hiervon dürfte aber für die Annahme einer entsprechenden Pflicht zum behördlichen Einschreiten kraft Ermessensreduktion auf Null allenfalls in solchen Ausnahmefällen Raum sein, – in denen die betreffenden Verbraucher aufgrund ihrer spezifischen Situation zu einer Durchsetzung der zu ihren Gunsten bestehenden gesetzlichen Vorgaben zur Vertragsgestaltung selbst außerstande sein sollten; – in denen die entsprechenden verbraucherschützenden Vorschriften mithin leer laufen würden, wenn sie nicht von den zuständigen Behörden durchgesetzt werden würden, und – in denen es durch ein solches Leerlaufen dazu käme, dass die hierdurch betroffenen Verbraucher in nicht nur unerheblichem Maße in grundrechtlich geschützten Positionen verletzt werden. Für eine Beschränkung einer Einschreitenspflicht auf derartige Fälle spricht auch der Umstand, dass die zuständigen Behörden nach dem das Gefahrenabwehrrecht beherrschenden Subsidiaritätsgrundsatz nur in besonderen Fällen und nur ausnahmsweise befugt sind, zum Schutz privater Rechte tätig zu werden51.

__________ 48 BVerwG, Urteil v. 25.6.1998 – 1 A 6/06, Buchholz 452.00 § 81 VAG Nr. 5. 49 Heimgesetz i. d. F. d. B. v. 5.11.2001, BGBl. I 2001, 2970, zuletzt geändert durch Art. 3 Satz 2 des Gesetzes vom 29.7.2009, BGBl. I 2009, 2319. 50 Hierzu OVG Magdeburg, Urteil v. 2.7.2008 – 3 L 57/06, juris. 51 Hierzu OLG Hamburg, Beschluss v. 24.11.1988 – Ss 49/88, NStE Nr. 26 zu § 240 StGB; OVG Magdeburg, Beschluss v. 20.3.2009 – 3 M 153/09, ZMR 2009, 569 f.

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Wolfgang Ewer

V. Gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch bei fehlenden oder verspäteten Umsetzungen von Richtlinien-Vorgaben zum Verbraucherschutz Verpflichtet eine Richtlinie die Mitgliedstaaten dazu, innerhalb der Umsetzungsfrist für den einzelnen Verbraucher einen wirksamen Schutz gegen die Risiken der Zahlungsunfähigkeit und des Konkurses der Vertragspartner bei bestimmten Rechtsgeschäften zu gewährleisten, und unterlässt ein Mitgliedsstaat die danach erforderlichen Maßnahmen, so steht einem hierdurch Geschädigtem gegenüber dem Mitgliedsstaat ein Entschädigungsanspruch zu, sofern die in Rede stehende Gemeinschaftsnorm dem Geschädigten hinreichend bestimmte, individuelle Rechte verleiht52. Die Möglichkeit eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs ist deshalb bedeutsam, weil ggf. bestehende behördliche Überwachungspflichten meist nur der Allgemeinheit und nicht jedenfalls auch dem Geschädigten als Dritten i. S. v. § 839 Abs. 1 BGB gegenüber bestehen, so dass diesem ein Amtshaftungsanspruch nach deutschem Recht in entsprechenden Fällen regelmäßig nicht zusteht53. Bei entsprechenden Konstellationen ist ergänzend zu prüfen, ob die Mitgliedsstaaten nach der betreffenden Richtlinie auch verpflichtet sein sollten, zur Gewährleistung eines entsprechenden Schutzes auch zu Lasten des Vertragspartners des Verbrauchers in bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist abgeschlossene Verträge einzugreifen54.

VI. Abschlussbemerkung Auch wenn Verbraucherschutz in erster Linie das Verhältnis zwischen sich auf Ebene der Gleichordnung bewegenden Marktteilnehmern betrifft, und damit primär im Zivilrecht „zuhause“ ist, haben die vorstehenden Erwägungen deutlich gemacht, dass das öffentliche Recht zum Schutze der schwächeren Marktteilnehmer in nicht unerheblichem Umfang flankierende Hilfestellungen leistet und diese, soweit entsprechende gemeinschaftsrechtliche und verfassungsrechtliche Vorgaben bestehen, auch leisten muss.

__________ 52 Grundlegend am Beispiel der Pauschalreisen-Richtlinie das Urteil des EuGH v. 8.10.1996 – C-178/94 u. a., Slg 1996, I-4845 ff.; vgl. auch am Beispiel von Schäden, die einem Bankkunden durch die nicht rechtzeitige Umsetzung der EG-Einlagensicherungsrichtlinie entstanden sind, das Urteil des LG Bonn v. 10.11.1999 – 1 O 55/99, ZIP 1999, 2051 f. 53 Vgl. den Vorlagebeschluss des BGH v. 16.5.2002 – III ZR 48/01, BB 2002, 1287 f. 54 OLG Köln, Urteil v. 15.7.1997 – 7 U 23/97, NJW-RR 1998, 169 f.

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Andreas Fandrich

Haftungsbeschränkungs- und Regressverzichtsklauseln bei Vorstandsmitgliedern von Genossenschaften Inhaltsübersicht I. Einführung II. Zum Vergleich: Stand der Diskussion im Aktienrecht und im Recht der GmbH 1. Aktiengesellschaften 2. Gesellschaften mit beschränkter Haftung

2. Eigene Auffassung 3. Ergebnis IV. Regressverzichtsklauseln bei eingetragenen Genossenschaften 1. Meinungsstand 2. Eigene Auffassung 3. Ergebnis

III. Haftungsbeschränkungsklauseln bei eingetragenen Genossenschaften 1. Meinungsstand

I. Einführung In wirtschaftlichen Krisenzeiten reagieren Banken und Unternehmen häufig durch den Austausch ihrer Organmitglieder. Wesentlicher Kernpunkt der Verhandlungen über die Aufhebung des Anstellungsvertrags sind Erledigungs- und Regressverzichtsklauseln, mit denen Geschäftsleiter versuchen, etwaigen entstandenen Regressansprüchen zu begegnen. Dieses Ende vor Auge, verfolgen Organmitglieder bereits im Vorfeld der Anstellung das Interesse, das Haftungsrisiko im Innenverhältnis durch eine Haftungsausschluss- oder zumindest eine Haftungsbeschränkungsregelung zu begrenzen. Wurden Geschäftsleiter bereits in Regress genommen und wird – wie fast immer – eine vergleichsweise Erledigung angestrebt, stellt sich auch hier die Problematik, dass die angestrebte Vergleichsvereinbarung von einer Erledigung der die Vergleichszahlungen übersteigenden Haftungsansprüche abhängig gemacht werden soll. Die in diesen Fällen aufgeworfene Frage, ob und in welchem Umfang Haftungsausschluss- bzw. -beschränkungsklauseln in Anstellungsverträgen von Organmitgliedern und Verzichtsklauseln in Aufhebungs- oder Vergleichsvereinbarungen zulässig sind, wird für Aktiengesellschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung regelmäßig und eingehend diskutiert. Im Bereich der eingetragenen Genossenschaften findet eine Diskussion hierüber kaum statt. Das verwundert, weil insbesondere die Genossenschaftsbanken die zahlenmäßig größte Bankengruppe unter den Kreditinstituten stellen und der Bundesgerichtshof in neuerer Zeit immer wieder über Haftungsfälle in Genossen-

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schaften zu entscheiden hatte1. Eine aktuelle Behandlung dieser Thematik ist auch deshalb gefordert, weil die Genossenschaftsgesetznovelle 20062 in § 24 Abs. 2 Satz 2 GenG und § 39 Abs. 1 GenG teilweise grundlegende redaktionelle Änderungen in der Vertretungsbefugnis des Aufsichtsrates der Genossenschaft gegenüber deren Vorstandsmitgliedern vornahm. Daran knüpft sich die Frage an, ob der Gesetzgeber hiermit auch im Haftungsregime des Genossenschaftsgesetzes Veränderungen vorgenommen hat. Der Beitrag konzentriert sich auf die Regelung der Innenhaftung der Vorstandsmitglieder gegenüber der Genossenschaft, Haftungsansprüche von Drittgläubigern werden nicht behandelt.

II. Zum Vergleich: Stand der Diskussion im Aktienrecht und im Recht der GmbH 1. Aktiengesellschaften Für alle Anstellungsverträge von Organmitgliedern unter Einschluss derjenigen von Aktiengesellschaften gilt zunächst die zwingende3 Grundregelung des § 276 Abs. 3 BGB, wonach dem Schuldner die Haftung für eigenen4 Vorsatz nicht im Voraus erlassen werden kann. Die Norm gestattet lediglich vorhergehende Haftungsausschlussklauseln, die dem Organmitglied die Haftung für Fahrlässigkeit erlassen. Für die Beurteilung der Frage, ob dem aktienrechtliche Gründe entgegenstehen, wird auf die Regelung des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG verwiesen: Danach darf die Aktiengesellschaft erst drei Jahre nach der Entstehung der Ersatzansprüche durch Beschluss der Hauptversammlung auf diese verzichten oder sich über diese vergleichen. Ausnahmen bestehen nur bei Zahlungsunfähigkeit des Organmitglieds oder wenn die Ersatzpflicht in einem Insolvenzplan geregelt wird (§ 93 Abs. 4 Satz 4 AktG). Die Beschlussfassung der Hauptversammlung vorwegnehmende Rechtshandlungen und Rechtsgeschäfte werden von § 134 BGB erfasst und sind endgültig unwirksam5. Eine Heilung durch Zeitablauf ist ebenso wenig möglich wie durch eine vor der Dreijahresfrist erfolgende Zustimmung der Hauptversammlung6. Ein Verstoß hiergegen soll sogar trotz Vorliegen einer salvatorischen Klausel die Wirksamkeit eines Aufhebungsvertrags insgesamt in Frage stellen7. Wenn die Handlung auf einem gesetzmäßigen Beschluss der Hauptversammlung beruht, tritt eine Regresspflicht nicht ein (§ 93

__________

1 BGH, WM 2009, 26; BGH, WM 2007, 344; BGH, WM 2005, 933; BGH, WM 2004, 486; BGH, WM 2002, 220. 2 Gesetz zur Einführung der Europäischen Genossenschaft und zur Änderung des Genossenschaftsrechts vom 18.8.2006, BGBl. I 2006, 1911. 3 Grundmann in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, § 276 BGB Rz. 9 und 182; H. P. Westermann in Erman, BGB, 12. Aufl. 2008, § 276 BGB Rz. 25. 4 Zur Vorsatzhaftung für Dritte s. § 278 Satz 2 BGB. 5 Arnold in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 2. Aufl. 2009, § 22 Rz. 58. 6 Arnold (Fn. 5); Hüffer, Aktiengesetz, 8. Aufl. 2008, § 93 AktG Rz. 28. 7 Bauer/Krets, DB 2004, 811.

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Haftungsbeschränkungen/Regressverzichtsklauseln bei Genossenschaften

Abs. 4 Satz 1 AktG) und steht damit einer diesbezüglichen Verzichtsregelung nicht entgegen. Eine von der Hauptversammlung beschlossene Entlastung des Vorstandsmitgliedes hat jedoch keine Verzichtswirkung (§ 120 Abs. 2 Satz 2 AktG). Demnach sind den Anforderungen von § 93 Abs. 4 AktG nicht genügende Regressverzichtsklauseln in Aufhebungs- und sonstigen Vereinbarungen von Vorstandsmitgliedern von Aktiengesellschaft generell unwirksam. Aus dem gesetzlichen Verbot des § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG wird einhellig gefolgert, dass jegliche statutarische und vertragliche Regelungen, die im Vorhinein einen Haftungsausschluss oder eine Haftungsbeschränkung für Vorstandsmitglieder von Aktiengesellschaften vorsehen, zwingend unwirksam sind8. Gestaltungs- und Umgehungsmöglichkeiten, etwa durch Stimmbindungsvereinbarungen mit einem Großaktionär, werden zwar diskutiert, können das Unwirksamkeitsrisiko allerdings nicht ausschließen9. 2. Gesellschaften mit beschränkter Haftung Im Recht der GmbH fehlt eine § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG entsprechende Regelung. Aus § 46 Nr. 8 GmbHG folgt, dass es grundsätzlich in der Entscheidungskompetenz der Gesellschafterversammlung liegt, ob ein Geschäftsführer wegen etwaiger Sorgfaltspflichtverletzungen belangt oder ob auf Ansprüche gegen ihn verzichtet werden soll10. Lediglich ein Verzicht auf bzw. ein Vergleich über Ersatzansprüche der Gesellschaft, die auf einem Verstoß gegen die Kapitalerhaltungsvorschrift des § 30 GmbHG oder das Verbot des Erwerbs eigener Anteile nach § 33 GmbHG beruhen, sind gemäß § 43 Abs. 3 Satz 1 und 2 i. V. m. § 9b Abs. 1 Satz 1 GmbHG unwirksam. Das MoMiG11 erweiterte den Kreis unwirksamer Regressverzichtsregelungen auf Inanspruchnahmen wegen nicht ordnungsgemäßen Zahlungen nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder der Überschuldung der Gesellschaft (§ 64 Abs. 2 Satz 3 GmbHG). Zudem wird § 43 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 von der ganz herrschenden Meinung auch auf andere der Kapitalerhaltung dienende Ersatzansprüche angewendet, etwa auf die Geschäftsführerhaftung nach § 43a GmbHG12. § 9b Abs. 1 Satz 2 GmbHG enthält eine den aktienrechtlichen Bestimmungen vergleichbare Ausnahme für den Fall der Zahlungsunfähigkeit des Geschäftsführers. Im Recht der GmbH sind demnach nachträgliche Regressverzichtsvereinbarungen etwa in mit Geschäftsführern geschlossenen Aufhebungsvereinbarungen

__________ 8 Krieger in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 2007, § 3 Rz. 38; Hüffer, Aktiengesetz, 8. Aufl. 2008, § 93 AktG Rz. 1; Bauer/Krets, DB 2003, 811, 813. 9 Bauer/Krets, DB 2003, 811, 813. 10 BGH, NJW 2002, 3777. 11 Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) v. 23.10.2008, BGBl. I 2008, 2026. 12 BGH, NJW 2001, 3123; Haas in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 2007, § 11 Rz. 6; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, § 43 GmbHG Rz. 47.

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in den beschriebenen Grenzen endgültig wirksam13 und auch nicht auf die Fälle beschränkt, in denen der Ersatzanspruch nicht zur Befriedigung der Gesellschaftergläubiger erforderlich ist14. Der Vereinbarung muss allerdings ein wirksamer Beschluss der Gesellschafter zugrunde liegen15. Eine analoge Anwendung von § 120 Abs. 2 Satz 2 AktG wird im Recht der GmbH abgelehnt. Die nach § 46 Abs. 5 GmbHG von den Gesellschaftern vorzunehmende Entlastung enthält in den durch § 43 Abs. 3 Satz 1 und 2 i. V. m. § 9b Abs. 1 Satz 1 GmbHG gezogenen Grenzen zumindest insoweit eine Verzichtswirkung, als dass für das entlastende Organ aufgrund der Rechenschaftslegung Regressansprüche bei Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt erkennbar waren16. Bei der weitgehenden Einigkeit über die Möglichkeit einer nachträglichen Verzichtsvereinbarung überrascht der intensiv geführte Meinungsstreit darüber, ob im Vorhinein vereinbarte haftungsbeschränkende Klauseln etwa in Anstellungsverträgen von GmbH-Geschäftsführern unwirksam sind. Ein vollumfänglicher Haftungsausschluss unter Einbeziehung vorsätzlichen Handelns ist auch hier durch § 276 Abs. 3 BGB ausgeschlossen. Die Meinungen reichen von der generellen Unmöglichkeit der Modifikation des Pflichten- und Sorgfaltsmaßstabs des Geschäftsführers17 über die Zulässigkeit einer Begrenzung auf Fälle des Vorsatzes und der groben Fahrlässigkeit18 bis hin zur vorzugswürdigen herrschenden Meinung, wonach in dem von § 43 Abs. 3 GmbHG gesteckten Rahmen auch die Haftung für Fälle einfacher Fahrlässigkeit im Vorhinein erlassen werden kann19. Hierfür spricht, dass dem GmbH-Recht keine zwingenden Gründe dafür zu entnehmen sind, warum von den allgemeinen Regelungen des § 276 Abs. 3 BGB abgewichen werden sollte20. Für den Gläubigerschutz ist ausreichend, dass Haftungsbeschränkungsregelungen in Anstellungsverträgen von GmbH-Geschäftführern zumindest insoweit unwirksam sind, wie § 276 Abs. 3 BGB und § 43 Abs. 3 Satz 1 und 2 i. V. m. § 9b Abs. 1 Satz 1 GmbHG dem entgegenstehen.

__________ 13 Haas in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 2007, § 11 Rz. 2 ff.; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, § 43 GmbHG Rz. 47; Uwe H. Schneider in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2006, § 43 GmbHG Rz. 264; Bauer/ Krets, DB 2003, 811, 814. 14 So aber Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl. 2009, § 43 GmbHG Rz. 52. 15 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, § 43 GmbHG Rz. 47; Uwe H. Schneider in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2006, § 43 GmbHG Rz. 267; Bauer/ Krets, DB 2003, 811, 813. 16 Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, § 46 GmbHG Rz. 41. 17 Haas in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 2007, § 11 Rz. 57 ff. 18 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, § 43 GmbHG Rz. 46; Tillmann/Mohr, GmbH-Geschäftsführer, 8. Aufl. 2003, Rz. 606. 19 BGH, NJW 2001, 3123; BGH, NJW 2000, 576, 577; Uwe H. Schneider in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2006, § 43 GmbHG Rz. 259 und 261; Jaeger, Der Anstellungsvertrag des GmbH-Geschäftsführers, 5. Aufl. 2009, S. 92; Bauer/Krets, DB 2003, 811, 814. 20 Bauer/Krets, DB 2003, 811, 814.

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Haftungsbeschränkungen/Regressverzichtsklauseln bei Genossenschaften

III. Haftungsbeschränkungsklauseln bei eingetragenen Genossenschaften 1. Meinungsstand Das Genossenschaftsgesetz enthält ebenso wenig wie das GmbHG eine § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG vergleichbare Regelung, die im Vorhinein vereinbarten Haftungsbeschränkungen bzw. -milderungen entgegenstünde. § 34 Abs. 1 GenG macht entsprechend dem gesetzlichen Vorbild21 des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG die Vorgabe, dass Vorstandsmitglieder bei ihrer Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters einer Genossenschaft anzuwenden haben. Damit wird der Sorgfaltsmaßstab des § 276 Abs. 1 Satz 2 BGB zugleich konkretisiert und verschärft22. Eine „genossenschaftseigentümliche Sorgfaltsgrenze“, die sich aus dem durch § 9 Abs. 2 Satz 1 GenG vorgegebenen Prinzip der Selbstorganschaft ergeben soll, weil der Personenkreis, aus dem die Vorstandsmitglieder ausgewählt werden, begrenzt sei, besteht nicht23. Die Mitgliedschaft in der Genossenschaft muss zum Zeitpunkt der Bestellung des Vorstandsmitgliedes noch nicht bestehen, auch Nichtmitglieder können gewählt werden24. Gerade in Genossenschaften, bei denen sich wegen des Umfangs der Geschäfte größere Haftungsrisiken ergeben (etwa bei Kredit-, Waren- und Wohnungsgenossenschaften), ist eher die Regel als die Ausnahme, dass Vorstandsmitglieder aus einem bundesweiten Bewerberkreis ausgewählt werden. § 34 Abs. 2 Satz 1 GenG knüpft an den vom Gesetz vorgegebenen Sorgfaltsmaßstab an und stellt die zentrale Anspruchsgrundlage für die Innenhaftung der Vorstandsmitglieder gegenüber der Genossenschaft dar. Einige besondere Haftungstatbestände werden in § 34 Abs. 3 GenG beispielhaft erwähnt. § 18 Satz 2 GenG sieht, ebenfalls entsprechend aktienrechtlichem Vorbild25, vor, dass die Satzung von den Bestimmungen des Genossenschaftsgesetzes nur insoweit abweichen darf, als dies ausdrücklich für zulässig erklärt wird. Da § 34 GenG keine Regelungen darüber vorsieht, dass Satzung oder Anstellungsvertrag von dem Sorgfaltsmaßstab „nach unten“ hin abweichen dürfen26, ist die Frage aufgeworfen, ob nicht bereits § 18 Satz 2 GenG der Vereinbarung von Haftungsbeschränkungsklauseln entgegensteht27. Die herrschende Auffassung folgt diesem Ansatz und folgert, dass im Vorhinein erfolgende statutarische

__________ 21 Müller, GenG, 2. Aufl. 1996, § 34 GenG Rz. 1 unter Hinweis auf BT-Drucks. 7/97, S. 23. 22 Schaffland in Lang/Weidmüller, GenG, 36. Aufl. 2008, § 34 GenG Rz. 16. 23 A. A. Weber in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 2007, § 4 Rz. 30; ähnlich Bode in FS Schaffland, 2008, S. 175, 182: Sorgfaltspflicht ist unter Berücksichtung der gesetzlich vorgegebenen Selbstorganschaft anders zu definieren, als im sonstigen kaufmännischen Bereich. 24 RGZ 144, 384; Schulte in Lang/Weidmüller, GenG, 36. Aufl. 2008, § 9 GenG Rz. 14. 25 § 23 Abs. 5 AktG. 26 Weber in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 2007, § 4 Rz. 35. 27 Weber (Fn. 26).

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oder vertragliche Abmilderungen der Haftung von Vorstandsmitgliedern nicht zulässig sind28. Dieses Ergebnis wird insbesondere in Bezug auf ehrenamtlich tätige Vorstandsmitglieder als unbefriedigend empfunden. Unter Hinweis auf die Möglichkeit eines nachträglichen Haftungsverzichts wird deshalb vereinzelt vertreten, die Haftung „ehrennebenamtlicher“ Vorstandsmitglieder könne außerhalb des von § 34 Abs. 3 GenG erfassten Bereichs durch die Satzung begrenzt werden29. Eine neben die Organwalterhaftung tretende anstellungsvertragliche Haftung könne sogar bis zur Grenze des § 276 Abs. 2 BGB ausgeschlossen werden30. Überwiegend werden Haftungsmilderungen allerdings abseits genereller Sorgfaltsanforderungen auf der Ebene der Ressortverantwortung31, im Bereich des Mitverschuldens gemäß § 254 BGB32, bei der Bestimmung des Grads des Verschuldens33 oder der Haftungsverteilung im Rahmen des Gesamtschuldnerausgleichs nach § 426 BGB34 diskutiert. Vereinzelt wird rechtspolitisch eine Gesetzesanpassung entsprechend dem durch das Gesetz zur Begrenzung der Haftung von ehrenamtlich tätigen Vereinsvorständen vom 28.9.200935 neu eingeführten § 31a BGB gefordert36. 2. Eigene Auffassung Die Frage der Zulässigkeit haftungsbegrenzender Anstellungsvertragsklauseln beurteilt sich im Ausgangspunkt danach, ob § 34 GenG eine Differenzierung der Sorgfaltsanforderungen von Vorstandsmitgliedern eingetragener Genossenschaften zulässt. Wird dies verneint, können solche Klauseln nicht zulässig sein, weil vertragliche Vereinbarungen nicht wirksam sind, wenn sie nach § 18 Satz 2 GenG noch nicht einmal durch Satzungsregelung zugelassen werden können. Wird die Frage positiv beschieden, ist kein durchgreifender Grund dafür ersichtlich, weshalb – Verstöße gegen gläubigerschützende Kapitalerhaltungsvorschriften und gravierende Pflichtverletzungen ausgenommen – Haftungsbeschränkungen nicht dem gesetzlichen Leitbild des § 276 BGB folgend zulässig sein sollen. Der Wortlaut von § 34 Abs. 1 Satz 1 GenG differenziert in den Sorgfaltsanforderungen nicht, insbesondere auch nicht nach der Art der Bestellung oder der Besoldung der Vorstandsmitglieder. Obwohl § 24 Abs. 3 Satz 1 GenG die Be-

__________

28 Beuthien, GenG, 14. Aufl. 2004, § 34 GenG Rz. 20; Müller, GenG, 2. Aufl. 1996, § 34 GenG Rz. 8; Schaffland in Lang/Weidmüller, GenG, 36. Aufl. 2008, § 34 GenG Rz. 131. 29 Weber in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 2007, § 4 Rz. 37. 30 Weber (Fn. 29). 31 Schaffland in Lang/Weidmüller, GenG, 36. Aufl. 2008, § 34 GenG Rz. 6; Bode in FS Schaffland, 2008, S. 175, 184. 32 Beuthien, GenG, 14. Aufl. 2004, § 34 GenG Rz. 12. 33 Müller, GenG, 2. Aufl. 1996, § 34 GenG Rz. 26; Bode in FS Schaffland, 2008, S. 175, 186. 34 BGH, NJW-RR 2004, 900 = WM 2004, 486. 35 BGBl. I 2009, 3161. 36 Schaffland in Lang/Weidmüller, GenG, 36. Aufl. 2008, § 34 GenG Rz. 6.

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stellung besoldeter (haupt- und nebenamtlicher) und unbesoldeter (ehrenamtlicher) Vorstandsmitglieder zulässt, nimmt § 34 Abs. 1 Satz 1 GenG keine entsprechende Unterscheidung vor. An anderer Stelle betont das Gesetz ausdrücklich, dass die für Vorstandsmitglieder geltenden Vorschriften auch auf stellvertretende Vorstandsmitglieder anzuwenden sind (§ 35 GenG). Es besteht Einigkeit darin, dass stellvertretende Vorstandsmitglieder im Bereich ihrer Pflichten den ordentlichen gleichgestellt sind, insbesondere den gleichen Sorgfalts- und Haftungsmaßstäben unterliegen37. Dass Vergleichbares auch für ehrenamtliche Vorstandsmitglieder gelten muss, zeigt sich insbesondere an den Fällen, in denen ausschließlich ehrenamtliche Vorstandsmitglieder bestellt sind, wie dies etwa bei Winzergenossenschaften häufig vorzufinden ist. Auch wenn die Tagesarbeit durch als Arbeitnehmer angestellte Geschäftsführer erledigt wird, ändert dies nichts an der dem Vorstand durch § 27 Abs. 1 GenG übertragenen alleinigen Leitungsverantwortung und seiner gerichtlichen und außergerichtlichen Vertretungsbefugnis (§ 24 Abs. 1 GenG). Normzweck des § 34 GenG ist, die Genossenschaft, ihre Mitglieder und die Gläubiger vor Schaden zu bewahren. Damit wäre nicht vereinbar, wenn einzelne oder alle Vorstandsmitglieder sich dem strengen Sorgfaltsmaßstab des § 34 Abs. 1 Satz 1 GenG entziehen könnten. § 31a BGB38 ist als lediglich für das Vereinsrecht eingefügte Spezialnorm nicht auf eingetragene Genossenschaften anwendbar, weder direkt noch in Analogie. Eine andere Beurteilung ist auch nicht deshalb gefordert, weil Kandidaten für eine ehrenamtliche Vorstandsposition wegen dieses strengen Haftungsregimes von einem Einsatz für die Genossenschaft abgehalten werden könnten: Alle Vorstandsmitglieder, ob haupt-, neben- oder ehrenamtlich tätig, trifft keine uneingeschränkte Leitungsverantwortung, diese ist vielmehr durch die Grundsätze der Ressort- und Mitarbeiterverantwortlichkeit begrenzt. Eine wirksame Geschäftsverteilungsabrede unterstellt, dürfen sich nicht ressortverantwortliche Vorstandsmitglieder im Rahmen ihrer Gesamtverantwortung auf die Überwachung ihrer Vorstandskollegen beschränken39. Ehrenamtliche Vorstandsmitglieder sind im Verhältnis zu hauptamtlichen wie nichtressortverantwortliche zu behandeln40. Nebenamtliche Vorstandsmitglieder sind in ihrer Ressortverantwortung auf zumeist eng umrissene Geschäftsbereiche beschränkt. Wenn Vorstandsmitgliedern Pflichtwidrigkeiten im Rahmen ihrer Gesamtverantwortung unterlaufen, gibt es keinen Grund, weshalb ehrenamtliche Vorstandsmitgliedern geringeren Sorgfaltsanforderungen unterliegen sollen, als hauptamtliche. Kernaufgabe ihrer Bestellung ist es gerade, ihre Gesamtverantwortung durch Kontrolle ihrer Vorstandskollegen oder des operativ tätigen Geschäftsführers auszuüben. Besteht im Einzelfall eine Notwendigkeit,

__________ 37 Bauer, Genossenschafts-Handbuch, Loseblatt, § 35 GenG Rz. 12; Müller, GenG, 2. Aufl. 1996, § 35 GenG Rz. 5; Schaffland in Lang/Weidmüller, GenG, 36. Aufl. 2008, § 35 GenG Rz. 14. 38 Eingeführt durch das Gesetz zur Begrenzung der Haftung von ehrenamtlich tätigen Vereinsvorständen v. 28.9.2009, BGBl. I 2009, 3161. 39 BGH, NJW-RR 2004, 900 = WM 2004, 486; Bode in FS Schaffland, 2008, S. 175, 184. 40 Schaffland in Lang/Weidmüller, GenG, 36. Aufl. 2008, § 34 GenG Rz. 6.

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den Verschuldensmaßstab zwischen einzelnen Vorstandsmitgliedern unterschiedlich zu gewichten, darf dies erst bei der im Rahmen des Gesamtschuldnerausgleichs zu ermittelnden internen Haftungsverteilung nach § 426 BGB Berücksichtigung finden41. Das ist gerade auch in den Fällen interessengerecht, in denen ausschließlich ehrenamtliche Vorstandsmitglieder bestellt sind oder einem einzelnen ehrenamtlichen Vorstandsmitglied ein Überwachungsverschulden zu Last gelegt wird. 3. Ergebnis § 34 Abs. 1 Satz 1 GenG ist zwingend und lässt eine Differenzierung des Sorgfaltsmaßstabes zwischen ehrenamtlichen und haupt- bzw. nebenamtlichen Vorstandsmitgliedern nicht zu42. Weder die Satzung noch vertragliche Abreden können im Vorhinein Haftungsmilderungen bzw. -beschränkungen für Vorstandsmitglieder vorsehen43. Entsprechende Haftungsbeschränkungsklauseln sind unwirksam44. Unwirksam sind folgerichtig auch Ausschlussfristen für die Geltendmachung von Regressansprüchen45.

IV. Regressverzichtsklauseln bei eingetragenen Genossenschaften 1. Meinungsstand Nach § 34 Abs. 4 Satz 1 GenG tritt der Genossenschaft gegenüber eine Ersatzpflicht nicht ein, wenn die Handlung des Vorstandsmitgliedes auf einem gesetzmäßigen Beschluss der Generalversammlung beruht. Diese Bestimmung wird allgemein dahingehend interpretiert, dass die Generalversammlung im Nachhinein einen Verzicht auf Regressansprüche gegen Vorstandsmitglieder und einen daraufhin gerichteten Vergleich beschließen kann46. Ob die gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 GenG ausschließlich von der Generalversammlung vorzunehmende Entlastung – eine ausreichende Information unterstellt – eine Verzichtswirkung haben kann oder § 120 Abs. 2 Satz 2 AktG analoge Anwendung findet47, wurde vom Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 21.3.200548 zwar ausdrücklich offen gelassen. Richtigerweise kann eine Entlastung aber

__________ 41 Vgl. BGH, NJW-RR 2004, 900 = WM 2004, 486. 42 BGH, NJW-RR 2004, 900 = WM 2004, 486; Beuthien, GenG, 14. Aufl. 2004, § 34 GenG Rz. 12. 43 Beuthien, GenG, 14. Aufl. 2004, § 34 GenG Rz. 20; Müller, GenG, 2. Aufl. 1996, § 34 GenG Rz. 8; Schaffland in Lang/Weidmüller, GenG, 36. Aufl. 2008, § 34 GenG Rz. 131. 44 So auch Fandrich in Pöhlmann/Fandrich/Bloehs, GenG, 3. Aufl. 2007, § 34 GenG Rz. 26. 45 BGH, DStR 2005, 933. 46 S. nur Beuthien, GenG, 14. Aufl. 2004, § 34 GenG Rz. 21; Müller, GenG, 2. Aufl. 1996, § 34 GenG Rz. 54; Schaffland in Lang/Weidmüller, GenG, 36. Aufl. 2008, § 34 GenG Rz. 142. 47 So Beuthien, GenG, 14. Aufl. 2004, § 48 GenG Rz. 8; Müller, GenG, 2. Aufl. 1996, § 48 GenG Rz. 72a. 48 BGH, DStR 2005, 933.

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bei ausreichender Information der Generalversammlung eine Verzichtswirkung haben49. Bei § 120 Abs. 2 Satz 2 AktG handelt es sich um eine der Analogie nicht zugängliche Spezialvorschrift des Aktienrechts, die nicht hätte eingeführt werden müssen, wenn sie lediglich Ausdruck eines sowieso bestehenden allgemeinen Rechtsprinzips wäre50. Die in § 120 Abs. 2 Satz 2 AktG enthaltene Regelung ist nicht als generelles Prinzip auf alle bestehenden Gesellschaftsformen zu übertragen. Das zeigt sich schon daran, dass der Entlastung auch bei Gesellschaften mit beschränkter Haftung unter bestimmten Voraussetzungen Verzichtswirkung zugemessen wird51. Eine Beschlussfassung der Generalversammlung wurde bis zur Genossenschaftsgesetz-Novelle 200652 allgemein als zwingende Voraussetzung für einen Verzicht auf Regressansprüche gesehen. Ausschließlich von Aufsichtsräten abgesegnete Regressverzichtsklauseln in Aufhebungs- und Regresserledigungsvereinbarungen wurden allgemein als unzulässig betrachtet53. Begründet wurde dies im Wesentlichen damit, dass nach der damaligen Regelung in § 39 Abs. 1 GenG ausschließlich die Generalversammlung zur gerichtlichen Geltendmachung von Regressansprüchen berufen war und der Aufsichtsrat dies nicht durch vorhergehende außergerichtliche Vergleiche unterlaufen dürfen sollte54. Diese Begründung kann seit der Genossenschaftsgesetz-Novelle 2006 nicht mehr uneingeschränkt herangezogen werden. Durch die Novelle wurde § 39 Abs. 1 GenG zunächst sprachlich an § 112 Satz 1 AktG angepasst, wonach der Aufsichtsrat die Genossenschaft gegenüber den Vorstandsmitgliedern gerichtlich und außergerichtlich vertritt (§ 39 Abs. 1 Satz 1 GenG). Im Anschluss daran wurde der Absatz aber dahingehend geändert, dass es künftig einer ausdrücklichen Satzungsregelung bedarf, wenn die Generalversammlung über die Führung von Prozessen gegen Vorstandsmitglieder entscheiden dürfen soll (§ 39 Abs. 1 Satz 3 GenG). Demnach ist mangels einer abweichenden statutarischen Regelung nunmehr ausschließlich der Aufsichtsrat zur gerichtlichen Vertretung gegenüber den amtierenden und ehemaligen55 Vorstandsmitgliedern berufen. Gerade bei den besonders haftungsträchtigen Kreditgenossenschaften enthalten die Satzungen vielfach keine entsprechende Bestimmung. Soweit die Literatur – Rechtsprechung existiert hierzu soweit ersichtlich noch nicht – bereits auf die neue Rechtslage Bezug nimmt, ist unklar, ob der bisher bestehende Konsens auch künftig noch aufrechterhalten bleibt. Teilweise wird nur darauf verwiesen, dass die Prozessführungsbefugnis des Aufsichtsrats

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49 Ebenso Bauer, Genossenschafts-Handbuch, Loseblattsammlung, § 48 GenG Rz. 60; Cario in Lang/Weidmüller, GenG, 36. Aufl. 2008, § 48 GenG Rz. 27. 50 Fandrich in Pöhlmann/Fandrich/Bloehs, GenG, 3. Aufl. 2007, § 34 GenG Rz. 16. 51 Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, § 46 GmbHG Rz. 41. 52 Gesetz zur Einführung der Europäischen Genossenschaft und zur Änderung des Genossenschaftsrechts v. 18.8.2006, BGBl. I 2006, 1911. 53 Keßler in Hillebrand/Keßler, GenG, 2001, § 34 GenG Rz. 47; Müller, GenG, 2. Aufl. 1996, § 34 GenG Rz. 54; Schaffland in Lang/Weidmüller, GenG, 36. Aufl. 2008, § 34 GenG Rz. 142. 54 Schaffland in Lang/Weidmüller, GenG, 36. Aufl. 2008, § 34 GenG Rz. 142; allerdings noch auf die alte Rechtslage gestützt. 55 BGH, NJW 1998, 1946.

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mangels statutarischer Regelung ebenso wie die rechtsgeschäftliche Vertretungsmacht eine ausschließliche ist, ohne dass hier gesondert auf einen Regressverzicht eingegangen wird56. Nachdem sogar Prozessvollmachten nach dem gesetzlichen Leitgedanken grundsätzlich auch zum Abschluss eines Vergleiches ermächtigen (§ 81 ZPO), könnte man daraus folgern, dass dies auch für die Prozessführungsbefugnis des Aufsichtsrates im Regressprozess und vielleicht sogar weitergehend im außergerichtlichen Verfahren gelten könnte. Ein anderer Teil der Literatur sieht die Prozessführungsbefugnis des Aufsichtsrates auch noch nach der Novelle 2006 dahingehend beschränkt, dass Regressverzichte auch künftig zwingend einer Beschlussfassung der Generalversammlung unterworfen werden müssen57. 2. Eigene Auffassung Der neue Wortlaut des § 39 Abs. 1 GenG steht zunächst der Annahme nicht dagegen, dass die Prozessführungsbefugnis des Aufsichtsrats im Regressprozess auch die Befugnis zur Abschluss eines Vergleichs und damit eines (Teil-)Verzichts umfasst. Unstreitig ist es alleinige Aufgabe des Aufsichtsrates, zu beschließen, in welchem Umfang und in welcher Höhe Regressansprüche außergerichtlich und gerichtlich geltend gemacht werden. Entscheidet er sich (etwa im Hinblick auf die vermutete Vermögenssituation des Vorstandsmitglieds) in unverjährter Zeit nur ein Viertel der Regressforderung geltend zu machen, ist damit zumeist, die Erhebung der Verjährungseinrede unterstellt, bereits inzidenter ein Regressverzicht in Höhe von drei Vierteln verbunden. Diese Möglichkeit eines faktischen Regressverzichts wird bislang mit Ausnahme der Möglichkeit einer eigenen Haftung des Aufsichtsrates, soweit ersichtlich, noch nicht problematisiert; auch das könnte für die Möglichkeit eines durch den Aufsichtsrat zu beschließenden Regressverzichts sprechen. § 81 ZPO hingegen kann entgegen dem ersten Anschein nicht als Beleg hierfür herangezogen werden. Erstens regelt er lediglich den Umfang von Prozessvollmachten Dritter, wohingegen die Prozessführungsbefugnis des Aufsichtsrates eine ausnahmsweise eingeräumte gesetzliche Vertretungsbefugnis für die Genossenschaft darstellt. Zum zweiten zeigt bereits § 83 Abs. 1 ZPO, dass Prozessvollmachten auch dem Prozessgegner gegenüber beschränkt sein können, insbesondere der Ausschluss der Eingehung eines Vergleich und eines Verzicht diesem wirksam entgegen gehalten werden können. Der Gesetzesbegründung zur Genossenschaftsgesetz-Novelle 2006 ist nicht zu entnehmen, dass der Gesetzgeber die bis dahin ausschließlich der Generalversammlung zugewiesene Möglichkeit eines Regressverzichts oder -vergleichs künftig auch dem Aufsichtsrat zuweisen wollte. Ziel des Gesetzgebers war zunächst nur, § 39 Abs. 1 Satz 1 GenG in Anlehnung an § 112 AktG sprachlich zu vereinfachen58. Die Anlehnung ans Aktienrecht, das trotz einer nunmehr textlich gleichlautenden gesetzlichen Vertretungsbefugnis des Aufsichts-

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56 Beuthien, GenG-Aktualisierungsband zur 14. Aufl. 2007, § 39 GenG Rz. 4a und 4b. 57 Bauer, Genossenschafts-Handbuch, Loseblattsammlung, § 39 GenG Rz. 44. 58 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 16/1025, S. 85.

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Haftungsbeschränkungen/Regressverzichtsklauseln bei Genossenschaften

rats die Entscheidung über einen Regressverzicht ausschließlich der Hauptversammlung zuweist (§ 93 Abs. 4 Satz 3 AktG)59, deutet darauf hin, dass der Gesetzgeber auch für das Genossenschaftsrecht keine abschließende Kompetenzenzuweisung an den Aufsichtsrat vornehmen wollte. Die einzige vom Gesetzgeber verfolgte materielle Änderung war, Aktivprozesse der Genossenschaft gegen Vorstandsmitglieder nicht zwingend von einem entsprechenden Beschluss der Generalversammlung abhängig zu machen, weil ihm für die mit einem solchen Prozess verbundene Abwägung der Vor- und Nachteile der Aufsichtsrat in der Regel als besser geeignet erschien als die Generalversammlung60. Ein entscheidender Beleg dafür, dass die Entscheidungskompetenz über den Regressverzicht nicht in der Zuständigkeit des Aufsichtsrats liegt, findet sich in § 48 Abs. 1 Satz 2 GenG: Eine der zentralen Aufgaben der Generalversammlung ist die der Beschlussfassung über die Entlastung von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern. Es handelt sich hierbei um eine ausschließliche, nicht übertragbare und nicht beschränkbare Entscheidungskompetenz der Generalversammlung61. Könnte der Aufsichtsrat tatsächlich wirksam auf Regressansprüche verzichten, liefe das der Generalversammlung eingeräumte Recht der Entlastung des Aufsichtsrats leer62. Trotz der grundlegenden Überarbeitung des Genossenschaftsgesetzes wollte der Gesetzgeber in dieses ausschließliche Recht der Generalversammlung nicht eingreifen, in § 48 GenG nahm er lediglich sprachliche Änderungen vor63. 3. Ergebnis Im Ergebnis kann der Aufsichtsrat einer Genossenschaft auch nach der Genossenschaftsgesetz-Novelle 2006 nicht ohne Beschluss der Generalversammlung wirksam über einen Regressverzicht oder einen darauf gerichteten Vergleich entscheiden. Hierauf gerichtete Regressverzichtsklauseln in Aufhebungs- und sonstigen Vereinbarungen sind ohne entsprechenden Beschluss der Generalversammlung unwirksam. Rechtshandlungen und Rechtsgeschäfte, die die Beschlussfassung der Generalversammlung vorwegnehmend, werden analog der Rechtslage bei Aktiengesellschaften von § 134 BGB erfasst und sind endgültig unwirksam. Zulässig und schwebend unwirksam sind aber Vergleichsund Verzichtsvereinbarungen, die vom Aufsichtsrat unter der aufschiebenden Bedingung der Zustimmung der Generalversammlung geschlossen werden.

__________ 59 S. hierzu oben II 1. 60 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 16/1025, S. 85. 61 Einhellige Auffassung, siehe nur Bauer, Genossenschafts-Handbuch, Loseblattsammlung, § 48 GenG Rz. 2; Cario in Lang/Weidmüller, GenG, 36. Aufl. 2008, § 48 GenG Rz. 2; Keßler in Hillebrand/Keßler, GenG, 2001, § 48 GenG Rz. 1; Müller, GenG, 2. Aufl. 1996, § 48 GenG Rz. 1. 62 Bauer, Genossenschafts-Handbuch, Loseblattsammlung, hier: Stand 12/06, § 39 GenG Rz. 44. 63 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 16/1025, S. 88.

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Ulrich Foerste

Weiterfresser- und Produktionsschäden in neuem Licht Inhaltsübersicht I. Einführung II. Die Haftung für Weiterfresserschäden am erworbenen Produkt 1. Eigentumsverletzung im Umfang der Ausweitung des Mangels? a) Keine bloße Selbstzerstörung b) Zuordnung zu Herstellungs- oder Instruktionsfehlern? aa) Widersprüchlichkeit der Rechtsprechung bb) Grenzen der Zurechenbarkeit cc) Notwendigkeit der Instruktionshaftung dd) Fazit 2. Zur Subsidiarität deliktischer Haftung nach der Schuldrechtsreform a) Das alte Schuldrecht b) Das neue Schuldrecht aa) Erweiterung der Verkäuferhaftung um Schadensersatzpflicht bb) Drohende Aushöhlung der kurzen Gewährleistungsfristen (1) Der Standpunkt des Gesetzgebers (2) Objektive Auslegung (3) Unabhängigkeit der Aushöhlung von einem Kaufvertrag mit dem Geschädigten

cc) Aushöhlung des Rechts zur zweiten Andienung 3. Besonderheiten der ZuliefererHaftung 4. Fazit III. Die Haftung für Produktionsschäden 1. Der Produktionsschaden als Weiterfresserschaden 2. Deliktische Haftung für Beschädigung der unversehrten Zutaten? a) Die Entwicklung des Meinungsstandes b) Die Lehre vom rechtsverletzenden Beschaffenheitsirrtum c) Stellungnahme aa) Die Verarbeitung durch Dritte bb) Die Eigenverarbeitung (1) Zufallsergebnisse der Lehre Gsells (2) Irrelevanz von Beschaffenheitsirrtümern bei Selbstverletzung (3) Der schockierende Sonderfall: Schädigung von Tieren IV. Ergebnisse

I. Einführung Ob die mangelbedingte Verschlechterung einer Kaufsache neben den einstigen Gewährleistungsrechten bzw. neben den heutigen Käuferrechten nach § 437 BGB auch eine Produkthaftung nach § 823 Abs. 1 BGB eröffnet1, wird seit Jahrzehnten diskutiert. Der Streit kreist bekanntlich um zwei Fragen: Wird in dem Umfang, in dem der bei Sacherwerb durch den Geschädigten vorhandene

__________ 1 So vor allem die Rechtsprechung, vgl. BGHZ 67, 359, 363 ff. – Schwimmerschalter; BGHZ 86, 256, 257 ff. – Gaszug; anders z. B. Wagner in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 823 BGB Rz. 127 ff.

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Mangel sich später noch ausweitet, das Eigentum dieses Erwerbers verletzt, ist ein entsprechender Verletzungserfolg dem Hersteller insbesondere zurechenbar? Und lässt das Leistungsstörungsrecht, insbesondere das Kaufmängelrecht, überhaupt Raum für die Anwendung des Deliktsrechts, obwohl die Käuferrechte wegen Sachmangels zumeist binnen zwei Jahren ab Ablieferung der Sache verjähren, während deliktische Haftung oft weiter reicht, weil die für sie typische Regelverjährung von drei Jahren erst nach der Eigentumsverletzung (Sachverschlechterung) beginnen könnte? Ähnliche Fragen stellen sich bei misslingender Produktion, nämlich dann, wenn die Herstellung eines Produkts durch den Geschädigten (oder für den Geschädigten) scheitert, weil eine dabei verwendete Zutat (Vorprodukt) untauglich war oder das Herstellungsverfahren anderweitig fehlerhaft war. Auch hier mag – über Kauf- bzw. Werkmängelrechte hinaus – eine deliktische Haftung bestehen, die insbesondere Dritte zur Verantwortung zieht. Auch dies erfordert freilich meist eine Eigentumsverletzung: sei es einen Weiterfresserschaden am entstehenden Produkt, also dessen dem Schädiger zurechenbare Verschlechterung, sei es eine Verantwortung des Schädigers für die von ihm provozierte Entscheidung des Geschädigten, zum Zwecke der Produktion mangelfreie Zutaten hinzugeben und so das daran bestehende Eigentum (sinnlos) zu opfern. Gerade diese Produktionsschäden werfen komplexe Rechtsfragen auf; sie können hier nicht ausgelotet werden. Aus aktuellem Anlass seien aber einige Vorfragen aufgegriffen, mit denen sich auch der Jubilar mehrfach befasst hat2. Denn einerseits gibt die Schuldrechtsreform (2002) der Diskussion einen neuen Rahmen. Zum anderen liegt seit dem Jahre 2003 eine eindrucksvolle Studie über „Substanzverletzung und Herstellung“ vor; Beate Gsell ist mit ihr allen Facetten deliktischer Eigentumsverletzung durch Produktfehler nachgegangen. Gsells Befund, der Hersteller mangelhafter Sachen habe für Weiterfresserschäden an der Kaufsache jedenfalls wegen Instruktionsfehlers einzustehen und für Produktionsschäden deshalb zu haften, weil der Konsument die genaue Einwirkung von Fehlern auf die von ihm investierten Zutaten nicht überblicke, ist von weitreichender Bedeutung.

II. Die Haftung für Weiterfresserschäden am erworbenen Produkt Der Erwerber eines Produkts wird, wie außer Streit steht, nicht schon dadurch in seinem Eigentum verletzt, dass diese Sache mangelhaft, nämlich ungeeignet oder sogar gefährlich, ist. Denn diese nachteilige Eigenschaft haftete der Sache schon im Zeitpunkt des Eigentumserwerbs an. Im Umfang dieses anfänglichen Mangelunwerts erwarb der Konsument also nur minderwertiges Eigentum, ohne jedoch – wie in § 823 Abs. 1 BGB vorausgesetzt – an seinem bis dahin bestehenden Recht Einbuße zu erleiden. Der VI. und VIII. Zivilsenat des BGH wenden § 823 Abs. 1 BGB jedoch seit langem an, soweit der anfängliche Man-

__________ 2 Graf von Westphalen, ZIP 1992, 18 ff.; ders., MDR 1998, 805 ff.; ders., DB 2001, 799 ff.

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gel weitere Teile des Produkts in Mitleidenschaft zieht, sich also „weiterfrisst“ und so einen mit dem Mangel nicht nur „stoffgleichen“ Schaden herbeiführt, weil nicht nur das Äquivalenzinteresse eines Käufers, sondern auch das Integritätsinteresse des Eigentümers verletzt ist3. Dies soll der Fall sein, wenn die Ausweitung des bei Gefahrübergang vorhandenen Mangels durch dessen (Auffindung und) Reparatur mit wirtschaftlich vertretbarem Aufwand hätte verhindert werden können4. 1. Eigentumsverletzung im Umfang der Ausweitung des Mangels? a) Keine bloße Selbstzerstörung Soweit der anfängliche Mangel weitere Teile des Produkts beeinträchtigt, wird das Eigentum in der Tat erstmals verschlechtert: Insoweit tritt, schleichend oder abrupt, jedenfalls ein Verletzungserfolg ein. Ist dieser dem Produktverantwortlichen, insbesondere dem Hersteller, auch zurechenbar? Dafür spricht auf den ersten Blick, dass derjenige, der rechtswidrig und schuldhaft den Produktfehler gesetzt hat, offenbar auch für dessen Ausdehnung verantwortlich ist. Gegen diese Zurechnung spricht nach verbreiteter Ansicht, dass jemand, der Eigentum an einer Sache erwirbt, die bereits den Keim ihrer Selbstzerstörung in sich trägt, letztlich nur ein Risiko erworben hat, dessen Realisierung nicht mehr Außenstehenden, sondern nur ihm als dem Eigentümer zuzurechnen ist (casum sentit dominus)5. Dieser Einwand erklärt freilich nicht, warum dem Eigentümer gerade in diesem Fall nicht – nach Maßgabe der jeweiligen Verkehrspflichten – Schutz vor einem Risiko gebührt, das für ihn nicht steuerbar ist, weil er nicht rechtzeitig davon erfährt, hingegen für den Produktverantwortlichen bei gebotener Sorgfalt beherrschbar war. Richtigerweise kann eine Eigentumsverletzung als solche also auch im Weiterfresserschaden liegen. b) Zuordnung zu Herstellungs- oder Instruktionsfehlern? Zu klären bleibt das dafür maßgebende pflichtwidrige und schuldhafte Verhalten des Produktverantwortlichen. Die Judikatur zur Haftung für Weiterfresserschäden knüpft auch insoweit an die typischen Herstellungsfehler an, die bereits zum anfänglichen Mangel des Produkts beigetragen haben: an Konstruktions- bzw. Fabrikationsfehler. Dem ist jetzt vor allem Gsell entgegen getreten; ihr zufolge rechtfertigt nur ein Instruktionsfehler – die schuldhaft unterlassene Warnung des Konsumenten vor dem Risiko der Mangelausweitung – eine deliktische Haftung für resultierende Schäden.

__________ 3 S. nur BGH, NJW 1983, 810, 811 f. – Gaszug; BGH, NJW 1985, 2420, 2420 f. – Kompressor. 4 BGH, NJW 1992, 1678 f. – Austauschmotor. 5 In diesem Sinne z. B. Reinicke/Tiedtke, Kaufrecht, 8. Aufl. 2009, Rz. 964; unscharf, nämlich unter Ausblendung möglicher Instruktionshaftung, auch noch Foerste in Graf von Westphalen (Hrsg.), Produkthaftungshandbuch, Bd. 1, 2. Aufl. 1997, § 21 Rz. 30.

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aa) Widersprüchlichkeit der Rechtsprechung Gsell hält der BGH-Rechtsprechung u. a. Widersprüchlichkeit vor. Da der BGH Weiterfresserschäden als Folge unzulässiger Inverkehrgabe des Produkts ansehe, müsste er jede Integritätsänderung der fehlerhaften Sache als Eigentumsverletzung bewerten; er erkenne aber nur solche Verschlechterungen als Verletzungen an, die mit dem anfänglichen Mangelunwert nicht „stoffgleich“ seien6. Gründe man die Haftung für Weiterfresserschäden demgegenüber auf Instruktionsfehler, so sei sie zwanglos begrenzbar; denn eine Warnpflicht und damit auch eine Eigentumsverletzung, nämlich eine Verletzungshandlung (Handlungspflicht), seien nur gegeben, soweit der Schutz vor Fehlerausbreitung möglich und wirtschaftlich sei7. Dieser Einwand ist berechtigt, sieht man davon ab, dass das Kriterium der „Stoffgleichheit“ wohl auch nur (rechtsfortbildend) einen gewissen Vorrang des Kaufrechts sicherstellen soll. Der Vorhalt Gsells zwingt aber nicht dazu, die Haftpflicht gerade an Instruktionsfehler zu binden. Die von der Rechtsprechung angestrebte Limitierung deliktischer Haftung ließe sich nämlich stimmiger begründen: Auch dann, wenn man jedes auf dem Herstellungsfehler beruhende Weiterfressen als Eigentumsverletzung qualifizierte, bliebe die Haftpflicht doch auf den Schaden beschränkt, der erst durch das Weiterfressen entstand. Dieser Endschaden wäre also mit dem Wert zu vergleichen, den das Produkt unter Berücksichtigung seines Fehlers hatte: Konnte dieser nun trotz Ausdehnung nur Schäden verursachen, welche die Rechtsprechung „stoffgleich“ nennt, weil er sich gar nicht oder nur mit unwirtschaftlichem Aufwand beseitigen ließ, so war das Produkt schon vor seiner Verletzung so geringwertig, dass auch das Weiterfressen weiteren Schaden nicht mehr oder nur noch begrenzt8 anrichten kann. Angemessen beschränken lässt sich die Haftung also auch dann, wenn man sie an die pflichtwidrige Inverkehrgabe knüpft. bb) Grenzen der Zurechenbarkeit Gsell moniert ferner, Herstellung oder Inverkehrgabe eines Produkts könnten nicht zugleich Verletzungshandlung für dessen Verschlechterung sein: „Wenn das Eigentum die Existenz der Sache voraussetzt und deshalb Herstellung und Inverkehrgabe der fehlerhaften Sache notwendige Bedingungen dafür sind, dass Eigentum an der fehlerhaften Sache erworben werden kann, was wiederum Voraussetzung dafür ist, dass die fehlerhafte Sache als Objekt einer Eigentumsverletzung in Betracht kommt, dann kann nicht zum Schutze des Eigentums an der fehlerhaften Sache verlangt werden, Herstellung oder Inverkehrgabe der fehlerhaften Sache zu unterlassen. Eine solche Verhaltensanweisung wäre paradox“9.

__________ 6 Gsell, Substanzverletzung und Herstellung, 2003, S. 46 f. 7 Gsell (Fn. 6), S. 231 f. 8 So – schadensrechtlich korrekter, da ganz am Einzelfall orientiert – schon Gsell (Fn. 6), S. 49. 9 Gsell (Fn. 6), S. 39 ff., 231 f. (im Anschluss an Schmidt-Salzer et al.).

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Man mag einwenden, dass es ohne die (pflichtwidrige) Herstellung und Inverkehrgabe eben auch mangels Eigentumserwerbs nicht zur Eigentumsverletzung gekommen, der Konsument also doch in jedem Fall schadlos geblieben wäre10. Indessen kann von einer Rechts(guts)verletzung wohl nur die Rede sein, wenn dieses Gut ohne die Verletzung, also ohne Verletzungserfolg und -handlung, unversehrt geblieben wäre, d. h. zumindest existiert hätte – nicht anders als in dem wrongful-life-Fall, dass ein behindertes Kind Schadensersatz fordert, weil man seine Geburt nicht verhindert habe11. In Frage steht die Verletzung freilich nur dort, wo gerade die Inverkehrgabe der konkreten Sache die Produkthaftung begründete, weil sie bei pflichtgemäßem Verhalten gänzlich hätte unterbleiben müssen. Hier hätte der Geschädigte (auch) an dem Produktteil, das bei Ausdehnung eines Produktfehlers gefährdet war, in der Tat nicht einmal Eigentum erworben (Beispiel: Konstruktionsfehler, bei dessen Vermeidung die Serie gar nicht marktfähig gewesen oder doch völlig anders gestaltet worden wäre). Diese Anknüpfung ist allerdings nicht zwingend: Je nach Fall kann als Tathandlung auch eine fehlerhafte Einwirkung auf das Produkt im Vordergrund stehen, ebenso ein Unterlassen, z. B. bei der Qualitätskontrolle. Dann ist dem Hersteller weniger die Inverkehrgabe als die unsachgemäße Behandlung des konkreten Produkts vorzuhalten (Beispiel: Als später weiterfressender Mangel erweist sich, dass eine Schraube nicht angezogen wurde). Und hier hätte der Konsument bei pflichtgemäßer Produktion u. U. dasselbe Produkt in fehlerfreiem Zustand, mangels Anwendbarkeit der §§ 946 ff. BGB jedenfalls das nämliche verletzbare Eigentum erhalten, was freilich zusätzlich erfordert, dass die Umstellung auf eine sichere Konstruktion bzw. Fabrikation jedenfalls den Vertrieb (auch) des konkreten Produkts nicht beeinflusst und daher auch dessen Übereignung an den Konsumenten nicht gehindert hätte12. cc) Notwendigkeit der Instruktionshaftung Das ändert nichts daran, dass diese Haftung nicht durchweg begründbar ist: Wo für den Tatrichter offen bleibt, ob pflichtgemäße Herstellung das Eigentum gerade an dem verschlechterten Produkt unversehrt gelassen hätte, kann die Haftung allenfalls auf einen Instruktionsfehler gestützt werden. Eine solche Instruktionshaftung ist nach Wagner allerdings ausgeschlossen, weil im Zeit-

__________ 10 Gsell selbst bestreitet teils die Eigentumsverletzung (so Fn. 6, S. 41), teils erst deren Rechtswidrigkeit (so Fn. 6, S. 155). 11 Auch hier gegen eine Haftung BGHZ 86, 240, 251 ff. – Röteln (wenn auch unter Hintanstellung solcher „Argumente formaler Logik“; dazu Picker, AcP 195 [1995], 483, 539 ff.). Entsprechend zu § 826 BGB bei manipulierter Mehrverkehrseinrede LG Stuttgart, NJW 1960, 1909, 1912 m. abl. Anm. Schwab; a. A. auch Heldrich, JZ 1965, 593, 598 f. Zu einem weiteren Aspekt der Frage schon Heerwart, AcP 14 (1831), 435, 437. 12 Die diesbezügliche Beweislast trägt an sich zwar der Geschädigte. Er hat in die dafür maßgebenden Interna der Produktion aber keinen Einblick, so dass die Rechtsprechung wohl nicht zögern würde, die Grundsätze der Hühnerpest-Entscheidung entsprechend auszudehnen.

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punkt der Inverkehrgabe die Pflichten zur sicheren Herstellung einer bloßen Warnpflicht „vorgelagert“ seien13. Das spricht freilich nur gegen eine Verdrängung der Herstellungspflichten. Hier geht es indes um Ergänzung derselben, und die Produzentenpflichten stehen nicht im Verhältnis strikter Alternativität14: Wer als Hersteller z. B. eine Produktgefahr, die den Vertrieb der Ware nicht per se ausschließen soll, immerhin realisiert, jedoch verkennt, dass sie durch eine vertretbare Änderung der Konstruktion vermeidbar würde, haftet insofern wegen Fahrlässigkeit; wenn er vor dieser Gefahr aber nicht einmal warnt, kann er zusätzlich wegen Vorsatzes verantwortlich sein, was straf- wie zivilrechtlich (§ 253 BGB) durchaus relevant ist. Problematischer dürfte sein, ob eine Warnpflicht gerade zum Schutze des fehlerhaften Produkts besteht15. Grundsätzlich hängt eine Verkehrspflicht nämlich auch davon ab, ob der Verkehr auf Gefahrabwendung vertraut, und dies kann einerseits vom jeweils drohenden Schadensausmaß, andererseits von dem Haftungsregime, das die Erwartungen des Konsumenten vorprägt, beeinflusst sein16. Insofern ist zweierlei bedeutsam: Die hier drohende Schädigung des Produkts hat – im Unterschied zu den klassischen Risiken für Leben, Gesundheit oder externe Sachen – stets begrenzten, oft sogar untergeordneten Umfang17. Und den Ausgleich dieses Schadens bzw. dessen Abwendung durch Warnung erwartet der Konsument weniger vom Hersteller des Produkts als von seinem Verkäufer; diesen treffen immerhin auch Gewährleistungspflichten für die Kaufsache – wobei der Konsument sich zugleich darauf einstellen wird, dass er als Käufer schlechter Ware nach Ablauf der Fristen des § 438 BGB auf ihr „sitzen bleibt“. dd) Fazit Festzuhalten ist, dass Weiterfresserschäden dem § 823 Abs. 1 BGB teilweise nur dann subsumierbar sind, wenn man sie auf einen Instruktionsfehler zurückführen kann, dass aber eine Warnpflicht zum Schutz des in Verkehr gegebenen Produkts vor Selbstschädigung zumindest fraglich ist. 2. Zur Subsidiarität deliktischer Haftung nach der Schuldrechtsreform Die Kernfrage einer Deliktshaftung für Weiterfresserschäden war schon immer, ob damit nicht die Sonderregeln der Verkäuferhaftung für Sachmängel unterlaufen werden.

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13 Wagner (Fn. 1), § 823 BGB Rz. 131, 631. 14 Dazu schon Gsell (Fn. 6), S. 187 f., 234 f., 332. 15 Gänzlich abl., da (auch) sie allein dem Äquivalenzinteresse dienen würde, Tettinger, JZ 2006, 641, 649. 16 Zutreffend Gsell (Fn. 6), S. 167 f., die diese Punkte allerdings recht knapp behandelt; krit. Spickhoff in Soergel, 13. Aufl. 2005, § 823 BGB Rz. 83 Anm. 400. 17 In diesem Sinne auch Schlechtriem, AcP 204 (2004), 300, 307. Der Hinweis Gsells, ein Produktfehler werde selten nur das Produkt selbst gefährden (Fn. 6, S. 168), hilft nicht ab, da es außerhalb des Schutzzwecks läge, eine Verhaltenspflicht zur Bewahrung externer Rechtsgüter zum Schutze des fehlerhaften Produkts heranzuziehen.

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a) Das alte Schuldrecht Nach altem Schuldrecht brauchte der Verkäufer als solcher – mangels Arglist oder Zusicherung – bekanntlich gar nicht fürchten, für Mangelschäden an der Kaufsache haften zu müssen, da die Rechtsprechung Ansprüche aus positiver Vertragsverletzung (zu Recht) nicht auf solche Schäden erstreckte18; die üblichen Gewährleistungsrechte für bewegliche Sachen verjährten binnen sechs Monaten ab Ablieferung (§ 477 Abs. 1 BGB a. F.). Unterwarf man Weiterfresserschäden hingegen auch der deliktischen Haftung, so begann deren Verjährung (binnen drei Jahren ab Kenntnis) überhaupt erst mit der Entstehung dieses Anspruchs, d. h. mit der Eigentumsverletzung, die im Weiterfressen liegt, es sei denn, dass seit der Inverkehrgabe 30 Jahre verstrichen waren (§ 852 BGB a. F.). Die Anwendung des Deliktsrechts ergänzte also insbesondere die Käuferrechte wegen Sachmangels und „verlängerte“ deren Verjährung gewissermaßen um zweieinhalb Jahre bzw. um maximal 29,5 Jahre. b) Das neue Schuldrecht Die Schuldrechtsreform hat dies nur in Nuancen geändert. aa) Erweiterung der Verkäuferhaftung um Schadensersatzpflicht Seit dem Jahre 2002 haftet der Verkäufer eines fehlerhaften Produkts bei Verschulden auch umfassend auf Schadensersatz, sei es nach §§ 280 Abs. 1, 437 Nr. 3 BGB, sei es wegen Versäumung einer Frist zur Nacherfüllung oder wegen Unmöglichkeit nach §§ 280 Abs. 1, 3, 281, 283, 311a, 437 Nr. 3 BGB; mit dieser Maßgabe kann der Produktgeschädigte daher – unstreitig – auch etwaigen Weiterfresserschaden an der Kaufsache als Mangel- bzw. Folgeschaden ausgleichen19, sofern dieser infolge – gesetzlich vermutet – schuldhafter Pflichtverletzung seines Vertragspartners eintrat. Insoweit also hat das neue Recht vertragliche und deliktische Haftung einander angenähert20. Umso wichtiger sind verbleibende Eigenheiten. bb) Drohende Aushöhlung der kurzen Gewährleistungsfristen Die skizzierte Vertragshaftung verjährt i. d. R. binnen zwei Jahren ab Ablieferung der beweglichen Sache an den Käufer, nur bei Bauprodukten, durch deren Verwendung dann auch ein Bauwerk mangelhaft wurde, binnen fünf Jahren (§ 438 Abs. 1 Nr. 2 lit. b, Nr. 3, Abs. 2 BGB). Demgegenüber würde eine Deliktshaftung wieder binnen drei Jahren ab Kenntnis oder grob fahrlässiger

__________ 18 S. nur BGH, NJW 1983, 810, 811 – Gaszug; aber, wie erinnerlich, sehr umstritten. 19 S. nur Schollmeyer, NJOZ 2009, 2729, 2737 ff. m. w. N. – Besteht der Käufer statt dessen auf Minderung des Kaufpreises, so sind Weiterfresserschäden gleichfalls zu berücksichtigen, s. nur Faust in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 441 BGB Rz. 11; Matusche-Beckmann in Staudinger, Neubearb. 2004, § 441 BGB Rz. 18; a. A. Gsell (Fn. 6), S. 328 Fn. 893. 20 Zutr. Mansel/Stürner in AnwKomm.BGB, 2005, § 195 BGB Rz. 58.

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Unkenntnis der anspruchsbegründenden Umstände – vor allem der Eigentumsverletzung durch Weiterfressen – verjähren (§§ 195, 199 Abs. 1 BGB), dessen ungeachtet zehn Jahre nach Entstehung des Schadensersatzanspruchs (durch das Weiterfressen) und spätestens 30 Jahre nach Inverkehrgabe des Produkts (§ 199 Abs. 3 BGB). Die Anwendung des Deliktsrechts würde einen vertraglichen Anspruch auf Ersatz des Weiterfresserschadens also insofern ergänzen, als eine ebenbürtige Haftung anschlösse21 und die meist zweijährige Verjährung nach Kaufrecht selbst bei Kenntnis des Weiterfresserschadens um immerhin ein Jahr und – mangels einer solchen Eigentumsverletzung bzw. deren Kenntnis – gar um bis zu 28 Jahre „verlängert“ würde. Damit würde die Verkäuferverantwortung für einen Sachmangel drastisch erweitert, wenn auch nur in dem Umfang, in dem jener die Kaufsache (mangels wirtschaftlich sinnvoller Reparatur) zusätzlich verschlechtert. (1) Der Standpunkt des Gesetzgebers Das Verhältnis von vertraglicher und deliktischer Haftung sollte aus Sicht des Gesetzgebers grundsätzlich dem Kumulationsprinzip folgen, auch auf Ebene der Anspruchsverjährung22. Das schließt Ausnahmen nicht aus, vor allem dort, wo Sonderverjährungsrecht für vertragliche Ansprüche auf eine spezifische Wertung des Gesetzgebers hinweist23 und konkurrierende deliktische Haftung so weitgehend inhaltsgleich wäre, dass deren Anwendung das Anliegen des Gesetzgebers unterlaufen würde. Anerkannt ist z. B., dass die kurze Verjährung von Schadensersatzansprüchen des Vermieters und Verpächters wegen Verschlechterung der überlassenen Sache (§§ 548 Abs. 1, 591b Abs. 1 BGB) auch für deliktische Ansprüche maßgebend ist24. Auch die Verjährungsfrist für Sachmängel-Ansprüche (§ 438 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 BGB) war wohlüberlegt. Die Schuldrechtskommission hatte noch eine dreijährige Verjährung vorgeschlagen. Dazu äußerte die Begründung des Fraktionsentwurfs zum Schuldrechtsmodernisierungsgesetz mehrfach, diese Frist sei für Sachmängel zu lang25; sie sollte daher auf zwei Jahre verkürzt werden, und zwar – entgegen einem Vorschlag Eidenmüllers26 – erklärtermaßen auch für verschuldensabhängige Mängelansprüche27, also Schadensersatzansprüche.

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21 Ihr Nachweis wäre zwar nicht durch § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB, aber mindestens vergleichbar erleichtert: durch die Beweislastumkehr nach BGHZ 51, 91, 104 ff. – Hühnerpest. 22 S. nur Fraktionsentwurf zum SchRModG, BT-Drucks. 14/6040, S. 105 („nicht selten konkurrieren“); Wagner in Dauner-Lieb/Konzen/K. Schmidt (Hrsg.), Das neue Schuldrecht in der Praxis, 2003, S. 203, 205 ff. 23 So auch Gsell (Fn. 6), S. 332 ff., die dann freilich, trotz Einbeziehung der Schuldrechtsreform (S. VII), die skeptischen Äußerungen des Gesetzgebers zur Weiterfresser-Rechtsprechung nicht auswertet. 24 Vgl. BGH, NJW 1993, 2797, 2798 (zu § 558 BGB a. F.); BGH, NJW 2001, 2253 f. (zu § 591b Abs. 1 BGB); Spindler in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2008, § 823 BGB Rz. 65. 25 Fraktionsentwurf zum SchRModG, BT-Drucks. 14/6040, S. 102 f., 105 („nicht geeignet“). 26 Vgl. JZ 2001, 283, 285 f. 27 Fraktionsentwurf zum SchRModG, BT-Drucks. 14/6040, S. 102 f.

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Da Eidenmüller seine Forderung nach längerer (und kenntnisabhängiger) Verjährung am Beispiel der Verschuldenshaftung für Mangelfolgeschäden verdeutlicht hatte28, steht außer Frage, dass der Fraktionsentwurf zumindest die Haftung für Mangelschäden, also diejenigen an der Kaufsache, strikt auf zwei Jahre beschränken sollte. Man verband mit dem Entwurf denn auch die Erwartung, den Anlass für abweichende Kunstgriffe der Rechtsprechung – der Ersatz von Weiterfresserschäden nach Deliktsrecht galt ihm als „Wertungswiderspruch“29 – beseitigt zu haben. In der Entwurfsbegründung heißt es: „Die regelmäßige Verjährungsfrist ist den neuen besonderen Verjährungsfristen so nahe gerückt, dass die unterschiedliche Verjährung künftig keine Veranlassung mehr bietet, systematisch weniger nahe liegende Konstruktionen zu entwickeln, um die – so nicht mehr bestehenden – Nachteile der unterschiedlichen Verjährungsfristen auszugleichen“30. Es mag daher überraschen, dass die Verfasser des Entwurfs die Judikatur zu den Weiterfresserschäden – künftig – dennoch nicht an seine Wertungen binden wollten, sondern deren Beachtung freistellten. Erhellend ist immerhin die gegebene Begründung, selbst bei Fortführung der Rechtsprechung würde „ein Wertungswiderspruch anders als bisher weitgehend vermieden, weil die dann geltende regelmäßige Verjährung auf ein ausreichendes Maß reduziert wird.“ Dies bezeugt nämlich Irrtümer der Entwurfsverfasser über den Entwurf: Erstens änderte dieser die Verjährung deliktischer Ansprüche gegenüber § 852 Abs. 1 BGB a. F. gerade nicht so, dass sich für Weiterfresserschäden nennenswerte Folgen ergeben31. Zweitens kann ein Wertungswiderspruch kaum „weitgehend“ vermeidbar sein, wenn der Entwurf eine dreijährige Verjährung für Ersatzansprüche wegen Mangelschäden ausdrücklich verwarf, das Deliktsrecht sie aber gerade eröffnen würde, dies zumindest für eine Gruppe wichtiger, wenn auch zufällig erfasster Mangelschäden i. w. S.: die Weiterfresserschäden32. Und drittens läge darin, dass die Verjährung deliktischer Mangelhaftung dank ihres späteren Beginns diejenige vertraglicher Schadenshaftung um 28 Jahre, also um 1.500 %, verlängert, ein Wertungswiderspruch, dessen groteskes Ausmaß schlechterdings unvermeidbar ist, den Entwurfsverfassern also offenbar gar nicht präsent war. Diesen unterlief mithin ein Motivirrtum, dem später sichtlich auch der Gesetzgeber erlag. In solcher Lage hat der Interpret derjenigen Wertung zur Geltung zu verhelfen, die dem wirklichen Willen des Ge-

__________ 28 Eidenmüller, JZ 2001, 283, 286 (wenn auch nur exemplarisch). 29 BT-Drucks. 14/6040, S. 229. Weitere Skepsis klingt auf S. 228 an: „Kriterien entwickelt […], die freilich ihrerseits nur wieder andere Abgrenzungsprobleme aufwerfen.“ 30 BT-Drucks. 14/6040, S. 105. 31 Die Norm war geradezu „Vorbild“ der neuen Regelverjährung nach §§ 195, 199 BGB, vgl. Fraktionsentwurf zum SchRModG, BT-Drucks. 14/6040, S. 104 f. Neu ist die 10Jahre-Frist des § 199 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BGB, die praktisch aber nur schadet, wenn die Entstehung eines Anspruchs durch Mangelausweitung 10 Jahre lang unbemerkt bleibt – da das Produkt so lange nicht benutzt wurde! 32 Dass die Entwertung der kaufvertraglichen Haftungsschranke damit nur eine partielle sein kann, schließt jene, wie auch Gsell (Fn. 6, S. 336 zu Anm. 946) konzediert, nicht aus.

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setzgebers am nächsten kommt33: hier dem Anliegen, den Wertungswiderspruch, den die Entwurfsverfasser unter Geltung des alten Schuldrechts durch die Weiterfresser-Judikatur aufgeworfen sahen34, möglichst zu vermeiden. (2) Objektive Auslegung Wer diese Ansicht nicht teilt und sich mit der irrtümlich erteilten Ermächtigung des Gesetzgebers zur Fortführung der Weiterfresser-Judikatur begnügen will, dürfte zum gleichen Ergebnis kommen35. Er sollte von dieser Ermächtigung nämlich keinen Gebrauch machen, damit der besagte Wertungswiderspruch vermieden wird. Dieser droht eben – objektiv – auch unter dem neuen Schuldrecht, unabhängig davon, ob man die fragliche deliktische Haftung des Produzenten auf einen Herstellungs- oder Instruktionsfehler zurückführt. (3) Unabhängigkeit der Aushöhlung von einem Kaufvertrag mit dem Geschädigten Der Wertungswiderspruch droht auch nicht etwa nur, soweit der Geschädigte gerade vom Hersteller kaufte36. Entscheidend ist der mit § 438 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 BGB bezweckte Schutz des Verkäufers: Soll dieser für Mangelschäden nur binnen zwei Jahren ab Ablieferung an seinen Käufer haften und muss dies auch für eine nichtvertragliche Haftung für Folgeschäden an dieser Sache gelten, so kann diese Vorgabe nicht davon abhängen, wer gerade Eigentümer der Sache war, als sie sich durch Ausweitung des ihr anhaftenden Mangels verschlechterte37. Andernfalls würde das normierte Ziel mit jeder Veräußerung durch den Ersterwerber unterlaufen38. Deliktische Ansprüche müssen daher auch für solche Erwerber zurücktreten, denen das Produkt vor seiner Verschlechterung von Dritten geschenkt worden war. cc) Aushöhlung des Rechts zur zweiten Andienung Schadensersatz wegen eines Mangelschadens an der Kaufsache steht dem Käufer nach §§ 280 Abs. 1, 3, 281, 437 Nr. 3, 440 BGB grundsätzlich nur zu, wenn dem Verkäufer eine Frist zur Nacherfüllung gesetzt worden ist. Eine konkurrierende, unbedingte Deliktshaftung für Weiterfresserschäden unter-

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33 Zur Korrektur von Motivirrtümern des Gesetzgebers vgl. Ph. Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112 (1914), 1, 213 ff., insb. S. 215. 34 Vgl. oben bei Fn. 29. 35 So auch Graf von Westphalen, DB 2001, 799, 803; Wagner (Fn. 1), § 823 BGB Rz. 132; Spickhoff (Fn. 16), § 823 BGB Rz. 83; Mansel/Stürner (Fn. 20), § 195 BGB Rz. 57 ff.; Grigoleit, ZGS 2002, 78, 79 f.; Tettinger, JZ 2006, 641, 644; übergangen bei Masch/ Herwig, ZGS 2005, 24, 28 f. 36 So jetzt aber wieder Gsell (Fn. 6), S. 351 ff.; Masch/Herwig, ZGS 2005, 24, 26 f. 37 Auch die Rspr. ordnet „stoffgleiche“ Schäden dem Äquivalenzinteresse keineswegs nur dann zu, wenn die Parteien vertraglich verbunden waren (BGH, NJW 1983, 810 – Gaszug; BGH, NJW 1983, 812 – Hebebühne). 38 Vgl. schon von Bar, Probleme der Haftpflicht für deliktsrechtliche Eigentumsverletzungen, 1992, S. 24; Tettinger, JZ 2006, 641, 649 f.; Foerste (Fn. 5), § 21 Rz. 38.

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läuft daher nach überwiegender Ansicht auch dieses Recht zur zweiten Andienung39. Für Werkunternehmer hat auch schon der BGH entschieden, dass ihre Nacherfüllungsrechte nicht durch deliktische Haftung vereitelt werden dürften40. Dem hat Gsell widersprochen: Der Nacherfüllungsvorrang beziehe sich jeweils nur auf den anfänglichen Mangelunwert, nie aber auf die deliktsrechtlich allein relevanten Weiterfresserschäden41. Untersucht hat Gsell dies freilich nur für Werkverträge42. Beim Kauf jedenfalls spielt, soweit der Käufer Nachlieferung verlangen konnte, das Ausmaß der Mangelhaftigkeit ohnehin keine Rolle43. Auch ein Nachbesserungsanspruch des Käufers erstreckt sich nach ganz herrschender Meinung – über den Grundmangel hinaus – auf die jeweilige Ausprägung des Mangels einschließlich etwaiger Weiterfresserschäden44. Dem wird teilweise entgegen gehalten, die Verpflichtung nach § 433 Abs. 1 Satz 2 BGB sei darauf beschränkt, für Mangelfreiheit im Zeitpunkt des Gefahrübergangs zu sorgen, so dass spätere Verschlechterungen – entsprechend der Judikatur zu den Weiterfresserschäden – nur das Integritätsinteresse berühren könnten45. Das überzeugt nicht. Sachmangel i. S. der §§ 433 Abs. 1 Satz 2, 434, 439, 476 BGB ist das jeweilige Erscheinungsbild des bei Gefahrübergang vorliegenden bzw. vermuteten46 Sachmangels und, davon kaum abgrenzbar, auch jede mangelbedingte Verschlechterung der Kaufsache. Nur dann vermag (auch) Nachbesserung den Käufer so zu stellen, als hätte er bei Gefahrübergang eine mangelfreie Sache erhalten, was für den Verkäufer auch nicht etwa unzumutbar ist (vgl. § 439 Abs. 3 BGB). Die Gegenansicht höhlt das Nachbesserungsrecht vielfältig aus, indem sie den Käufer zu gespaltenem Vorgehen zwingt: Zur Behebung des anfänglichen Mangels müsste er eine Nachfrist setzen, während die mangeltypische Verschlechterung der Ware allenfalls bei Verschulden des Verkäufers umfassend auszugleichen wäre (§ 280 Abs. 1 Satz 2 BGB); oft wird der Käufer daher gleich auf Nachlieferung ausweichen. Entsprechend beschneidet die Gegenansicht das Nacherfüllungsvorrecht des Verkäufers. Wenn dieses aber nur noch für den anfänglichen Mangel bestünde und im Übrigen ohnehin Geldersatz zu zahlen wäre, verlöre es oft sogar jeden Nutzen, was den Verkäufer neuerlich benachteiligen würde (Beispiel: Wenn das mangelhafte Teil A das intakte Produktteil B zerstört, an dem Teil A befestigt war, und der Geschädigte für Teil B sogleich Schadenersatz in Geld for-

__________ 39 Ausf. Tettinger, JZ 2006, 641, 645 f. m. w. N.; Foerste, ZRP 2001, 342; zutr. präzisierend Masch/Herwig, ZGS 2005, 24, 25 f. 40 BGHZ 96, 221, 229 f.; dazu ausf. und krit. Gsell (Fn. 6), S. 337 ff. 41 Gsell (Fn. 6), S. 337 ff. 42 Gsell (Fn. 6), S. 337 ff. – § 439 BGB wird auf S. 340 zwar erwähnt, aber nicht ausgelegt; an anderer Stelle lässt Gsell seine Tragweite denn auch ausdrücklich offen (S. 320 Anm. 865 a. E.). 43 Insoweit zutr. Schollmeyer, NJOZ 2009, 2729, 2734. 44 Ganz h. M.: Faust (Fn. 19), § 439 BGB Rz. 15; Tettinger, JZ 2006, 641, 644 f.; w.N. bei Schollmeyer, NJOZ 2009, 2729, 2734 Anm. 24. 45 Vgl. Otto/Schwarze in Staudinger, 2009, § 281 BGB Rz. C 10; näher Schollmeyer, NJOZ 2009, 2729 ff. 46 Für § 476 BGB abw. BGHZ 159, 215, 218.

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dern darf, § 280 Abs. 1 BGB, scheitert die zweite Andienung gänzlich). Bei teleologischer Deutung bezweckt § 281 Abs. 1 Satz 1 BGB das Gegenteil: Vor einer Belastung mit Schadensersatz verdient der Schuldner Schutz, solange er in seinem Pflichtenkreis – grundsätzlich hätte er ja jedweden Mangel der Kaufsache beseitigen müssen – durch Nachbesserung abhelfen kann. Es bleibt also dabei: Eine Deliktshaftung für Weiterfresserschäden vereitelt in der Tat das Nacherfüllungsvorrecht, solange ein solches besteht – auch dies unabhängig davon, ob gerade der geschädigte Eigentümer Vertragspartner des Produzenten war47. 3. Besonderheiten der Zulieferer-Haftung Geht ein Weiterfresserschaden im erworbenen Produkt auf ein Teil zurück, für dessen Fehler ein Zulieferer verantwortlich gemacht wird, so können sich Besonderheiten ergeben. Zunächst müsste die Ausweitung des Mangels am Endprodukt dem Zulieferer als Eigentumsverletzung zurechenbar sein. Insoweit wird (auch hier) eine Anknüpfung an die Herstellung oder Inverkehrgabe des Teiles nicht in jedem Fall möglich sein48. Dann mag der Zulieferer immerhin wegen Instruktionsfehlers haften. Eine Warnpflicht trifft ihn eher als den Endhersteller. Denn sie würde Risiken gelten, die gerade nicht das fehlerhafte Zulieferteil, sondern die mit ihm hergestellte neue Sache (auch nur im Übrigen) bedrohen. Diese ist regelmäßig deutlich wertvoller als das Zulieferteil, ihr Endabnehmer also verstärkt auf Schutz angewiesen. Er wird diesen zwar in erster Linie wieder von seinem Verkäufer erwarten, also z. B. vom Endhersteller, und dies auch eher nach Maßgabe des Gewährleistungsrechts, d. h. befristet. Von einem Zulieferer ist jedoch mehr zu erwarten, da das von ihm verkaufte schadhafte Teil nun auch noch andere Sachen, jedenfalls das Endprodukt, gefährdet. In puncto Subsidiarität dieser deliktischen Haftung gegenüber dem Vertragsrecht gilt Entsprechendes. Für Subsidiarität spricht zwar, dass der Geschädigte das Endprodukt i. d. R. gekauft hat und insofern auf seine Gewährleistungsrechte beschränkt ist, d. h. der Vorrang des so bewerteten Äquivalenzinteresses des Geschädigten. Dessen Perspektive dürfte aber nicht maßgebend sein49, denn die mit dem Deliktsrecht konfligierenden Kaufrechtsnormen sollen den Verkäufer schützen, so dass hier auf den Zulieferer abzustellen ist. Und während das Recht zur zweiten Andienung sich überhaupt nur auf die jeweils verkaufte Sache bezieht, steht für die Verjährung außer Frage, dass bei Mangelfolgeschäden außerhalb der Kaufsache (des Zulieferers) Ansprüche nach §§ 280 Abs. 1, 437 Nr. 3 BGB mit der deliktischen Haftung und deren regelmäßiger Verjährung konkurrieren50.

__________ 47 Dazu schon oben sub II. 2. b) bb) (3). 48 Zum Kausalitätsproblem s. oben sub II. 1. b) bb). 49 Tendenziell anders Tettinger, JZ 2006, 641, 650; auch noch Foerste (Fn. 5), § 21 Rz. 38. 50 Vgl. Fraktionsentwurf zum SchRModG, BT-Drucks. 14/6040, S. 229: „Für andere Ansprüche bleibt es bei der regelmäßigen Verjährungsfrist.“; ganz h. M.

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4. Fazit Eine Haftung des Endherstellers für Weiterfresserschäden lässt sich nur bedingt auf § 823 Abs. 1 BGB stützen. Schwerer wiegt, dass sie (auch) mit dem neuen Schuld- und Verjährungsrecht nicht vereinbar wäre. Dem Zulieferer hingegen droht Instruktionshaftung, falls er nicht vor vermeidbarer Schadensausweitung am Endprodukt warnte.

III. Die Haftung für Produktionsschäden Dass industrielle oder dem Konsum dienende Produktion misslingt, kann vielfältige Ursachen haben. Im Folgenden sollen die Fälle im Vordergrund stehen, in denen ein fehlerhaftes Produkt bestimmungsgemäß genutzt wird, um durch seine Verarbeitung, Verbindung, Vermengung oder Vermischung mit anderen Sachen (Zutaten) ein neues Produkt entstehen zu lassen, dieses Endprodukt aber wegen der fehlerhaften Zutat misslingt. Haftet der Zulieferer dem Endhersteller? 1. Der Produktionsschaden als Weiterfresserschaden Ist das Endprodukt infolge des Fehlers irreparabel, sein späterer Zustand also „stoffgleich“ mit dem Fehler, so scheidet eine Eigentumsverletzung am Endprodukt aus: Insoweit wird nicht nach § 823 Abs. 1 BGB gehaftet. Für sonstige Weiterfresserschäden, d. h. für Verschlechterungen, vor denen das Endprodukt mit wirtschaftlich vertretbarem Aufwand hätte bewahrt werden können, mag anderes gelten. Sie führen jedenfalls zum Verletzungserfolg. Dieser wird freilich nicht immer auf den Konstruktions- oder Fabrikationsfehler des Zulieferteils zurückführbar sein: Hätte dessen ordnungsgemäße Herstellung zur Folge gehabt, dass auch der Assembler sein Produkt anders konstruiert oder bei Nutzung eines fehlerfreien Zulieferteils jedenfalls andere Sachen geschaffen hätte, so wäre das durch Weiterfressen versehrte Eigentum ohne den Herstellungsfehler nicht (so) vorhanden gewesen51. Hier mag aber immerhin eine Instruktionshaftung greifen52. Eine Warnpflicht kann, wie erwähnt, mit den Pflichten zu sorgfältiger Herstellung durchaus konkurrieren, und Zulieferer müssen auch vor Weiterfresserschäden schützen (s. oben sub II. 3.). Oft wird eine Warnpflicht – und jede Deliktshaftung – aber ausgeschlossen sein, weil dem Konsumenten mangels Behebbarkeit des Fehlers ohnehin nicht mehr zu helfen war. 2. Deliktische Haftung für Beschädigung der unversehrten Zutaten? Dann wäre dem Geschädigten geholfen, wenn er wenigstens Ersatz für die Zutaten erhielte, die er gemeinsam mit dem fehlerhaften Produkt verarbeitete. Einer Eigentumsverletzung an den Zutaten scheint aber entgegenzustehen, dass diese meist schon in der neuen Sache aufgegangen sind, also ihre sachen-

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51 Dazu vgl. wieder oben sub II. 1. b) bb). 52 Für die Zuliefererhaftung vgl. Gsell (Fn. 6), S. 204 f.

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rechtliche Selbständigkeit verloren haben, wenn sich der Fehler des Produkts nachteilig, z. B. chemisch oder physikalisch, auf den Produktionsprozess auswirkt. Dem ging zwar die Hingabe der intakten Zutaten in den Produktionsprozess voraus – man kann hier auch von „Opferung“ oder Preisgabe durch den Eigentümer sprechen −, doch scheint dies, da offenbar willentlich erfolgt, eher auf eine bewusste „Selbstverletzung“ des Konsumenten hinzudeuten. a) Die Entwicklung des Meinungsstandes Die Rechtsprechung zog über lange Zeit nicht einmal in Erwägung, dass das Eigentum an intakten Zutaten durch deren bloße Verarbeitung mit einem fehlerhaften Produkt verletzt werden könnte53. In anderen Entscheidungen verneinte der BGH (VIII. Zivilsenat) eine Eigentumsverletzung an den unversehrten Sachen, weil er für diese trotz ihrer Verarbeitung keine Wertminderung an Substanz oder Gebrauchsfähigkeit festzustellen vermochte54. Eine offenere bzw. abweichende Sicht deutete sich aber in Entscheidungen der neunziger Jahre an55, vor allem in dem Kondensatoren-Urteil des VIII. Senats56 und in der Transistoren-Entscheidung des VI. Senats. In dieser (nicht besonders klaren57) Entscheidung heißt es immerhin: „Sind nämlich […] zuvor unversehrt im Eigentum des Herstellers der Gesamtsache stehende Einzelteile durch ihr unauflösliches Zusammenfügen mit fehlerhaften anderen Teilen nicht nur in ihrer Verwendbarkeit, sondern erheblich in ihrem Wert beeinträchtigt worden, hier sogar gänzlich wertlos geworden, so ist bereits dadurch ebenso wie bei der Zerstörung ihrer Substanz eine Eigentumsverletzung eingetreten“58. Das Schrifttum ist gespalten. Die Annahme, die Verarbeitung unversehrter Zutaten mit einem fehlerhaften Produkt könne die Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB auslösen, wird teilweise gänzlich zurückgewiesen. So hat man die Verbindung usw. mit dem fehlerhaften Produkt als bloße Vermehrung der Sachsubstanz bezeichnet59 oder verlangt (und vermisst zumindest im Regelfall) eine nachteilige Einwirkung auf die sachenrechtlich noch selbständigen Zutaten60. Ich selbst habe betont, die Opferung fehlerfreier Zutaten für einen sinnlosen Produktionsprozess sei nur bewusste Selbstverletzung61 infolge

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53 Vgl. RG, JW 1905, 365, 368 – Kalk; BGH, JZ 1971, 138; BGH, NJW 1981, 2248, 2250 – Dämmelemente; BGH, NJW 1983, 812, 813 – Hebebühne; BGH, VersR 1986, 1003, 1004 – Schwimmbadfolie; näher dazu Gsell (Fn. 6), S. 263 f. m. Anm. 728. 54 BGH, NJW 1978, 1051 – Lotsand, dazu krit. Gsell (Fn. 6), S. 265 f.; BGH, BauR 1981, 491, 493 – Klinker; wenig klar BGH, VersR 1986, 1003, 1004 – Schwimmbadfolie. 55 BGH, NJW 1990, 908, 909 – Korken II; BGH, NJW 1994, 517 – Gewindeschneidemittel I; BGH, NJW-RR 1995, 342 – Gewindeschneidemittel II; BGH, NJW 1992, 283 – Möbellack. 56 BGH, NJW 1992, 1225, 1227 – Kondensatoren. 57 Krit. z. B. Foerste, NJW 1998, 2877 f. 58 BGHZ 138, 230, 236 – Transistoren; offen dann allerdings (für Baumaterialien) wieder BGH, NJW 2001, 1346, 1349 – Schlacke, erläuternd Gsell (Fn. 6), S. 253 f. 59 So z. B. Freund/Barthelmess, NJW 1975, 281, 283 (für mangelhafte Bauwerke). 60 B. Klein, NJW 1978, 1051; so wohl auch Schiemann in Erman, 2009, § 823 BGB Rz. 28. 61 So wohl auch Plum, AcP 181 (1981), 68, 109.

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bloßen Motivirrtums über die Rentabilität; dessen Hervorrufung sei dem Hersteller des fehlerhaften Produkts nicht zurechenbar, da dies dem Schutzzweck des § 823 Abs. 1 BGB widerspräche und reine Vermögensschäden ersetzen würde62; letzteres ist verbreiteter Eindruck63. Andererseits erfährt die Bereitschaft des BGH, nunmehr schon die Entwertung von Zutaten im Produktionsprozess als verletzend anzusehen, zunehmend Zustimmung. Dabei wird überwiegend nicht auf negative Einwirkungen des fehlerhaften Produkts abgestellt64, sondern für ausreichend gehalten, dass die Verwendungsmöglichkeit der geopferten Zutaten verloren oder eingeschränkt ist65. Die wichtige Frage, inwiefern der Verlust der Chance, die geopferte Zutat alternativ zu verwenden, dem Produzenten zurechenbar ist, obwohl der Geschädigte sich anscheinend doch bewusst für die nachteilige Verwendung entschied, fand allerdings lange wenig Aufmerksamkeit66. b) Die Lehre vom rechtsverletzenden Beschaffenheitsirrtum Diese Lücke zu schließen bemüht sich nunmehr Gsell in ihrer Schrift „Substanzverletzung und Herstellung“. Gsell geht mit Recht davon aus, dass die Hingabe unversehrter Zutaten in den Verarbeitungsprozess nicht nur die Verwendungsmöglichkeit, sondern ihre Substanz betrifft, und zwar ungeachtet „einer Beschädigung oder Zerstörung des Materials im herkömmlichen Sinne“: Da die Substanz der beigesteuerten Zutat zumeist ergänzt, gemindert, verändert oder integriert wird, ist diese nach der Verarbeitung in der Tat – zumindest regelmäßig – „eine andere als zuvor“67. Gsell führt weiter aus, wegen der alleinigen Bestimmungsmacht des Eigentümers (§ 903 BGB) sei jede seinem Willen widersprechende Veränderung der Sachsubstanz eine Substanzverletzung und insofern tauglicher Erfolg einer Eigentumsverletzung; das gelte auch dort, wo der Verarbeitungsvorgang das Eigentum am Material nach §§ 946 ff. i. V. m. §§ 93 ff. BGB untergehen lasse68. Der Eigentümer dürfe „nicht nur entscheiden, ob die Sache so verarbeitet wird, dass ihre sachen-

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62 Foerste (Fn. 5), § 21 Rz. 14 f., 87 ff. 63 Graf von Westphalen, MDR 1998, 805, 808; Brüggemeier/Herbst, JZ 1992, 802 ff.; Brüggemeier, JZ 1999, 99 f.; Hinsch, VersR 1992, 1053, 1056; Bremenkamp/Buyten, VersR 1998, 1064, 1066 f. 64 So freilich Kullmann, NJW 1999, 97; dagegen Gsell (Fn. 6), S. 298 Anm. 830. 65 So z. B. Kullmann (seinerzeit Mitglied des VI. BGH-Senats), NJW 1999, 97; Franzen, JZ 1999, 702, 707 f. u. 1047, dazu klärend Gsell (Fn. 6), S. 277 Anm. 780; Grunewald, JZ 1987, 1089, 1100; Spickhoff (Fn. 16), § 823 BGB Rz. 82 zu Anm. 390; Wagner (Fn. 1), § 823 BGB Rz. 136 f., 141; Schaub, Haftung und Konkurrenzfragen bei mangelhaften Produkten und Bauwerken, 1999, S. 15 Anm. 10; Hager in Staudinger, 13. Bearb. 1999, § 823 BGB Rz. B 108. 66 Schwankend auch noch die eingehende Darstellung bei Wagner (Fn. 1), § 823 BGB Rz. 136 ff. Er folgt einerseits (a. a. O., Anm. 576) Gsell, die gerade keine bewusste Selbstverletzung annimmt (dazu sogleich), bejaht andererseits aber eine „provozierte Selbstverletzung“, die tatbestandlich sein soll (auch rhetorisch engagiert: Verweis auf Hühner-Impfung und Obst-Behandlung; „geradezu unsinnig“, „offensichtlich“, „sofort einleuchtende“, „wohl kaum bestritten werden“). 67 Gsell (Fn. 6), S. 279. 68 Gsell (Fn. 6), S. 282 ff., auch zum Folgenden.

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rechtliche Selbständigkeit verloren geht, sondern auch wie diese Verarbeitung vor sich gehen soll, mit welchen Stoffen, Zutaten, Teilen und auf welche Weise sein Material unselbständiger Teil einer anderen Sache werden soll.“ Wer z. B. Lebensmittel verarbeiten und damit ihre sachenrechtliche Individualität preisgeben wolle, sei deshalb noch nicht damit einverstanden, dass jemand diese Sachen verbrenne oder verdorbene Stoffe hinzufüge. Sein Eigentum werde folglich verletzt, wenn er die Verarbeitung einem Dritten überlasse, dieser die Zutaten jedoch mit dem fehlerhaften Produkt verarbeite69. Nicht anders sei es, wenn eine solche Verarbeitung durch den ahnungslosen Eigentümer erfolge. Laut Gsell kann dem nicht entgegengehalten werden, bei Eigenverarbeitung „opfere“ der Eigentümer seine Zutaten freiwillig und bewusst, so dass der Produzent allenfalls für die fahrlässige Erregung eines Motivirrtums verantwortlich gemacht werden könne, dies aber auf eine Haftung für reine Vermögensschäden und – letztlich – für falsche Auskünfte (§ 675 Abs. 2 BGB) hinauslaufe, was dazu zwingen würde, auch für falsche Beratung bei der Anlage von (Bar-)Geld nach § 823 Abs. 1 BGB haften zu lassen70. Wer sich bei der Vermögensanlage falsch entscheide, wisse nämlich genau, „dass und auf welche Weise“ er (im Zuge der Investition) sein Eigentum aufgebe71. Wer seine Zutaten hingegen mit einem fehlerhaften Produkt verarbeite, irre nicht nur über die Vermögensfolgen dieser Verarbeitung, sondern auch über die Beschaffenheit des genutzten Produkts und somit darüber, „welcher Veränderung genau er die Materialsubstanz tatsächlich unterzieht“ bzw. „welche Veränderung das Material durch das Hinzufügen dieser Zutat erlangt“. Das gelte selbst dann, wenn er seine Vorstellung von der Fehlerfreiheit ohne nähere Kenntnisse der Chemie, Physik oder des Maschinenbaus gebildet habe. c) Stellungnahme Eine deliktische Haftung für die Einbuße intakter Zutaten im Zuge misslingender Verarbeitung durch den Eigentümer kann nur an die Preisgabe (samt Verbindung, Vermischung usw.) anknüpfen. Schon diese Preisgabe müsste dem Hersteller des fehlerhaften Produkts als Eigentumsverletzung zurechenbar sein. Dies ist jedoch, zumindest bei bloßer Fahrlässigkeit, sehr zweifelhaft. Auch der von Gsell vorgeschlagene Weg führt nicht weiter. Zutreffend ist ihr Ausgangspunkt: Nach § 903 BGB kann sich der Eigentümer verbitten, dass Dritte seine Zutaten eigenmächtig zu neuen Sachen verarbeiten. aa) Die Verarbeitung durch Dritte Schon weniger klar ist, wie weit eine Ermächtigung Dritter reicht, Materialien mittels Verarbeitung zu verändern. Einerseits wird eine solche Einwilligung auf kunstgerechte Einwirkungen beschränkt sein: Wer den Handwerker bittet, ein Loch für die Garderobenstange zu bohren, ist noch nicht damit einverstan-

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69 Gsell (Fn. 6), S. 284, unter Verweis auf S. 254 ff. 70 So Foerste, NJW 1998, 2877 f.; ders. (Fn. 5), § 21 Rz. 14 f., 87 ff. 71 Gsell (Fn. 6), S. 297 ff., auch zum Folgenden.

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den, dass die Schrankwand perforiert wird72. Andererseits ist durchaus fraglich, ob dies auf den Fall erstreckt werden darf, dass die Opferung einer Zutat des Bestellers unsinnig ist, weil das Werk aus anderen Gründen nicht mehr gelingen kann, sei es wegen Planungs- oder Ausführungsfehlers, sei es wegen früherer oder gleichzeitiger Zugabe einer Zutat, die – das scheint Gsell genügen lassen zu wollen – objektiv mangelhaft war. Eine Annäherung an das Problem würde u. a. voraussetzen, dass zwischen einer Auslegung der (konditionierten?) Einwilligung und einem (irrelevanten?) Motivirrtum über den Nutzen der vielleicht definitiv gebilligten Preisgabe abgegrenzt wird. Dabei mag sich ergeben, dass es der Funktion des § 823 Abs. 1 BGB, keine reinen Vermögensschäden zu ersetzen73, förderlich ist, an der Einwilligung in Eigentumsverletzungen stärker festzuhalten als an einer Einwilligung in humanmedizinische Eingriffe74. bb) Die Eigenverarbeitung Soweit der Eigentümer selber Zutaten sinnlos verarbeitet, weil die Fehlerhaftigkeit eines beigefügten Produkts sein Vorhaben stört, erscheint der Vorschlag Gsells nicht schlüssig. (1) Zufallsergebnisse der Lehre Gsells Zu denken gibt schon, dass er zu Zufallsergebnissen führt. Man nehme an, dass ein Endprodukt hergestellt werden soll, indem die Komponenten A und B zum Halbfabrikat C vermischt werden, dem dann das Produkt P beizurühren ist. (a) Wenn nun P wegen Produktfehlers unwirksam ist und Alternativprodukte zwar abhelfen könnten, aber nicht existieren, muss Gsell eine Deliktshaftung des P-Herstellers ablehnen: Dass A und B sinnlos vergeudet wurden, ist für Gsell offenbar keine Eigentumsverletzung, da diese ja erfordern soll, dass die jeweils andere Zutat nicht (exakt) den Erwartungen des Verarbeiters entspricht, während die hier verbrauchten Komponenten wunschgemäß waren. Und bezüglich C ist nicht einmal eine Instruktionshaftung denkbar, weil C einerseits durch die Beigabe von P nicht schlechter wurde, andererseits ohnehin nicht weiter nutzbar ist. (b) Machte die Zugabe von P die Verarbeitung hingegen unmöglich (und half deshalb auch ein Alternativprodukt nicht), so würde Gsell wegen Irrtums über die Beschaffenheit von P sogar eine Verletzung von C und insoweit auch die Produkthaftung bejahen. (c) Mussten A und B indessen gleichzeitig mit P vermischt werden, so würde Gsell auch bei bloßer Untauglichkeit (Variante a) eine Verletzung des Eigentums an jenen Zutaten bejahen, da der Verarbeiter über die Fehlerhaftigkeit von P irrte. –

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72 Um so bemerkenswerter, dass der für das Werkvertragsrecht zuständige VII. BGHSenat eine Deliktshaftung für Schäden an den zu bearbeitenden Gegenständen ablehnt (NJW 2005, 1423, 1425 f.). 73 Wohl nicht zufällig hat Schlechtriem für dieses Schadenssegment denn auch einen Vorrang des Vertragsrechts erwogen (AcP 204 [2004], 300, 305); dieser liegt bei reinen Vermögensschäden besonders nahe, zutr. Wagner (Fn. 22), S. 203, 204 f. 74 Vgl. Möschel, JuS 1977, 1, 5 f.; Schlechtriem, JZ 1971, 449, 451.

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Dem Geschädigten muss das willkürlich erscheinen: Für ihn ist es gleichgültig, ob P wirkungslos oder destruktiv, sogleich oder später beizufügen war; für ihn zählt vielmehr, dass er in allen Fällen seine Zutaten opferte und dazu auch Anlass hatte, weil der P-Hersteller es empfahl. In der Tat liegt es näher, ihm stets (oder nie) Ersatz zu gewähren. (2) Irrelevanz von Beschaffenheitsirrtümern bei Selbstverletzung Wie gezeigt werden soll, kann die Beschaffenheit der Sachen, mit denen die zunächst unversehrte Zutat verbunden, vermischt oder verarbeitet wird, für deren „Verletzung“ denn auch keine Rolle spielen. Insofern hilft ein Blick auf den bei Verarbeitung typischen Verletzungserfolg. Dieser liegt darin, dass der Verarbeiter die Substanz (und das Recht an) seiner unversehrten Zutat überhaupt preisgibt, indem er sie verändert oder in einer neuen Sache aufgehen lässt. Daher drängt sich die Frage auf, ob nicht bereits dieser Erfolg dem Hersteller des fehlerhaften Produkts zuzurechnen ist, weil der Hersteller durch seinen, wie vermutet, pflichtwidrigen und schuldhaften Produktfehler bei dem Verarbeiter den Irrtum erregte, das Produkt sei gefahrlos und zweckentsprechend nutzbar. Gsell behandelt diese Frage nur knapp und wenig klar75: Einerseits nennt sie als Beispiele für bloße Rentabilitätsirrtümer des Verarbeiters, die nicht zur Eigentumsverletzung führen sollen, nur spezifische Kalkulationsirrtümer (was offen lässt, wie der typische Irrtum über den Nutzen einer Preisgabe von Zutaten sich auswirken soll). Andererseits formuliert sie durchaus allgemeiner, wer „ohne Irrtum darüber, was mit der Sachsubstanz bzw. seiner Eigentümerposition geschieht, die Sache bewusst zerstört, beschädigt, verändert oder weggibt“, erleide „nicht ohne Weiteres“76 eine Eigentumsverletzung. Demnach soll wohl auch die bewusste Opferung einer Zutat in der irrigen Vorstellung, diese Investition lohne sich wegen der Eignung des beigefügten Produkts, dessen Hersteller noch nicht als Eigentumsverletzung zurechenbar sein77. Um so mehr fragt sich, wie Gsell aus dem Irrtum über die Beschaffenheit des Produkts umgekehrt folgern will, das Eigentum an damit verarbeiteten Zutaten werde verletzt. Mir ist dies auch nicht deutlich geworden. Der Duktus der Darstellung78 lässt freilich vermuten, dass Gsell aus § 903 BGB Folgendes ableitet: Ein Eigentümer, der (schon) nicht hinnehmen müsse, dass Dritte seine Zutaten eigenmächtig mit einer Substanz verbinden, die seinen Vorstellungen nicht exakt entspricht (und deshalb von ihm vielleicht auch nicht zur

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75 Gsell (Fn. 6), S. 298 f.; dies mag den Eindruck Schlechtriems erklären, Gsell übergehe Begleitverluste misslingender Produktion (z. B. an Verpackungsmaterial), AcP 204 (2004), 300, 304 a. E. 76 Gsell (Fn. 6, S. 298 Anm. 832) stimmt sogar Canaris zu, der nicht einmal Verleitungen zur Verfügung als Eigentumsverletzung bewertet; einen Vorbehalt deutet Gsell nur für die Herausforderungsfälle, offenbar nach Art der Nierenspenden-Entscheidung, an. 77 Meinen diesbezüglichen Bedenken widerspricht Gsell (Fn. 6, S. 296 ff.) jedenfalls nicht; sie besteht sogar darauf, ihnen ausweichen zu können. 78 Vgl. auch Gsell (Fn. 6), S. 295: „in Gestalt einer unerwünschten Substanzmehrung“.

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Verbindung „freigegeben“ wurde), werde auch dann verletzt, wenn er selbst diese Verbindung vornehme, ohne zutreffende Vorstellungen von der Eigenschaft der fremden Substanz zu haben. Diese Gleichstellung wäre jedoch verfehlt. Während Dritte nämlich nur tun dürfen, was der Eigentümer ihnen erlaubt hat, darf dieser alles tun, was ihm § 903 BGB freistellt: Er darf auf sein Eigentum z. B. auch dann einwirken, wenn er Tragweite und Modalitäten dieses Eingriffs nicht überblickt. Ein solcher Irrtum vermag das Vorrecht des Eigentümers also gar nicht zu berühren und nichts daran zu ändern, dass dieser sich selbst verletzte, indem er seine Zutaten überhaupt preisgab. Immerhin hat Gsells Hinweis auf die subjektive Seite der Eigentumshingabe einen wahren Kern: Von einer Selbstverletzung als willentlicher Preisgabe kann nur die Rede sein, wenn der Eigentümer den Verletzungserfolg, d. h. das Ausmaß der Einbuße an Substanz bzw. Verwendungsmöglichkeit erfasst. Wer z. B. in Wasserrohre ein Gewindeschneidemittel einbringt und die Erwartung hegt, dieses wieder rückstandsfrei entfernen zu können, strebt gerade keine dauerhafte Verbindung: keine Schaffung neuer Sachen („beschichtete Wasserrohre“) an; entsteht eine solche Verbindung wider Erwarten doch, erleidet er daher ungewollte Substanzeinbuße79. Solche Fälle sind freilich selten. Der typische Produktionsschaden entsteht anders. Hier gibt der Eigentümer seine Sache in voller Kenntnis des damit einhergehenden Sachverlustes preis, weil er erwartet, die daraus hervorgehende neue Sache werde einen Mehrwert haben: Wer seinen guten Wein ahnungslos mit geliefertem Glykolwein verschneidet, weiß genau, dass er jenen Wein vollständig verliert, und dieser (allein maßgebliche) Verlust hängt denn auch in keiner Weise davon ab, ob der zugesetzte Wein gut oder schlecht ist. Wer seine Rohchemikalie mit 60 %iger Schwefelsäure vermischen will, dann aber (falsch etikettierte) 50 %ige Säure einsetzt, weiß ebenfalls, was er verliert – und diese Zutat wird, die Überspitzung sei erlaubt, während ihres Untergangs dank der geringeren Säurekonzentration sogar80 noch „schonender“ behandelt! Will man in derart klaren Fällen dennoch berücksichtigen, dass die fehlerhafte Substanz eine andere war, als der Verarbeiter dachte, so übergeht man, dass ihm die falsche Substanz faktisch, nämlich trotz und wegen seines Irrtums, nun einmal Anlass genug war, die Zutat willentlich preiszugeben, und dass damit eine fremde, d. h. tatbestandliche81 Eigentumsverletzung auszuschließen ist. Zurechenbar wäre also allenfalls die Erregung des entsprechenden Motivirrtums. Wer sie für ausreichend hält, müsste freilich auch das Eigentum solcher Investoren verletzt sehen, die, in ihrer Bank schlecht beraten, Bargeld in ungünstige Anlagen leiten: Er ließe für reine Vermögensschäden haften.

__________ 79 Angesichts dieser für den Gewindeschneidemittel I-Fall (BGH, NJW 1994, 517) denkbaren Sachverhaltsdeutung (Foerste, NJW 1994, 909, 911) besteht entgegen Gsell (Fn. 6, S. 274 f.) kein Anlass, eine widersprüchliche Bewertung des Falles zu vermuten. 80 Wenn auch erst nach oder bei ihrem Untergang als selbständige Sache, also haftungsrechtlich ohnehin belanglos. 81 Eine solche wird hier also, entgegen Wagner (Fn. 1), § 823 BGB Rz. 136, keineswegs „zugestanden“.

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(3) Der schockierende Sonderfall: Schädigung von Tieren Dem hier nahegelegten Standpunkt, Produktionsschäden von der Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB auszunehmen, hat vermutlich nichts so sehr geschadet wie die Befürchtung, er würde auch Tiere schutzlos lassen, die durch fehlerhafte Arzneimittel oder verdorbenes Futter geschädigt werden. Es versteht sich, dass diese Gefahr nicht in Fällen unbefugter Tierbehandlung oder -fütterung droht. Andererseits steht ernstlich in Frage, ob z. B. im Hühnerpest-Fall82 Eigentum verletzt wurde. Dort wurden bekanntlich „die“, also möglicherweise alle Hühner eines Hühnerfarmbetreibers mit verunreinigtem Impfstoff gegen Hühnerpest geimpft, erkrankten aber an ihr. Mutierten die derart „ergänzten“ und jedenfalls wie Sachen (§ 90a Satz 3 BGB) zu behandelnden Hühner mit der Injektion des Impfstoffes etwa zu „neuen“ Objekten (geimpften Hühnern), und lag daher ein Sonderfall des bloßen „Produktionsschadens“ vor, der eine Eigentumsverletzung somit ausschloss83? Immerhin ist nicht daran zu zweifeln, dass mit der Vermischung auch nur kleinster Mengen der Substanz A mit der Substanz B eine neue Sache entsteht. Wie auch immer man solche Fälle bewertet, man sollte im Auge behalten, dass der sie begleitende Affekt aus der Betroffenheit von Lebewesen resultiert: aus deren Behandlung als Sachen. Es wäre daher verfehlt, das bei Tier-Schädigung naheliegende Vorverständnis zum Maßstab der Bewertung regulärer Produktionsschäden zu machen. Umgekehrt ist für Tiere eine Ausnahme zu erwägen: Obwohl §§ 946 ff. BGB grundsätzlich auch für Tiere gelten (z. B. für Vermengungen nicht unterscheidbarer Tiere), mögen sie auf Zuwendungen an Tiere unanwendbar sein, da diese Analogie den von § 90a Satz 3 BGB intendierten haftungsrechtlichen (und zugleich präventiven) Tierschutz84 mindern würde.

IV. Ergebnisse Der Befund bestätigt die Skepsis des Jubilars: 1. Die Rechtsprechung zur Haftung für Weiterfresserschäden hat (zumindest) seit der Schuldrechtsreform an Boden verloren. An dem Grundsatz der freien Konkurrenz vertraglicher und deliktischer Haftung wollte der Gesetzgeber nämlich dort nicht festhalten, wo ein Wertungswiderspruch droht, und eine Haftung für Weiterfresserschäden würde die gewährleistungsrechtliche Privilegierung des Verkäufers – die kurze Verjährung von Schadensersatzansprüchen und sein Vorrecht zur zweiten Andienung – aushöhlen. Der Zulieferer hingegen haftet für Schäden, die am Endprodukt entstehen, weil es sich durch den Fehler des Zulieferteils verschlechtert, sofern der Zulieferer zur

__________ 82 BGHZ 51, 91 ff. 83 Anders war es, soweit nur einzelne Hühner geimpft wurden, diese erkrankten und dann die übrigen Hühner ansteckten, es sei denn, dass auch die Hühnerschar eine einheitliche Sache war (§ 948 BGB). 84 Rechtspolitisch maßgebend war die unterstellte Fürsorgepflicht des Menschen, BTDrucks. 11/5463 Vorblatt A.

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Warnung des Geschädigten verpflichtet war, weil die Schadensausweitung mit wirtschaftlich vertretbarem Aufwand abgewendet werden konnte. 2. Für Produktionsschäden durch Verarbeitung eines fehlerhaften Produkts hat dessen Hersteller i. d. R. nur einzustehen, soweit ein Weiterfresserschaden vorliegt, für den er wie ein Zulieferer haftet. Für den Verlust intakter Zutaten, die der Geschädigte ahnungslos für die geplante Produktion opferte, haftet der Hersteller regelmäßig nicht. Soweit die Rechtsprechung anders entscheidet, weil der Geschädigte zur bewussten Selbstverletzung veranlasst wurde, überdehnt sie § 823 Abs. 1 BGB in eine Haftung für reine Vermögensschäden und falsche Auskunft. Allein der Tierschutz (§ 90a BGB) gebietet Ausnahmen.

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Aktien als Vergütung – Was den Arbeitnehmer derzeit in der Rechtsprechung erwartet Inhaltsübersicht I. Allgemeine Einführung II. Entscheidung des BAG aus dem Jahre 2003 III. Entscheidung des BAG im Januar 2008 IV. Entscheidung des BAG vom Mai 2008 V. BFH-Rechtsprechung

VI. Kritische Würdigung 1. Begriff des Arbeitgebers 2. Begriff der Vergütung 3. Aktienzuteilungen als Vermögenswert? 4. Steuerliche Ansätze 5. Verpflichtung zur Leistung als wirtschaftlicher Vorteil VII. Resumee

Weder das Arbeitsrecht, noch das Aktienrecht stellen Kerngebiete der Tätigkeit des Jubilars und des mit diesem Beitrag zu Ehrenden dar. Dennoch bieten sich auch im Arbeitsrecht einige Parallelen und Anknüpfungspunkte zum Schwerpunktbereich von Professor Dr. Friedrich Graf von Westphalen, dem AGB-Recht. Spätestens seit der Einfügung des AGB-Rechts in das BGB ist den Arbeitsrechtlern schmerzhaft bewusst geworden, welch breite und auch diffizile Argumentationsbasis dadurch eröffnet wurde. Dieser Beitrag soll das Augenmerk auf einen speziellen Ausschnitt des Arbeitsrechtes lenken, der weniger AGB-rechtliche, als vielmehr allgemeine, vertragliche Grundlagen betrifft. Insofern steht der Beitrag in guter Tradition zu dem Werdegang des Jubilars, nicht zuletzt auch wegen des internationalen Bezuges.

I. Allgemeine Einführung Viele Arbeitgeber sind dazu übergegangen, ihren Arbeitnehmern im Rahmen der Mitarbeiterbeteiligung zusätzlich zu dem Jahresgrundgehalt weitere Vermögenswerte zukommen zu lassen. Neben Dienstwagen und Zuschüssen zur Kinderbetreuung, werden häufig im jährlichen Rhythmus Geldboni, Aktienoptionen, Phantom Stocks oder auch Aktien zugeteilt. Die Vereinbarungen, wie auch die damit verbundenen Motive1, hierzu sind sehr vielfältig und sollen hier nicht im Einzelnen beleuchtet werden. Sowohl durch das Bundesarbeitsgericht (BAG) wie auch den Bundesfinanzhof (BFH) sind in den letzten Jahren mehrfach Konstellationen beurteilt worden, in

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1 Vgl. hierzu Wagner, Mitarbeiterbeteiligung in Deutschland – ein Überblick, NJW 2003, 3081, 3082.

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denen dem klagenden Arbeitnehmer Aktienoptionen u. a. durch ausländische Muttergesellschaften versprochen worden waren. Dabei war immer streitig, ob der Arbeitnehmer einen direkten Anspruch gegen seinen Arbeitgeber auf Überlassung der Aktien oder Aktienoptionen geltend machen kann und welche rechtlichen Auswirkungen dies hat. In verschiedenen Urteilen wurden die Arbeitnehmer auf die Durchsetzung ihrer Ansprüche gegenüber ausländischen, z. T. außereuropäischen, Muttergesellschaften verwiesen, d. h. auf die Durchsetzung im Ausland und unter Zugrundelegung des dortigen Rechtssystems. Gerade angesichts der deutschen Kontrolldichte und des daraus resultierenden Verbraucherschutzes wird eine solche Verweisung für den betroffenen Arbeitnehmer in der Regel bedeuten, dass er von der weiteren Verfolgung seiner Ansprüche Abstand nimmt. Chancen auf eine dem AGB-Recht ähnliche Überprüfung entsprechender Aktienzuteilungsprogramme hat ein deutscher Arbeitnehmer im Ausland kaum. Bislang haben weder das BAG noch andere Gerichte Feststellungen dazu getroffen, wann ein direkter Anspruch des Arbeitnehmers gegen seinen Arbeitgeber auf Lieferung der Aktien(-optionen) gegeben sein und unter welchen Voraussetzungen dieser ggf. wieder entfallen kann. Dies ist insbesondere unter allgemeinen vertragsrechtlichen Gesichtspunkten näher zu untersuchen.

II. Entscheidung des BAG aus dem Jahre 2003 In der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes vom 12.3.20032 ging es um Ansprüche aus einem Aktienoptionsplan der finnischen Konzernmuttergesellschaft. Diese hatte zu Gunsten der leitenden Angestellten des gesamten Nokia-Konzerns im März 1997 einen Aktienoptionsplan aufgestellt. Alternativ dazu konnten Mitarbeiter an einem Bonusplan teilnehmen, der die Zahlung eines jährlichen, gewinnabhängigen Bonus vorsah. Der Kläger war bei einer Nokia Tochter in der Nähe von München beschäftigt. In den Bedingungen des Aktienoptionsplanes wurden die Teilnehmer verpflichtet, die Aktienoptionen unentgeltlich der Konzernmutter anzubieten, sofern sie vor einem bestimmten Stichtag bei ihrem Arbeitgeber ausschieden. Der klagende Arbeitnehmer hatte einen Zeichnungsbogen der Konzernmutter unterschrieben. Weiterhin mussten nach finnischem Recht zur Durchführung des Aktienoptionsprogrammes Schuldverschreibungen erworben werden. Den dazu erforderlichen Betrag überwies der Kläger an die finnische Konzernmuttergesellschaft. Noch in demselben Jahr ging der Arbeitgeber des Klägers im Rahmen eines Betriebsübergangs an einen Erwerber über. Die Konzernmutter teilte dem Kläger daraufhin mit, dass seine Rechte aus dem Aktienoptionsplan erloschen seien. Das Bundesarbeitsgericht hat im Ergebnis eine direkte Vereinbarung über die Aktienoptionen, deren Zuteilung und deren Ausübung zwischen dem klagen-

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2 BAG, BAGE 104, 324; BAG, DB 2003, 1065 f.

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den Arbeitnehmer und der Konzernmuttergesellschaft in Finnland angenommen. Der Vertrag über die Gewährung von Aktienoptionen stehe selbständig neben dem Arbeitsvertrag zwischen der Tochtergesellschaft und dem Arbeitnehmer. Das BAG hat insbesondere abgelehnt, dass die Ansprüche auf Aktienoptionsgewährung immer in demselben synallagmatischen Verhältnis zur Arbeitsleistung des Arbeitnehmers wie die vertraglich vom Arbeitgeber geschuldete Vergütung stehen. Maßgeblich seien die konkreten vertraglichen Vereinbarungen.

III. Entscheidung des BAG im Januar 20083 In diesem Verfahren ging es um die Verpflichtung des deutschen Arbeitgebers, dem Kläger Aktienoptionen der amerikanischen Muttergesellschaft zu verschaffen. Geklagt hatte ein freigestelltes Betriebsratsmitglied auf Zuteilung von Aktienoptionen für mehrere Jahre. Auf die Einzelheiten des § 37 BetrVG soll hier nicht eingegangen werden. Auch in dieser Entscheidung hat das BAG betont, dass der Vertrag über die Gewährung von Aktienoptionen rechtlich selbständig neben dem Arbeitsvertrag des Arbeitnehmers mit der Tochtergesellschaft steht und letzterer nur das Motiv für den Abschluss des Optionsgewährungsvertrages darstellt. Das BAG hat die Sache jedoch zur weiteren Aufklärung zurück verwiesen. Eine eigene Verpflichtung des konzernangehörigen Arbeitgebers könne jedoch begründet werden, wenn die Arbeitsvertragsparteien ausdrücklich oder konkludent die Teilnahme des Arbeitnehmers an dem Aktienoptionsprogramm eines anderen Konzernunternehmens vereinbaren. Es sei dann Sache des Arbeitgebers, die Erfüllbarkeit der eingegangenen Verpflichtung sicherzustellen. Das BAG hat im Rahmen seiner Zurückverweisung darauf hingewiesen, dass der Vortrag des Klägers, die Optionsgewährung sei auch Gegenstand des Einstellungsgespräches gewesen, ebenso wie die Rolle des Arbeitgebers bei der Zuteilung untersucht werden müsse.

IV. Entscheidung des BAG vom Mai 20084 In dieser Entscheidung ging es auch um Ansprüche des klagenden Arbeitnehmers aus einem Aktienoptionsprogramm. Hier hat sich das BAG weniger mit dem Anspruchspartner, sondern mit der Wirksamkeit einzelner Regelungen in den Ausübungsbedingungen auseinandergesetzt. Es hat zunächst festgestellt, dass die vom BAG für bestimmte Sonderleistungen, insbesondere Gratifikationen entwickelten Rechtsgrundsätze nicht ohne weiteres auf Aktienoptionen übertragen werden können, insbesondere insofern nicht, als die Zulässigkeit von Bindungsfristen und Verfallsklauseln zu beurteilen sind. Denn Aktien-

__________ 3 BAG, DB 2009, 794 f. 4 BAG, WM 2008, 1923 f.

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optionen hätten im Vergleich zu anderen Sondervergütungen einen ungleich größeren spekulativen Charakter. Bei jährlichen Sonderleistungen, die vor allem eine zusätzliche Vergütung des Arbeitnehmers für im Kalender- oder Geschäftsjahr erbrachte individuelle Leistungen bezwecken, oder auf den Erfolg eines Unternehmens in dem betreffenden Jahr abstellten, stehe nach Ablauf des betreffenden Jahres fest, ob die Voraussetzungen für die Sonderleistung erfüllt sind. Das sei bei Aktienoptionen anders, da der Arbeitnehmer trotz eigener guter Leistungen oder Unternehmenserfolge nicht mit der Werthaltigkeit der Aktienbezugsrechte zuverlässig rechnen könne. Eine Bindung der Befugnis zur Ausübung der Bezugsrechte an das ungekündigte Bestehen des Arbeitsverhältnisses sei dem Arbeitnehmer daher eher zuzumuten, als bei Sonderleistungen ohne oder mit geringem spekulativem Charakter. Werden die Aktienoptionen durch den Arbeitgeber gewährt, werden sie Bestandteil der arbeitsvertraglichen Vergütungsregelung und damit Arbeitsentgelt. In dieser Entscheidung liegt daher der Fokus, anders als bei den beiden zuvor skizzierten Entscheidungen, im Bereich der Wirksamkeit der Bedingungen des Aktienoptionsprogrammes, während es bei den erstgenannten Entscheidungen um die grundsätzliche Frage ging, ob überhaupt ein Anspruch des klagenden Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber auf Erhalt der Optionen bestand.

V. BFH-Rechtsprechung Auch der Bundesfinanzhof hat sich bereits mit der Einräumung von AktienOptionsrechten durch die Konzernmutter, allerdings aus steuerrechtlicher Sicht beschäftigt5. In diesem Fall war unstreitig, dass die Aktienoptionen durch die Muttergesellschaft den jeweiligen Arbeitnehmern verschiedener Tochtergesellschaften eingeräumt worden waren. Es ging lediglich darum, ob die inländische Gesellschaft, bei welcher die Arbeitnehmer zum Zeitpunkt der jeweiligen Optionszuteilung tätig waren, zum Lohnsteuerabzug verpflichtet war. Konkret prüfte der BFH, ob es sich um unechte Lohnzahlungen eines Dritten handelte und kam zu dem Ergebnis, dass in dem zu entscheidenden Fall keine unechten Lohnzahlungen eines Dritten anzunehmen waren. In den Entscheidungsgründen streift der BFH aber auch ein Urteil eines anderen Senats aus dem Jahre 20016. Dort ging es ebenfalls um die Besteuerung der Gewährung von Aktienoptionen und der BFH hatte festgestellt, dass sich die Optionen für den Arbeitnehmer als „Frucht seiner Arbeit für den Arbeitgeber“ darstellen und auch aus Sicht des Zuwendenden in Zusammenhang mit dem Dienstverhältnis ständen. Dieser Zusammenhang sei erst dann auszuschließen, wenn zwischen dem Zuwendenden und dem Empfänger unmittelbare, eigene rechtliche oder wirtschaftliche Beziehungen gegeben seien. Solche Be-

__________ 5 BFH, BStBl. II 2006, 668 ff. 6 BFH, BStBl. II 2001, 509 ff.

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ziehungen waren in dem der Entscheidung zugrundeliegenden Lebenssachverhalt nicht ersichtlich bzw. waren nicht geltend gemacht worden. Der BFH erteilte aber sehr deutlich Stimmen aus dem Schrifttum eine Abfuhr, wonach das Interesse der Muttergesellschaft in eine andere Richtung ziele, als das Interesse des Arbeitgebers. Denn so der BFH, dies würde nichts daran ändern, „dass er (der Dritte, Einfügung der Verfasserin) die Option mit Blick auf das jeweilige konkrete Arbeitsverhältnis einräumt“. Keinen Zweifel hat der BFH an der grundsätzlichen Qualifikation derartiger Zuwendungen als Arbeitslohn.

VI. Kritische Würdigung Was bedeutet diese Rechtsprechung nun für die Frage, wann zwischen einem Arbeitnehmer und seinem Arbeitgeber ein direkter Anspruch auf Aktiengewährung entsteht? Unstreitig ist, wie das BAG stets betont hat, dass maßgeblich stets die konkreten vertraglichen Vereinbarungen sind. Hier unbeachtlich und daher nicht weiter zu untersuchen sind daher die Konstellationen, in denen direkte Vereinbarungen zwischen dem Arbeitnehmer und der Konzernmutter oder ausdrücklich zwischen dem Arbeitnehmer und seinem Arbeitgeber getroffen wurden. Interessanter sind die Konstellationen, in den eine konkrete klare Vereinbarung fehlt und daher die Gewährungen in einem „Graubereich“ stattfinden. Eine Lösung könnte sich bereits aus der Klärung der Begriffe des Arbeitgebers, der Vergütung oder des Vermögenswertes ergeben. 1. Begriff des Arbeitgebers Arbeitgeber ist nach einer allgemeinen Definition, wer die Arbeitsleistung vom Arbeitnehmer aufgrund des Arbeitsvertrages fordern kann und diesem im Gegenzug die entsprechende Vergütung schuldet. Das BAG definiert den Arbeitgeber so, dass ihm gegenüber der Beschäftigte aufgrund eines privatrechtlichen Vertrages zu einer entgeltlichen Dienstleistung verpflichtet ist und diese Dienstleistung unselbständig erbringt7. Diese Merkmale treffen auf alle bislang in der Rechtsprechung zu der Frage Aktien-/Aktienoptionen getroffenen Entscheidungen zu. Als Hauptleistungspflicht des Arbeitgebers steht im Gegenseitigkeitsverhältnis zur Arbeitspflicht die Vergütungspflicht8. 2. Begriff der Vergütung Die Zahlung der Vergütung ist die Hauptleistungspflicht des Arbeitgebers und sie steht zur Arbeitspflicht im Gegenseitigkeitsverhältnis. Die Vergütung

__________ 7 Vgl. nur Thüsing in Henssler/Willemsen/Kalb, 3. Aufl. 2008, Fn. vor § 611 BGB Rz. 24. 8 Thüsing (Fn. 7), § 611 BGB Rz. 85.

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besteht in erster Linie aus dem Gehalt und Prämien, sowie Umsatz- oder Gewinnbeteiligungen oder Provisionen. Sonderzahlungen oder auch Gratifikationen sind Vergütungen, die zusätzlich zu den sonstigen Bezügen gewährt werden. Aus Sicht des Arbeitnehmers stellen sich Aktien- oder Aktienoptionszuwendungen in aller Regel als „Frucht seiner Arbeit für den Arbeitgeber“ dar. Auch aus Sicht des Zuwendenden stehen sie eindeutig in Zusammenhang mit dem Dienstverhältnis. Dies wird ja häufig gerade dadurch betont, dass das Bestehen des Dienstverhältnisses zu einem bestimmten Zeitpunkt als Voraussetzung für die Zuteilung oder die Freigabe genannt wird. Zu bedenken ist auch, dass Arbeitsverträge, die Aktien- oder AktienoptionsZuteilungen enthalten, wohl überwiegend allgemeine oder auch konkretere Regeln zu Sonderzahlungen, Boni etc. enthalten. Auffällig ist hier zunächst aus anwaltlicher Sicht, dass nun trotz Vorliegen diverser Urteile zum Thema Bonuszahlungen, Kürzungen, Verfall etc.9 die entsprechenden Regelungen im Arbeitsvertrag immer noch nicht die Klarheit, Transparenz und Detailliertheit erkennen lassen, die manches Verfahren ersparen würde. 3. Aktienzuteilungen als Vermögenswert? Der Arbeitnehmer wird umso eher von einem Vergütungsbestandteil ausgehen, je greifbarer für ihn der Vermögenszuwachs ist. Man wird eine Zusage oder Zuteilung von Aktien oder Aktienoptionen umso mehr als Vergütung einstufen, wenn dem Arbeitnehmer bereits bei Erhalt der Zusage ein Vermögenswert zufließt. Nach der herrschenden steuerrechtlichen Meinung ist ein steuerbarer Vorgang erst im Zeitpunkt der Optionsausübung, nicht aber bereits zum Zeitpunkt der Rechtseinräumung anzunehmen10. Dagegen wird allerdings eingewandt, dass die zwischenzeitlich entwickelten Optionspreismodelle eine Bewertung sowohl marktgängiger wie auch nicht marktgängiger Optionen ermöglichten11. Darüber hinaus lässt sich der objektive Wert von Aktienoptionen anhand finanztheoretischer Modelle, unabhängig von der Handelbarkeit, bestimmen12. Eine „Saldierung des Gesamtvermögens des Mitarbeiters vor und nach der Optionsgewährung ergäbe, dass ihm ein objektiv messbarer Vermögenswert zugewandt wurde“13. Selbst wenn im Zeitpunkt der Zusage der Aktien- oder Aktienoptionszuteilung noch kein steuerbarer Vermögensvorteil entsteht, vermag dies dennoch den Charakter der Zusage als „Frucht der Arbeit für den Arbeitgeber“ nicht zu nehmen.

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9 Vgl. nur BAG, NZA 2008, 40 f.; BAG, NZA 2008, 1173 ff.; BAG, DB 2009, 1601 ff. 10 Vgl. hierzu BFH, BB 2001, 1180, 1181 ff.; Grimm, Mitarbeitervergütung durch Aktienoptionen, Inauguraldissertation Berlin, S. 48. 11 Grimm (Fn. 10). 12 Grimm (Fn. 10), S. 52. 13 Grimm (Fn. 10), S. 52.

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4. Steuerliche Ansätze Diese Sichtweise entspricht auch der Definition der Begriffe der echten und unechten Lohnzahlungen im Steuerrecht. In den Lohnsteuerrichtlinien 2008 R 38.4 heißt es dazu: Eine unechte Lohnzahlung eines Dritten ist dann anzunehmen, wenn der Dritte lediglich als Leistungsmittler fungiert. Das ist z. B. der Fall, wenn der Dritte im Auftrag des Arbeitgebers leistet oder die Stellung einer Kasse des Arbeitgebers innehat. Der den Dritten als Leistungsmittler einsetzende Arbeitgeber bleibt der den Arbeitslohn Zahlende und ist daher zum Lohnsteuerabzug verpflichtet (§ 38 Abs. 1 Satz 1 EStG). Eine echte Lohnzahlung eines Dritten liegt dann vor, wenn dem Arbeitnehmer Vorteile von einem Dritten eingeräumt werden, die ein Entgelt für eine Leistung sind, die der Arbeitnehmer im Rahmen seines Dienstverhältnisses für den Arbeitgeber erbringt. In diesen Fällen hat der Arbeitgeber die Lohnsteuer einzubehalten und die damit verbundenen sonstigen Pflichten zu erfüllen, wenn er weiß oder erkennen kann, dass derartige Vergütungen erbracht werden (§ 38 Abs. 1 Satz 3 EStG).

Es überrascht angesichts der Klarheit der Lohnsteuerrichtlinien, dass der BFH (in dem im Jahre 2006 entschiedenen Fall, vgl. Fn. 5) nicht bereits eine echte Lohnzahlung durch Dritte in den von ihm zu beurteilenden Konstellationen angenommen hat. Selbst wenn die „Gegenleistung“ des Arbeitnehmers nicht nur in der bloßen Arbeitsleistungserbringung zu sehen sein sollte, sondern weitergehende Verpflichtungen begründet werden sollen (z. B. Betriebstreue für einen bestimmten Zeitraum), so erbringt der Arbeitnehmer diese „Leistungen“ doch „im Rahmen seines Dienstverhältnisses“. Weitergehend ist zu beachten, dass, sofern der Arbeitnehmer auf Vorschlag seines Arbeitgebers, ein Angebot zum Bezug von Gratisaktien oder Aktienoptionen erhält, bereits der Tatbestand der echten Lohnzahlung durch Dritte, jedenfalls aber der Begriff der unechten Lohnzahlung durch Dritte erfüllt sein dürfte. 5. Verpflichtung zur Leistung als wirtschaftlicher Vorteil Zivilrechtlich geht zwischenzeitlich die herrschende Ansicht dahin, dass ein wirksames Schuldverhältnis zwischen den Parteien auch ohne einen Vermögenswert der Leistung entstehen kann14. Eine Leistung im Sinne von § 241 Abs. 1 BGB liegt immer schon dann vor, wenn entweder ein schutzwürdiges Interesse beim Gläubiger (dem Arbeitnehmer) vorliegt oder ein sinnvolles, von einem Zweck getragenes Verhalten des Schuldners, das dem Gläubiger einen wirklichen oder von ihm angenommenen Vorteil verschafft15. Ein schutzwürdiges Interesse des Arbeitnehmers, welchem als Paket für seine erbrachte Leistung sowohl Gehaltszahlungen, wie die Verschaffung von Aktien oder Aktienoptionen angeboten wird, liegt stets vor. Denn der Arbeitnehmer erbringt seine Arbeitsleistung im Glauben an die spätere Entlohnung durch die

__________ 14 Vgl. Nachweise bei Grimm (Fn. 10), S. 51. 15 Grimm (Fn. 10), S. 51.

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vereinbarte Festvergütung, wie auch zusätzliche Leistungen in Form von Sonderzahlungen o. Ä. Für den Arbeitnehmer, der nach Abschluss eines Geschäftsjahres zum einen eine Gehaltserhöhung erhält und zum anderen die Mitteilung, dass er zusätzlich Gratisaktien zugeteilt erhält oder auch Aktienoptionen, stellen sich auch diese Vermögenswerte als „Frucht seiner Arbeit“ und damit als Vergütung dar. Es ist denkbar, dass er den „Wert“ anders beurteilt, je nachdem ob ihm die Aktie bereits gutgeschrieben wurde, nur als Aktienoptionsrecht zugeteilt wird, oder als Phantom Stock oder Stock Appreciation Right16 gewährt wird. Dies spielt aber für die Einstufung derartiger Zuwendungen als „Vergütung“ keine Rolle. Für den Arbeitnehmer stellt jegliche Zuwendung derartiger Rechte oder Chancen einen Wert dar, den er sich erarbeitet hat und den er auch nicht für einseitig disponibel ansieht, zumal es sich um Vergütung im engeren Sinne handelt. Dies wird auch ganz deutlich vom Bundesfinanzhof (s. oben V.) erkannt, der unabhängig davon, wer die Aktien oder Aktienoptionen überlässt, dies als Arbeitslohn einstuft.

VII. Resumee Erfolgt die Zuteilung der Aktien- oder Aktienoptionen unmittelbar durch den Arbeitgeber, stellt sich die Gewährung aus Sicht des Arbeitnehmers auch stets als Leistung seines Arbeitgebers dar, da ein unmittelbarer Bezug zu seiner erbrachten Arbeitsleistung vorliegt. Auch sofern Aktien zugeteilt werden, ändert sich an dieser Beurteilung nichts, selbst wenn diese nicht am Unternehmen des Arbeitgebers selbst, sondern an anderen Unternehmen als dem Arbeitgeber gewährt werden, da diese Aktien ja am Markt beschafft werden können. Sind Dritte, also z. B. die Muttergesellschaft des Arbeitgebers in die Vereinbarungen bezüglich der Aktienbereitstellung eingebunden (dieses entspricht wohl der Konstellation, die das BAG in seinem Urteil aus 2003 zu beurteilen hatte), soll sich die Rechtslage hinsichtlich der Verpflichtung zur Aktienzuteilung nach bisheriger Ansicht des BAG anders darstellen. Dem kann aber so nicht gefolgt werden. Es wird hier nicht verkannt, dass es eigene Vereinbarungen zwischen dem Arbeitnehmer und der Muttergesellschaft geben mag. Dem Arbeitnehmer wird dieses Angebot aber nur unterbreitet, weil er mit einem Konzernunternehmen ein Arbeitsverhältnis, einen Arbeitsvertrag hat. Da in der Regel die Konzernmuttergesellschaft nicht alle Arbeitnehmer, denen endgültig ein solches Angebot unterbreitet wird, kennt und persönlich aussucht, wird der Arbeitgeber des begünstigten Arbeitnehmer diesen für ein solches Programm vorschlagen oder aussuchen. Indem der Arbeitgeber dergestalt die „Kette“ zwischen Konzernmuttergesellschaft und Arbeitnehmer „schließt“, liefert er den entscheidenden Ursachenbeitrag zu der Vergütungsgewährung.

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16 Nachweise bei Thüsing (Fn. 7), § 611 BGB Rz. 127.

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Damit geht die Initiative für die Zuwendung dieses zusätzlichen Vermögenswertes von dem vertraglichen Arbeitgeber und nicht der Konzernmutter aus. Auch diese Überlegung spricht dafür, die Zuwendung als Vergütung für die Arbeitsleistung zu sehen und sie als vom Arbeitgeber zugewandt einzustufen. Die Gesamtschau der vorstehenden Überlegungen führt dazu, dass Aktienoder Aktienoptionszuwendungen, die ein Arbeitnehmer in Zusammenhang mit seinem Arbeitsverhältnis erhält, unabhängig davon, ob sie ihm von seinem Arbeitgeber oder Dritten zugewandt werden, als Arbeitslohn anzusehen sind. Sie sind die „Früchte seiner Arbeit“ und stehen im Synallagma mit seiner Arbeitsleistung. Ein Arbeitnehmer, der derartige Ansprüche gerichtlich durchsetzen möchte, kann aber derzeit vor dem Bundesarbeitsgericht nur dann diese erfolgreich durchsetzen, wenn er eine direkte Vereinbarung mit seinem Arbeitgeber nachweist. In der Entscheidung aus dem Jahre 2008 (vgl. Fn. 3) ist zwar zu erahnen, dass das BAG bereit ist, sich derartigen Argumenten zu öffnen. Dennoch wäre wünschenswert, wenn das BAG mehr von der unbeschwerten und durchaus lebensnahen Wertung der BFH übernähme und die These von der „Frucht der Arbeit“ übernähme.

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F. Christian Genzow

Wegfall der Kfz-GVO: Die Rechtsprechung zum Vertriebsrecht zukünftig ohne Rückhalt? Inhaltsübersicht I. Die Entwicklung der Kfz-GVO II. Die Entwicklung des Vertriebs„Rechts“ III. Rechtsentwicklung unter Berücksichtigung der GVO?

IV. Rechtssituation in Europa V. Paradigmenwechsel auch in der deutschen Rechtsprechung? VI. Folgerungen und Fazit

Das deutsche Recht kennt keinen speziellen Typus des „Vertragshändlers“1. Zwar liegen – soweit bekannt – empirische Untersuchungen über den Anteil von Vertragshändlersystemen im Rahmen von geschlossenen Vertriebssystemen in Europa aus den Jahren vor Einführung der ersten Kfz-GVO im Jahre 1985 nicht vor. Nimmt man jedoch einen Abgleich mit den Feststellungen aus dem Jahre 20042 vor, dürfte eine Schätzung, dass es schon im Jahre 1985 in Europa mehr Vertragshändlersysteme als Handelsvertretersysteme gegeben hat, nicht falsch sein. Gleichwohl hat der Rat der Europäischen Gemeinschaften am 18.12.1986 lediglich eine Richtlinie zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter3 erlassen mit der Begründung, dass die Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Handelsvertretungen die Wettbewerbsbedingungen innerhalb der Gemeinschaft spürbar beeinträchtigen und den Abschluss und die Durchführung von Handelsvertreterverträgen zwischen einem Unternehmen und einem Handelsvertreter, die in verschiedenen Mitgliedsstaaten niedergelassen sind, nachhaltig erschweren. Es sei daher notwendig, die in den Mitgliedsstaaten für Handelsvertreter geltenden Vorschriften in Anlehnung an die Grundsätze von Art. 117 EGV zu harmonisieren4. Eine Regelung oder auch nur ein Hinweis auf Vertragshändlersysteme fehlt in der Begründung zu dieser Richtlinie. Das Abstellen nur auf Handelsvertretersysteme, die schon zu diesem Zeitpunkt eine geringere Bedeutung gehabt haben dürften als Vertragshändlersysteme, ist um so erstaunlicher, weil sich die EU-Kommission seit 1977 intensiv mit Vertragshändlersystemen befasst hatte, die schließlich in die Entschließung mündeten, sogar eine branchenspezifische Gruppenfreistellungs-

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1 Zur Entwicklung s. Martinek, Aktuelle Fragen des Vertriebsrechts, 3. Aufl. 1992, Rz. 6. 2 Dazu Genzow in FS Thume, 2008, S. 49. 3 86/653/EWG. 4 Vorbemerkung zur Richtlinie 86/653 EWG.

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verordnung – die Verordnung (EWG) Nr. 123/85 der Kommission vom 12.12.1984 über die Anwendung von Art. 85 Abs. 3 des Vertrages auf Gruppen von Vertriebs- und Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge5 – zu erlassen6. Unter Ziff. (3) der Vorbemerkung zu dieser Verordnung wurde die Notwendigkeit einer kartellrechtlichen Regelung u. a. damit begründet, dass die Kraftfahrzeughersteller Wettbewerbsbeschränkungen und Verpflichtungen im Rahmen ihres Vertriebssystems „in gleicher oder ähnlichen Form anwenden und durch Bündelung von Vereinbarungen mit ähnlichen Wettbewerbsbeschränkungen nicht nur den Vertrieb und den Kundendienst innerhalb von Mitgliedstaaten, sondern auch den Handel zwischen ihnen erheblich beeinträchtigten“. Es ist daher davon auszugehen, dass sich die EU-Kommission vor Erlass der GVO 123/85 sehr intensiv sowohl allgemein als auch branchenspezifisch mit Vertriebssystemen auseinandergesetzt hat. Gleichwohl hat es nur eine kartellrechtliche Koordinierung als notwendig erachtet, nicht aber zugleich eine zivilrechtliche Angleichung oder Schaffung einer europaweit einheitlichen Rechtsgrundlage, obwohl die Nähe des Vertragshändlers zum Handelsvertreter – auch in rechtlicher Hinsicht – auch schon zum damaligen Zeitpunkt durchaus anerkannt war7. Da diese Erweiterung nicht vorgenommen wurde, blieben die Regelungen aus der GVO einziges „gesetzliches Korsett“ für den Bereich des Vertragshandels. Dass der Kfz-Händlervertrag dabei Prototyp des Vertragshändlervertrages ist, ist unbestritten8.

I. Die Entwicklung der Kfz-GVO Die GVO 123/85 war bis zum 30.6.1995 befristet. Nach Auffassung der EUKommission war eine Erweiterung und Ergänzung der bisherigen Regelung auch und gerade im Hinblick auf die Vertragsrechte und -pflichten des Handels gegenüber dem Hersteller dringend geboten. Die Verordnung (EG) Nr. 1475/95 der Kommission vom 28.6.1995 über die Anwendung von Art. 85 Abs. 3 des Vertrages auf Gruppen von Vertrieb- und Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge9 sah daher eine deutliche Erweiterung der Regeln vor, die der Hersteller bei den Vereinbarungen mit seinen Vertragspartnern zu beachten hatte, wollte er in den Genuss der Freistellung kommen. Beispielhaft sei hier nur die Erstreckung der ordentlichen Kündigungsfrist auf zwei Jahre erwähnt (Art. 5 Abs. (2) Ziff. 2) sowie die Befreiung vom Wettbewerbsverbot, wenn der Händler nachweist, dass sachliche gerechtfertigte Gründe dafür vorliegen (Art. 5 Abs. (2) Ziff. 1).

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5 ABl. Nr. L 15 v. 18.1.1985, S. 16. 6 Im Folgenden „GVO 123/85“. 7 Hierzu im Einzelnen Creutzig, EG-Gruppenfreistellungsverordnung (GVO) für den Kraftfahrzeugsektor, 2003, Rz. 12 ff.; Genzow, Vertragshändlervertrag, 1996, Rz. 5 ff. m. w. N. 8 Dies wird auch von Graf von Westphalen in FS Gündisch, 1999, S. 71, 73 unterstrichen. 9 ABl. Nr. L 145 v. 29.6.1995, S. 25 – nachstehend „GVO 1475/95“.

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Wegfall der Kfz-GVO: Rechtsprechung Vertriebsrecht zukünftig ohne Rückhalt?

Nach Art. 11 Abs. 3 GVO 1475/95 hatte die Kommission vor dem 31.12.2000 einen Bericht über die Funktionsweise der GVO zu erstellen. Dieser Bericht, am 15.11.2000 von ihr verabschiedet10, kommt zu dem Schluss, dass auch diese GVO wesentliche Ziele nicht erreicht habe: Der Parallelhandel sei zu gering; die Nutzung neuer Marketingmethoden fehle, Zugang zu technischen Informationen bleibe Dritten so gut wie verschlossen und die Unabhängigkeit der Händler habe keineswegs zugenommen. Insgesamt wirft die Kommission der Automobilindustrie mit Nachdruck vor, die Regelungen der GVO 1475/95 nicht eingehalten zu haben; zudem habe es eine hohe Zahl von Beschwerden von Verbrauchern gegeben11. Aufgrund dieser Erwägungen hatte sich die Kommission entschlossen, eine deutlich veränderte branchenspezifische GVO zu erlassen, die in ihrem Umfang und Regelungsgehalt gegenüber der GVO 1475/95 nochmals erheblich zunahm: Die Kommission verfolgte mit der am 1.10.2002 in Kraft getretenen Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 vom 31.7.200212 verschiedene Ziele: Generell geht es um den Schutz des Wettbewerbs zum Wohle der Verbraucher und zur effizienten Verteilung der Ressourcen13. Ein weiteres Ziel war die Integration der Märkte, der Wettbewerb in der Gemeinschaft14 ermöglicht. Das Resultat: Die Verbindung zwischen Verkauf und Kundendienst war nicht mehr zwingend; der Mehrmarkenvertrieb wurde erleichtert, die Unabhängigkeit des Händlers durch entsprechende Klauseln (insbesondere in Art. 3 GVO 1400/02) gefördert und der Zugang zu technischen Informationen ausgedehnt. Die GVO 1400/02 ist befristet bis zum 31.5.2010. Die personelle Veränderung in der DG IV (Wettbewerb) der EU-Kommission kurz nach Einführung der GVO 1400/02 führte dort zu einem völligen Umdenken: Die in Art. 3 niedergelegten Klauseln, die u. a. die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Händler sichern sollten, wurden von der nunmehr zuständigen EU-Kommissarin Nellie Kroes und – vor allem – von dem Bereichsleiter Cesarini massiv kritisiert und als „zivilrechtliche Klauseln, die im Kartellrecht nichts zu suchen haben“ abgestraft. Es entstand der Eindruck bei vielen Beteiligten, dass nicht mehr der Verbraucher im „driver’s seat“ sitzen sollte15, sondern der Lieferant den Vorrang hat, den zu stärken es gilt. Mit der Mitte Dezember 2009 erfolgten offiziellen Bekanntgabe des Entwurfs einer neuen Kfz-GVO (mit Wirkung ab 1.6.2010, zum Teil ab 1.6.2013) wurde die nahezu vollständige Umkehr der EU-Kommission dokumentiert, der vielfach schon jetzt „Paradigmenwechsel“ genannt wird: Ausschließlich maßgebend ist nun nur noch ein „ökonomischer, wirkungsbasierter Ansatz“, bei dem „Fairness“ unter den Vertragsparteien kein Regelungsbedarf habe und nur eine Abwägung wettbewerbsfeindlicher Auswirkungen einer Vereinbarung zu

__________ 10 11 12 13 14 15

KOM(2000) 743. Dazu Creutzig (Fn. 7), Rz. 17 f. ABl. Nr. L 203 v. 1.8.2002, S. 30 – nachstehend „GVO 1400/02“. Leitlinien für vertikale Beschränkungen, Rz. 7, S. 1. Leitlinien für vertikale Beschränkungen, Rz. 7, S. 4. Wie dies noch für die GVO 1400/02 von der DG IV betont worden war.

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möglichen positiven, effizienzfördernden Auswirkungen stattzufinden habe16, wobei den Fahrzeugherstellern zur Erhaltung ihrer Existenz ein möglichst großer Freiraum einzuräumen sei. Für den Vertrieb von Neufahrzeugen bedeutet dies spätestens zum 1.6.2013 einen Wegfall der branchenspezifischen Freistellungsverordnung und damit verbunden einen Wegfall aller Regelungen in der bisherigen branchenspezifischen GVO, die (auch) der Unabhängigkeit dienten. An ihre Stelle treten nur noch sektorspezifische Leitlinien und eine „MiniGVO“, die nur für den Servicebereich und für den Ersatzteilvertrieb Geltung hat. Ab dem 1.6.2013 fällt auch der Neufahrzeug-Vertrieb unter die Allgemeine Vertikal-VO, die allerdings in ihrem Wortlaut zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht feststeht, weil die bisherige Vertikal-GVO 2790/99 wie die GVO 1400/02 am 31.5.2010 ausläuft. Es ist übrigens – soweit ersichtlich – das erste Mal in der Geschichte der EU-Kommission, dass auf die Anwendung einer Verordnung verwiesen wird, die noch nicht einmal im finalen Wortlaut vorliegt.

II. Die Entwicklung des Vertriebs-„Rechts“ Der Begriff „Vertriebsrecht“ war noch vor 20 Jahren weitgehend unbekannt. Mit Ausnahme des Bereiches IT hat wohl kaum eine andere Rechtssparte eine so umfassende Entwicklung erfahren und Bedeutung erlangt wie dieser Bereich, der heute sogar an Universitäten und Hochschulen als ein Schwerpunkt für die Ausbildung angeboten wird. 1. Die Entwicklung des Vertriebsrechts kann seit Ende der 70er Jahre als durchaus stürmisch bezeichnet werden: In einem Zeitraum von etwa nur gut 10 Jahren verkündete der BGH nicht weniger als 12 für den Vertragshändlerbereich wegweisende Entscheidungen: – – – – – – – – –

7.10.1981 „Listenpreisklauseln“17 25.3.1982 „Ausgleichsanspruch für Vertragshändler“18 2.2.1983 (Ausgleichsanspruch)19 21.12.1983 „Ford“20 26.11.1984 „Opel“21 7.1.1991 (Ausgleichsanspruch)22 10.2.1993 „Treue- und Rücksichtnahmepflicht“23 6.10.1993 (Ausgleichsanspruch)24 1.12.1993 „Porsche“25

16 17 18 19 20 21 22 23 24 25

Darstellung Dr. Simon anlässlich des 9. PraxisForum Vertriebsrecht am 27.11.2009. BB 1982, 146. NJW 1982, 2819 ff. I ZR 175/83. NJW 1984, 1182 f. NJW 1985, 623 ff. NJW RR 1991, 484 f. NJW 1993, 678 ff. DB 1993, 2526 f. ZIP 1994, 136 f.

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– 12.1.1994 „Daihatsu“26 – 23.11.1994 „Suzuki“27 – 21.2.1995 „Citroen I“28 2. Besondere Bedeutung haben insgesamt 7 höchstrichterliche Entscheidungen (und zum Teil auch die Entscheidungen der Vorinstanz, in denen bereits teilweise rechtskräftig entschieden worden ist), die sich mit Klauseln aus Vertragshändlerverträgen befassen: In nur 7 gerichtlichen Verfahren haben die Gerichte dabei insgesamt 79 Klauseln geprüft: 57 Klauseln wurden von den Gerichten als unwirksam befunden, 22 Klauseln als zulässig. Es handelte sich um folgende Verfahren29: – – – – – – –

„Ford“, BGH 22.12.198330 „Opel“, BGH 26.11.198431 „Daihatsu“, BGH 12.1.199432 „Suzuki“, BGH 23.11.199433 „Kawasaki“, BGH 6.10.197734 „Citroen“, BGH 13.7.200435 „Honda“, BGH 20.7.200536

III. Rechtsentwicklung unter Berücksichtigung der GVO? Viele Klauseln der in den zuvor genannten Rechtsstreiten streitbefangenen Vertriebsverträge standen im unmittelbaren Zusammenhang mit den Regelungen aus der branchenspezifischen GVO (entweder GVO 123/85, GVO 1475/95 oder GVO 1400/02). Es lag damit nahe, dass die Gerichte sich mit der Frage befassten, ob den Bestimmungen einer Gruppenfreistellungsverordnung Leitbildfunktion für die Inhaltskontrolle von Vertriebsverträgen zukommt. 1. Der 8. Zivilsenat des BGH hat in der „Daihatsu“-Entscheidung vom 12.1.1994 diese Frage ausdrücklich offen gelassen37. In seiner am 21.2.1995 verkündeten Entscheidung „Citroen I“38 hat der Kartellsenat des BGH u. a. darauf hingewiesen, dass die dort vorgesehene Kündigungsfrist den Vorgaben der damals geltenden Gruppenfreistellungsverordnung (GVO 123/85) entspreche, ohne jedoch zu der grundsätzlichen Frage Stellung zu nehmen, ob deren Regelung als Kontrollmaßstab für die Inhaltskontrolle nach § 9 AGBG (jetzt

__________ 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38

NJW 1994, 1060 ff. DB 1995, 113 ff. NJW RR 1995, 1260 ff. S. auch Genzow/Siemann, Beilage zum Kfz-Betrieb Heft 18, S. 35 ff. NJW 1984, 1182. NJW 1985, 623 ff. NJW 1994, 1060 ff. DB 1995, 113 ff. NJW 2000, 515. GRUR 2005, 62 ff. NJW RR 2005, 1496 f. NJW 1994, 1064. NJW RR 1995, 1260, 1261.

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§ 307 BGB) bilde39. In seiner „Citroen II“-Entscheidung vom 13.7.200440 ließ der Kartellsenat diese Frage wiederum offen: In der Rechtsprechung des BGH sei seit langem anerkannt, dass AGB, die gegen zwingendes Recht verstoßen und aus diesem Grunde nichtig seien, den Gegner des Klauselverwenders unangemessen benachteiligen und deshalb Gegenstand von Unterlassungsansprüchen nach § 13 AGBG (jetzt § 1 UKlaG) sein können41. Händlervertragsklauseln, die die Wettbewerbsfreiheit der Händler einschränken, seien daher zugleich gemäß § 307 BGB, § 9 AGBG unwirksam, soweit sie den Händlern Beschränkungen auferlegen, die nicht durch die jeweils maßgebliche Gruppenfreistellungsverordnung vom Verbot des Art. 81 Abs. 1 EG freigestellt und demzufolge nach Art. 81 Abs. 2 EG nichtig seien. Auch der 8. Zivilsenat des BGH ließ in der „Honda“-Entscheidung vom 20.7.200542 offen, ob die Klauseln den Händler deshalb unangemessen benachteiligen, weil sie den Anforderungen des Art. 3 Nr. 5 GVO 1475/95 oder der GVO 1400/02 nicht genügen und deshalb nach Art. 81 Abs. 2 EG nichtig seien. 2. Soweit ersichtlich, hat erstmals das OLG Köln in seiner Entscheidung vom 21.3.1994 konkret und in der Weise Stellung bezogen, dass Regelungen aus der GVO als Kontrollmaßstab für die Inhaltskontrolle in Betracht kommen. Es führt aus, dass die kartellrechtliche Regelung des Art. 5 Abs. 2 Nr. 1a der GVO 123/85 ein „geeigneter Maßstab für eine Inhaltskontrolle in Kfz-Händlerverträgen“ darstelle43. Das OLG Düsseldorf hat sich in der vorinstanzlichen Entscheidung44 zur „Citroen II“-Entscheidung des BGH vom 13.7.2004 dieser Auffassung des OLG Köln angeschlossen und eindeutig Position bezogen: Bei der Inhaltskontrolle seien Bestimmungen der GVO 1475/95 mit heranzuziehen, wobei das Unterlassungsbegehren auch nicht in Widerspruch zu der zwischenzeitlich in Kraft getretenen GVO 1400/02 stehen dürfe. Denn die aufgrund der Ermächtigung in Art. 81 Abs. 3 EG ergangene Gruppenfreistellungsverordnung sei Bestandteil der Regelung auf dem Gebiet des Europäischen Kartellrechts. EG-Kartellrecht sei im Inland unmittelbar verbindliches Recht, welches die Gerichte anzuwenden haben45. Die Wettbewerbsregeln des EG-Kartellrechts bezwecken nach Auffassung des OLG Düsseldorf den Schutz der Funktion des Wettbewerbs auf

__________ 39 Die Entscheidung ist heftig kritisiert worden, weil die GVO 123/85 bis 30.6.1995 befristet war und die ab 1.7.1995 gültige GVO 1475/95 eine 2-jährige Kündigungsfrist vorsah, der Kartellsenat jedoch noch eine 1-jährige Kündigungsfrist als angemessen und ausreichend angesehen hat. 40 GRUR 2005, 62. 41 Unter Hinweis auf BGH, NJW 1983, 1320, 1322 und Brandner in Ulmer/Brandner/ Hensen, AGBG, 9. Aufl., § 9 Rz. 41 sowie Nicklitz in MünchKomm.BGB, 4. Aufl., § 13 AGBG Rz. 46 f. 42 NJW RR 2005, 1499. 43 NJW 1995, 947, 948. 44 25.2.2003 – U (Kart) 2/00, BeckRS 2007, 01119. 45 OLG Düsseldorf v. 25.2.2003 – U (Kart) 2/00, BeckRS 2007, 01119 unter Hinweis auf Bechtold, GWB, 3. Aufl., Einführung Rz. 65, 67 m. w. N.

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Wegfall der Kfz-GVO: Rechtsprechung Vertriebsrecht zukünftig ohne Rückhalt?

dem gemeinsamen Markt. Es werden hierdurch indes auch einzelne andere und hiermit sinngemäß zusammenhängende Zwecke verfolgt: So solle das EG-Wettbewerbsrecht auch für die Verbraucher Vorteile bringen. Daneben soll es die individuelle Möglichkeit zur wirtschaftlichen Bestätigung gewährleisten. Zusammenfassend diene daher das EG-Wettbewerbsrecht nicht nur dem Schutz dem Schutz des Wettbewerbs als Institution, sondern auch dem Schutz der einzelnen Marktteilnehmer46. Dies umfasse auch den Schutz von Unternehmen, den der Händlerverband für die von ihm vertretenen Kraftfahrzeughändler im Prozess in Anspruch nehme. Die GVO bezwecke den Schutz von Vertragshändlern. Die GVO verfolge als Ziel einen Interessenausgleich zwischen dem beherrschenden Prinzipal und den von ihm abhängigen Händlern. Den Bestimmungen der GVO komme damit als geltendes Recht eine Ordnungs- und Leitbildfunktion i. S. d. § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB zu. Dies bedeute, dass die wesentlichen Grundsätze einzelner Regelungen der GVO, soweit sie auch dem Schutz von Vertragshändlern dienen, bei der Inhaltskontrolle zu berücksichtigen seien. Sie bilden mit einen Maßstab für die Vereinbarkeit von Allgemeinen Geschäftsbedingungen mit dem dispositiven Recht, welches zu verneinen sei, sofern durch Bestimmungen des im Streitfall zu beurteilenden Händlervertrages in einem nicht unerheblichen Maß in rechtlich geschützte Interessen des Vertragshändlers eingegriffen werden47. 3. In der Literatur besteht seit langem überwiegend die Auffassung, dass Regelungen aus der GVO als Kontrollmaßstab für die Inhaltskontrolle nach AGBG bzw. nach § 307 BGB in Betracht kommen, insbesondere dass die in der KfzGVO enthaltenen Kernaussagen jedenfalls für den Bereich des Kfz-Vertriebs adäquate Maßstäbe der Angemessenheitskontrolle setzen48. Ein Teil der Literatur hat allerdings die vorsichtige Zurückhaltung der Rechtsprechung übernommen: Die Gruppenfreistellungsverordnung habe keine zwingende Wirkung auf den Vertragsinhalt und berühre dessen Gültigkeit nicht unmittelbar. Die Unwirksamkeit des Vertrages richte sich vielmehr nach nationalem Recht. Da die Kfz-GVO in erster Linie dem Schutz des zwischenstaatlichen Waren- und Dienstleistungsverkehrs diene und Beschränkungen dieses Schutzes gerechtfertigt seien, wenn durch selbständige Händlerfirmen zusätzlicher Wettbewerb entstehe, sehe auch die Kfz-GVO Vorschriften zur Sicherung der Freiheit und Selbständigkeit der Vertragshändler vor. Die Einzelvorschriften der Kfz-GVO seien deshalb bei den jeweiligen Regelungspunkten „mit zu berücksichtigen“49.

__________ 46 BeckRS 2007, S. 36 unter Hinweis auf Langen/Bunte, Kart Gr., 9. Aufl., Art. 81, generelle Prinzipien Rz. 226 m. w. N. 47 BeckRS 2007, S. 36 unter Hinweis auf Löwe/Graf von Westphalen/Trinkner, AGBG, Band III., Vertragshändlerverträge Rz. 7 sowie unter Hinweis auf OLG Köln, NJW RR 1995, 947, 948. 48 Graf von Westphalen, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, „Vertragshändlerverträge“, Rz. 6; Ulmer in Ulmer/Brandner/Hensen, 10. Aufl., Anh. § 310 BGB Rz. 946 f.; Manderla in Martinek/Semler, Vertriebsrecht, 2. Aufl., § 18 Rz. 45. 49 So Wolf in Wolf/Horn/Lindacher, AGBG, 5. Aufl., Anh § 310 Rz. V 316.

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4. Damit ist allerdings noch nicht die Frage beantwortet, ob die Regelungen der Kfz-GVO auch außerhalb von Kfz-Vertragshändlerverträgen unmittelbar oder mittelbar zu berücksichtigen sind. Allen voran der Jubilar hat sich mit dieser Frage in der Festschrift für Gündisch50 umfangreich auseinandergesetzt: Mit dem Verweis, dass der Kfz-Händlervertrag der Prototyp des Vertragshändlervertrages ist, stellt er zutreffend fest, dass der gleiche Typus des Vertragshändlervertrages auch bei sonstigen Vertragsprodukten in Betracht komme, insbesondere bei solchen, die technisch kompliziert und daher kundendienstbedürftig seien (z. B. Landmaschinen, Baumaschinen, Elektrogeräte etc.). In der Typizität unterscheiden sich diese Vertragshändlerverträge in der Tat nicht von denjenigen, die in der Kfz-Branche üblich sind. Zutreffend wird auch darauf verwiesen, dass derartige Vertragshändlerverträge in aller Regel AGBKontrakte sind, deren Klauseln durch den Hersteller bzw. Lieferant keineswegs zur Disposition gestellt werden, weil dem Lieferant an einer wirtschaftlichen Einheit seines Vertriebssystems – und damit auch bedingt an einer rechtlichen Einheit seiner Verträge – gelegen ist. Eine weitere Parallelität sieht der Jubilar in der Wertung der Interessen, welche die GVO im Auge habe: Notwendigerweise und ganz zwangsläufig sei es immer so, dass der Vertragshändler die marktschwächere Partei sei, weil es sich regelmäßig um kleine oder mittelständische Unternehmen handele, wie auch der Leitfaden zur GVO mit Recht betone51. Demgegenüber sei der Hersteller grundsätzlich die marktstärkere Partei, die ihre eigenen Interessen und Belange ohne Weiteres gegenüber dem Vertragshändler durchsetzen könne und auch durchsetze. Wenn aber die GVO nachhaltig die Tendenz verfolge, die Interessen des Vertragshändlers gegenüber dem marktstarken Hersteller zu schützen und zu stützen, so wird man diese interessenspezifische Erwägung auch für die Fälle anwenden können, die in den Vertragshändlerverträgen in Rede stehen, die nicht dem unmittelbaren Anwendungsbereich der GVO unterfallen52.

IV. Rechtssituation in Europa Lediglich in Belgien existiert (im geringen Umfang) eine gesetzliche Regelung für den Vertragshändlerbereich. Seit dem 1.10.2008 findet in Griechenland das Handelsvertreterrecht (mit Einschränkungen) für den Vertragshändler aufgrund einer entsprechenden neuen gesetzlichen Regelung Anwendung. In Deutschland und Österreich wird bekanntlich ein Teil der §§ 84 ff. HGB auf Vertragshändler angewendet. In allen übrigen europäischen Ländern gibt es weder eine gesetzliche Grundlage noch eine umfassende Rechtsprechung, die etwa mit der deutschen – oben dargestellten – Rechtsprechung vergleichbar

__________ 50 Graf von Westphalen in FS Gündisch, 1999, S. 72 f. 51 Leitlinie für vertikale Beschränkungen (2000/C 291/01); Leitfaden zur VO EG 1400/2002. 52 S. dazu auch den Überblick bei Genzow in FS Thume, 2008, S. 52.

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wäre53. Dies hat zur Konsequenz: Mit Ausnahme von Belgien, Deutschland, Griechenland und Österreich kommt den Gerichten spätestens ab dem 1.6.2013 das einzige „gesetzliche Korsett“ – nämlich die GVO 1400/02 – abhanden, welches der Gerechtigkeitsmaßstab für Vertragshändlerverträge sein könnte.

V. Paradigmenwechsel auch in der deutschen Rechtsprechung? Ab 1.6.2013 stehen für den Vertragshändlervertrag die bisherigen Maßstäbe der Angemessenheitskontrolle, soweit sie mittelbar oder unmittelbar aus der KfzGVO resultieren, nicht mehr zur Verfügung. Damit stellt sich die Frage, ob sich auch hier ein Paradigmenwechsel vollziehen wird, wie er für den vertriebs-kartellrechtlichen Bereich nach dem bisherigen Kenntnisstand zu befürchten ist. 1. Fest steht: Da die noch verbleibende „Mini-GVO“ keine wesentlichen vertragsrelevanten Kernaussagen mehr enthält, ist sie nicht geeignet, adäquate Maßstäbe für eine Angemessenheitskontrolle zu setzen. Neben dieser im Regelungsgehalt stark reduzierten und auf das Aftersales- und Ersatzteilgeschäft beschränkten neuen Kfz-GVO beabsichtigt die EU-Kommission lediglich, sog. „Supplementary Guidelines“ – ergänzende Leitlinien – für den Verkauf und die Reparatur von Fahrzeugen und für den Vertrieb von Ersatzteilen für Fahrzeuge herauszugeben. Allerdings war bisher nicht von einer Rechtsqualität solcher Leitlinien auszugehen. Noch in den Leitlinien zur GVO 1400/02 heißt es, dass die Erläuterungen in diesen Leitlinien „rechtlich nicht verbindlich“ seien54. Dem stimmt auch Creutzig55 zu: Die Kommission könne keine verbindliche Auslegung geben, auch könne durch Leitlinien keine Normsetzung erfolgen. Denn die Auffassung der Kommission binde weder das Gericht erster Instanz noch den EuGH oder nationale Gerichte. Eine so eindeutige „Unverbindlichkeitserklärung“ fehlt indes in den Supplementary Guidelines zur beabsichtigten neuen Kfz-GVO. Es wird aber die Zielsetzung der EU-Kommission deutlich gemacht: Leitlinien sollen den Lieferanten eine Hilfe für die eigene Vertragsgestaltung geben. Die Leitlinien enthalten deswegen Darstellungen und Erklärungen zu Gesichtspunkten, die für den Vertrieb von Neufahrzeugen von Wichtigkeit sind, jedoch ohne Präjudiz für eine Anwendung auf die (im endgültigen Wortlaut noch nicht bekannte) Vertikal-GVO. Damit entfällt die Möglichkeit, wenigstens die Aussagen im Leitfaden als Maßstab für eine zukünftige Angemessenheitskontrolle von Vertragshändlerverträgen zu nehmen.

__________ 53 Graf von Westphalen in FS Gündisch, 1999, S. 73. 54 Leitfaden zur VO EG 1400/2002, S. 9. 55 Creutzig (Fn. 7), Rz. 174.

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2. Dies erkennend, verweist die EU-Kommission in den Supplementary Guidelines auf einen „Code of Conduct“56. Bei diesem „Code of Conduct“ handelt es sich um die von einem Teil der Automobilhersteller und Importeure herausgegebene Code of good practice regarding certain aspects of vertical agreements in the motor vehicle sector57. Indes ist die Qualität dieses „Code of Conducts“ noch ungewisser und unklarer als die Qualität der von der EUKommission herausgegebenen Leitlinien. Denn diese Leitlinien stellen zumindest eine Selbstbindung der Kommission dar58, wohingegen dieser „Code of good practice“ eine Verhaltensmaßregel darstellt, die sich jeder Lieferant unterwerfen kann, aber keineswegs muss. Und selbst wenn er es tut, ist noch völlig ungeklärt, ob und ggf. in welchem Umfang hieraus Ansprüche der Vertragspartner gegenüber dem Lieferanten abzuleiten sind. Der Hinweis der EUKommission auf den „Code of Conduct“ enthält daher keine „hard facts“, die geeignet erscheinen, als adäquater Maßstab der Angemessenheitskontrolle zu dienen. 3. Allerdings erkennt auch die Abteilung Wettbewerb (DG IV) der EU-Kommission, dass ein Schutz der Vertragshändler notwendig ist59. Es verweist die Vertragspartner der Lieferanten jedoch auf nationale Institutionen und Gerichte, womit allerdings kein Maßstab für die zukünftige Rechtsauslegung im Rahmen der Angemessenheitsprüfung gegeben ist. Die Erklärung der EUKommission macht aber deutlich, dass sie keineswegs der Auffassung ist, dass derartige – weitergehenden – zivilrechtlichen Regelungen nicht notwendig seien. Sie ist eben „nur“ der Auffassung: Derartige Regelungen gehören nicht zum Kartellrecht, sie müssen daher von anderen Institutionen – etwa von nationaler Gesetzgebung oder durch entsprechende nationale Gerichtsentscheidungen – statuiert werden, möglicherweise aber auch durch andere europäische Institutionen: Darauf weisen zumindest mündlich gegebene Kommentare hin, die sich mit der Initiative der EDL60 befasst haben, die Richtlinie 86/653 EWG des Rates vom 18.12.1989 (Handelsvertreterharmonisierungsrichtlinie)61 auf Vertragshändlerrechtsbeziehungen zu erweitern. Der Vorschlag von Huhtamäki62 und Genzow63 fand dabei bei der DG IV durchaus ein „offenes Ohr“: Nämlich Art. 1 der Harmonisierungsrichtlinie um eine Definition des „Vertragshändlers“ zu ergänzen, einen Investitionsschutz analog zu § 454 UGB64 zu schaffen sowie u. a. Kündigungsfristen analog den bisher in der

__________ 56 Supplementary Guidelines I 1 (7). 57 Veröffentlicht in http://ec.europa.eu/competition/consultations/2008_motor_vehicle /acea_annex_en.pdf. 58 S. dazu auch Creutzig, EuZW 1996, 197. 59 So das Impact Assessment der EU-Kommission vom 22.7.2009 – COM (2009) 388 final, Rz. 132, 190 f., 527 ff. 60 Association of European Distribution Lawyers. 61 COM (76) 670 final, S. 1 ff. 62 Contractual protection for distributors – Proposal to amend Council Directive 86/653/EEC sowie Genzow in FS Thume, 2008, S. 54 f. 63 Genzow in FS Thume, 2008, S. 55. 64 Hierzu Hohenecker, Der neue § 454 UGB, Investitionsersatz im Vertriebs- und Zulieferwesen, Wien 2006.

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Wegfall der Kfz-GVO: Rechtsprechung Vertriebsrecht zukünftig ohne Rückhalt?

GVO 1400/02 geltenden Kündigungsfristen, um einen hinreichenden Schutz der Vertragshändler zu gewährleisten.

VI. Folgerungen und Fazit Dies aber besagt: Der von der EU-Kommission eingeleitete Paradigmenwechsel65 hat seine Grundlage in einer Neuordnung der kartellrechtlichen Struktur, wobei die EU-Kommission keineswegs eine – allerdings nur zivilrechtliche – Schutzbedürftigkeit des in der aller Regel marktschwächeren Handels verneint. Daraus folgt zwingend, dass es keinen Anlass gibt, die bisherigen Grundlagen und die bisherige Entwicklung in der Rechtsprechung zum Vertragshändlerrecht aufzugeben oder zu überdenken. Im Gegenteil: Bedenkt man, dass es in den meisten europäischen Ländern eine einheitliche Rechtslinie, wie Vertragshändlerrecht zu praktizieren ist, nicht existiert und bedenkt man weiter, dass in geschlossenen Vertriebssystemen derartige Verträge diskriminierungsfrei europaweit angewendet werden müssen66, so gelangt man zu dem Schluss: Es besteht nicht nur die Notwendigkeit, sondern sogar ein Erfordernis, die bisherige Rechtsprechung beizubehalten und – beispielsweise im Hinblick auf den Investitionsschutz67 – weiter auszubauen und europaweit zu harmonisieren. Dabei kann die deutsche Rechtsprechung durchaus einen Vorbildcharakter für andere europäische Länder oder anders gewendet: Für eine Erweiterung der Harmonisierungsrichtlinie haben. Denn schon seinerzeit war das deutsche Handelsvertreterrecht eine maßgebliche Grundlage für die Regelungen in der Harmonisierungsrichtlinie. Und es spricht nichts dagegen, die im Vertriebsrecht entwickelte deutsche Rechtsprechung auch auf alle übrigen EU-Mitgliedsstaaten zu übertragen: Denn sie ist letztlich geprägt von dem Verständnis europäischer Normen, insbesondere – wie untersucht – von den KfzGruppenfreistellungsverordnungen. Wie ebenfalls aufgezeigt wurde, hat sich die Rechtsprechung des Vertragshändlerrechts neben der GVO insbesondere auch an den §§ 84 ff. HGB orientiert. Dieser Orientierungsmaßstab bleibt und muss ggf. durch eine Erweiterung der Handelsvertreterrichtlinie um Bestimmungen, die originär aus der GVO stammen, ergänzt werden. So gesehen ist eine zukünftige Entwicklung des Vertriebsrechts auf den gesamteuropäischen Raum auf der Grundlage der Entwicklung des deutschen Vertriebsrechts durchaus angebracht und zielführend. Dafür bedarf es gewiss noch vieler Schritte und Mühen – der Paradigmenwechsel bei der Kfz-GVO stellt auf diesem Weg keinen Bruch dar, wird aber sicherlich nicht zur Beschleunigung beitragen.

__________ 65 S. dazu oben S. 195. 66 Joerges, RIW 1985, 527 ff. 67 Wie im österreichischen Recht § 454 UGB.

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Verbraucherrechte bei der Versorgung mit Trinkwasser Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Besonderheiten der Versorgung mit Trinkwasser 1. Wasserversorgung als Daseinsvorsorge 2. Definition von Trinkwasser 3. Trinkwasser als Lebensmittel III. Struktur der Trinkwasserversorgung 1. Situation in der Bundesrepublik a) Wettbewerb im Markt b) Wettbewerb um den Markt 2. Strukturen in ausgewählten Ländern der EU

IV. Überblick über die rechtlichen Rahmenbedingungen im Trinkwasserrecht 1. Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb (GWB) 2. Anschluss- und Benutzungszwang V. Der Vertrag über die Lieferung von Trinkwasser zwischen dem TVU und dem Grundstückseigentümer 1. Vertragsschluss 2. Vertragspartner des TVU 3. Zu einigen Aspekten der Mängelhaftung am gelieferten Trinkwasser VI. Fazit VII. Statt eines Schlusswortes

I. Einleitung Angeregt durch den Vorlagebeschluss des BGH vom 18.3.2009, Az: VIII ZR 149/081, beschäftigt sich dieser Beitrag mit dem Spannungsverhältnis von Vertragsfreiheit und Verbraucherschutz bei der Trinkwasserversorgung von Verbrauchern. Dabei wird herausgearbeitet, dass sich die Rahmenbedingungen nicht unerheblich von denen anderer leitungsgebundener Versorgungsträger unterscheiden. Fraglich ist aber, ob diese Unterschiede alle gerechtfertigt und vor allem auch – für Verbraucher – wünschenswert sind. Dieser Beitrag gibt einen Überblick über die gegenwärtige Situation in dieser Branche in der Bundesrepublik und über wesentliche Rechtsvorschriften sowie den Stand der Rechtsprechung auf diesem Gebiet.

II. Besonderheiten der Versorgung mit Trinkwasser Ein wesentlicher Bestandteil der Wasserversorgung ist die Versorgung von Wirtschaft und Verbrauchern mit Trinkwasser. Hiervon werden die Aufbereitung, Speicherung, Zuführung und Verteilung von Trink- und Brauchwasser erfasst. Der Transport von Trinkwasser erfolgt regelmäßig über Rohrleitungen zum Endverbraucher.

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1 ZGS 2009, 277 ff.

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Vom Grundsatz her gibt es, im Gegensatz zu vielen anderen Ländern, auf dem Staatsgebiet der Bundesrepublik, wenn auch regional sehr unterschiedlich verteilt, genügend Wasservorkommen, um eine ausreichende Versorgung der Wirtschaft und der Verbraucher mit Wasser im Allgemeinen und Trinkwasser im Besonderen sicherzustellen2. Analog den anderen leitungsgebundenen Versorgungsträgern ist Trinkwasser zum sofortigen Verbrauch bestimmt. Daraus folgen Besonderheiten im zivilrechtlichen Gewährleistungsrecht, denn in aller Regel kann der Verbraucher die in § 437 Nrn. 1 und 2 BGB postulierten Gewährleistungsrechte nicht geltend machen. Im Unterschied zu den anderen leitungsgebundenen Versorgungsträgern wie Strom oder Gas ist die Versorgung von Wirtschaft und Verbrauchern mit Trinkwasser (noch) durch Besonderheiten in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht geprägt. 1. Wasserversorgung als Daseinsvorsorge Eine wesentliche Ursache hierfür dürfte darin bestehen, dass eine kontinuierliche Versorgung des Endverbrauchers mit Wasser in den Ländern der Europäischen Union kein normales Handelsgeschäft darstellt, sondern als Leistung der Daseinsvorsorge in Europa im Sinne der Mitteilung der Kommission vom 26.9.1996 angesehen wird3. Solche Leistungen werden definiert als „… marktbezogene oder nichtmarktbezogene Tätigkeiten, die im Interesse der Allgemeinheit erbracht und daher von den Behörden mit spezifischen Gemeinwohlverpflichtungen verknüpft werden“4. Aus dem Erwägungsgrund 21 der Mitteilung der Kommission ist zu entnehmen, dass die öffentlichrechtlich oder privatrechtlich organisierten Erbringer solcher Art von Dienstleistungen ausnahmsweise nicht den Bestimmungen über die Einhaltung des EG-Vertrages unterliegen, nämlich immer dann wenn die EG-Vertrags-Bestimmungen den Gemeinwohlverpflichtungen nicht entsprechen und die Verhältnismäßigkeit gewahrt ist. Dies dürfte wohl in erster Linie auf die Wettbewerbsvorschriften des EU-Vertrages bezogen sein, denn Art. 106 Abs. 2 Satz 1 EU-Vertrag bestimmt, dass die Wettbewerbsregeln nur dann anzuwenden sind, wenn sie die Erfüllung der ent-

__________ 2 Merkel in Hack, Einführung in die Wasserversorgung, 2004, 18; Hansen/Herbke/ Kraemer in Schönbäck/Oppolzer/Kraemer/Hansen/Herbke, Internationaler Vergleich der Siedlungswasserwirtschaft, Band 4, Überblicksdarstellungen Deutschland und Niederlande, Informationen zur Umweltpolitik Österreichischer Städtebund, Arbeitskammer, 379 ff.; Bericht der Enquete-Kommission „Globalisierung der Weltwirtschaft – Herausforderungen und Antworten“ Teil 7 BT-Drucks. 14/9200, S. 360 ff. 3 So ausdrücklich die Erwägungsgründe 1 und 15 der Wasserrahmenrichtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.10.2000, RL2000/60/EG, ABl. Nr. L 327 v. 22.12.2000, S. 1. 4 Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa in ABl. Nr. C 281 v. 26.9.1996, S. 3.

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sprechenden Aufgaben der Unternehmen nicht rechtlich oder tatsächlich verhindern5. Die Anwendung der Wettbewerbsregeln stellt also im Falle der Versorgung des Endverbrauchers mit Trinkwasser die Ausnahme von der Regel dar, sofern sich der einzelne Mitgliedsstaat darauf beruft. Im Gegensatz zu anderen leitungsgebundenen Versorgungsträgern wie beispielsweise Telekommunikation, Gas, Strom ist der Markt für die Versorgung mit Trinkwasser bisher nicht geöffnet worden6. 2. Definition von Trinkwasser Trinkwasser besteht allgemein ausgedrückt aus Wasser, zuzüglich natürlicher Mineralien sowie vom Gesetzgeber zugelassener Aufbereitungsstoffe. Außerdem sind im Trinkwasser üblicherweise auch Fremd- und Schadstoffe enthalten, die allerdings bestimmte festgelegte chemische sowie mikrobiologische Grenzwerte und so genannte Indikatorparameter nicht überschreiten dürfen. 3. Trinkwasser als Lebensmittel Nach dem Willen des Gesetzgebers ist Trinkwasser ein Lebensmittel. Dies ergibt sich zunächst indirekt aus § 2 Abs. 2 des LFGB7, der auf Art. 2 der VO8 (EG) 178/02 verweist, und zwar unbeschadet der speziellen Vorschriften für Trinkwasser. Im Rahmen der Europäischen Union wurde bereits vor knapp 30 Jahren die erste Trinkwasserrichtlinie verabschiedet, um einheitliche Standards für Trinkwasser in allen Ländern zu gewährleisten. Die zwischenzeitlich revidierte Trinkwasserrichtlinie aus dem Jahre 1998 geht davon aus, dass diese einheitlichen Mindeststandards sowohl aus Gründen der Gesundheitsvorsorge für die Bevölkerung als auch aus Gründen des Umweltschutzes erforderlich sind9. Der Anhang I zur Trinkwasserrichtlinie gibt für alle Mitgliedsstaaten der EU einen einheitlichen Mindestqualitätsstandard für das Trinkwasser vor. Dies ergibt sich aus Art. 5 Abs. 2 der Trinkwasserrichtlinie. Gegenwärtig laufen die Arbei-

__________ 5 Konsolidierte Fassung des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. Nr. C 115 v. 9.5.2008, S. 47. 6 Vgl. zur Rechtslage bei Strom und Gas Scholl, „Energieliefungsverträge und Fernabsatzrecht“, ZGS 2009, 299. 7 Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuch (Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch – LFGB) in der Bekanntmachung der Neufassung v. 24.7.2009 (BGBl. I 2009, 2205). 8 Verordnung (EG) 178/2002 des EP und des Rates v. 28.1.2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit, ABl. Nr. L 31 v. 1.2.2002, S. 1. 9 Erwägungsgründe 6 und 7 der Richtlinie 98/83/EG v. 3.11.1998, ABl. Nr. L 330 v. 5.12.1998, S. 32.

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ten zur Revision der Trinkwasserrichtlinie, um diese an die neuen Erkenntnisse der Wissenschaft anzupassen10. Die Trinkwasserrichtlinie 1998 wurde durch den deutschen Gesetzgeber mit der Novelle zur Trinkwasserverordnung (TrinkwV2001) – verspätet – zum 1.1.2003 in nationales Recht umgesetzt11. Ermächtigungsgrundlage für den Erlass der der TrinkwV2001sind §§ 37 Abs. 3, 38 Abs. 1 IFSG12. Der Gesetzgeber definiert in § 37 Abs. 1 IFSG, was er unter Trinkwasser verstanden wissen will. Danach gilt Wasser nur dann als Trinkwasser, wenn feststeht, „… dass durch seinen Genuss oder Gebrauch eine Schädigung der menschlichen Gesundheit, insbesondere durch Krankheitserreger, nicht zu besorgen ist.“ Wann nach den zwingenden Vorstellungen des Gesetzgebers diese Trinkwasserqualität erreicht ist, ergibt sich aus der Definition in § 4 Abs. 1 TrinkwV2001. Danach muss Trinkwasser „… frei von Krankheitserregern, genusstauglich und rein sein. Dieses Erfordernis gilt als erfüllt, wenn bei der … Verteilung die allgemein anerkannten Regeln der Technik eingehalten werden und … den Anforderungen der §§ 5 bis 7 entspricht.“

III. Struktur der Trinkwasserversorgung 1. Situation in der Bundesrepublik Die Versorgung der Wirtschaft, aber auch der Verbraucher, erfolgt in der Bundesrepublik überwiegend durch eine Vielzahl kleiner und kleinster TVU13. Der entscheidende Grund für diese im internationalen Maßstab sehr dezentralisierte Struktur der TVU liegt darin begründet, dass die Trinkwasserversorgung als Teil der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie im Sinne des Art. 28 Abs. 2 GG angesehen wird14.

__________ 10 Zum Stand der Überarbeitung der Trinkwasserrichtlinie s.: http://ec.europa.eu/ environment/water/water-drink/revision-en.html. 11 Verordnung über die Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch (Trinkwasserverordnung – TrinkwV2001) (BGBl. I 2001, 959), die durch Art. 363 der VO v. 31.10.2006 (BGBl. I 2006, 2407) geändert worden ist. 12 Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IFSG) v. 20.7.2000 (BGBl. I 2000, 1045), das durch Art. 2a des Gesetzes v. 17.7.2009 (BGBl. I 2009, 2091) geändert worden ist. 13 Egerer/Wackerbauer in Forschungszentrum Karlsruhe in der Helmholtz Gemeinschaft, Strukturveränderungen in der deutschen Wasserwirtschaft und Wasserindustrie 1995–2005, 2006, 48. Die Autoren haben ermittelt, dass in der Bundesrepublik auf 1 Million Einwohner 88 TVU entfallen. In den anderen untersuchten westeuropäischen Ländern liegt die entsprechende Quote zwischen 4,4 (Niederlande) und 0,13 (Frankreich). 14 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im BGBI. Teil III, Gliederungsnummer 100-1 veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch das Gesetz v. 29.7.2009 (BGBI. I 2009, 2248) geändert worden ist; Pieroth in Jarass/Pieroth, 10. Aufl. 2009, Art. 28 GG S. 604 Rz. 13a m. w. N.; s. auch BVerfG, NJW 1990, 1783 m. w. N.

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Ein großer Teil dieser lokalen TVU befindet sich im Eigentum der Kommunen und wird entweder in einer öffentlichrechtlichen oder aber zunehmend auch in privatrechtlichen Rechtsformen mit einem erheblichen kommunalen Einfluss geführt15. Aus der einschlägigen Diskussion kann entnommen werden, dass die gegenwärtige kleinteilige Struktur der Trinkwasserversorgung auf Dauer modernisiert werden muss16. Dabei werden 2 verschiedene Modelle diskutiert: a) Wettbewerb im Markt Unter Wettbewerb im Markt wird eine teilweise oder vollständige Liberalisierung in der Trinkwasserversorgung des Endverbrauchers verstanden. Ähnlich wie auf dem Strom- und Gasmarkt würde es Unternehmen ermöglicht, eigene Leitungsnetze zum Endverbraucher aufzubauen, bestehende Leitungsnetze zur Durchleitung von Trinkwasser zu nutzen und/oder Wasserhändler zwischen Unternehmen und Endverbraucher einzuschalten17. Soweit ersichtlich, wird derzeit davon ausgegangen, dass diese Variante einer Liberalisierung des bestehenden Marktes, jedenfalls in der Bundesrepublik, nicht in Frage kommt. Gründe hierfür sind, neben den bestehenden rechtlichen Regelungen, die aber hier nicht erörtert werden sollen (s. unten IV.), vor allem ökonomische Art (Die hohen Kosten für den Aufbau konkurrierender Netzsysteme lassen einen kostendeckenden Betrieb nicht zu.) und qualitative Bedenken (Die Durchleitung von Trinkwasser durch ein bestehendes Netz führt zu einer Vermischung der Trinkwasserqualitäten der einzelnen TVU.). Damit würde dann aber eine Trennung von Netzbetrieb und Trinkwasserproduktion ausscheiden, so wie dies zur Anfachung des Wettbewerbs im Strom- und Gasmarkt angedacht ist18.

__________ 15 Kluge/Lux/Schramm, Marktöffnung in der Trinkwasserversorgung – Entwicklung von Verbraucherschutzpositionen in Verbraucherzentrale NRW Online Version Teil II, 2001, 9 ff.; Egerer/Wackerbauer (Fn. 13), 43. 16 Vgl. zum Stand der Diskussion: Umweltbundesamt Liberalisierung der deutschen Wasserversorgung Berlin 2000 Texte 2/00 des UBA; Bericht der Enquete-Kommission „Globalisierung der Weltwirtschaft – Herausforderungen und Antworten“, Teil 7 BTDrucks. 14/9200, S. 374 f.; Haakh, Energie Wasser Praxis 2002, Nachhaltige Trinkwasserversorgung in Deutschland, 10 ff.; Kluge/Lux/Schramm, Marktöffnung in der Trinkwasserversorgung – Entwicklung von Verbraucherschutzpositionen in Verbraucherzentrale NRW Online Version Teil II, 2001, 17 ff.; Egerer/Wackerbauer (Fn. 13), 59 ff.; Wackerbauer, „Struktur und Entwicklung der Wasserversorgung in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern“, ZögU 2009, 133, 144 ff.; Bericht der Bundesregierung zur Modernisierungsstrategie für die deutsche Wasserwirtschaft und für ein stärkeres internationales Engagement der deutschen Wasserwirtschaft v. 16.3.2006, BT-Drucks. 16/1094. 17 Vgl. Fn. 16. 18 Egerer/Wackerbauer (Fn. 13), 60; Wackerbauer (Fn. 16), 145.

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b) Wettbewerb um den Markt Bei dieser Variante bleiben die bestehenden Monopole vom Grundsatz her erhalten. Es wird allerdings durch verschiedene Maßnahmen versucht, den Wettbewerb im Markt „anzufachen“19. Ein zentraler Ansatz wäre dabei, die Gemeinden zu verpflichten, befristete Ausschreibungen zur Versorgung des Endverbrauchers mit Trinkwasser in den einzelnen Gebieten vorzunehmen. Die einzelne Gemeinde bestimmt dabei im Ausschreibungsverfahren die Kriterien und erteilt dann dem für sie günstigsten Anbieter den Zuschlag. Als eine entscheidende Voraussetzung dafür wird jedoch die Lockerung des so genannten kommunalen Örtlichkeitsprinzips in den Gemeindeordnungen gesehen, um mehr Unternehmen einen Markteintritt zu ermöglichen20. Ein weiterer Ansatz wäre die Zusammenführung von Trinkwasserversorgung und Abwasserentsorgung. Dies ist derzeit zwar theoretisch möglich, wird aber durch das bestehende Steuersystem in der Bundesrepublik praktisch unmöglich gemacht21. Realistischerweise ist nicht mit einer schnellen Beseitigung der bestehenden steuerlichen Hindernisse zur Zusammenführung der Trinkwasser- und Abwasserentsorgung zu rechnen, da dem die unterschiedlichen fiskalischen Interessen der Kommunen, Länder und des Bundes entgegenstehen. Mit einer schnellen Änderung der bestehenden tatsächlichen Situation scheint also nicht zu rechnen zu sein. Dazu wäre es erforderlich, vor allem die rechtlichen Rahmenbedingungen anzupassen, um einen Wettbewerb im Markt anzufachen (s. hierzu unter IV.). 2. Strukturen in ausgewählten Ländern der EU In der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur werden grundsätzlich drei verschiedene europäische Modelle der Liberalisierung der Trinkwasserversorgung seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts unterschieden, und zwar neben dem deutschen, das französische und das angelsächsische Modell22. Das französische Modell ist dadurch gekennzeichnet, dass de facto eine Trennung zwischen den sich größtenteils im öffentlichen Eigentum befindlichen Versorgungsanlagen einerseits und den sich überwiegend im privaten Eigentum befindlichen Wasserversorgern andererseits herausgebildet hat, so dass die Trinkwasserversorgung auf der Basis befristeter Ausschreibungen von einigen

__________ 19 Vgl. zu den einzelnen erforderlichen Maßnahmen Egerer/Wackerbauer (Fn. 13), 61 ff.; Wackerbauer (Fn. 16), 146 f. 20 Vgl. hierzu im Einzelnen Bericht der Bundesregierung (Fn. 16), S. 26 f.; Wackerbauer (Fn. 16), S. 147; Egerer/Wackerbauer (Fn. 13), 65. 21 Vgl. hierzu weiterführend Egerer/Wackerbauer (Fn. 13), 62 f.; Bericht der Bundesregierung (Fn. 16), 8 ff. 22 Wackerbauer, The regulation and privatisation of the public water supply and the resulting competetive effects, CESifo DICE 4/06, 42, 43 f.

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wenigen großen TVU gewährleistet wird, die im Besitz entsprechender Konzessionen des Staates sind23. In England und Wales erfolgte eine Vollprivatisierung sowohl der TVU als auch der Versorgungsanlagen durch den Water Act 198924. Seither werden die Endverbraucher überwiegend durch kleine und mittlere private Unternehmen mit Trinkwasser versorgt25. Mit der Vollprivatisierung wurden zugleich drei Aufsichtsbehörden geschaffen, die den Markt unter verschiedenen Aspekten regulieren26. Durch den Competition Act 1998 wurde für die Verbraucher in England und Wales grundsätzlich die Möglichkeit geschaffen, sich gebietsunabhängig ein TVU auszuwählen, also Wettbewerb im Markt ermöglicht27. Seit einigen Jahren wird darüber diskutiert, eine Trennung zwischen der Infrastruktur und der Wasserversorgung herbeizuführen, indem die Infrastruktur an den Staat bzw. eine gemeinnützige oder genossenschaftliche Einrichtung verkauft wird. Der Betrieb soll analog dem französischen Modell über eine Konzession an private TVU vergeben werden28. In der Mehrzahl der übrigen westeuropäischen EU-Ländern sowie der Schweiz überwiegt die Versorgung der Wirtschaft und der Verbraucher durch öffentliche oder quasi-öffentliche TVU29. In den mittel- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten der EU scheint hingegen ein großflächiger Trend zur Privatisierung der kommunalen TVU zu bestehen30.

__________ 23 Barraque/Beyer in Schönbäck/Oppolzer/Kraemer/Hansen/Herbke, Internationaler Vergleich der Siedlungswasserwirtschaft, Band 3, Länderstudie Frankreich, Informationen zur Umweltpolitik Österreichischer Städtebund, Arbeitskammer, 276 f.; Egerer/Wackerbauer (Fn. 13), 47 ff.; Wackerbauer (Fn. 22), 43 f. 24 Vgl. zur Entwicklung der rechtlichen Rahmenbedingungen Hall/Lobina in Schönbäck/Oppolzer/Kraemer/Hansen/Herbke, Internationaler Vergleich der Siedlungswasserwirtschaft Band 2 Länderstudie England und Wales, Informationen zur Umweltpolitik Österreichischer Städtebund, Arbeitskammer, S. 161 ff. 25 Wackerbauer (Fn. 16), 140; Egerer/Wackerbauer (Fn. 13), 48; Wackerbauer weist in diesem Zusammenhang aber auch darauf hin, dass die Trinkwasserversorgung in Schottland und Nordirland nach wie vor öffentlich betrieben wird (Fn. 22), 43. 26 Vgl. im Einzelnen Hall/Lobina (Fn. 24), 163 ff.; s. auch Wackerbauer (Fn. 22), 43. 27 Hall/Lobina (Fn. 24), 166 f. 28 Hall/Lobina (Fn. 24), 168. 29 Egerer/Wackerbauer (Fn. 13), 46 ff.; Wackerbauer (Fn. 16), 133, 139 ff.; zur speziellen Situation in Österreich, die der deutschen ähnlich ist, vgl. Beyer/Hansen/Herbke in Schönbäck/Oppolzer/Kraemer/Hansen/Herbke, Internationaler Vergleich der Siedlungswasserwirtschaft, Band 1, Länderstudie Österreich (Fn. 2), 13 ff.; zur Rechtslage in den Niederlanden Nikolavcic in Schönbäck/Oppolzer/Kraemer/Hansen/Herbke, Internationaler Vergleich der Siedlungswasserwirtschaft, Band 4 (Fn. 2), 421 ff. 30 Egerer/Wackerbauer (Fn. 13), 43 f.

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IV. Überblick über die rechtlichen Rahmenbedingungen im Trinkwasserrecht Die Trinkwasserversorgung von Wirtschaft und Verbrauchern in der Bundesrepublik ist sehr detailliert durch rechtliche und technische Normen geregelt und basiert wesentlich auf den einschlägigen europäischen Richtlinien. Diese wiederum haben ihre Grundlage in den Empfehlungen der WHO31. Das Wasserrecht im Allgemeinen und das Trinkwasserrecht im Besonderen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie eine Vielzahl öffentlichrechtlicher, privatrechtlicher und strafrechtlicher Normen umfassen, die auf eine große Zahl von Rechtsvorschriften verteilt sind32. Damit einhergehend werden auch unterschiedliche Zuständigkeiten in Bund, Ländern und Kommunen begründet. Dies resultiert letztlich daraus, dass der Bund gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 18, 19, 20, 32 GG keine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz besitzt, sondern lediglich im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung zuständig ist33. 1. Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb (GWB) Die Übergangsvorschrift des § 131 GWB34 bestimmt ausdrücklich eine Ausnahme für die öffentliche Wasserversorgung und erklärt die §§ 103, 103a, 105 sowie die auf sie verweisenden Vorschriften des GWB 199035 für weiterhin anwendbar. Daraus ergibt sich praktisch, dass Verstöße gegen das in § 1 GWB 1990 normierte Kartellverbot ausdrücklich erlaubt bleiben, wenn sie denn bei der zuständigen Kartellbehörde angemeldet worden sind. Dies gilt auch für die Gestattung der Abweichung vom Preisbindungsverbot (§ 15 GWB 1990) sowie der in § 18 GWB 1990 geregelten Ausschließlichkeitsbindung. Aus § 103 GWB 1990 ergibt sich, dass in der Wasserwirtschaft nach wie vor folgende Vertragsgestaltungen zulässig sind: a) § 103 Abs. 1 Nr. 1 GWB 1990 gestattet den Abschluss von Demarkationsverträgen zwischen den TVU untereinander bzw. mit Gebietskörperschaften zur Sicherung des Versorgungsmonopols des Endverbrauchers. b) § 103 Abs. 1 Nr. 2 GWB 1990 ermöglicht den Abschluss von Konzessionsverträgen, in denen Gebietskörperschaften TVU das exklusive Recht zur Versorgung des Endverbrauchers einräumen.

__________ 31 Guidelines for Drinking-water Quality, 3rd. Edition, Vol. 1 WHO, Geneva 2008. 32 Vgl. hierzu im Einzelnen Breuer, Öffentliches und privates Wasserrecht, 3. Aufl. 2004, 5 ff. m. w. N. 33 Überblick bei Breuer (Fn. 32), 1 ff. 34 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen v. 26.8.1998 i. d. F. der Bekanntmachung v. 15.7.2005 (BGBl. I 2005, 2114), das zuletzt durch Art. 13 Abs. 21 des Gesetzes v. 25.5.2009 (BGBI. I 2009, 1102) geändert worden ist. 35 BGBl. I 1990, 235 i. d. F. des Art. 2 Abs. 3 des Gesetzes v. 26.8.1998 (BGBl. I 1998, 2512).

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c) § 103 Abs. 1 Nr. 3 GWB 1990 verpflichtet die TVU Preisbindungsverträge abzuschließen. d) § 103 Abs. 1 Nr. 4 GWB 1990 räumt den TVU die Möglichkeit ein, untereinander Verbundverträge zum exklusiven Aufbau, Unterhaltung und Nutzung von Leitungen abzuschließen. Wackerbauer ist zuzustimmen, wenn er konstatiert, dass damit „die wesentlichen Vorschriften des GWB und das Verbot wettbewerbswidrigen Verhaltens … im Bereich der Wasserwirtschaft keine Anwendung (finden)“36. Damit hat sich der Gesetzgeber – vorläufig – gegen eine Liberalisierung des Trinkwassermarktes entschieden37 und die bestehenden Gebietsmonopole der TVU festgeschrieben38. 2. Anschluss- und Benutzungszwang Ein weiteres wesentliches, wenn nicht das entscheidende Hindernis für einen beginnenden Wettbewerb im Trinkwassermarkt der Bundesrepublik stellt der gemeindliche Anschluss- und Benutzungszwang39 an die öffentliche Trinkund/oder Abwasserbeseitigungsanlagen für Grundstückseigentümer dar, der mit Ausnahme des Landes Hamburg in den Gemeindeordnungen aller Bundesländer (Im Land Berlin wurde eine Rechtsverordnung erlassen.) verankert ist40. Begründet wird der Anschluss- und Benutzungszwang regelmäßig mit Gründen des Gemeinwohls und wird als eine zulässige Einschränkung der Eigentumsgarantie in Art. 14 Abs. 2 GG angesehen41. Alle landesrechtlichen Regelungen zum Anschluss- und Benutzungszwang sehen vor, dass die entsprechenden gemeindlichen Satzungen Ausnahmen vom Anschluss- und Benutzungszwang festlegen können42. Entsprechende Ausnahmen sind ebenfalls in den gemeindlichen Satzungen enthalten.

__________ 36 Wackerbauer (Fn. 16), 134. 37 Zum Stand der Diskussion Fn. 16. 38 Es soll hier nicht die von Egerer/Wackerbauer (Fn. 13), 84 ff. vertretene ökonomische Theorie der Wasserwirtschaft als natürliches Monopol diskutiert werden. Danach stellen die bestehenden Leitungsnetze ein solches natürliches Monopol dar, nicht hingegen die Produktion von Trinkwasser. 39 Vgl. hierzu weiterführend Schmidt-Aßmann in von Münch, Besonderes Verwaltungsrecht, 8. Aufl. 1988, 174 ff. 40 § 11 Abs. 1 GO BW; Art. 24 Abs. 1 Nr. 2 Bay GO; § 12 Abs. 1 und 2 BRB KVerf; § 2 der VO über den Anschluss an die öffentliche Wasserversorgung Berlins und deren Benutzung § 16 Abs. 1 Verf Brhv; § 19 Abs. 2 HGO; § 15 Abs. 1 KVM-V; § 8 Nr. 2 Nds GO; § 8 Abs. 2 GO NRW; § 26 Abs. 1 RP; § 22 Abs. 1 KSVG Saarland; § 14 Abs. 1 GO SA; § 8 Nr. 2 GOLSA; § 17 Abs. 2 GO SchlH; § 20 Abs. 2 Nr. 2 KO Thür. 41 S. auch Jarass in Jarass/Pieroth, 10. Aufl. 2009, S. 396 Rz. 63 m. w. N. 42 § 12 Abs. 3 BRBKVerf lautet „Die Satzung kann vorbehaltlich besonderer gesetzlicher Bestimmungen Ausnahmen vom Anschluss- und Benutzungszwang zulassen. Dies gilt insbesondere, wenn auf Grundstücken Anlagen betrieben werden, die einen höheren Umweltstandard aufweisen als die von der Gemeinde vorgesehene Einrichtung. Die Satzung kann den Zwang auch auf bestimmte Teile des Gemeindegebietes und auf bestimmte Gruppen von Grundstücken beschränken.“

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Allerdings ist zu konstatieren, dass es sich dabei wohl eher um theoretische Ausnahmen handeln dürfte, denn der Anschluss- und Benutzungszwang wird durch die entsprechenden Versorgungsbetriebe regelmäßig gerichtlich durchgesetzt, und zwar bis hin zu verwaltungsrechtlichen Zwangsmaßnahmen43. Grundsätzlich gilt, dass wenn eine Gemeinde in ihrer Satzung den Anschlussund Benutzungszwang einführt, dann die Grundstückseigentümer verpflichtet sind, auf eigene oftmals nicht unerhebliche Kosten ihre Grundstücke an die öffentliche Trinkwasserversorgung und/oder Abwasserentsorgung anzuschließen. Eine Befreiung vom Anschluss- und Benutzungszwang soll nach Auffassung der Rechtsprechung nur in „atypischen Ausnahmefällen“ zulässig sein44. Aus der einschlägigen verwaltungs- und verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ist zu entnehmen, dass der Anschluss- und Benutzungszwang nicht im Widerspruch sowohl zu den Vorgaben des europäischen Gesetzgebers, als auch dem des Grundgesetzes stehen soll45. Weder die erhebliche Kostenbelastung für den Grundstückseigentümer noch der Umweltschutz, wie beispielsweise der Einwand, eine sparsame Nutzung der Ressource Trinkwasser durch einen Hausbrunnen realisieren zu wollen, sollen geeignet sein, eine Ausnahme vom Anschluss- und Benutzungszwang zu rechtfertigen. Maßstab soll einzig und allein das Kriterium der so genannten „Volksgesundheit“ sein46. Der Anschluss- und Benutzungszwang soll sogar dann durchgesetzt werden können, wenn Sachverständige festgestellt haben, dass das im hauseigenen Brunnen geförderte Trinkwasser, verglichen mit dem öffentlich zur Verfügung gestellten Trinkwasser, eine bessere Qualität aufweist47. Die Monopolisierung der Trinkwasserversorgung wird zwar gesehen, aber als mit dem europäischen Recht in Übereinstimmung stehend hingenommen,

__________ 43 Vgl. z. B. Der Tagesspiegel v. 9.7.2008 „Abwasserkrieg in Rauen“; MAZ v. 13.9.2008 „Angst um Job nach Zwangsanschluss – Hausbesitzerin aus Briesensee soll Grundgesetz in Frage gestellt haben.“ 44 So ausdrücklich OVG Brandenburg, NuR 2004, 602 m. w. N., Volltext in DRsp Nr. 2008/841, Rz. 22. 45 BVerwG, NVwZ 1998, 1080 m. w. N.; BVerwG, NJW 2006, 2059 m. w. N. Dieses Urteil bezieht sich zwar ausdrücklich auf die Fernwärmeversorgung, jedoch dürfte es auf die sehr ähnliche Problematik im Trinkwasserrecht analog anwendbar sein. Interessanterweise wird durch das BVerwG ausdrücklich eine Vorlage an den EuGH abgelehnt, und zwar u. a. mit der Begründung, dass bereits ein Auslandsbezug nicht erkennbar sei; OVG Brandenburg (Fn. 44), Rz. 14; Breuer, Öffentliches und privates Wasserrecht, 3. Aufl. 2004, 374 f. und 397 f., jeweils m. w. N. 46 So ausdrücklich OVG Brandenburg (Fn. 44), Rz. 14 m. w. N. 47 VerfG Brandenburg v. 20.4.2006, DRsp Nr. 2007/23461. Danach ist einzig und allein maßgebend, dass das öffentlich angebotene Trinkwasser qualitativ den gesetzlichen Vorgaben entspricht. Eine Ausnahme kann wohl dann gegeben sein, wenn das Trinkwasser des örtlichen Versorgers nicht den Kriterien des Gesetzgebers entspricht. Einen solchen Nachweis zu führen, dürfte aber schlicht unmöglich sein, denn Trinkwasser unterliegt nach dem Willen des Gesetzgebers strikten Kontrollen sowohl durch den Inhaber einer Wasserversorgungsanlage als auch den zuständigen Gesundheitsbehörden, §§ 14 ff. TrinkwV2001.

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weil der EG-Vertrag Ausnahmen vom Monopolverbot zulasse, wenn u. a. Gründe zum Schutz der Gesundheit geltend gemacht werden48. Inwieweit die deutsche Politik beabsichtigt, die derzeitige Rechtslage zu ändern, bleibt abzuwarten. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU/FDP sieht zwar vor, dass die Regierungsparteien beabsichtigen, in ländlichen Räumen alternative Systeme und Technologien sowie Kooperationen zu unterstützen49. Aus dem Koalitionsvertrag ist aber nicht zu entnehmen, dass die Regierungsparteien beabsichtigen, auch die bestehenden rechtlichen Rahmnbedingungen zu ändern. Ob sich diese Position der deutschen Politik auf Dauer durchhalten lässt, kann durchaus bezweifelt werden, zumal in den europäischen Nachbarländern, so denn überhaupt ein Anschluss- und Benutzungszwang existent ist, dieser offenbar flexibel gehandhabt wird50. Ein Ansatz dabei dürfte die grundsätzliche Einbeziehung auch der (Trink-) Wasserwirtschaft in die Dienstleistungsrichtlinie sein51. Die Mitgliedsstaaten werden nach Art. 1 der Dienstleistungsrichtlinie zwar nicht verpflichtet Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse zu liberalisieren oder bestehende Monopole zu beseitigen. Gleichwohl steht fest, dass auch die (Trink-)Wasserwirtschaft in den sachlichen Geltungsbereich dieser Richtlinie einbezogen worden ist. Dies ergibt sich bereits aus dem Umkehrschluss der in Art. 2 Abs. 2 und 3 der RL definierten Ausnahmen vom sachlichen Anwendungsbereich52. Daraus folgt dann aber auch, dass die (Trink-)Wasserwirtschaft sich den in der Dienstleistungsrichtlinie bestimmten Grundsätzen zu unterwerfen hat. Dies gilt jedoch nicht für die in Art. 16 geregelte Dienstleistungsfreiheit für die Erbringung von Dienstleistungen, da Art. 17 Abs. 1 der RL eine Ausnahme für netzgebundene Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse zulässt. Art. 17 Abs. 1 lit. d RL rechnet dazu ausdrücklich auch die (Trink-) Wasserwirtschaft. Allerdings ist die (Trink-)Wasserwirtschaft damit nicht automatisch als Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse anzusehen. Dies stellt die Kommission auch in ihren Anwendungsempfehlun-

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48 Ebenda. 49 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP, 17. Legislaturperiode „Wachstum, Bildung, Zusammenhalt“, S. 42. 50 Vgl. für Frankreich, England, Wales, Österreich Oppolzer in Schönbäck/Oppolzer/ Kraemer/Hansen/Herbke, Internationaler Vergleich der Siedlungswasserwirtschaft, Band 5, Systemvergleich vor europapolitischem und ökonomischem Hintergrund (Fn. 2), 531. In den Niederlanden gibt es zumindest bei der Abwasserentsorgung keinen Anschluss- und Benutzungszwang. Vgl. Nikolavcic, ebenda (Fn. 2), Band 4, 428. 51 „Richtlinie 2006/123/EG des EP und des Rates v. 12.12.2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt“, ABl. Nr. L 376 v. 27.12.2006, S. 36. 52 In dem von der Kommission herausgegebenen „Handbuch zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie“ (http://ec.europa.eu/internal-market/services/docs/services-dir/ guides/handbook-de.pdf) wird ausdrücklich ausgeführt, dass die Richtlinie auf alle Dienstleistungen Anwendung findet, die nicht ausdrücklich aus dem sachlichen Anwendungsbereich ausgenommen wurden, 10 f.

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gen klar: „Der Verweis auf diese Dienstleistungen bedeutet nicht, dass derartige Dienstleistungen in jedem Fall als Leistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse zu betrachten sind. Die Beurteilung… muss in jedem spezifischen Fall unter Anwendung der in Erwägungsgrund 70 dargestellten Prinzipien erfolgen“53. Jedenfalls für eine Liberalisierung der Trinkwasserversorgung ist die Charakterisierung der Trinkwasserversorgung als Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse nicht von Bedeutung. Seit den 90er Jahren wurden bereits viele Sektoren der von der Kommission als Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse angesehenen Bereiche in den Mitgliedsländern der EU liberalisiert, ohne dass es zu erheblichen Engpässen bei der Versorgung von Wirtschaft und Verbrauchern gekommen ist. Tatsächlich führte die Liberalisierung solcher Bereiche in aller Regel zu sinkenden Preisen für Wirtschaft und Verbraucher und dies bei zumindest gleich bleibender wenn nicht verbesserter Qualität der Dienstleistung.

V. Der Vertrag über die Lieferung von Trinkwasser zwischen dem TVU und dem Grundstückseigentümer 1. Vertragsschluss Der Vertrag über die Lieferung mit Trinkwasser kommt zwischen dem TVU und dem Kunden grundsätzlich unter Verwendung von dessen AGB auf der Grundlage der AVBWasserV54 zustande55. Auf diesen Versorgungsvertrag zwischen dem TVU und seinem Kunden ist nach allgemein herrschender Rechtsauffassung Kaufvertragsrecht über § 453 Abs. 1 2. Alternative BGB analog anzuwenden, und zwar ohne dass es auf die Rechtsform des TVU ankommt56. § 1 Abs. 1 AVBWasserV bestimmt ausdrücklich, dass die einzelnen Bestimmungen der AVBWasserV grundsätzlicher Bestandteil des Wasserversorgungsvertrages zwischen dem TVU und dem Kunden werden, soweit nicht die Ausnahmen der §§ 1 Abs. 3, 35 AVBWasserV vorliegen, sofern das TVU, und dies wird regelmäßig der Fall sein, Vertragsmuster und Vertragsbedingungen benutzt, die vorformuliert, für eine vielfache Verwendung ausgelegt sind. Nach § 1 Abs. 3 AVBWasserV ist es, letztlich wohl im Einzelfall, möglich, einen Trinkwasserversorgungsvertrag mit abweichenden Vertragsbedingungen

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53 Ebenda, S. 48. Erwägungsgrund 70 der Dienstleistungsrichtlinie bestimmt, dass die entsprechende Dienstleistung der Erfüllung eines „besonderen Auftrages von öffentlichem Interesse“ dienen muss. 54 Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Versorgung mit Wasser AVBWasserV v. 20.6.1980 (BGBl. I 1980, 750, 1067), die zuletzt durch die Verordnung v. 13.1.2010 (BGBl. I 2010, 10) geändert worden ist. 55 Im Rahmen dieses Beitrages werden die in § 1 Abs. 2 AVBWasserV geregelten Ausnahmen vom sachlichen Anwendungsbereich der AVBWasserV für die Industrie, die Weiterverteilung von Wasser sowie die Vorhaltung von Löschwasser außer Betracht gelassen. 56 BGH v. 4.10.1972, DRsp Nr. 2000/8156 m. w. N.; s. auch Weidenkaff in Palandt, 69. Aufl., vor § 433 BGB S. 632 Rz. 5; § 453 BGB S. 668 Rz. 6.

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zu schließen, wenn das TVU zuvor einen Vertrag unter Einbeziehung der AVBWasserV angeboten hat und der Kunde sein ausdrückliches Einverständnis mit einer hiervon abweichenden Vertragsgestaltung erklärt hat. Damit bestimmt dann aber letztlich der Bundesgesetzgeber den wesentlichen Inhalt (fast) aller Trinkwasserversorgungsverträge zwischen dem TVU und seinem Kunden, der in den meisten Fällen zugleich auch als Verbraucher handeln dürfte. Dies ergibt sich ausdrücklich aus dem Regelungsgehalt des Art. 243 EGBGB, der den bis zum 31.12.2001 geltenden § 27 AGBG ersetzt hat57. Der Gesetzgeber kann damit de facto auch weiterhin durch eine Rechtsverordnung den wesentlichen Vertragsinhalt eines Trinkwasserversorgungsvertrages zwischen dem TVU und dem Kunden bestimmen. Die Normen der AVBWasserV selbst unterliegen als vom Gesetzgeber erlassene Rechtsnormen der Versorgungswirtschaft nicht der AGB Inhaltskontrolle der §§ 305 ff. BGB58. Dies gilt jedoch ausdrücklich nicht für die auf der Grundlage der AVBWasserV erarbeiteten AGB des einzelnen TVU. Dabei handelt es sich ja dann gerade nicht mehr um Rechtsnormen, sondern um privatrechtlich ausgestaltete Versorgungsbedingungen des einzelnen Unternehmens im Verhältnis zu seinem Kunden. Daraus folgt dann aber auch, dass wenn die AGB des TVU auch nur geringfügig vom gesetzlichen Leitbild der entsprechenden Formulierung der AVBWasserV abweichen, dann der Anwendungsbereich der §§ 305 ff. BGB eröffnet ist. Der Vertrag zwischen dem TVU und seinem Kunden kommt, so er denn nicht ausdrücklich gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 AVBWasserV schriftlich abgeschlossen wird, dadurch zustande, dass der Kunde durch eine Wasserentnahme gegenüber dem TVU zu erkennen gibt, dass er die Realofferte des Unternehmens auf Abschluss eines Versorgungsvertrages angenommen hat, und zwar zu den Vertragsbedingungen, die das TVU stellt. Der BGH hat dazu wörtlich ausgeführt: „Nach ständiger Rechtsprechung … und allgemeiner Meinung im Schrifttum … nimmt derjenige, der aus einem Verteilungsnetz eines Versorgungsunternehmens Elektrizität, Gas, Wasser oder Fernwärme entnimmt, das Angebot zum Abschluss eines entsprechenden Versorgungsvertrages konkludent an; eine Erklärung, er wolle mit dem Unternehmen keinen Vertrag schließen, ist unbeachtlich, da dies im Widerspruch zu seinem eigenen tatsächlichen Verhalten steht …“59. Dabei kommt es auch nicht darauf an, ob derjenige, der Trinkwasser aus der Leitung entnommen hat, zu diesem Zeitpunkt ein entsprechendes Erklärungsbewusstsein besaß oder nicht60.

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57 Eingefügt durch Art. 2 Nr. 3 des Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts v. 26.11.2001 (BGBl. I 2001, 3137). 58 Grüneberg in Palandt, 69. Aufl., § 310 BGB Rz. 6 m. w. N.; Pfeiffer in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 5. Aufl., S. 12, Rz. 23 m. w. N. 59 BGH, BGHReport 2003, 914; s. auch Ellenberger in Palandt, 68. Aufl., vor § 145 BGB S. 160 Rz. 27 m. w. N. 60 BGH, BGHReport 2005, 618 unter Verweis auf seine Entscheidung v. 10.10.1991 für den Bereich der Realofferte und deren Annahme durch den Kunden in NJW 1992, 171.

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Mit dieser Fiktion des Abschlusses eines Vertrages durch die Inanspruchnahme der Realofferte des TVU soll vermieden werden, dass zwischen dem Kunden und dem TVU ein vertragsloser Zustand besteht, den letztlich beide Parteien des Vertrages nicht wollen61. Diese Fiktion des Abschlusses eines Vertrages soll grundsätzlich auch dann gelten, wenn sich die Vertragspartner über Einzelheiten des Vertrages (noch) nicht einig sind, wie beispielsweise über den Preis. Allerdings dürfte es letztlich gar nicht darauf ankommen, ob sich die Parteien über den Preis für das zu liefernde Trinkwasser einigen oder nicht. Aufgrund des noch nicht geöffneten Trinkwassermarktes hat der Kunde des TVU praktisch kaum eine Möglichkeit, auf die Preisgestaltung seines Versorgers aktiv Einfluss zu nehmen, d. h. über den Preis der zu liefernden Ware zu verhandeln. Als Neukunde ist der Verbraucher mangels Alternativen und/oder aufgrund des gemeindlichen Anschluss- und Benutzungszwangs letztlich an das Angebot des lokalen TVU gebunden, denn §§ 2 Abs. 2 Satz 2, 4 Abs. 1 AVBWasserV bestimmen, dass die Versorgung des Kunden zu den Preisen erfolgt, die für gleichartige Versorgungsverhältnisse gelten. Nach der Rechtsprechung des BGH wäre damit zunächst davon auszugehen, dass der Anwendungsbereich des § 315 BGB nicht eröffnet ist, wenn ein Neukunde den Tarif des TVU nicht akzeptiert, und zwar auch dann nicht, wenn ihm die Preiskalkulation des Versorgers bei Vertragsschluss unbekannt ist62. Diese Urteile sind zwar zur Preisgestaltung im Gas- und Strommarkt ergangen, könnten jedoch in ihrer Aussage analog anwendbar sein, da die zwischenzeitlich aufgehobenen AVBEltV63 und AVBGasV64 sehr ähnliche Reglungen wie § 4 AVBWasserV enthielten. Diese Rechtsprechung zur Unanwendbarkeit des § 315 BGB kann aber tatsächlich, wenn überhaupt, nur marginal Anwendung auf einen Trinkwasserversorgungsvertrag finden. Dies wird durch den BGH damit begründet, dass bei Unternehmen, die „… Leistungen der Daseinsvorsorge anbieten, auf deren Inanspruchnahme der andere Vertragsteil im Bedarfsfall angewiesen, nach billigem Ermessen festgesetzt werden müssen und einer Billigkeitskontrolle entsprechend § 315 Abs. 3 BGB unterworfen sind … (Dies gilt erst recht) für den hier vorliegenden Fall eines Anschluss- und Benutzungszwanges … (weil)

__________ 61 BGH, BGH Report 2006, 760 (LS), Volltext in DRsp Nr. 2006/7860. 62 BGH, BGHReport 2009, 209 (LS), Volltext in DRsp Nr. 2008/24016; BGH, BGHReport 2007, 1009 (LS), Volltext in DRsp Nr. 2007/14150; BGH, BGHReport 2007, 741. 63 § 4 Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Elektrizitätsversorgung von Tarifkunden (AVBEltV) v. 21.6.1979 (BGBl. I 1979, 684), zuletzt geändert durch Art. 17 des Gesetzes v. 9.12.2004 (BGBl. I 2004, 3214), aufgehoben durch Art. 4 der Verordnung v. 1.11.2006 (BGBl. I 2006, 2477). 64 Vgl. § 4 Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Versorgung von Tarifkunden (AVBGasV) v. 21.6.1979 (BGBl. I 1979, 676), zuletzt geändert durch Art. 18 des Gesetzes v. 9.12.2004 (BGBl. I 2004, 3214), aufgehoben durch Art. 4 der Verordnung v. 1.11.2006 (BGBl. I 2006, 2477).

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der Kunde der einseitigen Preisfestsetzung des Versorgungsunternehmens nicht durch die Wahl eines anderen, konkurrierenden Anbieters entgehen (kann) …“65. Damit ist dann aber (auch) der Neukunde eines TVU nicht auf einen Rückforderungsprozess angewiesen, sondern kann direkt die Einrede der Unbilligkeit im Sinne des § 315 Abs. 3 BGB gegen den entsprechenden Tarif des TVU erheben. Die Darlegungs- und Beweislast für die Billigkeit des angebotenen Tarifs liegt in Rechtsprechung und Literatur unbestritten bei demjenigen, dem ein einseitiges Bestimmungsrecht für den Tarif obliegt, also beim TVU66. Während der Vertragslaufzeit besitzt das TVU ebenfalls das Recht, den Preis einseitig zu ändern. § 24 Abs. 3 AVBWasserV räumt dem Versorger einen relativ weiten Spielraum bei der Preisgestaltung ein, denn danach sind Preisänderungen dann möglich und für den Kunden verbindlich, wenn sich die Faktoren für die Beschaffung und Bereitstellung des Wassers ändern. Damit verbleibt dem einzelnen TVU ein nicht unerheblicher Spielraum für die Preisbestimmung, denn welche konkreten Faktoren zu berücksichtigen sind, bleibt offen und unterliegt letztlich der Billigkeitskontrolle. Der BGH hat sich bisher diesbezüglich bisher nicht konkret erklärt67. Die reine Weitergabe gestiegener Bezugspreise an den Verbraucher ist zweifellos möglich68. Dies dürfte auch für die Weitergabe von reinen Kostensteigerungen im Zusammenhang mit der Aufbereitung und Zurverfügungstellung des Trinkwassers für den Verbraucher gelten. Der Versorger ist aber nicht verpflichtet, etwaige Kostensenkungen in anderen Bereichen, so denn vorhanden, seines Unternehmens praktisch zur Quersubventionierung zu nutzen69. Dieser Aspekt dürfte aber für den hier interessierenden Bereich keine große Bedeutung haben, da sich der größte Teil der TVU ausschließlich auf die Bereiche der Trinkwasserversorgung und der Abwasserentsorgung beschränkt. Jedenfalls für den Bereich der Versorgung mit Gas hat der BGH entschieden, dass eine Offenlegung der internen Kalkulation des Verbrauchers zur Kontrolle der Billigkeit einer vorgenommenen Preisänderung im Sinne des § 315 BGB, und in aller Regel dürfte eine Preiserhöhung vorgenommen werden, nur ausnahmsweise gefordert werden kann, wenn nämlich andere Beweismittel nicht zur Verfügung stehen und eine entsprechende Abwägung zwischen dem verfassungsrechtlich geschützten Geheimhaltungsinteresse des Unternehmens

__________ 65 BGH, BGHReport 2005, 1339, 1340. 66 BGH, NJW 1987, 1828, Volltext in DRsp Nr. 1996/5786 Rz. 10 m. w. N.; BGH, BGHReport 2005, 1339, 1340; Grüneberg in Palandt, 69. Aufl., § 315 BGB S. 527 Rz. 19 m. w. N.; Brandner in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB Gesetz, 8. Aufl., S. 519 Rz. 15 m. w. N. 67 BGH, BGHReport 2003, 914, 915 m. w. N.; Grüneberg in Palandt, 69. Aufl., § 315 BGB S. 527 Rz. 19 m. w. N. 68 BGH, BGHReport 2007 (Fn. 62), Rz. 21; BGH, BGHReport 2009 (Fn. 62), Rz. 25. 69 BGH, BGHReport 2009 (Fn. 62), Rz. 35.

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und dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes erfolgt ist70. Von einer Relevanz für den hier interessierenden Bereich muss deshalb ausgegangen werden, weil auch in dem entschiedenen Fall ein Versorgungsunternehmen betroffen war, das eine Monopolstellung im regionalen Markt besaß. Problematisch an dieser Entscheidung ist insbesondere, dass der Kunde respektive der Verbraucher in aller Regel keine Kenntnis davon haben dürfte, welche konkreten Kriterien das Versorgungsunternehmen für die Preisbestimmung zu Grunde legt. Normalerweise wird davon ausgegangen, dass Preisfestsetzungen oder Preisvereinbarungen nicht der richterlichen Inhaltskontrolle der §§ 307 ff. BGB unterliegen, und zwar „… wo die Parteien die alleinige Disposition über den Gegenstand des Vertragspreis … kraft privat-autonomer Gestaltung wahrnehmen …“71. Dies gilt jedoch ausdrücklich nicht für die Preisbestimmung von Unternehmen öffentlicher Versorgungsträger, wie beispielsweise dem TVU. Grund hierfür ist, dass das Versorgungsunternehmen bei der Preisbestimmung den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwischen Leistung und Gegenleistung zu beachten hat72. Dies ist auch sachgerecht, weil der Preis eben durch das TVU bestimmt und nicht von den Parteien ausgehandelt wird. Ein anderer und relativ neuer Weg zur Preiskontrolle ist die Überprüfung der Trinkwasserpreise der TVU durch die Kartellbehörden der Länder73. Diese Vorgehensweise wird damit begründet, dass die jeweiligen lokalen TVU eine marktbeherrschende Rolle in ihrem Einzugsgebiet haben und es dem Endkunden in aller Regel nicht möglich ist seinen Versorger zu wechseln. Vorreiter dieser Entwicklung scheint die Hessische Landeskartellbehörde zu sein, die seit Jahren Ermittlungen gegen verschiedene lokale TVU geführt und zwischenzeitlich auch mehrere allerdings nicht rechtskräftige Preissenkungsverfügungen erlassen hat, und zwar auf der Grundlage des § 103 GWB a. F. Die Hessische Landeskartellbehörde führt als Grund für ihr Tätigwerden an, dass in Hessen durch die TVU die höchsten Trinkwasserpreise (in den alten Bun-

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70 Ebenda, Rz. 41 f. 71 Graf von Westphalen in Henssler/Graf von Westphalen, Praxis der Schuldrechtsreform, 2001, 316 f. 72 BVerfGE 20, 257, Volltext in DRsp Nr. 1996/7731, Rz. 46; BGH, NJW 1985, 3013, Volltext in DRsp Nr. 1992/4510, Rz. 15 m. w. N.; BGH (Fn. 66), Volltext in DRsp Nr. 2005/11694, Rz. 34; Brandner in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 66), S. 519 Rz. 15 m. w. N.; Wolf in Wolf/Lindacher/Pfeifer (Fn. 58), S. 395 Rz. 313 m. w. N. 73 Die Kartellbehörde kann allerdings nur TVU kontrollieren und vergleichen, die privatrechtlich organisiert sind und Preise für die Lieferung von Trinkwasser erheben. Öffentlich-rechtlich organisierte TVU erheben dagegen auf der Grundlage von Satzungen Gebühren, für deren Kontrolle nicht die Kartellbehörden, sondern die Kommunalaufsicht zuständig ist. Gleichwohl kann man davon ausgehen, dass ein erfolgreichen Vorgehen der Kartellbehörden gegen die Trinkwasserpreise dazu führt, dass auch bei der Kommunalaufsicht ein Umdenken einsetzt, zumal die Trinkwassergebühren in aller Regel noch höher sind als die Trinkwasserpreis der privatrechtlich organisierten Unternehmen. Der Grund hierfür dürfte in der öffentlich rechtlichen Quersubventionierung zu suchen sein.

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desländern) gefordert werden. Teilweise sollen sie sogar über den entsprechenden Preisen der neuen Bundesländer liegen. Mit Hilfe des so genannten „Vergleichsmarktkonzepts“, also dem Vergleich von Unternehmen auf gleicher Marktstufe und gleicher Marktfunktion, werden die Trinkwasserpreise der einzelnen Unternehmen anhand so genannter Musterfälle verglichen74. Bisher liegt zu dieser Problematik eine jetzt rechtskräftige Entscheidung des OLG Frankfurt vom 24.11.2008 vor, in der die Vorgehensweise der Landeskartellbehörde im Wesentlichen gebilligt wurde75. Das OLG Frankfurt stellt zunächst fest, dass entgegen der Auffassung des TVU der von der Landeskartellbehörde vorgenommene Vergleich der Preise mit anderen TVU in der Sache zulässig ist und mithin auf § 103 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 GWB a. F. gestützt werden. Aus Gründen der Effektivität ist es auch nicht erforderlich, dass diese Anforderungen an die Gleichartigkeit der vergleichbaren TVU zu hoch angesetzt werden, da es Sache des betroffenen TVU ist darzulegen und zu beweisen, dass die Preisunterschiede auf Umständen beruhen, die dem TVU nicht zurechenbar sind76. Im Gegensatz zu anderen Energieträgern sind die Beschaffungskosten des TVU als relativ gering anzusetzen, während die Verteilungskosten für das Trinkwasser aufgrund der Besonderheiten des Wassers relativ hoch sind77. Allein die Behauptung des TVU, dass der geforderte Preis die eigenen Kosten nicht deckt, ist ohne Offenlegung der Kostenstruktur durch das TVU nicht erfolgversprechend78. Der BGH hat in seinem Beschluss vom 2.2.2010 die Entscheidung des OLG Frankfurt/Main bestätigt und ausdrücklich für Recht erkannt, dass die Preisgestaltung der TVU der kartellrechtlichen Missbrauchskontrolle gem. §§ 103 Abs. 5, 22 Abs. 5 GWB 1990 unterliegt79. Mit dieser grundlegenden Entscheidung des BGH haben nunmehr die Landeskartellbehörden die Möglichkeit die Preisgestaltung der lokalen TVU eingehend zu prüfen, um gegen überhöhte Trinkwasserpreise vorzugehen. Der Ber-

__________ 74 Vgl. zum gegenwärtigen Stand der Ermittlungen der Hessischen Landeskartellbehörde gegen hessische TVU sowie den Wortlaut der erlassenen Verfügungen http:// www.wirtschaft.hessen.de//irj/HMWVL_Internet?cid=5108ccbcc241ce5b. 75 Beschluss OLG Frankfurt Az: 11 W 23/07(Kart), Volltext in DRsp Nr. 2009/2429 Az. BGH: KVR 66/08. Zwei weitere vor dem Kartellsenat des OLG Frankfurt rechtshängige Verfahren sind im Hinblick auf die Grundsatzentscheidung des BGH zu dieser Problematik zum Ruhen gebracht worden. 76 Ebenda, Rz. 49 f. m. w. N. 77 Im entschiedenen Fall betrug der Anteil er Beschaffungskosten lediglich 22.5 % des Gesamtpreises, während dieser Anteil bei Gas und Strom bis zu 70 % betragen kann. Der Anteil der Verteilungskosten soll nach den Ermittlungen der Landeskartellbehörde in Hessen hingegen bis zu 87 % des Gesamtpreises betragen. 78 Beschluss OLG Frankfurt (Fn. 75), Rz. 83. 79 Bisher liegt lediglich die Pressemitteilung des BGH 24/2010 v. 2.2.2010 vor.

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liner Senat hat in einer ersten Reaktion auf dieses Urteil bereits angekündigt, dass die Landeskartellbehörde umgehend prüfen wird, ob es einen Anfangsverdacht für eine überhöhte Trinkwasserpreisgestaltung der Beliner Wasserbetriebe gibt80. Nach Auffassung des BGH dürfen „… an der Feststellung der Gleichartigkeit der Vergleichsunternehmen (keine) überhöhten Anforderungen gestellt werden.“81 Daraus ist dann aber zu schlussfolgern, dass es Sache des jeweiligen TVU ist, nachzuweisen, dass seine Trinkwasserpreise gerechtfertigt sind und nicht auf einem marktbeherrschenden Verhalten beruhen, sie also der Billigkeit im Sinne des § 315 BGB entsprechen82. 2. Vertragspartner des TVU Die AVBWasserV bezeichnen den Vertragspartner des TVU durchgängig als Kunden, ohne dass eine Unterscheidung zwischen einem Verbraucher und einem Nichtverbraucher, wie beispielsweise einem Selbständigen oder Gewerbetreibenden getroffen wird. Die AVBWasserV lässt ferner offen, wer Vertragspartner des TVU werden kann. Die Rechtsprechung zu § 2 Abs. 2 AVBWasserV geht jedoch davon aus, dass in aller Regelmäßigkeit der Vertrag mit dem Grundstückseigentümer zustande kommt83. Nur ausnahmsweise nimmt die Rechtsprechung an, dass mit dem Grundstückseigentümer kein Vertrag zustande kommt. Dies soll nur dann der Fall sein, wenn es einen anderen Vertragspartner gibt, mit dem ein Vertrag, auch konkludent, geschlossen wurde84. Maßgeblich ist nach der Rechtsprechung allein derjenige, der die tatsächliche Verfügungsgewalt über den Versorgungsanschluss des TVU ausübt und die angebotene Versorgungsleistung abnimmt oder mit dem ein entsprechender Vertrag abgeschlossen worden ist85.

__________ 80 Berliner Zeitung v. 3.2.2010, S. 1. 81 Pressemitteilung des BGH (Fn. 79). 82 Allerdings scheint es bei den privatrechtlich organisierten TVU in Hessen andere Schlussfolgerungen aus dem Beschluss des BGH zu geben. Der Geschäftsführer des vom Beschluss des BGH betroffenen regionalen Wasserversorgers überlegt, die Trinkwasserversorgung aus dem Unternehmen herauszulösen und in die Stadtverwaltung, etwa als Eigenbetrieb, zu integrieren. Damit könnte dann die Stadt für die Trinkwasserversorgung auf der Grundlage einer Satzung Gebühren erheben, die nur noch von der Kommunalaufsicht geprüft werden würden (vgl. „Wasserversorger will Poschs Zugriff entkommen“ Rhein-Main Zeitung in FAZ.NET. v. 11.2.2009, S. 1). 83 BGH, BGHReport 2009, 432, Volltext in DRsp Nr. 2009/2846; s. auch OLG Dresden v. 5.4.2001, DRsp Nr. 2001/9277, Rz. 13; BGH, Nichtannahmebeschluss v. 15.1.2008, DRsp Nr. 2008/4556 m. w. N. 84 BGH (Fn. 83), 434 f., Volltext in DRsp Nr. 2009/2846. Der BGH lehnt in dieser Entscheidung ausdrücklich eine Unterscheidung zwischen einem förmlich abgeschlossenen und einem durch konkludentes Verhalten geschlossenen Vertrag ab, da beide die gleichen Rechtswirkungen entfalten. 85 BGH 15.1.2008 (Fn. 83).

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Entscheidend kommt es dabei darauf an, dass „… gegenläufige Auslegungsgesichtspunkte vorliegen, die unübersehbar in eine andere Richtung weisen …“86. Damit kann dann zwischen einem Grundstücksnutzer, also beispielsweise dem Pächter oder einem Mieter, sowie einem TVU nur ausnahmsweise ein Vertragsverhältnis über den Bezug von Trinkwasser entstehen, nämlich dann, wenn dieser nicht lediglich Rechnungsempfänger, sondern tatsächlich Vertragspartner sein soll. Auf welche Art der Vertragsschluss erfolgt, ist dagegen irrelevant. Jedoch ist es dem TVU verwehrt, sowohl mit dem Grundstückseigentümer als auch mit dem Pächter oder Mieter Verträge, das gleiche Grundstück betreffend, abzuschließen87. Dies dürfte auch sachgerecht sein. Andererseits steht aber auch fest, dass das TVU nicht verpflichtet ist, mit einem Mieter oder Pächter eines Grundstücks Versorgungsverträge abzuschließen, und zwar auch dann nicht, wenn der Grundstückseigentümer dies ausdrücklich wünscht. Das TVU muss einem solchen Ansinnen des Grundstückseigentümers expressis verbis zustimmen und kann zur Voraussetzung für den Abschluss eines solchen Vertrages mit den Mietern machen, dass der Grundstückeigentümer bereit ist, die Mithaftung für die den Mietern in Rechnung gestellten Verbrauchskosten zu übernehmen88. Dem TVU ist es aber andererseits verwehrt, in seinen AGB einseitig unter Berufung auf § 10 Abs. 2 AVBWasserV zu bestimmen, dass „jedes Haus oder jedes Grundstück“ über einen eigenen Anschluss an die zentrale Trinkwasserversorgung verfügen muss. Das TVU hat zwar nach dem Willen des Verordnungsgebers das Recht, die Zahl der Hausanschlüsse auf einem Grundstück zu bestimmen, jedoch sind dabei auch die Interessen des Grundstückseigentümers bei der Abwägung durch das TVU mit einzubeziehen89. Das TVU kann über § 22 AVBWasserV darauf Einfluss nehmen, wie der Kunde mit dem gelieferten Trinkwasser weiter verfährt. § 22 Abs. 1 Satz 1 AVBWasserV bestimmt, dass das gelieferte Trinkwasser durch den Kunden nur für eigene Zwecke, Zwecke seiner Mieter und sonstiger Berechtigter verwendet werden darf. Für eine anderweitige Verwendung des gelieferten Trinkwassers durch den Kunden bedarf es ausdrücklich einer vorherigen schriftlichen Zustimmung des TVU.

__________ 86 87 88 89

BGH (Fn. 83), 434. Ebenda Rz. 15. Ausdrücklich BGH (Fn. 59) m. w. N., 915. BGH, BGHReport 2005, 1090 (LS), Volltext in DRsp Nr. 2005/8023. In dieser Entscheidung hat der BGH die Regelung in den AGB eines TVU unter Berufung auf § 307 Abs. 2 Nr. 1 i. V. m. § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB für unwirksam erklärt, dass „jedes Haus und jedes Grundstück“ mit einem eigenen Anschluss an die Trinkwasserversorgungsleitung auszustatten ist. Begründet hat dies der Senat damit, dass die entsprechende AGB Klausel des TVU von der Formulierung des Verordnungsgebers abweicht und damit für eine einzelfallbezogene Regelung kein Raum mehr sei. Damit kann dann aber der Anschlussnehmer einseitig benachteiligt, wenn ihm jede Möglichkeit abgeschnitten werde, seine Vorstellungen beim TVU einzubringen.

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Dem Kunden des TVU wird es damit verwehrt, mit dem von ihm gekauften Gegenstand, nämlich dem Trinkwasser, so zu verfahren, wie es ihm beliebt90. Dem TVU wird mit diesem Zustimmungserfordernis im Sinne des § 182 BGB das Recht eingeräumt zu kontrollieren, ob der Käufer des gelieferten Trinkwassers dieses auf eigene Rechnung weiterverkauft und wenn ja zu welchen Bedingungen. Diese Zielrichtung ergibt sich direkt aus § 22 Abs. 1 Satz 3 AVBWasserV, der dem TVU im Fall der Weiterleitung praktisch ein Vetorecht gewährt. Mit diesem Vetorecht wird damit die Monopolstellung des örtlichen TVU zementiert und aktiv ein Wettbewerb um den Markt verhindert91. Damit besitzen die TVU derzeit eine sonst im Zivilrecht kaum vorstellbare starke Rechtsstellung gegenüber dem Käufer, in aller Regel also gegenüber dem Grundstückseigentümer. Diese kann letztlich nur damit erklärt werden, dass der Vertragspartner des TVU de facto keine andere Bezugsmöglichkeit für das Trinkwasser besitzt, und zwar sobald durch die Gemeinde eine Satzung in Kraft gesetzt wurde, die den Anschluss- und Benutzungszwang für die Grundstückseigentümer einführt, dem der Grundstückseigentümer praktisch nicht entgehen kann92. 3. Zu einigen Aspekten der Mängelhaftung am gelieferten Trinkwasser Direkte Vertragsbeziehungen bestehen, wie vorstehend ausgeführt, in aller Regel zwischen dem TVU und dem Grundstückseigentümer, nicht hingegen zwischen dem TVU und dem Endverbraucher. Trinkwasser ist wie Gas und Strom zum sofortigen Verbrauch bestimmt. Daraus ergeben sich zwangsläufig Besonderheiten bei der Geltendmachung von Käuferrechten, denn aufgrund seiner Eigenschaft als zum sofortigen Verbrauch bestimmt scheidet regelmäßig eine Nacherfüllung im Sinne des § 437 Nr. 1 BGB aus. Ein Vertragsrücktritt im Sinne des § 437 Nr. 2 1. Alternative BGB im Falle der Lieferung von Trinkwasser, das nicht den geforderten Kriterien entspricht, scheidet ebenfalls aus. Dies scheitert regelmäßig bereits daran, dass es aufgrund der Monopolstellung des TVU kein Konkurrenzangebot gibt, auf das der Käufer zurückgreifen kann. Die dem Käufer normalerweise zustehenden Gewährleistungsrechte im Falle der Mangelhaftigkeit des gelieferten Trinkwassers werden de facto auf das Recht zur Preisminderung sowie die Geltendmachung von Schadenersatz reduziert. Als vereinbarte Beschaffenheit im Sinne des § 434 Abs. 1 BGB ist davon auszugehen, dass das vom TVU gelieferte Trinkwasser den vom Gesetzgeber geforderten qualitativen Standards, definiert in § 4 TrinkwV2001, entspricht.

__________ 90 Zur analogen Anwendbarkeit des Kaufrechts bei Lieferungen durch öffentliche Versorgungsträger, vgl. V. 1. insbesondere BGH v. 4.10.1972 (Fn. 56) zitierte Entscheidung des BGH. 91 Vgl. hierzu die Ausführungen unter III. 1. a. 92 S. hierzu die Ausführungen unter IV. 2.

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Verbraucherrechte bei der Versorgung mit Trinkwasser

Danach gilt für das Trinkwasser zwingend als vereinbart, dass es frei von Krankheitserregern, genusstauglich und rein sein muss, § 4 Abs. 1 Satz 1 TrinkwV2001. Diese Bedingung gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 TrinkwV2001 als erfüllt, wenn bei der Wassergewinnung, der Aufbereitung und der Verteilung die allgemein anerkannten Regeln der Technik eingehalten sind und die vom Gesetzgeber in den §§ 5–7 TrinkwV2001 festgelegten Parameter eingehalten worden sind. Die Einhaltung dieser Beschaffenheitskriterien für das zu liefernde Trinkwasser wird bei Abschluss des Vertrages durch das TVU zugesichert. § 4 Abs. 3 Satz 1 AVBWasserV ist durch den Gesetzgeber als eine „muss“-Vorschrift ausgestaltet worden. Aufgrund dieser normierten Pflicht des TVU zur Lieferung des Trinkwassers in der vereinbarten Beschaffenheit, kann der Käufer, d. h. in aller Regel der Grundstückseigentümer bzw. Anschlussnehmer, davon ausgehen, dass das angelieferte Trinkwasser auch der vertraglich vereinbarten Beschaffenheit entspricht. Weicht das vom TVU gelieferte Trinkwasser von diesen fest vereinbarten Qualitätskriterien ab, so ist davon auszugehen, dass das Trinkwasser nicht die vereinbarten Beschaffenheiten aufweist, es also mit einem Mangel behaftet ist. Stellt das TVU im Rahmen seiner vom Gesetzgeber vorgeschriebenen Kontrollen im Sinne des § 14 TrinkwV2001 fest, dass das produzierte Trinkwasser nicht den vom Gesetzgeber geforderten Qualitätskriterien entspricht, unterliegt das TVU einem Abgabeverbot, welches sich direkt aus § 4 Abs. 2 und 3 TrinkwV2001 ableitet93. Nach dem Willen des Gesetzgebers ist § 4 Abs. 2 TrinkwV2001 sogar als Verbotsnorm ausgestaltet worden94. Für eine nicht unverzügliche Unterbrechung der Belieferung des Anschlussnehmers haftet das TVU direkt aus § 6 Abs. 1 AVBWasserV, § 280 BGB. § 280 BGB findet ausdrücklich auch Anwendung auf ein als öffentlichrechtliches Schuldverhältnis ausgestaltetes Vertragsverhältnis zwischen einem TVU, das als Eigenbetrieb der Kommune geführt wird, und dem Grundstückseigentümer95. Die Anwendbarkeit des § 280 BGB hat gerade in diesen Fällen den Vorteil, dass sich ein gemeindlich geführter Eigenbetrieb nicht mit Hinweis auf das Haftungsprivileg des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB exkulpieren kann, sondern voll nach den Vorschriften der §§ 276, 278 BGB für den Schaden des Anschlussnehmers haftet96.

__________ 93 Mehlhorn, „Die Pflichten des Wasserversorgungsunternehmens nach der Trinkwasserverordnung“ in Grohmann/Hässelbarth/Schwerdtfeger „Die Trinkwasserverordnung“ 4. Aufl., 61; Seeliger in Oehmichen/Schmitz/Seeliger „Die neue Trinkwasserverordnung, 2. Aufl., WVGW, 29. 94 Amtlicher Kommentar zur TrinkwV2000, gültig ab 1.1.2003, Drucksache 721/00 mit Auszug zu relevanten Themen der Betriebs- und Regenwassernutzung, 42-100, www. regenwater.com/industries.htm, 57. 95 Grüneberg in Palandt, 69. Aufl., § 280 BGB S. 367 Rz. 11 m. w. N. 96 BGH, BGHReport 2007, 206, Volltext in DRsp Nr. 2007/679, Rz. 8 ff. m. w. N.; Grüneberg in Palandt, 69. Aufl., § 280 BGB S. 367 Rz. 10 m. w. N.

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Verletzt das TVU seine Pflicht, nur Trinkwasser auszuliefern, das den normierten Qualitätskriterien entspricht, entweder weil die Mängel im Rahmen der Kontrollen nicht festgestellt worden sind oder aber die Kontrollen rechtswidrig unterlassen wurden, so löst dies die Haftung des TVU nach § 823 BGB aus, da der BGH die TrinkwV2001 als ein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB ansieht97. In der Praxis wird davon ausgegangen, dass das von den TVU ausgelieferte Trinkwasser grundsätzlich den vom Gesetzgeber geforderten Qualitätskriterien entspricht, mithin frei von Mängeln im Sinne des § 434 BGB ist, und der Anschlussnehmer, also in aller Regel der Grundstückseigentümer, auch hierauf vertrauen kann. Diese Aussage ist von erheblicher Bedeutung für das Vertragsverhältnis zwischen dem Grundstückseigentümer und seinen Mietern, Pächtern und Nutzern. Entspricht das Trinkwasser am Zapfhahn des Verbrauchers nicht der vereinbarten Beschaffenheit, ist also mit einem Sachmangel im Sinne des § 434 Abs. 1 BGB behaftet, wird vermutet, dass die Ursache in einer nicht ordnungsgemäßen Trinkwasserinstallation des Grundstückseigentümers zu suchen ist, er mithin gegenüber seinem Vertragspartner haftet98. Die Haftung des Grundstückseigentümers99 für die Beschaffenheit des angelieferten Trinkwassers ergibt sich aus folgender Rechtslage: Die Verantwortung des Grundstückseigentümers für die Trinkwasserqualität beginnt nach dem Willen des Gesetzgebers direkt am Übergabepunkt auf seinem Grundstück, § 3 Nr. 3 TrinkwV2001100. Er erfasst das gesamte Verteilungssystem auf dem Grundstück zwischen der in aller Regel am Übergabepunkt angebrachten Wasseruhr und dem Wasserhahn des Endverbrauchers, §§ 5 Abs. 1 Satz 1, 10 Abs. 1 Satz 1, 12 AVBWasserV101. Dieses Verteilungssystem ist für den Grundstückseigentümer deshalb von Bedeutung, weil sich aus § 8 Nr. 1 TrinkwV2001 eindeutig ergibt, dass die in den §§ 5–7 TrinkwV2001 bestimmten Parameter am Wasserhahn des Endverbrau-

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97 Sprau in Palandt, 69. Aufl., § 823 BGB S. 1303 Rz. 71 m. w. N.; BGH v. 25.1.1983, Volltext in DRsp Nr. 2002/15600, Rz. 13; diese Entscheidung des BGH ist zwar noch zur Vorgängervorschrift der aktuellen TrinkwV2001 ergangen, jedoch kann man davon ausgehen, dass sich die Auffassung der Rechtsprechung hierzu nicht verändert hat. 98 So ausdrücklich Schwarz, Die Haftungsfragen sind geklärt, in „Der Immobilienverwalter“, 2007, 96. 99 Der Begriff Grundstückseigentümer wird hier zugleich als Synonym für Wohnungsverwalter, die gerade für größere Wohnanlagen sehr häufig eingesetzt werden, verwendet, da auch diesen ggf. eine gesamtschuldnerische Haftung treffen kann. Hierzu weiterführend Schwarz (Fn. 98); Fischer, „Anlagen der Hausinstallation nach § 3 (2) c Trinkwasserverordnung: Erfahrungen mit der Umsetzung der TrinkwV im Bereich der Wohnungswirtschaft“ in GWF-Wasser/Abwasser, 2008, 215. 100 Amtlicher Kommentar zur TrinkwV2000 (Fn. 94), 55. 101 S. hierzu weiterführend Mehlhorn (Fn. 93), 59 ff. Die Hauswasserinstallation darf aber nicht verwechselt werden mit dem Hauswasseranschluss im Sinne des § 10 Abs. 1 Satz 2 AVBWasserV. Der Hauswasseranschluss (oft auch als Hausanschluss bezeichnet) selbst steht im Eigentum des TVU, und zwar selbst dann, wenn er sich auf dem Grundstück befindet. Dies hat der BGH entschieden. BGH, BGHReport 2008, 431 (LS), Volltext unter DRsp Nr. 2008/4505, Rz. 15 m. w. N.

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Verbraucherrechte bei der Versorgung mit Trinkwasser

chers einzuhalten sind und der Gesetzgeber darüber hinaus festgelegt hat, dass der Grundstückseigentümer außerdem für die Einhaltung aller maßgeblichen Rechtsvorschriften bei der Errichtung, Änderung, Unterhaltung und Erweiterung des Hausanschlusses die volle Verantwortung auch für die Einhaltung der anerkannten Regeln der Technik trägt, §§ 4 Abs. 3 Satz 1, 12 Abs. 1 Satz 1, 12 Abs. 4 AVBWasserV, § 4 Abs. 1 TrinkwV2001102. Da davon auszugehen ist, dass dem Grundstückseigentümer und/oder dem Anschlussnehmer regelmäßig die erforderlichen Kenntnisse fehlen, um die Beschaffenheit des Trinkwassers zu prüfen, ist er weiterhin verpflichtet, laufend die Qualität des Trinkwassers in der Hausinstallation untersuchen zu lassen, und zwar durch entsprechend zugelassene Unternehmen, § 14 TrinkwV2001103. Resümierend bleibt festzustellen, dass u. a. dem Grundstückseigentümer durch den Gesetzgeber in der TrinkwV2001 umfangreiche Verpflichtungen auferlegt worden sind, deren Nichteinhaltung Schadenersatzansprüche des Geschädigten auslöst104.

VI. Fazit Es ist davon auszugehen, dass sich in den nächsten Jahren im Trinkwassermarkt einiges bewegen wird, und zwar in Richtung einer vorsichtigen Deregulierung im Sinne eines Wettbewerbs um den Markt. Woher der erste Anstoß kommt, ob durch ein Tätigwerden des Gesetzgebers oder aber durch die Rechtsprechung, bleibt abzuwarten.

__________ 102 Hierzu weitergehend Gollnisch u. a., Wechselwirkungen zwischen Zivilrecht und der Trinkwasserverordnung, in HLH Sonderdruck 2007, 3 f. m. w. N. Die Verantwortung des TVU kann allerdings aufgrund einer speziellen Vereinbarung mit dem Grundstückseigentümer im Einzelfall auch noch früher enden. Dies ergibt sich direkt aus § 10 Abs. 1 Satz 1 AVBWasserV. Ausführlich Seeliger (Fn. 93), 38. 103 Im Einzelnen dazu Seeliger (Fn. 93), S. 54 ff.; weiterführend Moll, Die Regelungen für die Hausinstallation nach der Trinkwasserverordnung der AVBWasserV und der DIN 1988, in Grohmann/Hässelbart/Schwerdtfeger (Fn. 93), 75 ff.; Oemichen, Umfang und Häufigkeit von Untersuchungen, in Oemichen/Schmitz/Seeliger (Fn. 93), 136 ff. 104 Neben einer Haftung des Grundstückseigentümers kann auch u. U. die Haftung weiterer Personenkreise für Mängel an einer Trinkwasserhausinstallation in Betracht kommen, wenn festgestellt wird, dass eine geplante und errichtete Hausinstallation nicht den Anforderungen der TrinkwV2001 entspricht. Auch Produkthaftungsansprüche gegen den Produzenten entsprechender Komponenten für die Hauswasserinstallation sind denkbar. Da der Gesetzgeber gemäß § 8 Nr. 1 TrinkwV2001 bestimmt hat, dass der maßgebliche Ort für die Einhaltung der vorgegebenen Trinkwasserqualität, der Wasserhahn des Endverbrauchers ist, ergeben sich hieraus auch Mietminderungsansprüche des Mieters, wenn an seinem Wasserhahn das Trinkwasser kontaminiert ist. Der Vermieter ist demzufolge auch vertraglich verpflichtet, den Mietern nur Trinkwasser zur Verfügung zu stellen, dass den Anforderungen der §§ 5 ff. TrinkwV2001 entspricht. Dies ergibt sich als Nebenpflicht des Vermieters aus §§ 535 ff. BGB. S. hierzu Weidenkaff in Palandt, 69. Aufl., § 535 BGB S. 763 Rz. 65 m. w. N.

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Der BGH hat mit seiner Entscheidung vom 2.2.2010 einen Weg aufgezeichnet, wie im Rahmen der bestehenden Rechtslage versucht werden kann, die Preisgestaltung der lokalen und als Monopole organisierten TVU einer kartellrechtlichen Missbrauchskontrolle zu unterziehen. Es bleibt nur zu hoffen, dass die Landeskartellbehörden bzw. die jeweilige Kommunalaufsicht, bei öffentlichrechtlich organisierten TVU, die ihnen nunmehr an die Hand gegebenen Möglichkeiten nutzen. Damit besteht dann aber für die Verbraucher die realistische Möglichkeit auf sinkende Trinkwasserpreise hoffen zu können.

VII. Statt eines Schlusswortes Der Verfasser hat in dem vorstehenden Beitrag den Versuch unternommen, kursorisch den Trinkwassermarkt in der Bundesrepublik unter verschiedenen rechtlichen und nicht rechtlichen Aspekten zu beleuchten. Um eine möglichst umfassende Darstellung der Problematik zu gewährleisten war es leider aus Platzgründen nicht möglich, einzelne, vor allem auch rechtliche, Aspekte vertiefend auszuführen. In diesem Sinne, lieber Fritz, Herzlichen Glückwunsch zu Deinem 70. Geburtstag und ad multos annos.

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Was sind Vertragsbedingungen im Sinne von § 305 BGB? Inhaltsübersicht I. Fragestellung II. Regelungen, die das vorvertragliche Schuldverhältnis betreffen III. Einseitige Erklärungen 1. Einseitige Erklärungen als Bestandteil weitergehender Allgemeiner Geschäftsbedingungen 2. Einseitige Erklärungen des Verwenders

3. Einseitig vorformulierte Erklärungen, die nicht Bestandteil von weitergehenden Regelwerken sind IV. Aufforderung zur Abgabe von Angeboten 1. Anwendbarkeit der Regeln über Allgemeine Geschäftsbedingungen 2. Die Unterlassungsklage 3. Lösung des Ausgangsfalls V. Zusammenfassung

I. Fragestellung Nach § 305 Abs. 1 BGB sind Allgemeine Geschäftsbedingungen vorformulierte Vertragsbedingungen. Diese Definition erscheint jedenfalls auf den ersten Blick hinreichend klar. Denn was Vertragsbedingungen sind, steht im Grundsatz fest: Es sind eben Regelungselemente eines Vertrages. Ob dies aber wirklich alles ist, was als Vertragsbedingung im Sinne von § 305 Abs. 1 BGB anzusehen ist, erwies sich schon bald als unsicher. Es stellte sich die Frage, ob auch einseitige Erklärungen, die der Verwender der Allgemeinen Geschäftsbedingungen für den Adressaten oder für sich vorformuliert, unter die Norm fallen. Auch war zu klären, ob Absprachen, die das vorvertragliche Schuldverhältnis betreffen, in den Regelungsbereich der Norm fallen. Anfang 2009 hatte der BGH1 dann eine weitere Fallkonstellation, in der es darum ging, ob eine Klausel als Vertragsbedingung im Sinne von § 305 Abs. 1 BGB anzusehen ist, zu entscheiden. In einem Versandkatalog fand sich der Hinweis: „Änderungen und Irrtümer vorbehalten. Abbildungen ähnlich.“ Hiergegen ging der Bundesverband der Verbraucherzentralen mit der Unterlassungsklage vor. Der BGH hat diese Klage mit der Begründung abgewiesen, es handle sich bei den Katalogangaben nicht um AGB. Es fehle an einer Erklärung des Verwenders, die bei dem Empfänger den Eindruck erwecken könne, es solle damit der Inhalt eines Rechtsverhältnisses bestimmt werden. Denn der Hinweis verdeutliche lediglich den werbenden und unverbindlichen Charakter der Katalogangaben. Die Herausgabe des Katalogs stelle noch kein verbindliches Angebot zum Abschluss eines Vertrages dar, sondern sei lediglich eine Aufforderung zur Abgabe von Angeboten.

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1 MDR 2009, 556.

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Im Weiteren wird der Frage nachgegangen, ob dieser Judikatur zu folgen ist. Dafür muss geklärt werden, was unter Vertragsbedingungen im Sinne von § 305 Abs. 1 BGB zu verstehen ist.

II. Regelungen, die das vorvertragliche Schuldverhältnis betreffen Mittlerweile entspricht es der h. M., dass auch Vereinbarungen, die das vorvertragliche Schuldverhältnis betreffen, Allgemeine Geschäftsbedingungen sein können2. Hierzu zählen Vertragsabschlussklauseln, also Klauseln, die sich mit den Voraussetzungen des Vertragsabschlusses befassen, sowie Regelungen, die sich auf das vorvertragliche Schuldverhältnis beziehen (z. B. Bestimmungen über die Taschenkontrolle im Supermarkt3). Zwar findet man immer wieder den Hinweis, von Vertragsbedingungen könne man streng genommen noch nicht sprechen4. Aber das trifft nicht zu. Denn vertragliche Absprachen können auch den vorvertraglichen Bereich regeln und da § 305 BGB unstreitig für Verträge mit beliebigem Inhalt gilt (etwa auch für Verfügungsgeschäfte und prozessuale Vereinbarungen), kommt es folglich auch nicht darauf an, ob der geregelte Bereich sich auf den Zeitraum vor Abschluss (eines weiteren) Vertrages bezieht oder nicht5. Dies wird besonders deutlich, wenn man den Fall betrachtet, dass ein weiterer Vertrag nicht zustande kommt. So würde es etwa liegen, wenn im Eingangsbereich eines Supermarkts ein Schild zum Einschließen der Taschen auffordert und für den Fall, dass dem nicht nachgekommen wird, eine Taschenkontrolle für möglich erklärt wird. Die Frage, ob es sich insoweit um Allgemeine Geschäftsbedingungen handelt, kann ersichtlich nicht davon abhängen, ob der Besucher des Supermarktes späterhin tatsächlich etwas kauft oder nicht. Daher können etwa auch Absprachen, nach denen bei Nichtabschluss eines Vertrages eine „Entschädigung“ zu leisten ist, Allgemeine Geschäftsbedingungen enthalten6. Demgemäß ist im Bereich vorvertraglicher Regelungen auch mit einer wortlautkonformen Auslegung von § 305 Abs. 1 BGB auszukommen. Es handelt sich in der Tat um vertragliche Regelungen. Der Inhalt dieses Vertrages bezieht sich auf ein vorvertragliches Schuldverhältnis.

__________ 2 BGHZ 104, 95, 99; BGH, NJW 2005, 1515; Berger in Prütting/Wegen/Weinreich, 4. Aufl. 2009, § 305 BGB Rz. 1; Grünberger, JURA 2009, 249, 253; Pfeiffer in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 5. Aufl. 2008, § 305 BGB Rz. 9; Roloff in Erman, 12. Aufl. 2008, § 305a BGB Rz. 5; Schlosser in Staudinger, 2006, § 305 BGB Rz. 11; Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl., Rz. 110; von Westphalen, NJW 1994, 367, 367. 3 Auch BGHZ 133, 184, 187 sieht darin Allgemeine Geschäftsbedingungen. Von Westphalen, NJW 1994, 367, 367 f. hält eine solche Klausel aber gemäß § 9 Abs. 1 AGBG = § 307 Abs. 1 BGB n. F. für unwirksam. 4 Stoffels (Fn. 2), Rz. 111. 5 Ausführlich Grunewald, ZIP 1987, 353. 6 Pfeiffer (Fn. 2), § 305 BGB Rz. 14.

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Was sind Vertragsbedingungen im Sinne von § 305 BGB?

III. Einseitige Erklärungen 1. Einseitige Erklärungen als Bestandteil weitergehender Allgemeiner Geschäftsbedingungen Allgemeine Geschäftsbedingungen können auch einseitige Erklärungen umfassen7. Diese können rechtsgeschäftlicher wie auch nicht rechtsgeschäftlicher Natur sein. Solche einseitigen Erklärungen liegen etwa vor, wenn im Rahmen eines Klauselwerkes Tatsachen bestätigt oder Empfangsbekenntnisse abgegeben werden, ein Patient seine Einwilligung in eine ärztliche Behandlung oder eine Obduktion erteilt, wenn dem Verwender Werbung oder Beratung gestattet, eine Vollmacht erteilt wird oder wenn der Verwender eine Widerrufsbelehrung vornimmt, einen Hinweis auf die Rechtslage gibt oder Gewinnzusagen macht. Wollte man die in einem umfassenden Regelwerk enthaltenen einseitigen Erklärungen nicht als Vertragsbedingungen im Sinne von § 305 Abs. 1 BGB verstehen, hätte dies zur Folge, dass diese einer gesonderten Behandlung zu unterziehen wären und man infolgedessen das Regelwerk zerstückeln müsste. Sinnzusammenhänge würden dann auseinander gerissen. Das wäre wenig sachgerecht. Hinzu kommt, dass auch die Rechtsstellung des Adressaten der Allgemeinen Geschäftsbedingungen durch ihm vorgezeichnete einseitige Erklärungen nicht weniger belastet wird als durch zweiseitige Absprachen8. Denn: Die einseitigen Erklärungen sind ja gerade Teil der Ausgestaltung – meist Einschränkung – der Rechtsstellung des Adressaten. Es wäre alles andere als überzeugend, gerade diesen Teil des Regelwerks nur deshalb nicht als AGB zu behandeln, weil er auch unabhängig von vertraglichen Absprachen formulierbar gewesen wäre. Hinzu kommt, dass auch diese einseitigen Erklärungen Teil der Vertragsbedingungen sind und daher unter den Wortlaut von § 305 Abs. 1 BGB subsumiert werden können. Auch enthält das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen in § 309 Nr. 12b BGB selbst eine Regelung, die sich auf die Bestätigung von Tatsachen und damit auf eine einseitige Erklärung bezieht. Auch dies zeigt, dass auch einseitige Erklärungen unter den Begriff der Vertragsbedingung in § 305 Abs. 1 BGB fallen können. 2. Einseitige Erklärungen des Verwenders Dies wird für einseitige Erklärungen des Verwenders bisweilen anders gesehen. Es wird gesagt, dass das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen dann keine Anwendung finde, da der Erklärende mit der Vorformulierung keine

__________ 7 BGHZ 141, 124, 126 (Telefonwerbungsklausel); BGH, NJW 2000, 2677 (Beratung bei Kontoeröffnung); BGH, NJW 1986, 2428 (Überweisungsformular); BGH, NJW 1987, 2011 (Überziehungsvollmacht); Basedow in MünchKomm.BGB, 5. Aufl., § 305 BGB Rz. 9; Becker in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 305 BGB Rz. 12; Berger (Fn. 2), § 305 BGB Rz. 3; Kollmann in AnwaltsKomm.BGB, 2005, § 305 BGB Rz. 7; Möllers, JZ 1999, 1124; Pfeiffer (Fn. 2), § 305 BGB Rz. 11; Roloff in Erman (Fn. 2), § 305 BGB Rz. 6; Trinkner in Löwe/von Westphalen/Trinkner, AGBG-Komm., § 1 Rz. 7. 8 Kollmann (Fn. 7), § 305 BGB Rz. 7.

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Barbara Grunewald

fremde, sondern lediglich eigene Gestaltungsmacht in Anspruch nehme9. Aber das überzeugt nicht10. Denn das gesamte Schutzkonzept der Sonderregeln für Allgemeine Geschäftsbedingungen beruht auf der Beobachtung, dass die Vorformulierung die Gefahr einseitiger Ausnutzung der Vertragsgestaltungsfreiheit zu Lasten des Kunden mit sich bringt11, und genau diese Gefahr besteht eben auch, wenn der Verwender durch Vorformulierung seine Rechtstellung durch einseitige Erklärungen ausgestaltet. Dass der Verwender seine eigene Gestaltungsmacht nutzt, ändert daran nichts. Vielmehr ist das bei der Vorformulierung von Vertragsbedingungen nicht anders. Allein die Tatsache, dass in Bezug auf einseitige Erklärungen eine irgendwie geartete Annahme des Kunden nicht erforderlich ist, macht sie ja für ihn nicht weniger riskant. Im Gegenteil: Es entfällt gerade auf Grund der Einseitigkeit der Erklärung dieses Korrektiv der Akzeptanz durch den Kunden. Auch der BGH hatte schon einmal über eine einseitige Erklärung des Verwenders zu entscheiden. In Rede stand die Empfangsvollmacht eines Versicherungsagenten12. In dem Urteil wird ausgeführt, dass der Verwender mit einer Beschränkung der Empfangsvollmacht seines Agenten nur seine eigenen Verhältnisse und nicht die des Vertragsgegners regelt. Dies – so das Urteil – sei aber im zu entscheidenden Fall nicht relevant, da die Empfangsvollmacht des Versicherungsagenten eine gesetzliche Ausgestaltung erfahren habe. Daher sei eine Inhaltskontrolle unabhängig davon angebracht, dass es sich um eine einseitige Erklärung des Verwenders handle. Entgegen der Annahme des Bundesgerichtshofs kann es darauf, ob eine gesetzliche Ausgestaltung des Rechtsverhältnisses vorliegt, schon deshalb nicht ankommen, weil zwingendes Recht stets zu beachten ist und dispositives Recht immer zur Verfügung steht. Davon, ob dieses mehr oder weniger detailliert ausformuliert ist, hängt aber die Schutzbedürftigkeit des Adressaten nicht ab. Daher bleibt es dabei, dass jedenfalls jede einseitige Erklärung, die Bestandteil eines Regelwerks ist, Vertragsbedingung im Sinne von § 305 Abs. 1 BGB ist. In einer Entscheidung aus dem Jahr 200913 hat der BGH eine Widerrufsbelehrung und damit eine einseitige Erklärung unter Hinweis darauf, dass sie Teil der Allgemeinen Geschäftsbedingungen sei, der Inhaltskontrolle unterzogen. Dem ist mit der Begründung, dass diese Widerrufsbelehrung keine Vertragsbedingung im Sinne von § 305 Abs. 1 BGB sei, widersprochen worden14. Denn

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9 Basedow (Fn. 7), § 305 BGB Rz. 9; Becker (Fn. 7), § 305 BGB Rz. 14; Berger (Fn. 2), § 305 BGB Rz. 3; Grünberger, JURA 2009, 249, 253; Heinrichs, NJW 1997, 1408; Ulmer in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 10. Aufl., § 305 BGB Rz. 18; a. A. Beckmann, NJW 1996, 1378, 1379. 10 Kritisch auch Kollmann (Fn. 7), § 305 BGB Rz. 8; einschränkend Roloff in Ermann (Fn. 2), § 305 BGB Rz. 6: erforderlich sei ein Eingreifen in die Rechtsposition des Kunden. Das hat im Ergebnis eine Überprüfung aller erheblichen einseitigen Erklärungen des Verwenders zur Konsequenz, da für Klauseln, die den Kunden besser stellen, die Frage, ob §§ 305 ff. BGB gelten, irrelevant ist. 11 Ulmer (Fn. 9), Einl. Rz. 48. 12 NJW 1999, 1634, 1635; im Ergebnis ebenso BVerwG, NJW 1998, 3216, 3218. 13 ZIP 2009, 362. 14 Corzelius, EWiR 2009, 243, 244 = § 2 HWiG a. F., 1/09.

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Was sind Vertragsbedingungen im Sinne von § 305 BGB?

schließlich bestehe das Widerrufsrecht qua Gesetz und die Belehrung weise lediglich auf diese Rechtslage hin. Nun ist ein korrekter Hinweis auf die Rechtslage sicher stets unproblematisch. Aber es geht ja genau darum, die Kriterien zu nennen, an Hand derer zu bestimmen ist, ob der Hinweis ordnungsgemäß ist sowie die Rechtsfolgen festzulegen, falls er es nicht ist. Es muss also zuerst geklärt werden, ob Allgemeine Geschäftsbedingungen vorliegen oder nicht. Erst danach geht es darum, ob die Erklärung inhaltlich in Ordnung ist und Bestand hat. Denn je nach dem, um welche Art von Regelungen es sich handelt, ist die Überprüfungsdichte unterschiedlich. Aus demselben Grund kann auch nicht mit der Begründung, die Anwendung von §§ 305 ff. BGB sei „nicht erforderlich“, der AGB-Charakter (konkret einer Gewinnzusage) verneint werden15. Damit ergibt sich, dass dem BGH in Bezug auf die Überprüfung der Widerrufsbelehrung zu folgen ist: Auch einseitige Erklärungen und auch bloße rechtliche Hinweise unterliegen jedenfalls dann, wenn sie Bestandteil eines Klauselwerkes sind, der Inhaltskontrolle. Entgegen einer in der Literatur vertretenen Ansicht, gilt dies auch nicht nur für einseitige Erklärungen gegenüber einem Verbraucher16. Die in § 310 Abs. 3 BGB enthaltenen Sonderregeln für Verbraucherverträge treffen insofern keine Bestimmung und auch sonst beruht das hier entwickelte Ergebnis nicht auf Wertungen, die nur für Verbraucher einschlägig sind. 3. Einseitig vorformulierte Erklärungen, die nicht Bestandteil von weitergehenden Regelwerken sind Wenn einseitige Erklärungen nicht Bestandteil von darüber hinaus gehenden Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind, kann es nur noch um eine analoge Anwendung von § 305 Abs. 1 BGB gehen. Denn Vertragsbedingungen stehen dann mangels Vertrages nicht zur Debatte. Gleichwohl kann das Ergebnis kein anderes sein. Es kommt bei einseitigen Erklärungen nicht darauf an, ob sie mit genuin vertraglichen Absprachen eine Einheit bilden oder nicht. Denn die Schutzbedürftigkeit des Adressaten hängt davon nicht ab. Dies entspricht auch der ganz h. M.17.

IV. Aufforderung zur Abgabe von Angeboten 1. Anwendbarkeit der Regeln über Allgemeine Geschäftsbedingungen In dem eingangs geschilderten Fall des Bundesgerichtshofes ging es um Katalogangaben, die auf mögliche Änderungen und Irrtümer hinwiesen und diese

__________ 15 A. A. Roloff in Erman (Fn. 2), § 305 BGB Rz. 6; offen OLG München, NJW 2004, 1672. 16 So Heinrichs, NJW 1997, 1407, 1408. 17 BGHZ 141, 124, 126; BGH, NJW 2000, 2677; Basedow (Fn. 7), § 305 BGB Rz. 9; Ulmer (Fn. 9), § 305 BGB Rz. 16; a. A. wohl OLG Stuttgart, NJW 1979, 222, 223.

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für unbeachtlich erklärten. Diese Klausel hielt der BGH wie ausgeführt nicht für kontrollfähig. Zutreffend weist das Urteil darauf hin, dass Katalogangaben nichts weiter als eine Aufforderung zur Abgabe von Angeboten enthalten. Die erste gezielt auf den Vertragsschluss gerichtete Willenserklärung (Angebot) liegt im Regelfall in der Bestellung des Kunden. Dieses Angebot nimmt der Katalogherausgeber dann durch Versand des gewünschten Artikels oder durch eine „Auftragsbestätigung“ an. Doch folgt aus dieser Art des Vertragsschlusses keineswegs, dass die Katalogangaben für die Bestimmung des Vertragsinhalts irrelevant wären. In der Praxis – und eben auch in dem der Unterlassungsklage zu Grunde liegenden Fall – wird der Besteller davon ausgehen, dass die Hinweise verbindlich sind – womit er nach einer Bestellung, jedenfalls wenn er das übliche vorgedruckte Angebotsformular nutzt18, ja auch richtig liegt. Denn sein Angebot ist auf dem Hintergrund des Katalogs zu verstehen. Der Kunde bestellt zu den dort genannten Bedingungen die aufgeführten Artikel. Und genau zu diesem Angebot des Kunden erklärt der Katalogherausgeber sein Einverständnis. Daher steht auch außer Zweifel, dass nach Vertragsschluss Katalogangaben als Allgemeine Geschäftsbedingungen zu verstehen sind19. Dass es sich irgendwann einmal um eine Aufforderung zur Abgabe von Angeboten gehandelt hat, interessiert dann nicht mehr. Sollte es nicht zum Vertragsschluss kommen (etwa weil der Verkäufer eine andere als die bestellte Ware versendet und daher lediglich gemäß § 150 Abs. 2 BGB ein neues Angebot abgibt), ändert dies nichts daran, dass AGB vorliegen! Denn auch einseitige Erklärungen des Verwenders können – wie geklärt – AGB sein. Gleich zu entscheiden wäre etwa bei einem Plakat, das für eine Veranstaltung wirbt und neben der Verkaufsstelle aushängt. Zwar enthält auch ein Plakat nichts weiter als eine Aufforderung zur Abgabe von Angeboten. Nach Vertragsschluss ist der Vertragsinhalt aber auf diesem Hintergrund zu ermitteln und daher eine Klausel, die dem Veranstalter beispielsweise Änderungen der Veranstaltung offen hält, an § 308 Nr. 4 BGB zu messen. Damit scheint die Gefahr zu bestehen, dass eine große Anzahl von vorformulierten Texten als Allgemeine Geschäftsbedingungen zu verstehen und damit gegebenenfalls der Kontrolle zu unterwerfen wären. Denn viele Texte können für den Vertragsinhalt relevant werden. Zu denken ist insbesondere an die Werbung. Für Kaufverträge bestimmt § 434 Abs. 1 Satz 3 BGB ja sogar explizit, dass die Beschaffenheitsvereinbarung in Bezug auf die Kaufsache im Lichte der Werbung verstanden werden soll. Das führt zu der Frage, ob auch diese Texte jedenfalls nach Vertragsschluss als Allgemeine Geschäftsbedingungen zu verstehen sind.

__________ 18 BGH, NJW 2005, 3567, 3568 (Internetversandhandel); Ulmer (Fn. 9), § 305 BGB Rz. 132. 19 Ausdrücklich Kollmann (Fn. 7), § 305 BGB Rz. 5; ohne Einschränkung auf die Zeit nach Vertragsabschluss Ulmer (Fn. 9), § 305 BGB Rz. 11a.

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Was sind Vertragsbedingungen im Sinne von § 305 BGB?

Für die meisten Werbetexte lässt sich dies ohne weiteres verneinen. Sie enthalten keine ernsthaften Angaben, sondern sind nichts weiter als Anpreisungen und offensichtliche Übertreibungen („endlos haltbar“, „der Mercedes unter den Rasierern“)20 und werden auch so von den Adressaten verstanden. Ihr Ziel ist es nicht, die geschuldete Leistung zu definieren. Gerade im Anwendungsbereich von § 434 Abs. 1 Satz 3 BGB ist dies allgemein anerkannt. Demgemäß sind die genannten Anpreisungen für die Festlegung der geschuldeten Leistung irrelevant21. Bei präzisen Aussagen (PKW verbraucht 6l / 100km) ist dies klar anders. Aber auch insoweit stellt sich regelmäßig die Frage, ob dies Vertragsbedingungen im Sinne von § 305 BGB sind, nicht. Denn Werbung zielt darauf ab, das Produkt in einem möglichst positiven Licht darzustellen, nicht aber – wie üblicherweise Allgemeine Geschäftsbedingungen – die Rechtstellung des Adressaten zu verkürzen. Daher ist auch der in Bezug auf die Sonderregeln der Allgemeinen Geschäftsbedingungen ganz im Vordergrund stehende Aspekt des Verbraucherschutzes insoweit nicht einschlägig. Allenfalls die Unklarheitenregel (§ 305c Abs. 2 BGB) könnte relevant werden, wobei – wie gesagt – gerade unklare Äußerungen im Bereich der Werbung zur Folge haben, dass sie als bloße Anpreisungen verstanden werden und daher als rechtlich nicht relevant anzusehen sind. Auch bleibt zu bedenken, dass sich die Inhaltskontrolle gegen den Verwender richtet. Sind die AGB von Dritten aufgestellt, so setzt dies voraus, dass sich die Vertragspartei die Klauseln zurechnen lassen muss22. 2. Die Unterlassungsklage Gemäß § 1 UKlaG kann der Verwender unwirksamer Allgemeiner Geschäftsbedingungen auf Unterlassung in Anspruch genommen werden. In dem eingangs geschilderten Urteil des BGH zu Prospektangaben heißt es, der genannten Änderungs- und Irrtumsklausel sei wettbewerbsrechtlich zu begegnen. In der Tat könnte man daran denken, Allgemeine Geschäftsbedingungen, die zugleich Werbung sind, aus dem Anwendungsbereich von § 1 UKlaG herauszunehmen und die Betroffenen auf den Rechtsschutz des UWG zu verweisen. Dies setzt allerdings voraus, dass man genau sagen kann, was Werbung ist und folglich allein an Hand des UWG zu messen wäre. Diese Abgrenzung ist meines Erachtens nicht zu leisten, da alle Vertragsbedingungen auch zur Werbung genutzt werden können. Hinzu kommt, dass eine solche Sonderbehandlung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die zugleich Werbung sind, auch nicht gerechtfertigt wäre. Denn letztlich bereitet

__________ 20 Beispiele bei Faust in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 434 BGB Rz. 83, der die Aussage, der Mercedes unter den Rasierern für konkret genug hält; Beispiele auch bei Grunewald in Erman, 12. Aufl. 2008, § 434 BGB Rz. 24. 21 Grunewald (Fn. 20), § 434 BGB Rz. 24; Westermann in MünchKomm.BGB, 5. Aufl., § 434 BGB Rz. 22. 22 BGH, NJW 1994, 2825, 2826; Schlosser (Fn. 2), § 305 BGB Rz. 28.

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Barbara Grunewald

die Eröffnung beider Rechtsschutzmöglichkeiten, sowohl nach den Regeln des UWG wie auch nach den Regeln des UKlaG, keine unlösbaren Probleme. Demgemäß entspricht es der h. M., dass beide Normenkomplexe nebeneinander zur Anwendung kommen23. 3. Lösung des Ausgangsfalls Wie dargelegt steht allein die Tatsache, dass die vorformulierte Klausel in einem Versandkatalog enthalten war, der Annahme, es handle sich um eine Vertragsbedingung im Sinne von § 305 Abs. 1 BGB, nicht entgegen. Somit ist die Klausel entgegen der Annahme des BGH einer Inhaltskontrolle zu unterziehen. Der BGH hat in seinem Urteil auch ausgeführt, dass die Klausel auch inhaltlich nicht zu beanstanden sei, da sie nur das wiederhole, was sowieso gelte, nämlich dass der Katalogherausgeber vor Annahme eines Angebots des Kunden nicht an die Katalogangaben gebunden sei. Ob die Klausel von den Kunden wirklich so verstanden wird, erscheint aber eher fraglich. Im Möbelhandel finden sich beispielsweise ganz ähnliche Klauseln (sog. Abweichungsklauseln24), die allgemein als Leistungsbeschreibung verstanden werden. Der BGH hat die Klausel: „Sollte ein bestimmter Artikel nicht lieferbar sein, senden wir Ihnen in Einzelfällen einen qualitativ und preislich gleichwertigen Artikel (Ersatzartikel) zu“ selbst dahingehend verstanden, dass der Verwender es sich vorbehalte, einen Ersatzartikel als vertragsgemäße Leistung zu liefern25. Nun lagen in dem Fall einige Besonderheiten vor: Die Klausel fand sich unter der Rubrik „Gewährleistung“ und war mit einem Rückgaberecht des Kunden, das innerhalb von 14 Tagen auszuüben war, verbunden. Aber die Grundaussage, dass jedenfalls bei der im Unterlassungsklageverfahren gebotenen kundenfeindlichsten Auslegung (§ 305c Abs. 2 BGB) die Klausel auch so verstanden werden kann, dass Änderungen auch nach Vertragsschluss hinzunehmen seien, gilt auch im Katalogfall26. Das hat zur Folge, dass § 308 Nr. 4 BGB eingreift. Der in Folge dessen vorzunehmenden Interessenabwägung hält die Klausel schon deshalb nicht stand, weil kein Interesse des Verwenders erkennbar ist, das zur Gestattung noch nicht einmal näher spezifizierter Änderungen führen könnte27. Sollte es dagegen auf Grund der Zusendung einer anderen als der bestellten Ware nicht zum Vertragsschluss gekommen sein, scheitert die Klausel an

__________ 23 Hensen in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 10. Aufl., § 1 UKlaG Rz. 2; von Westphalen, NJW 2009, 2355, 2356. 24 Dammann in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 5. Aufl., M 161; H. Schmidt in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 10. Aufl., § 308 Nr. 6 BGB. 25 NJW 2005, 3567, 3568, dazu von Westphalen, NJW 2006, 2228, 2231. 26 Allerdings war auch die Vorinstanz OLG Hamm, WM 2008, 499 zu der Annahme gelangt, die Klausel beziehe sich nur auf den vorvertraglichen Bereich. 27 S. zu der generell restriktiven Auslegung von § 308 Nr. 4 BGB H. Schmidt (Fn. 23), § 308 Nr. 4 BGB Rz. 9.

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Was sind Vertragsbedingungen im Sinne von § 305 BGB?

§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB (Transparenzgebot)28. Denn sie erweckt den Eindruck, dass ein Vertrag bereits geschlossen und der Kunde daher zur Abnahme der Ware verpflichtet sei.

V. Zusammenfassung 1. Absprachen über vorvertragliche Schuldverhältnisse, einseitige Erklärungen des Verwenders und des Adressaten sowie Katalogangaben können Vertragsbedingungen im Sinne von § 305 Abs. 1 BGB sein. 2. Irrtums- und Änderungsklauseln im Versandhandel unterliegen der Inhaltskontrolle.

__________ 28 Für diesen Hinweis danke ich Wiss. Mit. Anja Käunicke.

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Jürgen Gündisch

Sprache und Stil der europäischen Rechtsetzung zum Verbraucherschutz Inhaltsübersicht I. Sprache und Stil des Jubilars II. Das Ziel der EU: Verbesserung der Rechtsetzung

III. Die Verwirklichung im Verbraucherschutzrecht IV. Sprache und Stil im Vorschlag einer neuen Verbraucherschutzrichtlinie

I. Sprache und Stil des Jubilars Graf von Westphalen ist Rechtsanwalt und Wissenschaftler. Er ist aber mehr, nämlich Journalist und Philosoph mit Zügen ins Theologische. Die journalistische Ader wird schon an seinem Lebenslauf deutlich. Während seines Studiums in Washington, D.C., berichtete er nebenbei als Auslandskorrespondent für den Rheinischen Merkur. Nach Ende seiner juristischen Ausbildung war er zunächst bei dieser Zeitung außenpolitischer Redakteur, zog dann aber hauptberuflich die Juristerei vor und wurde Syndikus in der Industrie1. Schon das zeigt seine Vielseitigkeit. Vielseitig war der Jubilar aber auch bei seiner juristischen Arbeit. Sein erster Tätigkeitsschwerpunkt war das Produkthaftungsrecht. Es folgten Veröffentlichungen und Mandate zum Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, zur Bankgarantie im internationalen Handelsverkehr und vor allem eine vielfältige Befassung mit dem Verbraucherschutzrecht, dem Generalthema dieser Festschrift. Neben diesen speziellen Problemen äußerte sich Westphalen aber immer wieder zu allgemeinen Fragen des Rechts und des anwaltlichen Berufs einschließlich seiner europarechtlichen und internationalen Bezüge. Als einige Beispiele seien genannt „Der Mensch im Recht – nur ein Verbraucher?“2, „Vom Bild des Menschen im Recht“3 und „Recht und Macht – ein Zwischenruf“4. In einem Aufsatz „Wie viel Einheitlichkeit braucht das Recht?“5 betonte er, dass die Rechtssprache Teil der kulturellen Identität sei und beklagte das Vordringen der englischen Sprache in grenzüberschreitenden Verträgen. Die Bedeutung der Sprache, hier der freien Rede, war auch Thema seines kritischen Beitrages „Der Fluch der Technik“6. Die Bedeutung des europäischen Rechts,

__________ 1 2 3 4 5 6

Pöllath/Saenger (Hrsg.), Wirtschaftsanwälte in Deutschland, 2009, 234. ZIP 2002, 1327. AnwBl. 2003, 665. AnwBl. 2006, 257. AnwBl. 2005, 21. NJW 2000, 1161.

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Jürgen Gündisch

vor allem mit Blick auf das Verbraucherschutzrecht, stellte er, ebenfalls kritisch, in seinem umfangreichen Aufsatz „Auslegung von Gesetzen. Vom nationalen zum Europäischen Privatrecht“ dar7. Dass seine eigenen Arbeiten angesichts dieser seiner Grundauffassung und seiner journalistische Erfahrung in einer hervorstechend klaren und gleichzeitig lebendigen Sprache verfasst sind, zeigt schon ein kurzer Blick in sein umfangreiches oeuvre. Angesichts dieser Liebe des Jubilars zur Sprache und der Erfahrungen des Autors mit dem Europarecht8 erscheint es angebracht, die europäische Rechtsetzung zum Verbraucherrecht nicht nach inhaltlichen Kriterien, sondern im Blick auf Stil und Sprache zu untersuchen. Denn Sprache und Stil sind für das Verständnis des Rechts und damit für seine Akzeptanz und Durchsetzung von herausragender Bedeutung. Es geht im Folgenden also um die formellen Aspekte der europäischen Rechtsetzung auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes.

II. Das Ziel der EU: Verbesserung der Rechtsetzung Generell war diese formelle Qualität der Rechtsetzung seit vielen Jahren Gegenstand der Aktivitäten der Institutionen der EU, aber auch der Diskussionen in den Mitgliedstaaten. 1. Zunächst ist im Rahmen unseres europarechtlichen Themas zu fragen, ob es im Hinblick auf die formelle Qualität der Rechtsetzung in der Europäischen Union besondere Aspekte gibt, die diese von der Qualität in den Mitgliedstaaten unterscheidet. Der mit europäischen Rechtsnormen seit Jahrzehnten Befasste kann sagen: So unklar nationale Gesetze heutzutage häufig sind, so wird dieser Mangel von den Verordnungen und Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft bei weitem übertroffen. Das wird am besten mit einem Zitat von Generalanwalt Manzini in seinen Schlussanträgen vor dem Europäischen Gerichtshof charakterisiert: „Ich bezweifle, dass Marguerite Yourcenar oder Graham Greene bereit wären, sich jeden Morgen, pour prendre le ton, ein paar Rechtsakte der Gemeinschaft durchzulesen, wie Stendhal das mit den Artikeln des Code civil tat. Ich will damit sagen, dass ich zwar die Weisheit des Gemeinschaftsgesetzgebers bewundere, jedoch nicht seine schludrige und allzu oft ungenaue Sprache“9.

Was sind die Gründe für diese „ungenaue Sprache“, die über die nationalen Mängel in der formellen Qualität der Rechtsetzung hinausgeht? Hier ist zuerst die Vielsprachigkeit zu nennen. 25 Amtssprachen erfordern nicht nur eine genaue Übersetzungsarbeit, sie repräsentieren auch Sprachkulturen und sprachliche Stile, die schwer zu vereinheitlichen sind. Für die Verfasser der Entwürfe, vor allem bei Spezialmaterien, ist die zu verwendende Sprache häufig nicht ihre Muttersprache. Wenn klare Gesetzestexte schon in der eigenen Sprache

__________

7 AnwBl. 2008, 1. 8 Vgl. insbesondere Gündisch/Mathijsen, „Rechtsetzung und Interessenvertretung in der Europäischen Union“, 1999. 9 EuGH v. 28.3.1985 – Rs. 100/84 (Kommission / Vereinigtes Königreich), Slg. 1985, 1169, 1173.

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Sprache und Stil der europäischen Rechtsetzung zum Verbraucherschutz

eine hohe Kunst sind, so wird diese Kunst in einer Fremdsprache zu einem Kunststück. Eine weitere Schwierigkeit liegt in den vielen Beteiligten des europäischen Rechtsetzungsprozesses. Zwar werden auch nationale Gesetze nicht von einem einzigen Gesetzgeber geschaffen, sondern von einer Gesetzgeber-Versammlung, dem Parlament, teilweise unter der Beteiligung anderer (wie z. B. dem Bundesrat in Deutschland und des Senats in den USA). Aber die Vielfalt und die Divergenzen sind in der Europäischen Union wesentlich größer. Das gilt vor allem für den Rat mit seinen aus den Mitgliedstaaten entsandten Beamten und in immer stärkerem Maße auch für das Parlament. Mit dieser Vielfalt der nationalen und politischen Kräfte hängt die Tendenz zum Kompromiss zusammen, ohne den häufig keine Entscheidung getroffen werden könnte. Das ist zwar im Prinzip zu begrüßen. Der Kompromiss bringt aber häufig Unklarheit mit sich. Die Versuchung ist groß, sachlich nicht zu beseitigende Unklarheiten durch mehrdeutige Formulierungen zu überdecken. 2. Die europäischen Institutionen haben diese Mängel und Schwierigkeiten schon lange erkannt und sich um Abhilfe bemüht. Der Europäische Rat hat sich auf der Regierungskonferenz von Edinburgh im Dezember 1992 mit dem Thema befasst und konkrete Maßnahmen für eine einfachere und klarere Rechtsetzung verlangt. Auf Grund dessen hat dann der Ministerrat im Juni 1993 eine Entschließung über die redaktionelle Qualität der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften erlassen10, in der er zehn Leitlinien für die Abfassung von Rechtsakten aufstellte. Darin heißt es u. a.: – der Rechtsakt soll einfach, kurz und unzweideutig abgefasst sein; – Verweise auf andere Texte und Querverweise sollen vermieden werden; – für einen bestimmten Gedanken soll stets derselbe Begriff verwendet werden; – Wünsche und politische Erklärungen sollten vermieden werden. Die Kürze und Klarheit dieser Leitlinien ist bemerkenswert. Sie waren aber nur eine Entschließung des Rates, nicht auch der anderen an der Rechtsetzung beteiligten Organe, also auch von Rat und Parlament. So war es ein Fortschritt, dass am 22.12.1998 in Form einer interinstitutionellen Vereinbarung Gemeinsame Leitlinien für die redaktionelle Qualität der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften aufgestellt wurden11. Allerdings: Die Gemeinsamen Leitlinien sind erheblich länger und komplizierter, als die Entschließung des Rates fünf Jahre zuvor. Statt der „Zehn Gebote“ wurden es nun 22 Leitlinien. Es genügte nicht mehr, zu sagen, „Verweise auf andere Texte und Querverweise sollten vermieden werden“, sondern hieß: „Bezugnahmen auf andere Akte sollten so weit wie möglich vermieden werden. Wenn eine Bezugnahme erfolgt, so wird der Akt oder die Bestimmung, auf den bzw. die verwiesen wird, genau bezeichnet. Überkreuzverweise (Bezugnahmen auf einen Akt oder einen Artikel, der wiederum auf die Ausgangsbestimmung verweist), und Bezug-

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10 ABl. (EG) Nr. C 166/1 v. 17.6.1993. 11 ABl. (EG) Nr. C 73/1 v. 17.3.1999.

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Jürgen Gündisch

nahmen in Kaskadenform, (Bezugnahme auf eine Bestimmung, die wiederum auf eine andere Bestimmung verweist), sind ebenfalls zu vermeiden.“ Wahrhaft kein Vorbild und kein Ansporn für klare und kurze Regelungen! Diesen Leitlinien folgte ein Gemeinsamer Leitfaden des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission vom 16.12.2000, mit einer letzten Aktualisierung am 4.8.200312. Er ist ein dickes Kompendium mit 22 Abschnitten und unzähligen Punkten und Unterpunkten. Da er „für Personen, die in den Gemeinschaftsorganen an der Abfassung von Rechtstexten mitwirken“, bestimmt ist, ist dagegen an sich nichts einzuwenden. Allerdings fragt man sich bei manchen Bestimmungen des Leitfadens, welche intellektuelle und sprachliche Kompetenz die Verfasser den Beamten der EU und den Abgeordneten des Parlaments zutrauen. Muss man wirklich anordnen: „Auf Jargon und Modeworte oder lateinische Ausdrücke, die vom juristischen Sprachgebrauch abweichend verwendet werden, ist zu verzichten“? Vor allem ist aber zu fragen, ob die vielen guten Anweisungen und Ratschläge des Leitfadens auch von den Beamten und Abgeordneten der Europäischen Union bei den von ihnen initiierten und verabschiedeten Rechtsetzungsverfahren befolgt wurden, was später an Hand des Verbraucherschutzrechts untersucht werden soll. 3. Insbesondere die Kommission bemühte sich in den folgenden Jahren um eine Verbesserung der Rechtsetzung in der Europäischen Union. In Mitteilungen an Rat, Parlament, Wirtschafts- und Sozialausschuss und Ausschuss der Regionen veröffentlichte sie 2006, 2008 und 2009 „Strategische“ Überlegungen zu diesem Thema13. Die ersten „Strategischen Überlegungen zur Verbesserung der Rechtsetzung in der Europäischen Union“ beginnen mit dem Satz: „Rechts- und Verwaltungsvorschriften sind für einen wettbewerbsfähigen Markt mit fairen Bedingungen, den Wohlstand der Bürger sowie den wirksamen Schutz der öffentlichen Gesundheit und der Umwelt von grundsätzlicher Bedeutung. Bessere Rechtsetzung zielt darauf ab, bei möglichst geringen Kosten größtmögliche Wirkung zu entfalten.“

Das ist eine im Wesentlichen ökonomische Sicht, die auch an anderen Stellen der Mitteilungen der Kommission wiederkehrt. Auf den gegenwärtig und auch schon vor drei Jahren diskutierten Aspekt der mangelnden Akzeptanz der Europäischen Union bei den Bürgern in den Mitgliedstaaten wird nicht eingegangen. Auch die als Priorität genannte Einsetzung eines Ausschusses für Folgenabschätzung stellt primär auf die finanziellen Folgen ab. Wenn dann von Rat und Parlament eine „höhere Priorität für die Behandlung anhängiger Vereinfachungsvorschläge, Kodifizierung und Aufhebung von überholten Rechtsvorschriften“ verlangt wird, so zeigt das einerseits eine gewisse Rivalität zwischen den obersten Organen der Union, die sicher nicht zu einer besseren Rechtsetzung beiträgt, andererseits aber die Erkenntnis, dass Vereinfachung und Systematisierung für das Verständnis des Rechts von großer Bedeutung sind. Bei der so genannten Kodifizierung werden die Bestimmungen eines Rechtsaktes mit allen späteren Änderungen in einem einzigen Rechtsakt zu-

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12 http://eur-lex.europa.eu/de/techleg/index.htm. 13 KOM(2006) 689 endgültig; KOM(2008) 32 endgültig; KOM(2009) 15 endgültig.

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Sprache und Stil der europäischen Rechtsetzung zum Verbraucherschutz

sammengefasst. So rühmt sich die Kommission ihres Kodifizierungsprogramms für 500 Rechtsakte, von dem allerdings 2006 erst 85 Vorschläge vorgelegt worden waren. In ihren Dritten Strategischen Überlegungen vom 28.1.2009 berichtet die Kommission schließlich, dass sie die Kodifizierung von 229 von insgesamt 436 Rechtsakten abgeschlossen habe, wovon immerhin 142 verabschiedet waren. Durch Vereinfachung und Kodifizierung habe die Kommission – und damit auch Rat und Parlament – eine Verringerung des gemeinschaftlichen Besitzstandes um fast 10 % oder 1.300 Rechtsakte und 7.800 Amtsblattseiten bewirkt. Es ist leicht zu errechnen, wie viele Rechtsakte und Amtsblattseiten jetzt noch übrig bleiben. Als Beispiel für klarere und zugänglichere Rechtsvorschriften wird der Vorschlag für eine Richtlinie über die Rechte der Verbraucher genannt, mit der vier bestehende Richtlinien zu einem Regelwerk vollständig harmonisierter Vorschriften zusammengefasst werden. In einer vollständigen Harmonisierung mitgliedstaatlicher Vorschriften sieht offenbar die Kommission schon eine Vereinfachung im Sinne einer besseren Rechtsetzung, „denn es ist wesentlich einfacher und wirksamer, in allen Mitgliedstaaten eine gemeinsame Vorschrift anzuwenden, als in einem komplizierten Geflecht unterschiedlicher Regelungen aus nationaler und regionaler Ebene zu agieren“14. Dass Recht in nationalen Traditionen gewachsen und in jeweils einen nationalen Kontext eingebettet ist, wird dabei ausgeblendet Neben den dargestellten, recht hochgestochenen „Strategischen Überlegungen“ hat sich die Kommission bemüht, ihre Vorstellungen über eine bessere Rechtsetzung auch in einfacherer, klarerer Sprache, sozusagen für das Volk, den europäischen Bürger, Unternehmer und Verbraucher, zu veröffentlichen. In der Broschüre „Bessere Rechtsetzung – einfach erklärt15. ist ihr das weitgehend gelungen. Kommissionspräsident Barroso erklärt im Vorwort, eine bessere Rechtsetzung zähle zu den „obersten Prioritäten“ seiner Kommission. Die Broschüre wendet sich gegen den Vorwurf, Brüssel sei gleichzusetzen mit Normenflut und Bürokratie. Die Wirklichkeit sehe ganz anders aus, ohne dass dafür allerdings eine Begründung gegeben wird. Mit gewissem Stolz wird betont, dass in den meisten Politikfeldern die Kommission vorschlage, wie eine Politik gestaltet und rechtlich umgesetzt werden sollte. Das trifft zu, führt aber zu dem berechtigten Vorwurf eines Demokratie-Defizits in Europa und zu Akzeptanz-Hemmungen. Durch den Lissabon-Vertrag ist das geändert worden. In der Broschüre wird auch das vertraglich verankerte Prinzip der „Subsidiarität“ genannt, ohne es näher zu erläutern. Stattdessen heißt es, gelte in allen Mitgliedstaaten eine einzige – europäische – Vorschrift, so sei dies wesentlich einfacher und effizienter, als ein unüberschaubares Netz nationaler und regionaler Regeln. Mit dieser These könnte man eine völlige Vereinheitlichung des Rechts in ganz Europa rechtfertigen, von Subsidiarität keine Spur. Was mitunter als „Brüsseler Bürokratie“ bezeichnet werde, habe in Wirklichkeit seine Ursache in nationalen Gesetzen. Das liege an den Richtlinien, in

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14 Erste Strategische Überlegungen, a. a. O., S. 3 f. 15 http://ec.europa.eu/governance/better_regulation/brochure_en.htm.

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denen nur Zielvorgaben festgelegt würden, Einzelheiten könnten die Mitgliedstaaten regeln. Leider sind Richtlinien häufig so detailliert, dass den nationalen Gesetzgebern, den Parlamenten, kaum mehr ein Spielraum verbleibt. Nationale Traditionen und mitgliedstaatliche Demokratie werden verdrängt. Die Kommission anerkennt sodann in ihrer Broschüre zur „Besseren Rechtsetzung“, dass Vorschriften mit finanziellen Kosten für Unternehmen, Bürger und Behörden verbunden sind, ob es nun darum gehe, Informationen bereitzustellen, Produkte zu kennzeichnen oder Überwachungs- und Berichterstattungspflichten nachzukommen. Dazu habe die Kommission eine Methode zur Messung von Verwaltungskosten entwickelt. Wie steht es aber mit den Kosten für den Bürger, insbesondere Unternehmer und Verbraucher? Erfreulich ist, dass am Ende der Broschüre das Vereinfachen und die Aufhebung von Vorschriften behandelt werden. Mitunter würden Rechtsvorschriften im Zuge der Marktentwicklung überflüssig und müssten aufgehoben werden. Als Beispiel wird die Richtlinie zur Klassifizierung von Holz genannt, in der Holzqualität, Knotengröße und der Durchmesser von Rohholz festgelegt waren. Meint die Kommission, dass eine derartige Richtlinie bei ihrem Erlass wirklich notwendig, verhältnismäßig und dem Subsidiaritätsprinzip entsprechend war? Beim Thema Kodifizierung wird eine Richtlinie für Kosmetika erwähnt, mit der sage und schreibe 45 einzelne Rechtsakte verschmolzen wurden. Hätte man mit einer solchen Flut von Rechtsakten nicht warten können und müssen, bis die Zeit für eine umfassende Rechtsetzung gekommen war? Die Broschüre schließt mit einem Appell zum gemeinsamen Handeln an das Europäische Parlament, den Ministerrat und die Mitgliedstaaten sowie der Feststellung: „Gute Rechtsvorschriften zu konzipieren, ist schwer.“ Wie wahr! 4. Zu unserem Thema des Verbraucherschutzes hat die Kommission im Jahre 2007 ein Grünbuch mit dem Titel „Die Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstandes im Verbraucherschutz“16 vorgelegt, in dem sie auch ihre gesetzgeberischen Absichten recht offen darlegte. Darin wird als Ziel der Überprüfung „die Verwirklichung eines echten Binnenmarktes für Verbraucher mit einem möglichst ausgewogenen Verhältnis zwischen einem hohen Verbraucherschutzniveau und wettbewerbsfähigen Unternehmen unter gleichzeitiger strenger Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips“ genannt. Es müsse sichergestellt werden, dass die Wirtschaft – nicht zuletzt die kleinen und mittleren Unternehmen – von „unkomplizierten EU-Vorschriften profitieren können …“. Die Überprüfung des acquis communotaire gebe eine einmalige Gelegenheit, die bisherigen Richtlinien zum Verbraucherschutz zu modernisieren und das „Regelungsumfeld“ (warum nicht die Rechtsnormen selbst?) „sowohl für den Handel als auch für den Endverbraucher zu vereinfachen und zu verbessern und ggf. den Schutz, der Verbrauchern gewährt wird, zu erweitern.“ Zur bisherigen Verbraucherschutzrechtsetzung heißt es: „Die meisten Richtlinien, die Teil des gemeinschaftlichen Besitzstandes im Verbraucherschutz sind, sind eher präskriptiver Art als grundsatzorientiert.“ Ein längerer Abschnitt wird der Rechtszersplitterung gewidmet. Einerseits räumten die

__________ 16 KOM(2006) 744 endgültig.

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Sprache und Stil der europäischen Rechtsetzung zum Verbraucherschutz

geltenden Richtlinien den Mitgliedstaaten die Möglichkeit ein, bei der Umsetzung in nationales Recht strengere Bestimmungen zu erlassen (Mindestharmonisierung). Von dieser Möglichkeit hätten viele Mitgliedstaaten um eines höheren Verbraucherschutzniveaus willen Gebrauch gemacht. Andererseits würden viele Aspekte in den Richtlinien uneinheitlich geregelt. Die von der Kommission gewünschte und angestrebte Harmonisierung wird dann mit statistischen Daten gestützt. So seien 43 % aller Einzelhandelsunternehmen in der EU der Meinung, dass eine Harmonisierung der Verbraucherschutzvorschriften sich positiv auf ihren Umsatz außerhalb ihres eigenen Landes auswirken dürfte. Ausführlich werden schließlich die möglichen Optionen für die Zukunft aufgezeigt. Option I: Vertikaler Ansatz, Option II: Kombinierter Ansatz und Option III: Nichts auf legislativem Gebiet unternehmen. Deutlich wird, dass die Kommission den Kombinierten Ansatz favorisiert. Gemeinsame Aspekte, wie z. B. die Definitionen für Grundbegriffe, wie Verbraucher oder Unternehmer, die Dauer der Widerrufsfrist oder die Modalitäten für die Ausübung des Rücktrittsrechts, könnten in einem horizontalen Rechtsinstrument gemeinsam geregelt werden. Damit könnten die bestehenden Verbraucherschutzrichtlinien ganz oder teilweise aufgehoben werden und der gemeinschaftliche Besitzstand vom Umfang her reduziert werden. Diese Überlegungen und Absichten dürften unstreitig sein. Harmonisierung, sachgerecht durchgeführt, trägt immer zu besserer Rechtsetzung bei. Problematischer sind die Äußerungen der Kommission in ihrem Grünbuch zum möglichen Geltungsbereich eines horizontalen Instruments. Soll es sowohl auf Geschäfte rein nationalen Umfangs als auch auf grenzüberschreitende Geschäfte angewandt werden? „Die Schaffung eines einzigen Instruments für sämtliche Arten von Verbraucherverträgen würde eine erhebliche Vereinfachung des Regelungsumfelds für Verbraucher wie auch für Wirtschaft und Handel bedeuten“ Die Alternative, die Einführung eines horizontalen Instruments ausschließlich für grenzüberschreitende Verträge, würde zwar das Vertrauen der Verbraucher in den grenzüberschreitenden Handel stärken, andererseits aber die Rechtszersplitterung erhöhen. Die Sympathie der Kommission für eine völlig einheitliche Regelung wird an ihren Ausführungen deutlich. Noch bedeutsamer sind die Ausführungen der Kommission zum Grad der Harmonisierung. Sie verweist auf die heutigen Verbraucherschutzrichtlinien, die auf dem Grundsatz der Mindestharmonisierung beruhen. Den Mitgliedstaaten ist darin nämlich gestattet, ein höheres Verbraucherschutzniveau festzulegen oder beizubehalten, als in der jeweiligen Richtlinie vorgesehen. Davon hätten viele Mitgliedstaaten Gebrauch gemacht. Das habe zur Folge, dass Verbraucher sich nicht sicher sein könnten, bei Einkäufen im Ausland genau so geschützt zu sein wie im Inland. Unternehmer würden durch unterschiedliche Standards möglicherweise davon abgehalten, ihre Produkte oder Dienstleistungen in ganz Europa anzubieten. Zur Lösung dieses Problems nennt die Kommission die Überarbeitung mit dem Ziel einer vollständigen Harmonisierung. Sie sieht und erwähnt auch, dass die Aufhebung von Regelungsmöglichkeiten der Mitgliedstaaten zur Folge haben könnte, „dass sich das Verbraucherschutzniveau in einigen Mitgliedstaaten ändern könnte“. Nicht erwähnt 245

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wird allerdings, dass eine solche Änderung nur auf ein niedrigeres Verbraucherschutzniveau möglich wäre, weil bislang den Mitgliedstaaten nur von der Richtlinie abweichende Regelungen für einen höheren Verbraucherschutz erlaubt waren. Wie Derartiges mit dem Subsidiaritätsprinzip und dem Ziel eines möglichst hohen Verbraucherschutzes zu vereinbaren wäre, wird nicht erläutert.

III. Die Verwirklichung im Verbraucherschutzrecht Wie haben sich die guten Vorsätze von Kommission, Rat und Parlament für eine bessere Rechtsetzung in den geltenden Verbraucherschutzrichtlinien niedergeschlagen? Was ist aus den Überlegungen der Kommission in ihrem Grünbuch zum Verbraucherschutz geworden? Die Sprache europäischer Verbraucherschutznormen soll zunächst anhand von vier gegenwärtig geltenden Richtlinien überprüft werden, und zwar der Richtlinie 85/577/EWG des Rates betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossener Verträge17, der Richtlinie 93/13/EWG des Rates über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen18, der Richtlinie 97/7 des Europäischen Parlaments und des Rates über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz19 und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter20. Zur Klarheit der Sprache gehört, dass dieselben Begriffe in den verschiedenen, zumindest in den verwandten Rechtsnormen gleich definiert werden. Das ist in den vier betrachteten Richtlinien bei dem wichtigsten Rechtsbegriff des Verbraucherschutzrechts, dem des Verbrauchers, fast vollständig gelungen. Dieser Begriff wird in der Richtlinie über außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossener Verträge definiert als „eine natürliche Person, die bei den von dieser Richtlinie erfassten Geschäften zu einem Zweck handelt, der nicht ihrer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit zugerechnet werden kann.“ Fast gleich lautend steht es in der Richtlinie 93/13 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, in der Fernabsatzrichtlinie 97/7/EG und in der Richtlinie 1999/44/EG betreffend den Verbrauchsgüterkauf. Diese gleiche Definition in vier verschiedene Rechtsnormen fordert eine einzige Definition in einer harmonisierten horizontalen Richtlinie geradezu heraus! Unterschiede gibt es allerdings schon bei dem Gegenüber, dem „Gewerbetreibenden“. In den zwei älteren Richtlinien wird mit gleichem Wortlaut definiert. In der Fernabsatzrichtlinie 97/7/EG ist dann aber vom „Lieferer“ die Rede, der aber gleichfalls als eine Person definiert wird, „die beim Abschluss von Verträgen im Sinne dieser Richtlinie im Rahmen ihrer gewerblichen Tätigkeit handelt“ (Art. 2 Nr. 4). In der Verbrauchsgüterrichtlinie schließlich erhält die gleiche

__________ 17 18 19 20

ABl. (EG) Nr. L372/31 v. 31.12.1985. ABl. (EG) Nr. L 95/29 v. 21.4.1993. ABl. (EG) Nr. L 144/19 v. 4.6.1977. ABl. (EG) Nr. L 171/12 v. 7.7.1999.

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Sprache und Stil der europäischen Rechtsetzung zum Verbraucherschutz

Person den Namen „Verkäufer“. Das zeigt, dass die Verbraucherschutzrichtlinien immer andere Teilgebiete eines im nationalen Recht einheitlichen Vertragsrechts sektoral regeln – ein Grundübel der europäischen Rechtssetzung, das sich in einem Staatenverbund allerdings kaum beseitigen lässt. Die sonstigen Formulierungen der untersuchten Rechtsnormen sind allerdings nicht von gleicher Kürze und Klarheit. Das sei an Art. 3 Abs. 2 der Verbraucherschutzrichtlinie für außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossene Verträge durch wörtliche Wiedergabe exemplifiziert: a) „Diese Richtlinie gilt nicht für Verträge über den Bau, den Verkauf und die Miete von Immobilien; Verträge über die Lieferung von Waren und ihre Einfügung in vorhandene Immobilien oder Verträge über die Reparatur bestehender Immobilien werden von dieser Richtlinie erfasst. b) Verträge über die Lieferung von Lebensmitteln oder Getränken oder sonstigen Haushaltsgegenständen des täglichen Bedarfs, die von ambulanten Einzelhändlern in kurzen Zeitabständen regelmäßig geliefert werden; c) Verträge über die Lieferung von Waren und die Erbringung von Dienstleistungen, vorausgesetzt, dass die drei folgenden Bedingungen erfüllt sind: i) … ii) … iii) …“ Insgesamt sind das 18 bis 20 Zeilen zur Kennzeichnung von Ausnahmen und Gegenausnahmen unter mehreren komplizierten Bedingungen! Welcher Verbraucher oder Händler soll sich da zurechtfinden? Ein Beispiel für eine unklare Leerformel ist Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/ EWG über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen: „Eine Vertragsklausel, die nicht im Einzelnen ausgehandelt wurde, ist als missbräuchlich anzusehen, wenn sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht.“

Diese umständliche Generalklausel wird auch nicht dadurch besser, dass in Art. 4 Abs. 1 – wiederum mit vielen Worten – auf die Umstände und den Gesamtzusammenhang abgestellt wird. Nicht genug der Kompliziertheit: In Art. 4 Abs. 2 folgt eine Ausnahme oder Einschränkung. „Die Beurteilung der Missbräuchlichkeit der Klauseln betrifft weder den Hauptgegenstand des Vertrages noch die Angemessenheit zwischen dem Preis bzw. dem Entgelt und den Dienstleistungen bzw. den Gütern, die die Gegenleistung darstellen, sofern diese Klauseln klar und verständlich abgefasst sind.“

Wieviel einfacher und klarer ist die Formulierung in § 307 Abs. 1 BGB in der seit dem 1.1.2002 geltenden Fassung, wo es heißt: „Die Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind wirksam, wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten nach Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. Eine Benachteiligung kann sich auch daraus ergeben, dass die Bestimmung nicht klar und verständlich ist.“ 247

Jürgen Gündisch

Genug der Beispiele. Die wenigen präsentierten zeigen zur Genüge, dass die vier gegenwärtigen Verbraucherschutzrichtlinien einer Überarbeitung und Verbesserung in Stil und Sprache bedürfen

IV. Sprache und Stil im Vorschlag einer neuen Verbraucherschutzrichtlinie 1. Ihre seit längerer Zeit geäußerte und in dem genannten Grünbuch konkret niedergelegte Absicht hat die Kommission in ihrem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Rechte der Verbraucher vom 8.10.2008 verwirklicht21. Mit der vorgeschlagenen Richtlinie sollen die vier oben untersuchten gegenwärtigen Verbraucherschutzrichtlinien kodifiziert und aufgehoben werden. Das ist, wie gesagt, im Sinne einer „besseren Rechtsetzung“ zu begrüßen. Nur: die Kommission schlägt umfangreiche Änderungen vor, die von dem bisherigen Konzept der europäischen Verbraucherschutz-Rechtsetzung abweichen. Vor allem soll der bisherige Grundsatz der Mindestharmonisierung, nach dem es den Mitgliedstaaten erlaubt ist, strengere Verbraucherschutzvorschriften beizubehalten oder einzuführen, aufgegeben und durch eine zwingende und einheitliche Vollharmonisierung ersetzt werden. Ehe aber auf diese grundsätzliche Problematik eingegangen wird, soll zunächst die Sprache des neuen Vorschlags untersucht werden. Ist sie knapper und klarer, als die jetzigen vier Verbraucherschutzrichtlinien? Schon der Umfang der neuen Richtlinie erweckt Zweifel daran, dass das Ziel der Vereinfachung und Kürzung mit dem Vorschlag der Kommission erreicht werden kann. Sie enthält 50 Artikel, während die gegenwärtigen und aufzuhebenden vier Verbraucherschutzrichtlinien nur geringfügig mehr, nämlich 52 Artikel umfassen. Dieser generelle Eindruck wird bei der Detailbetrachtung einzelner Vorschriften bestätigt. Bei der Definition des Verbraucherbegriffs kann man nicht viel falsch machen. Warum muss aber in Art. 2 Abs. 1 und 2 von der „gewerblichen, geschäftlichen, handwerklichen oder beruflichen Tätigkeit“ geschrieben werden, wo doch in den bisherigen Richtlinien zwei Charakteristika des Gewerbetreibenden genügen? Jedes überflüssige Wort ist von Übel! Die neun Zeilen lange Definition des einfachen Begriffes „außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossener Vertrag“ ist kein Muster sprachlicher Kürze. Die Ausnahmen vom Widerrufsrecht des Verbrauchers werden bei Fernabsatzverträgen von sechs auf acht erhöht, sind allerdings bei außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossenen Verträgen klarer gefasst, als in der gegenwärtig geltenden Richtlinie 85/577, die schon oben dargestellt und kritisiert worden ist. Es gibt also doch Fortschritte in der Sprache der Gesetze! Zusammenfassend lässt sich bei der Bewertung der sprachlichen Qualität und Kürze des Vorschlags der Kommission sagen, dass diese im Vergleich zu den

__________ 21 KOM(2008) 614 endgültig.

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Sprache und Stil der europäischen Rechtsetzung zum Verbraucherschutz

gegenwärtig geltenden vier Verbraucherschutzrichtlinien zwar eine Zusammenfassung, aber keine Straffung der Rechtsnormen darstellt. Sprachlich enthält sie zwar einige wenige Verbesserungen, aber auch Verschlechterungen und Komplizierungen. Eine bessere Rechtsetzung ist dadurch trotz der langen Vorarbeiten nicht erreicht worden, allenfalls ein Gleichstand. 2. Nach dieser formellen Betrachtung soll auf das grundsätzliche Problem des Geltungsumfangs und der Geltungskraft der vorgeschlagenen Richtlinie eingegangen werden. Dies ist zwar keine rein formelle, sondern auch eine materielle Frage, ihre Beantwortung ist aber für den Stil der europäischen Rechtsetzung, vor allem die Vorgehensweise der Kommission, von großer Bedeutung. Der wesentlichste Unterschied zu den gegenwärtigen vier Richtlinien liegt darin, wie es in den Erwägungsgründen heißt, dass der „den älteren Richtlinien zugrunde liegende Mindestharmonisierungsansatz, der es den Mitgliedstaaten erlaubte, strengere innerstaatliche Rechtsvorschriften aufrecht zu erhalten oder einzuführen, aufgegeben werden“ sollte. Wie ist das im Lichte der gegenwärtigen fachlichen Diskussion, aber auch der allgemeinen Stimmung der Bevölkerung zum europäischen Einigungsprozess, zu beurteilen? Der Vorschlag einer neuen Richtlinie wird auf Art. 95 EG-Vertrag gestützt, nicht auf den die Kompetenz zum Verbraucherschutz normierenden Art. 153 EG-Vertrag. Der Grund ist klar erkennbar. Die nach Art. 153 Abs. 4 i. V. m. Abs. 3 b. „beschlossenen Maßnahmen hindern die einzelnen Mitgliedstaaten nicht daran, strengere Schutzmaßnahmen beizubehalten oder zu ergreifen.“ Das ist bislang häufig geschehen, auch in Deutschland. Wir haben ein höheres Verbraucherschutzniveau, als in den gegenwärtigen Richtlinien der Gemeinschaft normiert. Art.153 Abs. 3 a. sieht demgegenüber vor, dass die Gemeinschaft zur Förderung des Verbraucherschutzes auch Maßnahmen „im Rahmen der Verwirklichung des Binnenmarktes nach Art. 95“ erlassen darf. Bei Anwendung dieses Artikels gilt das Recht der Mitgliedstaaten, strengere Verbraucherschutzvorschriften beizubehalten oder zu ergreifen, nicht. Art. 4 des Vorschlags der Kommission sieht in Ausnützung dieser Kompetenz vor: „Die Mitgliedstaaten dürfen keine von den Bestimmungen dieser Richtlinie abweichenden innerstaatlichen Rechtsvorschriften aufrecht erhalten oder einführen; dies gilt auch für strengere oder weniger strenge Rechtsvorschriften zur Gewährleistung eines anderen Verbraucherschutzniveaus.“

Begründet wird diese grundsätzliche Änderung der Geltungskraft des europäischen Verbraucherschutzrechts verständlicherweise mit Binnenmarkt-Überlegungen. In Nr. 3 der Erwägungsgründe des Kommissionsvorschlags heißt es, durch die gemeinschaftsweite vollständige Harmonisierung „wird es zur Beseitigung der sich aus der Rechtszersplitterung ergebenden Hindernisse auf diesem Gebiet kommen. Die betreffenden Hindernisse lassen sich nur durch die Einführung einheitlicher Rechtsvorschriften auf Gemeinschaftsebene abbauen. Darüber hinaus werden die Verbraucher in den Genuss eines hohen, einheitlichen Verbraucherschutzes in der gesamten Gemeinschaft kommen.“

Die Kommission versucht, mit dieser gewundenen Formulierung eine Abwägung, ja einen Gleichklang zwischen den Zielen des Binnenmarktes und des 249

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Verbraucherschutzes herzustellen. Am Ende der Erwägungsgründe heißt es in ähnlicher Weise, aber noch vollmundiger: „Da die Ziele dieser Richtlinie auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher besser auf Gemeinschaftsebene zu erreichen sind, kann die Gemeinschaft im Einklang mit dem in Art. 5 EG-Vertrag niedergelegten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Entsprechend dem in demselben Artikel genannten Verhältnismäßigkeitsprinzip geht diese Richtlinie nicht über das zur Beseitigung der Binnenmarkthindernisse und zur Gewährleistung eines hohen, einheitlichen Verbraucherschutzniveaus erforderliche Maß hinaus.“

Treffen diese pauschalen Behauptungen der Kommission zu? Sind ihre Begründungen ausreichend, um zu erreichen, dass ihr Paradigmawechsel zur Vollharmonisierung vor dem Europäischen Gerichtshof und notfalls vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben kann? Zur rechtlichen Begründung kommt es darauf an, ob die Vollharmonisierung tatsächlich erforderlich ist, um den Binnenmarkt zu vollenden. Fast ein Vierteljahrhundert lang, seit der Verbraucherschutzrichtlinie 85/577 vom 20.12.1985, schien das nicht notwendig. Außerdem: die vorgeschlagene Richtlinie soll nicht nur für grenzüberschreitende, sondern auch für innerstaatliche Verträge gelten. Wieso kann durch unterschiedliche Verbraucherschutzvorschriften in den Mitgliedstaaten bezüglich solcher lokaler Verträge der einheitliche Binnenmarkt gestört werden? Das Vertrauen der Verbraucher, das die Kommission häufig zitiert, wird dadurch nicht gestärkt. Im Gegenteil: der Verbraucher muss bei der Mehrzahl der Geschäfte, die er ja im Inland tätigt, auf sein ihm bekanntes nationales Recht verzichten und sich an ein neues, kompliziertes und überall zwingendes Recht gewöhnen. Das pauschale Argument der Beseitigung von Rechtszersplitterung reicht für eine derart weitgehende Vereinheitlichung eines wesentlichen Teiles des Privatrechts nicht aus. Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Tabakwerbungsurteil22 ausgeführt, wenn mit einer Maßnahme nicht reale Handelshemmnisse und spürbare Wettbewerbsverzerrungen auf dem Binnenmarkt beseitigt werden sollen und können, könne Art. 95 nicht als Kompetenzgrundlage herangezogen werden. Ein bloßer Verweis auf bestehende Unterschiede in nationalen Regelungen reiche nicht aus. Die „Rechtszersplitterung“ in den Mitgliedstaaten ist aber eines der Hauptargumente der Kommission für ihre Vollharmonisierung, wobei jedoch nicht betont wird, dass die Unterschiede der nationalen Rechtsordnungen nur in Richtung auf eine Erhöhung, nicht aber auch auf eine Verschlechterung des Verbraucherschutzniveaus gehen können. Damit kommen wir zum zweiten Gesichtspunkt, der dem Vorschlag der Kommission rechtlich und verbraucherpolitisch entgegengehalten werden kann und muss. Der Richtlinienvorschlag beinhaltet insgesamt eine Schlechterstellung des Verbrauchers, und zwar sowohl durch eine Absenkung des Schutzniveaus gegenüber den bisherigen Richtlinien, als auch durch die Beseitigung der Mög-

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22 EuGH v. 5.10.2000 – Rs. C-376/98 (Deutschland/Parlament und Rat), Slg. 2000, I-8419; EuGH v. 10.12.2002 – Rs. C-491/01 (The Queen / Secretary of State for Health), Slg. 2002, I-11453.

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Sprache und Stil der europäischen Rechtsetzung zum Verbraucherschutz

lichkeit strengerer Verbraucherschutzvorschriften in den Mitgliedstaaten. Wenn in den Erwägungsgründen des Richtlinienvorschlags immer wieder von einem hohen einheitlichen Verbraucherschutzniveau die Rede ist, so bestätigt sich das bei einer genauen Analyse nicht23. Ob eine derartige Verschlechterung mit dem in Art. 3 Abs. 1t. genannten Ziel der Gemeinschaft, einen Beitrag zur Verbesserung des Verbraucherschutzes zu leisten, zu vereinbaren ist, lässt sich bezweifeln. 3. Abschließend sollen die verfassungsrechtliche Problematik des Paradigmawechsels der Kommission in ihrem Richtlinien-Vorschlag im Lichte des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 30.6.2009 zum Lissabon-Vertrag24 und die Frage seiner Akzeptanz in der Bevölkerung kurz behandelt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil mehrfach die Bedeutung der „begrenzten Einzelermächtigung“ betont. Es hat zwar den Lissabon-Vertrag nach deutschem Verfassungsrecht gebilligt, aber für die Zukunft offenen und versteckten Kompetenzerweiterungen der Europäischen Union strenge Grenzen gezogen. Die Rechte der souveränen Mitgliedstaaten müssten gewahrt bleiben. So heißt es unter Nr. 249 des Urteils: „Die europäische Vereinigung auf der Grundlage einer Vertragsunion souveräner Staaten darf allerdings nicht so verwirklicht werden, dass in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt.“

Nachdem die Bedeutung des Prinzips der „begrenzten Einzelermächtigung“ hervorgehoben wird, heißt es an anderer Stelle (Nr. 251 des Urteils): „Darüber hinaus sollen materiell-rechtliche Schutzmechanismen, insbesondere Zuständigkeitsausübungsregeln, gewährleisten, dass die auf europäischer Ebene bestehenden Einzelermächtigungen in einer die mitgliedstaatlichen Zuständigkeiten schonenden Weise wahrgenommen werden. Dazu gehöre das Gebot, die nationale Identität der Mitgliedstaaten zu achten, der Grundsatz der Subsidiarität und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.“

Ohne dass in diesem kurzen Beitrag schon eine verfassungsrechtliche Beurteilung, gar ein Verdikt ausgesprochen werden kann, ist doch zu sagen: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (das zur Zeit der Vorarbeiten zum Richtlinien-Vorschlag der Kommission noch nicht existierte), sollte den europäischen Organen Veranlassung geben, die Richtigkeit, Durchsetzbarkeit und politische Weisheit des Paradigmawechsels im Vorschlag der Kommission noch einmal zu überdenken. Wahrt das Prinzip der Vollharmonisierung für grenzüberschreitende und rein inländische Geschäfte die nationale Identität der Mitgliedstaaten? Ist die Senkung des seit Jahrzehnten in vielen Staaten, so auch in Deutschland, bestehenden hohen Verbraucherschutzniveaus eine „schonende Weise“ der Wahrnehmung der europäischen Einzelermächtigungen? Das ist zu bezweifeln, denn Verbraucherschutzrecht ist ein wichtiger Teil

__________ 23 So Micklitz/Reich, Der Kommissionsvorschlag einer Richtlinie über „Rechte der Verbraucher“ oder: „Der Beginn einer neuen Ära …“, EuZW 2009, 279 ff. 24 2 BvE 2/08 u. a., NJW 2009, 2267.

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des gewachsenen nationalen Privatrechts und im Bewusstsein der Bürger tief verankert. Damit ist übergeleitet zum letzten Gesichtspunkt, dem der Akzeptanz des europäischen Rechts bei den Behörden, Gerichten und in der Bevölkerung der europäischen Mitgliedstaaten. Die europäische Einigungsbewegung trifft in den letzten Jahren – leider – auf zunehmende Skepsis. Die geringe Beteiligung bei der Wahl zum Europäischen Parlament ist ein Indiz dafür. Europäische Rechtsakte, so wichtig sie auch sind, werden als fremd empfunden. Das umso mehr, je mehr sie regulieren und je häufiger sie geändert werden. Zusammenfassung verschiedener und verwandter Normen ist gut. Der Richtlinienvorschlag der Kommission sieht aber keine Kodifizierung vor, sondern ist eine grundsätzliche Änderung zu Lasten der Mitgliedstaten. Das schwächt das Vertrauen in eine „gute Rechtsetzung“ der europäischen Instanzen und stärkt die Europa-Kritik. Auch hier gilt der alte Grundsatz: weniger wäre mehr. Das ist sicher auch die Auffassung von Friedrich Graf von Westphalen. In seinem eingangs genannten Aufsatz „Wie viel Einheitlichkeit braucht das Recht?“ (oben Fn. 5) betonte er: „Das Recht ist wesentlicher Teil der jeweils unterschiedlichen nationalen Kultur“. Mit ihr muss auch der europäische Gesetzgeber im Verbraucherschutzrecht schonend umgehen.

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Urteilsvertretendes Anerkenntnis und Verjährung Inhaltsübersicht I. Anknüpfungspunkt des urteilsvertretenden Anerkenntnisses II. Ursprung der Rechtsfigur III. Anwendungsbereich 1. Keine Sonderrechtsprechung zum Haftpflichtrecht 2. Typische Fallgestaltungen IV. Dogmatische Einordnung 1. Voraussetzungen eines deklaratorischen Schuldanerkenntnisses 2. Rechtsfolge des kausalen Schuldanerkenntnisses 3. Der Wille der Parteien, den Gläubiger freizustellen von der Verjährungseinrede V. Die Reichweite der Autonomie 1. Der Inhalt des § 225 BGB a. F. 2. Zulässigkeit mittelbarer Erschwerungen

VI. Rechtsvergleichung VII. Abgrenzung zu anderen Rechtsinstituten 1. Abgrenzung von § 205 BGB a) Wesensmerkmale von Stundung und Stillhalteabkommen b) Unterschiede zum urteilsvertretenden Anerkenntnis 2. Abgrenzung zu § 212 Abs. 1 Nr. 1 BGB a) Merkmale eines Anerkenntnisses b) Unterschiede zum urteilsvertretenden Anerkenntnis 3. Abgrenzung zur Verjährungserschwerung nach § 202 BGB a) Die von § 202 BGB erfassten Rechtsgeschäfte b) Unterschiede zum urteilsvertretenden Anerkenntnis VIII. Zusammenfassung

Die Vertragsparteien haben verschiedene Möglichkeiten, auf den Lauf der Verjährung einzuwirken. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang etwa Maßnahmen der Rechtsverfolgung (§ 204 ZPO), das Anerkenntnis (§ 212 BGB), die Vereinbarung eines Leistungsverweigerungsrechts (§ 205 BGB), schwebende Verhandlungen (§ 203 BGB) oder Verjährungsvereinbarungen i. S. des § 202 BGB. Neben diesen gesetzlichen Möglichkeiten hat die Rspr. die – ungeschriebene – Rechtsfigur des titel- bzw. urteilsvertretenden bzw. urteilsersetzenden Anerkenntnisses gestellt. Dieses Rechtsinstitut soll nachfolgend näher untersucht werden.

I. Anknüpfungspunkt des urteilsvertretenden Anerkenntnisses Die Rechtsfigur des urteilsvertretenden Anerkenntnisses wurde von dem BGH noch vor Inkrafttreten der Schuldrechtsreform entwickelt. Anknüpfungspunkt hierfür war der § 218 BGB a. F. (§ 197 Abs. 1 Nr. 3 BGB n. F.), wonach ein rechtskräftig festgestellter Anspruch in 30 Jahren verjährt, auch wenn er sonst einer an sich kürzeren Verjährung unterliegt. Einem rechtskräftig festgestell253

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ten Anspruch standen nach § 218 Satz 2 BGB a. F. (§ 197 Abs. 1 Nr. 4, 5 BGB n. F.) Ansprüche aus einem vollstreckbaren Vergleich, einer vollstreckbaren Urkunde sowie solche Ansprüche gleich, die durch die im Insolvenzverfahren erfolgte Feststellung vollstreckbar geworden sind. Über den Wortlaut hinaus hat der BGH im Wege der Rechtsfortbildung eine weitere Fallgruppe in den Anwendungsbereich des § 218 BGB a. F. einbezogen und einem rechtskräftig festgestellten Anspruch gleichgestellt, nämlich das urteilsvertretende Anerkenntnis. Auch dieses sollte die 30-jährige Verjährungsfrist auslösen.

II. Ursprung der Rechtsfigur Die „Rechtsfigur“ des urteilsersetzenden Anerkenntnisses hat der BGH erstmals in einer Entscheidung aus dem Jahr 1984 bemüht. Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der damals in der Ausbildung zum Fachingenieur stehende Kläger wurde am 29.8.1962 bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt. Die Ersatzpflicht des Beklagten für alle unfallbedingten Schäden des Klägers war außer Streit. Es kam dennoch zu langjährigen Verhandlungen mit dem Haftpflichtversicherer des Beklagten. Mit Schreiben vom 21.7.1970 hatte der Versicherer dem Kl. hinsichtlich des bis Januar 1970 geltend gemachten Schadens die Klageerhebung anheimgestellt, im übrigen aber in Nr. 4 des Schreibens besonders hervorgehoben: „Ein weitergehender materieller Zukunftsschaden wird dem Grund nach anerkannt“. Als der Kläger Letzteren dann später geltend machte, berief sich die Versicherung auf die Verjährung. Daraufhin erhob der Kläger am 11.6.1971 Klage.

In den Entscheidungsgründen führt der BGH hierzu aus1: „Das Schreiben des Haftpflichtversicherers vom7.1970 war … von der Absicht des Haftpflichtversicherers getragen, den Kl. hinsichtlich seiner Ersatzansprüche für den ihm ab Februar 1970 entstehenden Schaden materiellrechtlich so zu stellen, als ob er eine gerichtliche Feststellung der Ersatzpflicht des Bekl. erwirkt hätte. In dieser Weise hat der Kl. das Schreiben auch verstanden, wie sich aus seinem Vorbringen in der Klageschrift ergibt, dass sich in Anbetracht des Anerkenntnisses eine Feststellungsklage erübrige. Damit ist durch das Anerkenntnis und seine spätestens mit der Klageschrift erfolgte Annahme durch den Kl. eine vergleichsähnliche Vereinbarung zwischen den Parteien zustandegekommen, durch die der Kl. auf die Erlangung eines Feststellungsurteils und der Bekl. auf eine gerichtliche Feststellung der gegen ihn gerichteten Ersatzansprüche bezüglich des Zukunftsschadens verzichteten (vgl. BGH, NJW 1963, 2316 [2317]).

Im amtlichen Leitsatz fasst der BGH die vorstehenden Gedanken dann wie folgt zusammen: „Erteilt der Haftpflichtversicherer des Schädigers dem Geschädigten ein schriftliches Anerkenntnis, mit dem er dessen materiellen Zukunftsschaden dem Grunde nach anerkennt, um ihm eine Feststellungsklage zu ersparen, so kann das Anerkenntnis unter Umständen ein Feststellungsurteil über die Schadensersatzpflicht mit der Folge ersetzen, dass sich die Verjährung der Ersatzansprüche des Geschädigten für den Zukunftsschaden nach § 218 BGB [a. F.] richtet.“

__________ 1 BGH, NJW 1985, 791, 792.

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Urteilsvertretendes Anerkenntnis und Verjährung

In der Folgezeit hat der BGH2 – aber auch die obergerichtliche Rspr.3 – in einer Vielzahl von Fällen die „Rechtsfigur“ des urteilsvertretenden Anerkenntnisses immer wieder bestätigt.

III. Anwendungsbereich Typisch für die von der Rspr. entschiedenen Fälle ist zumeist, dass ein (Haftpflicht-)Versicherer des Schädigers dem Geschädigten ein schriftliches Anerkenntnis erteilt, mit dem er dessen materiellen Zukunftsschaden dem Grunde nach anerkennt4. Wenn ein solches Anerkenntnis – so der BGH – nach dem Willen der Parteien den Zweck hatte, dem Schädiger die Erhebung einer Feststellungsklage gegen den Haftpflichtversicherer (zwecks Verjährungsunterbrechung) zu ersparen, dann richtet sich die Verjährung aus einem solchen (urteilsvertretenden) Anerkenntnis nach § 218 BGB (a. F.)5. 1. Keine Sonderrechtsprechung zum Haftpflichtrecht Auch wenn die von der Rspr. entschiedenen Fälle zumeist dem „Haftpflichtrecht“ entstammen, wäre es falsch, wollte man das urteilsersetzende Anerkenntnis auf eine „versicherungsrechtliche Rechtsfigur“ reduzieren. In keiner der Entscheidungen jedenfalls beschränkt der BGH den Anwendungsbereich des „urteilsvertretenden Anerkenntnisses“ explizit auf das „Versicherungs-“ bzw. Haftpflichtrecht. Auch verlangt der BGH in persönlicher Hinsicht nicht, dass das „urteilsvertretende Anerkenntnis“ zwischen einem Versicherer und dem Geschädigten geschlossen sein muss6. So hebt der BGH etwa in einer Entscheidung aus dem Jahr 2002 in den tragenden Urteilsgründen hervor, dass ein „urteilsvertretendes Anerkenntnis“ (nach st. Rspr.) vorliegt, wenn der „Schädiger“ oder der „(KfZ-)Haftpflichtversicherer“ den Geschädigten durch die Vergleichs- und Abfindungsvereinbarung klaglos stellen7. Das urteilsersetzende Anerkenntnis wirkt auch nicht notwendig nur gegen einen (Haftpflicht-)Versicherer8. Ohne Bedeutung ist ebenfalls die Rechtsnatur des zugrunde liegenden Anspruchs. Maßgebend dafür, dass im konkreten Fall ein „urteilsvertretendes Anerkenntnis“ vorliegt, ist für den BGH einzig und allein der in der Vereinbarung zum Ausdruck kommende Parteiwille, nämlich einen

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2 BGH, VersR 1986, 684 ff.; BGH, NJW-RR 1990, 664; BGH, NJW 1992, 2228 f.; BGH, NJW 2003, 1524, 1525. 3 KG, VersR 2000, 1145; OLG München, AnwBl. 1998, 609; OLG Oldenburg, NJWRR 1997, 1181; OLG Thüringen, SVR 2005, 383; OLG Karlsruhe, NZV 1990, 428 f.; OLG Karlsruhe, VersR 1998, 632; OLG Düsseldorf, VersR 1999, 587, 588; OLG München, NJOZ 2005, 4548; OLG Saarbrücken, BeckRS 2006 08219; OLG Saarbrücken, OLGR Saarbrücken 2007, 223 ff. 4 BGH, NJW 1985, 791, 792; ebenso BGH, NJW-RR 1990, 664 f.; BGH, NJW 1992, 2228 f. 5 BGH, NJW 1985, 791, 792; ebenso BGH, NJW-RR 1990, 664 f.; BGH, NJW 1992, 2228 f. 6 S. insoweit insbesondere den Fall BGH, NJW 1985, 791 f. 7 BGH, VersR 2002, 474, 475. 8 S. den Fall in BGH, VersR 1986, 684 ff.

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Anspruch des Anspruchsinhabers wie bei einem Feststellungsurteil nach § 218 Abs. 1 BGB a. F. bzw. nach § 197 Abs. 1 Nr. 3 BGB n. F. von der Verjährungseinrede des Anspruchsgegners zu befreien. Dass dieser in der Parteiautonomie wurzelnde Gedanke außerhalb des Versicherungsrechts unanwendbar sein soll, findet in den Entscheidungen des BGH jedenfalls keinen – auch keinen ansatzweisen – Niederschlag. Ein Blick in die rechtswissenschaftliche Literatur bestätigt diesen Befund. Hinweise auf die Rechtsfigur des „urteilsvertretenden Anerkenntnis“ finden sich hier vor allem in den Kommentierungen zum Verjährungsrecht, und zwar ohne jegliche Beschränkungen auf ein bestimmtes Rechtsgebiet9. In den Kommentierungen kommt mithin durchweg zum Ausdruck, dass es sich bei dem urteilsersetzenden Anerkenntnis um ein rechtsgebietsübergreifendes Phänomen handelt, nämlich um ein solches, das auf der Parteiautonomie beruht. 2. Typische Fallgestaltungen Eröffnet der Grundsatz der Parteiautonomie grundsätzlich einen rechtsgebietsübergreifenden Anwendungsbereich für das urteilsersetzende Anerkenntnis, dann stellt sich – praktisch gesehen – die Frage, wann für die Ausübung dieser Autonomie aus der Sicht der Parteien im konkreten Fall ein Bedürfnis besteht. Insoweit kommt es maßgeblich auf die Interessenlage der Parteien an. Das Bedürfnis für ein urteilsersetzendes Anerkenntnis ist – in erster Linie – im Verjährungsrecht zu suchen. Dieses zwingt den Gläubiger zur gerichtlichen Geltendmachung seines Anspruchs innerhalb einer gewissen Frist, weil sich anderenfalls seine Forderung in eine Naturalobligation wandelt10. Einer gerichtlichen Geltendmachung des Anspruchs bedarf es aber im Grundsatz nur dann, wenn der Anspruch zwischen den Parteien streitig bzw. der vermeintliche Schuldner zahlungsunwillig ist. Ist dies nicht der Fall, wird der Schuldner nämlich auf eine entsprechende Aufforderung des Gläubigers zahlen. Nun gibt es aber Fallgestaltungen, in denen allein aus verjährungsrechtlichen Gründen die gerichtliche Klage notwendig ist, obwohl der Anspruch unstreitig und der Schuldner im Grundsatz zahlungswillig ist. Das ist der Fall, wenn die Verjährung zwar schon zu laufen beginnt, der Anspruch zurzeit aber noch nicht geltend gemacht werden kann. Genau dies trifft in den Haftpflichtfällen aufgrund des Grundsatzes der Schadenseinheit11 i. d. R. zu, soweit es um den

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9 Peters in Staudinger, 2004, § 212 BGB Rz. 5 und § 202 BGB Rz. 18; Heinrichs in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 197 BGB Rz. 12; J. Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 197 BGB Rz. 14; Heckelmann/Wilhelmi in Erman, 12. Aufl. 2008, § 781 BGB Rz. 13; Henrich in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 197 BGB Rz. 19. 10 Grüneberg/Sutschet in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 241 BGB Rz. 24. 11 Zum Grundsatz der Schadenseinheit s. BGH, NJW 1997, 2448, 2449; BGH, NJW 2000, 861, 862; Panier, Der Grundsatz der Schadenseinheit, 2009 (passim); Grothe in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, § 199 BGB Rz. 9 ff.; Heinrichs in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 199 BGB Rz. 14; Henrich/Spindler in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 199 BGB Rz. 27 ff. Nur Schäden, die auf ganz und gar untypischen Kausalverläufen beruhen und deshalb nicht vorhersehbar waren, werden aus der Schadenseinheit herausgelöst, BGH, NJW 2000, 861, 862.

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Ersatz von Zukunftsschäden geht. Letztere können – weil sie noch gar nicht eingetreten sind – gegenüber dem Schuldner noch nicht eingefordert oder vom Gläubiger beziffert werden. Dennoch läuft insoweit aber – h. M. zufolge – die Verjährungsfrist, wenn ein Erstschaden bereits entstanden ist. Dies hat zur Folge, dass hier die Klage – selbst wenn der Anspruch dem Grunde nach unstreitig ist – allein aus verjährungsrechtlichen Gründen erhoben werden muss, ohne dass die weitergehenden Zwecke des Zivilprozesses, nämlich die verbindliche Feststellung des streitigen Anspruchs bzw. der Nichtschuld und/ oder die Schaffung der vollstreckungsrechtlichen Grundlagen für die zwangsweise Durchsetzung des Anspruchs von Nöten wären. Hier liegt es für die Parteien daher nahe, die Kosten und Mühen des – sieht man einmal von der Verjährungsproblematik ab – nutzlosen Zivilprozesses dadurch zu ersparen, indem sie vereinbaren, den Gläubiger verjährungsrechtlich so stellen, wie er stehen würde, wenn er den Anspruch gerichtlich geltend gemacht hätte. Für den Abschluss eines „urteilsersetzenden Anerkenntnisses“ bestehe hier also ein Bedürfnis. Ähnlich ist die Rechtslage dort, wo der Anspruch zwar schon voll umfänglich entstanden ist (und damit die Verjährungsfrist läuft), dessen Berechnung aber tatsächliche Schwierigkeiten bereitet. Hier können die Parteien ein Interesse daran haben, den Anspruch verjährungstechnisch mit derselben Wirkung anzuerkennen wie wenn er bereits gerichtlich (in Gestalt der Feststellungsklage) geltend gemacht worden ist. Nicht anders ist schließlich die Interessenlage in solchen Fällen, in denen der – unstreitige – Anspruch entstanden ist und die Verjährungsfrist läuft, die Parteien aber dem Gläubiger vorbehalten wollen, diesen Anspruch jederzeit zu einem späteren Zeitpunkt noch geltend machen zu können. Auch hier können die Parteien ein Interesse daran haben, den Anspruch verjährungstechnisch so zu stellen, wie wenn er bereits gerichtlich geltend gemacht worden wäre. Hat beispielsweise der Pflichtteilsberechtigte gegen den Erben unstreitig einen Pflichtteilsanspruch, weiss er aber noch nicht, ob er sich durch dessen Geltendmachung gegen den Erblasserwillen auflehnen soll, wäre es – wirtschaftlich gesehen – unsinnig den Pflichtteilsberechtigten allein um der Verjährung willen zur Klage zu zwingen. Im Interesse beider Parteien liegt hier vielmehr der Abschluss eines urteilsvertretenden Anerkenntnisses, das die Folgen des nutzlosen Prozesses vermeidet und dem Pflichtteilsberechtigten die Entscheidung über die (steuerrechtlich bedeutsame)12 Geltendmachung des Pflichtteilsanspruchs für einen späteren Zeitpunkt vorbehält.

IV. Dogmatische Einordnung Bei dem urteilsvertretenden Anerkenntnis handelt es sich um einen Vertrag13, der – zumeist14 – als deklaratorisches Schuldanerkenntnis einzuordnen ist. Das

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12 S. hierzu Haas in Staudinger, 2006, § 2317 BGB Rz. 59 ff. 13 S. auch Marburger in Staudinger, 2009, § 781 BGB Rz. 9. 14 S. aber zur Möglichkeit zum abstrakten Schuldanerkenntnisses, BGH, NJW 1992, 2228 f.; Heckelmann/Wilhelmi in Erman, 12. Aufl. 2008, § 781 BGB Rz. 13.

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(deklaratorische oder kausale) Schuldanerkenntnis, das – anders als das abstrakte Schuldanerkenntnis – nicht gesetzlich geregelt ist, wurzelt in der Vertragsfreiheit15. Sinn und Zweck des kausalen Schuldanerkenntnisses ist es, das Schuldverhältnis – ohne dieses auf eine neue Grundlage zu stellen – insgesamt oder in bestimmten Punkten einem Streit oder einer Ungewissheit zu entziehen und es damit endgültig und verbindlich festzulegen16. Insoweit ähnelt das kausale Schuldanerkenntnis einem Vergleich (§ 779 BGB). Beide Vertragstypen gehören zu den so genannten Feststellungsgeschäften17. 1. Voraussetzungen eines deklaratorischen Schuldanerkenntnisses Nicht alle Bekundungen und Versprechungen des Schuldners können freilich als kausales Schuldanerkenntnis eingeordnet werden. Schwierigkeiten bereitet die Abgrenzung insbesondere zu solchen Erklärungen, die im Vorfeld einer rechtsgeschäftlichen Einigung verbleiben, in denen m. a. W. ein Rechtsbindungswille fehlt. Letzteres ist im Regelfall anzunehmen, wenn sich die Erklärung in der Anerkennung der gesetzlichen Rechtslage erschöpft, wenn also den Erklärungen der Parteien nicht der Wille entnommen werden kann, die Rechtslage abweichend von den gesetzlichen Vorschriften selbst verbindlich festlegen zu wollen18. Hier fehlt letztlich der für ein Feststellungsgeschäft typische Wille der Parteien, eine Unsicherheit zu beseitigen. Eine Rechtsbindungswille der Parteien fehlt zumeist auch dann, wenn der Schuldner zur Abgabe einer „Erklärung“ verpflichtet bzw. hierzu eine Obliegenheit besteht; denn dann will er mit der Erklärung nicht dazu beitragen, eine bestehende Unsicherheit zu beseitigen. Vielmehr dient hier die Erklärung allein dazu, der Pflicht bzw. Obliegenheit nachzukommen. Beispiele hierfür sind die Erklärung des Drittschuldners nach § 840 Abs. 3 ZPO, die in Versicherungsbedingungen vorgesehene Erklärung des Versicherers, ob und inwieweit er die aus dem Versicherungsfall hergeleiteten Ansprüche anerkennt oder die Erklärungen des Schuldners, die dieser in einer Klageerwiderung abgibt19. Hier liegt in aller Regel kein (kausales) Schuldanerkenntnis, sondern nur eine tatsächliche Auskunft über die Zahlungsbereitschaft vor. Umstände, die einen

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15 BGH, WM 1976, 689, 690; Gehrlein in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 781 BGB Rz. 7; Habersack in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 3; Marburger in Staudinger, 2009, § 781 BGB Rz. 8. 16 BGH, NJW 2002, 1791; BGH, NJW 2002, 1041; BGH, WM 1976, 689, 690; Marburger in Staudinger, 2009, § 781 BGB Rz. 8; Gehrlein in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 781 BGB Rz. 8; Habersack in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 3; Heckelmann/Wilhelmi in Erman, 12. Aufl. 2008, § 781 BGB Rz. 1 und Rz. 8; BuckHeeb in PWW, 4. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 9; Stadler in Jauernig, 2007, § 781 BGB Rz. 15. 17 BGH, NJW 1963, 2316, 2317; KG, NJW 1971, 1219, 1220; Marburger in Staudinger, 2009, § 781 BGB Rz. 8; Habersack in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 3; Heckelmann/Wilhelmi in Erman, 12. Aufl. 2008, § 781 BGB Rz. 8. 18 Habersack in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 31. 19 S. hierzu Habersack in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 26 und 28 f.; Heckelmann/Wilhelmi in Erman, 12. Aufl. 2008, § 781 BGB Rz. 10; vgl. auch BGH, NJW 2002, 1041.

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Rechtsbindungswillen der Parteien indizieren sind dagegen, wenn dem Anerkenntnis bereits Regulierungsgespräche vorausgegangen sind20 oder das Anerkenntnis sich auf eine bestimmte Summe bezieht. Aber auch wenn eine unbezifferte Verpflichtung seitens des Schuldners anerkannt wird, kann dennoch ein kausales Schuldanerkenntnis vorliegen, sofern die Person des Anerkennenden und die Umstände der Erklärung gewährleisten, dass die Übernahme der Zahlungspflicht mehr ist als ein anders formuliertes Schuldbekenntnis. Dies wird man insbesondere dann annehmen müssen, wenn die Parteien darüber hinausgehende Zwecke mit ihren Erklärungen verfolgen21, insbesondere wenn die Parteien mithilfe der Vereinbarung einen Streit oder eine (subjektive) Ungewissheit beseitigen wollen22. Zwar gilt die Formvorschrift des § 781 BGB nicht für das kausale Schuldanerkenntnis. Ein Indiz für einen rechtsgeschäftlichen Bindungswillen wird man aber regelmäßig dann annehmen müssen, wenn sich die Anerkennung in einer schriftlichen Erklärung niederschlägt23. 2. Rechtsfolge des kausalen Schuldanerkenntnisses Als charakteristische Rechtsfolge zeitigt das deklaratorische Schuldanerkenntnis einen Einwendungsausschluss. Danach werden dem Schuldner Einreden sowie rechtshindernde oder rechtsvernichtende Einwendungen abgeschnitten24. Soweit der Einwendungsausschluss mit der (ansonsten) bestehenden Rechtslage übereinstimmt, wirkt das Schuldanerkenntnis lediglich deklaratorisch. Wird hingegen das Schuldverhältnis hierdurch abweichend fixiert, ohne dass dadurch eine neue Schuld begründet wird, spricht man von einer konstitutiven Wirkung des (deklaratorischen) Anerkenntnisses. Auch soweit das Schuldanerkenntnis konstitutiv wirkt, richten sich die Rechtsbeziehungen zwischen den Beteiligten aber im Übrigen nach dem Typus der vorherigen Schuld, deren Eigenschaft hierdurch nicht verändert wird25. Die Reichweite des Einwendungsausschlusses richtet sich nach dem Willen der Parteien26. Letzterer ist durch Auslegung zu ermitteln.

__________ 20 Geigel, Haftpflichtprozess, 25. Aufl. 2008, 38. Kap. Rz. 12; Habersack in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 32; s. auch KG, NJW 1975, 1326, 1327. 21 S. KG, NJW 1971, 1219 f.: Vermeidung von Scherereien, insbesondere einer polizeilichen Unfallaufnahme; s. auch Habersack in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 32. 22 Geigel, Haftpflichtprozess, 25. Aufl. 2008, 38. Kap. Rz. 13; s. auch BGH, NJW 1999, 2889; BGH, NJW 1995, 960. 23 Habersack in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 32; s. auch Lindacher, JuS 1973, 79, 82. 24 BGH, WM 1976, 689, 690; Habersack in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 5; Gehrlein in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 781 BGB Rz. 10; Marburger in Staudinger, 2009, § 781 BGB Rz. 11. 25 BGH, WM 1976, 689, 690; Marburger in Staudinger, 2009, § 781 BGB Rz. 14; Habersack in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 5. 26 BGH, WM 1976, 689, 690; Habersack in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 21; Marburger in Staudinger, 2009, § 781 BGB Rz. 12.

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3. Der Wille der Parteien, den Gläubiger freizustellen von der Verjährungseinrede Verfolgen die Parteien mit der Vereinbarung die Absicht, dem Schuldner Einwendungen und Einreden ebenso abzuschneiden wie durch ein stattgebendes staatliches Urteil zugunsten des Gläubigers, Letzteren also m. a. W. insoweit einredefrei zu stellen, liegen die Voraussetzungen eines kausalen Schuldanerkenntnisses vor. Hier erschöpft sich nämlich die Erklärung der Parteien nicht in der Anerkennung der gesetzlichen (bzw. vertraglichen) Rechtslage. Vielmehr ist der Wille der Parteien darauf gerichtet, die Unsicherheit zu beseitigen, ob und inwieweit der Schuldner in Zukunft die Einrede der Verjährung erheben wird oder nicht. Der Wille der Parteien ist damit darauf gerichtet, die bestehende Rechtslage durch die Vereinbarung zu modifizieren, d. h. zu verhindern, dass die Durchsetzung des Anspruchs an der Möglichkeit der Geltendmachung der Verjährungseinrede scheitert. Wird ein derartiger Wille der Parteien zudem schriftlich niedergelegt, liegt die Annahme eines urteilsersetzenden Anerkenntnisses nahe, das dem Schuldner – vergleichbar § 218 Abs. 1 BGB a. F. (§ 197 Abs. 1 Nr. 3 BGB n. F.) – die Berufung auf die ansonsten maßgebende Verjährungsfrist abschneidet. Diese Überlegungen hat der BGH in der – oben bereits zitierten – Entscheidung aus dem Jahr 1985 wie folgt zusammengefasst: „Nicht zu beanstanden ist die vom BerGer. vorgenommene Auslegung des Anerkenntnisses dahin, dass der Haftpflichtversicherer damit keine selbständige Grundlage für den Schadensersatzanspruch des Kl. i. S. eines sogenannten konstitutiven Anerkenntnisses schaffen wollte. Der Begründung eines solchen neuen Anspruchs bedurfte es hier nach den gesamten Umständen schon deshalb nicht, weil die Schadensersatzpflicht des Bekl. dem Grunde nach von jeher außer Streit war. Insoweit hat das BerGer. deshalb das Anerkenntnis unter Berücksichtigung der Interessen der Beteiligten rechtsfehlerfrei nicht für schuldbegründend (konstitutiv), sondern lediglich für schuldbestätigend (deklaratorisch) gehalten. Mit dieser Auslegung ist jedoch die Tragweite des Anerkenntnisses nicht erschöpft. Wie das BerGer. richtig sieht, wollte der Haftpflichtversicherer des Bekl. den Kl. hinsichtlich des materiellen Zukunftsschadens klaglos stellen. Dies konnte sich nach der gesamten Sachlage nur auf die Entbehrlichkeit einer Feststellungsklage beziehen, da der Zukunftsschaden des Kl. seinerzeit noch nicht mit einer Leistungsklage gerichtlich geltend gemacht werden konnte.“

V. Die Reichweite der Autonomie Im Wege eines deklaratorischen Schuldanerkenntnisses können die Parteien über ein Schuldverhältnis freilich nur insoweit disponieren, wie dieses der Dispositionsbefugnis der Parteien unterliegt27. Aus dem Prozessrecht ergeben sich vorliegend keine Einschränkungen der Parteiautonomie, denn es stehen ja nicht die prozessualen Wirkungen der Rechtskraft in Frage. Vielmehr stehen die (materiell-rechtlichen) Tatbestandwirkungen mit Blick auf das materielle

__________ 27 Marburger in Staudinger, 2009, § 781 BGB Rz. 21.

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Recht im Vordergrund. Denn trotz des neu gefassten § 202 BGB ist heute unstreitig, dass auch die Erschwerung der Verjährung in bestimmten Grenzen der Autonomie der Parteien unterliegt. Das war freilich nicht immer so. Vor allem für die Zeit vor der Schuldrechtsreform stellte sich die Frage, wie sich das urteilsvertretende Anerkenntnis zu § 225 BGB a. F. verhält. Mit letzterer Vorschrift stand das urteilsvertretende Anerkenntnis nämlich – zumindest auf den ersten Blick – in Konflikt. Die Vorschrift sah nämlich vor, dass die Verjährung durch Rechtsgeschäft weder ausgeschlossen noch erschwert werden kann. Die Vorschrift war – h. M. – Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB28. 1. Der Inhalt des § 225 BGB a. F. Das Verbot des § 225 Satz 1 BGB a. F. galt in erster Linie für Vereinbarungen zwischen Schuldner und Gläubiger, die die Verjährung erschweren. Voraussetzung war allerdings, dass die Verjährung noch nicht eingetreten war. Entgegen der (nicht amtlichen) Gesetzesüberschrift, in der von „Vereinbarungen“, also einer zweiseitigen Abmachung die Rede ist, spricht der Gesetzestext selbst von „Rechtsgeschäft“. Die h. M. subsumierte nun unter letzteren Begriff auch einseitige Rechtsgeschäfte, z. B. einen Verzicht auf die Verjährungseinrede. Auch dieser war mithin vor Eintritt der Verjährung (nicht aber danach) verboten29. Dies galt auch dann, wenn der Verzicht zwar vor der Verjährung ausgesprochen, die Wirkungen des Verzichts aber erst nach Vollendung der Verjährung eintreten sollten30. (Einseitige oder zweiseitige) Rechtsgeschäfte, die gegen § 225 BGB a. F. verstießen, waren grundsätzlich nichtig. Ob eine „Erschwerung“ der Verjährung vorlag, war unter der Geltung des alten Rechts allein nach objektiven Maßstäben zu bestimmen. Was der Schuldner als Erschwerung empfand, war demgegenüber nicht maßgebend; denn die Vorschrift in § 225 BGB a. F. diente – h. M. zufolge – nicht nur dem Schuldnerschutz, sondern zugleich auch der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden und damit dem öffentlichen Interesse31. Erfasst wurden von dem Verbotsgesetz in § 225 BGB a. F. daher nicht nur der Verjährungsausschluss, sondern auch die (rechtsgeschäftliche) Verlängerung der Verjährungsfrist32. 2. Zulässigkeit mittelbarer Erschwerungen Der BGH ist vor Inkrafttreten der Schuldrechtsreform in ständiger Rspr davon ausgegangen, dass die Parteien die durch § 225 BGB a. F. gezogenen Grenzen der Parteiautonomie nicht überschreiten, wenn sie ein urteilsersetzendes An-

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28 Hefermehl in Erman, 10. Aufl. 2000, § 225 BGB Rz. 1; Niedenführ in Soergel, 13. Aufl. 1999, § 225 BGB Rz. 1; Grothe in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2001, § 225 BGB Rz. 1; Kessler in PWW, 4. Aufl. 2009, § 202 BGB Rz. 1. 29 BGH, NJW 1979, 866, 867; BGH, NJW 1998, 902, 903; Grothe in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2001, § 225 BGB Rz. 3. 30 BGH, NJW 1998, 902, 903. 31 Grothe in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2001, § 225 BGB Rz. 1. 32 Hefermehl in Erman, 10. Aufl. 2000, § 225 BGB Rz. 1; Grothe in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2001, § 225 BGB Rz. 2.

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erkenntnis vereinbaren. Die Begründung hierfür sah man darin, dass das Verbotsgesetz in § 225 BGB a. F. – h. M. zufolge – nur solche Rechtsgeschäfte erfasste, die die Verjährung unmittelbar ausschließen oder erschweren. Ausgeschlossen war die Parteiautonomie somit nur auf der Ebene des Verjährungsrechts. Dagegen sollte § 225 BGB a. F. die Parteien nicht daran hindern, auf eine andere – nämlich schuldrechtliche – Regelungsebene auszuweichen. Das galt selbst dann, wenn die anderweitige schuldrechtliche Ebene einen Bezug zum Verjährungsrecht aufwies und dieses mithin mittelbar beeinflusste33. Beispiele hierfür sind etwa Stundungsabreden oder das (einseitige) Hinausschieben der Fälligkeit34. Kennzeichnend für diese Kategorie an Rechtsgeschäften ist, dass es sich hierbei um selbständige (zulässige) Vereinbarungen auf der Grundlage des Schuldrechts handelt, die quasi als weitere (und damit mittelbare) Folge eine Verlängerung der Verjährungsfrist mit sich bringen35. Derartige Vereinbarungen sollten aber im Hinblick auf § 225 BGB a. F. stets zulässig sein. Statthaft waren derartige (selbständige) Vereinbarungen auf der Ebene des Schuldrechts – h. M. zufolge – selbst dann, wenn diese allein um ihrer verjährungsrechtlichen Nebenfolgen willen geschlossen wurden36. Daher war auch eine Stundungsabrede zulässig, deren Zweck allein darauf gerichtet war, die Verjährung hinauszuschieben. Aus dem gleichen Grund war auch die Verlängerung der Verjährungsfrist durch eine Garantievereinbarung zulässig37. Statthaft war überdies auch die Novation, wenn also beispielsweise ein in Frage stehender Pflichtteilsanspruch gänzlich in einen anderen Anspruch – etwa in ein Darlehen – umgewandelt wurde, um auf diese Weise in den Genuss einer längeren Verjährungsfrist zu gelangen38. Im Lichte der vorstehenden Vorgaben stellte sich das urteilsersetzende Anerkenntnis ebenfalls als eine nur mittelbare und damit zulässige Erschwerung der Verjährungsfrist dar; denn der primäre Zweck eines kausalen Schuldanerkenntnisses diente ja einem erlaubten und berechtigten Anliegen. Erschöpft sich aber das Rechtsinstitut des kausalen Schuldanerkenntnisses nicht darin, die Verjährung zu erschweren, sondern hat dieses einen breiteren Anwendungsbereich, dann sind die von einer solchen Vereinbarung ausgehenden Auswirkungen auf die Verjährung – selbst wenn das Rechtsgeschäft allein um deretwillen vorgenommen wurde – mittelbare und damit zu billigende Nebenfolgen. Nach altem Recht konnte mithin § 225 BGB a. F. das urteilsersetzende Anerkenntnis nicht sperren.

__________ 33 Niedenführ in Soergel, 13. Aufl. 1999, § 225 BGB Rz. 1 f.; Hefermehl in Erman, 10. Aufl. 2000, § 225 BGB Rz. 1; Grothe in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2001, § 225 BGB Rz. 4. 34 Vgl. dazu J. Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 205 BGB Rz. 3. 35 Niedenführ in Soergel, 13. Aufl. 1999, § 225 BGB Rz. 1. 36 Niedenführ in Soergel, 13. Aufl. 1999, § 225 BGB Rz. 1. 37 Niedenführ in Soergel, 13. Aufl. 1999, § 225 BGB Rz. 2. 38 Hefermehl in Erman, 10. Aufl. 2000, § 225 BGB Rz. 1; Grothe in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2001, § 225 BGB Rz. 4; Niedenführ in Soergel, 13. Aufl. 1999, § 225 BGB Rz. 2.

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VI. Rechtsvergleichung Die Rechtslage vor der Schuldrechtsreform in Deutschland gleicht – zumindest im Ausgangspunkt – der gegenwärtigen Rechtslage in der Schweiz. Nach Art. 129 OR können die Verjährungsfristen39 durch Verfügung der Beteiligten nicht abgeändert werden40. Wertungsgrundlage dieser Vorschrift ist, dass die Unabänderlichkeit der Verjährungsfristen der Rechtssicherheit und damit dem öffentlichen Interesse dient und daher der rechtsgeschäftlichen Abänderung durch die Parteien entzogen ist41. Flankiert wird die Vorschrift durch Art. 141 OR. Danach kann „auf die Verjährung nicht zum Voraus verzichtet werden“. Vereinbarungen, die gegen § 141 oder Art. 129 OR verstoßen, sind nach Art. 20 Abs. 1 OR nichtig. Trotz dieser – dem Gesetzeswortlaut nach – sehr eingeschränkten Parteiautonomie sieht Art. 137 Abs. 2 OR Folgendes vor: „Wird die Forderung durch Ausstellung einer Urkunde anerkannt oder durch Urteil des Richters festgestellt, so ist die neue Verjährungsfrist stets die zehnjährige.“

Für die urkundliche Anerkennung der Forderung gilt mithin im schweizerischen Recht dieselbe Frist wie für die richterliche Feststellung der Forderung. Hinter der richterlichen Feststellung der Forderung verbirgt sich – ebenso wie in § 197 Abs. 1 Nr. 3 BGB – eine richterliche Entscheidung, die rechtskräftig den Bestand der Forderung zum Ausdruck bringt42. Der Begriff der Schuldanerkennung i. S. des Art. 137 Abs. 2 OR ist allerdings von dem Schuldanerkenntnis nach deutschem Recht – zumindest auf den ersten Blick – verschieden. Als Schuldanerkennung i. S. des Art. 137 Abs. 2 OR gilt nämlich nur eine urkundliche Anerkennung, die nach Art. 82 SchKG auch Grundlage einer provisorischen Rechtsöffnung im Rahmen der Zwangsvollstreckung sein kann (Art. 82 SchKG)43. Danach muss die Forderung schriftlich beziffert und vom Schuldner unterschriftlich anerkannt sein44. Das Anerkenntnis kann (muss aber nicht) in einem Vertrag niedergelegt bzw. enthalten sein. Damit sind die Anforderungen an ein „urteilsersetzendes Anerkenntnis“ nach schweizerischem Recht teils leichter, teils strenger als nach deutschem Recht. Während die Schuldanerkennung nach deutschem Recht ein Vertrag, d. h. ein zweiseitiges Rechtsgeschäft ist (siehe bereits oben)45, kann die Schuldanerken-

__________ 39 Aus dem Wortlaut des Art. 129 OR folgert die h. M., dass der Anwendungsbereich der Vorschrift auf die im 3. Titel des OR genannten Verjährungsfristen beschränkt ist, s. BGE 132 III 226, 234; Honsell/Däppen, Obligationsrecht Kurzkommentar, 2008, Art. 129 Rz. 1. 40 Die Rspr. fährt dieses Verbot zunehmend zurück. Nach einer aktuellen Entscheidung soll Art. 129 OR nicht für Parteivereinbarungen nach Abschluss des Vertrages gelten, vgl. BGE 132 III 226, 238 ff. 41 Däppen in Honsell/Vogt/Wiegand (Hrsg.), Basler Kommentar zum Obligationenrecht, 4. Aufl. 2007, Art. 1. 42 Däppen in Honsell/Vogt/Wiegand (Hrsg.), Basler Kommentar zum Obligationenrecht, 4. Aufl. 2007, Art. 139 Rz. 4. 43 BGE v. 23.10.2003 – 5C.61/2003/frs. 44 BGE 113 II, 264, 268 f.; Däppen in Honsell/Vogt/Wiegand (Hrsg.), Basler Kommentar zum Obligationenrecht, 4. Aufl. 2007, Art. 139 Rz. 3. 45 BGH, NJW-RR 2007, 530.

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nung nach schweizerischem Recht auch einseitig erklärt werden. Unterm Strich ist dieser Unterschied freilich wenig bedeutsam; denn die Anforderungen an einen Vertragsschluss werden im deutschen Recht nicht überspannt. Findet sich nämlich eine Erklärung des Schuldners mit entsprechendem Rechtsbindungswillen, dann wird in der Regel die konkludente Annahme der Erklärung durch den Gläubiger unterstellt46. Darüber hinaus hält die h. M. in einem solchen Fall auch den Zugang der Annahmeerklärung nach § 151 Satz 1 BGB grundsätzlich für entbehrlich47. Strenger ist das schweizerische Recht allerdings hinsichtlich der für die Schuldanerkennung notwendigen Form. Während nach deutschem Recht für das kausale Schuldanerkenntnis keine besondere Form vorgesehen ist, da § 781 BGB hierauf keine Anwendung findet48, handelt es sich bei der Schuldanerkennung nach Art. 137 OR um eine schriftliche, vom Schuldner unterzeichnete vorbehaltlose Erklärung, dem Gläubiger einen genau bestimmten Betrag zu schulden49. Freilich werden die Unterschiede zwischen beiden Rechtsordnungen dadurch ein wenig nivelliert, dass – nach deutschem Recht – die Schriftlichkeit der Anerkennung als Indiz für einen entsprechenden Rechtsbindungswillen der (erklärenden) Partei herangezogen wird (siehe oben) und damit ein urteilsersetzendes Anerkenntnis in Form einer mündlichen Abrede nach deutschem Recht in aller Regel ausscheidet50. (Relevante) Unterschiede verbleiben jedoch. Insbesondere genügt nach schweizerischem Recht eine schriftliche Anerkennung der Schuld dem Grunde nach nicht, um die für rechtskräftige Urteile geltende Verjährungsfrist auszulösen. Vielmehr muss nach schweizerischem Recht das Anerkenntnis die Forderung wie „im Falle eines Urteils beziffern“, um die verjährungsrechtlichen Rechtsfolgen des Art. 137 OR auszulösen51.

VII. Abgrenzung zu anderen Rechtsinstituten Fraglich ist, ob die Parteien das mit dem urteilsersetzenden Anerkenntnis angestrebte Ziel nicht auch auf andere Weise erreichen können. Das BGB sieht jedenfalls eine Reihe ausdrücklich geregelter Rechtsinstitute vor, um auf die Verjährungsfrist einzuwirken. Damit stellt sich die Frage, ob und inwieweit das urteilsvertretende Anerkenntnis mit diesen anderen Rechtsinstituten deckungsgleich bzw. wie es von diesen abzugrenzen ist.

__________ 46 Marburger in Staudinger, 2009, § 781 BGB Rz. 9. 47 BGH, NJW 2000, 276, 277; Buck-Heeb in PWW, 4. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 9. 48 Habersack in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 3; Heckelmann/ Wilhelmi in Erman, 12. Aufl. 2008, § 781 BGB Rz. 9. 49 BGE 113 II 264, 268. 50 Geigel, Haftpflichtprozess, 25. Aufl. 2008, 38. Kap. Rz. 24. 51 BGE 113 II 264, 268.

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1. Abgrenzung von § 205 BGB Nach § 205 BGB wird die Verjährung durch eine Vereinbarung gehemmt, wenn der Schuldner aufgrund einer Vereinbarung mit dem Gläubiger vorübergehend52 zur Verweigerung der Leistung berechtigt ist. Die Vorschrift geht zurück auf § 202 BGB a. F. Anders aber als § 202 BGB a. F. erfasst § 205 BGB keine gesetzlichen Leistungshindernisse. Dies gilt auch dann, wenn diese vertraglich nachvollzogen werden53. In den Anwendungsbereich des § 205 BGB fallen vor allem die Stundung und das Stillhalteabkommen (pactum de non petendo). a) Wesensmerkmale von Stundung und Stillhalteabkommen Inhalt einer Stundungsvereinbarung ist, die Fälligkeit der Forderung – nach Verjährungsbeginn – hinaus zu schieben54. Dabei setzt auch die Stundung i. S. des § 205 BGB – wie das urteilsvertretende Anerkenntnis – eine Einigung zwischen den Parteien voraus55. Ein einseitiges Stundungsangebot des Gläubigers genügt demgegenüber nicht56. Dem Gläubiger soll nämlich nicht erlaubt sein, selbst darüber zu entscheiden, wann der Anspruch verjährt. Vielmehr bedarf es hierfür eines Einvernehmens mit dem Schuldner. Der Stundung gleich gestellt ist – h. M. zufolge – das so genannte „Stillhalteabkommen“57. Darunter versteht man die Absprache zwischen Gläubiger und Schuldner, den Anspruch einstweilen nicht geltend zu machen (ohne dabei jedoch die Fälligkeit hinauszuschieben). Allerdings muss in einem solchen Fall der Wille der Parteien darauf gerichtet sein, für den Schuldner ein Leistungsverweigerungsrecht zu begründen oder die Klagbarkeit zumindest vorübergehend auszuschließen58. Der Gläubiger muss sich also mit anderen Worten rechtsverbindlich der Möglichkeit begeben haben, den Anspruch jederzeit weiter verfolgen zu können.

__________ 52 Auf peremptorische Verweigerungsrechte findet § 205 BGB keine Anwendung, Kessler in PWW, 4. Aufl. 2009, § 205 BGB Rz. 1; Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 205 BGB Rz. 1. 53 Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 205 BGB Rz. 2; Grothe in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, § 205 BGB Rz. 2. 54 Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 205 BGB Rz. 3; Kessler in PWW, 4. Aufl. 2009, § 205 BGB Rz. 2. 55 Kessler in PWW, 4. Aufl. 2009, § 205 BGB Rz. 1. 56 BGH, NJW 1983, 2496, 2497; BGH, WM 1977, 895, 896; vgl. auch Grothe in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, § 205 BGB Rz. 10; Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 205 BGB Rz. 3. 57 Vgl. BGH, NJW 1983, 2496, 2497 f.; BGH, NJW 2000, 2661, 2662; Grothe in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, § 205 BGB Rz. 5 f.; Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 205 BGB Rz. 5. 58 BGH, NJW 1983, 2496, 2497; BGH, NJW 1998, 2274, 2277; BGH, NJW 1999, 1101, 1102; BGH, NJW 2000, 2661, 2662; BGH, NJW 2002, 1488 f.

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b) Unterschiede zum urteilsvertretenden Anerkenntnis Auch wenn urteilsvertretendes Anerkenntnis und die von § 205 BGB erfassten Verhaltensweisen beide auf einer Vereinbarung der Vertragsparteien beruhen, so sind sie doch von ihrem Inhalt her nicht deckungsgleich. H. M. zufolge hat das kausale Schuldverhältnis eine vergleichsähnliche Rechtsnatur (s. oben I). Im Unterschied zum Vergleich werden hier jedoch Streit und Ungewissheit nicht durch gegenseitiges, sondern durch einseitiges Nachgeben, nämlich das des Schuldners beseitigt59. Wollen die Parteien mithin lediglich die Zweifel an der künftigen Durchsetzbarkeit des Anspruchs ausschließen, gleichzeitig aber dem Gläubiger das Recht vorbehalten, den Anspruch jederzeit durchsetzen zu können, dann ist dieses Ziel nicht durch eine Vereinbarung nach § 205 BGB zu erreichen. Kennzeichnend für eine derartige Vereinbarung ist nämlich, dass sich der Gläubiger gegenüber dem Schuldner rechtsgeschäftlich bindet, befristet oder zumindest vorübergehend auf die Geltendmachung des Anspruchs zu verzichten. Der Verpflichtete muss also – zumindest zeitweise – zur Verweigerung der Leistung berechtigt sein60. Auch wenn an das rechtliche Hindernis keine hohen Anforderungen anzulegen sind61, so scheidet doch ein solches aus, wenn der Gläubiger jederzeit die Forderung einziehen kann, ohne nach der Vereinbarung rechtliche Nachteile fürchten zu müssen62. Voraussetzung für eine Vereinbarung nach § 205 BGB ist mithin, dass dem Gläubiger die Entscheidung, wie er mit der Forderung umgehen will, nicht gänzlich offen gelassen wird63. Vielmehr muss er sich insoweit mit Wissen und Billigung der anderen Partei – zumindest zeitweise – Beschränkungen unterworfen haben. Dies zeigt nicht zuletzt auch ein Blick auf § 202 Abs. 2 BGB a. F. Dort nahm das Gesetz nämlich solche (gesetzliche) Einreden vom Anwendungsbereich der Vorschrift aus, die der Gläubiger selbst beseitigen kann, d. h. die ihn in seiner Rechtsverfolgung nicht beschränkten64. 2. Abgrenzung zu § 212 Abs. 1 Nr. 1 BGB Nach § 212 Abs. 1 Nr. 1 BGB beginnt die Verjährung erneut an zu laufen, wenn der Schuldner den Anspruch „anerkennt“. Die Anerkennung muss der Schuldner durch Erklärung gegenüber dem Berechtigten abgeben. Die Erklärung setzt voraus, dass sie für den Berechtigten bestimmt ist65. Anders als für das urteilsersetzende Anerkenntnis ist für die „Anerkennung“ i. S. des

__________ 59 Marburger in Staudinger, 2009, § 781 BGB Rz. 8; Habersack in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 5; Buck-Heeb in PWW, 4. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 9. 60 BGH, NJW 1973, 316, 317; BGH, NJW 1983, 2496, 2497; OLG Zweibrücken, NJW-RR 1995, 260, 261. 61 Niedenführ in Soergel, 13. Aufl. 1999, § 202 BGB Rz. 4. 62 BGH, NJW 1998, 2274, 2277. 63 BGH, NJW 2000, 2661, 2662; BGH, NJW 1999, 1101, 1103. 64 S. hierzu Hefermehl in Erman, 10. Aufl. 2000, § 202 BGB Rz. 11; Niedenführ in Soergel, 13. Aufl. 1999, § 202 BGB Rz. 19. 65 BGHZ 51, 125, 126 f.; Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 212 BGB Rz. 5.

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§ 212 Abs. 1 BGB kein Vertrag notwendig. Das Anerkenntnis des Schuldners bedarf also nicht der Annahe durch den Gläubiger66. a) Merkmale eines Anerkenntnisses Überwiegender Ansicht nach ist für ein Anerkenntnis i. S. des § 212 BGB keine rechtsgeschäftliche Willenserklärung erforderlich67. Ausreichend ist vielmehr ein rein tatsächliches Verhalten des Schuldners gegenüber dem Gläubiger, aus dem sich das Bewusstsein vom Bestehen des Anspruchs unzweideutig ergibt und das daher das Vertrauen des Gläubigers begründet, der Schuldner werde sich nicht nach Ablauf der Verjährungsfrist alsbald auf Verjährung berufen68. Als Beispiele für Verhaltensweisen, denen das Bewusstsein des Schuldners über das Bestehen des Anspruchs entnommen werden kann, nennt das Gesetz Abschlags- und Zinszahlungen oder Sicherheitsleistungen. Das Bewusstsein vom Bestehen des Anspruchs ist jedoch nicht gegeben, wenn der Schuldner die Leistung nur aus Kulanz oder zur gütlichen Beilegung des Rechtsstreits anbietet69. Gleiches gilt, wenn lediglich Verhandlungen geführt werden, ohne aber dass der Anspruch dem Grunde nach oder in Teilen nicht mehr bestritten wird, die Parteien also m. a. W. ihre ursprünglichen Standpunkte aufrechterhalten70. Allerdings sieht das Gesetz in § 203 BGB von Gesetzes wegen vor, dass im Falle von (schwebenden) Verhandlungen zwischen Gläubiger und Schuldner über den Anspruch oder über den Anspruch begründende Umstände die Verjährung so lange gehemmt ist, bis der andere Teil die Fortsetzung der Verhandlung verweigert. Das Anerkenntnis muss sich auf den in Frage stehenden Anspruch beziehen. Dabei reicht es aus, wenn sich das Anerkenntnis auf den Grund des Anspruchs bezieht71. Auch dann werden die Wirkungen des § 212 BGB in Bezug auf den gesamten Anspruch ausgelöst. Das gilt selbst für den Fall, dass sich der Schuldner über den Gesamtumfang des Anspruchs noch nicht im Klaren ist oder an so weitgehende Ansprüche gar nicht gedacht hat72. Abzugrenzen ist allerdings das Anerkenntnis dem Grunde nach von dem Teilanerkenntnis73. Ist nämlich die Verbindlichkeit teilbar und bezieht sich das Anerkenntnis nur auf

__________ 66 Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 212 BGB Rz. 6; Kessler in PWW, 4. Aufl 2009, § 212 BGB Rz. 3. 67 BGH, NJW-RR 1994, 373; Kessler in PWW, 4. Aufl. 2009, § 212 BGB Rz. 2; SchmidtRäntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 212 BGB Rz. 6. 68 BGH, WM 1975, 559; BGH, NJW 2000, 2661, 2663; BGH, NJW 1999, 1101, 1103; Grothe in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, § 212 BGB Rz. 6. 69 BGH, NJW 1988, 254. 70 BGH, MDR 2003, 78. 71 BGH, MDR 2002, 1240; BGH, NJW-RR 1986, 324 f.; BGH, WM 1975, 559; BGHZ 113, 234, 238; BGHZ 135, 9, 11; MünchKommBGB/Grothe, 5. Aufl. 2006, § 212 BGB Rz. 7; Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 212 BGB Rz. 7. 72 RGZ 135, 9, 11 f.; BGH, NJW 1970, 1682. 73 RGZ 113, 234, 238; BGH, NJW-RR 1986, 324 f.

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einen bestimmten Teil der Forderung, dann sind die Wirkungen des § 212 BGB auch nur auf diesen Teil begrenzt74. b) Unterschiede zum urteilsvertretenden Anerkenntnis Anerkenntnis und urteilsvertretendes Anerkenntnis sind nicht nur hinsichtlich ihrer Voraussetzungen verschieden (einseitige Erklärung bzw. zweiseitiges Rechtsgeschäft), sondern auch im Hinblick auf ihre Wirkungen. Der Neubeginn der Verjährung nach § 212 führt nämlich dazu, dass die ursprünglich Verjährungsfrist sofort, d. h. mit dem auf das Anerkenntnis folgenden Tag neu zu laufen beginnt75. Das urteilsvertretende Anerkenntnis führt zu einem neuen Beginn der Verjährung. Anders aber als bei dem Anerkenntnis nach § 212 BGB gilt insoweit nicht die ursprüngliche, sondern die für rechtskräftig festgestellte Ansprüche geltende Frist. Insoweit sind die von der urteilsersetzenden Anerkennung bezweckten Rechtsfolgen deutlich weiter als diejenigen, die mit dem Anerkenntnis nach § 212 BGB einhergehen. Beide Rechtsfiguren sind mithin nicht deckungsgleich. 3. Abgrenzung zur Verjährungserschwerung nach § 202 BGB Nach § 202 Abs. 2 BGB kann die Verjährung durch Rechtsgeschäft erschwert werden. Allerdings sind derartigen Vereinbarungen Grenzen gesetzt. Die Verjährung darf nicht über die Verjährungsfrist von 30 Jahren ab dem gesetzlichen Verjährungsbeginn hinaus erschwert werden. a) Die von § 202 BGB erfassten Rechtsgeschäfte § 202 BGB erfasst in erster Linie Erschwerungsvereinbarungen zwischen Gläubiger und Schuldner. Gegenstand der Vereinbarung können die Länge der Verjährungsfrist, deren Beginn, Hemmung oder Ablaufhemmung oder der Verzicht auf die Verjährung sein76. Nicht erfasst werden von § 202 BGB solche Vereinbarungen, die sich nur mittelbar auf die Verjährung auswirken (Stundung, Vereinbarung einer aufschiebenden Bedingung, etc. – s. oben)77. Vereinbarungen über die Verjährung sind zudem nicht an einen bestimmten Zeitpunkt gebunden. Die neue Vertragsfreiheit gestattet vielmehr derartige Vereinbarungen sowohl vor Entstehung des Anspruchs zu treffen als auch nachträglich eine bereits laufende Verjährungsfrist zu verlängern78.

__________

74 Grothe in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, § 212 BGB Rz. 9; Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 212 BGB Rz. 7. 75 BGH, NJW 1998, 2274, 2277; BGHZ 109, 220, 223; Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 212 BGB Rz. 2; Kessler in PWW, 4. Aufl. 2009, § 212 BGB Rz. 7. 76 Henrich in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 202 BGB Rz. 3; Grothe in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, § 202 BGB Rz. 11; Peters in Staudinger, 2004, § 202 BGB Rz. 7; Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 202 BGB Rz. 4. 77 Henrich in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 202 BGB Rz. 3; a. A. Kessler in PWW, 4. Aufl. 2009, § 202 BGB Rz. 2. 78 Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 202 BGB Rz. 5; Henrich in Bamberger/ Roth, 2 Aufl. 2007, § 202 Rz. 3; Kessler in PWW, 4. Aufl. 2009, § 202 BGB Rz. 2.

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§ 202 Abs. 2 BGB bestimmt, dass die Verjährung des Anspruchs durch „Rechtsgeschäft“ erschwert werden kann. Unter diesen Begriff „Rechtsgeschäft“ ist sicherlich eine Vereinbarung der Parteien, d. h. ein zweiseitiges Rechtsgeschäft zu subsumieren, mit dem die Verjährung erschwert wird. H. M. fällt unter den Begriff „Rechtsgeschäft“ aber auch ein einseitiger Verzicht des Schuldners auf die Einrede der Verjährung79. Dies steht zwar mit der amtlichen Gesetzesüberschrift nicht in Einklang, die lediglich von „Vereinbarungen“ spricht. Jedoch wurde schon nach altem Recht der Begriff „Rechtsgeschäft“ in § 225 BGB a. F. weit ausgelegt (siehe oben). Im Gegensatz zum alten Recht, bei dem ein Verzicht auf die Verjährungseinrede nur nach Ablauf der Verjährung möglich war80, kann dieser nunmehr (auch) vor Verjährungsvollendung erklärt werden81. Eine besondere Form ist hierfür nicht vorgesehen82. Streitig ist, welche Bedeutung ein – vor Verjährungsvollendung – erklärter unbefristeter Verjährungsverzicht hat. Teilweise wird die Ansicht vertreten, dass dann die Reichweite des Verzichts mit Blick auf die Obergrenze des § 202 Abs. 2 BGB auf das zulässige Maß zu reduzieren ist83. Andere wollen den so erklärten Verzicht dagegen dahin verstehen, dass damit die Verjährungsfrist neu zu laufen beginnt84. In jedem Fall aber ist die Vereinbarung in einem solchen Fall nicht nichtig85. b) Unterschiede zum urteilsvertretenden Anerkenntnis Urteilsvertretendes Anerkenntnis und (befristeter) Verzicht auf die Verjährungseinrede unterscheiden sich dahingehend, dass es sich bei ersterem um ein zweiseitiges und bei letzterem um ein einseitiges Rechtsgeschäft handelt. Darüber hinaus unterscheiden sich beide Rechtsinstitute aber auch in Bezug auf die Bindungswirkung; denn der einseitige Verzicht auf die Verjährung ist – überwiegender Ansicht nach – widerrufbar. Die genauen Grenzen der Widerruflichkeit sind allerdings umstritten. In einer älteren Entscheidung hat der BGH – eher beiläufig – erwähnt, dass der Verzicht jedenfalls nicht frei widerruflich sei86. In der Literatur wird demgegenüber die Ansicht vertreten, dass der einseitige Verzicht durch den Schuldner frei widerruflich ist, und zwar auch dann, wenn er einen Termin genannt hat, bis zu dem er mit seiner Verjährungseinrede „stillhalten“ will. Bis zum Widerruf wird der Gläubiger in seinem Vertrauen auf die Erklärung geschützt; alsdann muss er – dieser An-

__________ 79 BGH, DNotZ 2008, 277, 278. 80 BGH, NJW 1973, 1690, 1691. 81 BGH, DNotZ 2008, 277, 278; OLG Brandenburg, NJW-RR-2005, 871; Grothe in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2006, § 202 BGB Rz. 13; Peters in Staudinger, 2004, § 202 BGB Rz. 5; Lakkis, ZGS 2003, 423, 424. 82 Lakkis, ZGS 2003, 423, 425; Peters in Staudinger, 2004, § 214 BGB Rz. 29. 83 BGH, DNotZ 2008, 277, 278; Peters in Staudinger, 2004, § 202 BGB Rz. 19; Kessler in PWW, 4. Aufl. 2009, § 202 BGB Rz. 7; Lakkis, ZGS 2003, 423, 425. 84 OLG Brandenburg, NJW-RR 2005, 871, 872; Henrich in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 202 BGB Rz. 7. 85 BGH, DNotZ 2008, 277, 278; Heinrichs in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 202 BGB Rz. 7. 86 BGHZ 22, 267, 271.

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sicht zufolge – alsbald verjährungshemmende Maßnahmen ergreifen87. Anders ist das freilich bei dem urteilsersetzenden Anerkenntnis. Hier unterliegt das Anerkenntnis aufgrund der Zweiseitigkeit des Rechtsgeschäfts der Bindungswirkung und kann keinesfalls einseitig widerrufen werden. Fraglich und umstritten ist demgegenüber, ob zwischen dem urteilsersetzenden Anerkenntnis und der verjährungserschwerenden Vereinbarung Deckungsgleichheit besteht. Teilweise wird dies bejaht und daraus die Schussfolgerung gezogen, dass für eine Anwendbarkeit der Rechtsfigur des urteilsersetzenden Anerkenntnisses für die Zeit nach Inkrafttreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes kein Raum mehr besteht88. Teilweise wird in der Literatur aber auch – nach wie vor – der Abschluss eines urteilsersetzenden Anerkenntnisses für möglich gehalten89. Die Rechtsprechung hat zu dieser Frage noch nicht abschließend Stellung genommen90. Zu folgen ist der Ansicht, wonach auch heute für das urteilsersetzende Anerkenntnis ein eigenständiger Anwendungsbereich verbleibt. Wenn schon nach altem Recht der Ausschluss der Parteiautonomie in Bezug auf das Verjährungsrechts einen Rückgriff auf die schuldrechtliche Regelungsebene nicht verhindern konnte, so muss dies erst recht heute gelten, wo es eine solche Barriere aufgrund der Liberalisierung des Verjährungsrechts nicht mehr gibt. Es steht den Parteien daher frei, wie sie auf die Verjährung des Anspruchs einwirken wollen. Vereinbaren die Parteien daher ausdrücklich ein „urteilsersetzendes Anerkenntnis“, dann ist die Vereinbarung in jedem Fall als kausales Schuldanerkenntnis und nicht als Verjährungserschwerung nach § 202 Abs. 2 BGB einzuordnen. Fraglich kann allenfalls die Abgrenzung sein, wenn der Wille der Parteien keinen ausdrücklichen Niederschlag in der Erklärung gefunden hat und mithin auszulegen ist. Zu beachten ist allerdings, dass beide Vereinbarungen nicht deckungsgleich sind. So gestattet die Verjährungserschwerung nach § 202 BGB eine Verlängerung der Verjährung nicht „über eine Frist von 30 Jahren ab dem gesetzlichen Verjährungsbeginn“. Anders ist die Rechtslage hingegen beim urteilsersetzenden Anerkenntnis, wenn dieses nach Beginn der Verjährungsfrist vereinbart wird. Darüber hinaus ist zu beachten, dass sich die Verjährungserschwerung nach § 202 BGB nicht auf die Anspruchsvoraussetzungen bzw. rechtvernichtenden Einwendungen bezieht und mithin keine Anerkennung (dem Grunde und/oder der Höhe nach) des Anspruches enthält. Ist dem Willen der Parteien aber zu entnehmen, dass sie nicht nur die Verjährungseinrede, sondern auch die Geltendmachung anderer Einwendungen durch den Schuldner ausschließen wollen, liegt die Annahme eines urteilsersetzenden Anerkenntnisses näher als eine Verjährungserschwerung.

__________ 87 Peters in Staudinger, 2004, § 202 BGB Rz. 5 und § 214 BGB Rz. 33; Lakkis, ZGS 2003, 423, 426. 88 Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 197 BGB Rz. 14; Mansel/Stürner in AnwK.BGB, 2005, § 197 BGB Rz. 59. 89 Heinrichs in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 197 BGB Rz. 12; Henrich in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 197 BGB Rz. 19; Peters in Staudinger, 2004, § 202 BGB Rz. 18 und § 212 BGB Rz. 5. 90 Ausdrücklich offen gelassen in OLG Saarbrücken, OLGR Saarbrücken 2007, 223 ff.

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Urteilsvertretendes Anerkenntnis und Verjährung

VIII. Zusammenfassung Das Gesetz gewährt den Parteien verschiedene Möglichkeiten auf die Verjährung eines Anspruchs einzuwirken. Diese Möglichkeiten haben sich durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz deutlich erhöht. All dies aber hat dem durch die Rspr geschaffenen Institut des urteilsersetzenden Anerkenntnisses einen eigenständigen Anwendungsbereich nicht genommen. Vielmehr sollte daran gedacht werden, diesen Anwendungsbereich auf Fälle jenseits des Haftpflichtrechts auszuweiten. Die dogmatischen Grundlagen des urteilsersetzenden Anerkenntnisses geben dies ohne weiteres her. Auch ein rechtvergleichender Blick zeigt, dass hierfür auch außerhalb des Haftpflichtrechts ein Bedürfnis besteht.

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Mathias Habersack

Die Bürgschaft für eine nachrangige Forderung Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Grundlagen 1. Akzessorietät der Bürgschaft 2. Gesetzlicher und gewillkürter Nachrang der Forderung a) Gesetzlicher Nachrang b) Gewillkürter Nachrang III. Haftung des Bürgen für die nachrangige Forderung 1. Rechtsprechung des BGH

2. Präzisierung a) Gesetzlicher Nachrang b) Gewillkürter Nachrang IV. Regress des Bürgen 1. Präzisierung der Fragestellung 2. Gesetzlicher Nachrang 3. Anfechtung nach § 6 AnfG 4. Gewillkürter Nachrang V. Ergebnis

I. Einleitung Im wissenschaftlichen Werk Friedrich Graf von Westphalens nimmt die Interzession eine besondere Stellung ein. Seine in dritter Auflage vorliegende „Bankgarantie im internationalen Handelsverkehr“ darf als Standardwerk bezeichnet werden1; und zu Fragen des Bürgschaftsrechts hat sich der Jubilar wiederholt und engagiert zu Wort gemeldet2. Schon dies legt es nahe, in einer Graf von Westphalen gewidmeten Festschrift Fragen der Interzession aufzugreifen. Es kommt hinzu, dass der Verfasser vor nunmehr gut zehn Jahren Gelegenheit hatte, im Rahmen eines internationalen Schiedsverfahrens, das Fragen der auf erstes Anfordern gestellten Bürgschaft zum Gegenstand hatte, einen intensiven und nachhaltigen Eindruck von den besonderen Fähigkeiten und Erfahrungen des Jubilars auf diesem Gebiet zu erfahren. Aus dem nahezu unerschöpflichen Fundus an interessanten Fragen zum Recht der Interzession sei im Folgenden eine herausgegriffen, die, soweit ersichtlich, im Schrifttum bislang keine allzu große Aufmerksamkeit erfahren hat, die indes angesichts der zunehmenden Komplexität der Finanzierungs- und Kreditsicherungspraxis und veränderter rechtlicher Rahmenbedingungen künftig größere Bedeutung erlangen dürfte. Die Rede ist von der Bürgschaft für eine nachrangige Forderung, mithin der Besicherung einer Forderung, die in der

__________ 1 Graf von Westphalen/Jud, Die Bankgarantie im internationalen Handelsverkehr, 3. Aufl. 2005. 2 Aus jüngerer Zeit: Graf von Westphalen, Ist das rechtliche Schicksal der „auf erstes Anfordern“ zahlbar gestellten Garantie besiegelt?, BB 2003, 116; ders., Unwirksamkeit der Bürgschaft auf erstes Anfordern – Wirksamkeit der Bankgarantie?, ZIP 2004, 1433.

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Mathias Habersack

Insolvenz des Hauptschuldners nur im Range nach den gewöhnlichen Gläubigern und, wenn der Nachrang auf Rechtsgeschäft beruht, außerhalb der Insolvenz typischerweise nur aus nicht zur Schuldendeckung benötigtem Aktivvermögen bedient wird. Eine solche Bürgschaft wirft zunächst die Frage auf, ob sich der Bürge auf den Nachrang der Hauptforderung berufen und damit seine Inanspruchnahme abwenden kann (dazu unter III). Soweit dies dem Bürgen nicht gestattet (er also zur Leistung verpflichtet) ist, fragt sich weiter, ob er den Hauptschuldner als gewöhnlicher – also nicht nachrangiger – Gläubiger in Regress nehmen kann (dazu unter IV.). Zu beginnen ist jedoch mit einer näheren Entfaltung der Problematik (unter II.).

II. Grundlagen 1. Akzessorietät der Bürgschaft Die Frage, ob und inwieweit der Bürge für eine nachrangige Forderung des Gläubigers gegen den Hauptschuldner einzustehen hat, ist vor dem Hintergrund der Akzessorietät der Bürgschaft zu sehen. Nach § 768 Abs. 1 Satz 1 BGB kann nämlich der Bürge die dem Hauptschuldner zustehenden Einreden geltend machen. § 768 Abs. 1 Satz 2 BGB nimmt hiervon zwar die Einrede der beschränkten Erbenhaftung aus; ergreift also der Erbe des Hauptschuldners Maßnahmen der Haftungsbeschränkung (§§ 1973 f., 1975 ff., 2014 f. BGB), so lässt dies die Haftung des Bürgen unberührt. Im Übrigen aber scheint die Befugnis des Bürgen, neben seinen eigenen Einreden auch diejenigen des Hauptschuldners geltend zu machen, unbeschränkt zu sein. Hierdurch soll sichergestellt werden, dass der Gläubiger gegenüber dem Bürgen keine besseren Rechte als gegenüber dem Hauptschuldner hat; die mit der Befugnis zur Geltendmachung abgeleiteter Einreden verbundene Durchbrechung des Grundsatzes der Unzulässigkeit einer exceptio ex iure tertii trägt dem Umstand Rechnung, dass der Bürge für fremde Schuld einzustehen hat3. § 768 BGB ergänzt im Übrigen § 767 BGB, der Fortbestand und Umfang der Bürgenschuld an die Hauptschuld knüpft und damit gleichfalls eine wesentliche Ausprägung der Akzessorietät der Bürgschaft zum Ausdruck bringt. Die in der Hauptschuld von Anfang an angelegten Erweiterungen muss sich zwar auch der Bürge entgegenhalten lassen; hierzu zählen nach Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 der Vorschrift namentlich Sekundäransprüche und Kosten4. In sachlicher Übereinstimmung mit § 768 Abs. 2 BGB, dem zufolge der Bürge eine Einrede nicht durch Verzicht des Schuldners verliert, bestimmt freilich § 767 Abs. 1 Satz 3 BGB, dass sich der Bürge die auf ein Rechtsgeschäft zwischen dem Gläubiger und dem Hauptschuldner zurückgehenden Erweiterungen der Hauptschuld nicht entgegenhalten zu lassen braucht. Auch der Vorschrift des § 767 BGB geht es also darum, den Bürgen an den Verteidigungsmitteln des

__________

3 Habersack in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 768 BGB Rz. 1; Häuser in Soergel, 12. Aufl. 2007, § 768 BGB Rz. 1; allg. zum Grundsatz der Akzessorietät Habersack, JZ 1997, 857 ff. 4 Näher Habersack in MünchKomm.BGB (Fn. 3), § 767 BGB Rz. 7 ff.

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Schuldners teilhaben zu lassen; zudem soll er vor „Fremddisposition“, d. h. einer Erweiterung seiner Haftung allein aufgrund einer Vereinbarung zwischen Gläubiger und Schuldner, geschützt werden5. Freilich ist es anerkannt, dass der Grundsatz der Akzessorietät hinsichtlich des Fortbestands und der Durchsetzbarkeit auch über die in § 768 Abs. 1 Satz 2 BGB geregelte Ausnahme hinaus immer dann einzuschränken ist, wenn dies der Sicherungszweck der Bürgschaft erfordert. So versteht es sich von selbst, dass der Bürge seiner Inanspruchnahme nicht unter Hinweis darauf entgehen kann, dass der Hauptschuldner vermögenslos und in der Folge gemäß § 394 FamFG erloschen sei6. Auch kommt dem Bürgen nach §§ 254 Abs. 2 Satz 1, 301 Abs. 2 Satz 1 InsO das insolvenzbedingte (teilweise) Erlöschen der Hauptschuld nicht zugute7. Und schließlich ist es dem Bürgen, um ein weiteres Beispiel anzuführen, verwehrt, die Notbedarfseinrede des § 519 BGB zu erheben8. 2. Gesetzlicher und gewillkürter Nachrang der Forderung a) Gesetzlicher Nachrang Der Nachrang der durch Bürgschaft gesicherten Forderung des Gläubigers gegen den Hauptschuldner kann bekanntlich auf Rechtsgeschäft oder auf Gesetz beruhen. Was zunächst die kraft Gesetzes nachrangige Forderung betrifft, so ist sie nach § 39 Abs. 1 InsO in der Insolvenz des Hauptschuldners nur im Rang nach den übrigen Forderungen der Insolvenzgläubiger zu befriedigen9. Herausragende Bedeutung kommt insoweit den in § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO genannten Forderungen auf Rückgewähr eines Gesellschafterdarlehens und ihnen wirtschaftlich entsprechenden Forderungen zu. Eine solche Forderung ist nach Inkrafttreten des MoMiG10 unabhängig davon nachrangig, ob sie kapitalersetzenden Charakter hat, mithin während einer Krise der Gesellschaft begründet oder „stehengelassen“ worden ist11. Die Bürgschaft für ein solches

__________ 5 Vgl. BGHZ 165, 28, 34; Horn in Staudinger, 13. Bearbeitung 1997, § 767 BGB Rz. 40; Habersack in MünchKomm.BGB (Fn. 3), § 767 BGB Rz. 10. 6 Vgl. BGHZ 153, 337, 340 ff.; BGH, ZIP 2008, 1376 Tz. 24 f.; näher Becker-Eberhard, Die Forderungsgebundenheit der Sicherungsrechte, 1993, S. 201 ff., 459 ff., 477 ff.; Habersack, JZ 1997, 857, 862 f. 7 Dazu Noack/Bunke in FS Uhlenbruck, 2000, S. 335, 351 f. 8 Jauernig, NJW 1953, 1207; Herrmann in Erman, 12. Aufl. 2008, § 768 BGB Rz. 4. 9 Unter Geltung der KO war die Geltendmachung eines kapitalersetzenden Darlehens im Konkurs der Gesellschaft nach § 32a Abs. 1 Satz 1 GmbHG a. F. gänzlich ausgeschlossen; zur Anpassung an die InsO s. Art. 48 EGInsO v. 5.10.1994, BGBl. I 1994, 2911. 10 Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen vom 23.10.2008, BGBl. I 2008, 2026; dazu Goette, Einführung in das das neue GmbH-Recht, 2008, mit Abdruck sämtlicher Materialien; s. ferner Huber/Habersack, BB 2006, 1 ff. 11 Für einen Überblick zum neuen Recht der Gesellschafterdarlehen s. Altmeppen, NJW 2008, 3601 ff.; Bayer/Graff, DStR 2006, 1654 ff.; Haas, ZInsO 2007, 617 ff.; Habersack in ders./Goette, Das MoMiG in Wissenschaft und Praxis, 2009, § 5; Mülbert, WM 2006, 1977 ff.

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Mathias Habersack

Darlehen hat die Rechtsprechung – freilich vor Inkrafttreten des MoMiG – schon wiederholt beschäftigt; hierauf ist zurückzukommen. Eine solche Bürgschaft ist im Übrigen schon im Ansatz von dem nunmehr in § 44a InsO geregelten Fall zu unterscheiden, dass der Gesellschafter das Darlehen eines Dritten besichert. Derlei mittelbare Gesellschafterfinanzierungen werfen schon deshalb nicht die Frage einer Haftung für nachrangige Verbindlichkeiten auf, weil die verbürgte Forderung in diesem Fall nicht kraft Gesetzes nachrangig ist12. Konzentriert man sich im Folgenden also auf die Bürgschaft eines Dritten für ein Gesellschafterdarlehen im Sinne des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO als Paradigma einer Bürgschaft für eine kraft Gesetzes nachrangige Forderung, so stellt sich im Wesentlichen die Frage, ob sich der Bürge in der Insolvenz der Gesellschaft gegenüber dem Gesellschafter darauf berufen kann, dass die gesicherte Forderung nur Nachrang genießt. Macht der Gesellschafter hingegen die Forderung außerhalb des Insolvenzverfahrens geltend, so erwächst der Gesellschaft aus dem Nachrang grundsätzlich keine Einwendung oder Einrede, mit der sie die Geltendmachung der Forderung außerhalb des Insolvenzverfahrens abwenden könnte13. Es bleibt dann nur die Möglichkeit, dass die Befriedigung des Gläubigers nach § 135 Abs. 1 InsO, § 6 AnfG angefochten wird. In diesem Fall lebt die Forderung des Gläubigers gegen die Gesellschaft wieder auf. Für die Insolvenzanfechtung bestimmt dies ausdrücklich § 144 Abs. 1 InsO; für die Anfechtung außerhalb des Insolvenzverfahrens folgt das Wiederaufleben aus § 12 Abs. 1 AnfG14. Mit der Forderung gegen die Gesellschaft lebt im Allgemeinen auch die Bürgschaftsforderung wieder auf15, so dass sich auch insoweit die Frage einer Haftung des Bürgen für die – in der Insolvenz nachrangige – Forderung sowie eines anschließenden Regresses des Bürgen stellt. b) Gewillkürter Nachrang Rangrücktrittsvereinbarungen begegnen in der Praxis nicht nur im Zusammenhang mit der Finanzierung der Gesellschaft durch ihre Gesellschafter; vielfach stellen auch Nichtgesellschafter dem Schuldner mit Nachrang versehenes

__________ 12 Näher zur Neukonzeption der §§ 44a, 143 Abs. 3 InsO K. Schmidt, BB 2008, 1966 ff. 13 Zur davon abweichenden Rechtslage vor Inkrafttreten des MoMiG s. BGHZ 90, 370; BGH, ZIP 2005, 82, 83; Habersack in Ulmer/Habersack/Winter, 2006, §§ 32a/b GmbHG Rz. 215 ff. 14 Vgl. Ganter, WM 2006, 1081, 1084 f.; Huber, 10. Aufl. 2006, § 12 AnfG Rz. 5; Hess/ Weis, Das neue Anfechtungsrecht, 1996, § 12 Rz. 1045; Zeuner, Die Anfechtung in der Insolvenz, 2. Aufl. 2007, Rz. 506, 509. 15 Vgl. für die Insolvenzanfechtung BGH, NJW 1974, 57; OlG Brandenburg, ZInsO 2004, 504; OLG Frankfurt/M., NZI 2004, 267; OLG München, WM 2008, 2112, 2113; OLG München, ZIP 2009, 1310, 1311; OLG Schleswig, NZI 2008, 166, 167; Kirchhof in MünchKomm.InsO, 2. Aufl. 2008, § 144 InsO Rz. 10c; Kreft in HeidelbergerKomm. InsO, 5. Aufl. 2008, § 144 InsO Rz. 3; eingehend Bork in FS Kreft, 2004, S. 229 ff.; für die Anfechtung nach dem AnfG s. Huber (Fn. 14), § 12 AnfG Rz. 5.

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Die Bürgschaft für eine nachrangige Forderung

Kapital zur Verfügung16. Die Ausgestaltung des Rangrücktritts ist Sache der Parteien. Nach § 39 Abs. 2 InsO ist allerdings im Zweifel anzunehmen, dass eine qua Rechtsgeschäft subordinierte Forderung erst nach den in § 39 Abs. 1 InsO bezeichneten – und damit kraft Gesetzes nachrangigen – Forderungen berichtigt wird. Hieran anknüpfend bestimmt § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO, dass Forderungen auf Rückgewähr von Gesellschafterdarlehen oder aus wirtschaftlich entsprechenden Rechtshandlungen, die mit einem Nachrang im Sinne von § 39 Abs. 2 InsO versehen sind, in der Überschuldungsbilanz nicht anzusetzen sind. Die Überlassung eines Nachrangdarlehens verschafft somit nicht nur Liquidität; sie ist vielmehr auch zur Beseitigung oder Vermeidung des Eröffnungsgrundes der Überschuldung geeignet17. Um so überraschender ist es, dass § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO die Entbehrlichkeit der Passivierung nur für Forderungen im Sinne des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO anordnet; für sonstige Forderungen, insbesondere also Nachrangdarlehen Dritter, kann bei Lichte betrachtet nichts anderes gelten18. Im Allgemeinen enthält die Nachrangabrede allerdings nicht nur eine Regelung für den Insolvenzfall. Typisch ist vielmehr die Abrede, dass die überlassenen Mittel der Stärkung der Eigenkapitalbasis der Gesellschaft dienen und die Forderung deshalb in der Insolvenz nur im Rang nach den Forderungen aller gewöhnlichen und kraft Gesetzes nachrangigen Insolvenzgläubiger und außerhalb des Insolvenzverfahrens nur aus dem Nettoaktivvermögen berichtigt werden soll19. Anders als die kraft Gesetzes nachrangige Forderung unterliegt deshalb die durch Rechtsgeschäft subordinierte Forderung auch außerhalb der Insolvenz einer – allerdings nicht notwendigerweise dauerhaften, vielmehr von der Existenz einer Unterbilanz abhängigen – Durchsetzungssperre20, was die Frage aufwirft, ob diese nach § 768 Abs. 1 Satz 1 BGB auch vom Bürgen geltend gemacht werden kann.

__________ 16 Zur Qualifizierung des nachträglichen Rangrücktritts als Schuldänderungsvertrag und damit als eine – in ihren Rechtsfolgen hinter dem Erlass zurückbleibende – Verfügung über die Forderung s. Knobbe-Keuk, ZIP 1983, 127, 129; s. ferner dies., StuW 1991, 306, 309; Haarmann in FS Röhricht, 2005, S. 137, 138 f.; Peters, WM 1988, 685, 689; Habersack, ZGR 2000, 387, 402 ff. mit weit. Nachw., auch zu abw. Konzeptionen. 17 Vgl. neben den Nachw. in voriger Fn. noch K. Schmidt in FS Goerdeler, 1987, S. 487; ders., ZIP 1999, 1241 ff. 18 So auch Ekkenga, ZGR 2009, 581, 621; zur Rechtslage vor Einführung des § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO Drukarczyk/Schüler in MünchKomm.InsO, Bd. 1, 2. Aufl. 2007, § 119 InsO Rz. 107. 19 Vgl. BGH, NJW-RR 2004, 1683; Kaiser, DB 2001, 1543; Herrmann, Quasi-Eigenkapital im Kapitalmarkt- und Unternehmensrecht, 1996, S. 135 ff.; Priester, DB 1977, 2429 ff.; Schrader, Die Besserungsabrede, 1995, S. 15 ff.; Habersack in Ulmer/Habersack/Winter (Fn. 13), §§ 32a/b GmbHG Rz. 238 f. 20 K. Schmidt in Scholz, 10. Aufl. 2006, §§ 32a/b GmbHG Rz. 105; Habersack in Ulmer/Habersack/Winter (Fn. 13), §§ 32a/b GmbHG Rz. 240.

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III. Haftung des Bürgen für die nachrangige Forderung 1. Rechtsprechung des BGH Mit der Frage einer Haftung des Bürgen für ein kraft Gesetzes oder kraft Vereinbarung nachrangiges Darlehen hatte sich der BGH schon verschiedentlich zu befassen. An erster Stelle zu nennen ist das Urteil des IX. Zivilsenats des BGH vom 15.2.199621, in dem über die Haftung des Bürgen für ein eigenkapitalersetzendes Gesellschafterdarlehen im Sinne des § 32a Abs. 1 GmbHG a. F. zu befinden war, nachdem die Gesellschaft die Rückzahlung des Darlehens unter Hinweis auf dessen eigenkapitalersetzenden Charakter verweigert hatte. Der Senat weist zu Recht darauf hin, dass sich der Bürge nach dem insbesondere in §§ 767 Abs. 1, 768 Abs. 1 BGB zum Ausdruck gebrachten Grundsatz der Akzessorietät an sich auf den kapitalersetzenden Charakter der Verbindlichkeit und das damit einher gehende Leistungsverweigerungsrecht der Gesellschaft aus § 30 Abs. 1 GmbHG (analog)22 berufen könnte, um sodann auszuführen23: „Da bei Gesellschafterdarlehen der Kapitalersatzcharakter jedoch in aller Regel ein Durchgangsstadium auf dem Weg zur Insolvenz ist, würde dies oft dem Sicherungsinteresse des Gläubigers und dem Sicherungszweck einer Bürgschaft nicht entsprechen. Es kann auf sich beruhen, ob dieser Umstand es rechtfertigen könnte, bei kapitalersetzenden Darlehen ganz allgemein den Grundsatz der Akzessorietät hinter dem Sicherungszweck zurücktreten zu lassen (…). Dies muss jedenfalls dann gelten, wenn ein Bürge weiß, dass der Darlehensgeber Gesellschafter der darlehensnehmenden GmbH ist und dass diese sich in einer finanziellen Krise befindet. In einem solchen Fall wird regelmäßig davon auszugehen sein, dass die Bürgschaft auch das Kapitalersatzrisiko abdecken soll. Andernfalls wäre das Sicherungsmittel für den Gläubiger fast immer wertlos. Für ihn ist die Absicherung des Kapitalersatzrisikos oft von noch größerer Bedeutung als die des Konkursrisikos, weil eigenkapitalersetzende Darlehen im Konkursfall nicht geltend gemacht (§ 32a Abs. 1 GmbHG), d. h. nicht zur Konkurstabelle angemeldet werden können (…)“24.

In späteren Entscheidungen hat der IX. Zivilsenat – im Zusammenhang mit Überlegungen zur anderweitigen Begrenzung des Akzessorietätsgrundsatzes durch den Sicherungszweck der Bürgschaft – auf sein Urteil vom 15.2.1996 verwiesen und hierbei den Grundsatz der Vertragsfreiheit betont, der es gestatte, eine Bürgschaft auch zur Sicherung von Ansprüchen zu vereinbaren, die der Gläubiger gegen den Hauptschuldner aus Rechtsgründen nicht durchsetzen könne25. Der XI. Zivilsenat des BGH hat sich in seinem Urteil vom 10.6.2008 der Rechtsprechung des IX. Zivilsenats angeschlossen und ausgeführt26:

__________ 21 22 23 24

BGH, NJW 1996, 1341 = DStR 1996, 877 mit Anm. Goette. BGH, NJW 1996, 1341, 1342; s. ferner die Nachw. in Fn. 13. BGH, NJW 1996, 1341, 1342. Zur Änderung der Rechtsfolge des § 32a Abs. 1 GmbHG a. F. durch Art. 48 EGInsO s. Fn. 9. 25 BGH, NJW 2003, 59, 60; BGHZ 143, 381, 385; s. ferner OLG Hamm, NZG 1998, 551, 552. 26 BGH, ZIP 2008, 1376 Tz. 21 ff.

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Die Bürgschaft für eine nachrangige Forderung „Zwar bestimmt sich die Haftung des Bürgen grundsätzlich nach Inhalt und Beschaffenheit der Hauptschuld (§ 767 BGB). Dies spricht grundsätzlich dafür, dass auch der für ein Gesellschafterdarlehen einstehende Bürge nach § 768 BGB gegenüber dem Gläubiger die Durchsetzungssperre des § 30 GmbHG in Anspruch nehmen kann. Die Akzessorietät findet ihre Grenze jedoch in der Sicherungsabrede der Parteien. Wird der vereinbarte oder bei Abschluss der Bürgschaft vorausgesetzte Sicherungsfall durch einen Umstand ausgelöst, der zugleich zur eingeschränkten Durchsetzbarkeit der gesicherten Forderung oder gar zu deren Wegfall führt, so kann sich der Bürge darauf nicht berufen. … Erfasst der ausdrücklich oder schlüssig erklärte Sicherungszweck den Fall, dass die schuldende Gesellschaft in eine Krise gerät, so kann sich der für ein Gesellschafterdarlehen haftende Bürge nicht auf eine das Eigenkapital der Gesellschaft sichernde Rückzahlungssperre berufen, da sich dabei gerade das mit der Bürgschaft abgesicherte Risiko verwirklicht (…). … Besitzt der Bürge aus der objektiven Sicht des Empfängers der Bürgschaftserklärung keine Kenntnis von der Gesellschafterstellung des Gläubigers und ergeben sich auch keine anderen Anhaltspunkte für eine entsprechende Risikoübernahme, so kann dies nach den konkreten Umständen einer Auslegung seiner Sicherungserklärung entgegenstehen, er wolle auch für das Risiko einer die Hauptverbindlichkeit wegen ihrer kapitalersetzenden Funktion treffenden Durchsetzungssperre einstehen.“

Bereits zuvor – im Urteil vom 27.4.2004 – hatte der XI. Zivilsenat Gelegenheit, sich zur Haftung des GmbH-Gesellschafters, der einen Schuldbeitritt zu einem Eigenkapitalergänzungsdarlehen erklärt hatte, zu äußern27. Der Darlehensvertrag enthielt die Abrede, dass das Darlehen der Verstärkung der Eigenkapitalbasis der Gesellschaft dienen sollte und die Gesellschaft deshalb nicht zu leisten brauchte, wenn ihr dies nicht aus Gewinnen, aus einem Liquidationsüberschuss oder aus einem anderen, die sonstigen Schulden übersteigenden Vermögen möglich war. Dem Einwand des Gesellschafters, auch ihm komme diese Beschränkung der Darlehensschuld zugute, hielt der XI. Zivilsenat die Rechtsprechung zur Bürgschaft für ein eigenkapitalersetzendes Gesellschafterdarlehen entgegen, um sodann auszuführen28: „Einen vergleichbaren Fall hat das Berufungsgericht hier rechtsfehlerfrei bejaht, da die Mithaftungserklärung der Gesellschafter mit Rücksicht auf den Eigenkapitalergänzungscharakter des ausgereichten Darlehens nur einen Sinn ergibt, wenn sie gerade auch im Falle der Zahlungsunfähigkeit der Darlehensnehmerin eingreifen soll. Da die im Rahmen eines Eigenkapitalergänzungsdarlehens ausgezahlten Darlehensmittel der Verstärkung der Eigenkapitalbasis des Darlehensnehmers dienen sollen, kann dieser im Fall nicht ausreichender Gewinne und erst recht im Fall der Zahlungsunfähigkeit nicht auf Rückzahlung des Darlehens in Anspruch genommen werden. Könnten sich die Beitretenden ebenfalls auf diese Rückzahlungssperre berufen, wäre der Schuldbeitritt, obwohl er Voraussetzung der Darlehensgewährung und einzige Sicherheit war, überflüssig. Die Beitretenden wären nämlich … gerade im Sicherungsfall, für den die Sicherheit bestellt war, leistungsfrei. Ein solches Verständnis der vertraglichen Regelungen hat das Berufungsgericht daher ausgehend von der Interessenlage der Vertragsparteien zu Recht abgelehnt. …“

__________ 27 BGH, NJW-RR 2004, 1683. 28 BGH, NJW-RR 2004, 1683, 1684; zuvor bereits Kaiser, DB 2001, 1543, 1544.

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2. Präzisierung a) Gesetzlicher Nachrang Nach Ansicht sowohl des IX. als auch des XI. Zivilsenats des BGH kommt es also in den Fällen des gesetzlichen Nachrangs ganz entscheidend darauf an, ob sich Gläubiger und Bürge zumindest stillschweigend darauf verständigt haben, dass der Sicherungszweck der Bürgschaft auch das Risiko des Nachrangs umfassen soll. Dem kann im Ausgangspunkt gewiss zugestimmt werden. Zwar soll nicht verkannt werden, dass sich die gesetzlichen Einschränkungen der Akzessorietät, die, wie namentlich § 768 Abs. 1 Satz 2 BGB, §§ 254 Abs. 2 Satz 1, 301 Abs. 2 Satz 1 InsO, der Verwirklichung des Bürgschaftsrisikos Rechnung tragen, ihrerseits ohne Weiteres aus einer am typischen Geschäftszweck orientierten Auslegung des Bürgschaftsvertrags herleiten ließen, die Grenzen zwischen objektivem Recht und Vertragsauslegung also auch insoweit fließend sind. Die Maßgeblichkeit des vertraglich festgelegten Sicherungszwecks wird hierdurch freilich nicht in Frage gestellt. Es bleibt deshalb im Wesentlichen die Frage, unter welchen Voraussetzungen im Einzelnen von einer Übernahme des Nachrangrisikos durch den Bürgen ausgegangen werden kann. Insoweit konnte sich der IX. Zivilsenat des BGH in der Entscheidung vom 15.2.1996 einer Stellungnahme enthalten, verhielt es sich doch so, dass der Bürge Kenntnis davon hatte, dass der Darlehensgeber Gesellschafter der darlehensnehmenden GmbH war und dass diese sich in einer finanziellen Krise befand29. Dann aber hatte sich das Kapitalersatzrisiko bei Lichte betrachtet bereits bei Übernahme der Bürgschaft verwirklicht. In einem solchen Fall wäre es schon widersprüchlich, wollte der Bürge in Kenntnis der Umstände einwenden, die Gesellschaft sei aus Gründen des Rechts der eigenkapitalersetzenden Gesellschafterhilfen zur Leistung nicht verpflichtet. Allzu viel gewonnen ist damit freilich nicht. Denn in den typischen Fallgestaltungen des alten Eigenkapitalersatzrechts verhielt es sich so, dass die Krise als das für die Umqualifizierung des Gesellschafterdarlehens wesentliche Element erst nach Übernahme der Bürgschaft eingetreten war. Der Verstrickung des Darlehens stand dies nicht entgegen, hatten doch Rechtsprechung und Schrifttum der Gewährung eines Krisendarlehens das „Stehenlassen“ eines außerhalb der Krise gewährten Darlehens gleichgestellt und hierdurch die Undurchsetzbarkeit auch desjenigen Darlehens befürwortet, das erst im nachhinein zum Krisendarlehen geworden war30. Für diesen typischen Fall ist das Urteil des XI. Zivilsenats des BGH weiterführend, in dem der Senat eine Übernahme des Risikos, „dass die schuldende Gesellschaft in eine Krise gerät“, vorbehaltlich anderer Anhaltspunkte in Zweifel zieht, wenn „der Bürge aus der objektiven Sicht des Empfängers der Bürgschaftserklärung keine Kenntnis von der Gesell-

__________ 29 BGH, NJW 1996, 1341, 1342. 30 BGHZ 105, 168, 185; BGH, NJW 1985, 2719, 2720; BGH, WM 1987, 284, 285; BGH, NJW 1990, 516, 517; BGHZ 127, 336, 341; BGH, NJW 1996, 722; BGH, NJW 2000, 3565; BGH, NZG 2003, 393; BGH, ZIP 2005, 82; näher Habersack in Ulmer/Habersack/Winter (Fn. 13), §§ 32a/b GmbHG Rz. 43 ff.

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Die Bürgschaft für eine nachrangige Forderung

schafterstellung des Gläubigers“ hat und sich auch keine anderen Anhaltspunkte für eine entsprechende Risikoübernahme ergeben31. Positiv gewendet bedeutet dies, dass die Kenntnis von der Gesellschafterstellung des Gläubigers genügt, um hieraus die Aufnahme des Kapitalersatzrisikos in den Sicherungszweck der Bürgschaft herleiten zu können; nicht erforderlich ist hingegen, dass sich das Risiko des Nachrangs bereits verwirklicht und der Bürge hiervon Kenntnis hat. Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen, kommt es doch auch in den gesetzlich geregelten Fällen einer Durchbrechung der Akzessorietät (§ 768 Abs. 1 Satz 2 BGB, §§ 254 Abs. 2 Satz 1, 301 Abs. 2 Satz 1 InsO) sowie in dem Fall, dass die Gesellschaft wegen Vermögenslosigkeit gelöscht ist, allein darauf an, dass sich das Bürgschaftsrisiko verwirklichen kann und der Bürge dieses einer jeden Bürgschaft immanente Risiko bei Übernahme der Bürgschaft kennt. An dem Erfordernis der Kenntnis von der Gesellschafterstellung sollte freilich auch festgehalten werden32. Da nämlich das Risiko an die Stellung des Gläubigers als Gesellschafter der finanzierten Gesellschaft anknüpft und damit über das allgemeine – und jedem Bürgen bekannte – Risiko der Inanspruchnahme hinausgeht33, verfügt der Bürge erst dann über ein hinreichendes Risikobewusstsein, wenn er Kenntnis von der Gesellschafterstellung als dem maßgebenden Risikoerhöhungsfaktor hat. Dem kommt nicht zuletzt mit Blick auf die Neukonzeption des Rechts der Gesellschafterdarlehen durch das MoMiG34 Bedeutung zu; auch insoweit gilt also, dass die Kenntnis des Bürgen von der Gesellschafterstellung des Gläubigers notwendige, aber auch hinreichende Voraussetzung für die stillschweigende Übernahme des Nachrangrisikos ist. b) Gewillkürter Nachrang Wendet man die vorstehend skizzierten Grundsätze auf den gewillkürten Nachrang an, so ist die Übernahme des Nachrangrisikos immer, aber auch nur dann zu bejahen, wenn der Bürge Kenntnis von der Nachrangabrede hat35. In diesem Fall ist dem Bürgen bewusst, dass sein Versprechen nur für den Fall von Bedeutung ist, dass der Schuldner nicht über hinreichend freie Mittel verfügt und die Leistung deshalb gegenüber dem Gläubiger verweigern darf. Fehlt es hingegen an entsprechender Kenntnis des Bürgen, so ist die Annahme, er wolle auch dann zur Zahlung verpflichtet sein, wenn dem Gläubiger der Zugriff auf das Gesellschaftsvermögen aufgrund der besonderen Ausgestaltung des Darlehensverhältnisses möglich wäre, ohne hinreichendes vertragliches Fundament. Es hat dann vielmehr bei § 768 Abs. 1 Satz 1 BGB zu bewenden; das Nachrangrisiko verbleibt beim Gläubiger. Verhält es sich schließlich so, dass sich Gläu-

__________ 31 BGH, ZIP 2008, 1376 Tz. 23. 32 Unklar noch Habersack in MünchKomm.BGB (Fn. 3), § 768 BGB Rz. 7, wonach die Bürgschaft für ein Gesellschafterdarlehen „regelmäßig“ das Nachrangrisiko erfasst; s. ferner Wittig, NZI 2001, 169, 171. 33 Zutr. Betonung dieses Umstands in BGH, ZIP 2008, 1376 Tz. 24. 34 Dazu bereits unter II. 2. a) mit Nachw. in Fn. 10, 11. 35 Vgl. bereits Habersack in MünchKomm.BGB (Fn. 3), § 768 BGB Rz. 7.

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biger und Schuldner erst nach Übernahme der Bürgschaft auf den Nachrang der gesicherten Forderung verständigen, so kommt dies nach § 768 Abs. 1 Satz 1 BGB auch dem Bürgen zugute.

IV. Regress des Bürgen 1. Präzisierung der Fragestellung Nach den bislang getroffenen Feststellungen umfasst der Sicherungszweck der Bürgschaft das Nachrangrisiko immer dann, wenn der Bürge Kenntnis von der Nachrangabrede oder – in den Fällen des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO – von der Gesellschafterstellung des Gläubigers hat. Herrscht hierüber jedenfalls im Grundsatz durchaus Einvernehmen, so brauchte sich die Rechtsprechung zur Frage, ob der solchermaßen vom Nachranggläubiger in Anspruch genommene Bürge seinerseits Regress beim Schuldner nehmen kann, bislang, soweit ersichtlich, nicht zu äußern. Auch im Schrifttum findet sich allenfalls der Hinweis, dass sich der Bürge, soweit er die im Wege der cessio legis gemäß § 774 Abs. 1 Satz 1 BGB erworbene Forderung geltend macht, deren Nachrang entgegenhalten lassen muss36. Was dagegen den Aufwendungsersatzanspruch aus § 670 BGB37 betrifft, so zeichnet er sich bekanntlich dadurch aus, dass er seine Grundlage allein im Verhältnis des Bürgen zum Hauptschuldner findet und deshalb durch das Hauptschuldverhältnis nicht beeinflusst wird. Hiervon betroffen ist zum einen die Verjährung38; zum anderen erlangt der Bürge nur vermittels der cessio legis die für die gesicherte Forderung bestehenden Nebenrechte und Vorzüge39. Die Vorschrift des § 774 Abs. 1 Satz 3 BGB verknüpft zwar die beiden Regressmodi insoweit, als der Schuldner dem Bürgen auch insoweit, als dieser den Regress auf die übergegangene Forderung stützt, nur im Rahmen des Innenverhältnisses zum Ausgleich verpflichtet ist, so dass kraft des hierdurch begründeten Vorrangs des Innenverhältnisses der Schuldner auch gegenüber der auf den Bürgen übergegangenen Hauptforderung einwenden kann, er sei diesem nicht oder nicht vollumfänglich zum Ausgleich verpflichtet40. Hingegen kann der Schuldner gegenüber dem auf § 670 BGB gründenden Regressanspruch des Bürgen grundsätzlich keine Einwendungen aus dem Verhältnis zum Gläubiger entgegenhalten41. Da der Nachrang der übergegangenen Forderung anhaftet und deshalb dem Verhältnis des Schuld-

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36 Vgl. Habersack in MünchKomm.BGB (Fn. 3), § 774 BGB Rz. 8. 37 Gegebenenfalls in Verbindung mit § 675 BGB oder § 683 BGB, s. BGH, WM 1993, 1668; OLG Stuttgart, NJW-RR 1994, 876 f.; Horn in Staudinger (Fn. 5), § 774 BGB Rz. 1; Habersack in MünchKomm.BGB (Fn. 3), § 774 BGB Rz. 19. 38 Vgl. BGH, ZIP 2000, 1576, 1577. 39 Näher dazu Horn in Staudinger (Fn. 5), § 774 BGB Rz. 4; Pecher in Soergel (Fn. 3), § 774 BGB Rz. 30; Habersack in MünchKomm.BGB (Fn. 3), § 774 BGB Rz. 8 ff. 40 BGH, NJW-RR 1992, 811; BGH, WM 1970, 751, 752; näher J. Dieckmann, Der Derivativregress des Bürgen gegen den Hauptschuldner im englischen und deutschen Recht, 2003, S. 332 ff.; Habersack, AcP 198 (1998), 152, 156 ff. 41 Im Ausgangspunkt wohl unstreitig, s. Habersack in MünchKomm.BGB (Fn. 3), § 774 BGB Rz. 21; Horn in Staudinger (Fn. 5), § 774 BGB Rz. 35; Pecher in Soergel (Fn. 3), § 774 BGB Rz. 23.

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ners zum Gläubiger entspringt, scheint er deshalb den Aufwendungsersatzanspruch des Bürgen nicht zu beeinflussen. Tatsächlich ist jedoch eine differenzierende Betrachtung geboten, die insbesondere den Vorgaben des Insolvenz- und Anfechtungsrechts Rechnung zu tragen hat. 2. Gesetzlicher Nachrang Wird der Bürge aus einer nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO nachrangigen Forderung in Anspruch genommen, so kann er nach § 44 InsO am Insolvenzverfahren über das Vermögen der Gesellschaft teilnehmen, und zwar unabhängig davon, ob er vor oder nach Insolvenzeröffnung (etwa nach Anfechtung der Leistung der Gesellschaft an den Gläubiger gemäß § 135 InsO)42 in Anspruch genommen worden ist, und unabhängig davon, ob er seinen Regress auf die cessio legis oder auf § 670 BGB stützt43. Die Gesellschaft kann zwar, wie bereits erwähnt44, dem Bürgen den Nachrang der gesicherten Forderung nach §§ 412, 404 BGB unzweifelhaft insoweit entgegenhalten, als dieser den Regress auf die cessio legis stützt. Was hingegen den Aufwendungsersatzanspruch des Bürgen betrifft, so scheint er, da er auf dem Rechtsverhältnis zur Gesellschaft beruht, eine gewöhnliche Insolvenzforderung zu sein. Aus Sicht der nicht nachrangigen Insolvenzgläubiger hätte dies zur Folge, dass die gesicherte Forderung, wiewohl als solche in der Hand des Gläubigers und des Zessionars nachrangig, in Gestalt des Aufwendungsersatzanspruchs des Bürgen als nicht nachrangige Forderung am Insolvenzverfahren teilnimmt und damit die Quote schmälert. Die Gesellschaft und ihre Gläubiger stünden im Ergebnis so, als wäre die gesicherte Forderung von vornherein nicht nachrangig gewesen; der Nachrang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO bliebe mit anderen Worten deshalb ohne praktische Folge, weil die nachrangige Forderung durch eine das Nachrangrisiko umfassende Bürgschaft gesichert ist. Es liegt auf der Hand, dass dieses Ergebnis, betrachtet man es allein aus Sicht des Insolvenzrechts und damit aus der Perspektive der Insolvenzgläubiger, keinen Bestand haben kann. Die Frage ist indes, ob sich die Wertungen des Insolvenzrechts auch gegenüber den Interessen des Bürgen durchzusetzen vermögen. Hieran bestehen nicht zuletzt deshalb Zweifel, weil es der – nunmehr insolvente – Schuldner war, der dem Bürgen das Mandat zur Übernahme der Bürgschaft erteilt hat; mag auch die Bürgschaft das Nachrangrisiko umfasst haben, so macht es doch aus Sicht des Bürgen einen Unterschied, ob er sich gegenüber dem Gläubiger verpflichtet, für die Schuld des Hauptschuldners unter Verzicht auf dessen Nachrangeinrede einzustehen, oder ob er auch im

__________ 42 Zum Wiederaufleben der gesicherten Forderung und der Bürgschaftsforderung s. bereits unter II. 2. a). 43 Vgl. RGZ 14, 172 ff.; RGZ 42, 35, 37; BGHZ 27, 51, 54; BGHZ 55, 117, 120; BGH, NJW 1985, 1159, 1160; BGH, ZIP 2008, 85 Tz. 8 ff., 13; näher dazu sowie zur Rechtslage bei Teilleistungen des Bürgen Bitter in MünchKomm.InsO, Bd. 1, 2. Aufl. 2007, § 44 InsO Rz. 3 f., 7 f., 23 f., 28 f.; Habersack in MünchKomm.BGB (Fn. 3), § 774 BGB Rz. 5, 17, 20; ders., BKR 2007, 77, 78 f.; Vogel, ZIP 2007, 2198 ff. (2201). 44 Unter IV. 1.

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Verhältnis zu seinem Auftraggeber – und damit schlussendlich – das Nachrangrisiko übernimmt. Der hiernach bestehende Widerstreit zwischen den Interessen der Insolvenzgläubiger und denen des Bürgen muss gleichwohl zu Lasten des Bürgen aufgelöst werden. Nimmt man die Bürgschaft für eine nach § 39 Abs. 1 Nr. 4 InsO nachrangige Forderung, mithin für einen Anspruch des Beschenkten gegen den – nunmehr insolventen – Schenker, so wäre es ganz und gar ungereimt, könnte der Bürge, nachdem er den Beschenkten befriedigt hat, seine Aufwendungen als gewöhnlicher Insolvenzgläubiger geltend machen. Die Unfähigkeit des Schuldners, mit Wirkung gegenüber den gewöhnlichen Insolvenzgläubigern ein Schenkungsversprechen abzugeben, muss vielmehr auch das Auftragsverhältnis zum Bürgen des Beschenkten ergreifen, soll nicht der Nachrang des § 39 Abs. 1 Nr. 4 InsO leerlaufen. Obgleich das Auftragsverhältnis des Bürgen zum Schenker als solches jedenfalls aus Sicht des insolventen Schenkers nicht unentgeltlich im Sinne des § 39 Abs. 1 Nr. 4 InsO ist45, umfasst der Sicherungszweck der Bürgschaft für eine unentgeltliche Forderung notwendigerweise auch das Risiko, dass nicht nur die im Wege der cessio legis erworbene gesicherte Forderung, sondern gleichermaßen der Aufwendungsersatzanspruch nur im Range des § 39 Abs. 1 Nr. 4 InsO bedient werden kann46. Nichts anderes hat für die Bürgschaft für eine Forderung im Sinne des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO zu gelten. Hierfür spricht auch die Erwägung, dass ein Dritter, der im Auftrag der Gesellschaft oder als Geschäftsführer ohne Auftrag nach § 267 BGB auf die Schuld der Gesellschaft leistet, mit seinem Aufwendungsersatzanspruch aus §§ 683, 670 BGB47 nicht besser stehen kann als der Gläubiger gestanden hätte, wäre er nicht befriedigt worden; der Aufwendungsersatzanspruch muss dann vielmehr den Rang der befriedigten Forderung teilen. Nichts spricht dafür, den Bürgen zu privilegieren. 3. Anfechtung nach § 6 AnfG Nach den vorstehend getroffenen Feststellungen kann der Bürge, der den Gläubiger einer kraft Gesetzes nachrangigen Forderung befriedigt hat, mit seinen Regressansprüchen nur als Nachranggläubiger am Insolvenzverfahren teilnehmen. Verhält es sich hingegen so, dass die Leistung der Gesellschaft auf das Gesellschafterdarlehen nach § 6 AnfG angefochten und daraufhin der Bürge vom Gläubiger in Anspruch genommen wird, so stellt sich die Frage eines Nachrangs des Regress nehmenden Bürgen nicht. Dem Bürgen bleibt es dann unbenommen, sich bei der Gesellschaft zu erholen. Mit Blick auf die An-

__________ 45 Dies gilt auch dann, wenn der Bürge keine Avalprovision erhält, mithin auf der Grundlage eines Auftrags- und nicht eines Geschäftsbesorgungsverhältnisses tätig wird; zum Begriff der „Entgeltlichkeit“ im Sinne des § 39 Abs. 1 Nr. 4 InsO s. Ehricke in MünchKomm.InsO, Bd. 1, 2. Aufl. 2007, § 39 InsO Rz. 23 f. 46 Dem entspricht es, dass das Verbot der Doppelanmeldung in § 44 InsO beide Regressmodi erfasst, s. Bitter in MünchKomm.InsO (Fn. 43), § 44 InsO Rz. 3 f., 7, dort auch zur entsprechenden Rechtslage unter Geltung der KO. 47 Dazu Krüger in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, § 267 BGB Rz. 19.

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Die Bürgschaft für eine nachrangige Forderung

fechtungsvoraussetzungen des § 2 AnfG wird der Regress zwar zumeist ohne Aussicht auf Erfolg sein. Doch lässt sich weder ausschließen, dass die Gesellschaft nach erfolgter Anfechtung ihrer Leistung an den Gesellschafter zu Vermögen gelangt, noch, dass sie bereits zuvor über Vermögen verfügt hat, etwa in Gestalt werthaltiger, aber verborgener Ansprüche gegen ihre Gesellschafter oder Organwalter. Soweit der Bürge seinen Regressanspruch tatsächlich durchsetzen konnte, stellt sich freilich die Frage der Anfechtbarkeit der Leistung der Gesellschaft. Die Antwort kann nicht anders ausfallen als im Falle der Insolvenz der Gesellschaft48. Danach unterliegt also nicht nur die Leistung auf die auf den Bürgen übergegangene gesicherte Forderung, sondern auch die Leistung auf den Aufwendungsersatzanspruch dem § 6 AnfG. 4. Gewillkürter Nachrang Nach den zum Regress bei gesetzlichem Nachrang getroffenen Feststellungen steht zugleich fest, dass der Bürge, der den Gläubiger einer kraft Vereinbarung nachrangigen Forderung befriedigt hat, über einen nicht nachrangigen Aufwendungsersatzanspruch aus § 670 BGB49 verfügt, den er innerhalb und außerhalb eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners geltend machen kann, ohne dass ihm entgegengehalten werden könnte, die gesicherte Forderung des Gläubigers hätte nur aus freiem Vermögen bedient werden müssen. Insolvenz- oder anfechtungsrechtliche Erwägungen, die einen solchen Regress ausschließen könnten, sind nicht ersichtlich, so dass es dabei zu bewenden hat, dass zwischen dem Rechtsverhältnis des Schuldners zum Gläubiger und demjenigen des Schuldners zum Bürgen zu trennen ist und der Schuldner sich gegenüber dem Aufwendungsersatzanspruch des Bürgen nicht mit Einwendungen aus dem Rechtsverhältnis zum Gläubiger verteidigen kann50. Zwar lässt sich nicht bestreiten, dass die Eigenkapitalergänzungsfunktion des gewillkürten Nachrangs durch den nicht nachrangigen Aufwendungsersatzanspruch des Bürgen nicht unerheblich relativiert wird. Doch kann der Schuldner über diese seine Position disponieren, ohne Rücksicht auf die übrigen Gläubiger nehmen zu müssen, die – das ist der Unterschied zum gesetzlichen Nachrang – keinerlei gesicherte Aussicht auf den Nachrang des Gläubigers hatten. Die übrigen Gläubiger hätten es vielmehr akzeptieren müssen, dass der gesicherte Gläubiger dem Schuldner ein nicht nachrangiges Darlehen überlässt und auf dessen Rückzahlung besteht. Dann aber müssen sie es auch hinnehmen, dass der Gläubiger zwar ein Nachrangdarlehen gewährt, indes auf Besicherung durch den Bürgen besteht; der Aufwendungsersatzanspruch des Bürgen, der im Übrigen insolvenzfest besichert werden kann51, substituiert dann gleichsam den Rückzahlungsanspruch des Gläubigers.

__________ 48 Dazu unter IV. 2. 49 Hinsichtlich der durch cessio legis erworbenen gesicherten Forderung bewendet es allerdings auch in diesem Fall bei dem Nachrang, s. §§ 404, 412 BGB und dazu unter IV. 1. 50 Näher dazu unter IV. 1. 51 BGH, NJW-RR 2008, 1007 Tz. 8 ff. (13).

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Aus Sicht der finanzierten Gesellschaft erweist sich die Überlassung gesicherten Nachrangkapitals gleichwohl als attraktiv. Denn ungeachtet der Sicherung durch eine Bürgschaft hat es dabei zu bewenden, dass das Nachrangdarlehen im Überschuldungsstatut nach § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO nicht zu passivieren ist52. Der Aufwendungsersatzanspruch des Bürgen ist aus Sicht der Gesellschaft eine Eventualverbindlichkeit, die nach allgemeinen Grundsätzen53 nur insoweit zu passivieren ist, als mit der Geltendmachung zu rechnen ist. Erscheinen die Sanierung der Gesellschaft und die Rückzahlung des Nachrangdarlehens aus freiem Vermögen gesichert, besteht kein Anlass für den Gläubiger, den Bürgen in Anspruch zu nehmen. Dann wiederum ist auch nicht mit der Entstehung und Geltendmachung eines Aufwendungsersatzanspruchs des Bürgen gegen die Gesellschaft zu rechnen54. Es bleibt allerdings die Frage, wie das Nachrangdarlehen und dessen Besicherung im Jahresabschluss abzubilden sind. Insoweit ist davon auszugehen, dass die kraft Parteivereinbarung nachrangige Verbindlichkeit im Jahresabschluss zwar zu passivieren ist55, der Nachrang indes kenntlich zu machen ist, und zwar nach zutreffender Ansicht in der Bilanz selbst und nicht nur im Anhang oder im Lagebericht56. Vor diesem Hintergrund sprechen gute Gründe dafür, dass die Verlautbarung des Nachranges mit einem über den Pauschalvermerk nach § 251 HGB hinausgehenden Hinweis auf die Besicherung durch eine Bürgschaft und die Möglichkeit der Regressnahme zu verbinden ist. Hierfür spricht nicht zuletzt auch die Erwägung, dass die Aufhebung eines im Jahresabschluss offengelegten Rangrücktritts angesichts des Schutzbedürfnisses derjenigen Gläubiger, die im Vertrauen auf den Rangrücktritt neuen Kredit ge-

__________ 52 Dazu unter II. 2. b). 53 Uhlenbruck in Uhlenbruck, 12. Aufl. 2003, § 19 InsO Rz. 54; Müller in Jaeger, Bd. 1, 1. Aufl. 2004, § 19 InsO Rz. 75. 54 Zum Einfluss einer positiven Fortbestehensprognose im Rahmen des Ansatzes von Passiva s. Drukarczyk in MünchKomm.InsO (Fn. 18), § 19 InsO Rz. 89 f., 98 ff., 114 ff.; Uhlenbruck in Uhlenbruck (Fn. 53), § 19 InsO Rz. 49, 58 f.; allg. zur Erfassung von Eventualverbindlichkeiten im Rahmen von Rückstellungen Müller in Jaeger (Fn. 53), § 19 InsO Rz. 75; a. A. – Verzicht auf Passivierung des Aufwendungsersatzanspruchs nur bei Nachrang auch dieses Anspruchs – Wittig, NZI 2001, 169, 171. 55 BGH, BB 2006, 792, 794 (mit Vorbehalt für Rückstufung auf den Rang des § 199 Satz 2 InsO); BFH, BB 1992, 676, 677; K. Schmidt in Scholz (Fn. 20), §§ 32a/b GmbHG Rz. 114; Altmeppen in Roth/Altmeppen, 6. Aufl. 2009, § 42 GmbHG Rz. 60 f.; Müller, DStR 1997, 1577, 1581; offen gelassen in BGHZ 124, 282, 284 = NJW 1994, 724. – Zur bilanziellen Erfassung auf Seiten des Gläubigers vgl. auch BFH, ZIP 2006, 249, 251 f. mit weit. Nachw. 56 So für eigenkapitalersetzende Gesellschafterdarlehen im Sinne von §§ 32a/b GmbHG a. F. zutr. Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, 16. Aufl. 2004, § 42 GmbHG Rz. 43 f.; Fleck, GmbHR 1989, 317; Schulze-Osterloh, WPg 1996, 97, 105; Bormann, Eigenkapitalersetzende Gesellschafterleistungen in der Jahres- und Überschuldungsbilanz, 2001, S. 151 ff.; a. A. – gegen jegliche Pflicht zur Kenntlichmachung – Klaus, BB 1994, 680, 685 ff.; wohl auch Altmeppen in Roth/Altmeppen (Fn. 55), § 42 GmbHG Rz. 60 f.; K. Schmidt in FS Goerdeler, 1987, S. 487, 509.

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Die Bürgschaft für eine nachrangige Forderung

währt haben, unwirksam ist57. Wird der Nachrang nicht aufgehoben, aber von vornherein mit der Maßgabe vereinbart, dass der Nachranggläubiger durch Bürgschaft gesichert ist, so darf der Rechtsverkehr Verlautbarung der vollen Wahrheit erwarten.

V. Ergebnis Die Bürgschaft umfasst das Nachrangrisiko des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO, wenn der Bürge die Gesellschafterstellung des Gläubigers kennt, und das Risiko der rechtsgeschäftlichen Subordination, wenn er die Nachrangabrede kennt. Hinsichtlich des Regresses des Bürgen ist jedoch zwischen gesetzlichem und rechtsgeschäftlichem Nachrang der gesicherten Forderung zu unterscheiden. Gegenüber der im Wege der cessio legis erworbenen Forderung kann der Schuldner den Einwand nur nachrangiger Haftung zwar in jedem Fall erheben. Der Anspruch des Bürgen aus § 670 BGB nimmt indes nur an dem gesetzlichen Nachrang der gesicherten Forderung teil. Im Falle der vertraglichen Subordination gebührt dem Bürgen hingegen ein nicht nachrangiger Aufwendungsersatzanspruch gegen den Schuldner.

__________ 57 Vgl. Knobbe-Keuk, ZIP 1983, 127 ff.; K. Schmidt in FS Goerdeler, 1987, S. 487, 502 f. (allerdings auf der Grundlage eines pactum de non petendo); Habersack, ZGR 2000, 387, 406 f.; ablehnend Teller/Seffan, Rangrücktrittsvereinbarungen zur Vermeidung der Überschuldung bei der GmbH, 3. Aufl. 2003, Rz. 383 ff.; Wittig, NZI 2001, 169, 175; Haarmann in FS Röhricht, 2005, S. 137, 150.

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Zum Normenscreening des anwaltlichen Berufsrechts Inhaltsübersicht I. Vorbemerkungen 1. Grundlage des Normenscreenings 2. Allgemeine Übersicht über die Dienstleistungsrichtlinie 2006 3. Die verschiedenen Blickrichtungen bei der Prüfung 4. Abgrenzung zwischen niedergelassener und vorübergehender grenzüberschreitender Tätigkeit II. Fällt die anwaltliche Dienstleistung unter das Normenscreening? 1. Keine rechtsgebietsbezügliche Ausnahme von der Richtlinie 2. Keine tätigkeitsbezügliche (sektorale) Ausnahme von der Richtlinie 3. Verdrängung der Richtlinie durch andere Gemeinschaftsrechtsakte? a) Art. 3 Abs. 1 Satz 1 der Dienstleistungsrichtlinie aa) Die Niederlassungsrichtlinie (1) Inhalt

(2) Verhältnis zur allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie bb) Die anwaltliche Dienstleistungsrichtlinie (1) Inhalt (2) Verhältnis zur allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie b) Art. 17 Nr. 4 der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie c) Ergebnis III. Gemeinsame Prüfkriterien im Rahmen der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit 1. Keine Diskriminierung 2. Rechtfertigung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses 3. Verhältnismäßigkeit IV. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung und Normenscreening

Wer unter den Juristen kennt ihn nicht, den Jubilar, als namensgebenden Gründer einer bedeutenden Anwaltskanzlei und als profunden Kenner insbesondere des Verbraucherrechts im weitesten Sinne, das er in seinen Aufsätzen und Kommentierungen nicht nur nachzeichnet, sondern auch prägt, in derselben grundsätzlichen und hinterfragenden Art, die auch seine journalistischen Beiträge im „Rheinischen Merkur“ auszeichnen, dem er seit Jahrzehnten eng verbunden ist – es gibt nur ganz wenige, die wie Friedrich Graf von Westphalen auf zwei derart unterschiedlichen Feldern so erfolgreich tätig sind. Weniger bekannt ist hingegen sein Engagement in der anwaltlichen Berufspolitik, seit 2003 im Vorstand und seit 2004 im Präsidium des Deutschen Anwaltvereines (DAV) in Berlin sowie seit 2003 in der Deutschen Delegation beim Rat der Europäischen Anwaltschaften (CCBE) in Brüssel, seit dem 1. Januar 2010 als deren Leiter. Deshalb widme ich ihm den folgenden Beitrag zu einigen aus der Sicht auch des CCBE besonders wichtigen Fragen des von der EGDienstleistungsrichtlinie 2006 angeordneten Normenscreenings – als kleines Zeichen großen Dankes für die enge persönliche Freundschaft, die uns seit 289

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dem Studium in Bonn vor 47 Jahren durch die Höhen und Tiefen des Lebens hindurch verbunden hat und weiter verbindet.

I. Vorbemerkungen 1. Grundlage des Normenscreenings Sedes materiae des Normenscreenings nach der Dienstleistungsrichtlinie 20061 ist nicht so sehr Art. 15 RL2, auch wenn dessen Überschrift „Zu prüfende Anforderungen“ lautet. Diese Bestimmung findet sich im Kapitel III der RL (Art. 9–15), das der „Niederlassungsfreiheit der Dienstleistungserbringer“ gewidmet ist. In diesem Kapitel III ist Abschnitt 1 (Art. 9–13) den Genehmigungen3 im Zusammenhang mit der Ausübung der Niederlassungsfreiheit gewidmet. Gegenstand von Abschnitt 2 sind sonstige „Unzulässige oder zu prüfende Anforderungen“. Art. 14 listet auf, welche Anforderungen4 unzulässig sind, und Art. 15 regelt, welche Anforderungen nach welchen Kriterien von den Mitgliedstaaten zu prüfen sind. All diese Bestimmungen von Kapitel III beziehen sich nur auf die „Niederlassungsfreiheit der Dienstleistungserbringer“. Der „Freie Dienstleistungsverkehr“, d. h. die vorübergehende grenzüberschreitende Dienstleistung ohne Niederlassung im Zielland der Tätigkeit, wird behandelt in Kapitel IV (Art. 16–21). Abschnitt 1 handelt von der Dienstleistungsfreiheit und damit zusammenhängenden Ausnahmen, indem Art. 16 Regelungen zur Dienstleistungsfreiheit und zu einzelnen Ausnahmen enthält, wobei sich weitere Ausnahmen in Art. 17 und Art. 18 finden. In diesem Kapitel IV gibt es keine Bestimmung, welche Mitgliedstaatlichen Anforderungen im Bereich der Dienstleistungsfreiheit nach welchen Kriterien zu prüfen sind, wie dies Art. 15 für den Bereich der Niederlassungsfreiheit anordnet. Auch dieser Umstand zeigt, dass Art. 15 der Richtlinie nicht die Grundlage für das umfassende Normenscreening sein kann. Sedes materiae für das umfassende Normenscreening ist vielmehr Art. 39 „Gegenseitige Evaluierung“5. Danach muss ein Mitgliedstaat der Kommission bis zum 28.12.2009 über folgende Themen schriftliche Berichte erstatten: a. Bericht gemäß Art. 9 Abs. 2 über die Genehmigungsregelungen im Zusammenhang mit der Niederlassungsfreiheit, zusammen mit einer Begründung, weshalb diese Regelungen mit Art. 9 Abs. 1 vereinbar sind – diese Begründung setzt eine vorherige Überprüfung voraus.

__________ 1 Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 12.12.2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt, ABl. EU Nr. L 376 v. 27.12.2006, S. 36 ff. 2 So aber Henssler, Die internationale Entwicklung und die Situation der Anwaltschaft als freier Beruf, AnwBl. 2009, 1, 3. 3 Definiert in Art. 4 Nr. 6. 4 Definiert in Art. 4 Nr. 7. 5 Ebenso Streinz, Die Ausgestaltung der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit, S. 97, 122 f., in Leible (Hrsg.), Die Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie – Chancen und Risiken für Deutschland, 2008.

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Zum Normenscreening des anwaltlichen Berufsrechts

b. Bericht gemäß Art. 15 Abs. 5 über die zu prüfenden Anforderungen im Zusammenhang mit der Niederlassungsfreiheit, verbunden mit der Aussage, welche Anforderungen die Mitgliedstaaten beabsichtigen beizubehalten und warum sie der Auffassung sind, dass diese die Bedingungen von Art. 9 Abs. 3 erfüllen, und welche Anforderungen aufgehoben oder gelockert worden sind – dies verlangt eine über Art. 15 hinausgehende Evaluierung. c. Bericht gemäß Art. 25 Abs. 3 über die multidisziplinären Tätigkeiten, verbunden mit einer Darlegung, welche Dienstleistungserbringer welchen Anforderungen bezüglich der multidisziplinären Tätigkeit unterworfen sind und weshalb diese Anforderungen für gerechtfertigt gehalten werden – auch dies verlangt eine entsprechende vorherige Überprüfung. d. Bericht über die nationalen Anforderungen im Bereich der Dienstleistungsfreiheit, deren Anwendung unter Art. 16 Abs. 1 Unterabs. 3 und Abs. 3 Satz 1 fallen könnte, mit Darlegung der Gründe, aus denen die betreffenden Anforderungen für mit den Kriterien nach Art. 16 Abs. 1 Unterabs. 3 und Abs. 3 Satz 1 vereinbar gehalten werden – auch dies verlangt eine entsprechende vorherige Evaluierung. Art. 25 ist die einzige Bestimmung von Kapitel V „Qualität der Dienstleistungen“, die in dieser Weise ausdrücklich eine Evaluierung anordnet. Für die übrigen Bestimmungen von Kapitel V fehlt es an einer derartigen ausdrücklichen Regelung. Dies gilt insbesondere für Art. 24 „Kommerzielle Kommunikation für reglementierte Berufe“. Danach sind absolute Verbote der Werbung für reglementierte Berufe aufzuheben (Abs. 1) und Beschränkungen nur in engem Umfang zulässig (Abs. 2). Werbebeschränkungen stellen sich jedoch als Regelung eines Teilaspekts der eigentlichen Dienstleistungserbringung dar6. Dies spricht dafür, dass die kommerzielle Kommunikation für reglementierte Berufe nach Art. 24 auf diesem Umweg doch unter das ausdrückliche Evaluierungsgebot nach Art. 39 fällt. Was die elektronische Berichterstattung der Mitgliedstaaten an die Kommission angeht, scheint es keine Vorgaben der Kommission zu geben. Das äußere Format der einzelnen nationalen Berichte wird deshalb – möglicherweise erheblich – voneinander abweichen, was die Kommission bei der Auswertung vor einige Schwierigkeiten stellen dürfte. In Deutschland liegt die Federführung für die Berichterstattung an die Kommission beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi). In Deutschland ist für das Normenscreening festgelegt worden, dass jede Normebene für das Screening der von ihr gesetzten Normen selbst zuständig ist. Damit es zu einem kohärenten deutschen Bericht an die Kommission kommen kann, ist es erforderlich, dass das Screening auf allen Ebenen (Bundesebene, Länderebene, Kommunalebene und Kammerebene als sog. mittelbare Staatsverwaltung) – unbeschadet der Verantwortlichkeit jeder Ebene für

__________ 6 Vgl. EuGH v. 11.12.2003, Schnitzer, RS C-215/01, Rz. 29: „Die Niederlassung beinhaltet Kundenwerbung.“

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die Prüfung und gegebenenfalls Anpassung der eigenen Normen – nach einem einheitlichen Prüfungsraster erfolgt und dass dabei einheitliche Übermittlungsmasken verwendet werden. Das BMWi hat für den elektronischen Bericht ein „Raster für die Normenprüfung“ erstellt7. Das Ministerium hat zu diesem Raster zwei Handreichungen gefertigt, die eine mit dem Titel „Normenprüfung verstehen und durchführen“8 als allgemeine Einführung mit Beispielsfällen, die andere mit der Überschrift „Häufig gestellte Fragen zur Normenprüfung“9. Das Raster von 39 Seiten ist EDV-mäßig aufgemacht, d. h. der Leser arbeitet sich durch das Raster durch, indem er bei jedem Schritt eine bestimmte Frage beantwortet und dann je nach Antwort zu einer weiteren Frage geführt wird, usw. Die Antworten zu den einzelnen Fragen sind in das Rasterdokument einzutragen. Die in sich schon gegebene Komplexität der Richtlinie mit ihren zahlreichen Ausnahmen und Rückausnahmen macht das Normenraster und die Arbeit mit ihm überaus kompliziert. Hinzu kommt, dass das Normenraster für alle Normen jedweder Art bei allen Dienstleistungsberufen gedacht ist. Dies führt dazu, dass es im Einzelfall sehr schwierig ist, konkrete Konstellationen „unterzubringen“, die nur bei einzelnen Dienstleistungsarten auftreten. Wenn schon den Rechtsanwälten der richtige Umgang mit diesem Prüfraster schwer fällt, obwohl ihnen die Rechtsmaterie an sich vertraut ist, wieviel mehr muss das dann für andere Dienstleistungsbereiche gelten! Welche Schwierigkeiten wird beispielsweise eine mit dem Europarecht nicht weiter vertraute Kommune haben, ihre zahlreichen Gemeindesatzungen auf Verstöße gegen das Europarecht zu evaluieren! Zuständig nach dem oben Gesagten für das Screening des deutschen anwaltlichen Berufsrechts ist somit, soweit es sich um gesetzliche Regelungen handelt, die Bundesebene, d. h. das Bundesministerium der Justiz (BMJ) und, soweit es sich um die Berufsordnung der Rechtsanwälte und die Fachanwaltsordnung handelt, die Satzungsversammlung bei der Bundesrechtsanwaltskammer als Satzungsgeber nach § 59b BRAO10. Zur Vorbereitung dieses Screenings von BORA und FAO hat die Satzungsversammlung einen Unterausschuss gebildet, bestehend aus je zwei Mitgliedern ihrer insgesamt fünf Ausschüsse. Dieser Unterausschuss hat am 24.2.2009 einen von mir als Vorsitzendem und Berichterstatter gefertigten Bericht über seine Arbeit an die Satzungsversammlung erstellt. Dieser Bericht macht zunächst allgemeine Ausführungen zum Screeningauftrag und -umfang und befasst sich sodann mit den einzelnen Vorschriften von BORA und FAO. Die fünf Ausschüsse der Satzungsversammlung haben ihre Beratungen über diesen Bericht abgeschlossen

__________ 7 Vgl. Materialien der Satzungsversammlung bei der Bundesrechtsanwaltskammer, SV-Mat. 26/2007 und SV-Mat. 25/2008. 8 SV-Mat. 25/2008. 9 SV-Mat. 25/2008. 10 Es handelt sich um sog. Verbandsrecht, unbeschadet der Tatsache, dass die betreffenden Satzungsbeschlüsse vor ihrem Inkrafttreten durch das BMJ überprüft werden (§ 191d Abs. 5 und § 191e BRAO).

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Zum Normenscreening des anwaltlichen Berufsrechts

und darüber an die Satzungsversammlung berichtet. Diese hat sich mit dem Thema Normenscreening am 6. und 7.11.2009 ausführlich befasst11. 2. Allgemeine Übersicht über die Dienstleistungsrichtlinie 2006 Die Dienstleistungsrichtlinie 2006, die bis zum 28.12.2009 umgesetzt werden musste, ist eine horizontale Richtlinie für alle Dienstleistungsberufe. Sie will bestehende Schranken für Dienstleistungen im Binnenmarkt abbauen. Verfahren und Formalitäten sollen vereinfacht, die Aufnahme und Ausübung von Dienstleistungen erleichtert werden. Angesprochen sind dabei die niedergelassene wie die vorübergehende grenzüberschreitende Tätigkeit. Grundsätzlich angesprochen sind auch diejenigen Dienstleistungsberufe, für die sektorale Richtlinien bestehen, wie die anwaltliche Dienstleistung12. Die Richtlinie hat insgesamt 118 Erwägungsgründe. Dies spiegelt die Komplexität der Materie und die politischen Schwierigkeiten im gemeinschaftsrechtlichen Gesetzgebungsverfahren wider. Kapitel I enthält „Allgemeine Bestimmungen“. Wichtig sind folgende Artikel. Art. 1 „Gegenstand“ regelt u. a., welche Rechtsgebiete durch die Richtlinie nicht berührt werden. Aus Art. 2 ergibt sich, auf welche Tätigkeiten (z. B. Finanzdienstleistungen) die Richtlinie keine Anwendung findet. Art. 3 regelt, in welchem Verhältnis die Richtlinie zu anderen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts steht. Soweit ein Widerspruch besteht, hat die Bestimmung des anderen Gemeinschaftsrechtaktes Vorrang. Art. 4 definiert insgesamt zwölf Begriffe, die in der Richtlinie Verwendung finden. Definiert werden insbesondere die Begriffe Genehmigungsregelung, Anforderung und zwingende Gründe des Allgemeininteresses. Kapitel II handelt von der „Verwaltungsvereinfachung“. Kapitel III befasst sich mit der „Niederlassungsfreiheit der Dienstleistungserbringer“. Abschnitt 1 handelt von den Genehmigungen. Abschnitt 2 befasst sich mit Anforderungen bei der niedergelassenen Dienstleistungstätigkeit (Art. 14 Unzulässige Anforderungen und Art. 15 Zu prüfende Anforderungen). Kapitel IV ist dem „Freien Dienstleistungsverkehr“ gewidmet. Abschnitt 1 befasst sich mit der Dienstleistungsfreiheit und damit zusammenhängenden Ausnahmen. Art. 16 „Dienstleistungsfreiheit“ regelt, dass die Mitgliedstaaten die Dienstleistungsfreiheit achten müssen und welche Anforderungen sie für die Aufnahme oder Ausübung einer vorübergehenden grenzüberschreitenden Dienstleistung in ihrem Hoheitsgebiet stellen dürfen und welche nicht. Art. 17 regelt „Weitere Ausnahmen von der Dienstleistungsfreiheit“, Art. 18 Ausnahmen im Einzelfall. Abschnitt 2 befasst sich mit den Rechten der Dienstleistungsempfänger. Kapitel V ist der „Qualität der Dienstleistungen“ gewidmet. Kapitel VI regelt die „Verwaltungszusammenarbeit“. Kapitel VII beinhaltet das „Konvergenzprogramm“, darunter den bereits erwähnten Art. 39 „Gegenseitige Evaluierung“. Kapitel VIII enthält die „Schlussbestimmungen“.

__________ 11 Dieser Beitrag beruht weitgehend auf dem vorgenannten Bericht des Unterausschusses Normenscreening der Satzungsversammlung. 12 Vgl. Erwägungsgrund 33: „Rechts- oder Steuerberatung“.

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Die Kommission hat im Jahre 2007 ein 93 Seiten starkes „Handbuch zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie“ veröffentlicht. Dieses rechtlich unverbindliche Handbuch enthält hilfreiche Informationen über die Richtlinie allgemein und ihre einzelnen Bestimmungen13. 3. Die verschiedenen Blickrichtungen bei der Prüfung Wie bereits erwähnt hat die Evaluierung sowohl im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit als auch mit Blick auf die Dienstleistungsfreiheit zu erfolgen. Erfasst wird also die niedergelassene grenzüberschreitende Tätigkeit wie die vorübergehende grenzüberschreitende Tätigkeit. Bei jeder dieser beiden Prüfungen sind jeweils zwei Fallkonstellationen in den Blick zu nehmen. Deutschland, dessen Normen evaluiert werden sollen, kann bei der grenzüberschreitenden Tätigkeit Herkunftsland sein (ein deutscher Dienstleister ist in Frankreich tätig, sog. Tätigkeit outbound) oder Zielland (ein französischer Dienstleister ist in Deutschland tätig, sog. Tätigkeit inbound). Es gibt also insgesamt vier Kombinationsmöglichkeiten. Jede zu evaluierende Norm muss grundsätzlich auf jede dieser vier Kombinationsmöglichkeiten durchgeprüft werden. 4. Abgrenzung zwischen niedergelassener und vorübergehender grenzüberschreitender Tätigkeit Die Richtlinie unterscheidet zwischen niedergelassener und vorübergehender grenzüberschreitender Tätigkeit. Abgrenzungsregelungen durch den Gemeinschaftsgesetzgeber fehlen. Unter Rückgriff auf die Rspr. des EuGH heißt es dazu im Handbuch der Kommission14: „Die Niederlassung umfasst die tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit durch eine feste Niederlassung auf unbestimmte Zeit15. Im Gegensatz dazu wird die Dienstleistungsfreiheit nach der Rechtsprechung des EuGH zufolge (sic) durch das Fehlen einer stabilen und kontinuierlichen Beteiligung am Wirtschaftsleben des Aufnahmemitgliedstaates gekennzeichnet16. Wie der EuGH beständig entschieden hat, muss die Unterscheidung zwischen Niederlassung und Erbringung von Dienstleistungen auf Einzelfallbasis unter Berücksichtigung nicht nur der Dauer, sondern auch der Häufigkeit, der Regelmäßigkeit und der Kontinuität der Erbringung von Dienstleistungen erfolgen17. Daraus folgt, wie durch den EuGH geschlussfolgert, dass keine allgemeingültige Höchstdauer festgesetzt werden kann, um zwischen Niederlassung und Erbringung von Dienstleistungen zu unterscheiden18. Überdies ist auch die Tatsache, dass der Anbieter eine

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13 http://ec.europa-eu/internal_market/services/services-dir/index_de.htm. 14 Vgl. Nr. 7.1.1, S. 55. 15 EuGH v. 25.7.1991, Factortame, RS C-221/89, Rz. 20. S. auch die Definition von „Niederlassung“ in Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie. 16 EuGH v. 13.2.2003, Kommission ./. Italien, RS C-131/01, Rz. 23. 17 EuGH v. 30.11.1995, Gebhard, RS C-55/94, Rz. 39; EuGH v. 11.12.2003, Schnitzer, RS C-215/01, Rz. 28. 18 EuGH v. 11.12.2003, Schnitzer, RS C-215/01, Rz. 31.

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Zum Normenscreening des anwaltlichen Berufsrechts bestimmte Infrastruktur verwendet, nicht entscheidend, da ein Erbringer von Dienstleistungen auch im Aufnahmemitgliedstaat eine Infrastruktur zur grenzüberschreitenden Erbringung von Dienstleistungen verwenden kann, ohne dort niedergelassen sein zu müssen19. Im Fall Schnitzer erklärte der EuGH, dass selbst eine über mehrere Jahre in einem anderen Mitgliedstaat ausgeführte Tätigkeit, je nach den Umständen des Falles, als Dienstleistungserbringung im Sinne des Artikels 49 des EG-Vertrages betrachtet werden kann, wobei das Gleiche auch auf wiederholt ausgeführte Dienstleistungserbringungen über einen längeren Zeitraum – wie beispielsweise Consulting oder Beratungsdienstleistungen – zutrifft. Die Niederlassung erfordert die Integration in das Wirtschaftsleben des Mitgliedstaats und beinhaltet Kundenwerbung in dem Mitgliedstaat auf der Grundlage eines stabilen professionellen Sitzes“20.

Aus dieser Rspr. des EuGH folgt, dass die Trennungslinie zwischen niedergelassener und vorübergehender grenzüberschreitender Tätigkeit im konkreten Einzelfall unscharf sein kann. Dieses Problem stellt sich jedoch nur dort, wo es darum geht, einen konkreten Fallsachverhalt unter die betreffenden Normen zu subsumieren. Es handelt sich also um ein Problem der Normanwendung. Bei der Normevaluierung stellt sich dieses Abgrenzungsproblem nicht. Die Evaluierung ist abstrakt vorzunehmen mit Blick auf die niedergelassene grenzüberschreitende Tätigkeit einerseits und die vorübergehende grenzüberschreitende Tätigkeit andererseits, beide Tätigkeiten jeweils im idealtypischen Sinne verstanden. Das Normenscreening ist also eine abstrakte Normenevaluierung, bei der sachverhaltsbedingte Abgrenzungsprobleme ohne Belang sind.

II. Fällt die anwaltliche Dienstleistung unter das Normenscreening? Nach diesen Ausführungen zum Normenscreening allgemein ist auf die Frage einzugehen, ob speziell die anwaltliche Tätigkeit überhaupt von der Richtlinie erfasst wird, und wenn ja, in welchem Umfang. Diese Frage stellt sich insbesondere vor dem Hintergrund, dass die grenzüberschreitende anwaltliche Tätigkeit bereits einigen gemeinschaftsrechtlichen Richtlinien unterliegt: – Die Dienstleistungsrichtlinie für Rechtsanwälte vom 22.3.1977 (77/249/ EWG) regelt bestimmte Aspekte der vorübergehenden grenzüberschreitenden Anwaltstätigkeit. – Die Niederlassungsrichtlinie für Rechtsanwälte vom 16.2.1998 (98/5/EG) regelt bestimmte Fragen der niedergelassenen grenzüberschreitenden Tätigkeit von Rechtsanwälten. Beide Richtlinien sind, weil sie sich auf die anwaltliche Tätigkeit beschränken, sog. sektorale Richtlinien. – Die Diplomanerkennungsrichtlinie vom 21.12.1988 (89/48/EWG) regelte die grenzüberschreitende Anerkennung von Diplomen bestimmter Berufe. Diese Richtlinie ist durch die (ebenfalls horizontale) Richtlinie über die An-

__________ 19 EuGH v. 30.11.1995, Gebhard, RS C-55/94, Rz. 27; EuGH v. 11.12.2003, Schnitzer, RS C-215/01, Rz. 28. 20 EuGH v. 11.12.2003, Schnitzer, RS C-215/01, Rz. 29.

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erkennung von Berufsqualifikationen vom 7.9.2005 (2005/36/EG) abgelöst worden. 1. Keine rechtsgebietsbezügliche Ausnahme von der Richtlinie Art. 1 regelt den Gegenstand der Dienstleistungsrichtlinie. Danach berührt die Richtlinie bestimmte Rechtsgebiete nicht, z. B. das Strafrecht, das Arbeitsrecht und das Recht der sozialen Sicherheit. Das anwaltliche Berufsrecht ist dort nicht genannt. 2. Keine tätigkeitsbezügliche (sektorale) Ausnahme von der Richtlinie Art. 2 Abs. 2 der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie nimmt bestimmte, im Einzelnen aufgelistete Dienstleistungsarten von der Richtlinie insgesamt aus, beispielsweise Finanzdienstleistungen und die in besonderen Richtlinien geregelten elektronischen Kommunikationsdienstleistungen. Anwaltliche Dienstleistungen sind dort nicht genannt, genießen also keine Totalausnahme von der Richtlinie. Bei den Beratungen im Europaparlament waren, veranlasst durch den CCBE und andere Anwaltsorganisationen, Anträge auf Totalausnahme gestellt worden, fanden aber keine Mehrheit. 3. Verdrängung der Richtlinie durch andere Gemeinschaftsrechtsakte? a) Art. 3 Abs. 1 Satz 1 der Dienstleistungsrichtlinie Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie lautet: „Widersprechen Bestimmungen dieser Richtlinie einer Bestimmung eines anderen Gemeinschaftsrechtsaktes, der spezifische Aspekte der Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit in bestimmten Bereichen oder bestimmten Berufen regelt, so hat die Bestimmung des anderen Gemeinschaftsrechtsaktes Vorrang und findet auf die betreffenden Bereiche oder Berufe Anwendung.“

Dies gilt nach Satz 2 neben drei weiteren hier von vorneherein nicht einschlägigen beispielhaft genannten sekundärrechtlichen Gemeinschaftsrechtsakten für „die Richtlinie 2005/36/EG“ (sog. Berufsqualifikationsrichtlinie). Anders als Art. 2 Abs. 2 führt Art. 3 Abs. 1 nicht zu einer Totalausnahme von der Richtlinie, sondern nur zu einer teilweisen Ausnahme, nämlich insoweit, als Bestimmungen anderer Gemeinschaftsrechtsakte, von denen die Dienstleistungsrichtlinie abweicht, Vorrang haben. Nur insoweit, als ein Widerspruch besteht, tritt die Dienstleistungsrichtlinie zurück und hat der andere Gemeinschaftsrechtsakt Vorrang. Im Einzelfall kann allerdings die Bestimmung, was alles unter den „vorfahrtsberechtigten“ anderen Gemeinschaftsrechtsakt fällt, Schwierigkeiten bereiten. Die in Art. 3 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie beispielhaft genannte „vorfahrtsberechtigte“ Berufsqualifikationsrichtlinie von 2005 regelt die wechselseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen durch die Mitgliedstaaten. Des weiteren bestimmt Art. 17 Nr. 6 der Dienstleistungsrichtlinie, dass die Regelungen 296

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in Art. 16 zur Dienstleistungsfreiheit keine Anwendung finden auf Angelegenheiten, die unter Titel II der Berufsqualifikationsrichtlinie fallen. Es handelt sich in beiden Fällen um eine zusätzliche Kollisionsnorm für den Bereich der Dienstleistungsfreiheit, die zu der allgemeinen Kollisionsnorm von Art. 3 Abs. 1 hinzutritt und sie in dieselbe Richtung gehend ergänzt. Aus beiden Vorschriften ergibt sich die Frage, ob die Berufsqualifikationsrichtlinie auf die rechtsdienstleistende Tätigkeit Anwendung findet. Das BMJ, wie mündlich in Erfahrung gebracht wurde, und die einschlägige Literatur21 gehen davon aus, dass die Berufsqualifikationsrichtlinie wegen deren Erwägungsgrund 42 in wesentlichen Teilen nicht auf die Anwaltschaft anwendbar ist, sondern dass dieser Richtlinie die anwaltsspezifischen Richtlinien (Dienstleistungsrichtlinie 1977, Niederlassungsrichtlinie 1998) vorgehen. Daraus ergibt sich, dass die allgemeine Dienstleistungsrichtlinie, soweit ein Widerspruch besteht, anwendungsmäßig nicht gegenüber der Berufsqualifikationsrichtlinie zurücktritt, wohl aber möglicherweise gegenüber den beiden anwaltsspezifischen Richtlinien. Dass diese Richtlinien in Art. 3 Abs. 1 Satz 2 nicht genannt sind, ist nicht weiter von Bedeutung, denn die dortige „insbesondere“-Aufzählung ist nur beispielhaft. Entscheidend ist allein, ob die beiden anwaltspezifischen Richtlinien Bestimmungen enthalten, denen die allgemeine Dienstleistungsrichtlinie widerspricht. Soweit dies der Fall ist, kommen insoweit nicht die betreffenden Bestimmungen der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie, sondern die der anwaltspezifischen Richtlinien zur Anwendung. aa) Die Niederlassungsrichtlinie (1) Inhalt Diese Richtlinie soll nach Art. 1 die ständige Ausübung des Anwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem erleichtern, in dem die Berufsqualifikation erworben wurde. Nach Art. 2 hat jeder in der Auflistung der anwaltlichen Berufsbezeichnungen der einzelnen Mitgliedstaaten aufgeführte Anwalt das Recht, unter seiner ursprünglichen Berufsbezeichnung in einem anderen Mitgliedstaat auf Dauer (d. h. niedergelassen) die in Art. 5 genannten Anwaltstätigkeiten auszuüben. Dies sind nach Art. 5 Abs. 1 dieselben beruflichen Tätigkeiten, die von einem Anwalt des Aufnahmestaats ausgeübt werden dürften, insbesondere Rechtsberatung im Recht des Herkunftsstaats, im Gemeinschaftsrecht, im internationalen Recht und im Recht des Aufnahmestaats. Abs. 2 und 3 geben dabei den Mitgliedstaaten die Möglichkeit der Einschränkung für bestimmte Urkundstätigkeit und für die Vertretung und Verteidigung vor Gericht (Einschaltung eines sog. Einvernehmensanwalts).

__________ 21 Vgl. Schmidt-Kessel in Schlachter/Ohler (Hrsg.), Europäische Dienstleistungsrichtlinie, Handkommentar, 1. Aufl. 2008, Art. 17 Rz. 62.

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Art. 3 regelt die Eintragung des Anwalts bei der zuständigen Stelle des Niederlassungsstaats. Nach Art. 4 übt der niedergelassene grenzüberschreitend tätige Anwalt seine Tätigkeit unter der ursprünglichen Berufsbezeichnung aus, d. h. der Berufsbezeichnung seines Herkunftslandes. Art. 5 wurde bereits im Zusammenhang mit Art. 2 behandelt. Art. 6 ist den Berufs- und Standesregeln gewidmet. Die zentrale Frage ist insoweit, welche Berufs- und Standesregeln bei der grenzüberschreitenden Tätigkeit zur Anwendung kommen. Die erste Frage ist dabei, ob dies durchnormierte europäische Regeln sein sollen, die von der Richtlinie gesetzt werden, vergleichbar den Regelungen in Art. 2 und 5, oder nationale Regelungen. In dieser Kompetenzfrage zwischen gemeinschaftlicher und nationaler Ebene hat die Richtlinie in Art. 6 grundsätzlich keine eigene sachnormative Regelung getroffen, sondern diese dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten überlassen. Auf dieser Grundlage stellt sich als nächstes die Frage, welche nationalen Regeln zur Anwendung kommen sollen, die des Herkunftsstaates oder die des Aufnahmestaates. Bei dieser Kollisionsfrage auf der nationalen Ebene hat sich die Richtlinie in Art. 6 grundsätzlich dafür entschieden, dass je nach Entscheidung der beiden Mitgliedstaaten beide Regeln zur Anwendung kommen können, allerdings mit der Vorgabe an den Aufnahmestaat, dass die grenzüberschreitend niedergelassenen Anwälte mit den Anwälten des Aufnahmestaates gleich behandelt werden müssen. Ansonsten enthält Art. 6 für den Inhalt der nationalen Regeln, seien es die des Herkunftsstaates, seien es die des Aufnahmestaates, keine inhaltlichen Vorgaben, sondern beschränkt sich auf eine kompetenzmäßige Festlegung betreffend das Verhältnis Gemeinschaftsrecht/nationales Recht und eine kollisionsrechtliche Festlegung betreffend das Verhältnis nationales Recht des Herkunftsstaates/nationales Recht des Aufnahmestaates. Art. 7 handelt von der grenzüberschreitenden Information u.Ä. bei Disziplinarverfahren, Art. 8 regelt die Berufsausübung im abhängigen Beschäftigungsverhältnis, Art. 9 befasst sich mit Begründungszwang und Rechtsmittelfähigkeit im Zusammenhang mit Entscheidungen über die Eintragung des Anwalts bei der zuständigen Stelle des Aufnahmestaats nach Art. 3. Art. 10 regelt, unter welchen Voraussetzungen der niedergelassene ausländische Anwalt die Gleichstellung mit den Rechtsanwälten des Aufnahmestaats beantragen kann, d. h. die Zulassung zur örtlichen Anwaltschaft unter dem örtlichen Titel. Art. 11 befasst sich mit der gemeinsamen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs. Niedergelassene Anwälte können sich im Aufnahmestaat untereinander oder mit Anwälten aus anderen europäischen Ländern zusammenschließen. Niederlassen kann sich auch ein Anwalt, der in seinem Herkunftsstaat einem beruflichen Zusammenschluss angehört. Gehören diesem Zusammenschluss berufsfremde Personen an (multidisziplinäre Zusammenschlüsse), kann der Aufnahmestaat es untersagen, dass der Anwalt sich dort als Mitglied seines Zusammenschlusses betätigt. 298

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Nach Art. 12 darf die heimatliche Kanzlei- und Zusammenschlussbezeichnung auch im Aufnahmestaat geführt werden. Art. 13 handelt von der Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Stellen der beiden Staaten, Art. 14 verlangt die Benennung der zuständigen Stellen und Art. 15 einen Bericht an die Kommission spätestens zehn Jahre nach Inkrafttreten der Richtlinie. (2) Verhältnis zur allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie Die vorstehend kurz wiedergegebenen Bestimmungen der Niederlassungsrichtlinie gehen, wie bereits ausgeführt, in ihrem Regelungsgehalt – und nur in diesem – etwaigen abweichenden Bestimmungen der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie nach deren Art. 3 Abs. 1 vor, mit der Folge, dass Vorschriften des nationalen Rechts, die der Niederlassungsrichtlinie entsprechen, insoweit nicht im Normenscreening nach der Dienstleistungsrichtlinie zu beanstanden sind. Allerdings ist, was den „vorfahrtsberechtigten“ Regelungsgehalt der anwaltlichen Niederlassungsrichtlinie betrifft, zu differenzieren. Diese Richtlinie enthält zum einen Sachnormen, zum anderen Kompetenz- und Kollisionsnormen. Dies gilt insbesondere für Art. 6, der, wie oben näher ausgeführt, darauf verzichtet, gemeinschaftsrechtliche Berufsregeln zu setzen und statt dessen grundsätzlich die herkunftsstaatlichen und aufnahmestaatlichen Berufsregeln nebeneinander zur Anwendung zulässt, ohne dass diese nationalen Berufsregeln gemeinschaftsrechtlich harmonisiert werden. Soweit Art. 6 der anwaltlichen Niederlassungsrichtlinie Sachnormen enthält, haben diese Vorrang vor etwaigen abweichenden Bestimmungen der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie. Innerhalb von Art. 6 betreffend die Berufs- und Standesregeln hat derartigen sachnormativen Charakter nur die Anordnung, dass auf den niedergelassenen Anwalt im Aufnahmestaat dieselben Regeln wie die für Anwälte des Aufnahmestaates Anwendung finden müssen. Im Übrigen handelt es sich in Art. 6 um Kompetenz- und Kollisionsnormen. Bei ihnen beschränkt sich der Vorrang bei einem etwaigen Widerspruch zur allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie auf diese Kompetenz- und Kollisionsregelung. Hingegen sind die von der Kollisionsregelung erfassten nationalen Sachnormen nicht über Art. 3 Abs. 1 Satz 1 von der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie ausgenommen, da sie nur hinsichtlich der Frage ihrer Anwendbarkeit, nicht aber hinsichtlich ihres sachrechtlichen Inhalts Gegenstand der anwaltsspezifischen Niederlassungsrichtlinie sind. Daraus ergibt sich als Zwischenergebnis, dass der sachrechtliche Inhalt der nationalen Berufsregelungen durch die bloßen kompetenz- und kollisionsrechtlichen Regelungen der anwaltlichen Niederlassungsrichtlinie von der Evaluierung nach der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie mit Blick auf die Niederlassungsfreiheit nicht ausgenommen ist.

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bb) Die anwaltliche Dienstleistungsrichtlinie (1) Inhalt Nach ihrem Art. 1 gilt diese Richtlinie innerhalb der darin festgelegten Grenzen und unter den darin vorgesehenen Bedingungen für die in Form der (vorübergehenden) Dienstleistung ausgeübten Anwaltstätigkeiten. Es folgt der übliche Vorbehalt für die Abfassung förmliche Urkunden. Ferner werden die anwaltlichen Berufsbezeichnungen in den einzelnen Ländern aufgeführt. Diese Berufspersonen werden nach Art. 2 als Rechtsanwalt anerkannt. Nach Art. 3 handelt der Rechtsanwalt unter seiner Herkunftsbezeichnung unter Angabe seiner Beruforganisation oder des Zulassungsgerichts. Art. 4 ist wiederum den Berufs- und Standesregeln gewidmet. Insoweit bestehen bei der vorübergehend grenzüberschreitenden Tätigkeit dieselben Regelungsnotwendigkeiten wie bei der niedergelassenen grenzüberschreitenden Tätigkeit. Wie schon Art. 6 Niederlassungsrichtlinie verzichtet auch Art. 4 anwaltliche Dienstleistungsrichtlinie darauf, die Berufs- und Standesregeln, die zur Anwendung kommen sollen, inhaltlich selbst festzulegen, vergleichbar der Regelung der Tätigkeitsbefugnisse in Art. 2 und 3, sondern belässt es grundsätzlich beim nationalen Recht. Wie schon bei Art. 6 Niederlassungsrichtlinie ergibt sich daraus die Frage, ob die Regeln des Herkunftsstaates oder die des Aufnahmestaates zur Anwendung kommen sollen. Diese Frage wird wie bei Art. 6 Niederlassungsrichtlinie dahingehend entschieden, dass beide Regeln anwendbar sein können, die des Herkunftsstaates und – mit gewissen Einschränkungen – die des Aufnahmestaates. Gesetzestechnisch wird dabei nach der Art der Tätigkeit differenziert, wie folgt: Nach Art. 4 Abs. 1 und 2 muss der Rechtsanwalt bei der Vertretung oder der Verteidigung eines Mandanten im Bereich der Rechtspflege oder vor Behörden neben seinen herkunftsstaatlichen Verpflichtungen auch die Standesregeln des Aufnahmestaates einhalten, ausgenommen das Erfordernis von Wohnsitz und Zugehörigkeit zu einer Berufsorganisation im Aufnahmestaat. Insofern werden also sachnormativ bestimmte Standesregeln des Aufnahmestaates nicht zur Anwendung zugelassen. Bei sonstigen Tätigkeiten, insbesondere der Beratung, bleibt der Rechtsanwalt nach Art. 4 Abs. 4 den herkunftsstaatlichen Bedingungen und Regeln unterworfen, daneben hat er die im Aufnahmestaat geltenden Berufsausübungsregeln einzuhalten, insbesondere solche in Bezug auf die Unvereinbarkeit zwischen den Tätigkeiten des Rechtsanwalts und anderen Tätigkeiten im Aufnahmestaat, das Berufsgeheimnis, die Beziehungen zu Kollegen, das Verbot des Beistands für Parteien mit gegensätzlichen Interessen durch denselben Rechtsanwalt und die Werbung. Diese aufnahmestaatlichen Regeln sind aber – wiederum eine sachnormative Regelung der Richtlinie – nur dann anwendbar, wenn sie von einem Rechtsanwalt beachtet werden können, der nicht im Aufnahmestaat niedergelassen ist, und nur insoweit, als ihre Einhaltung in diesem Staat objektiv gerechtfertigt ist, um eine ordnungsgemäße Ausübung der Tätigkeiten des Rechtsanwalts sowie die Beachtung der Würde des Berufs und der Unvereinbarkeiten zu gewährleisten. Für den sonstigen 300

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Inhalt der Regeln des Herkunfts- und des Aufnahmestaates, soweit letztere anwendbar sind, machen Art. 4 Abs. 1, 2 und 4 keine gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben, sondern überlassen die Festlegung des Inhalts dem nationalen Recht. Art. 4 Abs. 1, 2 und 4 beschränken sich vielmehr insoweit – wie Art. 6 Niederlassungsrichtlinie – auf die Regelung der kompetenziellen und kollisionsrechtlichen Frage, ob (und in welchem Umfang) es eigene gemeinschaftsrechtliche Regeln geben soll oder nationale Regeln zur Anwendung kommen sollen, und in letzterem Fall, ob die des Herkunftsstaates oder die des Aufnahmestaates oder beide. Nach Art. 5 kann ein Mitgliedsstaat für die Vertretung und Verteidigung im Bereich der Rechtspflege verlangen, dass der ausländische Anwalt beim Gerichtspräsidenten oder Vorsitzenden der Anwaltskammer des Aufnahmestaats eingeführt ist und mit einem zugelassenen örtlichen Einvernehmensanwalt handeln muss. Wenn in einem Mitgliedsstaat Syndikusanwälte für ihren Arbeitgeber im Bereich der Rechtspflege nicht tätig sein dürfen, kann dieser Mitgliedsstaat nach Art. 6 diese Regelung auch ausländischen Anwälten auferlegen. Nach Art. 7 muss der Rechtsanwalt dem Aufnahmestaat auf Verlangen seine Eigenschaft als Rechtsanwalt nachweisen. Bei Verletzung der im Aufnahmestaat geltenden Verpflichtungen nach Art. 4 entscheidet die zuständige Stelle des Aufnahmestaats nach den eigenen Vorschriften über die rechtlichen Folgen, d. h. über etwaige disziplinarische Maßnahmen. Sie unterrichtet die zuständige Stelle des Herkunftsstaats von jeder Entscheidung, die sie getroffen hat. Zur Disziplinarzuständigkeit des Herkunftsstaates sagt die Richtlinie nichts. Weil sie nicht ausgeschlossen wird, besteht sie weiter. Art. 7 ist insoweit, ebenso wie Art. 4 eine Kollisionsregel. (2) Verhältnis zur allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie Mit ihren inhaltlichen Regelungen, die vorstehend kurz skizziert worden sind, geht die anwaltliche Dienstleistungsrichtlinie etwaigen abweichenden Bestimmungen der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie vor. Soweit Vorschriften des nationalen Rechts mit der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie übereinstimmen, kann ein Verstoß gegen die allgemeine Dienstleistungsrichtlinie nach deren Art. 3 Abs. 1 Satz 1 nicht vorliegen, weil deren der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie widersprechende Bestimmungen zurücktreten. Was oben im Zusammenhang mit der anwaltlichen Niederlassungsrichtlinie zur Reichweite des Vorrangs gesagt worden ist, gilt mutatis mutandis auch bei der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie. Sachnormative inhaltliche Festlegungen haben im Falle eines Widerspruchs Vorrang vor etwaigen inhaltlichen Festlegungen der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie. Bei kompetenzund kollisionsmäßigen Festlegungen beschränkt sich der Vorrang auf diese kompetenz- und kollisionsrechtliche Festlegung, hinsichtlich des Inhalts der dabei angesprochenen Sachnormen hingegen gibt es keinen Vorrang.

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b) Art. 17 Nr. 4 der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie Was die anwaltliche Dienstleistungsrichtlinie betrifft, ist insbesondere auch auf Art. 17 Nr. 4 der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie einzugehen. Danach findet deren Art. 16 zur grenzüberschreitenden Dienstleistungsfreiheit, die nur unter den dort genannten engen Voraussetzungen beschränkt werden darf, keine Anwendung auf „die Angelegenheiten, die unter die Richtlinie 77/249/EWG des Rates vom 22. März 1977 zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte (sc. die anwaltliche Dienstleistungsrichtlinie) fallen.“

Art. 17 Nr. 4 der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie beinhaltet also eine per se-Ausnahme. Anders als bei Art. 3 Abs. 1 gilt der Vorrang der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie per se und nicht nur dort, wo sie von Art. 16 der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie abweicht. In der Literatur zu Art. 17 Nr. 4 wird von Schmidt-Kessel vertreten, dass die anwaltliche Dienstleistungsrichtlinie „das komplette Tätigkeitsspektrum“ eines Anwalts erfasse, mit der Konsequenz, dass für eine Anwendung von Art. 16 der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie überhaupt kein Raum bleibe; das gelte auch und gerade für das anwaltliche Beratungsgeschäft; etwas anderes könne allenfalls insoweit gelten, als die Tätigkeit nicht mehr als anwaltliche zu qualifizieren sei, was etwa in den Fällen der Einsetzung als Trustee, als amtliches Organ oder als Träger eines privaten Amtes in Betracht kommen könne22. Diese Rechtsauffassung ist unzutreffend. Über Art. 17 Nr. 4 sind anwaltliche Dienstleistungen von Art. 16 nur insoweit ausgenommen, als sie in der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie geregelt sind. Schmidt-Kessel gibt allerdings keine nähere Begründung für seine Auffassung. Er lässt insbesondere eine Analyse der Systematik bei den Ausnahmeregelungen in der Richtlinie insgesamt und in Art. 17 insbesondere vermissen. Nach Art. 2 der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie werden, wie bereits erwähnt, die Angehörigen der in Art. 1 aufgelisteten Rechtsanwaltsberufe für die (grenzüberschreitende) Dienstleistung als Rechtsanwalt anerkannt, woraus sich die Tätigkeitsbefugnisse eines Rechtsanwalts im Aufnahmestaat ergeben. Der grenzüberschreitend tätige Rechtsanwalt ist dabei nach Art. 3 unter seiner Herkunftsbezeichnung tätig. Art. 1, 2 und 3 enthalten also sachnormative inhaltliche Regelungsvorgaben für die nationalen Berufsrechte der Mitgliedstaaten, die durch Umsetzung auf nationaler Ebene verwirklicht werden müssen. Art. 4 Abs. 1, 2 und 4 hingegen sind, wie oben bereits ausgeführt, kompetenz- und kollisionsrechtliche Normen betreffend das Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalen Regeln sowie betreffend das Verhältnis zwischen den nationalen Regeln von Herkunfts- und Aufnahmestaat. Wie diese nationalen Regelungen inhaltlich auszusehen haben, wird von der Richtlinie nicht vorgegeben. Festgelegt wird nur, wer regeln darf, nämlich das nationale Recht von Herkunfts- und Aufnahmestaat. Der Inhalt der jeweiligen

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22 Vgl. Schmidt-Kessel (Fn. 21), Art. 17 Rz. 63 f. Die sonstige Literatur zur allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie befasst sich, soweit ersichtlich, mit dieser Frage nicht.

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nationalen berufsrechtlichen Regelung wird in Art. 4 der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie nicht (sachnormativ) geregelt. Angesichts dieses begrenzten Regelungsgehaltes der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie stellt sich die Frage, ob der Begriff „Angelegenheiten, die unter die (sc. anwaltliche Dienstleistungsrichtlinie) fallen“, rechtlich zu verstehen ist im Sinne von „Regelungsangelegenheiten“ (d. h. Regelungsgehalt) oder faktisch im Sinne von „grenzüberschreitende Anwaltstätigkeit“ mit allen ihren Aspekten, auch soweit sie in der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie nicht geregelt oder auch nur angesprochen werden, wie z. B. die Themen Gebühren und Werbung. Die Bedeutung der vorstehenden Auslegungsfrage sei an folgenden Beispielen verdeutlicht. – Die Berufs- und Standesregeln eines Herkunftsstaates sehen vor, dass der Rechtsanwalt, bevor er vorübergehend grenzüberschreitend tätig wird, das Einverständnis seiner Kammer einholen muss. Eine derartige Beschränkung auf Seiten des Herkunftsstaates wird von der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie nicht erfasst. Diese adressiert nur Beschränkungen im Aufnahmestaat (Art. 4 Abs. 4). Nach Art. 16 Abs. 3 b) allgemeine Dienstleistungsrichtlinie ist das genannte Zustimmungserfordernis unzulässig. Hält man Art. 16 allgemeine Dienstleistungsrichtlinie nicht für anwendbar, dann kann das nationale Berufsrecht für die vorübergehende grenzüberschreitende anwaltliche Dienstleistung ein derartiges Zustimmungserfordernis einführen. – Die Berufs- und Standesregeln eines Aufnahmestaates verlangen, dass ein ausländischer Rechtsanwalt, der im Aufnahmestaat vorübergehend grenzüberschreitend dienstleistend tätig ist, das Gebührenrecht des Aufnahmestaates (und nicht das Gebührenrecht des Herkunftsstaates) einzuhalten hat, insbesondere wenn er für im Aufnahmestaat ansässige Mandanten tätig ist. Diese Anforderung ist von der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie nicht erfasst, nach Art. 16 Abs. 2 d) allgemeine Dienstleistungsrichtlinie ist sie unzulässig. Nach der Auffassung, die die vorübergehende grenzüberschreitende Anwaltsdienstleistung über Art. 17 Nr. 4 von Art. 16 allgemeine Dienstleistungsrichtlinie ausnehmen will, kann deshalb ein deutscher Rechtsanwalt im Aufnahmestaat dem dortigen Gebührenrecht unterworfen werden. Nach richtiger Auffassung ist der Begriff der Angelegenheiten in ersterem Sinne, also rechtlich zu verstehen. Es erscheint als ausgeschlossen, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber über Art. 17 Nr. 4 auch diejenigen Aspekte der anwaltlichen Tätigkeit, die in der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie überhaupt nicht angesprochen sind, blanko von der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 16 der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie ausnehmen wollte. Andernfalls wäre die gesamte vorübergehende grenzüberschreitende Rechtsdienstleistung durch Rechtsanwälte in allen ihren Aspekten von Art. 16 der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie bereits deshalb ausgenommen, weil einzelne Aspekte dieser Tätigkeit in der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie geregelt oder angesprochen sind. Wegen einer solchen teilweisen Regelung bzw. Erwähnung 303

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die vorübergehende anwaltliche Dienstleistung in vollem Umfang für den Bereich der Dienstleistungsfreiheit aus der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie herauszunehmen, würde dem allgemeinen Liberalisierungszweck der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie und dem gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsprinzip des effet utile23 ebenso widersprechen wie dem systematischen Aufbau der Richtlinie, denn die Vorrangregelung von Art. 3 Abs. 1 Satz 1, die sowohl für die Niederlassungsfreiheit als auch für die Dienstleistungsfreiheit gilt, würde durch Art. 16 Nr. 4 – völlige Ausnahme von der Dienstleistungsfreiheit – für die Dienstleistungsfreiheit bedeutungslos gemacht. Für diese Auslegung von Art. 17 Nr. 4 spricht auch der Vergleich mit Art. 2 Abs. 2, wonach die allgemeine Dienstleistungsrichtlinie auf bestimmte Katalogtätigkeiten keine Anwendung findet. Unter diesen ausdrücklich ausgenommen Katalogtätigkeiten befinden sich mehrere Tätigkeiten, die Gegenstand besonderer sektoraler Richtlinien sind, beispielsweise Finanz- und Bankdienstleistungen. Teilweise werden diese ausgenommenen Richtlinien durch ausdrücklichen Verweis auf die betreffenden sektoralen Richtlinien gekennzeichnet, insbesondere die elektronischen Kommunikationsdienstleistungen. Wenn dem gegenüber Art. 17 Nr. 4, anders als Art. 2 Abs. 2, eine Ausnahme nicht für die gesamte Rechtsdienstleistung vorsieht, die in der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie geregelt ist, sondern nur für „Angelegenheiten“, die unter die anwaltliche Dienstleistungsrichtlinie fallen, stützt diese unterschiedliche Formulierung den Schluss, dass Art. 17 Nr. 4 für den Bereich der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 16 keine Totalausnahme für die grenzüberschreitende Anwaltstätigkeit nach der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie vorsieht, sondern eine Ausnahme nur insoweit, als es sich um Angelegenheiten handelt, die tatsächlich Gegenstand dieser sektoralen Richtlinie als Regelung des Sekundärrechts sind. Für diese Auslegung von Art. 17 Nr. 4 spricht schließlich auch der Vergleich der einzelnen in Art. 17 geregelten Ausnahmen: – In Nr. 1 werden bestimmte Dienstleistungen, also Tätigkeiten ausgenommen, darunter in lit. a), b) und c) solche, die von einer bestimmten Dienstleistung „erfasst“ sind. – In Nr. 5 wird die gerichtliche Beitreibung von Forderungen ausgenommen, also eine Tätigkeit. – In Nr. 12 werden Handlungen ausgenommen, für die die Mitwirkung eines Notars gesetzlich vorgeschrieben ist, also eine Tätigkeit. – In Nr. 14 wird die Zulassung von in einem anderen Mitgliedsstaat geleasten Fahrzeugs ausgenommen, also wiederum eine Tätigkeit. – Nach Nr. 2, 3, 4, 6, 7, 10 und 13 sind hingegen „Angelegenheiten“ ausgenommen, die unter eine bestimmte Richtlinie bzw. Verordnung fallen, dar-

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23 Nach diesem Prinzip soll die Auslegung im Bereich der Grundfreiheiten sicherstellen, dass die einzelne Grundfreiheit bestmöglich verwirklicht wird, vgl. ausführlich mit Nachweisen aus der Rspr. des EuGH Potacs, Effet utile als Auslegungsgrundsatz, EuR 2009, 465, 467 f.

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unter die hier interessierende Nr. 4 betreffend Angelegenheiten, die unter die anwaltliche Dienstleistungsrichtlinie fallen. Art. 17 hat also einen differenzierenden Regelungsansatz. In bestimmten Fällen werden durch Bezugnahme auf Richtlinien oder durch verbale Beschreibung definierte Dienstleistungen und Tätigkeiten ausgenommen, in anderen Fällen werden Angelegenheiten ausgenommen, die unter eine bestimmte Richtlinie (oder Verordnung) fallen. Dieser unterschiedliche Formulierungsansatz macht nur dann Sinn, wenn er einen inhaltlichen Unterschied widerspiegelt, indem in einem Fall die Tätigkeit insgesamt ausgenommen ist, im anderen Fall hingegen nur die Regelung des anderweitigen Sekundärrechtsaktes. Die vorstehende Auffassung entspricht der der Kommission. Im Handbuch der Kommission heißt es24: „Von der Richtlinie 77/249 EWG zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte erfasste Angelegenheiten Die Ausnahme in Art. 17 Ziffer 4 stellt sicher, dass die genannte Richtlinie auch weiterhin vollständig Anwendung findet, insoweit sie speziellere Vorschriften zur Erbringung von grenzüberschreitenden Dienstleistungen durch Rechtsanwälte enthält. Aus diesem Grund findet im Rahmen dieser Ausnahme Art. 16 für Rechtsanwälte nur für die Angelegenheiten Anwendung, die nicht von der besagten Richtlinie erfasst sind.“

c) Ergebnis Soweit die Niederlassungsrichtlinie und die Dienstleistungsrichtlinie für Rechtsanwälte Bestimmungen enthalten, denen die allgemeine Dienstleistungsrichtlinie widerspricht, haben die Bestimmungen der anwaltlichen Richtlinien Anwendungsvorrang (Art. 3 Abs. 1 Satz 1). Angelegenheiten, die in der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie geregelt sind, d. h. die dortigen Normen in der Reichweite ihres Regelungsinhaltes, sind zudem nach Art. 17 Nr. 4 von Art. 16 betreffend die Dienstleistungsfreiheit ausgenommen, ohne dass es auf einen Widerspruch zur allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie oder deren Art. 16 ankommt25.

__________ 24 Vgl. Rz. 7.1.4, S. 65. 25 Diese Auffassung wird von weiteren fünf Mitgliedern des oben bei Fn. 11 erwähnten Normenscreening-Unterausschusses der Satzungsversammlung bei der BRAK geteilt, vgl. SV-Mat. 05/2009 unter B. III. 2. b). Drei Mitglieder sehen in Art. 17 Nr. 4 eine Totalausnahme für die anwaltliche Tätigkeit. Zur Begründung beziehen sie sich auf die oben im Text erwähnte Kommentierung von Schmidt-Kessel, vgl. oben zu Fn. 21, sowie auf die Tatsache, dass es den Mitgliedstaaten nach Art. 4 der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie und nach der Entscheidung des EuGH v. 19.2.2002, Wouters, Rs. C-309/99, Rz. 99) freisteht, das Berufsrecht der Rechtsanwälte für ihr Hoheitsgebiet zu regeln, vgl. die Abweichende Stellungnahme, SV-Mat 06/2009 unter I. Bei diesem Argument wird übersehen, dass die mitgliedstaatliche Kompetenz zur Regelung des Berufsrechts in Art. 4 der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie nur im Sinne einer Kompetenz- und Konfliktnorm geregelt wird, ohne dass die Richtlinie dabei eine inhaltliche gemeinschaftsrechtliche Regelung trifft; eine solche erfolgt jetzt durch die allgemeine Dienstleistungsrichtlinie. Ferner hat der EuGH in

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Diese Ausnahme gilt aber nur für Art. 16 und nicht für die übrigen Bestimmungen der Richtlinie im Zusammenhang mit der vorübergehenden grenzüberschreitenden Dienstleistung, nämlich die Rechte der Dienstleistungsempfänger nach Art. 19 ff. und die weiteren Bestimmungen in Art. 22 ff. betreffend Informationen über Dienstleistungserbringer und deren Dienstleistungen, Berufshaftpflichtversicherungen und Sicherheiten, Werbung, multidisziplinäre Tätigkeiten, Qualitätssicherung und Streitbeilegung.

III. Gemeinsame Prüfkriterien im Rahmen der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit Bei Genehmigungsregelungen und Anforderungen im Bereich der Niederlassungsfreiheit und bei Anforderungen im Bereich der Dienstleistungsfreiheit gelten, soweit nicht nach der Richtlinie ein ausdrückliches Verbot besteht, folgende Prüfungsmaßstäbe (vgl. Art. 9 Abs. 1, Art. 15 Abs. 3, Art. 16 Abs. 1 und Unterabs. 3). 1. Keine Diskriminierung Es darf keine Diskriminierung vorliegen, d. h. eine Ungleichbehandlung von Inländern und EU-Ausländern aufgrund der Staatsangehörigkeit bei natürlichen Personen oder aufgrund des Mitgliedstaats, in dem sie niedergelassen sind, bei juristischen Personen. Diskriminierung liegt nicht nur dann vor, wenn die betreffende Regelung unmittelbar an diese Kriterien anknüpft, sondern auch dann, wenn eine Regelung ohne ausdrückliche Anknüpfung an diese Kriterien typischerweise EU-Ausländer betrifft. 2. Rechtfertigung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses Bei der niedergelassenen grenzüberschreitenden Tätigkeit kann die Rechtfertigung aus allen zwingenden Gründen des Allgemeininteresses erfolgen (Art. 10 Abs. 2 lit. b) i. V. m. Art. 4 Nr. 8). Es handelt sich dabei insbesondere um alle Gründe, die der EuGH in ständiger Rechtsprechung als zwingende Gründe des Allgemeininteresses anerkannt hat. Die nicht abschließende Aufzählung in Art. 4 Nr. 8 nennt u. a. den Schutz der Verbraucher. Belange der ordnungsmäßigen Rechtspflege werden dort nicht als Beispiel genannt, wohl aber in Erwägungsgrund 40. Weil die Aufzählung in Art. 4 Nr. 8 nicht abschließend ist und Belange der Rechtspflege vom EuGH als Grund des zwingenden Allgemeininteresses anerkannt sind, können auch Rechtspflegebelange im Rahmen der Niederlassungsfreiheit rechtfertigende Wirkung haben.

__________ Wouters die mitgliedstaatliche Freiheit zur Regelung des anwaltlichen Berufsrechts ausdrücklich nur „in Ermangelung besonderer gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften“ eingeräumt. Im Falle Wouters gab es keine einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften, wie sie jetzt hier durch die Vorgaben der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie bestehen.

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Im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit sind hingegen die Gründe des zwingenden Allgemeininteresses, die eine Anforderung erforderlich machen und rechtfertigen können, nach der ausdrücklichen Bestimmung von Art. 16 Abs. 1 Unterabs. 3 lit. b) und Abs. 3 ausdrücklich auf die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit, die öffentliche Gesundheit und den Schutz der Umwelt beschränkt. Im Anwendungsbereich von Art. 16 sind daher weitere Rechtfertigungsgründe für Beschränkungen vollständig ausgeschlossen. Das gilt vor allem für den gesamten übrigen Katalog der vorstehend genannten zwingenden Allgemeininteressen, die im Bereich der Niederlassungsfreiheit zur Anwendung kommen können. Belange der Rechtspflege haben also im Bereich der Dienstleistungsfreiheit keine rechtfertigende Wirkung mehr. Daraus ergibt sich die Frage, ob diese Beschränkung mit dem gemeinschaftsrechtlichen Primärrecht vereinbar ist, oder ob auch im Bereich der Dienstleistungsfreiheit kraft Primärrecht der Gesamtkatalog aller vom EuGH anerkannten Gründe des zwingenden Allgemeininteresses zur Rechtfertigung herangezogen werden kann und ggfls. muss. Sollte dies der Fall sein, dann wären die genannten Bestimmungen in Art. 16 nicht konform mit dem Primärrecht der Gemeinschaft und müssten diese Bestimmungen gemeinschaftsrechtskonform erweiternd ausgelegt werden. Das Handbuch der Kommission zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie hält die Liste der Rechtfertigungsgründe in Art. 16 Abs. 1 unter Abs. 3 lit. b) und Abs. 3 für abschließend26. Die Frage der Konformität mit dem Primärrecht wird von der Kommission nicht erörtert. Das BMJ hat in mehreren Gesprächen wissen lassen, dass es die Beschränkung der Rechtfertigungsgründe in Art. 16, die es im Rat mitverhandelt habe, für gemeinschaftsrechtskonform hält. Die Literatur hält einhellig die Aufzählung der Rechtfertigungsgründe in Art. 16 Abs. 1 Unterabs. 3 lit. b) und Abs. 3 für abschließend und, soweit sie die Frage überhaupt erörtert, primärrechtskonform27. Dass ein Verstoß gegen das primäre Gemeinschaftsrecht nicht vorliegt, ergibt sich aus den nachfolgenden Überlegungen. Die Beschränkung der Rechtfertigungsgründe in Art. 16 der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie führt dazu, dass die primärrechtliche Dienstleistungsfreiheit weniger beschränkt werden kann, als dies bei Berücksichtigung aller zwingenden Allgemeininteressen nach Primärrecht der Fall wäre. Der Geltungsbereich der Dienstleistungsgrundfreiheit wird also

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26 Kommissionshandbuch, Rz. 7.1.3.1. 27 Vgl. Calliess, Europäischer Binnenmarkt und europäische Demokratie: Von der Dienstleistungsfreiheit zur Dienstleistungsrichtlinie – und wieder Retour?, DVBl 2007, 336, 343; Hatje, Die Dienstleistungsrichtlinie – Auf der Suche nach dem liberalen Mehrwert, NJW 2007, 2357, 2362; Korte, Mitgliedsstaatliche Verwaltungskooperation und private Eigenverantwortung beim Vollzug des europäischen Dienstleistungsrechts, NVwZ 2007, 501, 504 f.; Lemor, Auswirkungen der Dienstleistungsrichtlinie auf ausgesuchte reglementierte Berufe, EuZW 2007, 135, 139; Roth, Die Dienstleistungsrichtlinie und der Verbraucherschutz, S. 205, 216 f., sowie Streinz, Die Ausgestaltung der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit durch die Dienstleistungsrichtlinie – Anforderungen an das nationale Recht, S. 95, 112 f., beide in Leible (Hrsg.), Die Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie – Chancen und Risiken für Deutschland, 2008; ferner Schmidt-Kessel (Fn. 21), Rz. 42 zu Art. 16.

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Hans-Jürgen Hellwig

gegenüber dem Primärrecht nicht eingeschränkt, sondern in dem Sinne erweitert, dass Beschränkungen nur in engerem Umfang als nach Primärrecht zugelassen werden. Gemessen an der Dienstleistungsgrundfreiheit liegt also kein Verstoß gegen das Primärrecht vor. Eingeschränkt wird nicht die Dienstleistungsgrundfreiheit, eingeschränkt werden die Rechtfertigungsgründe für eine etwaige Beschränkung durch mitgliedstaatliche Regelungen. „Leidtragender“ dieser Beschränkung der Rechtfertigungsgründe ist nicht der einzelne Dienstleister, sondern der jeweilige Mitgliedstaat. Die Mitgliedstaaten haben jedoch bei Verabschiedung der Richtlinie im Ministerrat der Beschränkung der Rechtfertigungsgründe auf nationaler Ebene zugestimmt. Diese Zustimmung verstößt nicht gegen das Primärrecht der Gemeinschaft. Die Rechtspflege und der Verbraucherschutz fallen zwar aufgabenmäßig in die Mitzuständigkeit der Gemeinschaft (Art. 31 und 34 EUV bzw. Art. 3 Abs. 1 lit. t EG). Diese Mitzuständigkeit ist durch separate Rechtsakte wahrzunehmen und auszufüllen. Im Gegensatz zu den vier Grundfreiheiten, insbesondere der Dienstleistungsfreiheit und der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 ff. und 43 ff. EG), haben die Rechtspflege und der Verbraucherschutz im Primärrecht der Gemeinschaft keine inhaltliche Ausgestaltung gefunden. Es gibt auch keine primärrechtlichen Vorgaben des Gemeinschaftsrechts für die Mitgliedstaaten, ob und in welchem Umfang sie mit Blick auf Belange der Rechtspflege oder des Verbraucherschutzes die Ausübung von gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten beschränken müssen. Dies liegt vielmehr in der autonomen Entscheidung der einzelnen Mitgliedsstaaten. 3. Verhältnismäßigkeit Die Genehmigungsregelungen bzw. Anforderungen im Rahmen der Niederlassungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 c) und Art. 15 Abs. 3 lit. c)) sowie die Anforderungen im Bereich der Dienstleistungsfreiheit (Art. 16 Abs. 1 Unterabs. 3 lit. c)) müssen verhältnismäßig sein, d. h. sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des angestrebten Ziels erforderlich ist. Insofern ist anzumerken, dass eine Relevanz für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit immer dann bestehen dürfte, wenn derselbe Sachverhalt in anderen Mitgliedstaaten durch mildere Maßnahmen geregelt wird.

IV. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung und Normenscreening Nach der Rspr. des EuGH ist – verkürzt formuliert – nationales Recht im Lichte des Gemeinschaftsrechts (Primär- und Sekundärrecht) auszulegen und hat das Gemeinschaftsrecht im Fall eines Widerspruchs Anwendungsvorrang, d. h. das entgegenstehende nationale Recht darf von Gerichten und Behörden nicht angewandt werden28. Daraus ergibt sich die abschließende Frage, ob und wie weit diese Grundsätze für das Normenscreening relevant sind und ob

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28 Vgl. Geiger, EUV/EGV, 4. Aufl. 2004, Rz. 31 und 44 zu Art. 10 EGV mit Nachweisen aus der Rspr. des EuGH.

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Zum Normenscreening des anwaltlichen Berufsrechts

ggfls. gemeinschaftsrechtswidrige Normen des nationalen Rechts durch gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung vor einem Verdikt im Normenscreening bewahrt werden. Zweck des Normenscreenings ist es, dass die Mitgliedstaaten das nationale Recht nicht nur überprüfen, sondern im Fall eines Widerspruchs gemeinschaftsrechtskonform abändern bzw. aufheben. Diesem Zweck entsprechend kann das Normenscreening (mit der etwaigen Folge der Änderung bzw. Aufhebung von gemeinschaftsrechtswidrigen Vorschriften) nicht deshalb entfallen, weil die dem Wortlaut nach gemeinschaftsrechtswidrige Vorschrift wegen des Verstoßes des Gemeinschaftsrechts von Gerichten und Behörden nicht angewendet werden darf. Der Wortlaut der nationalen Vorschriften soll vielmehr so sein, dass er nicht dem Gemeinschaftsrecht widerspricht, denn der nicht-rechtskundige Bürger ist nicht in der Lage, die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit zu erkennen, noch weiß er, dass dem Gemeinschaftsrecht widersprechendes nationales Recht von Gerichten und Behörden nicht angewendet werden darf. Das Ergebnis kann eigentlich nicht anders lauten, denn andernfalls würde der Normenscreeningbefehl der Dienstleistungsrichtlinie von vornherein ins Leere laufen. Anders ist die Rechtslage, wenn die einzelne Norm des nationalen Rechts dem Wortlaut nach nicht gegen das Gemeinschaftsrecht verstößt. Eine derartige „offene“ Norm kann und muss nach der Rspr. des EuGH gemeinschaftsrechtskonform ausgelegt werden.

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Martin Henssler

Konsequenzen verfassungswidriger Berufsrechtsnormen Zur Befugnis einer Rechtsanwaltskammer zur Zulassung einer Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG

Inhaltsübersicht I. Einführung II. Das handels- und gesellschaftsrechtliche Verbot der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG III. Die verfassungsrechtliche Beurteilung des Verbots der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG IV. Konsequenzen der Verfassungswidrigkeit des Verbots der RechtsanwaltsGmbH & Co. KG 1. Entscheidungsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts bei verfassungswidrigen Gesetzen a) Nichtigkeit des Gesetzes als regelmäßige unmittelbare Folge b) Bloße Unvereinbarkeit des Gesetzes als unmittelbare Folge, insbesondere bei Verstößen gegen den Gleichheitssatz 2. Mittelbare Folgen der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen a) Grundsätze b) Prüfungs- und Verwerfungskompetenz der Gerichte und Behörden c) Verwerfungskompetenz von Gerichten und Behörden im Stadium vor einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

d) Verhalten von Gerichten und Behörden im Stadium nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 3. Folgerungen für die Praxis a) Keine Verwerfungskompetenz der mit der Sache befassten Rechtsanwaltskammer b) Bloße Unvereinbarkeit der verfassungswidrigen Normen? V. Möglichkeit einer Zulassung der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG zur Anwaltschaft 1. Die Anerkennung von Berufsausübungsgesellschaften nach WPO und StBerG 2. Die Zulassung als Rechtsanwaltsgesellschaft nach der BRAO 3. Ergebnis VI. Zulässigkeit einer Rechtsanwalts-AG & Co. KG VII. Praktische Überlegungen 1. Gerichtliche Überprüfung einer Kammerverfügung 2. Gerichtliche Überprüfung einer ablehnenden Entscheidung des Registergerichts VIII. Zusammenfassung der Ergebnisse

I. Einführung Graf von Westphalen, dem dieser Beitrag in enger Verbundenheit und hoher Wertschätzung gewidmet ist, ist ein herausragender Vertreter der deutschen Anwaltschaft, der sich zugleich durch eine bewundernswerte Vielseitigkeit auszeichnet. Engagiert in vielfältigen verbandlichen Funktionen in nationalen und internationalen Organisationen ist er zugleich Autor eines breit angeleg311

Martin Henssler

ten wissenschaftlichen Werkes. Der ihm zugedachte Beitrag versucht, dieses breite Spektrum als Anwalt, Verbandsfunktionär und Rechtswissenschaftler zumindest andeutungsweise inhaltlich widerzuspiegeln. Rechtsanwaltskammern standen in den letzten Jahrzehnten immer wieder vor der Frage nach dem richtigen Verhalten bei berufsrechtlichen Vorschriften, deren Verfassungsmäßigkeit zumindest zweifelhaft erschien. Schaut man auf die zahlreichen Vorschriften in BRAO, BORA und FAO, die in den vergangenen Jahrzehnten vom Bundesverfassungsgericht beanstandet wurden1, zeigt sich, dass es sich hierbei um keine theoretische Fallkonstellation, sondern um ein Problem von hoher praktischer Relevanz handelt. Darf eine Rechtsanwaltskammer etwa belehrende Hinweise oder gar eine Rüge erteilen bzw. berufsrechtliche Maßnahmen initiieren, wenn ein Verstoß gegen eine Berufsrechtsnorm im Raum steht, deren Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz im Schrifttum verneint und über deren Verfassungsmäßigkeit sich die Kammer selbst im Zweifel ist? Aktuell stellt sich dieses Problem bei den Anträgen auf Zulassung von Rechtsanwaltsgesellschaften in der Rechtsform der GmbH & Co. KG, mit denen sich verschiedene Kammern konfrontiert sehen.

II. Das handels- und gesellschaftsrechtliche Verbot der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG Nach dem aktuellen einfachgesetzlichen Rechtszustand scheitert die Gründung einer Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG zum einen an handelsrechtlichen Vorschriften2. Die KG steht als Handelsgesellschaft für die freiberufliche Berufsausübung nicht zur Verfügung. Der Gesetzgeber hat sich anlässlich der Reform des Jahres 1998 bewusst gegen die Einbeziehung der Freien Berufe entschieden3. Es fehlt somit an einer Regelungslücke, die durch eine analoge Anwendung der handelsrechtlichen Vorschriften auf die Freien Berufe ausgefüllt werden könnte. Aufgrund der Anknüpfung in §§ 161, 105 HGB an die Ausübung eines Handelsgewerbes stehen folglich KG und OHG Rechtsanwälten als Angehörige eines Freien Berufs nicht zur Verfügung. Zwar öffnet § 105

__________ 1 Vgl. nur zum Verbot der Erfolgshonorare BVerfGE 117, 163 ff., zur Singularzulassung von Rechtsanwälten an den Oberlandesgerichten BVerfGE 103, 1 ff.; zum Verbot widerstreitender Interessen nach § 3 Abs. 2 BORA BVerfGE 108, 150 ff.; zur Standeswidrigkeit der Beantragung eines Versäumnisurteils nach § 13 BORA BVerfGE 101, 312; zur Verfassungswidrigkeit der anwaltlichen Standesrichtlinien BVerfGE 76, 196. Verschiedene Entwürfe zur BORA sind bereits durch das Bundesministerium der Justiz wegen Verfassungsverstoßes verworfen worden, bspw. zu sachlichen, personellen und organisatorischen Voraussetzungen einer Zweigniederlassung in § 5 BORA-E vom 15.6.2009; zur Beratungshilfe nach § 16a BORA-E vom 16.11.2008; zur Nennung von Teilbereichen der Berufstätigkeit nach § 7 Abs. 2 BORA-E vom 21.2.2005 (hierzu BRAK-Mitt. 2005, 184). 2 Eingehend Henssler in FS Kreutz, 2010, S. 635 ff.; vgl. auch die Darstellung bei K. Schmidt, DB 2009, 271, 273. 3 So eindeutig die amtliche Begründung BT-Drucks. 13/8444, S. 22 ff.; 33 f.; kritisch gegenüber der Entscheidung des Gesetzgebers, die Freien Berufe nicht in das HGB einzubeziehen K. Schmidt, ZIP 1997, 909; dagegen Henssler, ZIP 1997, 1481.

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Konsequenzen verfassungswidriger Berufsrechtsnormen

Abs. 2 HGB die Rechtsformen der OHG und KG in einem sehr engen Ausschnitt auch für nicht gewerbliche Tätigkeiten. K. Schmidt will unter § 105 Abs. 2 HGB sogar jede nicht gewerbliche Außengesellschaft fassen und bezieht damit als Extremfall auch die Freiberufler-Gesellschaft ein4. Die Ausnahme in § 105 Abs. 2 HGB dient aber nur dazu, Immobilienfonds sowie Objekts- und Besitzgesellschaften, die sich auf die Verwaltung des Fondsvermögens bzw. des sonstigen Vermögens beschränken, den Weg zur KG zu eröffnen5. Da die Freien Berufe aber gerade nicht auf die GbR beschränkt sind, sondern mit der Partnerschaft über eine haftungsrechtlich sogar privilegierte Alternative verfügen, lässt sich diese Sondervorschrift nicht im Wege der Analogie auf Freiberuflergesellschaften übertragen6. Die Gründung einer Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG scheitert außerdem an berufsrechtlichen Vorschriften. So steht § 59c Abs. 2 BRAO einer Gesellschaft entgegen, bei der sowohl die Komplementär-GmbH als auch die KG als anwaltliche Berufsausübungsgesellschaften aktiv werden sollen7. Außerdem kann nach § 59a Abs. 1 BRAO eine Kapitalgesellschaft generell nicht Gesellschafterin einer anwaltlichen Berufsausübungsgesellschaft in Form einer Personengesellschaft sein8. Damit entfällt auch die Möglichkeit, die KomplementärGmbH als anwaltliche Organisationsgesellschaft auszugestalten.

III. Die verfassungsrechtliche Beurteilung des Verbots der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG Die handelsrechtlichen und berufsrechtlichen Vorschriften, die der Gründung einer GmbH & Co. KG damit de lege lata entgegenstehen, halten allerdings einer verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Zunächst erscheint schon zweifelhaft, ob es überhaupt eine sachliche Rechtfertigung für das Verbot eines freiberuflichen Zusammenschlusses in den Rechtsformen der OHG und KG gibt9. Jedenfalls für Rechtsanwälte verletzen diese Verbotsnormen den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz des Art. 3 GG. Die Berufsrechte der Wirtschaftsprüfer und Steuerberater enthalten im Vergleich zum anwaltlichen Berufsrecht deutlich großzügigere Regelungen (§ 50a StBerG; § 28 WPO). Nach dem jüngst neu gefassten § 28 Abs. 1 Satz 2 WPO können „persönlich haftende Gesellschafter“ einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und damit gemäß § 27 Abs. 2 WPO einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in der Rechtsform der KG auch „Wirtschaftsprüfungsgesellschaften oder in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zugelas-

__________ 4 K. Schmidt in MünchKomm.HGB, 2. Aufl. 2006, § 105 HGB Rz. 64; ders., DB 1998, 61, 62; ders., DB 2009, 271, 273. 5 Vgl. BT-Drucks. 13/8444, S. 40 f. 6 So ausdrücklich BT-Drucks. 13/8444, S. 33 f.; anders dagegen Römermann, AnwBl. 2008, 609, 610. 7 Eingehend Henssler in FS Kreutz (Fn. 2), S. 635, 640 f. 8 Henssler in FS Kreutz (Fn. 2), S. 635, 643. 9 Dazu eingehend Henssler in FS Kreutz (Fn. 2), S. 635, 648.

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Martin Henssler

sene Prüfungsgesellschaften sein“. Nach der Parallelnorm des § 50 Abs. 1 Satz 3 StBerG kann persönlich haftende Gesellschafterin einer Steuerberatungsgesellschaft auch eine Steuerberatungsgesellschaft sein, welche die Voraussetzungen des § 50a StBerG erfüllt10. Das Bundesverfassungsgericht11 hat zu Recht betont, dass die drei wirtschaftsnahen Beratungsberufe wesensverwandt sind und daher grundsätzlich gleich behandelt werden müssen. Jede Differenzierung in den berufsrechtlichen Vorschriften muss durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt werden. Eine Ungleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 GG) ist nur dann hinzunehmen, wenn zwischen den Vergleichsgruppen Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen12. Das Bundesverfassungsgericht hat die Zugehörigkeit zu einer der Berufsgruppen der Steuerberater, Rechtsanwälte oder Wirtschaftsprüfer ganz selbstverständlich zum Anlass genommen, für die Gleichheitsprüfung von Regelungen, die zwischen Angehörigen dieser Berufe differenzieren, die strengeren Kriterien nach Maßgabe seiner sog. „neuen Formel“ heranzuziehen. Mit dieser Formel hat das Bundesverfassungsgericht13 im Jahre 1980 vor dem Hintergrund früherer Bemühungen, den Gleichheitssatz mit Hilfe von Anforderungen der Systemgerechtigkeit aufzuwerten, über das allgemeine Willkürverbot hinausgehende strengere Maßstäbe formuliert. Das Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG ist danach „vor allem dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (…)“. Gelegentlich wird im Rahmen entsprechender Formulierungen darauf verwiesen, dass es um die Rechtfertigung „unter Berücksichtigung des Normzwecks“ gehe14. Für das Verhältnis zwischen Rechtsanwälten einerseits und Steuerberatern bzw. Wirtschaftsprüfern andererseits bedeuten diese strengeren Kriterien, dass nicht irgendwelche Unterschiedlichkeiten der Vergleichsgruppen, die dem bloßen Willkürverbot standhalten könnten, ausreichen, um den tatbestandlichen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG auszuschließen; vielmehr müssen sich zur Rechtfertigung des Verbots der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG Unterschiede feststellen lassen, die unter Berücksichtigung des Normzwecks die vorgenommene Sonderbehandlung der Steuerberater und Wirtschaftsprüfer rechtfertigen können.

__________ 10 Vgl. zur Steuerberater-GmbH & Co. KG Neufang/Beißwenger, BB 2009, 932. 11 BVerfGE 80, 269, 280 – Steuerberater und Rechtsanwälte; BVerfGE 98, 49, 63 = JZ 1998, 1062, 1064 mit Anm. Henssler – Steuerberater und Wirtschaftsprüfer; dazu auch BGHZ 148, 270, 282 f. und schon Sachs, MDR 1996, 1197 ff. 12 Ständige Rechtsprechung, BVerfGE 55, 72, 88; BVerfGE 60, 123, 133 f.; Heun in Dreier, GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 3 Rz. 19 m. w. N. 13 Zuerst BVerfGE 55, 72, 88; zum Ganzen näher Sachs, JuS 1997, 124 ff.; aus neuerer Zeit Osterloh in Sachs (Hrsg.), GG, 5. Aufl. 2009, Art. 3 Rz. 13 ff. 14 So namentlich für eine Differenzierung zwischen Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern bei Sozietätsverboten BVerfGE 98, 49, 63.

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Konsequenzen verfassungswidriger Berufsrechtsnormen

Die amtlichen Begründungen der genannten Novellen von WPO und StBerG15 stellen auf die steuer- und haftungsrechtlichen Vorteile der GmbH & Co. KG ab. Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern soll danach eine Begünstigung zukommen, die ohne nachvollziehbaren Sachgrund den Rechtsanwälten verwehrt bleibt. Der nach der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung maßgebliche Normzweck erzwingt damit eine Gleichbehandlung. Auf Seiten der Rechtsanwälte ist außerdem deren Grundrecht aus Art. 12 GG betroffen. Die Möglichkeit, auf bestimmte haftungs- und steuerrechtlich attraktive Berufsausübungsformen zurückgreifen zu können, berührt die Berufsausübung in einem Kernbereich. Angesichts der Wettbewerbssituation, in der sich Rechtsanwälte einerseits und Steuerberater/Wirtschaftsprüfer andererseits seit In-Kraft-Treten des RDG16 verstärkt befinden, müssen die Anforderungen, die an die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung zu stellen sind, hoch angesiedelt werden. Solche Rechtfertigungsgründe sind vorliegend nicht einmal ansatzweise ersichtlich17. Als personenbezogene Differenzierung lässt sich das Verbot der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG nicht durch gerade bei den Rechtsanwälten oder Anwaltsgesellschaften bestehende Besonderheiten sachlich rechtfertigen; auch eine Legitimation aufgrund des Verständnisses als Typisierung scheidet aus. Vielmehr ging es dem Gesetzgeber darum kleinere und mittelständige Praxen zu begünstigen. Diese prägen aber auch bei der Anwaltschaft das Erscheinungsbild am Markt. Die handels- und berufsrechtlichen Vorschriften, die der Gründung einer Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG entgegenstehen, verletzen somit insbesondere aufgrund der abweichenden Regelung für Steuerberater und Wirtschaftsprüfer den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Abhilfe über die verfassungskonforme Auslegung der Verbotsvorschriften lässt sich nicht schaffen. Da es sich um vom Gesetzgeber bewusst vorgenommene Differenzierungen handelt, kommt eine Rechtsfortbildung über die verfassungskonforme Auslegung der Verbotsbestimmungen nicht in Betracht18.

IV. Konsequenzen der Verfassungswidrigkeit des Verbots der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG Die Konsequenzen der Verfassungswidrigkeit der Vorschriften, die der Gründung einer Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG entgegenstehen, sind zum einen im Hinblick auf die unmittelbaren Folgen der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen für diese selbst, zum anderen mit Blick auf die Folgewirkungen für Rechtsakte, die auf der Grundlage des verfassungswidrigen Gesetzes vorgenommen werden, zu bestimmen.

__________ 15 16 17 18

BT-Drucks. 16/2858, S. 24; BR-Drucks. 508/07, S. 40; BT-Drucks. 16/7077, S. 30. Dazu Henssler/Deckenbrock, DB 2008, 41 ff. Ausführlich hierzu Henssler in FS Kreutz (Fn. 2), S. 635, 650 ff. Henssler in FS Kreutz (Fn. 2), S. 635, 655.

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Martin Henssler

1. Entscheidungsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts bei verfassungswidrigen Gesetzen a) Nichtigkeit des Gesetzes als regelmäßige unmittelbare Folge Im Verfassungsstaat des Grundgesetzes, der von dem in Art. 20 Abs. 3 GG mit der Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung zum Ausdruck gebrachten Vorrang der Verfassung auch vor dem formellen Gesetz geprägt ist19, ist die regelmäßige Folge der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes seine Ungültigkeit (vgl. Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG) oder – gleichbedeutend – Nichtigkeit (vgl. § 78 Satz 1 BVerfGG)20. Diese Folge tritt nach nicht unbestrittener, aber namentlich in der Gerichtspraxis nach wie vor vorherrschender Auffassung ipso iure und ex tunc ein, also von Gesetzes wegen ohne Notwendigkeit einer Aufhebung oder vorgängiger autoritativer Feststellung und von Anfang an, also mit dem Eintritt des Normwiderspruchs21. b) Bloße Unvereinbarkeit des Gesetzes als unmittelbare Folge, insbesondere bei Verstößen gegen den Gleichheitssatz Abweichend von der regelmäßigen Rechtsfolge der Nichtigkeit eines Gesetzes nimmt das Bundesverfassungsgericht in ständiger, seit langem in § 31 Abs. 2 Satz 2 und 3 BVerfG auch gesetzlich sanktionierter Rechtsprechung in bestimmten Fällen die bloße Unvereinbarkeit des Gesetzes mit dem Grundgesetz an22. Eine solche für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärte Vorschrift scheidet grundsätzlich nicht aus dem Normenbestand aus. Die Feststellung der Unvereinbarkeit durch das Bundesverfassungsgericht führt aber zu einer Anwendungssperre23. Gerichte und Exekutive müssen die nicht abgeschlossenen Verfahren bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber aussetzen24. Das Bundesverfassungsgericht kann allerdings in seiner Entscheidung

__________ 19 Vgl. hierzu Schulze-Fiedlitz in Dreier (Fn. 12), Art. 20 GG (Rechtsstaat) Rz. 81; Sommermann in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, München 2005, Art. 20 GG Rz. 249, 253. 20 Sommermann in v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 19), Art. 20 GG Rz. 256. 21 Vgl. BVerfGE 84, 9, 20; zum Ganzen nur Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 2001, Rz. 1251 f.; Bethge in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Loseblatt, Stand: 30 Lfg. 2009, § 31 BVerfGG Rz. 142 ff.; Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, 1980, Vierter Teil, 1. Kapitel, S. 147 ff. und Fünfter Teil, 2. Kapitel, S. 258 ff.; Sachs in Sachs (Fn. 13), Art. 20 GG Rz. 95 m. w. N.; Schulze-Fielitz in Dreier (Fn. 12), Art. 20 GG (Rechtsstaat) Rz. 84; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1980, § 44 V 3, S. 1039 ff.; a. A. Grzeszick in Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz Kommentar, Loseblatt, Stand: 55. Lfg. 2009, Art. 20 VI GG Rz. 45 ff.; kritische Auseinandersetzung bei Moench, Verfassungswidriges Gesetz und Normenkontrolle, 1977, V., S. 114 ff. 22 Vgl. Ipsen (Fn. 21), Dritter Teil, 2. Kapitel, 1., S. 109 ff. und Fünfter Teil, 1. Kapitel 1. e), S. 217 ff. 23 BVerfGE 99, 280, 298; BVerfGE 100, 59, 103; BVerfGE 100, 104, 136; BVerfGE 100, 226, 248; BVerfGE 107, 133, 149; BVerfGE 107, 150, 186; Benda/Klein (Fn. 21), Rz. 1274; Heußner, NJW 1982, 257, 258; Moench (Fn. 21), VIII. 1., S. 171 f. m. w. N.; Sachs in Sachs (Fn. 13), Art. 20 GG Rz. 98. 24 Benda/Klein (Fn. 21), Rz. 1275.

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Konsequenzen verfassungswidriger Berufsrechtsnormen

zugleich die Weitergeltung der Norm für eine bestimmte Frist anordnen, innerhalb der der Gesetzgeber eine Neuregelung treffen muss25. Diese Praxis greift insbesondere für die hier zu beurteilenden Verstöße gegen Gleichheitsgrundrechte, bei denen die bloße Unvereinbarkeit sogar die Regel ist26. Die Beschränkung der Entscheidungsfolgen im Regelfall auf bloße Unvereinbarkeit beruht auf der Überlegung, dass bei einem Gleichheitsverstoß eine verfassungsgemäße Rechtslage nicht nur durch die Kassation des Gesetzes, sondern in unterschiedlicher Weise herbeigeführt werden kann, indem auf verschiedenen Wegen eine für die jeweiligen Vergleichsgruppen gleichheitsgemäß gestaltete Neuregelung getroffen wird27. Zudem passt eine Nichtigkeitsfolge nicht bei einer Gesetzeslücke sowie bei einer sich erst aus der Normrelation bzw. der Gesetzessystematik ergebenden Verfassungswidrigkeit28. Anderes gilt allerdings jedenfalls dann, „wenn mit Sicherheit anzunehmen ist, dass der Gesetzgeber bei Beachtung des Art. 3 GG die nach der Nichtigerklärung verbleibende Fassung der Norm wählen würde“29. Diese Grundsätze gelten in ähnlicher Form für den Fall einer auf einen Verstoß gegen Art. 12 GG gestützten Verfassungswidrigkeit. In seiner aktuellen Entscheidung zum Verbot des Erfolgshonorars in § 49b Abs. 2 BRAO a. F. hat das Bundesverfassungsgericht den aufgezeigten Weg beschritten. Es hat die Verfassungswidrigkeit der Norm in der Form der Unvereinbarkeit festgestellt, die gegen die Anwältin verhängte anwaltsgerichtliche Maßnahme jedoch nicht aufgehoben. Vielmehr wurde dem Gesetzgeber eine Frist gesetzt, innerhalb derer er einen verfassungskonformen Rechtszustand herzustellen habe30. Dort hat das Gericht darauf hingewiesen, dass die Weiteranwendung der verfassungswidrigen Regelung ausnahmsweise deshalb geboten sei, weil anderenfalls

__________ 25 BVerfGE 117, 163, 200 f.; Benda/Klein (Fn. 21), Rz. 1277; Bethge in Maunz/SchmidtBleibtreu/Klein/Bethge (Fn. 21), § 31 BVerfGG Rz. 206; zur Weitergeltungsanordnung ebenda Rz. 227; Ipsen (Fn. 21), Dritter Teil, 3. Kapitel 3., S. 122 ff.; Moench (Fn. 21), VIII. 4., S. 177. Vgl. zur Befristung BVerfGE 90, 263, 277; BVerfGE 92, 158, 186; BVerfGE 99, 216, 244; Schulze-Fielitz in Dreier (Fn. 12), Art. 20 GG (Rechtsstaat) Rz. 90 f. 26 Vgl. BVerfGE 22, 349, 361 f.; BVerfGE 93, 121, 148; BVerfGE 99, 69, 83; Benda/Klein (Fn. 21), Rz. 1269; Bethge in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Fn. 21), § 31 BVerfGG Rz. 211 f.; Sommermann in v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 19), Art. 20 GG Rz. 258. Zu den nicht ganz seltenen Fällen, in denen es zur Nichtigkeit kommt, vgl. Sachs in Sachs (Fn. 13), Art. 20 GG Rz. 98 m. w. N. 27 BVerfGE 22, 349, 361 f.; BVerfGE 93, 121, 148; BVerfGE 99, 69, 83; Ipsen (Fn. 21), Dritter Teil, 2. Kapitel 2., S. 113 ff.; Schulze-Fielitz in Dreier (Fn. 12), Art. 20 GG (Rechtsstaat) Rz. 90. 28 Benda/Klein (Fn. 21), Rz. 1269; Ipsen (Fn. 21), Fünfter Teil, 1. Kapitel 1. c), S. 213. 29 BVerfGE 22, 163, 174 f.; BVerfGE 85, 191, 212 m. w. N.; ähnlich BVerfGE 55, 100, 113, für den Fall, dass die Möglichkeit einer anderen Beseitigung des Verfassungsverstoßes „aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen derart gering (ist), daß kein Anlaß besteht, lediglich die Unvereinbarkeit … festzustellen“; s. ferner nur Osterloh in Sachs (Fn. 13), Art. 3 GG Rz. 131. 30 Vgl. BVerfGE 117, 163, 200 f.

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für eine Übergangszeit ein Zustand entstehe, der von der verfassungswidrigen Ordnung noch weiter entfernt sei, als der bisherige31. 2. Mittelbare Folgen der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen a) Grundsätze Mit mittelbaren Folgen der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen sind die Folgen gemeint, die sich aus der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen für auf diese Normen gestützte Rechtsakte ergeben. Sie sind in § 79 BVerfGG hinsichtlich staatlicher Entscheidungen geregelt und zwar insoweit als die Entscheidungen rechts- oder bestandskräftig geworden sind. Abgesehen vom Sonderfall rechtskräftiger Strafurteile, für die eine Wiederaufnahme zugelassen wird (§ 79 Abs. 1 BVerfGG), sieht § 79 Abs. 2 BVerfGG vor, dass (im Interesse der Rechtssicherheit) unanfechtbare (behördliche und gerichtliche) Entscheidungen unberührt bleiben32. Allerdings ist die Vollstreckung solcher Entscheidungen nicht mehr möglich33. Während § 79 BVerfGG ursprünglich nur für nichtig erklärte Normen ansprach, erfasst inzwischen § 79 Abs. 1 BVerfGG auch den Fall der Unvereinbarerklärung einer Norm mit dem Grundgesetz. Das Bundesverfassungsgericht hatte schon zuvor die analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 BVerfGG bei Unvereinbarkeitserklärungen bejaht und diese Auffassung ungeachtet der Änderung des Abs. 1 bestätigt34. Soweit Entscheidungen staatlicher Stellen noch anfechtbar sind, kann die Verfassungswidrigkeit ihrer gesetzlichen Grundlage im Rahmen der dafür vorgesehenen Rechtsbehelfe geltend gemacht werden. Auf nichtige Gesetze gestützte Entscheidungen der Behörden und Gerichte sind rechtswidrig und aufzuheben35; bei bloßer Unvereinbarkeit kommt dieses Prozedere grundsätzlich nicht in Betracht, vielmehr sind die einschlägigen Verfahren bis zu einer Neuregelung auszusetzen36. b) Prüfungs- und Verwerfungskompetenz der Gerichte und Behörden Gerichte und Behörden sind nicht ohne weiteres befugt, die Konsequenzen aus dem Eintritt der Nichtigkeit einer Norm zu ziehen und das Gesetz als ungültig (nichtig) zu behandeln. Insbesondere bei formellen, nachkonstitutionellen Gesetzen wie der BRAO steht den Fachgerichten zwar ein Prüfungs-, aber kein Verwerfungsrecht zu. Letzteres ist vielmehr bei den Verfassungsgerichten, für Bundesgesetze im Falle von Verstößen gegen das Grundgesetz beim Bundesverfassungsgericht, monopolisiert. Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG normiert eine

__________ 31 BVerfGE 117, 163, 200 f.; vgl. auch BVerfGE 92, 53, 73; BVerfGE 111, 191, 224; Sommermann in v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 19), Art. 20 GG Rz. 256; vgl. zur Fortgeltung auch Schulze-Fielitz in Dreier (Fn. 12), Art. 20 GG (Rechtsstaat) Rz. 91. 32 Bethge in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Fn. 21), § 79 BVerfGG Rz. 43 ff. 33 Zur Vollstreckungssperre Bethge in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Fn. 21), § 79 BVerfGG Rz. 57 ff. 34 BVerfGE 115, 51, 65 m. w. N. 35 Bethge in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Fn. 21), § 79 BVerfGG Rz. 51. 36 Vgl. Ipsen (Fn. 21), 4. Teil, 5. Kapitel, 5., S. 298 f.

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absolute Letztentscheidungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts über die Vereinbarkeit eines nachkonstitutionellen Gesetzes mit dem Grundgesetz37. Die Fachgerichte sind, wenn sie ein Gesetz der bezeichneten Art, das in ihren Verfahren entscheidungserheblich ist, für grundgesetzwidrig halten, nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG verpflichtet, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen. Erst nach dessen Entscheidung und auf ihrer Grundlage können sie in dem von der Nichtigkeit des Gesetzes abhängigen Rechtsstreit entscheiden38. Hierdurch wird Rechtssicherheit hergestellt und eine einheitliche Rechtsprechung sowie eine gründliche und sachkundige Prüfung der Gesetze ermöglicht. Andernfalls müsste über die Verfassungswidrigkeit und damit die Nichtanwendung einer Norm in jedem konkreten Rechtsstreit entschieden werden, wobei einheitliche Entscheidungen nicht gewährleistet wären39. Darüber hinaus wird die Autorität des Gesetzgebers gesichert40. Die Berechtigung sonstiger Staatsorgane, insbesondere die der Verwaltungsorgane, aber auch der Organe mittelbarer Staatsverwaltung wie der Rechtsanwaltskammern, vor einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ein Gesetz als nichtig zu behandeln, ist zwar nicht abschließend geklärt41. Nach der zutreffenden herrschenden Meinung verbietet aber das Gebot der Gesetzesbindung bei förmlichen Gesetzen eine Verwerfungskompetenz der Exekutive, auch wenn die Verwaltung Normen für verfassungswidrig hält42. Grundsätzlich ist die Exekutive darauf beschränkt, durch die Bundesregierung bzw. eine zuständige Landesregierung als Behördenspitze ein abstraktes Normenkontrollverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG i. V. m. §§ 13 Ziff. 6, 76–79 BVerfGG anzustrengen43. Ausnahmen sind nur in Fällen evidenter Verfassungswidrigkeit44 und im Einzelfall bei schwebenden gerichtlichen Verfahren anzuerkennen45.

__________ 37 BVerfGE 2, 124, 131; BVerfGE 22, 373, 378; Benda/Klein (Fn. 21), Rz. 767 m. w. N.; Meyer in v. Münch/Kunig, 5. Aufl. 2003, Art. 100 GG Rz. 2; Morgenthaler in Epping/ Hillgruber, Grundgesetz Kommentar, 2009, Art. 100 GG Rz. 2. 38 Vgl. Sachs in Sachs (Fn. 13), Art. 20 GG Rz. 96; näher etwa Sturm in Sachs (Fn. 13), Art. 100 GG Rz. 5, 9 ff.; Sachs, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl. 2007, Rz. 176 ff.; Sieckmann in v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 19), Art. 100 GG Rz. 7 f. 39 Vgl. Maunz in Maunz/Dürig/Herzog (Fn. 21), Art. 100 GG Rz. 2 ff. 40 Benda/Klein (Fn. 21), Rz. 767; Sieckmann in v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 19), Art. 100 GG Rz. 3. 41 S. dazu nur Sachs in Sachs (Fn. 13), Art. 20 GG Rz. 97 m. w. N. 42 Schulze-Fielitz in Dreier (Fn. 12), Art. 20 GG Rz. 98; Jarass in Jarass/Pieroth, GG, 10. Aufl. 2009, Art. 20 GG Rz. 36; Ossenbühl in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 2. Aufl. 1996, § 62 Rz. 4; Somemrmann in v. Mangodt/Klein/ Stark (Fn. 19), Art. 20 GG Rz. 257; ausführlich M. Wehr, Inzidente Normenverwerfung durch die Exekutive, 1998, S. 107 ff., 180 ff.; a. A. Sachs in Sachs (Fn. 13), Art. 20 GG Rz. 97 m. w. N. Offengelassen von Grzeszick in Maunz/Dürig/Herzog (Fn. 21), Art. 20 VI GG Rz. 48 ff. 43 Schulze-Fielitz in Dreier (Fn. 12), Art. 20 GG (Rechtsstaat) Rz. 98; Sommermann in v. Mangoldt/Klein/Strack (Fn. 19), Art. 20 GG Abs. 3 Rz. 257. 44 Stern, Staatsrecht III/1, 1988, S. 1347 ff.; Schulze-Fielitz in Dreier (Fn. 19), Art. 20 GG (Rechtsstaat) Rz. 98. 45 BVerfGE 12, 180, 186; Schulze-Fielitz in Dreier (Fn. 12), Art. 20 GG (Rechtsstaat) Rz. 98.

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Auch eine Rechtsanwaltskammer muss als Organ mittelbarer Staatsverwaltung damit formelle Gesetze, wie das HGB oder die BRAO, die sie für verfassungswidrig hält, grundsätzlich beachten. Angesichts des Umstands, dass das Verbot der freiberuflichen GmbH & Co. KG seit vielen Jahrzehnten anerkannt und bis in die jüngste Zeit nicht einmal ansatzweise in Zweifel gezogen wurde, kann von einer Ausnahmekonstellation, in der einer Rechtsanwaltskammer ein eigenständiges Verwerfungs- bzw. Nichtanwendungsrecht zu gewähren wäre, nicht ausgegangen werden. c) Verwerfungskompetenz von Gerichten und Behörden im Stadium vor einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts können und müssen die Fachgerichte somit ein als verfassungswidrig eingestuftes Gesetz nach Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorlegen, nicht aber vor dessen Entscheidung selbständig außer Anwendung lassen. Der vollziehenden Verwaltung und damit auch den Rechtsanwaltskammern bleibt im Stadium vor der Unvereinbarkeitserklärung grundsätzlich nur die Anwendung des Gesetzes. Ausnahmen gelten – wie erwähnt (oben 1. a) – in Fällen evidenter Verfassungswidrigkeit und bei schwebenden gerichtlichen Verfahren. Eine weitere Ausnahme hat das Bundesverfassungsgericht46 für den Fall angenommen, in dem es im Ermessen der Behörde steht, die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes auszusetzen. Sei die Norm, auf dem der Verwaltungsakt beruhe, verfassungswidrig, so sei das Ermessen der Behörde auf null reduziert, das Verfahren müsse also ausgesetzt werden. Das Gericht knüpfte in einem steuerrechtlichen Sachverhalt an die Verpflichtung der Finanzverwaltung an, die Beitreibung öffentlicher Abgaben auszusetzen, falls ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheides bestehen47. Rechtfertigten aber schon ernstliche Zweifel an der Richtigkeit von Auslegung und Anwendung des Gesetzes die Aussetzung, so müsse entsprechendes erst recht dann gelten, wenn ernste verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Gültigkeit des Gesetzes selbst erhoben werden können. Denn auch die vollziehende Gewalt sei nach Art. 20 Abs. 3, Art. 1 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht, insbesondere an die Grundrechte gebunden. Aus dem Prinzip der Gewaltenteilung und aus Sinn und Zweck der Ermächtigung zur Aussetzung folge nichts anderes. Der Grundsatz der Gewaltenteilung werde durch die wechselseitige Kontrolle der Gewalten ergänzt; er zwinge nicht zum Vollzug eines Gesetzes, das wahrscheinlich für nichtig erklärt werden müsse. Die Sorge, unzureichend begründete Aussetzungen könnten überhand nehmen und die Verwaltung lähmen, sei nicht begründet; einem Missbrauch können die höheren Verwaltungsstellen entgegentreten. In letzter Linie seien Bundesregierung oder Landesregierungen in der Lage, durch Einleitung eines Verfahrens nach Art. 93

__________ 46 BVerfGE 12, 180, 186. 47 Vgl. z. B. BFH in BStBl. III 1954, 116 und 328; FR 1958, 209 und OVG Münster in JZ 1960, 709.

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Abs. 1 Nr. 2 GG eine Klärung der verfassungsrechtlichen Zweifel herbeizuführen. Zwar sei eine Aussetzung nicht allein deshalb gerechtfertigt, weil der Betroffene die Verfassungswidrigkeit einer Norm behaupte oder die Verfassungswidrigkeit vor dem Bundesverfassungsgericht geltend mache. Ein solches Vorbringen könne aber Anlass geben, eine Aussetzung in Betracht zu ziehen48. d) Verhalten von Gerichten und Behörden im Stadium nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts In den Fällen der verfassungsgerichtlichen Unvereinbarkeitserklärung ohne Weitergeltungsanordnung steht die Verfassungswidrigkeit dem weiteren Gesetzesvollzug entgegen. Gerichtliche und behördliche Verfahren sind daher auszusetzen, bis der Gesetzgeber die Gesetzeslage neu gestaltet hat, was grundsätzlich auch rückwirkend möglich sein soll49. Der Bürger muss das Gesetz, das mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärt wurde, also nicht beachten. Er handelt dabei aber in gewissem Umfang auf eigenes Risiko, da er mit der verfassungsrechtlich gebotenen gesetzlichen Neuregelung auch für die Vergangenheit rechnen muss. Nicht vorhersehbare Belastungen muss er dagegen nicht befürchten. 3. Folgerungen für die Praxis a) Keine Verwerfungskompetenz der mit der Sache befassten Rechtsanwaltskammer Für die Behandlung einer Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG durch eine mit der Sache befasste Rechtsanwaltskammer ergeben sich damit folgende Grundsätze: Ist das derzeitige Verbot der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG als verfassungswidrig anzusehen, steht der Rechtsanwaltskammer, die bei einem Zulassungsantrag im Rahmen der mittelbaren Staatsverwaltung als Behörde im Sinne der vorigen Ausführungen tätig wird, keine eigene Verwerfungskompetenz zu. Das gilt unabhängig davon, ob das Bundesverfassungsgericht im Falle seiner Anrufung zur Nichtigkeit oder Unvereinbarkeit der Regelung kommt. Insbesondere hinsichtlich der Vorschriften der BRAO als eindeutig nachkonstitutionellem formellem Gesetzesrecht ist die Verwerfung beim Bundesverfassungsgericht monopolisiert. Gleiches wird man aufgrund der Handelsrechtsreform des Jahres 1998 auch für die Definition des Handelsgewerbes in §§ 1 ff. HGB annehmen müssen. Eine umwandlungswillige Kanzlei müsste gegen einen ablehnenden Bescheid der Rechtsanwaltskammer gerichtlich vorgehen und nach Ausschöpfung des Rechtswegs gegebenenfalls Verfassungsbeschwerde erheben.

__________ 48 BVerfGE 12, 180, 186. 49 Vgl. zum Ganzen nur BVerfGE 99, 280, 298; BVerfGE 100, 59, 103; BVerfGE 100, 104, 136; BVerfGE 100, 226, 248; BVerfGE 107, 133, 149; BVerfGE 107, 150, 186; Bethge in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Fn. 21), § 31 BVerfGG Rz. 221 ff.; Heußner, NJW 1982, 257, 258; Sachs in Sachs (Fn. 13), Art. 20 GG Rz. 98.

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Selbst im Falle des Obsiegens könnte sie die Gründung einer GmbH & Co. KG nicht sofort durchsetzen. b) Bloße Unvereinbarkeit der verfassungswidrigen Normen? Die Nichtigkeit der einer Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG entgegenstehenden Vorschriften würde nach den vorgestellten Grundsätzen voraussetzen, dass mit Sicherheit anzunehmen ist, dass der Gesetzgeber bei Beachtung des Art. 3 GG die nach der Nichtigerklärung verbleibende Fassung der Norm wählen würde. Ob diese Voraussetzung tatsächlich zu bejahen ist, lässt sich nach den recht unbestimmten Kriterien des Bundesverfassungsgerichts kaum rechtssicher beurteilen. Da die Folgen sehr weitreichend sind und es im Prinzip einer völligen Neuordnung des Rechts der Berufsausübungsgesellschaften der Freien Berufe bedarf, erscheint es denkbar, dass das Bundesverfassungsgericht – sofern es zum Ergebnis der Verfassungswidrigkeit gelangt – die verfassungswidrige Regelung für weiterhin anwendbar erklärt, dem Gesetzgeber aber eine Frist zur Neuregelung setzt. Dem Gesetzgeber würde so die Gelegenheit eingeräumt, die gerichtlich festgestellte Verfassungswidrigkeit der geltenden Rechtslage zum Anlass für eine grundlegende Neuregelung des Systems der Personengesellschaften zu nehmen. In diese Richtung weist auch die österreichische Regelung in dem neuen UGB50. Dass die generelle Anerkennung der freiberuflichen GmbH & Co. KG vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochen wird, erscheint dagegen eher unwahrscheinlich. Vorstellbar ist etwa, dass für den Fall der Ausübung einer Treuhandtätigkeit durch die verwandten Berufe der Rechtsanwälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer die KG zur Verfügung gestellt und außerdem das Verbot der Beteiligung von Kapitalgesellschaften an anwaltlichen Personengesellschaften gelockert wird. Gerade die letztgenannte Gesetzesänderung ist freilich nicht zwingend. Verfassungsrechtlich wäre der Gesetzgeber (wohl) nicht gehindert, die Beteiligung von Kapitalgesellschaften an freiberuflichen Personengesellschaften weiterhin zu beschränken. Hinsichtlich der Anforderungen, die insoweit aufzustellen sind, steht dem Gesetzgeber ein recht weiter Entscheidungsspielraum zur Verfügung. Die komplette Nichtigerklärung der in §§ 59a Abs. 1 und 59c Abs. 2 BRAO angeordneten Beschränkungen dürfte vor diesem Hintergrund fragwürdig sein. Die Besonderheit, dass selbst den Steuerberatern und den Wirtschaftsprüfern die KG nur für die treuhänderische Tätigkeit zur Verfügung gestellt wird (vgl. § 27 Abs. 2 WPO und § 49 Abs. 2 StBerG), verdeutlicht die Notwendigkeit einer klaren, widerspruchsfreien und den Gleichheitssatz achtenden gesetzlichen Regelung. Die bestehenden Rechtsunsicherheiten legen es nahe, dass eine mit der Sache befasste Rechtsanwaltskammer über einen gerichtlich überprüfbaren Bescheid den Weg zu einer verfassungsrechtlichen Klärung ebnet51. Die Rechtslage ist

__________ 50 Dazu Henssler in FS Kreutz (Fn. 2), S. 635, 648 f.; ausführlich Zib/Verweijen, Das neue Unternehmensgesetzbuch, 2006. 51 Dazu im Einzelnen unter VII.

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insoweit anders als bei den schlicht ungeregelten Gesellschaftsformen wie etwa der Rechtsanwalts-AG, bei der es ja nicht darum ging, eine explizite Verbotsvorschrift unter Missachtung der Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers außer Acht zu lassen. Dort stellte sich allein die Frage, wie angesichts einer bestehenden Gesetzeslücke zu verfahren ist. Bei der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG würde dagegen der Rechtsanwaltskammer abverlangt, eine klare gesetzliche Regelung nicht anzuwenden.

V. Möglichkeit einer Zulassung der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG zur Anwaltschaft Bejaht man – entgegen der hier vertretenen Auffassung – die Zulässigkeit der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG schon de lege lata, so stellt sich die Anschlussfrage, ob eine solche Gesellschaft einer berufsrechtlichen Zulassung bedarf bzw. ob sie eine solche Zulassung durch die Kammer freiwillig erreichen kann. 1. Die Anerkennung von Berufsausübungsgesellschaften nach WPO und StBerG Nach dem System der BRAO bedürfen anwaltliche Berufsausübungsgesellschaften, die in der Rechtsform einer Personengesellschaft betrieben werden, keiner Zulassung. Weder die Sozietät als Gesellschaft bürgerlichen Rechts noch die Partnerschaft können nach geltender Rechtslage zur Anwaltschaft zugelassen und selbst Mitglied einer Rechtsanwaltskammer werden. Die Rechtslage unterscheidet sich hinsichtlich der PartG insoweit von derjenigen bei Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern. Wirtschaftsprüfer können gemäß § 27 Abs. 1 WPO eine Partnerschaft als Wirtschaftsprüfungsgesellschaft anerkennen lassen, wenn sie die Voraussetzungen des § 28 WPO erfüllt52. Zusätzlich wird in § 43a Abs. 2 Satz 1 WPO die einfache, d. h. nicht in einem Zulassungsverfahren anerkannte Partnerschaft ausdrücklich als Rechtsform für die gemeinsame Berufsausübung genannt53. Ähnlich ist die Regelung im StBerG: Nach § 49 Abs. 1 StBerG können auch Partnerschaften als Steuerberatungsgesellschaften anerkannt werden, wenn sie die Voraussetzungen für die Anerkennung nach §§ 49 ff. StBerG erfüllen54. Seit der zum 1.7.2000 erfolgten Rechtsänderung ist außerdem auch die einfache Partnerschaft über § 3 Nr. 2 StBerG zur geschäftsmäßigen Steuerberatung befugt55. § 56 Abs. 2 StBerG stellt ergänzend klar, dass Steuerberater sich zur gemeinschaftlichen Berufs-

__________ 52 Burret, WPK-Mitt. 1994, 201, 206 f.; Naumann in WP-Handbuch 2006, 13. Aufl. 2006, A Rz. 129, 217 ff.; vgl. auch Henssler, PartGG, 3. Aufl. 2008, § 4 PartGG Rz. 41. 53 Ausführlich Henssler, PartGG (Fn. 52), § 1 PartGG Rz. 293 ff.; Naumann in WPHandbuch 2006 (Fn. 52), A Rz. 217, 220. 54 Vgl. Henssler, PartGG (Fn. 52), § 1 PartGG Rz. 311. 55 Vgl. Henssler, PartGG (Fn. 52), § 1 PartGG Rz. 312 f.; Naumann in WP-Handbuch 2006 (Fn. 52), A Rz. 221.

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ausübung in einer Partnerschaft organisieren dürfen, die nicht als Steuerberatungsgesellschaft anerkannt ist. Voraussetzung ist nach § 51a Abs. 1 i. V. m. § 51 BOStB allerdings, dass ausschließlich natürliche Personen i. S. v. § 3 Nr. 1 StBerG Partner sind56. 2. Die Zulassung als Rechtsanwaltsgesellschaft nach der BRAO Der BRAO ist ein vergleichbares Wahlrecht dagegen für Personengesellschaften fremd. Weder die Sozietät noch die PartG sind zulassungsfähig oder zulassungspflichtig. Nur für die GmbH sieht sie ein Zulassungsrecht, aber auch eine Zulassungspflicht in §§ 59c und 59d BRAO vor57. Dieses Zulassungsrecht wird in Rechtsprechung und Schrifttum auf die Rechtsanwalts-AG übertragen58. Die berufsrechtliche Zulassung der Rechtsanwalts-AG kann mangels planwidriger Regelungslücke zwar nicht über eine analoge Anwendung der §§ 59c ff. BRAO erzwungen werden. Genügt die AG jedoch in einer ihrer Rechtsform entsprechenden Weise den wesentlichen Voraussetzungen, die an die Zulassung einer Kapitalgesellschaft als Rechtsanwaltsgesellschaft zu stellen sind und die in § 59c ff. BRAO ihren Niederschlag gefunden haben, so folgt aus Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG ein Anspruch auf berufsrechtliche Zulassung in einem § 59g BRAO entsprechenden Verfahren59. Die fehlende gesetzliche Regelung eines Zulassungsverfahrens stellt kein Hindernis für die berufsrechtliche Zulassung der Anwalts-AG dar60. Für die AG ist die berufsrechtliche Zulassung von Bedeutung, weil sie nur auf diese Weise die eigene Postulationsfähigkeit in Anlehnung an die in § 59l BRAO geregelte Postulationsfähigkeit erlangen kann61. Außerdem soll sie nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs nur bei Zulassung befugt sein, geschäftsmäßige Hilfeleistung in Steuersachen zu erbringen62. Auf die KG als Personengesellschaft lassen sich diese spezifisch auf Kapitalgesellschaften zugeschnittenen Regelungen nicht übertragen63. Für das Berufsrecht der Rechtsanwälte ist die Vorgabe für Personengesellschaften eindeutig. Da das Zulassungsverfahren anders als bei Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern keine Vorteile bzw. zusätzliche Rechte vermittelt, besteht auch gar kein Anlass, contra legem ein Recht auf Zulassung zu konstruieren. Geht man davon aus, dass die Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG schon nach geltendem Recht aufgrund der Nichtigkeit der entgegenstehenden Bestimmungen gegründet wer-

__________ 56 Späth in Mittelsteiner/Gilgan/Späth, BOStB, 2002, § 51 StBerG Rz. 3, § 51a StBerG Rz. 3, 12. 57 Vgl. Henssler in Henssler/Prütting, BRAO, 3. Aufl. 2009, § 59c BRAO Rz. 1 ff., insbes. Rz. 9. 58 BGHZ 161, 376, 384 ff.; Henssler in Henssler/Prütting (Fn. 57), Vor §§ 59c ff. BRAO Rz. 28. 59 BGHZ 161, 376, 384 ff.; zustimmend Kempter/Kopp, BRAK-Mitt. 2005, 174; Henssler, AnwBl. 2005, 374; vgl. auch BFH/NV 2004, 224; BGH, NJW 2006, 1132. 60 So aber Kempter/Kopp, NJW 2004, 3605, 3607; Römermann, ZAP Fach 23, 425, 428 f. 61 Henssler in Henssler/Prütting (Fn. 57), Vor §§ 59c ff. BRAO Rz. 26. 62 BFH, DStRE 2005, 486. 63 A. A. Römermann, AnwBl. 2008, 609, 612.

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den kann, dann ist sie ebenso wie die Partnerschaft (vgl. § 7 Abs. 4 PartGG), die vom Gesetzgeber als Schwesterfigur zu OHG und KG konstruiert wurde, als postulationsfähig anzusehen, soweit sie durch zugelassene Rechtsanwälte handelt64. 3. Ergebnis Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass – sofern man die berufsrechtliche Zulässigkeit der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG bereits nach geltendem Recht bejaht – eine Zulassung dieser Rechtform als Rechtsanwaltsgesellschaft durch die Rechtsanwaltskammer weder erforderlich noch möglich ist.

VI. Zulässigkeit einer Rechtsanwalts-AG & Co. KG Sieht man die Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG – erneut entgegen der hier vertretenen Auffassung – schon nach geltendem Recht als zulässig an, so kann als Komplementärin konsequenterweise auch eine Rechtsanwalts-AG gewählt werden. Strengere Anforderungen gelten insoweit nicht. Erwägenswert erscheint im Gegenteil, ob nicht über die Wahl einer Rechtsanwalts-AG einzelne Hindernisse, die der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG entgegenstehen, sogar ausgeräumt werden können. Das gilt zwar nicht für die allgemeinen aus der Freiberuflichkeit herzuleitenden handelsrechtlichen Bedenken. Jedoch könnten sich die berufsrechtlichen Beschränkungen, die sich aus der unmittelbar nur die GmbH betreffenden Regelung des § 59c Abs. 2 BRAO ergeben, bei Wahl einer AG vermeiden lassen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die §§ 59c ff. BRAO mangels planwidriger Regelungslücke grundsätzlich nicht im Wege der Analogie auf die Rechtsanwalts-AG übertragbar sind. Jedoch werden diese Vorschriften von der Rechtsprechung als Referenzbestimmungen herangezogen, soweit es gilt, berufsrechtliche Kriterien für die Zulassung einer Rechtsanwalts-AG zu entwickeln. Der Bundesgerichtshof65 knüpft eine Zulassung „in Anlehnung an die §§ 59c ff. BRAO“ an folgende Voraussetzungen: – die Eigenverantwortlichkeit und Weisungsfreiheit der in der AG tätigen Rechtsanwälte muss gewährleistet sein, – die Mehrheit der Aktien und Stimmrechte muss Rechtsanwälten zustehen, – hinsichtlich der Aktionäre müssen die auch für die Gesellschafter einer GmbH geltenden Bestimmungen in § 59e BRAO, insbesondere die Beschränkung des Kreises der Aktionäre auf in der Gesellschaft tätige Rechtsanwälte und Angehörige der sozietätsfähigen Berufe (vgl. § 59e Abs. 1 und 2 BRAO i. V. m. § 59a Abs. 1 und 3 BRAO) Anwendung finden,

__________ 64 Zur PartG vgl. Henssler, PartGG (Fn. 52), § 7 PartGG Rz. 47 ff. 65 BGHZ 161, 376, 386 f.

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– das Verbot der Beteiligung einer Rechtsanwalts-AG an anderen Berufsausübungsgesellschaften (vgl. § 59c Abs. 2 BRAO) muss beachtet werden, – die finanzielle Solvenz der Gesellschaft im Sinne von § 7 Nr. 9 BRAO, § 59d Nr. 2 BRAO muss sichergestellt sein und – der Aufsichtsrat der AG muss mehrheitlich durch Rechtsanwälte besetzt sein66. Auch das hier interessierende Beteiligungsverbot des § 59c Abs. 2 BRAO wird vom Bundesgerichtshof damit auf die Rechtsanwalts-AG übertragen, so dass sich auf der Grundlage der Rechtsprechung keine Erleichterungen ergeben. Gegen die vom Bundesgerichtshof vorgenommene Übertragung des Verbots der Beteiligung an anderen beruflichen Zusammenschlüssen (§ 59c Abs. 2 BRAO) auf die Anwalts-AG sprechen nach der vom Verfasser dieses Beitrags vertretenen Auffassung allerdings verfassungsrechtliche Bedenken67. Zu beachten ist insoweit, dass die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung der §§ 59c ff. BRAO gerade nicht erfüllt sind. Auf die Rechtsanwalts-AG übertragen lassen sich schon aufgrund des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebots nur solche Einschränkungen, die sich eindeutig allgemeinen berufsrechtlichen Vorgaben entnehmen lassen, etwa der Unabhängigkeit der Berufsträger. Die verwandten Berufe der Steuerberater und Wirtschaftsprüfer unterliegen jedoch keinen vergleichbaren Beschränkungen (vgl. die bereits angesprochenen Vorschriften § 50a Abs. 1 Nr. 1 StBerG, § 28 Abs. 5 WPO sowie die Neuerungen in § 50 Abs. 1 StBerG und § 28 Abs. 1 WPO). In Anbetracht der Tatsache, dass die Tätigkeit des Steuerberaters nur einen Ausschnitt aus der anwaltlichen Berufsausübung bildet, ist kein Sachgrund für strengere Anforderungen an eine Rechtsanwalts-AG ersichtlich. Ebenfalls für anwendbar erklärt werden vom Bundesgerichtshof jene Bestimmungen, welche die zweite berufsrechtliche Hürde für die RechtsanwaltsGmbH & Co. KG bilden, nämlich die § 59e Abs. 1 und 2 BRAO i. V. m. § 59a Abs. 1 und 2 BRAO68. Auch insoweit ergeben sich nach der Rechtsprechung somit keine Erleichterungen. Da § 59a Abs. 1 BRAO einen allgemeinen Rechtsgedanken des anwaltlichen Berufsrechts enthält, der, wie der Verweisung in § 59e BRAO zu entnehmen ist, für alle Anwaltsgesellschaften gleich welcher Rechtsform gilt, und der auch auf die Anwaltspartnerschaft angewendet wird, ist – ungeachtet rechtspolitischer Zweifel an der Berechtigung dieser Vorschriften – davon auszugehen, dass de lege lata diese Beschränkung für die Rechtsanwalts-AG ebenfalls greift. Für den Fall einer Zulässigkeit der Rechtsanwalts-AG & Co. KG wäre der aktienrechtlich vorgeschriebene Aufsichtsrat (vgl. §§ 90, 95 ff. AktG) der Komplementär-AG mit aktiv in der AG tätigen Angehörigen der sozietätsfähigen

__________ 66 Hierzu Kilian, JR 2006, 206, 207. 67 Henssler in Henssler/Prütting (Fn. 57), vor § 59c BRAO Rz. 31. 68 BGH, NJW 2005, 1568, 1571; vgl. auch Henssler in Henssler/Prütting (Fn. 57), Vor §§ 59c ff. BRAO Rz. 22 ff. und 41.

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Berufe zu besetzen69. Dies folgt aus der aufgrund des Einsichtsrechts (§ 111 AktG) denkbaren Kollision mit dem anwaltlichen Berufsgeheimnis70. Der Bundesgerichtshof verlangt darüber hinausgehend eine mehrheitliche Besetzung mit Rechtsanwälten, wenn dem Aufsichtsrat per Satzung Geschäftsführungskompetenzen übertragen wurden71. Die Bindung einer Mandatsübernahme an die Zustimmung des Aufsichtsrats verletzt dagegen nicht die anwaltliche Unabhängigkeit. Diese verlangt lediglich die Unabhängigkeit des Rechtsanwalts bei der Bearbeitung des Mandats, gibt ihm dagegen nicht zu Lasten der Mitgesellschafter ein Recht auf die Bearbeitung eines bestimmten, beispielsweise risikoträchtigen oder unwirtschaftlichen Mandats72.

VII. Praktische Überlegungen 1. Gerichtliche Überprüfung einer Kammerverfügung Für die Praxis stellt sich damit die Frage, wie denn nun die notwendige Klärung der Zulässigkeit der Berufsausübung in einer Rechtsanwalts GmbH & Co KG herbeigeführt werden kann. Nach der hier vertretenen Ansicht bedarf die Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG keiner berufsrechtlichen Zulassung; sie ist außerdem als Personengesellschaft de lege lata gar nicht zulassungsfähig. Bei einem schlichten Antrag auf Zulassung besteht damit die Gefahr, dass dieser Antrag von der mit der Sache befassten Rechtsanwaltskammer mit der Begründung abgelehnt wird, die KG sei jedenfalls nicht zulassungsfähig, so dass die allgemeine Frage der Zulässigkeit der Berufsausübung in einer solchen Rechtsform gar nicht geprüft wird. Auch die Gerichte könnten sich anschließend auf diesen Standpunkt stellen, so dass die eigentlich interessante Frage keiner Klärung zugeführt wird. Erwägenswert erscheint es, mit der Rechtsanwaltskammer eine Abstimmung herbeizuführen, wie die Angelegenheit einer rechtlichen Überprüfung zugeführt werden kann. Dieses Vorgehen empfiehlt sich schon deshalb, weil es der Kammer nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes und des Bundesverfassungsgerichts ohnehin freisteht, ob sie mit Mitteln des Wettbewerbs-

__________ 69 Eingehend Henssler in Henssler/Streck, Handbuch des Sozietätsrechts, 2001, F Rz. 21 ff.; Hommelhoff/Schwab, WiB 1995, 115, 117; a. A. Kraus/Senft in Kraus/Kunz u. a., Sozietätsrecht, 2. Aufl. 2006, § 16 Rz. 39; Kilian, NZG 2001, 150, 152; ders., JR 2006, 206, 207; Muthers, NZG 2001, 932; Römermann in Hartung/ Römermann, BORA, 4. Aufl. 2008, vor § 59a BRAO Rz. 111; ders., Entwicklungen und Tendenzen bei Anwaltsgesellschaften, 1995, S. 185 ff.; Schumacher, AnwBl. 2000, 409, 411. 70 So auch Stabreit, NZG 1998, 453; Hommelhoff/Schwab, WiB 1995, 115; Henssler, ZIP 1997, 1481; Heublein, AnwBl. 1999, 306; Schumacher, AnwBl. 1998, 366, der allerdings nicht die aktive Mitarbeit verlangt. 71 BGHZ 161, 376, 387; so auch Schumacher, AnwBl. 1998, 366; kritisch Römermann, BB 2005, 1135, 1136; Pluskat, AnwBl. 2005, 609, 611. 72 Vgl. auch Kraus/Senft in Kraus/Kunz (Fn. 69), § 16 Rz. 40, Henssler in Henssler/ Streck (Fn. 69), F Rz. 25, Muthers, NZG 2001, 930, 932; Pluskat, AnwBl. 2003, 130, 136.

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rechts oder des Berufsrechts bei Gesetzesverstößen vorgeht73. So hatte die Rechtsanwaltskammer etwa in dem Fall BGH, NJW 2002, 2039 den beklagten Rechtsanwalt auf Unterlassung in Anspruch genommen, und beantragt, ihm unter Androhung von Ordnungsmitteln zu verbieten, „seinen Beruf als in München zugelassener Rechtsanwalt im Rahmen einer beim Registergericht in Köln eingetragenen und mit „xxx“ firmierenden Rechtsanwaltsgesellschaft zu betreiben, wenn und solange nicht am Kanzleisitz in München sowie an jedem anderen auf den vom Beklagten verwendeten Briefkopf angegebenen Kanzleisitz mindestens ein Anwalt seine berufliche Tätigkeit ausübt, der alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer der „xxx“ ist …“. Entsprechend könnte damit die für den jeweiligen Antragsteller zuständige Rechtsanwaltskammer auch jeden einzelnen der in einer „Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG“ tätigen Rechtsanwälte auf Unterlassung der Berufsausübung in einer entsprechenden Gesellschaft in Anspruch nehmen. Berufsrechtlich stehen der Kammer die Mittel der Belehrung und Rüge zur Verfügung. Gegen den keinen Schuldvorwurf enthaltenden belehrenden Hinweis einer Rechtsanwaltskammer ist gemäß §§ 112a, 112c Abs. 1 Satz 1 BRAO i. V. m. § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO Anfechtungsklage vor dem Anwaltsgerichtshof zulässig74. Gegen das daraufhin ergehende Urteil des Anwaltsgerichtshof ist unter den Voraussetzungen des § 112e BRAO i. V. m. §§ 124 ff. VwGO die Berufung zum Bundesgerichtshof gegeben. Gegen eine missbilligende Rüge der Kammer gemäß §§ 73 Abs. 2 Nr. 4, 74 BRAO ist hingegen nach § 74 Abs. 5 BRAO lediglich der Einspruch statthaft. Über den Einspruch entscheidet der Kammervorstand. Wird der Einspruch gegen den Rügebescheid zurückgewiesen, kann der betroffene Rechtsanwalt gemäß § 74a Abs. 1 BRAO die Entscheidung des AnwG beantragen. Der daraufhin ergehende Beschluss des AnwG ist nach § 74a Abs. 3 Satz 4 BRAO unanfechtbar75. Mithin kann bei einer Rüge niemals die Entscheidung des Bundesgerichtshofs herbeigeführt werden. Eine Anwaltskanzlei, welche die Rechtsform der GmbH & Co KG erwägt, könnte etwa einen belehrenden Hinweis der Kammer initiieren, um die notwendige gerichtliche Überprüfung herbeizuführen. So könnte etwa der Kammer mitgeteilt werden, dass man beabsichtige, künftig in einer GmbH & Co. KG den Anwaltsberuf auszuüben. Daraufhin könnte die Kammer einen belehrenden Hinweis erteilen, dass die Berufsausübung in dieser Rechtsform unzulässig sei, gegen den sodann Klage erhoben werden könnte.

__________ 73 BGH, NJW 2002, 2039; BVerfG, NJW 2004, 3765. 74 Kleine-Cosack, BRAO, 6. Aufl. 2009, Anhang § 112c, § 42 VwGO Rz. 4, Anhang: Leistungsklage Rz. 3; vgl. auch (zu § 223 BRAO a. F.) BVerfGE 50, 16, 24 ff.; BGH, NJW 1984, 1042; BGH, BRAK-Mitt. 1985, 170; BGH, NJW 2002, 608; BGH, NJW 2005, 2692; BGH, NJW 2007, 3349. 75 Ausnahmsweise kommt eine Verfassungsbeschwerde in Betracht, vgl. BVerfGE 76, 171, 205.

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Konsequenzen verfassungswidriger Berufsrechtsnormen

2. Gerichtliche Überprüfung einer ablehnenden Entscheidung des Registergerichts Ein denkbarer Weg wäre es auch, eine Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG beim zuständigen Registergericht zur Eintragung anzumelden. Die Erfahrung zeigt, dass die Registergerichte bei der Prüfung berufsrechtlicher Vorschriften tendenziell großzügig sind. Ein Registergericht könnte somit eine entsprechende Eintragung schlicht vornehmen. Im Falle der Ablehnung durch das Amtsgericht müsste über eine Beschwerde zum LG und eine eventuelle weitere Beschwerde zum OLG die rechtliche Klärung der Zulässigkeit erreicht werden76. Dieses Verfahren hat den Vorteil der Kostengünstigkeit und wohl auch Schnelligkeit für sich. Allerdings besteht im Falle einer schlichten Eintragung die Gefahr, dass Rechtsanwaltskammern wegen eines von ihnen angenommenen Berufsrechtsverstoßes gleichwohl gegen die Gesellschaft und die in ihr tätigen Anwälte vorgehen. Rechtssicherheit lässt sich auf diese Weise nicht erreichen. In der Praxis kann diese Vorgehensweise zu der misslichen Situation führen, dass die Gerichte das Auftreten einer Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG mangels Postulationsfähigkeit zurückweisen. Verwiesen sei außerdem auf den Fall Bundesfinanzhof DStRE 2005, 486, in dem der Bundesfinanzhof die Befugnis einer eingetragenen, aber nicht zugelassenen Rechtsanwalts-AG zur geschäftsmäßigen Hilfeleistung in Steuersachen mangels Zulassung abgelehnt hat. Es ist zu erwarten, dass auch bei der GmbH & Co. KG – ungeachtet der hier vertretenen Rechtsauffassung – der Streit über das Zulassungserfordernis vor den Gerichten ausgetragen werden muss.

VIII. Zusammenfassung der Ergebnisse Die zentralen Erkenntnisse der vorstehenden Überlegungen lassen sich in insgesamt sechs Thesen zusammenfassen: 1. Nach der aktuellen gesetzlichen Regelung scheitert die Gründung einer Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG an handelsrechtlichen und an berufsrechtlichen Vorschriften. Die KG steht als Handelsgesellschaft für die freiberufliche Berufsausübung nicht zur Verfügung. Aus berufsrechtlicher Sicht sind die durch §§ 59c Abs. 2, 59a Abs. 1 BRAO gezogenen Grenzen zu beachten. 2. Die handelsrechtlichen und berufsrechtlichen Vorschriften, die der Gründung einer Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG de lege lata entgegenstehen, halten allerdings einer verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Aufgrund der abweichenden Regelung für Steuerberater und Wirtschaftsprüfer verletzen diese Normen den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz des Art. 3 GG. 3. Nach den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätzen spricht vieles dafür, dass im Falle einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung nur die Unvereinbarkeit der Vorschriften festgestellt wird, die einer Rechts-

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76 Vgl. etwa die Verfahren OLG Köln, NJW-RR 1998, 271 und BayObLG, NJW 1995, 199.

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anwalts-GmbH & Co. KG entgegenstehen. Angesichts des offensichtlichen Bedarfs nach einer in sich stimmigen gesetzlichen Neuregelung ist zu erwarten, dass das Bundesverfassungsgericht – sofern es sich der hier vertretenen These von der Verfassungswidrigkeit der Verbotsnormen anschließt – das geltende Recht für weiterhin anwendbar erklärt und dem Gesetzgeber eine Frist für die Herstellung eines verfassungskonformen Rechtszustands setzen wird. 4. Den Berufskammern steht kein eigenes Verwerfungs- bzw. Nichtanwendungsrecht hinsichtlich der als verfassungswidrig erkannten Normen zu. 5. Sofern man die berufsrechtliche Zulässigkeit der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG entgegen der hier vertretenen Auffassung bereits nach geltendem Recht bejaht, ist gleichwohl eine Zulassung dieser Rechtform als Rechtsanwaltsgesellschaft durch die Rechtsanwaltskammer weder erforderlich noch möglich. 6. Um die für die Praxis wünschenswerte Klärung der Rechtslage herbeizuführen, ist von einer (um)gründungswilligen Kanzlei ein belehrender Hinweis der Rechtsanwaltskammer anzustreben. Gegen den belehrenden Hinweis der Rechtsanwaltskammer, mit dem die Berufsausübung in dieser Rechtsform nach geltendem Recht für unzulässig erklärt wird, könnte Klage erhoben werden.

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Die Abschlussgebühr in der AGB-rechtlichen Kontrolle Inhaltsübersicht I. Allgemeine Vorüberlegungen 1. Anlass 2. Privatautonomie und „Consideration“ 3. Der Begriff der Abschlussgebühr II. Zur Abgrenzung des Bausparens vom Kreditgeschäft 1. Geschichtliche Wurzeln 2. Das Kollektiv 3. Zinsbindung und Kollektiv 4. Der Solidargedanke in der Rechtsordnung 5. Parallelen in anderen Bereichen 6. Abschlussgebühr in der Rechtsprechung 7. Ergebnis

III. Keine Kontrollfähigkeit der Gebührenregelung 1. Keine Preisnebenabrede 2. Teilentgelt im Rahmen einer bei Abschluss fälligen Gesamtvergütung 3. Keine Eigeninteressen 4. Rechtspflicht zur Angabe der Abschlussgebühr 5. Keine Risikoverlagerung 6. Parallele: Versicherung 7. Genehmigung durch die BaFin IV. Wirksamkeit der Klausel bei Inhaltskontrolle 1. Keine Vertragszweckgefährdung 2. Parallele: Versicherung V. Transparenz VI. Zusammenfassung

I. Allgemeine Vorüberlegungen 1. Anlass Graf von Westphalen hat sich in seinem enormen wissenschaftlichen und forensischen Schaffen zentral mit Fragen des AGB-Rechts und seiner Anwendung in verschiedenen Wirtschaftszweigen beschäftigt und hier die Landschaft nachhaltig verändert. Wie sollte man einen solch potenten und genialen Pionier anders würdigen als mit einem Beitrag zu einer aktuellen AGB-rechtlichen Streitfrage: der Erhebung der Abschlussgebühr bei Abschluss eines Bausparvertrages. Derzeit laufen mehrere Abmahnverfahren der Verbraucherzentrale NRW gegen Bausparkassen zu dieser Frage; es liegen auch erste Gerichtsurteile vor1. Anlass der Streitigkeiten war eigentümlicherweise ein Vortrag, den der damalige Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof Gerd Nobbe am 26.11.2007 bei der WM-Tagung Bankrecht gehalten und anschließend in der Zeitschrift WM veröffentlicht hat2. In diesem Vortrag beschäftigt sich

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1 So etwa LG Heilbronn, WM 2009, 603, bestätigt durch OLG Stuttgart, Urteil v. 3.12.2009 – 2 U 30/09, sowie LG Hamburg, WM 2009, 1315 und LG Dortmund, Urteil v. 15.5.2009 – 8 O 319/08, BeckRS 2009 18346, die die Klagen der Verbraucherschutzzentrale Nordrhein-Westfalen in dieser Frage als unbegründet abwiesen. 2 WM 2008, 185 ff.

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Nobbe mit der Zulässigkeit von Bankentgelten und kommt im Rahmen dieses Vortrags bei der Darstellung verschiedener Entgeltklauseln in wenigen Zeilen auch auf Bausparverträge zu sprechen3. Wegen der späteren Bedeutung dieser kurzen Passage sei diese ausnahmsweise vollständig zitiert: „Was in der Praxis existiert sind so genannte „Abschlussgebühren“ von meistens 1 % der Summe bei Bausparverträgen. Ein solches Abschlussentgelt ist AGB-rechtlich unzulässig. Der Vertragsabschluss als solcher und die Eröffnung des Bausparkontos sind keine Dienstleistungen für den Kunden. Das wird deutlich, wenn die so genannte „Abschlussgebühr“ – wie üblich – ganz oder zum Teil als Provision an die Bausparkassenvertreter fließt. Es handelt sich also um Vertriebskosten.“

2. Privatautonomie und „Consideration“ Bekanntermaßen geht das deutsche Recht vom Grundsatz der Privatautonomie aus, der auch verfassungsrechtlich in Art. 2 Abs. 1 im Grundgesetz seine Verankerung gefunden hat. Aus der Privatautonomie ist vertragsrechtlich das Prinzip der Gestaltungsfreiheit abgeleitet, das es ermöglicht, schuldrechtliche Verträge frei zu gestalten. Insofern hat das deutsche Recht überhaupt kein Problem damit, dass jemand eine Zahlungspflicht einführt, der keine Gegenleistung gegenübersteht. Gerade dies gilt als einer der entscheidenden Unterschiede des deutschen zum anglo-amerikanischen Recht. Wo das deutsche Rechtsverständnis die erklärte Willensübereinstimmung der Vertragsparteien zur hinreichenden Grundlage der Bindungswirkungen von Vereinbarungen macht, sieht das Common Law zusätzlich vor, dass auch eine jeweilige Leistung der Vertragsparteien im Vertrag vorgesehen sein muss, um die andere Partei zu binden. Diese so genannte Consideration ist immer noch elementarer Bestandteil des anglo-amerikanischen Vertragsrechts, was sich z. B. daran bemerkbar macht, dass nach dem Verständnis des Common Law ein Anspruch eines Dritten aus einem Vertrag zu seinen Gunsten undenkbar ist, weil der Dritte keine Consideration geleistet hat4. Nach § 307 Abs. 3 BGB sind nur solche allgemeinen Geschäftsbedingungen kontrollfähig, die von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelungen enthalten. Durch § 307 Abs. 3 BGB soll verhindert werden, dass künftig aufgrund der §§ 307 ff. BGB eine „Preiskontrolle“ stattfindet5. Preisvereinbarungen sind grundsätzlich nicht kontrollfähig; dahinter verbirgt sich der alte römisch-rechtliche Grundsatz „Iudex non calculat“. Auch wenn die Rechtsprechung über die Qualifizierung von Preisabreden als Preisnebenabreden und unter Einbeziehung des Transparenzgebotes teilweise doch eine Kontrolle von Preisbestimmungen vornimmt, handelt es sich um einen Ausnahmefall auch im AGB-rechtlichen Sinne. Vom Grundsatz her ist eine AGBKontrolle von Preisbestimmungen weder vom Gesetzgeber gewollt noch wünschenswert. Denn ansonsten würde Rechtsprechung in den Bereich des Wett-

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3 WM 2008, 185, 193. 4 S. dazu Hay, Einführung in das Amerikanische Recht, 4. Aufl. 1995, S. 77 f.; Reimann, Einführung in das US-amerikanische Privatrecht, 2. Aufl. 2004, S. 28 ff. 5 So ausdrücklich BT-Drucks. 7/3919, S. 22.

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bewerbs und des Marktes eingreifen; grundsätzlich fehlen in der Rechtsprechung auch Maßstäbe zur Bestimmung eines „gerechten Preises“6. Kontrollfrei sollen solche vertraglichen Regelungen bleiben, die an der marktorientierten, privatautonomen Entscheidung des Vertragspartners teilnehmen7. Insofern sind Hauptabreden, über die sich die Vertragsparteien stets Gedanken machen müssen und deren Inhalt über den Markt festgelegt wird, regelmäßig der Inhaltskontrolle entzogen. Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach AGB, die den Leistungsinhalt festlegen oder das für die Leistung zu zahlende Entgelt bestimmen, grundsätzlich gemäß § 307 Abs. 3 BGB von der Anwendung der §§ 307–309 BGB ausgenommen werden müssen und sollen8. Insofern geht auch die Rechtsprechung von der Produktund Preisgestaltungsfreiheit von Unternehmen, zur Wahrung der marktwirtschaftlichen Prinzipien und im Hinblick auf den fehlenden rechtlichen Kontrollmaßstab, aus9. Die Rechtsordnung geht insofern im Regelfall von der Kontrollfreiheit der Preisgestaltung aus und greift schon aus verfassungsrechtlichen Gründen10 nicht in die synallagmatische Vertragsbeziehung im Hinblick auf Leistungen und Preise ein. Die von der neueren Rechtsprechung entwickelten Ansätze einer AGB-rechtlich motivierten Preiskontrolle sind demgegenüber eine Ausnahmeerscheinung, die entsprechend restriktiv und mit besonderer Vorsicht zu handhaben ist. 3. Der Begriff der Abschlussgebühr Der Begriff der Abschlussgebühr ist mindestens seit dem Zweiten Weltkrieg gängig und von der Rechtsprechung auch als solche akzeptiert. Abschlussgebühren waren schon in der Gründerzeit der deutschen Bausparkassen üblich11. So findet er sich schon im frühen Urteil des Bundesfinanzhofs wieder12. Auch in der bausparkassenrechtlichen Literatur findet sich der Begriff früh13. Die ältere Literatur sah Abschlussgebühren als Gegenleistung für den Spar- und Darlehensvertrag an14. So sah man steuerlich die Abschlussgebühr als Kreditaufwand des Bausparers, der die Effektivverzinsung des Kredites

__________ 6 BAG, BAGE 115, 372 ff. = NZA 2006, 324 ff.; dazu auch Preis, in: Festschrift für Richardi, 2007, S. 339, 345; Tschöpe, DB 2002, 1830 ff. 7 Coester-Waltjen in Staudinger, 2006, § 307 BGB Rz. 324; Stoffels, JZ 2001, 843, 848. 8 BGHZ 116, 117; BGHZ 124, 254, 256 = NJW 1992, 688 ff.; Niebling, WM 1992, 854 ff. 9 Bunte in Schimansky/Bunte/Lwowsky, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2007, § 5 Rz. 52. 10 Offen gelassen sei die Frage, ob eine richterliche Unwirksamerklärung von Abschlussgebührenklauseln nicht wegen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip verfassungsrechtlich problematisch wäre. 11 Lehmann, Die Bausparkassen, 2. Aufl. 1963, S. 17. 12 BFH, WM 1957, 887 ff.; BFH, NJW 1959, 1799 ff.; BFH, BB 1959, 1237 ff. 13 S. etwa Lehmann/Schäfer, Bausparkassengesetz und Bausparkassenverordnung, Bonn 1973, S. 46. 14 List, BB 1988, 1003 ff.

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erhöhe und insofern die Bedeutung eines Aufgeldes für das spätere Bauspardarlehen habe15.

II. Zur Abgrenzung des Bausparens vom Kreditgeschäft Die Verbraucherzentrale wendet sich mit ihren Klagen gegen die Erhebung einer Abschlussgebühr in Höhe von 1 % der Bausparsumme. Unter der Abschlussgebühr versteht die Verbraucherzentrale eine Gebühr, die den Aufwand abdecke, der der Bausparkasse im Zusammenhang mit dem Vertragsschluss entstehe. Der Vertragsabschluss und die Eröffnung eines entsprechenden Bausparkontos erfolge im ureigenen Interesse der Bausparkasse, nicht jedoch im Auftrag oder im Interesse des Kunden. Zur rechtlichen Rechtfertigung wird weiter auf das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 13.2.2001 – XI ZR 197/00 sowie auf den eingangs bereits erwähnten Aufsatz von Nobbe, WM 2008, 185 ff. verwiesen. Die Abschlussgebühr sei vornehmlich dafür bestimmt, die Provisionsaufwendungen, die die Bausparkasse gegenüber dem vermittelnden Handelsvertreter im Außendienst aufzuwenden habe, zu kompensieren. Insofern handele es sich um Vertriebskosten, welche die Bausparkasse in ihrem eigenen Interesse aufwende, um neue Kunden zu gewinnen. Der Argumentation der Verbraucherzentrale liegt ebenso wie der von Nobbe ein Missverständnis zugrunde, was die Gleichstellung von Bausparkassen mit dem allgemeinen System der Kreditvergabe angeht. 1. Geschichtliche Wurzeln Dazu muss man zunächst einmal den Blick auf die geschichtlichen Wurzeln des Bausparens legen. Das Bausparwesen beruht schon von seiner Wurzel her auf gemeinnützigen Spargesellschaften auf Gegenseitigkeit. Dies zeigt schon die erste Gründung einer solchen Bausparkasse in Deutschland im Jahre 1885 durch den Pastor von Bodelschwingh in Bielefeld als „Bausparkasse für jedermann“. Nur dieser genossenschaftlichen Konstruktion von Bausparkassen war es möglich, große Geldreserven wohnungswirtschaftlich zu binden und den nach dem Zweiten Weltkrieg notwendigen Wiederaufbau zu forcieren. Insofern wird auch als besonderes Element des Bausparens das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe angesehen, der den Staat auch veranlasst, Bausparen staatlicherseits zu fördern16. 2. Das Kollektiv Wichtig zu verstehen ist auch die Zweiteilung des Bausparkonzepts, in eine Spar- und eine Darlehensphase. In der hier relevanten ersten Phase, der Spar-

__________ 15 BFH, NJW 1983, 1752 ff. = BStBl. II 1983, 355 ff. = BB 1983, 1137 ff. 16 Bausparkassen-Fachbuch 2007/2008, S. 26.

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phase, stellen die Bausparer der Bausparkasse gegen geringe Verzinsung ihr angespartes Geld als Einlage zu Verfügung. Diese Einlagen sind zweckgebundenes Vermögen der Bausparkasse und werden deshalb auch als BausparKollektiv bezeichnet. Dieses Geld kommt wieder anderen Sparern zugute, denen zu günstigen Zinskonditionen Gelddarlehen zu wohnungswirtschaftlichen Zwecken gewährt werden kann17. Die Beziehungen zwischen den Sparern untereinander und der Bausparkasse sind viel dichter und komplexer als die bei einem einfachen bilateralen Kreditvertrag. Begriffe wie Spareinlage und Sparkollektiv machen deutlich, dass hier gesellschaftsrechtsähnliche Bindungen bestehen, die auch dem Grundgedanken der Hilfe zur Selbsthilfe und den genossenschaftlichen Wurzeln des Bausparwesens entsprechen. 3. Zinsbindung und Kollektiv Den Besonderheiten des Bausparkassenwesens entsprechen auch die Bindungen, was die Konditionen angeht. Typischerweise sind während der gesamten Vertragslaufzeit die Konditionen fest und verbindlich vereinbart. Die Darlehenszinsen sind unabhängig von den Zinsschwankungen des Kapitalmarktes. Der Geldzufluss sollte in einem ausgewogenen Verhältnis zum Geldabfluss stehen, damit die in der Zuteilungsmasse der Bausparergemeinschaft verwalteten Mittel gleichmäßig und möglichst kurzfristig an die zuteilungsberechtigten Bausparer zur Verfügung gestellt werden können (§ 6 BSpkG). Oberstes Ziel der Kapitalversorgung einer Bausparkasse ist es, eine gemeinsame Kasse aufrechtzuerhalten, aus der die Bausparer in einer bestimmten Reihenfolge die von vornherein festgelegte, aus dem eingezahlten Bausparguthaben und dem Bauspardarlehen bestehende Bausparsumme erhalten. 4. Der Solidargedanke in der Rechtsordnung Dementsprechend sind die Bausparkassen auch nicht nur den normalen Regelungen des Kreditwesengesetzes unterworfen, sondern unterliegen einer Fülle zusätzlicher gesetzlicher Vorgaben, die der besonderen genossenschaftsähnlichen Bindung aller Beteiligten entspricht. Zu erwähnen sei hier nur das Bausparkassengesetz sowie die Bausparkassen-Verordnung. Die Besonderheiten hat das damalige Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen mit Schreiben vom 16.1.1976 noch einmal herausgehoben: „So werden z. B. in der Sparzeit im Wesentlichen nur von einer Seite – vom Sparer – Zahlungen erfolgen. Dies schließt jedoch nicht aus, dass auf die Bausparkasse, die ihr zustehenden Gebühren, wie etwa die Abschlussgebühr, (…) dem Bausparkonto belastet. Bei Zuteilung des Bausparvertrages wird dieses Verhältnis umgekehrt, und der Bausparer wird zum Schuldner des Instituts“18.

Insofern handelt es sich bei den Bausparkassen um einen Zweig der Kreditwirtschaft, der im Hinblick auf das Bausparkollektiv in besonders hohem

__________ 17 Bausparkassen-Fachbuch 2007/2008, S. 30. 18 Zitiert nach Bausparkassen-Fachbuch 2007/2008, S. 43.

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Maße spezialisiert ist und dem eine – den sonstigen Bankgeschäften unbekannte – Wartezeit – und Refinanzierungsproblematik eigentümlich ist19. Dementsprechend dürfen Bausparkassen – anders die allgemeine Kreditwirtschaft – wohnungsbaufinanzierungsfremde Bankgeschäfte typischerweise nicht tätigen (s. § 4 BauSparkG). Insofern ist – wie die Gesetzesbegründung zum Bausparkassengesetz betont – das charakteristische Merkmal des Bausparens das Kollektiv, „das heißt die Geschlossenheit des teilnehmenden Personenkreises, wobei dieselben Personen zunächst (bis zur Auszahlung des Bausparguthabens) Gläubiger und später (nach Zuteilung des Bauspardarlehens) Schuldner der Bausparkasse sind. Mit diesem System wird im Wege der Selbsthilfe ein in sich geschlossener Markt geschaffen, bei dem durch Verzicht auf marktgerechten Einlagenzins ein niedriger Darlehenszins ermöglicht wird“20.

Diesen Besonderheiten hat der Gesetzgeber auch durch zahlreiche Sonderregelungen Rechnung getragen. So wollte der Gesetzgeber mit den Regelungen des Bausparkassengesetzes Vorsorge für eine gesunde Weiterentwicklung der Bausparkassen und des Bausparkassengeschäfts treffen. Dabei war er sich der dem Bauspargeschäft als Zwecksparsystem innewohnenden strukturellen Risiken bewusst21. Insofern sind die bausparkassenrechtlichen Vorschriften gerade auch auf dem Hintergrund des Verbotes von Zwecksparunternehmen in § 3 Nr. 2 KWG zu lesen. Hier übernimmt der KWG-Gesetzgeber das entsprechende Verbot des Gesetzes über die Auflösung der Zwecksparunternehmen vom 13.12.1934, das mit Zweifeln an der Solidität von kollektiven Sparsystemen begründet wurde. Zwecksparsysteme funktionieren nämlich in der Tat nur dann, wenn dem Kollektiv immer neue Mittel zugeführt werden22. Von diesem generellen Zwecksparverbot wurden die Bausparkassen in § 3 Nr. 2 KWG ausdrücklich ausgenommen, da der Gesetzgeber „wegen gewisser Besonderheiten ihres Geschäftes und unter Berücksichtigung der Erfahrungen, die in über vier Jahrzehnten auf diesem Gebiet gesammelt worden sind“, mit einem anhaltenden Zugang neuer Bausparer gerechnet hatte23. Insofern ging aber auch der Gesetzgeber davon aus, dass das Bausparkollektiv ständigen Liquiditätsfluss durch Neuzugänge von Bausparverträgen benötige24. Wegen dieser Verpflichtung zur permanenten Anbahnung neuer Kundenbeziehungen hatte dement-

__________ 19 So Bausparkassen-Fachbuch 2007/2008, S. 54. 20 Begründung zum Entwurf eines Gesetzes über Bausparkassen (1972 – allgemeiner Teil, II.1.) – BT-Drucks. VI/1900 – Lehmann/Schäfer/Cirpka, Bausparkassengesetz und Bausparkassenverordnung, 4. Aufl. 1992, S. 300 f. 21 Begründung zum Entwurf eines Gesetzes über Bausparkassen (1972 – allgemeiner Teil, III) – BT-Drucks. VI/1900 – Lehmann/Schäfer/Cirpka, Bausparkassengesetz und Bausparkassenverordnung, 4. Aufl. 1992, S. 302. 22 Reischauer/Kleinhans, Kreditwesengesetz (KWG), Kza 115, § 3 KWG Anm. 8. 23 Begründung zum Entwurf eines Gesetzes über Bausparkassen (1972 – allgemeiner Teil, III) – BT-Drucks. VI/1900 – Lehmann/Schäfer/Cirpka, Bausparkassengesetz und Bausparkassenverordnung, 4. Aufl. 1992, S. 302 f. 24 Gesetzesbegründung zu § 6 des Änderungsgesetzes zum Bausparkassengesetz 1990, vgl. Schäfer/Cirpka/Zehnder, Bausparkassengesetz und Bausparkassenverordnung, 5. Aufl. 1999, S. 306.

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sprechend die Bausparkassenaufsicht – anders als bei sonstigen Kreditinstituten – früher gefordert, dass jede Bausparkasse über einen eigenen Vertrieb verfügt, auf dessen Steuerung sie zumindest aufgrund einer mehrheitlichen gesellschaftsrechtlichen Beteiligung maßgebend zentralen Einfluss ausüben kann. Auch die BaFin hat darauf hingewiesen, dass Bausparkassen durch entsprechende Kooperationsvereinbarungen sicherzustellen haben, dass sie den Vertrieb entsprechend der besonderen Bedeutung des Vertriebs für die Existenzfähigkeit wirksam steuern und kontrollieren können25. Der Gedanke der Bausparergemeinschaft findet sich auch im Gesetz selbst wieder, wenn man etwa § 8 Abs. 1 BauSparkG betrachtet. Hiernach kann die Erlaubnis, Geschäfte einer Bausparkasse zu betreiben, versagt werden, wenn die allgemeinen Bedingungen für Bausparverträge 1. die Erfüllbarkeit der Bausparverträge nicht dauerhaft gewährleistet erscheinen lassen, insbesondere weil die einzelnen Bausparverträge, bezogen auf ihre gesamte Laufzeit, kein angemessenes Verhältnis zwischen den Leistungen der Bausparer und denen der Bausparkasse (individuelles Sparer-KassenLeistungsverhältnis) aufweisen oder 2. Spar- und Tilgungsleistungen oder andere Verpflichtungen vorsehen, welche die Zuteilung der Bausparverträge unangemessen hinausschieben, zu unangemessen langen Vertragslaufzeiten führen oder sonstige Belange der Bausparer nicht ausreichend wahren. Diese Regelungen machen nur Sinn, wenn es um den Schutz der Bausparergemeinschaft geht. Im Übrigen spricht das Gesetz ausdrücklich von den Anforderungen an die Erfüllbarkeit aller Bausparverträge. Auch der zweite Versagungsgrund will den Bausparer nur als Mitglied der Bausparergemeinschaft schützen, wie der Verweis auf die „sonstige Belange der Bausparer“ deutlich macht26. Insofern wird hier – ähnlich wie im Versicherungswesen – der Grundgedanke der Risikogemeinschaft in den Vordergrund gerückt27. Der überindividuelle Systemzweck wird im Übrigen auch in der Literatur und sonstigen Rechtsprechungen betont. So verweist etwa Pfeiffer darauf, dass gerade im Hinblick auf die öffentlich-rechtliche Regulierung des Bausparens Vorsicht bei der zu starken individuellen Betrachtung der einzelnen Vertragsbeziehungen im Bausparwesen geboten sei und deshalb auch eine Berücksichtigung des kollektiven Systemszwecks möglich und geboten sei28. Ähnlich hat z. B. das Kammergericht wegen der „kollektiven Verknüpfung“ darauf verwiesen, dass im Bausparbereich die Vertragsäquivalenz des Einzelvertrages der „Leistungsäquivalenz des Gesamtkollektivs“ unterzuordnen sei29. Auch der BGH hat im

__________ 25 S. Schreiben der BaFin v. 10.5.2005, BA 33 – 20.2030, in Bausparkassen-Fachbuch 2007/2008, S. 385. 26 Schäfer/Cirpka/Zehnder, § 8 BauSparkG Anm. 6 und der Hinweis auf BVerwG, NJW 1990, 1003. 27 S. dazu auch BGH, Urteil v. 12.10.2005 – IV ZR 245/03, BeckRS 2005 12969. 28 Pfeiffer, Allgemeine Bausparbedingungen, in Graf von Westphalen, AGB-Klauselwerke, 2001, Rz. 14. 29 Kammergericht, NJW-RR 1990, 544, 559.

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Bausparkassenurteil auf die Besonderheiten des Bausparwesens bei der materiellen Inhaltskontrolle hingewiesen30. Im Kern handelt es sich folglich bei den Bausparkassen um Risikogemeinschaften, die nicht nach dem Leitbild synallagmatischer Do-ut-des-Verträge konzipiert, sondern als Bausparergemeinschaft auf den gemeinschaftlichen Zweck der Sicherung des Systems „Bausparen“ im Interesse aller ausgerichtet sind31. Die Rechtsordnung hat solche Risikogemeinschaften in verschiedensten Konstellationen anerkannt und dem darin enthaltenen Solidargedanken Rechnung getragen. Das Ziel solcher Risikogemeinschaften mit Risikoverteilung auf einen begrenzten Vermögensbestand besteht in Anlehnung an die Regeln der großen Haverei (§§ 700 ff. HGB) und an das Recht der Gemeinschaft in einer anteilsgerechten Risikoverteilung unter den Teilhabern. Insofern schützt die Rechtsordnung als Sonderbeziehung zum Beispiel die gemeinschaftliche Verwahrung von Eigentum in Notsituationen32. 5. Parallelen in anderen Bereichen Sucht man nach einer Parallele für die Abschlussgebühr in anderen Lebenslagen, stößt man zunächst einmal auf die Parallele der Aufnahmegebühr für Golfclubs. Im Golfbereich ist es gängig, dass dort Aufnahmebeiträge bezahlt werden. Zur Legimitation wird auf die gesetzlichen Regelungen des Vereinsrechts verwiesen; typischerweise wird die Aufnahmegebühr in Satzungsbestimmungen eines Golfvereins festgelegt. Darin sieht die Rechtsprechung kein Problem und hat eine entsprechende Beitragsordnung des Vereins für rechtlich unbedenklich erachtet33. Kein Problem wurde auch darin gesehen, dass neben den Entgelten für den Erwerb der Mitgliedschaft in einem solchen Verein Aufwendungen in Form einer Art Kommanditeinlage erbracht werden müssen34. Der BGH hat aber im jüngsten Urteil sogar die Verpflichtung eines Vereinsmitglieds, dem Verein neben der Zahlung der Aufnahmegebühren und des Jahresbeitrages, ein zinsloses Darlehen zur Steigerung der Attraktivität des Vereins zu gewähren, als unproblematisch angesehen, sofern der Sonderbeitrag dem Grunde und der Obergrenze nach in der Satzung verankert ist35. Zu beachten ist insofern die Rechtsprechung zur Aufnahmegebühr außerhalb vereins- und gesellschaftsrechtlicher Konstellationen. So hat zum Beispiel das Oberlandesgericht Nürnberg für Partnerschaftsvermittlungs-AGB die Auffassung vertreten, dass es kein Problem sei, so genannte Aufnahmegebühren zu verlangen. Dies gelte auch für den Fall, dass diese Gebühr selbst dann nicht mehr zurückgezahlt werde, wenn der Aufgenommene nach kurzer Zeit wieder zurücktritt36. Das Oberlandesgericht sah Probleme nur dann, wenn die Auf-

__________ 30 31 32 33 34 35 36

BGH, NJW 1991, 2559 = WM 1991, 1452, 1454 – Bausparkassenurteil. S. dazu auch Langbein in Staudinger 2002, § 741 BGB Rz. 167 ff. K. Schmidt in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2004, § 741 BGB Rz. 72 f. S. z. B. OLG Brandenburg, OLG-NL 2005, 177 ff. = MDR 2005, 640 ff. BFH, NVWZ-RR 2004, 450 ff.; BFH, NJW 2008, 1471 ff. BGH, NZG 2008, 675 ff. = NJW-RR 2008, 1357 ff. OLG Nürnberg, NJW-RR 1997, 1556 ff.

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nahmegebühr in keinem angemessenen Verhältnis zu dem bereits vom Verwender verdienten Anteil der vereinbarten Gesamtvergütung stehe. Keine Probleme sah der BGH mit der Erhebung einer Eintrittsgebühr bei einem Franchise-System37. Im Versicherungsbereich geht die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs davon aus, dass die einmaligen Abschlusskosten zu einem wesentlichen Anteil mit den ersten Versicherungsprämien verrechnet werden können, selbst wenn dies zur Folge hat, dass der Rückkaufswert des Vertrages so lange gegen Null geht38. Ähnlich sah das Oberlandesgericht Nürnberg in der Erhebung von Abschlusskosten im Versicherungsbereich kein Problem39. Das Oberlandesgericht Stuttgart hat sich ausführlich mit Abschlusskosten beschäftigt und deren Erhebung für zulässig erachtet, sofern deren Höhe mit genauer Bezifferung oder etwa durch Prozentsätze hinlänglich klar gestellt werde40. Das Oberlandesgericht sah kein Problem darin, dass der Kunde „für nichts außer die Kosten des bloßen Vertragsabschlusses zahlen muss“41. 6. Abschlussgebühr in der Rechtsprechung Der BGH sieht die Besonderheiten des Bausparvertrages darin, dass „der Sparer mit seinen Zahlungen in der Sparphase nicht in erster Linie eine möglichst gewinnbringende Geldkapitalanlage erstrebt, sondern das Recht erwerben will, nach der Zuteilung von der Bausparkasse ein zinsgünstiges Baudarlehen zu erheben; daher nimmt er Nachteile bei der Verzinsung der Spareinlagen in Kauf“42. In diesem Sinne hat der Bundesfinanzhof sich mit der Rechtsnatur von Abschlussgebühren beschäftigt43. „Der jeweilige Bausparer als Vertragspartner wird die Gebühr aus seiner Sicht demgemäß nicht als Entgelt für künftige Leistungen der Bausparkasse auffassen, sondern als notwendiges „Eintrittsgeld“ für die Aufnahme in das Bausparkollektiv und die Einrichtung des jeweiligen Bausparkontos, also das Zustandekommen des jeweiligen Vertrages“.

Der Bundesfinanzhof verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass diese Sichtweise auch der ausdrücklichen Auffassung des damaligen Bundesaufsichtsamts für das Kreditwesen entspreche. Auch das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen habe die Abschlussgebühr als „Äquivalent für eine angeschlossene, selbständig bewertbare und abrechenbare Teilleistung (Abschluss des Bausparvertrages und Einrichtung des Kontos)“ angesehen44.

__________ 37 BGH, NJW-RR 2003, 1635 ff. Ähnlich OLG München, BB 2002, 2521 ff. 38 BGH, Urteil v. 14.4.2005 – III ZR 252/04, BeckRS 2005 05011; ähnlich BGHZ 47, 354, 363 = NJW 1967, 1800 ff. 39 S. dazu auch aus der älteren Rechtsprechung OLG Nürnberg, VersR 2000, 713 ff. 40 Dazu schon früher OLG Stuttgart, NVersZ 1999, 366 ff. 41 OLG Stuttgart, NVersZ 1999, 366, 369. 42 BGH, NJW 1991, 2559, 2560; ähnlich für das Versicherungsrecht und den dortigen Gedanken der Risikogemeinschaft BGH, NJW 2005, 3559, 3546. 43 BFH, BStBl. II 1998, 381 ff. = BB 1998, 1051 ff. 44 So BFH mit Verweis auf das Schreiben des BAK v. 3.3.1983 – III 38 – 20, 13 und v. 1.12.1993 – III 05.72.17.

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Ähnlich hat das Oberlandesgericht Köln die Abschlussgebühr gesehen45. „Vielmehr möchte der Bausparwillige das Angebot der jeweiligen Bausparkasse in Anspruch nehmen, ihm gegen Zahlung von Kosten und Gebühren ein Bausparkonto einzurichten und dieses zu verwalten, damit dann in der Folge durch sein – des Bausparwilligen – regelmäßiges Sparen, die Verzinsung des Sparguthabens durch die Bausparkasse und die Inanspruchnahme staatlicher Förderungsleistungen zum einem Vermögen gebildet, zum anderen die Möglichkeit wahrgenommen werden kann, demnächst ein zinsgünstiges Bauspardarlehen zu erhalten.“

Die Abschlussgebühr sei damit anzusehen als „mit Vertragsschluss zu zahlendes Eintrittsgeld oder Damnum für entstandene Anlaufkosten, nicht aber als eine Gegenleistung für die Hauptleistungspflicht der Bausparkasse“. Zu Recht zieht das Oberlandesgericht daraus die Konsequenz: „Aus Sicht des Verkehrs wäre die Verpflichtung zur Entrichtung einer Abschlussgebühr damit nicht Preisforderung, sondern Bestandteil einer Leistung, die er erbringen muss, um durch weitere Eigenleistungen, nämlich das regelmäßige Sparen, zum einen in den Genuss von Wohnungsbauprämie und Arbeiternehmersparzulage zu kommen, zum anderen die Leistung zu erhalten, derentwegen er den Vertrag auch abgeschlossen hat, nämlich die Verzinsung des von ihm eingezahlten und nicht verbrauchten Kapitals durch die mit ihm kontrahierende Bausparkasse.“

7. Ergebnis Damit zeigt sich aber insgesamt, dass die Überlegungen von Nobbe und der Verbraucherzentrale schon deshalb ins Leere laufen, weil sie die allgemeine Kreditwirtschaft mit den Besonderheiten der Bausparkassen „in einen Topf“ werfen. Der bilaterale Bankvertrag hat nichts mit der multi-synallagmatischen Beziehung des Bausparwesens zu tun. Dieses ist anders als in der allgemeinen Kreditwirtschaft eher genossenschaftsrechtlich geprägt. Insofern ist auch der Bausparvertrag nicht als Darlehensvertrag im Sinne von § 488 BGB anzusehen, sondern als Vertrag sui generis. Bei der AGB-rechtlichen Kontrolle von Bausparverträgen ist ebenfalls der quasi-genossenschaftsrechtlichen Besonderheit des Bausparens insofern Rechnung zu tragen, als auch der Blick auf die schutzwürdigen Interesse aller Bausparer in die Betrachtung einbezogen werden muss.

III. Keine Kontrollfähigkeit der Gebührenregelung Die Regelungen der Bausparkasse im Bezug auf Abschlussgebühren sind nicht kontrollfähig. Zwar unterliegen die allgemeinen Bedingungen für Bausparverträge grundsätzlich der AGB-rechtlichen Kontrolle. Ein großer Teil der AGB enthalten aber im Kern kontrollunfähige Leistungsbeschreibungen, wie z. B. die Hinweise zum gesetzlichen Mindestinhalt, etwa was die Kosten und Gebühren für Leistungen angeht46.

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45 OLG Köln, NJW-RR 2001, 687 ff. = GRUR 2000, 85 ff. 46 So ausdrücklich Horn in Wolf/Horn/Lindacher, AGB-Recht, 4. Aufl. 1999, § 23 Rz. 425.

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Zu beachten ist, dass § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB und die Rechtsprechung zu den nicht kontrollfähigen Preisabreden gerade auch bei der Inhaltskontrolle von Verbraucherverträgen zu berücksichtigen sind. Denn nach § 310 Abs. 3 Nr. 3 BGB sind im Rahmen der Inhaltskontrolle von Verbraucherverträgen nach § 307 BGB auch die den Vertragsschluss begleitenden Umstände zu berücksichtigen. Insofern ist hier auch für Verbraucherverträge das Transparenzgebot des § 307 Abs. 2 Satz 1 BGB einbezogen und damit auch die Abgrenzung von kontrollfähigen und kontrollunfähigen Klauseln in Bezug genommen worden. Wie einleitend bereits betont, sind Preisvereinbarungen grundsätzlich nicht kontrollfähig, da die Preisbestimmungen in der Regel auf bestimmten Marktund Wettbewerbsverhältnissen beruhen und sich im Übrigen einer richterlichen Kontrolle entziehen47. Die Kontrollfähigkeit setzt erst dort an, wo Hauptleistungsversprechen eingeschränkt oder modifiziert werden48. Zu den Preisvereinbarungen, die grundsätzlich nicht der Inhaltskontrolle unterliegen, gehören nicht nur die Preise für die Hauptleistung, sondern auch Teilpreise, wie z. B. die Gebühren im Rahmen eines Girovertrages49. Nicht kontrollfähig sind auch Preise für Sonderleistungen, etwa den Auslandseinsatz von Kreditkarten50 oder für die Ausstellung eines Ersatzsparbuchs51. Auch selbstständig ausgewiesene Preise von Nebenleistungen zählen zu den nicht kontrollfähigen Preisvereinbarungen52. Die Kontrollfähigkeit von Preis und Preisnebenabreden ist insofern eine Ausnahme, die nur in bestimmten Zusammenhängen zum Tragen kommt. Kontrollfähig sind z. B. Nebenabreden, wenn diese zwar mittelbar Auswirkungen auf Preis und Leistung haben, an deren Stelle aber bei Fehlen einer vertraglichen Vereinbarung dispositives Gesetzesrecht, allgemeine Rechtsgrundsätze oder aus der Natur des Vertrages ableitbare Rechte und Pflichten treten53. Entscheidend ist dabei, dass nicht das ob und der Umfang von Entgelten geregelt wird, sondern die Art und Weise der Erbringung von Nebenleistungen und etwaige Modifikationen neben einer bereits existenten Preishauptabrede54. 1. Keine Preisnebenabrede Fraglich ist es, ob in diesem Sinne überhaupt die Abschlussgebühr als Preisnebenabrede anzusehen ist. Denn letztendlich handelt es sich bei der Ab-

__________ 47 S. dazu auch BGHZ 77, 126, 131 = NJW 1990, 1953 ff.; BGH, NJW 1993, 2442, 2444; OLG Karlsruhe, NJW-RR 1989, 243 ff.; OLG München, NJW-RR 1993, 736 ff. 48 BGH, NJW 1987, 1931, 1935; BGH, NJW 1999, 2279 und 3558. 49 BGHZ 133, 10 = NJW 1996, 2032 ff.; OLG Frankfurt, NJW 1993, 1402 ff. 50 BGHZ 137, 27 = NJW 1998, 383 ff. 51 BGH LM H.1/1999, § 8 ABGB Nr. 31. 52 BGH, GRUR 2005, 62 ff. 53 BGHZ 106, 42 = NJW 1989, 222 ff.; BGHZ 124, 256 = NJW 1994, 318 ff.; BGH, MDR 2005, 738 ff. = NJW-RR 2005, 642 ff. 54 Wolf in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 5. Aufl. 2009, § 307 BGB Rz. 314.

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schlussgebühr nur um einen Kalkulationsposten im Rahmen einer bausparmathematisch fundierten Gesamtpreisabrede55. Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang, dass die Abschlussgebühr nicht für sich steht, sondern Teil eines komplexen bausparmathematischen Modells ist. Nimmt man ein Element aus diesem Modell, bricht das „Rechengebäude“ komplett zusammen. Dies zeigen erste Überschlagsrechnungen in der bausparrechtlichen Literatur, die auf den fatalen Effekt einer Abschaffung der Abschlussgebühr auf die Gestaltung der Guthabenzinsen hinweisen56. Dieses Modell ist auch vom Gesetzgeber anerkannt und zur Grundlage seiner bausparkassenrechtlichen Regulierungsansätze gemacht worden. So weist die Gesetzesbegründung zum BSpkG darauf hin, dass zur Beurteilung des SparerKassen-Leistungsverhältnisses (vgl. § 8 Abs. 1 Nr. 1 BSpkG) sämtliche bauspartechnisch relevanten Leistungen zu erfassen seien. Dazu zählte sie neben den eigentlichen tarifbestimmenden Merkmalen (wie Regelspar- und Tilgungsbeiträge sowie Bewertungszahlfaktoren, Zinssätze, Auf- und Abgelder) auch die im regelmäßigen Vertragsablauf anfallenden Gebühren, insbesondere die Gebühren, deren Bemessungsgrundlage die Bausparsumme ist (also die Abschlussgebühr)57. Die Rechtsprechung des BGH zur Zulässigkeit von Bankentgelten hat nur Entgelte im Blick, die erst im Laufe einer bestehenden Geschäftsbeziehung anfallen. Nur bei solchen Vergütungen kann auch die Frage geprüft werden, ob nicht diese Preisnebenabrede sich auf Aufwendungen bezieht, die dem Kreditinstitut zur Erfüllung vertraglicher Nebenpflichten oder gesetzlicher Vorgaben ohnehin entstünden. Anders ist die Situation im vorliegenden Fall, wo zumindest der Begriff der Abschlussgebühr nahe legt, von einem Entgelt für den Vertragsabschluss auszugehen. Aufgrund der Privatautonomie muss es jedermann frei möglich sein, für den Vertragsabschluss selbst eine Gebühr zu verlangen, da es ja keinen Rechtsanspruch auf Vertragsabschluss gibt. Insofern geht es eben nicht um die Abwälzung von Lasten, die der Klauselverwender trägt, auf den Kunden. Vielmehr ist die Abschlussgebühr ein kalkulatorischer Einzelposten, aufgrund dessen dem Bausparinteressenten das Recht zur Teilhabe an der Gemeinschaft der Bausparer eingeräumt wird. Für die Einräumung eines solchen Teilhaberrechts kann aber auch Geld verlangt werden58. In diesem Sinne hat der BGH z. B. für Emissionsgeschäfte den Gedanken herangezogen, dass durch eine Pauschalgebühr eine gleichmäßige Verteilung von Risiko- und Verlustchancen innerhalb der Emissionszeichnenden vorgenommen wird59. Letztendlich muss es demjenigen, der wirtschaftlich tätig ist, möglich sein, seine Preise aufzuspalten und z. B. darüber zu entscheiden, ob er

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55 So auch mit eingehender Begründung das LG Heilbronn, WM 2009, 603, 605 f. und auch OLG Stuttgart, Urteil v. 3.12.2009 – 2 U 30/09. 56 Laux, Immobilienfinanzierung 59 (2008), 851, 870. 57 Vgl. Amtliche Begründung zu § 5 Abs. 2 der Novelle des Bausparkassengesetzes (1990), zit. nach Schäfer/Cirpka/Zehnder, Bausparkassengesetz und Bausparkassenverordnung, 5. Aufl. 1999, S. 224. 58 So auch Bitter, ZIP 2008, 1095; Habersack, WM 2008, 1857. 59 BGH, WM 2003, 673 ff.

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eine Einmalzahlung oder mehrere Teilzahlungen will60. In der Literatur wird das Beispiel genannt, dass es dem Betreiber einer Bar oder Diskothek freigestellt sein müsse, ob er bei freiem Eintritt seine Kosten allein über die Getränkepreise hereinholt oder stattdessen ein Eintrittsgeld erhebt und anschließend die konsumierten Getränke vergünstigt anbietet61. Bei der Abschlussgebühr handelt es sich unter Zugrundelegung der Anforderungen der Rechtsprechung des BGH um eine kontrollfreie Preisabrede, da sie – zusammen mit den Regelungen zum Agio und zum Darlehenszins – Art und Umfang der vertraglichen Hauptleistungspflicht und den dafür zu zahlenden Preis unmittelbar regelt. Daher ist zu beachten, dass sich der Vertragsschluss selbst der Leitlinie von Nobbe in Bezug auf die Zulässigkeit von Entgeltklauseln entzieht. Nobbe will in dem einleitend erwähnten Vortrag62 Entgeltklauseln, hinter denen keine Dienstleistung für den Kunden steht, grundsätzlich nicht AGB-rechtlich akzeptieren. Wie Habersack aber ausdrücklich und gut formuliert hat63, ist der Vertragsschluss „weder Dienstleistung noch sonstige Leistung“. Und noch deutlicher drückt es das Landgericht Heilbronn in seinem Grundsatzurteil64 aus: „Ein Vertragsschluss stellt per se nie eine Dienstleistung oder eine sonstige Leistung dar, sondern beruht immer auf dem freien Willensentschluss der Vertragsparteien, den Vertrag zu schließen oder nicht.“ Deshalb müsse es den Parteien auch überlassen bleiben, „den Vertragsschluss von einem Aufnahmeentgelt oder einer Eintrittsgebühr als Bestandteil eines Gesamtpreises abhängig zu machen“. 2. Teilentgelt im Rahmen einer bei Abschluss fälligen Gesamtvergütung Im Übrigen könnte es sich bei der Abschlussgebühr um eine kontrollfreie Teilvergütung handeln65. Der Bausparer nimmt ein Bündel von Leistungen in Anspruch, die auf der anderen Seite dazu führen, dass das vertragliche Entgelt des Bausparers in Teilentgelte aufgespaltet wird. Eine solche Aufspaltung ist grundsätzlich zulässig und AGB-rechtlich unbedenklich66. In diesem Sinne hat z. B. auch der BGH die Erhebung eines Disagios beim Darlehen zur Abgeltung der einmaligen Nebenkosten ausdrücklich als zulässig anerkannt67. Beim Bausparen ist eine Aufspaltung in abgrenzbare Teilleistungen weder in der Spar- noch in der Darlehensphase möglich oder sinnvoll. Es muss in der Sparphase möglich sein, im Zusammenhang mit dem Abschluss des Bauspar-

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60 So auch der BGH in der Entscheidung Preisaufspaltungen, BGHZ 116, 117, 120 f. = NJW 1992, 688 ff.; s. dazu auch Horn, WM 1997, Beilage 1, 3 ff. 61 Bitter, ZIP 2008, 1095. 62 Nobbe, WM 2008, 185, 193. 63 Habersack, WM 2008, 1857, 1861. 64 WM 2009, 603, 605. 65 Das LG Heilbronn vermengt die Frage der Preisnebenabreden mit der der Gesamtvergütung, was zwar am Ergebnis nichts ändert, dogmatisch allerdings bedenklich ist; WM 2009, 603, 605 f. 66 BGHZ 116, 117 = NJW 1992, 688 ff.; BGH, NJW 1996, 2032 ff. = WM 1996, 1080 ff. – Postenpreisklauseln. 67 BGHZ 111, 287, 293 = NJW 1990, 2250 ff.

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vertrages entstandene Kosten auf den Kunden abzuwälzen (Grundsatz der „Kostenkongruenz“). Eine Reduzierung des Sparzinses führt nicht zu angemessenen Ergebnissen. Es würden Frühkündiger zu Lasten der Bauspargemeinschaft belohnt und damit auch der Gedanke der verursachungsgerechten Belastung der Bausparer verletzt. Wie schon die Amtliche Begründung zu BSpkG betont, bestimmt sich die Attraktivität des Bausparens auch im Hinblick auf „die Notwendigkeit der Verzinsung von Bauspareinlagen“68. 3. Keine Eigeninteressen In diesem Sinne scheidet auch eine Anwendung der Überlegungen aus der BGH-Rechtsprechung zu Bankentgelten aus, die darauf abstellen, ob Entgelte in erster Linie eigenen Zwecken und Interessen des Verwenders dienen. Die Abschlussgebühr dient in erster Linie den Interessen des einzelnen Bausparers am Fortbestand der Bauspargemeinschaft. Die Tätigkeit, für die hier ein Entgelt verlangt wird, ist jedenfalls keine, die aus dem Risikobereich der Bausparkasse stammt. Vielmehr wird Entgelt dafür verlangt, dass der Bausparer der Solidargemeinschaft der jeweils in einer Bausparkasse zusammen geschlossenen Bausparer beitreten darf und kann. Diese trägt mit dem Beitritt des Bausparers das Risiko, was seine Zahlungsfähigkeit und Zahlungsbereitschaft angeht. Gleichzeitig eröffnet ihm die Gemeinschaft den Zutritt zum Bausparkollektiv und zur späteren Zuteilung. Insofern ist die Abschlussgebühr eine Prämie zu Gunsten der Bauspargemeinschaft und gleichzeitig auch im Interesse des neu beitretenden Bausparers. Gleichzeitig macht sich hier auch die Nähe der Abschlussgebühr zum Vereins- und Gesellschaftsrecht deutlich, das nach § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB grundsätzlich von der Anwendung des AGBRechts ausgenommen ist. Das AGB-Recht setzt im Grundsatz gegenläufige Interessen voraus, wie sie für den Austauschvertrag typisch sind69. Gesellschaftsverträge und ähnliche Konstellationen zeichnen sich aber durch eine gemeinsame Zweckverfolgung aus, für die der Betroffene als weniger schutzwürdig angesehen wird und auf das die auf Austauschsituationen zugeschnittenen AGB-Bestimmungen so nicht passen70. In diesem Sinne hat der BGH die Ausnahmebestimmungen für Gesellschaftsverträge weit ausgelegt und auf Genossenschaftsfragen erstreckt, gerade auch was die Verpflichtung zur Zahlung für die Inanspruchnahme von Leistungen angeht71. Auch hat der BGH im Hinblick auf Zeichnungsgebühren bei Aktien-Neuemissionen die Berücksichtigung von Kollektivinteressen bei der Beurteilung nach § 307 Abs. 1 BGB ausdrücklich zugelassen72.

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68 Amtl. Begründung 1990, zit. nach Schäfer/Cirpka/Zehnder, Bausparkassengesetz und Bausparkassenverordnung, 5. Aufl. 1999, S. 355. 69 So schon die Gesetzesmaterialien in BT-Drucks. 7/3919, S. 41; ähnlich auch BGH, NJW 1995, 583, 585; Grunewald in Festschrift für Semler, 1993, S. 179; Schneider, ZGR 1978, 1, 12. 70 So ausdrücklich Schmidt in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 5. Aufl. 2009, § 310 Abs. 4 BGB Rz. 10. 71 BGHZ 103, 219, 224 = NJW 1988, 1729, 1730. 72 BGHZ 153, 344.

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4. Rechtspflicht zur Angabe der Abschlussgebühr Gleichzeitig ist zu bedenken, dass gerade die Bausparkassen im besonderen Maße zur Transparenz verpflichtet sind und daher alle entsprechenden Teilpreise und Preiselemente gegenüber Verbrauchern genau zu spezifizieren haben. Bauspardarlehen sind wie alle Kredite der Angabepflicht nach § 6 PAngV unterworfen. Dies stellt § 6 Abs. 8 klar, enthält aber gleichzeitig Sonderregelungen für bestimmte preisbestimmende Faktoren bei der Berechnung des effektiven Jahreszinses. Ein „anfänglicher effektiver Jahreszins“ kommt bei Bauspardarlehen regelmäßig nicht in Betracht, da hier feste Konditionen während der gesamten Laufzeit des Kredites gewährt werden. Insofern ist die Berechnung des effektiven Jahreszinses bezogen auf den Darlehensanteil der Bausparsumme, d. h. die Bausparsumme abzüglich der Ansparsumme. Diese Summe steht aber zum Zeitpunkt des Angebotes bzw. der Werbung noch nicht fest. Insofern sieht § 6 Abs. 8 Satz 1 PAngV vor, dass der effektive Jahreszins nach dem Kreditbetrag berechnet wird, der sich ergeben würde, wenn der Kreditnehmer zum Zeitpunkt der Auszahlung des Darlehens lediglich die nach den Bausparbedingungen vereinbarte Mindestsumme angespart hätte. Auf diesen Darlehensanteil wäre dann „im Zweifel“ (wenn nichts anderes vereinbart ist) die Abschlussgebühr anteilig zu verrechnen (so § 6 Abs. 8 Satz 2 PAngV). Zu diesen Bestimmungen wird in der Literatur problemlos die Zulässigkeit der Berechnung einer solchen Abschlussgebühr als rechtlich zulässig vorausgesetzt73. Auch in anderen Vorschriften wird die Abschlussgebühr als zulässig vorausgesetzt und impliziert. Zu erwähnen ist z. B. die Verordnung über die Prüfung der Jahresabschlüsse der Kreditinstitute und Finanzdienstleistungsinstitute sowie die darüber zu erstellenden Berichte (Prüfungsberichtsverordnung)74. § 46 Satz 1 Nr. 3 PrüfbV verweist darauf, dass der Prüfungsbericht bei Bausparkassen auch das Verhältnis der Bausparsummen der Bausparverträge, die im Berichtsjahr vor der vollen Bezahlung der Abschlussgebühr aufgelöst wurden, zum im Durchschnitt des Berichtsjahres gehaltenen Bausparsummenbestand (Stornoquote) enthalten muss. 5. Keine Risikoverlagerung Selbst wenn man hier im vorliegenden Fall von einer Preisnebenabrede ausgeht, unterliegt diese aber nicht einer Kontrolle nach AGB-rechtlichen Vorgaben, wenn es sich bei der Preisgestaltung nicht um eine Kostenverlagerung

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73 S. z. B. Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 169. EGL 2008, NRWPRG § 6 Rz. 19. Auch das LG Heilbronn weist in seinem Grundsatzurteil zur Abschlussgebühr ausdrücklich auf diese Regelung zur Begründung der Vereinbarkeit mit § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB hin, WM 2009, 603, 608; ebenso das OLG Stuttgart, Urteil v. 3.12. 2009 – 2 U 30/09. 74 Verordnung über die Prüfung der Jahresabschlüsse und Zwischenabschlüsse der Kreditinstitute und Finanzdienstleistungsinstitute und über die Prüfung nach § 12 Abs. 1 Satz 3 des Gesetzes über Kapitalanlagegesellschaften sowie die darüber zu erstellenden Berichte/Prüfungsberichtsverordnung v. 17.12.1998, BGBl. I 1998, 3690.

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zu Lasten der anderen Vertragspartei handelt. Hinsichtlich der Risiko- und Kostenverteilung ist dann auf das typische Leitbild des Vertrages, die ergänzende Vertragsauslegung nach §§ 157, 242 BGB, sonstige Rechtsvorschriften oder allgemeine Grundsätze abzustellen75. Insofern unterliegen die Preisnebenabreden nicht der AGB-Kontrolle, wenn sie dem Bausparsystem immanent sind. Hierbei ist zunächst einmal die oben genannte besondere Gemeinschaftsstruktur des Bausparens zu bedenken. Im Rahmen dessen sind dann auch die bausparkassenrechtlichen Vorgaben, insbesondere im Rahmen des Änderungsgesetzes zum Bausparkassengesetz von 1990, zu berücksichtigen. Schon lange vor Inkrafttreten des Bausparkassengesetzes wurden Abschlussgebühren erhoben. Diese Praxis sollte durch das Bausparkassengesetz nicht geändert werden. So sieht z. B. § 5 Abs. 3 Nr. 3 BauSparkG vor, dass die allgemeinen Bedingungen für Bausparverträge auch Bestimmungen über die Höhe der regelmäßig anfallenden Gebühren zu enthalten hätten. In der Begründung zur Novelle des Bausparkassengesetzes von 1990 wird darauf hingewiesen, dass die Bausparkassen, die mit der Akquisition neuer Kunden verbundenen Kosten bereits im Zusammenhang mit dem Vertragsabschluss durch entsprechende Gebühreneinnahmen zu decken hätten76. In diesem Zusammenhang werden auch ausdrücklich die im regelmäßigen Vertragsablauf anfallenden Gebühren, insbesondere die Gebühren, deren Bemessungsgrundlage die Bausparsumme sei (also die Abschlussgebühr), erwähnt77. In diesem Sinne hat dann auch das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen in der Vergangenheit die Abschlussgebühr bei Bausparverträgen grundsätzlich als einen wesentlichen und unverzichtbaren Bestandteil der Bausparbedingungen angesehen und mit Schreiben vom 29.10.198678 betont, es werde auch künftig keine Bauspartarife ohne Abschlussgebührenregelung genehmigen. Dementsprechend ist die Zahlung der Abschlussgebühr auch prämien- und zulagebegünstigt79. 6. Parallele: Versicherung Gerade für kapitalbildende Lebensversicherungen hat der Bundesgerichtshof in einem neueren Urteil betont, dass eine zeitnahe Deckung zukünftiger Abschlusskosten im Zusammenhang mit einem Vertragsschluss zur Sicherung der Zweckgemeinschaft notwendig und geboten sei80. Nur dadurch könne dem für das Versicherungsrecht typischen Grundgedanken der Risikogemeinschaft entsprochen werden.

__________ 75 Wolf in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 5. Aufl. 2009, § 307 BGB Rz. 315. 76 Begründung zu § 8 Abs. 1 Nr. 2 BauSparkG zit. nach Schäfer/Cirpka/Zehnder, Bausparkassengesetz und Bausparkassenverordnung, S. 356. 77 S. amtliche Begründung zur Novelle des Bausparkassengesetzes zit. nach Schäfer/ Cirpka/Zehnder, Bausparkassengesetz und Bausparkassenverordnung, S. 224. 78 III Z.21.5 – C/M/B/S, 9.37. 79 Bausparkassen-Fachbuch 2007/2008, S. 161. 80 BGH, Urteil v. 12.10.2005 – IV ZR 245/03, BeckRS 2005 12969.

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Die Abschlussgebühr in der AGB-rechtlichen Kontrolle

Insofern sah der BGH bei Lebensversicherungen in einem anderen Urteil auch keine Bedenken hinsichtlich einer Verrechnung einmaliger Abschlusskosten ab Beginn des Vertragsverhältnisses mit den Ansprüchen auf künftige Beiträge81. Die Novelle des Versicherungsvertragsgesetzes hat die Notwendigkeit einer solchen zeitnahen Deckung ausdrücklich anerkannt, von den Versicherungsunternehmen aber zusätzlich mehr Transparenz hinsichtlich der Gestaltung dieser Abschlusskosten verlangt82. Ähnlich geht das Altersvorsorgeverträge-Zertifizierungsgesetz (AltZertG) für die so genannte Riesterförderung davon aus, dass bei Altersvorsorgeverträgen eine zeitnahe Abwälzung von Abschluss- und Vertriebskosten auf Vertragspartner erfolgen müsse83. Auch § 2 Abs. 1 Nr. 1 VVG-InfoV spricht für Versicherungsunternehmen von der Möglichkeit, Abschlusskosten tariflich zu kalkulieren und auf den Kunden abzuwälzen. Verwiesen wird dort auf eine „Angabe zur Höhe der in die Prämie einkalkulierten Kosten; dabei sind die einkalkulierten Abschlusskosten als einheitlicher Gesamtbetrag in die übrigen einkalkulierten Kosten als Anteil der Jahresprämie unter Angabe der jeweiligen Laufzeit auszuweisen …“. § 41 des Investmentgesetzes (InvG) gibt vor, dass der mit der Abschlussgebühr vergleichbare Ausgabeaufschlag transparent ausgewiesen werden muss84. Schließlich setzt auch § 1 Abs. 1 Nr. 8 i. V. m. § 1 Abs. 1a AltZertG die Zulässigkeit von Abschlussgebühren bei Bausparverträgen voraus. 7. Genehmigung durch die BaFin Ferner könnte sich die Kontrollfreiheit der Abschlussgebührenregelung aus dem Gesichtspunkt ergeben, dass die entsprechenden Geschäftsbedingungen durch die Bausparkassenaufsicht nach § 9 Abs. 1 BauSparkG genehmigt worden sind. In der Gesetzesbegründung zu § 8 Abs. 1 Nr. 1 BauSparkG wird ausdrücklich darauf verwiesen: „Im Hinblick auf die Notwendigkeit eines kontinuierlichen Zugangs an Bausparverträgen ist es notwendig, dass die Bausparkassen die mit der Akquisition neuer Kunden verbundenen Kosten bereits im Zusammenhang mit dem Vertragsabschluss durch entsprechende Gebühreneinnahmen decken können.“

Dann heißt es dort: „Die sonstigen Belange der Bausparer einer Bausparkasse können gefährdet sein, wenn die Bausparkasse die zur Sicherung des Neugeschäfts erforderlichen Provisionszahlungen nicht mehr leisten könnte“85.

Die Einhaltung dieser Vorgaben haben die Aufsichtsbehörden in den letzten Jahrzehnten immer eingefordert. Diese Aufsichtspraxis bindet auch für die AGB-rechtliche Kontrolle. Zwar lässt die Spezialkontrolle im Bereich der Bau-

__________ 81 82 83 84 85

BGH, NJW 2001, 2014 ff. S. § 7 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 VVG i. V. m. § 2 Abs. 1 Nr. 1 VVG – InfoVO. § 1 Abs. 1 Nr. 8 AltZertG. S. dazu auch BT-Drucks. 15/1553 zu § 41 Abs. 1 InvG. BT-Drucks. 11/7424, S. 17.

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sparkassenaufsicht die Kontrollfähigkeit von Bausparkassen-AGB unberührt86. Soweit jedoch die behördliche Aufsicht und Genehmigung eine abschließende und verbindliche Gestaltung der Rechtsbeziehung der Vertragsbeteiligten bezwecken, besteht kein Spielraum mehr für eine AGB-rechtliche Inhaltskontrolle87. Unstreitig haben die Bausparkassen in der Vergangenheit seit vielen Jahrzehnten ständig eine „Abschlussgebühr“ verlangt. Mit dem oben erwähnten Schreiben vom 29.10.1986 hat das damalige Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen Bauspartarife nur zugelassen, wenn sie die Erhebung einer Abschlussgebühr seitens der Bausparkassen vorsahen. Diese Auffassung wurde in weiteren Schreiben bestätigt, etwa in einem Schreiben vom 5.3.199888: „(Das Amt) hält nach wie vor daran fest, keine Bauspartarife ohne Abschlussgebühr von mindestens 1 % zu genehmigen“.

Ferner heißt es in einem Schreiben der BaFin vom 30.5.200589: „Ich erwarte, dass die Bausparkassen durch geeignete Maßnahmen eine Provisionsabgabe, insbesondere eine aus Provisionseinnahmen finanzierte Erstattung der Abschlussgebühr für einen Bausparvertrag, durch den Vermittler an den Kunden verhindern.“

Diese Entscheidungspraxis hat die BaFin mit Schreiben vom 10.7.2008 noch einmal bekräftigt: „Einen Bauspartarif ohne Abschlussgebühr habe ich bisher nicht genehmigt, weil noch keine Bausparkasse einen dauerhaft tragbaren Tarif ohne Abschlussgebühr konzipiert und mit der Bitte um Genehmigung vorgelegt hat“.

Die BaFin betont weiter: „Zur Aufrechterhaltung stabiler Wartezeiten sind sie (die Bausparkassen) in einem besonderen Maße auf einen gleichmäßigen Liquiditätszufluss angewiesen, was wenigstens ein kontinuierliches Neugeschäft erfordert. Die wesentliche unternehmerische Aufgabe liegt daher in der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Bauspargemeinschaft über die permanente Anbahnung neuer Geschäftsbeziehungen durch einen funktionierenden Außendienst“.

Daraus zieht die BaFin die wichtige Schlussfolgerung: „Damit diese Aufgabe erfüllt werden kann, habe ich für die Genehmigung eines Bauspartarifs von den Bausparkassen ausdrücklich die Generierung eines in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zum Vertragsschluss stehenden Ertrages in Form einer Abschlussgebühr verlangt, um die mit dem Vertragsschluss entstehenden Vertriebskosten zumindest teilweise zu decken und so auch in Zeiten einer schlechteren Ertragslage die Finanzierung der Neugeschäftsproduktion zu sichern.“

__________ 86 BGH, WM 1991, 1452, 1454. 87 BGH, NJW 2007, 3344 ff. 88 S. Schäfer/Cirpka/Zehnder, Bausparkassengesetz und Bausparkassenverordnung, 5. Aufl. 1999, § 5 BauSparkG Anm. 31. 89 Abgedruckt in Consbruch/Möller/Bähre/Schneider, Kreditwesengesetz, 85. Aufl. 2009, Band I Nr. 9.7.2.

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Die Abschlussgebühr in der AGB-rechtlichen Kontrolle

Noch deutlicher ist die BaFin in ihrem Schreiben vom 28.1.2009, in der sie erstmals in den laufenden Gerichtsverfahren rund um die Abschlussgebühr zu deren Notwendigkeit Stellung bezieht90. Hiernach hält die Behörde es „für zwingend erforderlich, dass jede Bausparkasse in der Lage ist, sowohl im zeitlichen Zusammenhang mit dem Vertragsabschluss als auch in den nachfolgenden Perioden die für die Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs und eine gleichmäßige Zuteilungsfolge notwendigen Erträge zu generieren.“

Dann folgert das BaFin: „Dafür hat sich die Abschlussgebühr nicht nur bewährt, sondern bislang als unverzichtbar erwiesen.“

Die BaFin sieht auch keine Möglichkeiten, die Abschlussgebühr durch Veränderung der Guthaben- und/oder der Darlehenszinsen zu kompensieren und bekräftigt daher noch einmal, dass auch im Sinne der bisherigen Aufsichtspraxis „eine Abschlussgebühr für die Bausparkassen die am sichersten zu kalkulierende und für die Bausparer die transparenteste Lösung“ sei.

Diese Auffassung entspricht auch der Entscheidungspraxis der BaFin, schon aus ihrer Zeit als damaliges Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen. So untersagte zum Beispiel das Bundesaufsichtamt mit Schreiben vom 16.7.197491 Abweichungen von den Allgemeinen Bedingungen für Bausparverträge. Vom Verbot umfasst war auch die Gewährung von „Gebührennachlässen oder verminderten Zinssätzen“. Das Amt sah darin ein Problem, da sich dadurch „die Ertragslage der Bausparkasse (…) verschlechtert und das Bausparer-Kollektiv (…) mittelbar geschädigt wird“92. Bislang hat keine einzige Bausparkasse in der Bundesrepublik einen genehmigten Tarif, der keine Abschlussgebühr enthält. Dies beruht nicht auf Bequemlichkeit oder fehlender Innovativität, was die Tarifgestaltung angeht. Vielmehr gibt es offensichtlich kein anderes System, das in der Lage wäre, den Besonderheiten des Bausparwesens und ihres Gemeinschaftsgedankens in einer sachgerechten, d. h. nicht diskriminierenden Weise, Rechnung zu tragen. Das Landgericht Heilbronn ist in seinem Grundsatzurteil zur Abschlussgebühr davon ausgegangen, dass die Genehmigungspraxis der BaFin nicht als zwingendes Argument für die AGB-rechtliche Zulässigkeit der Abschlussgebühr herangezogen werden könne. Allerdings führe bei branchenspezifischen Besonderheiten die Kompetenz einer Fachbehörde zu einer „gewissen Indizwirkung“ für die Inhaltskontrolle93. In der Tat ist eine AGB-rechtliche Inhalts-

__________ 90 Schreiben der BaFin v. 28.1.2009 – BA 26-K 6310-2008/0001. 91 Abgedruckt bei Consbruch/Müller/Bähre/Schneider, Kreditwesengesetz, 85. Aufl. 2009, Band I Nr. 9.12., S. 29a. 92 Auch in weiteren Schreiben des Aufsichtsamtes wird das Fehlen der Abschlussgebühr auf einem Formular gerügt; etwa im Schreiben v. 4.2.1988, abgedruckt im Bausparkassen-Fachbuch 2007/2008, S. 70 f. oder im Schreiben v. 21.12.1989 (im Handbuch, S. 71). 93 WM 2009, 603, 608; so auch das OLG Stuttgart, Urteil v. 3.12.2009 – 2 U 30/09.

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kontrolle bei Entgeltklauseln der Bausparkassen nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil diese nach dem Bausparkassengesetz der Genehmigung durch die BaFin unterlägen94. Allerdings geht es vorliegend nicht um die grundsätzliche Zulässigkeit einer AGB-Kontrolle bei Bausparbedingungen, sondern ausschließlich darum, ob eine bestimmte ABB-Bestimmung von der Aufsicht zwingend verlangt und wegen dieser Vorgabe der Inhaltskontrolle entzogen ist. Ohne eine Tarifierung mit Abschlussgebühren wäre ein Bauspartarif von der Aufsichtsbehörde nie genehmigt worden. Insofern besteht hier gar nicht der AGB-typische Fall der einseitigen Ausnutzung privatautonomer Gestaltungsmacht. Insofern muss eine zwingende Vorgabe der Bausparkassenaufsicht und deren Umsetzung in ein Tarifwerk der AGB-Kontrolle entzogen sein.

IV. Wirksamkeit der Klausel bei Inhaltskontrolle Selbst wenn man aber unterstellt, dass die entsprechende Klausel einer Inhaltskontrolle zugänglich ist, ist damit noch nichts über die Frage der Wirksamkeit oder Unwirksamkeit gesagt. Vielmehr bedarf es einer genauen Überprüfung der inhaltlichen Zulässigkeit der Klausel. Abzustellen wäre nicht auf § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB, wonach eine Klausel unzulässig ist, wenn sie mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung unvereinbar ist. Denn ein gesetzliches Leitbild i. S. e. BGB-verbrieften Vertragstyps gibt es für den Bereich des Bausparvertrages nicht (s. oben). Abzustellen wäre vielmehr auf § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB, welcher die Frage der vertragswesentlichen Rechte und Pflichten thematisiert und eine Beschränkung dieser Rechte und Pflichten verbietet, soweit dadurch die Erreichung des Vertragszweckes gefährdet ist. Dabei verweist der Hinweis auf „im Zweifel“ darauf, dass selbst bei einer solch erheblichen Einschränkung vertragswesentlicher Rechte und Pflichten noch eine umfassende Betrachtung aller Interessen, insbesondere auch die schutzwürdigen Interessen des Verwenders am Gebrauch der entsprechenden Klausel vorzunehmen ist95. Der XI. Zivilsenat des BGH hat insofern in Bezug auf Bausparkassen betont, dass die Inhaltskontrolle im AGB-Recht auf Besonderheiten Rücksicht zu nehmen habe, die sich aus der Rechtsnatur des Bausparvertrages und den Vorschriften des Bausparkassengesetzes ergeben96. 1. Keine Vertragszweckgefährdung Zunächst einmal ist ein Verstoß gegen vertragswesentliche Rechte und Pflichten in einer vertragszweckgefährdenden Weise nicht ersichtlich. Bei der Erhebung einer „Abschlussgebühr“ geht es – wie oben ausführlich nachgewiesen – um eine Eintrittsgebühr in die Solidargemeinschaft der Bausparer. Diese Ein-

__________

94 Dazu grundlegend BGH, NJW 2007, 3344 f. 95 BGHZ 133, 10, 15 f. = WM 1996, 1080 ff. – Postenpreise bei Girokonten; BGH, WM 2003, 673 ff. – Zeichnungsentgelte. 96 BGH, WM 1991, 1452 = NJW 1991, 2559, 2560; ähnlich LG Berlin, ZIP 1988, 1311, 1335.

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Die Abschlussgebühr in der AGB-rechtlichen Kontrolle

trittsgebühr entspricht nicht nur seit vielen Jahrzehnten der gängigen Praxis im Bereich der Bausparkassen, sondern ist erforderlich, um auf diese Weise ein für den Bestand der Bausparergemeinschaft notwendiges, effizientes System zur Akquisition und Bindung neuer Kunden zu schaffen. Die Praxis entspricht auch der langjährigen Aufsichtspraxis des Bundesaufsichtsamtes für das Kreditwesen bzw. der BaFin. Zugunsten der Solidargemeinschaft wird durch die Erhebung der Abschlussgebühr gesichert, dass die mit der Akquisition neuer Kunden verbundenen Kosten gedeckt sind. Nicht geht es darum, Kunden wegen des Verlustes der hohen Abschlusskosten von einer Kündigung des Vertragsverhältnisses abzuhalten oder sie mit dem Verlust der Abschlussgebühr abzustrafen97. Vielmehr soll bei den langfristig angelegten Verträgen verhindert werden, dass die Vertragskosten nicht verursachungsgerecht verteilt werden. Denn eine anderweitige Verteilung der Kosten würde diejenigen Bausparer begünstigen, die das Bausparvertragsverhältnis bereits nach kurzer Laufzeit kündigen98. Würde die Bausparkasse ihre anfänglichen Kosten nicht in Form einer gesonderten „Abschlussgebühr“ erheben, hätte sie diese Kosten durch eine deutliche Minderung des ohnehin niedrigen Sparzinses zu decken. Eine systemkonforme und im Hinblick auf die gemeinschaftliche Bindung aller Bausparer adäquate Verteilung der Abschlusskosten beim Bausparen ist daher nur in Form einer mit den ersten Sparbeiträgen verrechneten „Abschlussgebühr“ möglich99. Es wäre nicht sachgerecht, diejenigen Bausparer, die dem Bausparkollektiv besonders hohe Leistungen zur Verfügung stellen, zugunsten derjenigen, die für die Gemeinschaft nur geringe Leistungen erbringen, in unverhältnismäßiger Weise zu belasten. Das Landgericht Heilbronn spricht in diesem Fall zu Recht von einer „unerwünschten Quersubventionierung“100. Um dieser Gefahr und diesem Vorwurf zu entgehen, bedarf es der Abschlussgebühr als Solidarbeitrag für das im Interesse aller Bausparer liegende Bemühen der Bausparkasse um kontinuierliche Neuabschlüsse101. Anders als ein Kreditinstitut, das sich über den allgemeinen Kapitalmarkt refinanzieren kann, lebt das Bausparwesen von dem „Zuteilungstopf“ und damit von der permanenten Verpflichtung, über den Vertrieb dauerhaft und langfristig Neugeschäfte zu tätigen und so den „Zuteilungstopf“ der Bauspargemeinschaft zu erhalten. Dieses Engagement muss von allen Mitgliedern der Solidargemeinschaft finanziert werden, was eine separate Umlage zu Beginn des Bausparvertrages notwendig macht. 2. Parallele: Versicherung Dementsprechend sieht § 7 Abs. 2 Nr. 4 VVG vor, dass Versicherungen dem potentiellen Versicherungsnehmer Angaben darüber zu unterbreiten haben, die sich auf die Kalkulation von „Abschlusskosten“ beziehen. Versicherungs-

__________ 97 98 99 100 101

So allerdings Strube, ZIP 2008, 2153, 2155. So auch Habersack, WM 2008, 1857, 1862. S. Bitter, ZIP 2008, 1095; ders., ZIP 2008, 2155, 2158. WM 2009, 603, 607. So auch LG Heilbronn, WM 2009, 603, 606 f.

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unternehmen und Bausparkassen agieren allerdings ähnlich. Beide unterhalten umfangreiche Vertriebsorganisationen und -strukturen. Beide sind geprägt durch den Kollektivgedanken, wobei bei der Versicherung der Gedanke der Risikogemeinschaft, bei den Bausparern der Gedanke der Zweckspargemeinschaft im Vordergrund steht. Wieso Versicherungsunternehmen abschlussnah eine Erstattung ihrer Vertriebskosten verlangen können, Bausparkassen AGB-rechtlich nicht, ist nicht einzusehen.

V. Transparenz Keine Bedenken bestehen hinsichtlich der Transparenz der Regelung zur „Abschlussgebühr“102. Die entsprechende Höhe der Abschlussgebühr ist klar spezifiziert. Die entsprechenden Formulare halten den Betrag ziffernmäßig fest, während des jeweiligen Beratungsgespräches wird dann die entsprechende Abschlussgebühr genau berechnet und in das Formular eingetragen. Auf die zu entrichtenden Abschlussgebühr wird der Bausparer im Vertragsabschlussformular ausdrücklich hingewiesen. Ferner finden sich Hinweise in der Konditionenübersicht, die zu Beginn der Allgemeinen Bedingungen für Bausparverträge alle vom Bausparer zu zahlenden Entgelte, Gebühren und Zinsen nennt103.

VI. Zusammenfassung Die Geltendmachung einer „Abschlussgebühr“ im Bausparsektor ist AGBrechtlich unbedenklich. Hinter dem Begriff der Abschlussgebühr verbirgt sich eine vom Rest unteilbare Einzelvergütung, die dem Grundgedanken der bausparrechtlichen Risiko- und Solidargemeinschaft entspricht. Insofern greift die für einfache synallagmatische Verträge gedachte Ausnahmekonstruktion der Kontrolle von Preisnebenabreden nicht. Selbst wenn man aber eine Preiskontrolle zulässt, wäre die vertragliche Vereinbarung einer „Abschlussgebühr“ nach Maßgabe von § 307 Abs. 2 Nr. 1 und 2 BGB vom Zweck des Bausparvertrages gedeckt und damit wirksam. Würde man aus dem komplexen Vergütungssystem des Bauspargeschäfts ein einzelnes Rädchen – wie die Abschlussgebühr – entfernen, drohte statt dessen umgekehrt der Kollaps des gesamten Systems der Bausparkassen104. Es kann daher auch nicht verwundern, dass die BaFin dementsprechend seit vielen Jahrzehnten die Erhebung einer Abschlussgebühr von den Bausparkassen einfordert.

__________ 102 So auch LG Heilbronn, WM 2009, 603, 607 f. und das OLG Stuttgart, Urteil v. 3.12. 2009 – 2 U 30/09. 103 S. dazu die aktuellen Musterbedingungen der öffentlichen und privaten Bausparkassen und Bausparkassen-Fachbuch 2007/2008, S. 137 ff. und S. 146 ff. 104 So auch Laux, Immobilienfinanzierung 59 (2008), 851, 870, der sehr scharf von dem Streit um die Abschlussgebühr als einem „Treppenwitz der Geldgeschichte“ spricht.

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Anlegerschutz und neues Schuldverschreibungsrecht Inhaltsübersicht I. Einleitung: „Marktfreundlichkeit“ und Anlegerschutz II. Stärkung der Anlegerrechte durch das neue Gesetz? 1. Kollektive Bindung (§ 4 SchVG) 2. Stärkere Eingriffe durch Gläubigerbeschlüsse (§ 5 SchVG) 3. Schutz durch kollektives Handeln 4. Gefahren des Missbrauchs 5. Anfechtung von Beschlüssen (§ 20 SchVG) III. Kampf um die Ausschaltung der Inhaltskontrolle 1. Ausgangspunkt: Anlegerschutz durch AGB-Recht 2. Die Suche nach der gesetzlichen Lösung

3. Fortbestehende AGB-Kontrolle; UKlaG IV. Spezielles Transparenzgebot (§ 3 SchVG) 1. Eine spezielle Kontrollnorm 2. Das allgemeine Transparenzgebot 3. Der reduzierte Schutz nach § 3 SchVG 4. Schutzprobleme im Zertifikatemarkt V. Transparenzpflichten nach WpHG bei Falschberatung VI. Verjährung VII. Zusammenfassung

I. Einleitung: „Marktfreundlichkeit“ und Anlegerschutz Im Folgenden wird die Frage untersucht, wie sich im neuen Schuldverschreibungsrecht der Anlegerschutz der Anleihegläubiger darstellt. Deren Rechtsstellung hat sich durch das neue Schuldverschreibungsgesetz („Gesetz über Schuldverschreibungen aus Gesamtemissionen“ – SchVG), das am 5.8.2009 in Kraft getreten ist1, und durch weitere gleichzeitige gesetzgeberische Maßnahmen im Neuregelungsgesetz2 verändert. Es geht dabei um Fragen der Anleihevertragstechnik vor dem Hintergrund des Kapitalmarktrechts und des AGBRechts, und um internationale Zusammenhänge einer gewandelten Praxis der internationalen Finanzmärkte. Der Jubilar hat sowohl als Praktiker als auch als vielbeschäftigter Fachautor auf dem Gebiet des AGB-Rechts und damit verbundener Schutzprobleme der Verbraucher und Anleger, aber auch des internationalen Wirtschaftsrechts, erfolgreich gearbeitet. Daher denke ich, dass

__________

1 Und zwar als Art. 1 des „Gesetzes zur Neuregelung der Rechtsverhältnisse bei Schuldverschreibungen aus Gesamtemissionen und zur verbesserten Durchsetzbarkeit von Ansprüchen von Anlegern aus Falschberatung“ (NeuregelungsG) v. 31.7.2009, BGBl. I 2009, 2512. Begr. RegE, BT-Drucks. 16/12814 v. 28.4.2009, S. 1, 16. Zur Reformdebatte und zum RefE 2008 Horn, ZHR 173 (2009), 12 – 66 m. w. Nachw. Überblick über das neue SchVG bei Horn, BKR 2009, 446–453. 2 Vgl. Fn. 1.

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der folgende Beitrag, dem ich meine herzlichen Glückwünsche beifüge, sein Interesse findet. Kern des neuen SchVG ist ein neues Gläubigerorganisationsrecht, das nicht so sehr dem Gläubigerschutz verpflichtet ist als den Interessen der Emittenten und ihrer anderen Gläubiger in der Krise, und das in diesem Sinn einer „Marktfreundlichkeit“ auf dem Emissionsmarkt der Anleihen dienen soll. Der Gesetzgeber hat in der amtlichen Begründung aber durchaus auch von einer „Stärkung der Gläubiger“ gesprochen3 und vereinzelt Probleme des Anlegerschutzes im SchVG angesprochen. Mehr noch, das neue Gesetz ist Teil eines Artikelgesetzes, das im Titel auch die „verbesserte Durchsetzbarkeit von Ansprüchen von Anlegern aus Falschberatung“ als Regelungsziel nennt und damit Erwartungen der Öffentlichkeit angesichts der internationalen Finanzmarktkrise entgegenkommt. Allerdings räumt man ein, dass die im Gesetz vorgesehene „Verbesserung des Anlegerschutzes nur einen ersten Schritt zur Reaktion auf die aktuelle Finanzmarktkrise darstelle“4. Das entscheidende Motiv für die Ablösung des alten Schuldverschreibungsgesetzes von 18995 und seine Ersetzung durch das neue Gesetz war jedoch nicht der Anlegerschutz, sondern der Wunsch zur Angleichung des deutschen Rechts an eine Änderung der internationalen Anleihepraxis6. Diese verwendet heute Klauseln zur Anpassung der Anleihebedingungen, insbesondere im Rahmen einer Umschuldung in der Krise des Anleiheschuldners, bekannt unter dem Begriff der „collective action clauses“ (CACs). Diese Klauseln sehen weitreichende Möglichkeiten zur Abänderung und Beschneidung der Rechte der Anleihegläubiger durch Gläubigerbeschlüsse vor allem im Hinblick auf Umschuldungen vor7. Die Übernahme solcher Klauseln in Anleihebedingungen, die deutschem Recht unterstellt sind, stieß auf Bedenken im Hinblick auf das deutsche und europäische AGB- und Klauselrecht. Das neue Schuldverschreibungsgesetz will die genannten Hemmnisse beseitigen, um die Wahl deutschen Rechts in den Vertragsbedingungen internationaler Anleihen zu fördern und damit zugleich den Finanzplatz Deutschland zu stärken8. Das Thema Anlegerschutz wird im Folgenden also im Hinblick auf ein Gesetz zu erörtern sein, bei dem Anlegerschutz keineswegs im Vordergrund steht.

__________ 3 Begr. RegE SchVG, BT-Drucks. 16/12814 v. 28.4.2009, S. 1. 4 Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrats, BT-Drucks. 16/12814, S. 37 Nr. 5. 5 Gesetz betreffend die gemeinsamen Rechte der Besitzer von Schuldverschreibungen v. 4.12.1899, RGBl. I 1899, 691, mit Änderungen; BGBl. III, 4134-1. 6 Begr. RegE, BT-Drucks. 16/12814, S. 1, 13 f. 7 Keller, BKR 2002, 313, 314 f.; Hartwig-Jacob in FS Horn, 2006, S. 717 ff. 8 Amtl. Begr. BT-Drucks. 16/12814 v. 28.4.2009, S. 1, 16. Vgl. schon RefVorE 2006, S. 24 f.; RefE v. 9.5.2008, S. 1, 21; Horn, ZHR 173 (2009), 29.

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Anlegerschutz und neues Schuldverschreibungsrecht

II. Stärkung der Anlegerrechte durch das neue Gesetz? 1. Kollektive Bindung (§ 4 SchVG) Die wenigen zwingenden Normen des SchVG in §§ 2–4, 23 stabilisieren und sichern auf den ersten Blick die Gläubigerrechte. Bei näherer Betrachtung sind sie aber keineswegs als speziell anlegerfreundlich, sondern allenfalls als in einem neutralen Sinn verkehrsdienlich, teils auch als Einschränkung der Anlegerrechte zu bewerten. Die eher technische Norm des § 2 SchVG unterstreicht das wertpapierrechtliche Skripturprinzip, das der Klarheit der Gläubigerrechte und dem Verkehrsschutz dient. Die Norm nimmt dabei auf die verbreitete Verwendung von Globalurkunden unter Ausschluss einzelner Schuldverschreibungsstücke Rücksicht und lässt es ausreichen, dass die Anleihebedingungen in einer gesonderten Urkunde niedergelegt sind. § 3 SchVG über ein spezielles Transparenzgebot kommt im Gewande des Anlegerschutzes daher, ist aber eher i. S. seiner Reduzierung gedacht, wie noch gesondert (unten IV.) zu besprechen ist. Eine besondere Bedeutung für das Privatrecht der Schuldverschreibung hat die neuartige Norm des § 4 SchVG über die „kollektive Bindung“ der Anleihegläubiger. Die Norm lässt Abänderungen der Anleihebedingungen nur durch Vertrag mit allen Gläubigern oder aufgrund der in §§ 5–21 SchVG geregelten Mehrheitsbeschlüsse der Gläubiger zu (Satz 1). Ergänzt wird dies durch eine Gleichbehandlungspflicht des Schuldners gegenüber allen Gläubigern (Satz 2). Dies ist zunächst einmal ein Schutz der Gläubiger gegen Diskriminierung im Vergleich zu anderen Gläubigern der gleichen Anleihe und insofern ein Stärkung ihrer Rechte. Es dient zugleich der Bewahrung der Marktfähigkeit der Schuldverschreibungen, die einen einheitlichen Inhalt der Rechte voraussetzt9. Zugleich betont es aber auch die Bindung der Gläubigerrechte durch die Rücksichtnahme auf die anderen Gläubiger und ist die Grundlage dafür, in Anleihebedingungen die Möglichkeit von Mehrheitsentscheidungen zur Abänderung der Gläubigerrechte vorzusehen. Auch diese „Einschränkung individueller Rechte“ soll im Begriff der „Bindung“ zum Ausdruck kommen10. 2. Stärkere Eingriffe durch Gläubigerbeschlüsse (§ 5 SchVG) Wie das alte SchVG von 1899 sieht auch das neue SchVG als Organe der Anleihegläubiger einen gemeinsamen Vertreter (§§ 7, 8 SchVG) sowie die Gläubigerversammlung (§§ 9–17 SchVG) vor; daneben besteht die Möglichkeit der Abstimmung ohne Versammlung (§ 18 SchVG). Kernstück ist die erweiterte Kompetenz der Gläubigergemeinschaft, für alle Gläubiger verbindliche Mehrheitsbeschlüsse zu fassen (§ 5 SchVG). Die zulässigen Beschlussinhalte gemäß § 5 Abs. 2 SchVG greifen weitaus tiefer als nach dem alten SchVG in die Rechte der einzelnen Gläubiger ein, etwa durch Ausschluss der Zinsen (Nr. 1),

__________ 9 Begr. BT-Drucks. 16/12814, S. 17; BGHZ 163, 311; BGH, WM 2009, 1500, 1501. Zur einheitlichen Auslegung BGH a. a. O. 10 BT-Drucks. 16/12814, S. 17.

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Herabsetzung der Hauptforderung (Nr. 3), Abänderung der Nennwährung (Nr. 7) oder Schuldnerersetzung (Nr. 9). Der gemeinsame Vertreter kann die Rechte der Gläubiger wahrnehmen, eine Versammlung einberufen und die Beschlüsse der Gläubiger ausführen. Im Unterschied zum Referentenentwurf sieht das Gesetz auch die Möglichkeit vor, einen Gläubigervertreter bereits in den Anleihebedingungen zu bestellen (§ 8 Abs. 1 Satz 1 SchVG). Dies hat den Vorteil, dass von Anfang an ein Ansprechpartner für die Gläubiger und Organisator für Gläubigerversammlungen und -beschlüsse bereit steht. Der Gesetzgeber ist dabei Verbesserungsvorschlägen aus der Literatur gefolgt11. Die genannten Instrumente ermöglichen eine Anpassung der Anleihe an eine Krisensituation des Schuldners, indem sie dessen wirtschaftliche Lasten vermindern; dies geschieht um den Peis einer Verkürzung der vertraglichen Ansprüche der Anleger. Ob diese Verkürzung aus der Sicht des Anlegers durch anderweitige Vorteile wettgemacht wird, hängt von der Situation ab. Bei internationalen Anleihen von Staaten konnte es früher geschehen, dass im – nicht seltenen – Fall einer internationalen Verschuldungskrise des Schuldnerstaates die Anleihegläubiger mit einigermaßen heiler Haut davon kamen. Sie blieben gerade wegen eines Fehlens ihrer Organisation und der Schwierigkeiten für den Schuldner, mit ihnen in Kontakt zu treten, von den Zumutungen einer Umschuldung mit Herabsetzung der Ansprüche verschont12. Lange galt der Grundsatz, dass ein Schuldnerstaat seine volle internationale Kreditwürdigkeit nur dadurch wiederherstellen konnte, dass er seine alten Anleihen voll bediente. Das ließ sich auch unter Gesichtspunkten der Billigkeit im Verhältnis zu den anderen Staatsgläubigern zumindest insoweit rechtfertigen, als früher typischerweise unter den Anleihegläubigern auch viele Privatanleger mit kleinen Vermögen waren, die ihre schmalen Ersparnisse hier angelegt hatten. Andererseits wurde diese Sonderbehandlung mit der Zeit immer mehr als ungerechtfertigte Bevorzugung der Anleihegläubiger kritisiert13 und führte zunehmend gerade bei internationalen Anleihen zur eingangs erwähnten Kautelarpraxis der sog. „Collective-action-clauses“, an die der deutsche Gesetzgeber des SchVG anknüpfen will. 3. Schutz durch kollektives Handeln Eine Verbesserung der Lage der Anleihegläubiger als Anleger kann man dem gegenüber darin sehen, dass eine Umschuldung möglicherweise leichter gelingt und diese, z. B. durch eine erfolgreiche Sanierung des Schuldnerunternehmens14, allen Gläubigern nutzt. Hinsichtlich der Staaten ist noch anzumerken,

__________ 11 Horn, ZHR 173 (2009), 12 ff., 63, 65 im Anschluss an Baums, Die gerichtliche Kontrolle von Beschlüssen der Gläubigerversammlung, ILF Working Paper Series No. 90, 09/2008, S. 12 f., 15. Grundsätzlich in diesem Sinn schon Horn, Das Recht der internationalen Anleihen, 1972, S. 448. 12 Horn, WM 1984, 713 ff.; ders., Int.Bus.Lawyer Oct. 1984, 400 ff. 13 Cranshaw, DZWir 2007, 141. 14 Allg. zum Anpassungsbedarf bei Anleihen in der Unternehmenskrise Schneider in Baums/Cahn (Hrsg.), Die Reform des Schuldverschreibungsrechts, 2004, S. 78 ff., 81 ff.

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Anlegerschutz und neues Schuldverschreibungsrecht

dass die zunehmende Kritik an der Bevorzugung der Anleger in internationalen Anleihen die Staaten als Anleiheschuldner zu einem zunehmend härteren Vorgehen ermutigt hat. Beispielhaft ist Argentinien, das eine Spitzenposition hinsichtlich der Häufigkeit seiner internationalen Verschuldungskrisen einnimmt und das seine Anleihegläubiger bei der Schuldenkrise 2002 kurzerhand vor die Wahl stellte, entweder auf einen Großteil ihrer Forderung zu verzichten oder ganz leer auszugehen15. Man kann die Hoffnung wagen, dass das Vorhandensein eines geeigneten gemeinsamen Vertreters der Gläubiger i. S. § 7 SchVG, der sich aktiv an den Verhandlungen der Umschuldung beteiligt, in solchen Situationen die Interessen der Gläubiger möglicherweise besser schützen kann. 4. Gefahren des Missbrauchs Gefahren des Missbrauchs des neuen Rechts (§§ 5–21 SchVG) zur einseitigen Durchsetzung der Schuldnerinteressen erfordern Wachsamkeit schon bei der Emission hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung der Anleihebedingungen. Dies gilt nicht zuletzt bei ausländischen Emittenten wegen der größeren Schwierigkeit der Kontrolle, Kontaktmöglichkeiten und Rechtsverfolgung; man denke nur an Schuldnerstaaten mit einer unguten Tradition von Schuldenkrisen und schlechter Behandlung der Anleihegläubiger. Betrachtet man z. B. die an sich begrüßenswerte Möglichkeit, dass der gemeinsame Vertreter bereits in den Anleihebedingungen bestimmt werden kann, so besteht die erhöhte Gefahr, dass der Emittent eine von ihm nicht unabhängige Person bestimmt. § 8 Abs. 1 SchVG will dies verhindern und nennt Ausschließungsgründe bei bestimmten Abhängigkeiten vom Schuldner (Organmitglieder, Angestellte, auch von verbundenen Unternehmen) und Offenlegungspflichten hinsichtlich von sonstigen Interessenkonflikten (i. S. § 7 SchVG). Hier besteht auch eine gewisse, je nach den Einflussmöglichkeiten abgestufte Sorgfaltspflicht der begleitenden Emissionsbanken, die mit den Emittenten die Anleihebedingungen festlegen, auf die Einhaltung dieser Kriterien zu achten. Oder man denke an den nach § 5 Abs. 6 SchVG zulässigen Ausschluss der Möglichkeit einer Gläubigerversammlung, so dass nur die (an sich kumulativ vorgesehene) Möglichkeit zur Abstimmung ohne Versammlung (§ 18 SchVG) verbleibt. Dies kann bei bestimmten, trickreichen Schuldnern problematisch sein. Abstimmungsleiter kann ferner auch ein vom Schuldner bestellter (ausländischer?) Notar sein (§ 18 Abs. 2 SchVG). Der bei der Abstimmung zulässige Einsatz elektronischer Medien16 erfordert eine besondere Zuverlässigkeit der Abstimmungsleitung, zumal die Anfechtung der Beschlüsse wegen Mängeln der elektronischen Übermittlung – aus guten Gründen – nur eingeschränkt möglich ist (§ 20 Abs. 1 Satz 2 SchVG).

__________ 15 Horn in FS Nobbe, 2008, S. 601, 603, 612 f. 16 Vgl. § 10 Abs. 3, § 18 Abs. 3 SchVG.

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5. Anfechtung von Beschlüssen (§ 20 SchVG) Eine bedeutende Waffe zum Schutz der Anleger gegen Eingriffe in ihre Rechte durch gesetzes- oder vertragswidrige Mehrheitsbeschlüsse ist das Anfechtungsrecht der Gläubiger. Es ist zugleich Ziel einer Kritik aus der Praxis, die eine Verzögerung der Bemühungen um eine Sanierung des Anleiheschuldners befürchtet. Gläubigerbeschlüsse können nach § 20 Abs. 1 Satz 1 SchVG wegen Verletzung des Gesetzes oder der Anleihebedingungen durch Klage gegen den Schuldner (Abs. 3 Satz 2) angefochten werden. Wegen Verletzung der Informationspflichten kann ein Beschluss nur angefochten werden, wenn ein objektiv urteilender Gläubiger die Erteilung der Information als wesentliche Voraussetzung für sein Abstimmungsverhalten angesehen hätte (Satz 2). Die Beschlüsse, die in die Gläubigerrechte eingreifen, unterliegen im Anfechtungsprozess auch einer materiellen Inhaltskontrolle nach dem Vorbild des Aktienrechts17. Dafür bestehen ungeschriebene Prüfkriterien: Willkürverbot, Verfolgung der gemeinsamen Interessen aller Gläubiger, Erforderlichkeit, Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit der getroffenen Maßnahmen18. Die Klage hat im Grundsatz aufschiebende Wirkung (§ 20 Abs. 3 Satz 3 Halbsatz 1 SchVG). Die Dauer des Verfahrens kann daher in einer Krise das Gelingen einer Sanierung bedrohen. Das Verfahren birgt Verzögerungsquellen und Möglichkeiten zur bewussten Verzögerung; diese sucht der Gesetzgeber durch das ARUG abzumildern19. In der Praxis sind gleichwohl Befürchtungen verbreitet, dass es bei Anleihen künftig Anfechtungen als Instrument von Erpressungsversuchen einzelner Gläubiger geben wird, wie sie im Aktienwesen unter dem Stichwort der räuberischen Aktionäre bekannt sind. Der Gesetzgeber hat zur Abwehr der Gefahren der aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage das Freigabeverfahren gemäß § 246a AktG in das SchVG eingefügt (§ 20 Abs. 3 Satz 4). Danach kann auf Antrag des Schuldners das Gericht feststellen, dass die Erhebung der Klage dem Vollzug des angefochtenen Beschlusses nicht entgegensteht. Aber auch dieses Verfahren bot bislang einiges Verzögerungspotential; das ARUG sucht dies auch hier einzudämmen20. Man darf im Übrigen nicht übersehen, dass die Verzögerung durch die aufschiebende Wirkung bei Beschlüssen der Anleihegläubiger eine andere Qualität hat als im Aktienrecht, wo Registereintragungen vorzunehmen sind und die aufschiebende Wirkung eine Registersperre erzeugt. Ein Gläubigerbeschluss entfaltet seine Wirkung mit Niederschrift (§ 16 Abs. 3 SchVG) und Bekanntgabe (§ 16 SchVG)21. Lediglich die weiteren Schritte (Vertrag mit dem Schuldner) müssen vor Freigabe oder Abweisung der Anfechtungsklage unterbleiben. Dies hindert nicht weitere

__________ 17 Baums, Die gerichtliche Kontrolle von Beschlüssen der Gläubigerversammlung nach dem Referentenentwurf eines neuen SchVG, ILF Working Paper Series No.90, 09/2008, S. 12 f., 15; Horn, ZHR 173 (2009), 62. 18 Baums (Fn. 17); Horn (Fn. 17). 19 Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie (ARUG) v. 30.7.2009, BGBl. I 2009, 2479, Art. 1 Nr. 37, 38. 20 ARUG Art. 1 Nr. 39; insbes. durch die erstinstanzliche Zuständigkeit des OLG und den Ausschluss eines weiteren Rechtsmittels. 21 Baums (Fn. 17); Horn (Fn. 17).

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Sanierungsverhandlungen. Im Übrigen sind auch keine Vorschläge erkennbar, wie man den Rechtsschutz gegen Beschlüsse, die Gesetz oder Anleihebedingungen verletzen, besser gestalten könnte.

III. Kampf um die Ausschaltung der Inhaltskontrolle 1. Ausgangspunkt: Anlegerschutz durch AGB-Recht Das klassische Instrument zum Schutz der Anleger gegen unangemessene und nachteilige Anleihebedingungen ist das deutsche und europäische AGB-Recht. Der BGH hat entgegen mancher Kritik aus der Praxis, aber in Übereinstimmung mit der überwiegenden Meinung entschieden, dass Anleihebedingungen die Merkmale von AGB erfüllen22. Die Rechtsprechung ist dabei keineswegs blind für die Anforderungen der Anleihepraxis. So hat das OLG Frankfurt/M 1993 die in den Anleihebedingungen geregelte Form der Kündigungserklärung der Schuldnerin durch Bekanntgabe im Bundesanzeiger ohne Mitteilung an den einzelnen Gläubiger entgegen § 10 Nr. 6 AGBG (jetzt § 308 Nr. 6 BGB) für wirksam gehalten und dies mit dem Bedürfnis nach Sicherung des Übertragungswegs angesichts der Vielzahl der Gläubiger gerechtfertigt23. Der BGH hat 2005 eine vereinfachte Einbeziehung der Anleihebedingungen in das Schuldverhältnis mit dem einzelnen Erwerber der Schuldverschreibung angenommen; er hat dabei eine Analogie zur Ausnahmevorschrift des § 23 Abs. 1 und 2 AGB-Gesetz (jetzt §§ 305a, 310 Abs. 4 BGB) gezogen und auf die Markterfordernisse der vereinfachten Übertragbarkeit der Schuldverschreibungen hingewiesen. Im Juni 2009 hat der BGH einerseits zwar ein zu weit gefasstes einseitiges Abänderungsrecht in Emissionsbedingungen gemäß § 308 Nr. 4 BGB für nichtig erklärt, andererseits aber ein dem Emittenten im Ergebnis günstiges Urteil gefällt unter Rückgriff auf den Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs24. 2. Die Suche nach der gesetzlichen Lösung Die 2009 erfolgte Bestätigung einer Inhaltskontrolle von Anleihebedingungen durch den BGH gab den Befürwortern einer gesetzlichen Ausschaltung der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle zugunsten der international üblich gewordenen Anpassungsklauseln insofern recht, als die Möglichkeit der Inhaltskontrolle bestätigt wurde. Allerdings wurde nie vor deutschen Gerichten getestet, ob die gewünschten weitreichenden Anpassungsmöglichkeiten i. S. der collective action clause einer AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle tatsächlich zum Opfer fallen würden. Es ist aber begreiflich, dass man die Risiken eines solchen Tests vermeiden wollte. Der Gesetzgeber des SchVG vermied bewusst eine Stellungnahme zu der Frage, ob Anleihebedingungen einer Inhaltskontrolle

__________ 22 BGH v. 30.6.2009, WM 2009, 1500; so schon 2005 BGHZ 163, 311; für Genussscheine schon BGHZ 119, 305, 312 f. Nachw. zur Lit. bei Horn, ZHR 173 (2009), 12, 35 f. 23 OLG Frankfurt/M, WM 1993, 2089. 24 BGH v. 30.6.2009, WM 2009, 1500 m. Nachw. der Lit.

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nach §§ 305 ff. BGB unterliegen25. Mit der Möglichkeit, dass das AGB-Recht und insbesondere die AGB-rechtliche Inhaltskontrolle auf Anleihebedingungen anwendbar sein könnte, wurde aber bei den Vorarbeiten zum Gesetz gerechnet26. Die Spielräume des deutschen Gesetzgebers sind auf diesem Gebiet in einer etwas unübersichtlichen Weise durch das Verbraucherrecht beschränkt. Schuldverschreibungen werden in großem Umfang auch an private Anleger veräußert, die dem Begriff des Verbrauchers unterfallen, und zugleich ist eine unterschiedliche Behandlung der verschiedenen Anlegergruppen praktisch kaum durchführbar27. Nach der Rechtsprechung des EuGH gehört das europäische Verbraucherrecht zum ordre public der einzelnen Mitgliedstaaten28. Es soll zudem durch das Prinzip der Vollharmonisierung29 gegen einzelstaatliche Regelungen abgeschirmt werden. Da es kaum möglich erschien, die Anwendung der Richtlinie 93/13/EWG vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen nicht auch auf Anleihebedingungen anzuwenden, war eine Lösung unter der Prämisse der grundsätzlichen Anwendbarkeit der europäischen und deutschen Inhaltskontrolle missbräuchlicher Klauseln zu suchen. Der Vorentwurf 2006 suchte die Lösung zugunsten der modernen Kautelarpraxis darin, dass das künftige Gesetz ausdrücklich eine generelle Ausnahme vom AGB-Recht (§§ 305–309 BGB) vorsehen sollte30. Der Referentenentwurf 2008 ist von diesem Ansatz abgerückt, weil man nicht sicher war, ob die EURichtlinie 93/13 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen auf Anleihebedingungen anwendbar sei und ob diese Richtlinie oder allgemeine Grundsätze des deutschen AGB-Rechts eine Inhaltskontrolle von Anleihebedingungen gebieten und einer generellen gesetzlichen Ausnahme vom AGB-Recht entgegenstehen. Man sah daher die Lösung in der Schaffung von zwingenden Gesetzesnormen, welche die gewünschten Gestaltungen enthielten31. Dies hätte aber zur Konsequenz gehabt, auch den riesigen Markt der derivativen Anleihen (Zertifikate) zwingend dem Gläubigerorganisationsrecht des SchVG zu unterstellen, was mit erheblichem Aufwand, aber auch ggf. mit einem Zugewinn an Anlegerschutz verbunden gewesen wäre. Der Hinweis auf diese Konsequenz32 führte zur Aufgabe dieser Lösung. Die Regelung, die dann im neuen SchVG Gesetz geworden ist, erreicht das gleiche Ziel einer Ausschaltung der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle im gewünschten Umfang durch die

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25 RefE v. 9.5.2008, S. 21; RegE v. 29.4.2009, BT-Drucks. 16/12814, S. 13. 26 Man hielt aber gerade die Frage der Inhaltskontrolle noch in der Begr. z. RegE a. a. O. (Fn. 1) nicht für entschieden; BGH, WM 2009, 1500 machte letzten Zweifeln erst später ein Ende. 27 Inzwischen ist eine unterschiedliche Behandlung durch § 4 SchVG verwehrt. 28 EuGH v. 26.10.2006 – Rs C 168/05 (Mostaza v.Centro Movil Milenium SL), SchiedsVZ 2007, 46 mit Anm. Wagner. 29 Horn, Europäisches Finanzmarktrecht, 2003, S. 24 ff.; aktueller Problemüberblick bei Rott/Terryn, ZEuP 3/2009, 456 ff., 458 ff. 30 RefVorE 2006, § 2 Abs. 3 Satz 4. 31 § 20 RefESchVG 2008; Horn, ZHR 173 (2009), 38 f. 32 Horn, ZHR 173 (2009), 12, 66.

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Schaffung optionalen Gläubigerorganisationsrechts. Anleiheklauseln, die mit diesem neuen Gesetzesrecht des SchVG übereinstimmen, sind gemäß § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB einer Inhaltskontrolle nach AGB-Recht nicht unterworfen. Damit ist das wichtigste rechtspolitische Ziel der Praxis, die Ausschaltung dieser Inhaltskontrolle im Bereich der erstrebten Anpassungsregelungen in Anleihebedingungen, erreicht. 3. Fortbestehende AGB-Kontrolle; UKlaG Es bleibt bei der Inhaltskontrolle einmal der Anleihebedingungen, bei denen der Emittent von der Regelung in den §§ 5–21 SchVG keinen Gebrauch macht. Wenn für die gesetzliche Regelung optiert wird, müssen die in Abschnitt 2 des SchVG (§§ 5–21) normierten „zwingenden Mindestanforderungen“33 eingehalten werden. § 5 Abs. 1 Satz 2 SchVG verbietet, von den §§ 5–21 SchVG „zu Lasten der Gläubiger“ abzuweichen, sofern dies nicht ausdrücklich im Gesetz gestattet ist. Klauseln, die diesen Grundsatz nicht beachten, sind demnach unwirksam. Denn sie sind von § 307 Abs. 3 Satz 2 BGB nicht gedeckt. Ob § 5 Abs. 1 Satz 2 SchVG darüber hinaus ein gesetzliches Verbot i. S. § 134 BGB enthält, ist zweifelhaft und wohl eher zu verneinen, weil die „im Zweifel“ gemäß § 139 BGB dann eintretende Gesamtnichtigkeit eine zu weitreichende, zweckwidrige Rechtsfolge wäre. Im Übrigen bleiben Anleihebedingungen der Inhaltskontrolle unterworfen, sofern sie Materien regeln, die das SchVG nicht behandelt. Die bereits oben (III. 1.) erwähnte Entscheidung des BGH vom Juni 2009 liefert ein Beispiel. Ein Emittent von Optionsscheinen hatte sich auf ein in den Emissionsbedingungen vorbehaltenes Recht zur einseitigen Abänderung im Fall eines offensichtlichen Irrtums berufen und das vorgesehene Bezugsverhältnis durch Nachtrag zum Verkaufsprospekt korrigiert. Der BGH hielt diese Klausel für nichtig, weil eine solche Änderungsmöglichkeit dem andern Vertragsteil unzumutbar sei, wenn sie keine Einschränkungen enthält, mithin auch den Umfang der Hauptleistung betrifft, und entgegen §§ 119 ff. BGB keine Entschädigungspflicht vorsieht34. Ein weiteres Beispiel bieten die im Derivatemarkt verwendeten Klauseln über die Folgen von irrtümlich fehlerhaft abgeschlossenen Geschäften („mistrade“). Sie gehören nicht zu den Anleihebedingungen, sondern zu den AGB der Wertpapierumsatzgeschäfte. Sie können eine bedenkliche Beschneidung der Chancen der Anleger auf die Erfüllung besonders vorteilhafter Geschäfte enthalten35. Nach BGH halten sie aber dann einer Inhaltskontrolle stand, wenn sie enge Fristen und den Ersatz des negativen Interesses vorsehen36.

__________ 33 Begr. RegE, BT-Drucks. 16/12814, S. 13. 34 BGH, WM 2009, 1500, 1502. 35 BGH, ZIP 2002, 1436 = WM 2002, 1687, 1688 (Nichtigkeit nach § 138 BGB verneint, Schadensersatz nach Irrtumsanfechtung gemäß § 122 BGB bejaht und Inhaltskontrolle nach AGB-Recht nicht vorgenommen, weil nicht veranlasst). Dazu krit. Koch, ZBB 2005, 265. Vgl. auch Tilp, Bankrechtstag 2007, 2008, S. 91 ff., 105 ff. 36 WM 2009, 1500, 1502 (obiter).

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Da das AGB-Recht grundsätzlich auf Anleihebedingungen anwendbar ist, folgt daraus auch die Anwendbarkeit des UKlaG und der darin vorgesehenen Instrumente kollektiven Verbraucherschutzes37. Gemäß §§ 1, 4a UKlaG kann im Wege der AGB-Verbandsklage der Verwender auf Unterlassung des Gebrauchs unwirksamer AGB-Klauseln in Anspruch genommen werden. Wegen Anleihebedingungen, die den §§ 5–21 SchVG entsprechen, wäre freilich eine solche Klage nicht begründet.

IV. Spezielles Transparenzgebot (§ 3 SchVG) 1. Eine spezielle Kontrollnorm § 3 SchVG enthält eine besondere Normierung des Transparenzgebotes hinsichtlich der versprochenen Leistung: das Leistungsversprechen muss durch einen sachkundigen Anleger ermittelt werden können. Die Vorschrift ist zwingend; sie gilt also unabhängig von einer Option der Emittenten für oder gegen ein Gläubigerorganisationsrecht (§§ 5–21 SchVG). § 3 SchVG tritt in seinem Anwendungsbereich an die Stelle des allgemeinen AGB-rechtlichen Transparenzgebotes des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB. Für die in § 1 Abs. 2 SchVG ausgenommenen Pfandbriefe und von der deutschen öffentlichen Hand emittierten oder gewährleisteten Anleihen gilt § 3 SchVG nicht. Diese unterfallen daher dem allgemeinen AGB-rechtlichen Transparenzgebot. Die Vorschrift des § 3 SchVG hat eine wechselvolle Vorgeschichte. Ein eigens normiertes Transparenzgebot findet sich schon im Vorentwurf von 200638, der zugleich einen Ausschluss der Anwendbarkeit des AGB-Rechts auf Anleihen vorsah39. Im Referentenentwurf 2008, der die zwingende Geltung des Gläubigerorganisationsrechts vorsah, aber einen Ausschluss des AGB-Rechts nicht mehr enthielt, ist ein eigenes Transparenzgebot nicht enthalten. Es ist erst danach endgültig ins Gesetz gelangt, vermutlich aufgrund entsprechender Hinweise in der Literatur, dass das allgemeine AGB-rechtliche Transparenzgebot des modernen AGB-Rechts weiterhin auf Anleihen anwendbar bleibt40. Damit ist die Stoßrichtung der Norm klar: die Ersetzung des allgemeinen Transparenzgebotes durch eine spezielle, marktfreundlichere bzw. emittentenfreundlichere Norm. 2. Das allgemeine Transparenzgebot Das allgemeine AGB-rechtliche Transparenzgebot wurde von der Rechtsprechung schon unter der Herrschaft des AGB-Gesetzes als wichtige Ergänzung

__________ 37 G über Unterlassungsklagen bei Verbraucherrechts- und anderen Verstößen v. 26.11. 2001, BGBl. I 2001, 3138, 3173, zul. geändert G zur Neuordnung des Pfandbriefrechts v. 22.5.2005, BGBl. I 2005, 1373, 1389. Zu kollisionsrechtlichen Aspekten der Klage nach § 4a UKlaG BGH v. 9.7.2009, ZGS 2009, 508 ff. 38 § 2 Abs. 3 Satz 1 RefVorE 2006. 39 § 2 Abs. 3 Satz 3 RefVorE 2006. 40 Horn, ZHR 173 (2009), 12, 39 f.

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zur Inhaltskontrolle nach § 9 entwickelt, und zwar gerade anhand der Praxis der Kreditinstitute im Hinblick auf sog. Preisnebenabreden, die den Umfang der Gegenleistung des Kunden (Zinsen, Gebühren, Kosten, Wertstellung, Tilgungsverrechnung) bestimmen41. Das Transparenzgebot ist heute Teil der gesetzlichen Regelung (§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB). Es gilt über die genannte Fallgruppe hinaus für alle AGB. Ferner gilt es auch dort, wo die übrige Inhaltskontrolle entfällt, weil die betreffende Klausel nicht von der gesetzlichen Regelung abweicht oder diese ergänzt (§ 307 Abs. 4 Satz 2 BGB). Eine Klausel, die das hauptsächliche Leistungsversprechen enthält, entspricht diesen Merkmalen und ist also gemäß § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB im Übrigen von der Inhaltskontrolle frei; sie unterliegt aber gleichwohl dem Transparenzgebot. Leistungsversprechen in Anleiheschuldverschreibungen sind AGB. Dabei ist die Abgrenzung von primärem Leistungsversprechen und sekundären Leistungsnebenabreden gerade bei den komplexen modernen Produkten der Finanzmärkte kaum möglich. Beides geht ineinander über. Die mangelnde Abgrenzbarkeit ist aber unschädlich. Das allgemeine Transparenzgebot würde, sofern es nicht durch § 3 SchVG ausgeschlossen wäre, in jedem Fall gelten. Die Rechtsfolge einer Verletzung des Transparenzgebotes ist die Unwirksamkeit der betreffenden Klausel gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 3 Satz 2 BGB. Nur ausnahmsweise tritt Unwirksamkeit des ganzen Anleiheverhältnisses ein (§ 306 Abs. 3 BGB). Im Regelfall bleibt das Verhältnis ohne die unwirksame Klausel im Übrigen bestehen (§ 306 Abs. 1, 2 BGB). Ist nur eine Klausel unwirksam, kann der Anleger die Leistung unter Nichtberücksichtigung der nichtigen Klausel, ggf. unter Vornahme einer Lücken füllenden Auslegung gemäß § 306 Abs. 2 BGB, fordern. Bei der (nur ausnahmsweise eintretenden) Unwirksamkeit des ganzen Rechtsverhältnisses kann der Anleger den Erwerbspreis gemäß § 812 BGB vom Emittenten zurückfordern, und zwar auch bei Zweiterwerb, weil er insofern in die Rechtsstellung des Ersterwerbers einrückt. Gegen den Emittenten kann ein Anspruch auch aus c.i.c. (§§ 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB) bestehen. Im typischen Fall des Erwerbs durch einen Finanzintermediär kommt ein Ersatzanspruch wegen Verletzung einer Aufklärungsund Beratungspflicht in Betracht. 3. Der reduzierte Schutz nach § 3 SchVG Maßstab für die Transparenz der Leistungsbeschreibung ist für § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB das Verständnis des typischen Durchschnittskunden42. Gegenüber dem besonders verbraucherfreundlichen Schutzniveau der früheren BGHRechtsprechung hat sich im deutschen und europäischen Kapitalmarktrecht

__________ 41 BGHZ 106, 42, 49 = NJW 1989, 222; BGHZ 106, 259, 264 = NJW 1989, 582; BGHZ 112, 115, 117 f. = ZIP 1990, 980; BGH, ZIP 1997, 496; Horn in Wolf/Horn/Lindacher, AGB-Gesetz, 4. Aufl. 1999, § 23 Rz. 630; Wolf in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGBRecht, 5. Aufl. 2008, § 307 BGB Rz. 235 ff. 42 Wolf in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 5. Aufl. 2008, § 308 BGB Rz. 245.

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das etwas reduzierte Schutzniveau des verständigen Anlegers durchgesetzt43. Der Gesetzgeber des SchVG hat das Schutzniveau weiter reduziert und bestimmt zum Maßstab den „Anleger, der hinsichtlich der jeweiligen Art von Schuldverschreibungen sachkundig ist“ (§ 3 SchVG). Vom allgemeinen verbraucher- und AGB-rechtlichen Schutzniveau des verständigen Anlegers unterscheidet sich die neue Vorschrift durch eine zusätzliche, doppelte Reduzierung. Maßstab ist hier der für den speziellen Geschäftstyp sachkundige Anleger, also der Spezialist. Außerdem genügt es, dass dieser sachkundige Anleger die versprochene Leistung „ermitteln kann“. Es ist also keine Rede davon, dass zumindest dieser Spezialist den Inhalt und Umfang der Leistung ohne weiteres erkennen können muss. Er muss ihn nur – mit einem gewissen Aufwand und ggf. unter Überprüfung mathematischer Formeln – ermitteln können. Das ist in der Tat eine deutliche Reduzierung des Anlegerschutzes durch den Gesetzgeber der neuen Norm. Der Gesetzgeber gibt dazu eine zwiespältige Begründung. Einerseits betont er die Schutzbedürftigkeit der Marktteilnehmer; die Finanzkrise habe gezeigt, dass die Bestimmung der Leistung bei manchen Schuldverschreibungen (z. B. manchen Basket-Zertifikaten) „selbst für professionelle Anleger schwierig“ sei44. Andererseits schraubt er die Anforderungen an die Transparenz herunter: es genügt, wenn ein sachkundiger Anleger sie ermitteln kann. Dabei könnten nach der Begründung „allgemein erwartbare Vorkenntnisse des jeweiligen Adressatenkreises bei der Abfassung der Bedingungen berücksichtigt werden45, eine Einschränkung, die im Gesetzeswortlaut keinen Anhaltspunkt findet bzw. diesem nichts hinzufügen kann. Es ist dem Gesetzgeber zuzugeben, dass gewisse objektive Schwierigkeiten einer transparenten Leistungsbeschreibung bestehen; dem wollte man Rechnung tragen. Das Ergebnis überzeugt aber nicht. Wörtlich genommen würde § 3 SchVG darauf hinauslaufen, dass der Anleger nur geschützt ware gegen Angebote, die definitiv rätselhaft bleiben. Die Dimension der Irreführung durch unklare Formulierungen über den „wahren“ (weil letztlich doch ermittelbaren) Inhalt bliebe ausgeklammert. Das wäre ein recht bescheidener Schutz und würde eine deutliche Privilegierung von (derivativen, strukturierten) Anleihen (Zertifikaten) gegenüber anderen Produkten auf den Finanzmärkten bedeuten, die nicht dem (weiten) Schuldverschreibungsbegriff des § 1 Abs. 2 SchVG unterfallen. Es bleibt abzuwarten, ob die Rechtsprechung nicht doch diesen Maßstab in der Anwendung durch eine Auslegung nach dem Schutzzweck korrigieren wird. Anzumerken ist noch, dass die Reduzierung des Schutzniveaus nur für Leistungsbestimmungen gilt. Gerade bei derivativen Produkten ist damit aber, wie bereits erwähnt, ein weiter Kreis von Klauseln erfasst. Für andere Klauseln gilt das allgemeine Transparenzgebot des § 307 BGB.

__________ 43 Veil, ZBB 2006, 162 ff., 167; Assmann/Schütze, Handbuch Kapitalanlagerecht, 3. Aufl. 2008, § 1 Rz. 53 ff., § 3 Rz. 3 ff., speziell zum „verständigen Anleger“ als Maßstab für die Prospekthaftung § 6 Rz. 87. Vgl. aus der Rspr. EuGH, GRUR Int. 1998, 798; ähnl. BGH, NJW 1996, 2161 f. in Abkehr von seiner früheren Rspr.; allg. Horn, Europäisches Finanzmarktrecht, 2003, S. 57. 44 Begr. RegE, BT-Drucks. 16/12814, S. 17. 45 Begr. RegE, BT-Drucks. 16/12814, S. 17.

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4. Schutzprobleme im Zertifikatemarkt Bei klassischen Anleihen, die nur eine verbriefte Kreditgewährung an den Emittenten darstellen, mit den klassischen Leistungspflichten des Schuldners zur Verzinsung der Hauptsumme und ihrer Rückzahlung bei Fälligkeit (Anleihe i. e. S.)46, wird das Transparenzprinzip als Instrument zum Schutz der Gläubiger in der Regel weder in seiner allgemeinen (AGB-rechtlichen) Form noch i. S. § 3 SchVG eine große Rolle spielen. Anders verhält es sich mit verbrieften Derivaten (Zertifikaten)47. Hier steht der Anleger einer unübersehbaren Produktvielfalt gegenüber und es ist für ihn oft kaum möglich, den genauen Inhalt der Rechte, die ihm angeboten oder scheinbar angeboten werden, zu ermitteln48. Zertifikate enthalten oft Leistungsbeschreibungen, die aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt („strukturiert“) sind49. Eine bedeutende Untergruppe des Zertifikatemarktes bilden die sog. Hebelprodukte, die – im Gegensatz zu Anlageprodukten – ein kumuliertes Risiko enthalten und einen hohen Gewinn bei hohem Verlustrisiko versprechen, weil der Einsatz überproportional an Schwankungen des Basiswertes teilnimmt50. Als besonders risikoreich erwiesen sich auch die sog. „gedeckten“ (strukturierten) Anleihen. Die Grundidee besteht hier darin, dass man einen besonderen Fonds von Vermögensgegenständen bildet, der die Rechte der Anleihegläubiger sichern soll. Dies ist in der Tat die Grundidee auch des deutschen Pfandbriefs, der sich in einer langen Praxis den Ruf einer besonders zuverlässigen Anlage erworben hat; er ist gemäß § 1 Abs. 2 SchVG vom Anwendungsbereich des SchVG ausgenommen. Die jüngere US-amerikanische Finanzmarktpraxis hat das Instrument der gedeckten Anleihe (asset backed securities – ABSs –; collateralized debt obligations – CDOs –) jedoch zu einer irreführenden, risikoreichen Anlageform pervertiert, was angesichts des riesigen Volumen des Marktes dieser Produkte51 zu einem Auslöser der globalen Finanzkrise wurde52. Die eklatanten Schwächen der Produkte lagen darin, dass in den Anleihebedingungen jede direkte Haftung des Emittenten, regelmäßig ohnehin finanzschwache Zweckgesellschaften, ausgeschlossen und die Haftung auf die Erlöse aus dem unterlegten Forderungsportfolio beschränkt wurde, während gleichzeitig wenig werthaltige Forderungen in das Portfolio gelangten. Die Banken verkauften diese riskanten Kreditforderungen an die von ihnen selbst gegründeten Zweck-

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46 Zu diesem traditionellen Anleihebegriff als „Anleihe i. e. S.“ Horn, ZHR 173 (2009), 17. 47 Zu den begrifflichen Abgrenzungen der Praxis, die nicht sehr stringent gehandhabt werden, Horn, ZHR 173 (2009), 20 f. 48 Vgl. Birnbaum/Philipp, Bankrechtstag 2007, 2008, S. 77 ff. 49 Beispiel bei Kienle/Furlan, Bankrechtstag 2007, 2008, S. 300 f.: Discountzertifikat als Kombination von Aktie und Call-Option oder aus Nullkuponanleihe und Put-Option. 50 Die Zahl der in Deutschland gehandelten Hebelprodukte wurde von Kienle/Furlan (Fn. 49), S. 127, für 2007 mit über 90000, die der Anlageprodukte mit über 100000 angegeben. 51 Allein 2006 wurden CDOs im Umfang von 560 Mrd. emittiert; Fender/Tarashev/Zhu, BIS Quarterly Review, March 2008, S. 87 ff. 52 Institute of International Finance (IIF) (Hrsg.), Report on Market Best Practices 2008; Hartmann-Wendels, FLF 2008, 252 ff.; Horn, BKR 2008, 452 ff.

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gesellschaften; diese bezahlten mit den Geldern, die sie beim Verkauf der Anleihezertifikate von den Anlegern einnahmen. Auf diese Weise wurden die Banken das Kreditrisiko los. Nur ein Beispiel für risikoreiche Kreditforderungen bilden die zu unrühmlicher Bekanntheit gelangten privaten Hauskredite, die an finanzschwache Privatleute unter Ausschluss von deren persönlicher Haftung vergeben wurden und für die nur die Hausimmobilie gemäß einer Hypothek haftete, wobei diese Immobilie grob überbewertet war. Diese hier nur knapp skizzierten Phänomene sind inzwischen der Öffentlichkeit aufgrund des schmerzlichen Lernprozesses, den die globale Finanzkrise ausgelöst hat, zumindest in den groben Zügen bekannt. Sie machen deutlich, wie schwer bei derivativen Anleihen (Zertifikaten) der genaue Inhalt des Leistungsversprechens für den durchschnittlichen, auch den verständigen Anleger, teilweise selbst für Banken und Finanzdienstleister, zu durchschauen sind. Der Markt für Derivate, auch für derivative Anleihen, ist keineswegs infolge der Krise eingetrocknet, sondern lebt kräftig weiter. Wenn man seine Fehler, Übertreibungen und Betrügereien ausschalten kann, kann er auch durchaus vernünftige wirtschaftliche Zwecke der Risikostreuung und Risikoabsorption erfüllen. Um so dringlicher stellt sich daher die Frage nach einem angemessenen Anlegerschutz. Es gibt Bemühungen der Derivatebranche, die Klarheit der Produkte zu fördern, indem man sie nach Risiko bewertet (value at risk) und verschiedenen Risikoklassen zuordnet53. Die Erfahrung lehrt aber, dass solche freiwilligen Bemühungen oft nach einer gewissen Zeit erlahmen, wenn die öffentliche Aufmerksamkeit nachlässt, und dass solche Bemühungen auch die Schutzprobleme nicht allein lösen können, sondern dass ein gewisser Druck in Gestalt rechtlicher Maßstäbe heilsam ist. Dabei könnte auch das Transparenzgebot mit dem Ziel einer anlegerfreundlichen Leistungsbeschreibung durchaus eine wichtige Rolle übernehmen. Ob dies angesichts des erörterten, reduzierten Schutzniveaus des § 3 SchVG gelingt, ist fraglich. Man kann nur hoffen, dass die Gerichte mit einer teleologischen Auslegung der Vorschrift gegensteuern.

V. Transparenzpflichten nach WpHG bei Falschberatung Der Gesetzgeber suchte der Aufgabe einer im Interesse der Anleger verbesserten Transparenz an anderer Stelle nachzukommen, indem er – außerhalb des SchVG – die Rechte der Anleger bei der Anlageberatung stärkt. Das Neuregelungsgesetz, dessen Art. 1 das neue SchVG enthält, sieht in Art. 4 auch Änderungen des WpHG vor. Hervorzuheben ist hier die Pflicht von Wertpapierdienstleistungsunternehmen zur Protokollierung des Beratungsgesprächs mit dem Kunden und zur Übermittlung des Protokolls an diesen (§ 34 Abs. 2a, 2b WpHG). Der Gesetzgeber verspricht sich hiervon eine bessere Durchsetzbarkeit von Ersatzansprüchen der Anleger in Fällen einer fehlerhaften Beratung54.

__________ 53 Vgl. www.deutscher-derivate-verband.de. 54 Begr. RegE, BT-Drucks. 16/12814, S. 14.

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Anlegerschutz und neues Schuldverschreibungsrecht

VI. Verjährung Die Verjährung von Schadensersatzansprüchen wegen schuldhafter Verletzung von Beratungspflichten wird den allgemeinen Verjährungsvorschriften der §§ 195 ff. BGB unterstellt. Zu diesem Zweck wurde die bisher geltende spezielle Verjährungsnorm des § 37a WpHG abgeschafft (Art. 4 Nr. 5 NeuregelungsG). § 37a WpHG war von Anfang an umstritten und warf zahlreiche Zweifelsfragen hinsichtlich der Voraussetzungen seiner Anwendung auf, die auch nach einem klärenden Urteil des BGH55 nicht ganz ausgeräumt waren; auch blieb der rechtspolitische Sinn der Vorschrift weiter umstritten56. Durch die neu eingeführte Anwendbarkeit des allgemeinen Verjährungsrechts wird der Beginn der dreijährigen Verjährungsfrist an die Kenntnis des Anlegers angeknüpft. Denn dieser kann oft erst nach Jahren erkennen, dass er falsch beraten wurde. Diese Anpassung ist auch wegen der Ähnlichkeit der Ansprüche mit anderen Ansprüchen aus fehlerhafter Beratung gerechtfertigt57.

VII. Zusammenfassung Es war nicht das primäre Ziel des SchVG, den Anlegerschutz der Anleihegläubiger zu fördern. Angesichts der globalen Finanzkrise und der dabei namentlich am Derivatemarkt aufgetretenen Missstände, insbesondere der Intransparenz vieler Produkte, konnte und wollte der Gesetzgeber aber auch in diesem Punkt nicht untätig erscheinen. Er hat daher im Neuregelungsgesetz begrenzte Verbesserungen im Bereich der Anlageberatung durch Änderungen des WpHG unternommen. Ob im Bereich des SchVG ein gegenüber dem vorherigen Rechtszustand verbesserter Anlegerschutz erreicht werden konnte, ist insgesamt eher offen. Es hängt u. a. davon ab, ob man die Gläubigerorganisation in der Praxis auch zur Verteidigung und Wahrung der Gläubigerrechte bei Anpassungsbedarf einsetzt; dies setzt die rechtzeitige Bestellung unabhängiger und qualifizierter Gläubigervertreter voraus. Einen in der Praxis mit Misstrauen betrachteten, im Ganzen aber wohl unentbehrlichen Schutz gegen gesetzes- oder vertragswidrige Mehrheitsbeschlüsse der Gläubiger bietet das Anfechtungsrecht nach § 20 SchVG. Die AGB-Kontrolle der Anleihebedingungen besteht in dem Umfang fort, als das Gesetzesrecht der §§ 5–21 SchVG nicht die Klauseln gemäß § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB davon ausnimmt. Auch das Transparenzgebot greift ein; das allgemeine Transparenzgebot ist allerdings durch § 3 SchVG hinsichtlich des Leistungsversprechens im Schutzniveau reduziert. § 3 SchVG kann gleichwohl gegen die gerade auf dem Derivatemarkt bestehenden Unklarheiten der Produkte eine Schutzwirkung entfalten, falls er konsequent seinem Schutzzweck entsprechend angewendet wird.

__________ 55 BGHZ 162, 306= BGH, ZIP 2005, 802 = NJW 2005, 1579. 56 Krit. Balzer in FS Horn, 2006, S. 649 ff. 57 Begr. RegE, BT-Drucks. 16/12814, S. 16.

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Strategische Individualabreden Grenzgänge im AGB-Recht am Beispiel von Wohnungsübergabeprotokollen, Zusatzabreden und Geschäftsanweisungen

Inhaltsübersicht I. Si vis pacem para bellum II. Protokolle in der Miete 1. πρωτσκολλον 2. Protokollinhalte a) Quittungsfunktion, Gegenrechte b) Beweiserleichterung c) Schuldbestätigung d) Novation 3. Beweislastverschiebung 4. Verzicht III. „Flucht“ des Vermieters ins Übergabeprotokoll 1. Überraschungsverbot, Lesbarkeit

2. „Leitbilder“, geltungserhaltende Reduktion 3. Zusatzabrede a) Vertragsparität b) Dekorationskontext c) BGH, NJW 2009, 1075 d) Strategische Individualabreden 4. Umgehungsverbot a) Ein „ungewolltes Kind“ b) Geschäftsanweisung c) Übertragung ins Mietrecht 5. Nichtigkeit und Bestätigung (§§ 139, 141 BGB) 6. Sonstige Kontrollinstitute IV. Epilog

I. Si vis pacem para bellum Das lateinische Sprichwort ungesicherter Herkunft („Wenn Du Frieden willst, rüste zum Krieg“) steht in meinem Fahrradhelm. Als „sportlich ambitionierter Fahrer“ soll ich solchen – bei Meidung einer Mithaftung – nach nicht unumstrittener1 Rechtsprechung2 tragen, so als böten sich Brustpanzer für Tennisspieler am Netz an. Frei übertragen auf die Situation des Rennradlers ist wohl gemeint: „Wenn Du Sicherheit willst, setz mich auf“. Rechtssicherheit ist ein hohes Gut. Der Rechtsanwalt, dem „sichersten Weg“ verpflichtet, bekommt Sorgenfalten, der AGB-Rechtler weiß: Das Schwarze ist nur zu oft das Weiße nicht wert. Nicht einmal vor überraschenden Kehrtwendungen in der Rechtsprechung zu vormals dort „geprüften AGB“ ist man gefeit3. „Wenn Du Ruhe willst, greif zur Individualabrede“ – eine solche Über-

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1 Mit Verweis auf – offensichtliche – Defizite in der Begrifflichkeit und die Mängel der Einzelfallgerechtigkeit Türpe, VerkehrsRechtsReport (VRR) 2008, 204. 2 OLG Saarbrücken, NJW-RR 2008, 266; in der Revision zu OLG Düsseldorf, NJW 2007, 3075, kam es hierauf nicht an (BGH, r + s 2009, 79 = MDR 2009, 203; dazu Heß/ Burmann, NJW 2009, 899 [900]). A. A. noch OLG Hamm, NZV 2002, 129. Zum Motorradfahrer mit Helm ohne Schutzkleidung OLG Brandenburg, MDR 2009, 1274. 3 BGH, NJW 2008, 1438 (Quotenabgeltung in Dekorations-AGB).

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tragung fände breite Zustimmung. Doch ist sie schwer herstellbar, viel schwerer jedenfalls, als die Verwendung des Begriffs in der Praxis – zuweilen leichthin4 – vermuten lässt. Die Individualabrede nach §§ 305 Abs. 1 Satz 3, 305b BGB gleicht dem sprichwörtlichen „scheuen Reh“5. Wes Wunder also, dass Verwenderstrategien entwickelt werden; sie stehen hier auf dem Prüfstand.

II. Protokolle in der Miete 1. πρωτσκολλον Der Begriff Protokoll ist im deutschen Wortschatz seit dem 16. Jahrhundert nachweisbar: Lateinisch protocollum, griechisch πρωτσκολλον (aus πρωτος „erster“ und κσλλοα, „Leim“) mit der Ursprungsbedeutung (den amtlichen Papyrusrollen) vorgeleimtes Blatt mit bibliografischen Daten, dem heutigen Aktendeckel vergleichbar. Später übertrug sich der Begriff auch auf andere chronologische Aufzeichnungen6. In der Miete bezweckt das Übergabeprotokoll zunächst zu dokumentieren, „dass der Vermieter seiner Verpflichtung entsprochen hat, ein mangelfreies Objekt zur Verfügung zu stellen“7 (§ 536 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 BGB) und „späteren Streit über Vorhandensein und Art von Schäden zu vermeiden“8. Es bescheinigt gewöhnlich Tatsächliches zu Mietbeginn oder am Mietende (§ 546 Abs. 1 BGB), dann Rückgabeprotokoll. Die Situation des Mietendes wird – rechtsgestaltend – üblicherweise im Mietvertrag bzw. in dessen AGB vorweggenommen. Protokolle kommen auch im laufenden Mietverhältnis zum Einsatz, etwa wenn in gemeinsamer Begehung9 der konkrete Dekorationsbedarf einer Wohnung festgehalten werden soll oder sich der Vermieter10 einen Überblick über ein vom Mieter gerügtes Schadensbild verschafft und dieses niedergelegt wird (Zustandsprotokoll).

__________ 4 BGH, NJW 2009, 1075 m. Anm. Kappus; kritisch auch Derleder, NZM 2009, 227; BGH, NJW 2009, 1410 Rz. 9 (Vorrang einer von zwei konkurrierenden Klauseln als Individualabrede?). 5 Graf von Westphalen, NJW 2009, 2355, 2362; NJW 2009, 2977. 6 Formuliert nach Wikipedia. Zum (speziellen) Hauptversammlungsprotokoll nach § 130 AktG instruktiv BGH, NJW 2009, 2207. Zur „Zustandsfeststellung von Teilen der Leistung“ mit Protokollpflicht s. § 4 Nr. 10 VOB/B. 7 Langenberg, Schönheitsreparaturen, 3. Aufl. 2008, Teil IV Rz. 64 (S. 293); KG, NZM 2008, 576. 8 Zum Pachtvertrag BGH, NJW 1983, 446, 448 (unter VI.), insoweit in BGHZ 85, 267, nicht abgedruckt (die Auslassung ist dort nicht kenntlich gemacht). 9 Ein turnusmäßiges Besichtigungsrecht kraft AGB verneint LG München II, NZM 2009, 277. 10 Das „Der Vermieter steht vor der Tür: Was nun?“ bei Horst, Mietrecht kompakt 2008, 167, erinnert an Frage 5 der Anlage zur EinbürgerungstestVO v. 5.8.2008, Anlagebd. z. BGBl. I Nr. 35 v. 8.8.2008, S. 6: „Wen müssen Sie in Deutschland auf Verlangen in Ihre Wohnung lassen“ mit den Antwortvorschlägen „Postbote/Vermieter/ Nachbar/Arbeitgeber“! Zur Mitnahme Dritter s. Lützenkirchen, NJW 2007, 2152.

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2. Protokollinhalte a) Quittungsfunktion, Gegenrechte Man darf Übergabe- und Rückgabeprotokoll qualifizieren als Quittung entsprechend § 368 BGB11 über die (ordnungsgemäße) Hin- oder Rückgabe der Mietsache. Der Vorgang ist einem einheitlichen Formular durchaus zugänglich12. Ob der Mieter angesichts des Protokollinhalts mit späteren Einwendungen ausgeschlossen ist13 oder diesem bloß – freilich nicht durchgängig14 – die Funktion eines widerlegbaren Beweisanzeichens innewohnt15, ist streitig. Maßgeblich sind die Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung von Verkehrsanschauung16 und Lebenserfahrung17. Angesichts der üblichen Protokollfunktion im Geschäftsverkehr wird man dabei grundsätzlich zurückhaltend verfahren und dem Mieter alle Einwendungen und Einreden erhalten müssen, die nach dem Protokollinhalt nicht sicher ausgeschlossen sind18. So hat der BGH19 selbst einer Übergabeprotokollformulierung „die Räume werden wie gesehen übergeben“ keinen Inhalt dahingehend beigemessen, dem Mieter sei das Fehlen eines für den Betrieb einer Wasch- oder Spülmaschine geeigneten Stromkreises bei Vertragsabschluss bekannt gewesen. b) Beweiserleichterung Beschränkt sich der Protokollinhalt darauf, einzelne Mängel nach Art und Umfang zu beschreiben bzw. die Mängelfreiheit einzelner Räume/Einrichtungen

__________ 11 Sternel, Mietrecht aktuell, 4. Aufl. 2009, IX Rz. 200. 12 Beispiel Deutscher Mieterbund (Muster ansteuerbar unter http://www.mieterbund. de/fileadmin/pdf/mietvertrag/uebergabe_protokoll.pdf). 13 So für das Übergabeprotokoll Blank/Börstinghaus, Miete, 3. Aufl. 2008, § 538 BGB Rz. 5, für das Rückgabeprotokoll (bei Rz. 6) aber differenzierend (insbesondere könne geltend gemacht werden, dass die Schäden bereits bei Mietbeginn vorhanden waren oder vom Mieter nicht zu vertreten seien); für das Rückgabeprotokoll soll nach Lehmann-Richter, ZMR 2006, 833, 837, wenigstens der Einwand ausgeschlossen sein, die im Protokoll aufgeführten Mängel bestünden nicht. 14 Langenberg in Schmidt-Futterer, Mietrecht, 9. Aufl. 2007, § 538 BGB Rz. 396, differenziert danach, ob der Mieter zusätzlich zu den bei Rückgabe getroffenen Feststellungen und explizit erklärt hat, für die festgestellten Mängel einstehen zu wollen; dann sei er mit Einwendungen gegen den Schuldgrund, nicht aber gegen die Höhe der beim Vermieter angefallenen Kosten ausgeschlossen. 15 So zum Rückgabeprotokoll Emmerich, NZM 2000, 1155, 1162 („in der Regel“); zum Übergabeprotokoll (für das „die Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit der abgegebenen Erklärungen streitet“) OLG Düsseldorf, NJW-RR 2004, 300. 16 Das betonend BGHZ 66, 250, 255 = NJW 1976, 1259 (zur Unfallversicherung). 17 Instruktiv BGH, NJW 1973, 2019 (zum in einer „Abtretungsannahme“ liegenden Umfang des Verzichts auf Einwendungen über versteckte Baumängel). 18 S. schon LG Berlin, ZMR 1992, 25 (nicht zum Grund, aber zur Höhe der vom Vermieter geltend gemachten Ansprüche). Allein die Feststellung eines bestimmten Schadensbildes sagt über den Verursacher/Verantwortlichen zur Schadensbeseitigung nichts aus; so kann ein Schaden auch von einem vom Vermieter zu Beseitigung eines gerügten Mangels geschickten Handwerker verursacht worden sein. 19 NJW 2004, 3174 (Erfüllungsanspruch des Mieters aus § 535 Abs. 1 Satz 2 BGB bleibt erhalten). S. weiter OLG Stuttgart, NJW-RR 1987, 143.

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zu verzeichnen, wohnt ihm kein „rechtsgeschäftlicher Gehalt“, keine materiell-rechtliche Regelung für das Schuldverhältnis inne. Das Protokoll bewirkt als „Zeugnis des Anerkennenden gegen sich selbst“20 bestenfalls eine Umkehr der Beweislast im Prozess bzw. stellt ein Indiz dar, das dem Beweis des Gegenteils zugänglich bleibt (Beweiserleichterungsanerkenntnis21). Dahin, namentlich unter Beachtung der Verkehrsanschauung, gehen Formulierungen der Art, der Mieter habe die Schönheitsreparaturen in der näher beschriebenen Art und Weise in einzelnen oder allen Räumen nicht ordnungsgemäß ausgeführt. Eine rechtliche Verantwortlichkeit des Mieters zur Mängelbeseitigung muss dann außerhalb des Protokolls gesucht und gefunden werden, nämlich im Mietvertrag einschließlich – wirksamer – AGB oder im Gesetz. c) Schuldbestätigung Um den Protokollinhalt als deklaratorisches Schuldanerkenntnis („Feststellung des Ausgangsschuldverhältnisses“22) qualifizieren zu können, muss sein Inhalt über die reine Beweisfunktion hinausgehen. Die Parteien müssen „mit der Vereinbarung das Schuldverhältnis insgesamt oder in einzelnen Bestimmungen dem Streit oder der Ungewissheit entziehen wollen“23. Darauf freilich wird der Protokollinhalt nach der Intention der Mietvertragsparteien regelmäßig nicht gehen: Sie wollen nicht das „Warum“ der Dekorationspflicht, sondern nur das „Wie“ des – auch dekorativen – Zustands der Mieträume festhalten. Ohne „Befriedungsfunktion“ bzw. Nähe zum Vergleich in rechtlicher Hinsicht24 wohnt dem Protokoll kein über die Beweiserleichterung hinausgehendes Moment inne, was gern übersehen wird25: So etwa in dem Fall, dass dem von beiden Mietvertragsparteien unterschriebenen Rückgabeprotokoll ein detailliertes Leistungsverzeichnis über die vom Mieter vorzunehmenden Dekorationsarbeiten anhing26. Dass dies in beiderseitiger Verkennung der Rechtslage – wirksame Dekorationspflicht des Mieters unterstellend – geschieht, genügt nicht27. Somit liegt auch im Protokollabreden-Fall BGH, NJW 2009, 1075, kein deklaratorisches Schuldanerkenntnis vor: Zu Beginn ihres Mietverhältnisses gab es

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20 BGHZ 66, 250, 254 = NJW 1976, 1259. 21 Feldhahn in Prütting/Wegen/Weinreich, 4. Aufl. 2009, § 546 BGB Rz. 10 = in Elzer/ Riecke, Mietrechtskommentar, 2009, § 546 BGB Rz. 10; Heintzmann in Soergel, 13. Aufl. 2007, § 538 BGB Rz. 21. Für vorbehaltlose Zahlung auf die Betriebskostennachforderung Milger, NZM 2009, 497. 22 BGH, NJW 2003, 2386, 2388. 23 Formulierung nach BGH, NJW 1995, 960. 24 Ausführlich Lehmann-Richter, ZMR 2006, 833. 25 Z. B. bei Heilmann in Deppen/Heilmann, Prozesse in Mietsachen, 2008, Kap. 7 Rz. 233 (S. 831); richtig zuletzt AG Hildesheim, NJW-RR 2009, 1613. 26 LG Berlin, ZMR 1992, 25. 27 Ausdrücklich LG Rostock, WuM 2000, 414 (zu DDR-Mietvertrag; § 104 Abs. 1 Satz 2 ZGB-DDR legte die Durchführung der notwendigen Malerarbeiten, d. h. solcher Arbeiten, die erforderlich waren, um die Bausubstanz und die Einbauten vor Schäden zu bewahren oder hygienisch einwandfreie Verhältnisse im Hause zu erhalten, dem Mieter auf; sonstige [Dekorations-]Arbeiten waren in dessen Ermessen gestellt).

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keinen Streit; die Parteien dokumentierten vielmehr nur, dass der Mieter die Wohnung vom Vormieter in renoviertem Zustand übernahm. Zudem war der Mieter kraft Formularvertrags unabhängig von der Dauer des Mietverhältnisses endrenovierungszuständig („Instandsetzung“ genannt). Selbst wenn die Protokollabrede „verpflichtet sich“ lautet, liegt eine Deutung als selbstständiger Schuldgrund fern28. Nach der maßgeblichen Verkehrsanschauung näher liegt es anzunehmen, dass der Abrede eine „Bestätigungsfunktion“ – ein „Doppeltgemoppelt“ – innewohnt, weil der Mieter in der maßgeblichen Vorstellung des den Formularvertrag verwendenden Vermieters ohnehin kraft Mietvertrags „verpflichtet war“. d) Novation Eine Qualifikation des Abnahmeprotokolls als abstraktes (konstitutives) Schuldversprechen bzw. Schuldanerkenntnis, d. h. das Schaffen eines von den sonstigen vertraglichen Bindungen der Mietvertragsparteien losgelösten Schuldgrundes im Sinn einer Novation29 (§§ 780, 781 BGB), wird nur ausnahmsweise gelingen30. Dagegen spricht schon die Gestaltung als „Protokoll“, also einer erkennbar auf das Mietverhältnis und dessen „Rechtsordnung“ abstellenden (Tatsachen-)Urkunde31. 3. Beweislastverschiebung Bei Verwendung vorformulierter Protokolle kommt ein Verstoß gegen § 309 Nr. 12 BGB („Beweislast“) nicht in Betracht, weil im Interesse der Vertragsparteien an einvernehmlicher Streiterledigung oder -vermeidung §§ 307 ff. BGB nicht entgegenstehen32. 4. Verzicht Zu Gunsten des Mieters wird dem Rückgabeprotokoll im Einzelfall Verzichtswirkung im Sinn von § 397 Abs. 2 BGB (negatives Schuldanerkenntnis) beigemessen, etwa wenn der Vermieter den dekorativen Zustand der Wohnung

__________ 28 Dahin könnte Beierlein in ders./Kinne/Koch/Stackmann/Zimmermann, Der Mietprozess, 2006, Kap. 9 Rz. 118 zu verstehen sein (expressis verbis für den Fall, dass der Mieter im Protokoll zusätzlich erklärt, er werde „für die Kosten der Renovierung und Schadensbeseitigung aufkommen“; ähnlich Scheuer in Bub/Treier, Hdb. d. Geschäfts- u. Wohnraummiete, 3. Aufl. 1999, V Rz. 192. 29 BGH, NJW 1976, 2019. 30 BGH, NJW 2006, 2116 Rz. 18; LG Lüneburg, NZM 2007, 770 (ohne zwischen deklaratorischem und konstitutivem Schuldanerkenntnis – lediglich letzteres wird mangels Streits der Mietvertragsparteien verneint – zu unterscheiden). Bejaht von LG Berlin, ZMR 2000, 535 (zur Verpflichtung des weichenden Mieters im „Abnahmeprotokoll“, einen „neuen funktionsfähigen Herd, und zwar bis zum nächsten Tag, zu stellen“). 31 LG Rostock, WuM 2000, 414, 415. 32 BGH, NJW 2003, 2386, 2388; zustimmend Lehmann-Richter, ZMR 2006, 833, 837.

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nicht beanstandet hat33. Teilweise wird diese Ausschlusswirkung dem Verbot widersprüchlichen Verhaltens in § 242 BGB entnommen34. Beides wird man mit Verkehrsanschauung und Lebenserfahrung in Einklang bringen können: Denn der dekorative Zustand der Wohnung steht buchstäblich „an der Wand“ und der Mieter darf erwarten, das der Vermieter sein Missfallen bekundet, widrigenfalls jener „zufrieden“, also die Rückgabeverpflichtung aus § 546 Abs. 1 BGB als erfüllt quittiert ist (entsprechend § 368 BGB). Zurückhaltung ist geboten35 in der Frage, ob der Vermieter verborgene Mängel hätte erkennen bzw. sich mit Sachverständigenrat hätte versehen müssen36: Der redliche Mieter wird von einem „Privatvermieter“ in dieser Hinsicht nicht viel erwarten dürfen, beim professionellen Vermieter hingegen kann er den notwendigen Sachverstand ohne weiteres unterstellen.

III. „Flucht“ des Vermieters ins Übergabeprotokoll Vermieter mögen sich findig wähnen, wenn sie im Übergabeprotokoll vom Mietvertrag und dessen AGB abweichende Regelungen unterbringen. Gerade Fälle, in denen der Ursprungsmietvertrag (mit vom Vermieter womöglich als unwirksam erkannten Dekorationsklauseln) mit einem Nachmieter fortgeführt werden soll, scheinen verlockend. Die aus dem Prozessrecht stammende Figur der „Flucht in die Säumnis“ ist man geneigt umzumünzen in „Flucht in das Übergabeprotokoll“37. Neu ist die Idee nicht: In einem Verbandsklageverfahren aus 1986 taucht schon die Empfehlung eines Haus- und Grundbesitzervereins auf, sich die Mietvertrags-AGB in einem Zusatzformular als „erläutert“, „besonders besprochen“ oder gar als „ausführlich erörtert und gebilligt“ bzw. „ausdrücklich anerkannt“ quittieren zu lassen. Das OLG Stuttgart38 hat, neben dem Verweis darauf, dass in solchen Formulierungen nicht notwendig das „im Einzelnen Aushandeln“ (jetzt § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB)

__________ 33 KG, GE 2003, 524 (jedenfalls für offenbare bzw. wahrnehmbare Mängel); LG Hamburg, NZM 1999, 838. Dazu auch Emmerich, NZM 2000, 1155, 1162; Heintzmann in Soergel (Fn. 21), § 538 BGB Rz. 21; s. schon Sonnenschein in Staudinger, 1995, § 556 BGB (a. F.) Rz. 17 a. E. (= wörtlich Rolfs in Staudinger, 2006, § 546 BGB Rz. 21 a. E.). 34 Sternel (Fn. 11), XIII Rz. 33 a. E. (S. 1645). 35 Instruktiv BGH, NZM 1999, 371 (Einzelfall einer vom Vermieter am Mietende erteilten Generalquittung: „keinerlei Ansprüche, gleich aus welchem Rechtsgrund“). 36 So für gewerbliche Miete/Pacht BGH, NJW 1983, 446, 448 (insoweit in BGHZ 85, 267, nicht abgedruckt [in der Sache kam es hierauf nicht an, weil die Schäden nicht nur vom Fachmann zu erkennen waren]); LG Hamburg, NZM 2001, 339 (Altlastenverdacht war im Protokollerstellungszeitpunkt beiden Vertragsteilen bekannt). S. weiter LG München I, NZM 2003, 714 L. Ohne Differenzierung nach der Professionalität des Vermieters für Pflicht zum Zuziehen eines Fachmanns Heintzmann in Soergel (Fn. 21), § 538 BGB Rz. 21; a. A. Kandelhard in Herrlein/ders., Mietrecht, 3. Aufl. 2007, § 546 BGB Rz. 39 (nur Laienverständnis). 37 Zur „Flucht der Verwender von AGB in die Individualabrede“ s. schon Willemsen, NJW 1982, 1121. 38 NJW-RR 1987, 143. S. auch BGH, NJW 1977, 624 (zu dem – gesondert unterschriebenen, gleichwohl unbehelflichen – Formularzusatz zum Maklervertrag, „die Vertragsbedingungen seien in allen Einzelheiten ausgehandelt worden“).

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zum Ausdruck komme, eine unzulässige Verschiebung der Beweislast gesehen (jetzt § 309 Nr. 12b BGB). In der Diskussion zur Veranstaltung „Heilungsvereinbarungen bei Nichtigkeit von Mietvertragsklauseln“39 des 11. Deutschen Mietgerichtstags 2009 wurde von folgender – angeblich von Instanzgerichten geteilter – Taktik berichtet: Unter den Bedingungen eines Vermietermarkts zeigt sich der Vermieter zum Vertragsabschluss nur gegen zulässigen40 Kündigungsrechtsverzicht des Mieters bereit. Später, ideal bei Wohnungsübergabe, gibt er sich „generös“ und bietet ein Abgehen von der Verzichtsabrede an, falls eine – über AGB nicht wirksam begründbare – Dekorationslast des Mieters vereinbart (und im Übergabeprotokoll festgehalten) wird. 1. Überraschungsverbot, Lesbarkeit Ist eine Abrede im Übergabeprotokoll als AGB i. S. von § 305 Abs. 1 Satz 1 BGB respektive § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB („Einmalklausel“ im UnternehmerVerbraucherverkehr41) zu qualifizieren, wird die Klausel regelmäßig schon an der Einbeziehungskontrolle scheitern: Denn „nach dem äußeren Erscheinungsbild des Vertrags“, d. h. hier dem den Mietvertrag partiell abändernden Übergabeprotokoll, sind Dekorations-AGB im Übergabeprotokoll, was ein Blick in gängige Muster erhellt, „so ungewöhnlich, dass der Vertragspartner des Verwenders mit ihnen nicht zu rechnen braucht“, § 305c Abs. 1 BGB (verbotenes Unterschieben): Denn solche enthalten keine auf die rechtliche Ausgestaltung des Mietverhältnisses zielenden Abreden42, sondern erfüllen die ihnen vom Rechtsverkehr zugedachte Funktion der Dokumentation des Zustands der Mietsache bei Übergabe (s. II.). Anders Rückgabeprotokolle43: Hier werden durchaus Musterformulierungen vorgeschlagen, über die unabhängig von einer wirksamen Überwälzung der Dekorationslast auf den Mieter entsprechende Pflichten eingegangen werden können (§ 781 BGB); richtig wird dabei angemerkt, dass der vorformulierte Einsatz solcher Protokollinhalte der Klausel-

__________ 39 Einführungsreferat Klimke, WuM 2010, 8. 40 Überblick bei Börstinghaus, NJW 2009, 1391. 41 Den Unterschied zwischen Individualabrede und Einmalklausel im gegebenen Zusammenhang verkennend Theesfeld, MietRB 2009, 212, 215. 42 KG, NZM 2008, 576. – Aus der Formularpraxis z. B. DMB-Muster (Fn. 12), ein Textfeld „Bemerkungen – Sonstiges“ mit einer einzigen Zeile zum Ausfüllen enthaltend); http://www.wohnungsboerse.net/files/Uebergabeprotokoll.pdf („Vereinbarungen“, fünf Zeilen zum Ausfüllen). Das war auch in der Vergangenheit der Fall; s. das Muster „Mietvertrag“ des GdW Bundesverband deutscher Wohnungsunternehmen e.V. Stand Januar 2003, S. 13 f. („Bemerkungen zum Zustand der Mietsache“, drei Zeilen zum Ausfüllen, dito für „Das Wohnungsunternehmen verpflichtet sich, die folgenden Arbeiten bis zum … auszuführen:“). 43 Unter http://www.schoenheitsreparaturen.de/uebergabe-protokoll/ ist ein ausführliches Muster ansteuerbar, das sich auch zu Schönheitsreparaturen verhält. Bei Langenberg (Fn. 7), S. 315 ff., ist ein ausführliches, ausgefülltes Muster abgedruckt.

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kontrolle44 unterliegt und der Mieter „grundsätzlich nicht damit rechnen (müsse), dass in einem Übergabeprotokoll (= Rückgabeprotokoll nach hiesiger Terminologie) eine formularmäßige umfangreiche Renovierungsverpflichtung enthalten ist“45. Ausnahmeweise kann die Überraschungswirkung durch drucktechnisch aufwändige Gestaltung überwunden sein. Apropos: Neben einer gut lesbaren Druckgestaltung an nicht versteckter Stelle (am sichersten 9 Punkt-Schrift, gehöriger Zeilenabstand, heller Hintergrund46) wird der problembewusste Vermieter auf eine erkennbare körperliche Behinderung des Mieters47 (Einbeziehungsvoraussetzung in § 305 Abs. 2 Nr. 2 BGB) – gegebenenfalls auf dessen Betagtheit – angemessen Rücksicht nehmen. 2. „Leitbilder“, geltungserhaltende Reduktion Die Leitbilder der Inhaltskontrolle wirksam einbezogener Protokoll-AGB zur Dekorationslast des Mieters nach §§ 307 ff. BGB sind mit der Rechtsprechung des BGH zu isolierten Endrenovierungsklauseln schnell umschrieben: Zauberwort, von vorgebbaren Farben48 – namentlich für Holz49 – abgesehen, ist die Bedarfsabhängigkeit der Dekoration50: Wird diese unbedingt, also ohne Rücksicht auf den konkreten Wohnungszustand, fällig, ist sie, weil „starr“ an das Mietende anknüpfend, unwirksam übertragen. Das spiegelt die Rechtsprechung zu den „starren“ Fristenplänen für die laufende Dekoration im bestehenden Mietverhältnis51. Dabei erteilt der BGH52 einer geltungserhaltenden

__________ 44 Dazu auch Sternel (Fn. 11), XIII Rz. 37 (überraschend ist danach etwa die Klausel, dass der Vermieter ausstehende Dekorationsarbeiten auf Kosten des Mieters ausführen dürfe). 45 Wetekamp in Nies/Gies, Beck’sches Formularbuch Mietrecht, 2. Aufl. 2007, A. III. 27 Anm. 3. 46 Für die AGB-Gestaltung Kappus, RRa 2008, 67, 68; folgend Schmid/Hopperdietzel, NJW 2009, 2025, 2026; dazu auch Graf von Westphalen, NJW 2008, 2234, 2241. Aktuell wieder LG Köln, Urt. v. 21.1.2009 – 18 O 351/08, BeckRS 2009, 06841 (Klage rechtskräftig abgewiesen durch OLG Köln, Urt. v. 22.7.2009 – 27 U 5/09, BeckRS 2009, 86422): „Es kann auch im Urkundsprozess nicht ausreichen, eine Urkunde lediglich … zu den Akten zu reichen, … (wenn) der Text für Leute mit Sehschwäche nur dann gut lesbar ist, wenn man das Blatt sehr nahe vor die Augen hält, was – zumal bei mehrseitigen Texten – selbstredend nicht zumutbar erscheint. Kann aber der Richter den Text, auf den die Partei ihren Anspruch stützt, nicht in zumutbarer Weise lesen und weigert sich die Partei trotz Aufforderung, eine lesbare Fassung vorzulegen, so ist die Klage schon allein aus diesem Grunde abzuweisen.“; OLG Saarbrücken, NJW-RR 2009, 989 (1 mm Buchstabenhöhe, schwarze Farbe auf weißem Grund, größere Zeilenabstände zwischen Absätzen und auch einzelnen AGB). Zum – in casu allein nicht ausreichenden – Fettdruck s. BGH, NJW-RR 2002, 485. 47 Kappus in Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Reiserecht (DGfR) 2003, S. 105. 48 Zuletzt BGH, NZM 2010, 236; Überblick bei Beyer, NZM 2009, 137. 49 BGH, NJW 2009, 62; dazu Blank, NJW 2009, 27. 50 Zuletzt BGH, NZM 2009, 313. 51 Dazu wieder BGH, NJW 2009, 1408. 52 NJW 2009, 1408; NJW 2010, 674 (Dekorieren von Türen/Fenstern auch außen; ein „Aufrechterhalten“ der Klausel für „innen“ wäre sogar gut praktizierbar gewesen).

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Reduktion (auf ein zulässiges Maß) in ständiger Rechtsprechung – anders als der österreichische OGH53 – Absagen. 3. Zusatzabrede Vermieters „Königsweg“ zum Erhalt einer dekorierten Wohnung auf Kosten des Mieters führt über die Individualabrede nach §§ 305 Abs. 1 Satz 3, 305b BGB54. Der freilich verläuft – seit „ewigen“ Zeiten55 – steinig und schmal, zumal § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB im Verbraucherverkehr (auch) §§ 307 bis 309 BGB für anwendbar erklärt auf Einmalklauseln, auf deren Inhalt der Mieter infolge Vorformulierung56 keinen Einfluss nehmen konnte. Dass (spätere) Individual(frühere) Formularabreden „brechen“, ist selbstredend57. Dabei lässt der BGH es genügen, wenn der Verwender Gestaltungsalternativen – typischerweise zur Laufzeit58 – anbietet, zwischen denen der Kunde frei wählen darf. Denn durch diese Auswahlmöglichkeit könne er den Gehalt der Regelung mitbestimmen, sofern nicht, z. B. durch Hinweise dazu, was Kunden (angeblich) „üblicherweise“ ausfüllen, die Wahlfreiheit von der Gestaltungsmacht des Verwenders „überlagert“59 wird. Allein dass verschiedene Alternativen mit unterschiedlichen Preisen versehen sind, schadet nicht60. In komplexeren Zusammenhängen als bei leicht zu erfassenden Laufzeitvarianten – etwa bei der Wahlarztabrede61 oder beim Kündigungsrechtsverzicht in der Partnervermittlung (s. sogleich) – können dem Verwender gleichwohl besondere Aufklärungspflichten obliegen, damit er seinen „Königsweg“ wohlbehalten meistert. a) Vertragsparität Der BGH62 hat sich in einem Fall der Partnervermittlung intensiv mit der Qualifikation einer Zusatzabrede über einen Kündigungsrechtsverzicht als Individualabrede beschäftigt. Der erkennende III. Zivilsenat ist deutlich geworden: Bei „einem nicht ganz leicht verständlichen Text“ ist Voraussetzung des „Aushandelns“63 (§ 305 Abs. 1 Satz 3 BGB), dass der Verwender die andere Vertragspartei über Inhalt und Tragweite der Vereinbarung belehrt hat oder sonst erkennbar geworden ist, dass diese deren Sinn wirklich erfasst hat. Der

__________ 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63

Juristische Blätter (JBL) 2009, 309, 313. Gelungen in der gewerblichen Miete bei BGH, NJW-RR 2009, 947. BGH, NJW 1977, 624. „Maschinenschriftlich“ im Fall BGH, NJW 2009, 1075: Denn welcher Vermieter trägt bei Gelegenheit der Wohnungsübergabe eine Schreibmaschine bei sich? BGHZ 164, 133 = NJW 2006, 138 (mündliche Reduzierung der Miete/Schriftformklausel). BGH (III. Senat), NJW 2009, 1738 Rz. 26 (Grabpflege-Treuhand). BGHZ 175, 76 = NJW 2008, 987 Rz. 21; „suggestiv“ gestaltete Formulare bei BGH, NJW 1996, 1676; NJW-RR 1997, 1000. V. Zivilsenat, BGHZ 153, 148, 152 = NJW 2003, 1313. III. Zivilsenat, BGHZ 175, 76 = NJW 2008, 987 Rz. 21. NJW 2005, 2543; dazu auch Graf von Westphalen, NJW 2009, 2977. Kritisch zur Rechtsprechung insoweit z. B. Berger, NJW 2010, 465, 467 ff.

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VIII. – Wohnraummietsenat – hat diese strenge Sicht zur Wiederherstellung der Vertragsparität am 27.5.2009 nachvollzogen64. b) Dekorationskontext Hat der Vermieter unwirksame Dekorationsklauseln verwendet, bleibt die Dekorationslast – und zwar ohne Kompensationsmöglichkeit65 – bei ihm (§§ 306 Abs. 2, 535 Abs. 1 Satz 2 BGB). Dekorationsleistungen des Mieters darf er, bei Meidung eigener Schadensersatzpflicht unter § 280 Abs. 1 BGB66, in dieser Lage weder verlangen noch veranlassen; bestenfalls darf er sie entgegennehmen mit der Bemerkung: „Das haben Sie sehr schön gemacht“. Eine Zusatzabrede dahingehend, also einer Aktivität des Vermieters entspringend, dass der Mieter am Mietende dekorieren müsse, damit keine Leerstandszeit eintritt, setzt, u. a. aus § 241 Abs. 2 BGB folgend, eine nachhaltige Aufklärung seitens des Vermieters voraus: Sein Versuch, wider das gesetzliche Leitbild § 535 Abs. 1 Satz 2 BGB – einer von der obergerichtlichen Rechtsprechung getragenen Verkehrssitte folgend – die Dekorationslast formularmäßig auf den Mieter zu übertragen, sei gescheitert und er selbst dekorationszuständig geblieben. Er muss, umgangssprachlich gewendet, den Mieter „vom Holzweg abbringen“, der sich nämlich vorstellt, Mieter müssten ohnehin und immer dekorieren. Denn nur dann wird dem durchschnittlichen Mieter vermittelt, was wirtschaftlich hinter der Zusatzabrede steckt: Der Vermieter unternimmt den zweiten Versuch, sich von einer (lästigen) gesetzlichen Pflicht frei zu zeichnen! c) BGH, NJW 2009, 1075 Das Vorgesagte – Aufklärungspflicht bei „nicht ganz leicht verständlichem Text“ – gilt auch in Fällen einer Anschlussvermietung wie in BGH, NJW 2009, 1075. Die dortige Protokollformulierung – unter Nr. 6 des Textes verborgen! – klingt, jedenfalls für Unbedarfte, einleuchtend: „Herr U (= Beklagter) übernimmt vom Vormieter M die Wohnung im renovierten Zustand. Er verpflichtet sich dem Vermieter gegenüber, die Wohnung ebenfalls im renovierten Zustand zu übergeben.“

Die wahre Bedeutung ist folgende: Vormieter M war, bei zu unterstellendem Einsatz identischer Dekorations-AGB, nicht dekorationszuständig, hat also ohne Rechtsgrund an Stelle des Vermieters geleistet (§§ 307, 306 Abs. 2, 535 Abs. 1 Satz 2 BGB) und deshalb gegen diesen einen Wertersatzanspruch aus §§ 812, 818 Abs. 2 BGB67. Der Beklagte „übernahm“ als Nachmieter, mag er auch für die Gelegenheit des „Nachrückens“ in das Mietverhältnis dankbar gewesen sein, keine Dekorationspflicht des M (s. „ebenfalls“ im Protokolltext).

__________

64 BGHZ 181, 188 = NJW 2009, 2590 Rz. 14. 65 BGHZ 177, 186 = NJW 2008, 2840. A. A. bei Preisbindung BGH, NZM 2010, 396. 66 BGHZ 181, 188 = NJW 2009, 2590 Rz. 10; KG, NJW 2009, 2688 (u. a. zu Anwaltskosten des Mieters!). 67 BGHZ 181, 188 = NJW 2009, 2590.

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Vorsichtige Vermieter werden es sich auch nicht nehmen lassen darauf hinzuweisen, dass das mehr als zwanzig Jahre alte Axiom des BGH68, Dekorationsleistungen wohne Entgeltcharakter inne („Entgeltthese“), immer noch Widerspruch erfährt („merkwürdig“69), so dass nicht einmal für alle Zukunft gesichert ist, ob Schönheitsreparaturlasten überhaupt kraft AGB auf den Mieter abgewälzt werden können. Spätestens jetzt ist deutlich, dass die „Flucht“ ins Übergabeprotokoll, wenn nicht ohnehin die Inhaltskontrolle über § 310 Abs. 3 BGB greift oder die anerkannte Rechtsfigur der „Vorformulierung im Kopf“70 zur Verwendung von AGB i. S. von § 305 BGB gelangt, an dieser Stelle praktisch zu Ende ist. d) Strategische Individualabreden Seit der Partnervermittler-Entscheidung des BGH in NJW 2005, 2543, setzen Teile der Partnervermittlungsunternehmen einen vorformulierten Verzicht auf das Kündigungsrecht aus § 627 BGB ein und erzielen erste gerichtliche Erfolge: Diese seien echte Individualabreden und gewährleisteten, sofern übersichtlich dargestellt und das volle Dispositionsrecht des Kunden eröffnend, die gesetzlich geforderte „Verhandlungsparität“; die schriftlich vorformulierte Form schade ob des freien Wahlrechts (zwischen 5 % Preisnachlass oder einer über das eigentliche Vertragsende hinausgehenden Belieferung mit Kontaktadressen, widrigenfalls es beim gesetzlichen Kündigungsrecht bleibt) nicht71. Die Realität freilich sieht anders aus: Schon bisher wurden kostenlos weitere Partnervorschläge über das eigentliche Vertragsende hinaus, und zwar ohne Zusatzabrede, unterbreitet72. 5 % Preisnachlass auf viele tausend Euro teure Vergütungen bewegen sich im Grenzbereich von Barzahlungsnachlässen73, stellen also keine wirkliche Alternative zu den begehrten weiteren Partnervorschlägen dar, weshalb regelhaft letztere Variante – ganz dem Plan der Partnervermittler entsprechend – angekreuzt wird. Damit kann sich der wirtschaftliche Wert des (vermeintlichen) Entgegenkommens des Partnervermittlers zur Herstellung der den Kunden massiv benachteiligenden Individualabrede als bloße, unter § 241 Abs. 2 BGB verbotene Verlockung erweisen und ist zugleich die Schwelle zum nach § 123 BGB anfechtbaren „Lockvogel-Angebot“74 betreten. Wer es ernst mit der Rechtsprechung von III. und VIII. Zivilsenat des BGH unter § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB meint, folgert: Partnervermittler (wie Vermieter) müssen über die wirtschaftliche Werthaltigkeit ihrer „Präsentalternativen“ bzw. über die rechtlichen Zusammenhänge im Dekorationskontext zutreffend auf-

__________ 68 Namentlich BGHZ 92, 363, 370 ff. = NJW 1985, 480, die ältere Rechtsprechung des Senats gegen alle Kritik verteidigend. 69 So Emmerich, JuS 2004, 1008; wieder ders., S. 128 in dieser Festschrift. 70 S. schon BGH, NJW 1988, 410 (Maklerprovision). 71 LG Koblenz, NJW-RR 2009, 1063 (Partnervermittler kreuzte „im Kundenwillen“ an!). 72 OLG Koblenz, NJW-RR 2004, 268. 73 Im Fall LG Koblenz, NJW-RR 2009, 1063, hätte sogar per Kreditkarte gezahlt werden können (mit entsprechendem Provisionsabzug beim Partnervermittler)! 74 BGH, NJW 2008, 982 (annoncierte Partnerin „Bea“).

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klären, schließlich erhalten sie im Gegenzug Planungssicherheit. Aber schafft solche „strategische“ Individualabrede auch die Hürde des § 306a BGB? 4. Umgehungsverbot a) Ein „ungewolltes Kind“ § 306a BGB ist, sprachlich modifiziert, aus § 7 AGBG hervorgegangen, jenem zunächst „ungewollten Kind“ der AGB-Gesetzgebung75. § 306a BGB enthält die Klarstellung, dass die Vorschrift den (gesamten) Abschnitt 2 „Gestaltung rechtsgeschäftlicher Schuldverhältnisse durch Allgemeine Geschäftsbedingungen“ erfasst. Das mochte unter § 7 AGBG noch zweifelhaft sein und den VIII. Zivilsenat des BGH 1990 zu der Bemerkung veranlasst haben, die „Vorschrift des § 7 AGBG … hat für die Bestimmungen der §§ 1–6 AGBG … keinen Anwendungsbereich“76. Im Jahr 2005 hat der XI. Zivilsenat des BGH77 klargestellt, dass § 306a BGB, bis dahin ein eher stiefmütterliches Dasein führend78, auch insoweit Anwendung findet, als es um die – hier entscheidende – Frage geht, ob sich auch Individualabreden an der Umgehungsverbotsvorschrift messen lassen müssen. Die Motive zum (später in das AGB-Gesetzgebungsverfahren eingebrachten § 5a AGBG-E) sind insofern eindeutig: Nein79. Möglicherweise konnte man sich damals „strategische“ Individualabreden nicht recht vorstellen, wiewohl sie die Vertragspraxis seit langem80 kennt, sondern ging vom Idealfall der „echten“, die Vertragsparität herstellenden Individualabrede aus. Deshalb eröffnet § 306a BGB die Klauselkontrolle für kraft Unternehmerstrategie hergestellte Abreden, denn ihnen fehlt typischerweise eine Prägung kraft Vertragsparität; vielmehr setzt der Verwender einseitig eigene Interessen durch und bedient sich nur eines förmelnden Mantels, um der AGB-Kontrolle zu entgehen81. Im Übrigen hat der Gedanke des Umgehungsverbots – er ließe sich ohne größere Not wohl auch aus §§ 241 Abs. 2, 242, 134 BGB herausfiltern – mittlerweile durchaus an mehreren Stellen im Verbraucher schützenden Teil des BGB ausdrücklichen Niederschlag gefunden (§ 312f Satz 2 [„besondere Ver-

__________ 75 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 7/3919, S. 15 linke Spalte: Abgesehen wurde davon, den Vorschlag eines Umgehungsverbots in den Entwurf aufzunehmen, denn „… ein Umgehungsverbot (wäre) geeignet, Unsicherheit über den Anwendungsbereich des Gesetzes, insbesondere im Grenzbereich zwischen AGBKlauseln und Individualabrede zu schaffen …“. 76 BGHZ 112, 204, 217 = NJW 1991, 36. 77 BGHZ 162, 294, 298 f. = NJW 2005, 1646. 78 Finden §§ 305 ff. BGB Anwendung, kann man aus § 306a BGB nichts weiter ableiten: BGH, NZM 2009, 325 Rz. 20. 79 BT-Drucks. 7/3919, S. 49 („Das Umgehungsverbot soll … den Anwendungsbereich des Gesetzes [nicht] etwa auf Individualabreden oder auf … im einzelnen ausgehandelte AGB … erstrecken.“). 80 Willemsen, NJW 1982, 1121, berichtet von entsprechenden Verhaltensweisen im Neuwagengeschäft. 81 A. A. noch Willemsen, NJW 1982, 1121 f. Instruktiv BGH, NJW 2010, 150.

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triebsformen“], § 475 Abs. 1 Satz 2 [„Verbrauchsgüterkauf“], § 487 Satz 2 [„Teilzeit-Wohnrechte“], § 506 Satz 2 [„Verbraucherdarlehen inklusive Finanzierungshilfen und Ratenlieferungsverträgen“], § 655e Abs. 1 Satz 2 BGB [„Darlehensvermittlung“]). § 651m BGB gehört nicht hierher82. Auch in Spezialgesetzen finden sich entsprechende Vorschriften (z. B. § 66 l TKG 200783 bzw. der besondere Tatbestand „Umgehungsgeschäfte“ in § 71a AktG 1978, zuletzt geändert durch Art. 5 MoMiG vom 23.10.200884). b) Geschäftsanweisung Der BGH hat eine schriftliche, bloß bankintern verteilte Anweisung an die Geschäftsstellen im Bundesgebiet, mit deren Hilfe die Bank die ihr zuvor in der Klauselkontrolle85 aus der Hand geschlagenen Rücklastschriftgebühren „unter dem rechtlichen Deckmantel pauschalierten Schadensersatzes wirtschaftlich wirkungsgleich“86 weiterpraktiziert hat, im Unterlassungsklageverfahren beanstandet („AGB kraft Instruktion“). Dabei ist auch der XI. Senat deutlich geworden: Auf eine Gestaltung wie die beschriebene finden die Vorschriften über Allgemeine Geschäftsbedingungen „nach § 306a BGB … jedenfalls dann Anwendung, wenn damit die Absicht verfolgt wird, Allgemeine Geschäftsbedingungen zu vermeiden, der Inhaltskontrolle nach § 307 BGB zu entgehen und ebenso effizient wie bei der Stellung Allgemeiner Geschäftsbedingungen eine AGB-rechtlich unzulässige Gebühr zu erheben.“ c) Übertragung ins Mietrecht Diese Vorgaben kann man auf die mietrechtliche Situation – abstrakt oder als Vermieterstrategie87 – wie folgt übertragen: Der professionelle Vermieter, um die Unwirksamkeit seiner Dekorations-AGB (auch in Bezug auf eine Endrenovierung) wissend88, instruiert seine Mitarbeiter darüber, vom ausziehenden Mieter jedenfalls die Endrenovierung zu verlangen. Dem Vermieter gleich steht dessen Vertreter bzw. derjenige, dessen Verhalten er sich zurechnen lassen muss (Haus-/Mietverwalter), § 278 BGB89, so dass auch dessen Mitarbeiter instruiert werden können. Ohnehin wird mancher Mieter rechtsirrig annehmen, zur Endrenovierung verpflichtet zu sein90; dann bedarf es nur eines Fest-

__________ 82 83 84 85 86 87 88

So aber Grüneberg in Palandt, 69. Aufl. 2010, § 306a BGB Rz. 1. Gesetz vom 18.2.2007, BGBl. I 2007, 106. BGBl. I 2007, 2026. BGHZ 137, 43 = NJW 1998, 309. BGHZ 162, 294, 300 = NJW 2005, 1646. Die Gefahr solcher strategischen Versuche sieht auch Derleder, NZM 2009, 227. Mit der Jahrtausendwende trat der Bedarfsgedanke in der Rechtsprechung hervor: LG Berlin, GE 1999, 983; LG Marburg, ZMR 2000, 539, 541. 89 BGH, NJW 2009, 2197 (Postverlust, Betriebskostenabrechnung enthaltend); zur Zurechnung des unzutreffenden Rechtsrats des Mietervereins an den Mieter s. BGH, NJW 2007, 428. 90 Hierzu Kappus, ZMR 2007, 31; das aufgreifend Artz, NZM 2007, 265 bei dortiger Fn. 2.

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haltens der Nachholpflicht im Rückgabeprotokoll. Ein in der Praxis eher seltener Widerstand des Mieters soll nach dieser Strategie mit dem Hinweis „gekontert“ werden: „Aber Sie wissen doch, dass man bei Auszug ordentlich renoviert“91. Kommt man auch darüber nicht weiter und bleibt die gute Rechtskenntnis des Mieters unüberwindbar, „gewinnt“ der Mieter. Diese – ideal gedachte – Strategie (kraft Instruktion) eines Vermieters lässt sich zwanglos unter die Entscheidung BGHZ 162, 294, subsumieren. Schon – und nur – in der Instruktion der auf Vermieterseite Handelnden liegt die Erfüllung von § 306a BGB unabhängig davon, ob sie auf eine vorgefertigte Verhaltensweise „im Kopf“ hin angelegt war oder nicht. Auf deren Unterlassung nach UKlaG hin könnte solcher Vermieter in Anspruch genommen werden. Liegt nun ein (maschinenschriftlich gefertigtes) Übergabeprotokoll vor, ist der Vermieter über eine solche „AGB kraft Instruktion“ hinausgegangen. Das ist kein Fall mehr der „Verwendung im Inneren“, sondern ein Außenwirkungsfall. Deshalb muss differenziert werden zwischen der – vom Vermieter darzulegenden und zu beweisenden – Individualabrede und AGB, wobei im UnternehmerVerbraucherverkehr zusätzlich § 310 Abs. 3 BGB hilft. 5. Nichtigkeit und Bestätigung (§§ 139, 141 BGB) Wie bei Fn. 88 nachgewiesen, waren erste Entscheidungen zur Unwirksamkeit „starrer“ Dekorationsklauseln schon um die Jahrtausendwende bekannt. Da fällt es schwer, mit Vermietern milde zu sein oder ihnen, wenn sie nicht gerade Gelegenheitsvermieter im Privatbereich sind, Ahnungslosigkeit zugute zu halten. Das jedenfalls dann, wenn sie, wie im Fall BGH, NJW 2009, 1075, mit einem maschinenschriftlich abgefassten Übergabeprotokoll, mit ungewöhnlichem Inhalt an versteckter Stelle (Nr. 6 des Textes!), zur Wohnungsübergabe „anrücken“. Der Weg, über § 139 BGB zur Gesamtnichtigkeit der Dekorationsabreden zu gelangen, scheint dann vorprogrammiert92. Eine Bestätigung solch nichtigen Rechtsgeschäfts gemäß § 141 BGB bleibt möglich, etwa im Rückgabeprotokoll bei Mietende, setzt aber voraus, dass die Mietvertragsparteien die Unwirksamkeit (respektive Nichtigkeit93) kannten oder zumindest rechtliche Zweifel am Bestand des Verabredeten hatten94. Auch schlüssiges Verhalten95 oder nur die Vornahme der Erfüllungshandlung96 – hier also der Endrenovierung – kommt unter diesen Voraussetzungen in Betracht. Das braucht im Mietrecht durchaus kein theoretischer Fall zu bleiben: Der Mieter mag im laufenden Mietverhältnis in Kenntnis der Unwirksamkeit der Dekorations-AGB gleichwohl renovieren, etwa weil er mit dem Vermieter

__________ 91 92 93 94 95 96

Zur Schadensersatzpflicht unter § 280 BGB s. oben bei Fn. 66. Derleder, NZM 2009, 227. Ellenberger in Palandt (Fn. 82), Vorb. § 104 BGB Rz. 29. BGH, NJW 2006, 2116 Rz. 19. BGHZ 11, 59, 60 = NJW 1954, 549. BGH, NJW 1983, 816.

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nicht über Farben oder Tapeten oder über die vom Vermieter einzuhaltenden Dekorationsintervalle97 diskutieren will. Vielleicht will er den Vermieter nicht selbst – womöglich zur Unzeit und einen Hotelaufenthalt bedingend – Hand anlegen lassen, etwa wenn das Mietverhältnis belastet ist oder der Mieter eine teilgewerbliche Nutzung98 der Wohnräume verborgen halten möchte. Oder der weichende Vormieter gibt seinem Nachmieter den „Tipp“, lieber selbst zu dekorieren, als das neue Mietverhältnis gleich zu „vergiften“. 6. Sonstige Kontrollinstitute Eine je erfolgreich hergestellte Individualabrede über die Dekorationspflicht des Mieters entzieht sich der Inhaltskontrolle nach §§ 307 ff. BGB, auch wenn es zusammen mit anderen Klauseln zu einem – verbotenen – Summierungseffekt kommen sollte; dann sind nur jene Klauseln unwirksam99, falls nicht Gesamtunwirksamkeit über § 139 BGB eintritt (Kriterium gleichzeitiger bzw. zusammenhängender Vereinbarung)100. Gleichwohl ist die Individualabrede nicht kontrollfrei: Die allgemeinen Institute, namentlich101 §§ 134, 138, 242102 BGB, aber auch das Rücksichtnahmegebot aus § 241 Abs. 2 BGB, sind anwendbar. Deshalb darf es der „gierige“ Vermieter nicht „zu bunt treiben“: Die Grenze der Sittenwidrigkeit nach § 138 BGB wird er schon kraft der allgemeinen Marktverhältnisse nicht erreichen oder gar überschreiten103. Ein gesetzliches Verbot im Sinn von § 134 BGB ist § 5 WiStrG104; unter dessen „Entgelt“-Begriff, der weit zu verstehen ist, fallen auch die mieterseits übernommenen Schönheitsreparaturen105. Rechtsfolge des Verstoßes gegen § 5 WiStrG ist allerdings nicht die Gesamtunwirksamkeit des Mietvertrags; vielmehr bleibt dieser mit dem zulässigen Preis – also auch mit einer Dekorationsverpflichtung innerhalb desselben – aufrechterhalten106. An einer Veränderung des ortsüblichen Mietpreisniveaus partizipiert der Umfang der Teilnichtigkeit107. Auch wird man der Individualabrede Treuwidrigkeit nach § 242 BGB entgegenhalten können, wenn sich die Abrede zu weit vom „Leitbild“ in § 28 Abs. 4 Satz 3 der II. BerechnungsVO – den Umfang der geschuldeten Dekorationsarbeiten präzisierend – bzw. vom Fristenplan in Fußnote 1 zu § 7 Mustermietvertrag 1976108 entfernt. Zwar wird man dem Vermieter für Individualabreden einen großzügigeren Rahmen zubilligen müssen als bei Verwen-

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Womöglich nach dem vom Vermieter vorgegebenen Fristenplan. S. dazu bei Fn. 112. Dazu BGH, NZM 2009, 658. BGH, NZM 2009, 397. Dazu Blank, NZM 2010, 97, 101. BGH, NZM 2009, 397 Rz. 19; dazu Dose, NZM 2009, 381, 382. „Ausübungskontrolle“; dazu BGH, NJW 2008, 1148. Blank in Schmidt-Futterer (Fn. 14), § 5 WiStrG Rz. 11. Ellenberger in Palandt (Fn. 82), § 134 BGB Rz. 26. Blank in Schmidt-Futterer (Fn. 14), § 5 WiStrG Rz. 16. BGH, NJW 2008, 55 (zur HOAI). Blank in Schmidt-Futterer (Fn. 14), § 5 WiStrG Rz. 71. ZMR 1976, 68.

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dung von AGB, was keine Abweichungen vom Gebot des „weichen“ Fristenplans, aber von den Fristen 3-5-7 Jahre, und zwar nach „unten“109, rechtfertigt. Freilich muss der Vermieter, jedenfalls in einem Vermietermarkt, insoweit Rücksicht auf die Interessen seines Mieters nehmen, § 241 Abs. 2 BGB, und darf sich nicht nur einseitig an seiner eigenen Idealvorstellung orientieren. Ein „weicher“ – auf Notwendigkeit abstellender – Fristenplan mit Fristen von 2-4-6 Jahren scheint dabei freilich schnell die Grenze dessen zu markieren, was man dem Vermieter soeben noch zubilligen kann. Einengungen in der Farbgebung oder Tapetenwahl des Mieters sind der Individualabrede hingegen in weitem Umfang zugänglich110; schließlich weiß der Mieter, auf was er sich einlässt. Allerdings sind auch hier die finanziellen Auswirkungen solcher Vorgaben – etwa bei besonders teueren Farben/Tapeten – zu beachten.

IV. Epilog Grenzgänge brauchen Visionen, keine Helden: Gleichwohl hat der auf gesetzesabweichende oder gesetzesfremde Vertragsgestaltung Bedachte (Vermieter), gleichsam als Gestirn, Odysseus auf seiner Fahrt zwischen Skylla und Charybdis vor sich, mithin die Wahl zwischen der hundeunterleibigen Schönen und der „Meeresschlürferin“. Odysseus segelte mit göttlichem Rat, wissend, dass er besser sechs Gefährten (an jeden Hundekopf der Skylla einen) verlöre als den sicheren Untergang aller nahe Charybdis zu erleiden. Gesamtunwirksamkeit einer gesetzesabweichenden oder -fremden Vertragsgestaltung riskiert, wer an Charybdis gerät: In der Einbeziehungs- und Inhaltskontrolle nach §§ 305 ff. BGB, wenn AGB, im Unternehmer-Verbraucherverkehr genügen Einmalklauseln, verwendet werden, und nach § 306a BGB, wenn eine AGB-wirkungsgleiche Gestaltung (über interne Verhaltensanweisungen) bewirkt werden soll (nach UKlaG). Wer Skylla – die Individualabrede – wählt, verliert notwendig etwas „von Bord“, schließlich muss man sich von der Vorstellung verabschieden, das „im Einzelnen Aushandeln“ könne und dürfe beim Anbieter der vertragscharakteristischen Leistung – Vermieter – „im stillen Kämmerlein“ geschehen und werde gelingen. Nicht einseitige Gestaltungsmacht ist gefragt, das Gesetz verlangt den ergebnisoffenen Diskurs jenseits des Massengeschäfts. Sobald aus einer wirtschaftlich gewünschten Idee eine (Unternehmens-)Strategie gebildet wird, driftet man gen Charybdis. Pflegt man den Diskurs, bleiben „Gleichmacherei“ und damit eine übersichtliche Vertragsgestaltung gegenüber allen Kunden – Mietern – auf der Strecke, weil das individuelle Ergebnis des Diskurses zwar womöglich steuerbar bleibt, aber nicht vorhersehbar ist, welche eigene Vorstellung des Gestaltungsmächtigen auf-

__________ 109 Zur Debatte um 5-8-10 Jahresintervalle BGH, NJW 2007, 3632. 110 In AGB freilich unwirksam für das laufende Mietverhältnis; zuletzt BGH, NZM 2009, 313.

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gegeben werden muss111. Nur am Rande: Auch Odysseus konnte sich dank göttlicher Instruktion diejenigen Gefährten und deren Sitzposition im Boot aussuchen, auf die er am ehesten verzichten mochte! Und wenn nun ein Vermieter durch die Meerenge von Messina gar nicht hindurch will? Er bleibt dekorationszuständig (§ 535 Abs. 1 Satz 2 BGB) und streitet sich mit seinen Mietern um die richtigen Dekorationsintervalle112. In Nachfragemärkten preist er diese Leistung ein und beauftragt Fachhandwerker, was allemal besser ist als Laiengewerk „mittlerer Art und Güte“ des Mieters113. In Angebotsmärkten wird der Vermieter vielleicht Verständnis dafür erzielen können, dass die günstige Miete nicht auch noch die Dekorationskosten abdecken kann. Er wird sich mit einer schlichten Abwälzungsklausel „Die Schönheitsreparaturen, fällig nur bei Bedarf, obliegen dem Mieter“114.

alternativ mit einer – ebenso schlichten – Endrenovierungsklausel zufrieden geben: „Besteht bei Mietende Bedarf an Schönheitsreparaturen115, führt sie der Mieter aus. Er verwendet helle, deckende, neutrale Farben und Tapeten116. Lackierte Holzteile gibt er im Farbton wie bei Vertragsbeginn zurück, farbig gestrichene Holzteile dürfen auch in weiß oder in hellen Farbtönen gestrichen zurückgegeben werden“117.

Die transparenzrechtliche Zukunft von „Bedarf“-Klauseln118 freilich scheint mir alles andere als gesichert. Jedenfalls hat der Vermieter mit Erkennbarwerden des Mietendes allen Anlass, den „Bedarf“ an Dekoration schnell kennenzulernen. Hier hat die Kautelarpraxis – in Ausformung von §§ 241 Abs. 2, 242 BGB – ein Betätigungsfeld. Mein Diskussionsvorschlag119:

__________ 111 „Abschleifen der beiderseitigen Interessen“ genannt von Schmidt-Salzer, NJW 1971, 1010 (sub 6.). 112 Herrlein, NJW 2008, 2823, 2828 a. E. erwägt die – spiegelbildliche – Anwendung des vom Vermieter – unwirksam – vorgegebenen Fristenplans zu dessen Lasten, dabei zurückgreifend auf das Rechtsprechungsvorbild zu Storno-AGB im Reisevertrag (dazu Kappus, Allgemeine Reisebedingungen, 2008, Rz. 69). A. A. Flatow, WuM 2009, 208. 113 Zur – isolierten – Unwirksamkeit von „Fachhandwerkerklauseln“ s. schon OLG Stuttgart, NJW-RR 1993, 1422; das wird nach der strengen Rechtsprechung des VIII. Senats des BGH – regelhaft Gesamtunwirksamkeit annehmend [NZM 2009, 313 – Farbenwahl; NJW 2009, 1408 – Außenanstrich] – nicht haltbar sein; ebenso LG München I, NZM 2010, 40). 114 Ähnlich schlicht Lehmann-Richter, ZMR 2009, 15. 115 In einer Fußnote an dieser Stelle der Klausel wird der Gesetzestext aus § 28 Abs. 4 Satz 3 der II. BerechnungsVO wiedergegeben, der auch für preisfreien Wohnraum gilt (BGH, NJW 2009, 1408). 116 BGH, NJW 2008, 2499. 117 BGH, NJW 2009, 62. 118 Wirksamkeit der Formulierung „wenn das Aussehen der Räume mehr als nur unerheblich durch den Gebrauch beeinträchtigt ist“ im Gewerberaummietvertrag nach LG Hildesheim, GE 2009, 1049. 119 Richtig verortet wird die Regelung sowohl bei den Kündigungs- als auch bei den Dekorationsklauseln; ein Verweis an einer Stelle genügt. Zur Anordnungstransparenz bei Miet-AGB s. Kappus, NZM 2002, 761 (sub II. 2. a).

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Andreas Kappus

1. Die Mietvertragsparteien verpflichten sich, mit Bekanntwerden eines das Mietverhältnis beendenden Umstands (z. B. Kündigung) unverzüglich in gemeinsamer Begehung den aktuellen Dekorationsbedarf zu ermitteln. Jede Partei kann einen Fachmann hinzuziehen. 2. Über die Begehung errichten die Parteien ein Protokoll, das nach Möglichkeit auch streitige Punkte sowie die für eine konkrete Arbeit zuständige Vertragspartei enthalten soll. Dem Protokoll messen die Parteien die Qualität einer Beweiserleichterung zu; §§ 780 f. BGB über das Schuldversprechen bzw. -anerkenntnis finden keine Anwendung.

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Die Verfolgung von Schadensersatzansprüchen gegen die Geschäftsführer in der GmbH mit Aufsichtsrat Inhaltsübersicht I. Einführung II. Das Kompetenzgefüge in der GmbH 1. Vertretungsbefugnis des Aufsichtsrats 2. Entscheidung über das „Ob“ der Verfolgung von Ersatzansprüchen 3. Abweichende Satzungsbestimmung III. Zur Pflichtenbindung des Aufsichtsrats in der AG nach „ARAG/Garmenbeck“ IV. Unterschiede im GmbH-Recht 1. Die Aufsichtsratskontrolle in der AG 2. Die Gesellschafterentscheidung in der GmbH

V. Zur Prüfung „voraussichtlich bestehender“ Ersatzansprüche 1. Prognosemaßstab 2. Verteilung der Darlegungs- und Beweislast 3. Interessensabwägung bei „voraussichtlich bestehenden“ Ersatzansprüchen VI. Haftungsrisiken für den GmbH-Aufsichtsrat VII. Gesellschafterentscheid trotz satzungsmäßiger Aufsichtsratszuständigkeit

I. Einführung In seinem zum Aktienrecht ergangenen „ARAG/Garmenbeck“-Urteil vom 21.4.19971 hat der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs die Verhaltenspflichten des Aufsichtsrats im Blick auf die Verfolgung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig agierende Vorstandsmitglieder der AG konkretisiert. Danach hat der Aufsichtsrat den zum Schadensersatz verpflichtenden Tatbestand in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht festzustellen sowie eine Analyse des Prozessrisikos und der Beitreibbarkeit der Forderung vorzunehmen. Kommt er dabei zu dem Ergebnis, dass der Gesellschaft voraussichtlich Schadensersatzansprüche gegen ein Vorstandsmitglied zustehen, muss er die Ansprüche in der Regel auch geltend machen. Nur ausnahmsweise darf er von ihrer Verfolgung absehen, wenn „gewichtige Belange“ der Gesellschaft dafür sprechen, den ihr entstandenen Schaden ersatzlos hinzunehmen. Verstößt der Aufsichtsrat gegen die so skizzierte Pflichtenbindung, droht seinen Mitgliedern ggf. selbst die Haftung aus §§ 116, 93 AktG. Die folgenden Zeilen, dem Jubilar und Honorarprofessor der Bielefelder Fakultät für Rechtswissenschaft in Hochachtung zugeeignet, sind dem Entschei-

__________ 1 BGHZ 135, 244.

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dungsverfahren zur Verfolgung von Ersatzansprüchen gegen die Geschäftsführer einer GmbH gewidmet. Wenn in solchen Gesellschaften ein (fakultativer oder obligatorischer) Aufsichtsrat eingerichtet ist, stehen deren Mitglieder ggf. vor der Frage, ob für ihre Verantwortlichkeiten (und damit Haftungsrisiken) die „ARAG/Garmenbek“-Grundsätze entsprechend heranzuziehen sind. Die nähere Analyse wird indes zeigen, dass sich die Rechtslage in der GmbH erheblich von jener im Aktienrecht unterscheidet.

II. Das Kompetenzgefüge in der GmbH 1. Vertretungsbefugnis des Aufsichtsrats In Prozessen über Ersatzansprüche gegen ihre Geschäftsführer wird die GmbH, bei der ein Aufsichtsrat eingerichtet ist, nach § 112 AktG von diesem vertreten. Dies gilt nicht nur in der (mitbestimmten) GmbH mit obligatorischem Aufsichtsrat (§ 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 MitbestG; § 1 Abs. 1 Nr. 3 DrittelbG), sondern auch dort, wo die GmbH über einen lediglich fakultativen Aufsichtsrat verfügt: auch § 52 Abs. 1 GmbHG verweist für dessen Kompetenzen auf § 112 AktG. Die Vertretungskompetenz des Aufsichtsrats erfasst gleichermaßen die prozessuale Geltendmachung von Ansprüchen gegen amtierende wie ehemalige Geschäftsführer2. Während die Vertretungszuständigkeit des Aufsichtsrats nach § 112 AktG in der mitbestimmten GmbH zwingend ist3, gilt sie in Gesellschaften mit fakultativem Aufsichtsrat nach ausdrücklicher Bestimmung des § 52 Abs. 1 GmbHG nur, soweit im Gesellschaftsvertrag nicht ein anderes bestimmt ist. Selbst in Gesellschaften mit obligatorischem Aufsichtsrat ist den Gesellschaftern aber die Befugnis zur Bestellung eines besonderen Vertreters entsprechend § 147 Abs. 2 Satz 1 AktG zuzugestehen4. Der Gesellschafterversammlung der GmbH zu versagen, was sogar der Hauptversammlung der AG möglich ist, würde nicht einleuchten. In der GmbH ohne Aufsichtsrat – das sei hier wenigstens am Rande vermerkt – obliegt den Gesellschaftern die Beschlussfassung über die Bestellung von Vertretern zur prozessualen Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen ihre

__________ 2 S. nur BGH, ZIP 1999, 1669, 1670; BGH, ZIP 2004, 237; Zöllner/Noack in Baumbach/ Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 52 Rz. 116; Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 112 Rz. 3. 3 Statt vieler Hüffer in Ulmer/Habersack/Winter, GmbHG, 2006, § 46 Rz. 103; Lutter in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, § 52 Rz. 48; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 52 Rz. 250 und 305. 4 Heute h. M.; s. etwa Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 46 Rz. 43; Roth in Roth/Altmeppen, GmbHG, 6. Aufl. 2009, § 46 Rz. 56; Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 46 Rz. 66 m. w. N.; a. A. noch Koppensteiner in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 4. Aufl. 2002, § 46 Rz. 46; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2007, § 46 Rz. 165.

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Geschäftsführer: § 46 Nr. 8 GmbHG; auch das gilt gleichermaßen für die Anspruchsverfolgung gegen aktive wie ehemalige Geschäftsführer5. 2. Entscheidung über das „Ob“ der Verfolgung von Ersatzansprüchen Von jenen Vorgaben zur Vertretung der GmbH bei der prozessualen Verfolgung von Ersatzansprüchen ist die Entscheidung darüber zu unterscheiden, ob Ersatzansprüche gegen Geschäftsführer überhaupt geltend gemacht werden sollen. Nach dem gesetzlichen Kompetenzgefüge des GmbH-Rechts sind für diese Entscheidung gem. § 46 Nr. 8 Alt. 1 GmbHG die Gesellschafter zuständig6. Das gilt – vorbehaltlich abweichender Satzungsgestaltung7 – in jeder GmbH, auch in der GmbH mit Aufsichtsrat8, selbst in einer solchen mit obligatorischem Aufsichtsrat9. Auch für Gesellschaften mbH, die dem MitbestG 1976 unterliegen, besteht kein Anlass, von diesem Grundsatz abzuweichen. Hier fällt gemäß § 31 MitbestG die Personalkompetenz (Bestellung und Abberufung der Geschäftsführer; aber auch Abschluss und Kündigung des Anstellungsvertrages10) zwar zwingend in die Zuständigkeit des Aufsichtsrats11. Im Übrigen bleibt das GmbH-typische Hierarchiegefälle in der Kompetenzordnung der Gesellschaft – mit der Gesellschafterversammlung als oberstem Gesellschaftsorgan – aber unberührt. Stellt ein in der GmbH installierter Aufsichtsrat in Wahrnehmung seiner Überwachungsaufgaben Pflichtverletzungen der Geschäftsführer fest, aus denen (nach seiner Bewertung) Schadensersatzansprüche resultieren, hat er der Gesellschafterversammlung die Frage vorzulegen, ob Ersatzansprüche gerichtlich verfolgt werden sollen12. Eine ohne den erforderlichen Gesellschafterentscheid erhobene Ersatzklage ist als unbegründet abzuweisen; auch das gilt für Klagen

__________ 5 Im Ergebnis übereinstimmend etwa Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 46 Rz. 42 (an § 46 Nr. 8 Alt. 2 GmbHG anknüpfend); Hüffer in Ulmer/Habersack/ Winter, GmbHG, § 46 Rz. 105; Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 46 Rz. 65 (je an § 46 Nr. 8 Alt. 1 GmbHG anknüpfend); anders aber (keine Geltung der Vertretungsregelung des § 46 Nr. 8 GmbHG für Prozesse gegen ausgeschiedene Geschäftsführer) Roth in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 46 Rz. 57. 6 Zu den daraus resultierenden Folgerungen für die Geltendmachung des Ersatzanspruchs durch einzelne Gesellschafter im Wege der actio pro socio s. Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 43 Rz. 41. 7 Dazu sogleich II. 3. 8 K. Schmidt in Scholz, GmbHG, § 46 Rz. 144. 9 Zöllner in Baumbach/Hueck, § 46 Rz. 59. 10 S. statt anderer Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 52 Rz. 303. 11 Deshalb plädiert Krieger in Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion, 1999, S. 111, 113, tendenziell dazu, auch die Entscheidung über das „Ob“ der Verfolgung von Ersatzansprüchen in die Hand des Aufsichtsrat zu legen, weil die Anspruchsverfolgung Rückwirkungen auf die Fortdauer des Geschäftsführeramtes haben könne. Damit wohl sympathisierend Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 46 Rz. 35. 12 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 52 Rz. 73.

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gegen amtierende wie ehemalige Geschäftsführer gleichermaßen13. Allerdings kann ein fehlender Gesellschafterbeschluss noch im Laufe des Rechtsstreits nachgeholt werden14. Ein positiver Gesellschafterbeschluss über die Anspruchsverfolgung wird in der Regel so auszulegen sein, dass der Prozess ggf. auch in der Berufungsinstanz (oder gar Revisionsinstanz) fortgeführt werden soll. Sollten sich in erster Instanz neue Erkenntnisse ergeben haben, die aus der Sicht des zur Prozessvertretung befugten Organs (etwa des Aufsichtsrats) Anlass geben, die positive Entscheidung zur Anspruchsverfolgung noch einmal zu überdenken, ist der Gesellschafterversammlung die Frage zur erneuten Beratung vorzulegen. Allerdings wird man eine solche Bindung wohl nur im Innenverhältnis anerkennen können. Unter dieser Prämisse ist etwa die Rücknahme der (vorsorglich eingelegten) Berufung durch den zur Prozessvertretung befugten Aufsichtsrat (gesetzliche Vertretung aus § 112 AktG) auch dann wirksam, wenn die Gesellschafter zuvor nicht in diesem Sinne votiert haben; entsprechendes gilt (erst recht), wenn der Aufsichtsrat die Frist zur Einlegung der Berufung verstreichen lässt, ohne zuvor eine Gesellschafterentscheidung eingeholt zu haben. 3. Abweichende Satzungsbestimmung Freilich kann die nach der gesetzlichen Kompetenzordnung den GmbH-Gesellschaftern obliegende Entscheidung über das „Ob“ der Verfolgung von Ersatzansprüchen gegen Geschäftsführer durch Satzungsbestimmung auf ein anderes (geeignetes) Gesellschaftsorgan übertragen werden15. Die Kompetenznorm in § 46 Nr. 8 GmbHG ist nicht zwingend. Zulässig ist also insbesondere die satzungsmäßige Übertragung der Entscheidungszuständigkeit auf einen bestehenden Aufsichtsrat.

III. Zur Pflichtenbindung des Aufsichtsrats in der AG nach „ARAG/Garmenbeck“ Die Pflichtenbindung des Aufsichtsrats einer Aktiengesellschaft hinsichtlich der Verfolgung von Schadensersatzansprüchen gegen Mitglieder des Vorstands hatte der BGH in seiner „ARAG/Garmenbeck“-Entscheidung16 näher konkretisiert.

__________ 13 Grundlegend BGHZ 28, 355; jüngst etwa BGH, ZIP 2008, 117, 117 f.; aus dem Schrifttum s. nur Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 46 Rz. 40; Hüffer in Ulmer/Habersack/Winter, GmbHG, § 46 Rz. 93 und 100 f.; Zöllner in Baumbach/ Hueck, GmbHG, § 46 Rz. 61. 14 BGH, ZIP 1999, 1001, 1002; BGH, ZIP 2008, 117, 118. 15 Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 46 Rz. 1; Roth in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 46 Rz. 66; Hüffer in Ulmer/Habersack/Winter, GmbHG, § 46 Rz. 117; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, § 46 Rz. 143; Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 46 Rz. 6. 16 BGHZ 135, 244.

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Danach trifft den Aufsichtsrat die Verpflichtung, das Bestehen von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegen ein Vorstandsmitglied aus dessen organschaftlicher Tätigkeit eigenverantwortlich zu prüfen und solche, soweit die gesetzlichen Voraussetzungen dafür vorliegen, regelmäßig auch geltend zu machen. Das folgt aus seiner Funktion, die gesamte Geschäftsführung des Vorstands – auch abgeschlossene Geschäftsführungsmaßnahmen – zu kontrollieren (§ 111 Abs. 1 AktG) und die Gesellschaft nach § 112 AktG gegenüber Vorstandsmitgliedern gerichtlich und außergerichtlich zu vertreten. Das Entscheidungsverfahren im Aufsichtsrat hat sich auf zwei Stufen zu vollziehen: Auf einer ersten Stufe erfordert es die Feststellung des zum Schadensersatz verpflichtenden Tatbestandes in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht sowie eine Analyse des Prozessrisikos und der Beitreibbarkeit der Forderung. Führt die Prüfung der Sach- und Rechtslage zu dem Ergebnis, dass der Gesellschaft „voraussichtlich Schadensersatzansprüche gegen ein Vorstandsmitglied zustehen“, die Anspruchsverfolgung „voraussichtlich aussichtsreich“ ist, muss der Aufsichtsrat die Ansprüche in der Regel auch geltend machen. Die Gewissheit aussichtsreicher Anspruchsverfolgung – so der BGH – kann nach Lage der Dinge nicht verlangt werden17. Von der Geltendmachung voraussichtlich bestehender Ansprüche darf der Aufsichtsrat nur ausnahmsweise absehen: Nämlich wenn „gewichtige Belange“ der Gesellschaft dafür sprechen, den ihr entstandenen Schaden ersatzlos hinzunehmen. Diese – auf einer zweiten Stufe zu prüfende – Voraussetzung wird (so der BGH) im Allgemeinen nur dann erfüllt sein, wenn die Gesellschaftsinteressen und -belange, die es geraten erscheinen lassen, keinen Ersatz des der Gesellschaft durch den Vorstand zugefügten Schadens zu verlangen, die Gesichtspunkte, die für eine Rechtsverfolgung sprechen, überwiegen oder ihnen zumindest annähernd gleichwertig sind18. Dabei können etwa Gesichtspunkte wie negative Auswirkungen auf Geschäftstätigkeit oder Ansehen in der Öffentlichkeit, Behinderung der Vorstandsarbeit und Beeinträchtigung des Betriebsklimas Bedeutung erlangen. Hingegen darf der Aufsichtsrat anderen Gesichtspunkten als denen des Unternehmenswohls, wie der Schonung eines verdienten Vorstandsmitglieds oder dem Ausmaß der mit der Beitreibung für das Mitglied und seine Familie verbundenen sozialen Konsequenzen, nur in Ausnahmefällen Raum geben. Das kann nach Feststellung des BGH etwa dann zulässig sein, wenn auf der einen Seite das pflichtwidrige Verhalten nicht allzu schwerwiegend und die der Gesellschaft zugefügten Schäden verhältnismäßig gering sind, auf der anderen Seite jedoch einschneidende Folgen für das ersatzpflichtig gewordene Vorstandsmitglied drohen19.

__________

17 BGHZ 135, 244, 254. 18 So BGHZ 135, 244, 255. – Vor dem Hintergrund des zwischenzeitlich eingefügten § 148 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AktG wird heute mit guten Gründen verlangt, dass die gegen die Anspruchsverfolgung sprechenden Umstände die dafür sprechenden Gründe überwiegen; in diesem Sinne etwa Habersack in MünchKomm.AktG, 3. Aufl. 2008, § 111 Rz. 36; Koch, AG 2009, 93, 96. 19 BGHZ 135, 244, 255 f.

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IV. Unterschiede im GmbH-Recht Die skizzierten Grundsätze des „ARAG/Garmenbeck“-Urteils sind für das Aktienrecht entwickelt worden. Ihre vorbehaltlose Übertragung in das GmbHRecht kommt angesichts der Unterschiede im Kompetenzgefüge nicht in Betracht. 1. Die Aufsichtsratskontrolle in der AG Nach der (zwingenden) gesetzlichen Kompetenzordnung der Aktiengesellschaft ist deren Aufsichtsrat regelmäßig zur eigenverantwortlichen Entscheidung über die Verfolgung von Ersatzansprüchen gegen Vorstandsmitglieder berufen und verpflichtet. Diese Pflicht zur eigenverantwortlichen Entscheidung ist in lediglich zwei Fällen aufgehoben20: Zum einen dort, wo die Hauptversammlung der AG die Geltendmachung von Ersatzansprüchen beschlossen hat (§ 147 AktG); dann muss sie der Aufsichtsrat verfolgen. Zum anderen dann, wenn die Hauptversammlung wirksam auf Ersatzansprüche verzichtet hat; dann gibt es nichts mehr zu verfolgen. Nach § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG ist ein solcher Verzicht auf Schadensersatzansprüche gegen Vorstandsmitglieder freilich nur zulässig, wenn seit der Entstehung des Ersatzanspruchs drei Jahre verstrichen sind und nicht eine Minderheit von wenigstens 10 % des Grundkapitals widerspricht. Der BGH hat in seinem „ARAG/Garmenbeck“-Urteil die Entscheidungsverantwortung des Aufsichtsrats dergestalt konkretisiert, dass er eine „in der Regel“ bestehende Verpflichtung annimmt, einen Schadensersatzanspruch gegen Vorstandsmitglieder zu verfolgen, wenn der Gesellschaft der Anspruch „voraussichtlich zusteht“, die Anspruchsverfolgung „voraussichtlich aussichtsreich“ ist. Dem liegt nicht nur die Überlegung zugrunde, dass es das Unternehmenswohl in der Aktiengesellschaft in aller Regel gebietet, einen bestehenden Schadensersatzanspruch auch geltend zu machen, die erlittene Vermögensminderung also wieder auszugleichen21. Vielmehr soll damit gerade auch der Überwachungspflicht des Aufsichtsrats Rechnung getragen werden22: Jener ist, nachdem er das pflichtwidrige Vorgehen des Leitungsorgans nicht unterbunden und den Schadenseintritt (möglicherweise seinerseits pflichtwidrig) nicht verhindert hat, gehalten, jedenfalls von seinen reaktiven Kontrollbefugnissen Gebrauch zu machen. Durchaus konsequent billigt der BGH dem Aufsichtsrat für die Prüfung der Sach- und Rechtslage – also auf der ersten Stufe seiner Entscheidungsfindung – keine „Entscheidungsprärogative“ zu, die zur Beschränkung der gerichtlichen Nachprüfung seines Beurteilungsergebnisses führen würde23. Ebenso wenig dürfte es aber der Sehweise des BGH entsprechen, die

__________ 20 S. auch BGHZ 135, 244, 250. 21 BGHZ 135, 244, 255. 22 Vgl. BGHZ 135, 244, 255 unter Berufung auf Raiser, NJW 1996, 552, 554; s. auch Goette in FS 50 Jahre BGH, Bundesanwaltschaft und Rechtsanwaltschaft beim BGH, 2000, S. 123, 141 f. 23 BGHZ 135, 244, 254.

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Schadensersatzansprüche gegen Geschäftsführer in der GmbH mit Aufsichtsrat

richterliche Kontrolldichte hinsichtlich der vom Aufsichtsrat – auf der zweiten Stufe – vorgenommenen Interessenabwägung zur Überprüfung des (vom BGH angenommenen) Regel-/Ausnahmeverhältnisses zu reduzieren und ihm insoweit einen der gerichtlichen Überprüfung entzogenen Beurteilungsspielraum zuzugestehen24. Doch ist dieser – im Schrifttum kontrovers diskutierten25 – Frage für die Zwecke dieses Beitrags nicht näher nachzugehen. Denn sie stellt sich in der GmbH angesichts der Entscheidungshoheit der GmbHGesellschafter nach § 46 Nr. 8 Alt. 1 GmbHG – soweit in der Satzung keine abweichende Zuständigkeitszuweisung vorgenommen worden ist – erst gar nicht. 2. Die Gesellschafterentscheidung in der GmbH In der GmbH – auch in einer solchen mit (fakultativem oder obligatorischem) Aufsichtsrat – obliegt das „Ob“ einer Verfolgung von Ersatzansprüchen gegen die Geschäftsführer nach der gesetzlichen Kompetenzordnung der Entscheidungszuständigkeit der Gesellschafter als dem hierarchisch obersten Gesellschaftsorgan. Eine Übertragung der im „ARAG/Garmenbeck“-Urteil für das Aktienrecht entwickelten Grundsätze kann deshalb nur dort in Betracht kommen, wo die Satzung der GmbH – in Aufhebung dieses Kompetenzgefüges – einem (fakultativ oder obligatorisch) installierten Aufsichtsrat (mit entsprechenden Kontrollbefugnissen) gerade auch die Zuständigkeit zur eigenverantwortlichen Entscheidung über die Verfolgung von Ersatzansprüchen gegen Geschäftsführer übertragen und in diesem Sinne Kontrollmechanismen nach dem Vorbild des Aktienrechts installiert hat. Lässt die Satzung die Entscheidungskompetenz der Gesellschafterversammlung aus § 46 Nr. 8 GmbHG hingegen unberührt, ist deren Entscheidungsfindung nicht den strengen „ARAG/ Garmenbeck“-Grundsätzen unterworfen: Dass von einer „in der Regel“ anzunehmenden Verpflichtung der GmbHGesellschafter, die Verfolgung als „voraussichtlich aussichtsreich“ erkannter Ersatzansprüche gegen Geschäftsführer zu beschließen, nicht die Rede sein kann, ergibt sich schon aus ihrer Kompetenz zum Verzicht auf Ersatzansprüche. Die Gesellschafter der GmbH sind zu einem solchen Verzicht befugt26. Grenzen dieser Verzichtsbefugnis ordnet das Gesetz nur für bestimmte Ersatzansprüche gegen die Geschäftsführer an, insbesondere für solche aus Verstößen gegen zwingende gesetzliche Pflichten zur Kapitalerhaltung: soweit daraus resultierende Ersatzansprüche zur Befriedigung der Gesellschaftsgläubiger erforderlich sind, ist ein Verzicht gem. § 43 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. § 9b Abs. 1 GmbHG regelmäßig unwirksam. Indes hat die Einschränkung des

__________ 24 BGHZ 135, 244, 255 billigt dem Aufsichtsrat jedenfalls kein „unternehmerisches Ermessen“ zu. 25 S. aus jüngster Zeit Koch, AG 2009, 93; Mertens in FS K. Schmidt, 2009, S. 1183; Paefgen, AG 2008, 761. 26 S. nur BGH, NJW 2000, 1571; BGH, NJW 2002, 3777 f.; weiterführend etwa Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 43 Rz. 51 ff.; Zöllner/Noack in Baumbach/ Hueck, GmbHG, § 43 Rz. 57.

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Aktienrechts, wonach ein Hauptversammlungsbeschluss über den Verzicht auf Schadensersatzansprüche gegen Vorstandsmitglieder nur zulässig ist, wenn seit der Entstehung des Ersatzanspruchs drei Jahre verstrichen sind und nicht eine Minderheit von wenigstens 10 % des Grundkapitals widerspricht (§ 93 Abs. 4 Satz 3 AktG), im GmbH-Recht – was den Verzicht auf Ersatzansprüche gegen Geschäftsführer betrifft – keine Entsprechung. Freilich unterliegt auch ein Gesellschafterbeschluss nach § 46 Nr. 8 GmbHG den allgemeinen Bindungen des GmbH-Rechts: Gesellschafter-Geschäftsführer, gegen die sich die nämlichen Ersatzansprüche richten, sind bei der Entscheidung nach § 47 Abs. 4 GmbHG vom Stimmrecht ausgeschlossen27. Und ein Beschluss, mit dem die Verfolgung von Ersatzansprüchen gegen Geschäftsführer mehrheitlich abgelehnt wird, kann wegen Verstoßes gegen die Treupflicht anfechtbar sein. Unter diesem Gesichtspunkt haben in Mehrheits-/ Minderheitskonflikten die im „ARAG/Garmenbeck“-Urteil entwickelten Grundsätze zur Entscheidungsverantwortung des Aufsichtsrats auch Bedeutung für die Gesellschafterentscheidung in der GmbH. Denn das vom BGH geforderte zweistufige Verfahren der Entscheidungsfindung ist durchaus auf die GmbH zu übertragen28: Auch die nach § 46 Nr. 8 GmbHG beschließenden Gesellschafter haben sich – auf der ersten Stufe ihrer Entscheidungsfindung – Klarheit darüber zu verschaffen, ob Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegen einen Geschäftsführer aus dessen organschaftlicher Tätigkeit voraussichtlich bestehen. Erst wenn dies zu bejahen ist, stellt sich – auf der zweiten Stufe des Entscheidungsprozesses – die Frage, ob jene Ansprüche verfolgt werden sollen. Auf dieser zweiten Stufe gilt das Petitum der „ARAG/Garmenbeck“-Entscheidung – wonach von der Geltendmachung voraussichtlich bestehender Ansprüche der Aufsichtsrat nur „ausnahmsweise“ absehen darf, wenn „gewichtige Belange“ der AG dafür sprechen, den ihr entstandenen Schaden ersatzlos hinzunehmen – freilich nicht. Vielmehr sind die GmbH-Gesellschafter bei der Abwägung, ob die Ansprüche verfolgt werden sollen oder nicht, allein durch die Treupflicht gebunden29: Sachwidrige, etwa von Partialinteressen einzelner geprägte Erwägungen können die ablehnende Entscheidung nicht legitimieren. Wo die Mehrheit indes zu dem nachvollziehbaren Ergebnis gelangt, dass die Nichtverfolgung der Ansprüche im Interesse der Gesellschaft zweckmäßig ist, muss die Minderheit das akzeptieren. Gegenstand einer gerichtlichen Kontrolle im Anfechtungsprozess kann deshalb allein die Nachvollziehbarkeit der Gesellschafterentscheidung in eben jenem Sinne – d. h. gemessen an den Maßstäben der Treupflicht – sein.

__________ 27 Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 46 Rz. 39; Krieger in Gesellschaftsrecht in der Diskussion, 1999, S. 111, 114 ff. 28 S. schon Krieger in Gesellschaftsrecht in der Diskussion, 1999, S. 111, 119 f. 29 Übereinstimmend etwa Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 46 Rz. 39; Krieger in Gesellschaftsrecht in der Diskussion, 1999, S. 111, 118 ff.

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Schadensersatzansprüche gegen Geschäftsführer in der GmbH mit Aufsichtsrat

V. Zur Prüfung „voraussichtlich bestehender“ Ersatzansprüche Vor diesem Hintergrund sind auch im GmbH-Recht immerhin jene Anforderungen vielfach von praktischer Bedeutung, die der BGH in seiner „ARAG/ Garmenbeck“-Entscheidung für die „erste Prüfungsstufe“ aufgestellt hat. Danach hat der Aufsichtsrat der AG den zum Schadensersatz verpflichtenden Tatbestand in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht festzustellen sowie eine Analyse des Prozessrisikos und der Beitreibbarkeit der Forderung vorzunehmen. Entscheidend soll dabei sein, ob die Prüfung der Sach- und Rechtslage zu dem Ergebnis führt, dass der Gesellschaft „voraussichtlich Schadensersatzansprüche gegen eines ihrer Vorstandsmitglieder zustehen“30, die Anspruchsverfolgung „voraussichtlich aussichtsreich“ ist. – Eben das muss auch die Grundlage einer (mehrheitlich) getroffenen Gesellschafterentscheidung in der GmbH bilden. Kommen die Gesellschaft bei dieser Prüfung zu dem – objektiv gerechtfertigten – Ergebnis, dass die Anspruchsverfolgung voraussichtlich keinen Erfolg verspricht, kann ihr mehrheitlich getroffenes Votum, von einer gerichtlichen Geltendmachung des Anspruchs abzusehen, nicht treuwidrig sein. Wo genau verläuft aber die Grenzlinie des „voraussichtlich“ zustehenden Anspruchs, der „voraussichtlich“ aussichtsreichen Anspruchsverfolgung? Der BGH hilft im „ARAG/Garmenbeck“-Urteil lediglich mit der Bemerkung, „Gewissheit“ könne nach Lage der Dinge nicht verlangt werden31. Aber das erscheint selbstverständlich, denn kaum jemand kann den obsiegenden Ausgang eines Prozesses als „gewiss“ voraussagen. Worum geht es also? 1. Prognosemaßstab Letztlich geht es um eine Prüfung, wie sie auch jeder Privatmann anstellen wird, bevor er einen Prozess anstrengt32: Lässt sich ein Tatbestand feststellen, aus dem sich schlüssig eine Verpflichtung zum Schadensersatz ergibt33? Ist dem Geschäftsführer ein pflichtwidriges und schuldhaftes Verhalten vorzuwerfen, das einen Schaden der Gesellschaft verursacht hat und damit den Schadensersatzanspruch trägt? Sind die anspruchsbegründenden Voraussetzungen in tatsächlicher Hinsicht strittig, muss sich jeder Anspruchsteller fragen, ob er die anspruchsbegründenden Tatsachen im Prozess wird beweisen können; auch für den Schadensersatzprozess gegen den Geschäftsführer erlangt damit die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast zentrale Bedeutung34. Dem schließt sich die Frage an, ob eine ausgeurteilte Forderung gegen den Beklagten beitreibbar ist, d. h. im Wege der Zwangsvollstreckung durchgesetzt werden kann. Auch unter dem Gesichtspunkt der Treupflicht lässt sich eine Verpflichtung der Gesellschaftermehrheit zur gerichtlichen Verfolgung von Ersatzansprüchen

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BGHZ 135, 244, 254. BGHZ 135, 244, 254. Zutreffend in eben diesem Sinne schon Raiser, NJW 1996, 552, 554. Henze, NJW 1998, 3309, 3310. Dazu sogleich V. 2.

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allenfalls dort ableiten, wo die Prognose über den voraussichtlichen Prozessausgang positiv ausfällt. Eine solche Prognose wird nicht selten mit Unwägbarkeiten und Unsicherheiten behaftet sein. Umstrittene Sachverhalte, Beweisschwierigkeiten und ungeklärte Rechtsfragen können die Abschätzung der Prozessrisiken erheblich erschweren35. Die Gesellschaftermehrheit muss – insoweit ebenso wie der Aufsichtsrat im Aktienrecht – die Prüfung sorgfältig und gewissenhaft vornehmen. Wenn sie dabei lediglich zu dem Ergebnis kommt, dass ein Anspruch „möglicherweise“ besteht oder jedenfalls „nicht ausgeschlossen“ werden kann, kann jedenfalls keine Verpflichtung zur Erhebung der Klage bestehen. Die vom BGH (für die Kompetenzordnung in der AG) markierte Schwelle des „voraussichtlich zustehenden“ Anspruchs, der „voraussichtlich aussichtsreichen Anspruchsverfolgung“, ist klar höher angesiedelt. Der Hinweis, dass „Gewissheit“ nicht verlangt werden könne, macht lediglich deutlich, dass die aktienrechtliche Pflicht zur Anspruchverfolgung nicht erst dort besteht, wo der positive Prozessausgang „sicher“ ist. Aber die Anspruchsverfolgung muss „hinreichende Erfolgsaussicht“ haben36, der Anspruch muss „mit hinreichender Gewissheit bestehen“37. Es muss eine „überwiegende Wahrscheinlichkeit“ dafür bestehen, dass das Gericht die Überzeugung vom Vorliegen der Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gewinnen und die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen ziehen wird38. 2. Verteilung der Darlegungs- und Beweislast Die Prüfung, ob in diesem Sinne Ersatzansprüche gegen einen Geschäftsführer „voraussichtlich bestehen“, sie mit „überwiegender Wahrscheinlichkeit“ gerichtlich werden durchgesetzt werden können, muss die Verteilung der Darlegungs- und Beweislasten berücksichtigen. Nach gefestigter Rechtsprechung des BGH39 gilt für Schadensersatzansprüche gegen einen GmbH-Geschäftsführer wegen Verletzung seiner organschaftlichen Pflichten (auch nach seinem Ausscheiden) entsprechend § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG, § 34 Abs. 2 GenG diese Beweislastverteilung: Die klagende Gesellschaft hat den Eintritt eines Schadens und dessen Verursachung durch ein Verhalten (Tun oder Unterlassen) des beklagten Geschäftsführers darzulegen und zu beweisen, das sich als „möglicherweise pflichtwidrig“ darstellt. Demgegenüber muss der beklagte Geschäftsführer Umstände dafür darlegen und beweisen, dass das schadensauslösende Verhalten nicht

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35 In diesem Sinne schon Boujong, DZWiR 1997, 326, 327. 36 So die Formulierung bei Wiesner in Münchener Handbuch Gesellschaftsrecht, Bd. 4: Aktiengesellschaft, 3. Aufl. 2007, § 26 Rz. 23; ebenso Boujong, DZWiR 1997, 326, 327. 37 So Habersack in MünchKomm.AktG, § 111 Rz. 35. 38 In diesem Sinne Götz, NJW 1997, 3275, 3276. 39 BGHZ 152, 280, 283 ff.; zuletzt bestätigt durch BGH, ZIP 2008, 117; BGH, ZIP 2008, 736, 737; aus dem Schrifttum s. etwa Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 43 Rz. 43 ff.; Paefgen in Ulmer/Habersack/Winter, GmbHG, § 43 Rz. 105 ff.; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 43 Rz. 36 ff.

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Schadensersatzansprüche gegen Geschäftsführer in der GmbH mit Aufsichtsrat

pflichtwidrig gewesen war oder ihn zumindest kein Schuldvorwurf hinsichtlich der Pflichtverletzung trifft; das schließt ggf. Darlegungen über die Einhaltung seines unternehmerischen Ermessensspielraums und den Nachweis der sorgfältigen Entscheidungsvorbereitung40 ein. Alternativ kann der beklagte Geschäftsführer den Nachweis führen, dass der Schaden auch bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre. Im Schadensersatzprozess der Gesellschaft gegen ihren amtierenden oder ehemaligen Geschäftsführer ist es damit Aufgabe der Klägerin, ein schadensursächliches Verhalten des Beklagten in dessen Pflichtenkreis – und damit ein „möglicherweise pflichtwidriges Verhalten“ (die „Möglichkeit der Pflichtwidrigkeit“ seines Tuns oder Lassens) – darzulegen und zu beweisen41. Bloß pflichtwidriges Verhalten ohne kausalen Schadenseintritt führt im Übrigen nicht zur Haftung; nicht schadensstiftendes Fehlverhalten des Geschäftsführers genügt nicht42. Kann die Gesellschaft einen solchen Nachweis voraussichtlich führen, kommt es für die Erfolgsaussichten einer Klage gegen den Geschäftsführer darauf an, ob diesem der ihm obliegende „Entlastungsbeweis“ gelingen wird. Er muss Umstände dafür darlegen und beweisen, dass das ihm zur Last gelegte Verhalten nicht pflichtwidrig gewesen war oder ihn zumindest kein Schuldvorwurf hinsichtlich der Pflichtverletzung trifft. In der – bei der Entscheidung über das „Ob“ der Anspruchsverfolgung anzustellenden – Prognose würden jene Aspekte die erfolgreiche Anspruchsverfolgung nur dann in Frage stellen, wenn zu erwarten ist, dass der Beklagte den Nachweis haftungsentlastender Umstände zumindest mit überwiegender Wahrscheinlichkeit wird erbringen können. 3. Interessensabwägung bei „voraussichtlich bestehenden“ Ersatzansprüchen Führt die Prüfung auf der ersten Stufe des Entscheidungsprozesses zu dem Ergebnis, dass Ersatzansprüche gegen den Geschäftsführer voraussichtlich bestehen, haben die Gesellschafter im Zuge ihrer Entscheidung nach § 46 Nr. 8 GmbHG abzuwägen, ob der Schadensersatzanspruchs im Klagewege durchgesetzt oder davon Abstand genommen werden soll. In diese Abwägung fließen auch jene, ggf. gegen die Anspruchsverfolgung streitenden Umstände ein, welche der BGH im Aktienrecht bei voraussichtlich aussichtsreicher Anspruchsverfolgung nur ausnahmsweise als Rechtfertigung anerkennen will, die im Rahmen einer Mehrheitsentscheidung der GmbH-Gesellschafter aber durchaus freier gewichtet werden können: negative Auswirkungen auf Geschäftstätigkeit oder Ansehen in der Öffentlichkeit, Behinderung der Arbeit der Geschäftsführung, Beeinträchtigung des Betriebsklimas etc. Besondere Bedeutung

__________ 40 Näher dazu Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 43 Rz. 16 ff. m. w. N. 41 In diesem Sinne schon Goette, ZGR 1995, 648, 671 ff.; s. auch Kleindiek in Lutter/ Hommelhoff, GmbHG, § 43 Rz. 45; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 43 Rz. 38, je m. w. N., auch zu abweichenden Interpretationen. 42 Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 43 Rz. 37; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 43 Rz. 15.

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darf die Gesellschaftermehrheit aber auch etwa der Frage beimessen, welche negativen Auswirkungen es haben kann, wenn im Zuge eines Schadensersatzprozesses sensible Unternehmensinterna in die Öffentlichkeit gelangen43. Für den Fall der Anspruchsverfolgung gegen einen ehemaligen Geschäftsführer wird zudem zu bedenken sein, dass die skizzierte Verteilung der Darlegungsund Beweislasten zwar auch zu dessen Lasten gilt. Ihm ist dann aber ein Anspruch auf Einsicht in jene Unterlagen der Gesellschaft zuzubilligen, die er für seine Rechtsverteidigung benötigt; die Gesellschaft muss ihm das in ihrem Besitz befindliche Beweismaterial zugänglich machen44. Solange die Gesellschaft die Einsicht indes verweigert, kann sie sich entsprechend den Regeln über die Beweisvereitelung auf die Beweislastumkehr nicht berufen45.

VI. Haftungsrisiken für den GmbH-Aufsichtsrat Haben sich die Gesellschafter im Rahmen ihrer Entscheidung nach § 46 Nr. 8 GmbHG gegen die Verfolgung von Ersatzansprüchen gegen die Geschäftsführer ausgesprochen, handelt der Aufsichtsrat mitnichten pflichtwidrig, wenn er daraufhin nicht weiter tätig wird. Das ergibt sich schon allein daraus, dass der positive Gesellschafterentscheid materiell-rechtliche Voraussetzung der Ersatzklage ist46. Zudem folgt auch aus § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG, dass die Mitglieder des Aufsichtsrats in diesen Fällen nicht etwa zur Schadensersatzpflicht wegen unterlassener Verfolgung von Ersatzansprüchen gegen die Geschäftsführer (als Teil ihrer Kontrollpflichten) herangezogen werden können: Nach § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG sind die Vorstandsmitglieder der AG der Gesellschaft gegenüber nicht ersatzpflichtig, wenn ihr Handeln auf einem gesetzmäßigen Beschluss der Hauptversammlung beruht. Über § 116 AktG, auf den § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 MitbestG und § 1 Abs. 1 Nr. 3 DrittelbG verweisen, ist § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG auf die Verantwortlichkeit der Aufsichtsratsmitglieder einer mitbestimmten GmbH entsprechend anwendbar. In der GmbH mit fakultativem Aufsichtsrat gilt nichts anderes: Dort sind gemäß § 52 Abs. 1 GmbHG für die Verantwortlichkeit der Aufsichtsratsmitglieder die Bestimmungen (über die Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft) in „§ 116 AktG … in Verbindung mit § 93 Abs. 1 und 2 AktG … entsprechend anzuwenden“. Obwohl nicht ausdrücklich genannt, erfasst auch die Verweisung in § 52 Abs. 1 GmbHG jedenfalls der Sache nach die Regelung in § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG, was sich schon aus dem hierarchischen Kompe-

__________ 43 Krieger in Gesellschaftsrecht in der Diskussion, 1999, S. 111, 112 und 119. 44 S. dazu etwa BGHZ 152, 280, 285; Krieger/Sailer in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2008, § 93 Rz. 34; Spindler in MünchKomm.AktG, § 93 Rz. 170, je m. w. N. 45 Krieger in Gesellschaftsrecht in der Diskussion, 1999, S. 111, 130; Krieger/Sailer in K. Schmidt/Lutter, AktG, § 93 Rz. 34; ähnlich Spindler in MünchKomm.AktG, § 93 Rz. 170. 46 S. oben II. 2.

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tenzgefüge der GmbH (mit der Gesellschafterversammlung als oberstem Gesellschaftsorgan) erklärt47. Auch insoweit unterscheidet sich die Rechtslage in der GmbH deutlich von jener im Aktienrecht. Denn für die Verantwortlichkeit des Aufsichtsrats einer AG spielt die (in § 116 AktG ausgesprochene) Verweisung auf § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG in der Praxis keine große Rolle: Die Bestimmung verlangt, dass die Handlung des Aufsichtsrats „auf einem gesetzmäßigen Beschluss der Hauptversammlung beruht“. Nach verbreiteter Ansicht setzt dies voraus, dass der Aufsichtsrat an den Hauptversammlungsbeschluss gebunden (also zu dessen Umsetzung verpflichtet) ist: nur dann „beruhe“ die Handlung des Aufsichtsrats auf dem Beschluss48. Das aber ist nach der aktienrechtlichen Kompetenzordnung nur ausnahmsweise der Fall: nämlich nach § 147 AktG, wenn die Hauptversammlung die Geltendmachung eines Ersatzanspruchs beschlossen hat. Spricht sich die Hauptversammlung einer AG demgegenüber gegen die Geltendmachung eines bestehenden Ersatzanspruchs aus, wird der Aufsichtsrat für verpflichtet erachtet, den Anspruch gleichwohl zu verfolgen49. Jedoch gründen jene aktienrechtlichen Grundsätze auf der (grundsätzlich zwingenden) Kompetenzordnung des AktG; sie lassen sich auf die GmbH mit ihrer hierarchisch organisierten Grundstruktur, deren oberstes Organ die Gesellschafterversammlung ist, nicht übertragen. In der GmbH mit Aufsichtsrat wirkt ein vorgängiger Gesellschafterbeschluss zugunsten der Aufsichtsratsmitglieder haftungsbefreiend, sofern er auf der Basis zureichender Informationen getroffen wird und nicht gegen zwingende Vorgaben des Gesetzes (etwa zum Gläubigerschutz) verstößt50. Noch einmal sei jedoch betont: Stellt der GmbH-Aufsichtsrat in Wahrnehmung seiner Überwachungsaufgaben Pflichtverletzungen der Geschäftsführer fest, aus denen (nach seiner Bewertung) Schadensersatzansprüche resultieren, hat er der Gesellschafterversammlung die Frage vorzulegen, ob Ersatzansprüche gerichtlich verfolgt werden sollen51. Dabei muss er die Gesellschafter über seine Erkenntnisse zum pflichtwidrigen Geschäftsführerverhalten umfassend informieren, damit diese ihre Entscheidungsverantwortung aus § 46 Nr. 8 GmbHG sachgerecht wahrnehmen können. Unterlaufen dem Aufsichtsrat insoweit Versäumnisse, so droht ihm deshalb eine Haftung aus §§ 116, 93 AktG.

__________

47 Im Ergebnis übereinstimmend etwa Lutter in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 52 Rz. 32; Raiser/Heermann in Ulmer/Habersack/Winter, GmbHG, § 52 Rz. 152; Uwe H. Schneider in Scholz, GmbHG, § 52 Rz. 528; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 52 Rz. 77. 48 So die heute h. M.; s. etwa Habersack in MünchKomm.AktG, § 116 Rz. 71; Hopt/ Roth in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2005, § 116 Rz. 295; Hüffer, AktG, § 116 Rz. 8; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 2007, § 116 Rz. 136; a. A. (für großzügigere Anwendung des § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG) Canaris, ZGR 1978, 207, 209 f.; Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 5. Aufl. 2008, Rz. 1010. 49 So Habersack in MünchKomm.AktG, § 116 Rz. 71. 50 Lutter in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 52 Rz. 32; Raiser/Heermann in Ulmer/ Habersack/Winter, GmbHG, § 52 Rz. 152; Uwe H. Schneider in Scholz, GmbHG, § 52 Rz. 528; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 52 Rz. 77 und 210. 51 Vgl. schon oben II. 2.

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VII. Gesellschafterentscheid trotz satzungsmäßiger Aufsichtsratszuständigkeit Ein abschließender Blick soll der Frage gelten, ob ein negatives Votum der GmbH-Gesellschafter zum „Ob“ der Anspruchsverfolgung gegen Geschäftsführer auch dann haftungsbefreiend zugunsten des Aufsichtsrats wirkt, wenn diesem in der Satzung (abweichend von § 46 Nr. 8 GmbHG) auch die Befugnis übertragen worden ist, über die Geltendmachung von Ersatzansprüchen zu entscheiden. Auch dann nämlich könnte sich der Aufsichtsrat im Einzelfall durchaus veranlasst sehen, die Gesellschafter um Letztentscheidung anzurufen. Andererseits könnten auch die Gesellschafter versucht sein, ihrerseits die Initiative zu ergreifen und die Entscheidung über das „Ob“ einer Ersatzklage gegen einen amtierenden oder ehemaligen Geschäftsführer an sich zu ziehen. Teilt man die hier vertretene Auffassung, dass die gesetzliche Kompetenznorm des § 46 Nr. 8 GmbHG in jeder GmbH – auch in der dem MitbestG 1976 unterworfenen – gilt52, dann beruht die alternative Zuständigkeit des Aufsichtsrates immer auf einer (die gesetzliche Kompetenzordnung abändernden) Satzungsbestimmung. Deren Auslegung mag im Einzel-(und Ausnahme-)fall ergeben, dass die Zuständigkeit des Aufsichtsrats unter dem Vorbehalt höherrangiger Entscheidungskompetenz der Gesellschafterversammlung stehen soll53. Für den Regelfall wird den Gesellschaftern aber nur der Weg eines satzungsdurchbrechenden Beschlusses bleiben54: Wird die Gesellschafterentscheidung über die Verfolgung von Ersatzansprüchen von allen Gesellschaftern einvernehmlich getroffen oder wird sie doch jedenfalls nicht angefochten, so ist sie vom Aufsichtsrat zu befolgen. In Mehrheits-/Minderheitskonflikten wird aber ein (formgerecht und mit qualifizierter Mehrheit gefasster) satzungsändernder Beschluss geboten sein, um der sonst drohenden Anfechtung eines kompetenzwidrigen Gesellschafterentscheids zu begegnen. Auch dann muss sich der mehrheitlich gefasste Gesellschafterbeschluss über die (Nicht-) Befolgung von Ersatzansprüchen gegen einen Geschäftsführer allerdings am Treupflichtgebot messen lassen. Hat die Mehrheit zuvor durch Satzungsänderung die bis dahin bestehende Entscheidungskompetenz des Aufsichtsrats beseitigt (oder relativiert), wird allemal Anlass bestehen, die Motive ihrer Entscheidung kritisch zu hinterfragen.

__________ 52 S. oben II. 2. 53 Vgl. zur Auslegung von statutarischen Kompetenzregelungen auch Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 53 Rz. 50. 54 Allgemein zu satzungsdurchbrechenden Beschlüssen in der GmbH zuletzt Lutter in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 53 Rz. 27 ff.; Roth in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 53 Rz. 28 ff.; Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 53 Rz. 40 ff.

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Verhaltener Anspruch und Verjährung Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Beispiele „verhaltener Ansprüche“ III. Definition und dogmatische Einordnung des „verhaltenen Anspruchs“

V. Fälligkeit des Anspruchs VI. Erfüllbarkeit des Anspruchs VII. Verjährung VIII. Resümee

IV. Bestand des Anspruchs

Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs war in den vergangenen Jahren wiederholt mit Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Sperrung ursprünglich zeitlich unbefristeter Telefonkarten befasst. Derzeit ist wiederum ein Verfahren anhängig, in dem die Frage zu entscheiden ist, welcher Verjährung der sog. Umtauschanspruch des Telefonkarteninhabers unterliegt. Der wiederum zuständige III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs wird diese Frage zwar vermutlich bei Erscheinen der dem Jubilar gewidmeten Festschrift bereits entschieden haben, es stellen sich aber in diesem Zusammenhang Fragen, die über den konkreten Einzelfall hinaus von dogmatischem Interesse sind, vor allem die Frage, was sich hinter der Rechtsfigur des „verhaltenen Anspruchs“ verbirgt. Da sich der Jubilar in zahlreichen Veröffentlichungen immer wieder auch mit solchen dogmatischen Grundsatzfragen befasst hat, hegt der Verfasser die Hoffnung, dass ihn die nachfolgenden Ausführungen interessieren könnten.

I. Einleitung Der „verhaltene Anspruch“ ist eine dogmatische Figur, die begrifflich auf Paul Langheineken zurückgeht1, 2. „Mit der Bezeichnung ‚verhaltener Anspruch‘ soll angedeutet sein, dass ein Anspruch bereits vorhanden ist, aber noch gewissermaßen ruht, aufgehalten ist, jedoch nicht durch ein äußeres, vom Willen des Berechtigten unabhängiges Hemmnis, sondern vielmehr derart

__________ 1 Herrn Dr. Mag. rer. publ. Matthias Weller danke ich für seine Unterstützung. 2 Erstmals der Sache nach: Langheineken, Der Urteilsanspruch – Ein Beitrag zur Lehre vom Klagerecht, Leipzig 1899, S. 124, in Anlehnung an die Anspruchslehre Windscheids, Lehrbuch des Pandektenrechts Bd. I, 7. Aufl. Frankfurt 1891, § 107 – Bedingungen der Anspruchsverjährung, S. 307 f.; ausführlich und unter Einführung des Begriffs Langheineken, Anspruch und Einrede nach dem deutschen bürgerlichen Gesetzbuche, Leipzig 1903, S. 94 f., 101 ff.; Langheineken, Der verhaltene Anspruch, in Festgabe der Juristischen Fakultät der Vereinigten Friedrichs-Universität HalleWittenberg für Wilhelm von Brünneck zum 8. August 1912, S. 27 ff.

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aufgehalten ist, dass der Anspruch jederzeit nach dem freien Belieben des Berechtigten in Bewegung gesetzt werden kann“3. Als allgemein schuldrechtliches Institut findet sich die Rechtsfigur des „verhaltenen Anspruchs“ in den verschiedensten Rechtsverhältnissen. Die jüngere Rechtsprechung nutzt dieses „Potential“ zunehmend, so dass zu den alten, bereits im historischen BGB vorfindlichen Fallgruppen neue Anwendungsbeispiele treten. Regelmäßig geht es dabei um die Frage, ab wann die Verjährungsfrist zu laufen beginnt: schon mit der Möglichkeit der Geltendmachung „nach dem freien Belieben des Berechtigten“ oder erst im Zeitpunkt, in dem diese tatsächlich erfolgt? Bis heute wird überwiegend die Auffassung vertreten, der verhaltene Anspruch unterliege wie jeder andere bereits mit seiner Entstehung der Verjährung4. Bei der grundlegenden Änderung des Verjährungsrechts im Zusammenhang mit der Schuldrechtsreform5 hat der Gesetzgeber nun allerdings für einige Fälle verhaltener Ansprüche die Verjährung speziell geregelt6. Die allgemein schuldrechtlichen Konsequenzen dieser Rechtsänderung sind noch nicht geklärt7. Es stellt sich daher heute dringlicher als noch für Langheineken die Frage, welche Voraussetzungen zur Qualifikation eines Anspruchs als einem „verhaltenen“ führen und welche Rechtsfolgen sich hieraus insbesondere für den Verjährungsbeginn ergeben.

II. Beispiele „verhaltener Ansprüche“ Einige von der Rechtsprechung anerkannte Fälle eines „verhaltenen Anspruchs“ seien vorab angeführt: der transportrechtliche Abtretungsanspruch

__________ 3 Langheineken in FS Brünneck, S. 29. 4 So schon Langheineken, Anspruch und Einrede, S. 106; Langheineken in FS Brünneck, S. 40; Gernhuber, Die Erfüllung und ihre Surrogate: sowie das Erlöschen der Schuldverhältnisse, Handbuch des Schuldrechts Bd. 1, Tübingen 1994, § 3 I 7 b, S. 57; Krüger in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, § 271 BGB Rz. 4; Bittner in Staudinger, BGB (März 2009), § 271 BGB Rz. 27; a. A. nunmehr Heinrichs in Palandt, BGB, 68. Aufl. 2009, § 199 Rz. 8, der annehmen will, dass infolge des neuen Verjährungsrechts der verhaltene Anspruch überhaupt erst mit Geltendmachung entsteht und deswegen auch erst in diesem Zeitpunkt der Verjährung unterliegt. Im ersten Punkt könnte sich Heinrichs sogar auf Windscheid berufen, im zweiten und entscheidenden hingegen nicht, Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts Bd. I, 7. Aufl. Frankfurt 1891, § 107, S. 307 f.: „Einen Fall gibt es, in welchem die Verjährung eines Anspruchs schon beginnt, ehe er entstanden ist. Dieser Fall ist, wenn die Entstehung des Anspruchs auf den nackten Willen des Berechtigten gestellt ist. Einen Anspruch, den ich durch das Wort in’s Leben rufen kann, kann ich ganz in der nämlichen Weise geltend machen, wie einen Anspruch, der mir jetzt schon zusteht, und meine Unthätigkeit in Beziehung auf denselben kann daher keine andere Bedeutung haben, als meine Unthätigkeit in Beziehung auf einen bereits entstandenen Anspruch“. 5 Umfassend hierzu z. B. Mansel/Budcikiewicz, Das neue Verjährungsrecht, Bonn 2002; Mansel/Stürner in AnwKomm, Bonn 2005, §§ 194 ff. BGB; Mansel, Die Neuregelung des Verjährungsrechts, NJW 2002, 89 ff. 6 §§ 604 Abs. 5, 695 Satz 2, 696 Satz 3 BGB. 7 Etwa Rieble, Verjährung „verhaltener“ Ansprüche – am Beispiel der Vertragsstrafe, NJW 2004, 2270: „Fehlkonzeption“.

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nach § 52 lit. a Satz 1 ADSp8, der presserechtliche Gegendarstellungsanspruch nach § 11 Abs. 1 Satz 1 LPresseG BW9, der Anspruch auf Moratoriumsentgelt nach § 1 Nr. 3 Bodensonderungsgesetz (BoSoG)10, der Anspruch des Anlagenbetreibers gegen den Netzbetreiber auf Herstellung des Anschlusses nach § 2 Stromeinspeisungsgesetz (STrEG) bzw. § 3 Abs. 1 Erneuerbare Energiengesetz (EEG)11, sowie der Anspruch des Arbeitnehmers aus einem für den Fall der Insolvenz vereinbarten Vergütungsausgleichs nach vorherigem Teilverzicht zur Sanierung12, der Anspruch aus einer Bürgschaftsforderung13, der vergaberechtliche Anspruch des Bewerbers aus § 27a VOB/A und § 27b VOL/A14, sowie der Anspruch des Arbeitnehmers auf Ausstellung eines Zeugnisses nach § 630 Satz 2 BGB15. Schließlich auch der Anspruch des Telefonkarteninhabers auf Umtausch alter, ursprünglich unbefristeter Karten im Gegenzug zur nachträglichen Sperrung nach Ablauf einer bestimmten Nutzungsfrist16. Im Schrifttum17 gelten – zumindest nach teilweise vertretener Auffassung – als verhaltene Ansprüche z. B. der Anspruch auf Begründung der Ermessensausübung des Bestimmungsberechtigten nach § 315 BGB gemäß § 242 BGB18, auf Versicherung an Eides statt der Vollständigkeit der gegebenen Rechenschaft über die mit Einnahmen und Ausgaben verbundene Verwaltung nach § 259 Abs. 2 BGB und der Vollständigkeit der Auskunft über den Inbegriff von Gegenständen nach § 260 Abs. 2 BGB, der Anspruch auf Herausgabe des stell-

__________ 8 BGH, Urt. v. 14.7.1988 – I ZR 155/86, NJW-RR 1988, 1374, Ls. 3 und Juris Rz. 22 – Stereo-Kassettendecks. Soweit ersichtlich handelt es sich um die erste höchstrichterliche Entscheidung zum verhaltenen Anspruch. 9 OLG Karlsruhe, Urt. v. 29.10.1999 – 14 U 106/99, Justiz 2000, 299, 300. 10 OLG Dresden, Urt. v. 23.2.2001 – 21 U 709/00, VIZ 2001, 687, 691: kein verhaltener Anspruch. 11 BGH, Urt. v. 26.11.2003 – VIII ZR 89/03, NJW-RR 2004, 453, 455; hierzu auch LG Bayreuth, Urt. v. 26.10.2007 – 22 O 146/05, RdE 2008, 98 (m. Anm. Duhm). 12 BAG, Urt. v. 19.1.2006 – 6 AZR 529/04, Juris Rz. 19, BAGE 117, 1, sub II 1 c bb: kein verhaltener Anspruch mit der Rechtsfolge, dass die Entgeltforderung Masseverbindlichkeit nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO ist, wenn der Insolvenzverwalter die Arbeitsleistung fordert – anders die Vorinstanz, LAG Berlin, Urt. v. 3.9.2004 – 6 Sa 1315/04. 13 OLG Brandenburg, Urt. v. 9.5.2007 – 4 U 187/06, Juris Rz. 39: kein verhaltener Anspruch; ebenso LG Dresden, Urt. v. 8.8.2007 – 8 O 3971/06, Juris Rz. 17 ff., und OLG Frankfurt, Urt. v. 11.12.2007 – 10 U 154/06, Juris Rz. 11 ff., BauR 2009, 840, zur Gewährleistungsbürgschaft. 14 OLG Karlsruhe, Urt. v. 18.3.2008 – 17 VerG 8/07. 15 LAG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 18.7.2008 – 10 Ta 122/08, Juris Rz. 27. 16 OLG Köln, Urt. v. 3.6.2009 – 11 U 213/03, nicht rechtskräftig: Telefonieranspruch als Hauptanspruch i. S. v. § 217 BGB maßgeblich und verhaltener Anspruch, hierzu noch genauer unten; a. A. OLG Nürnberg, Beschl. v. 22.2.2007 u. 16.5.2007 – 12 U 1636/06, OLGR Nürnberg 2008, 232 ff. 17 Überblick z. B. bei Krüger in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, § 271 BGB Rz. 4; Heinrichs in Palandt, BGB, 68. Aufl. 2009, § 199 BGB Rz. 8; Bittner in Staudinger, BGB (März 2009), § 271 BGB Rz. 27; Wolf in Soergel, BGB, 12. Aufl. 1990, § 271 BGB Rz. 24. 18 Gernhuber, Das Schuldverhältnis: Begründung, Änderung, Pflichten und Strukturen, Handbuch des Schuldrechts, Tübingen 1989, § 12 II 6 c, S. 289.

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vertretenden commodum nach § 285 BGB19, das Vertragsstrafeverlangen des Gläubigers nach § 340 Abs. 2 Satz 1 BGB20, der Anspruch des Gläubigers auf Quittung gegen Empfang der Leistung nach § 368 BGB sowie des Erwerbers der Hypothekenschuld auf Mitteilung der Schuldübernahme durch den Veräußerer nach § 416 Abs. 3 BGB21, das Verlangen eines von mehreren Gläubigern, die geschuldete Sache für alle Gläubiger zu hinterlegen oder an einen gerichtlich bestellten Verwahrer abzuliefern nach § 432 Abs. 1 Satz 2 BGB, der Anspruch des Käufers auf Nacherfüllung gem. § 439 Abs. 1 BGB22, die Rückgabepflicht des Entleihers nach § 604 Abs. 1 BGB, der Anspruch des Dienstpflichtigen im Dauerschuldverhältnis auf Freizeit zur Stellensuche nach Kündigung, § 629 BGB, der Anspruch eines jeden Beteiligten zur Hinterlegung der ausgelobten Belohnung nach § 660 Abs. 2 Halbsatz 2 BGB, der Anspruch des Beauftragten auf Vorschuss aus § 669 BGB, das Rückforderungsrecht des Hinterlegers nach § 695 Satz 1 BGB23, der Rücknahmeanspruch des Verwahrers nach § 696 Satz 1 BGB, der Anspruch auf Aufhebung der Gemeinschaft nach § 749 Abs. 1 BGB24, der Anspruch des Rechtsnießbrauchers und Gläubigers gegen den Schuldner auf Zahlung oder Hinterlegung des Kapitals nach § 1077 Abs. 1 Satz 2 BGB, der Anspruch des Rechts-Pfandgläubigers und Gläubigers gegen den Schuldner auf Leistung an Erstere gemeinschaftlich oder auf Hinterlegung der geschuldeten Sache für beide bzw. auf Ablieferung an einen gerichtlich bestellten Verwahrer nach § 1281 Satz 2 BGB, der Anspruch eines jeden Miterben gegen den durch einen Nachlassanspruch Verpflichteten, die Leistung für alle Miterben zu hinterlegen oder an einen gerichtlich zu bestellenden Verwahrer abzuliefern nach § 2039 Satz 2 BGB, der Anspruch des Erben gegen den Testamentsvollstrecker auf Überlassung von Nachlassgegenständen, deren er zur Erfüllung seiner Obliegenheiten offenbar nicht mehr bedarf, § 2217 Abs. 1 BGB, der Anspruch des Pflichtteilsberechtigten gegen den Erben auf Auskunft über den Bestand des Nachlasses, § 2314 Abs. 1 Satz 1 und 2 BGB, und schließlich der Anspruch des Kommanditisten aus § 166 Abs. 1 HGB auf abschriftliche Mitteilung des Jahresabschlusses und Prüfung der Richtigkeit unter Einsicht der Bücher und Papiere. Die vertragliche Vereinbarung verhaltener Ansprüche kommt vor allem dann in Betracht, wenn der Schuldner dem Gläubiger eine Kontrollmöglichkeit über seine Tätigkeit nach dem Vorbild des gesetzlichen Kontrollrechts des Kom-

__________ 19 Etwa Krüger in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, § 271 BGB Rz. 4; Rieble, NJW 2004, 2270, re.Sp.; a. A. unter neuem Schuldrecht Heinrichs in Palandt, BGB, 68. Aufl. 2009, § 271 BGB Rz. 1; offen gelassen von Grüneberg in Palandt, § 285 BGB Rz. 12. Eingehend und instruktiv zu Natur und Dogmatik des Anspruchs Felix Hartmann, Der Anspruch auf das stellvertretende commodum, Tübingen 2007. 20 Hierzu eingehend Rieble, NJW 2004, 2270 ff., mit differenzierenden Rechtsfolgen und Ratschlag für den Kautelarjuristen a. a. O., S. 2272. 21 Gernhuber, Erfüllung, § 3 I 7 b, S. 57. 22 Westermann in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2008, § 439 BGB Rz. 6; Frank Skamel, Nacherfüllung beim Sachkauf, Tübingen 2008, S. 65. 23 Heinrichs in Palandt, BGB, 68. Aufl. 2009, § 199 BGB Rz. 8: „Hauptanwendungsfall“. 24 Langhein in Staudinger, BGB (September 2008), § 749 BGB Rz. 48; a. A. Randolf Schnorr, Die Gemeinschaft nach Bruchteilen, Tübingen 2004, S. 379.

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manditisten nach § 166 HGB gewähren will25. Funktional äquivalent mit dem den verhaltenen Anspruch aktivierenden Leistungsverlangen des Gläubigers erscheint schließlich die beiderseits mögliche Kündigung des verzinslichen Darlehens ohne Zeitbestimmung für die Rückerstattung nach § 488 Abs. 3 BGB26, von der die Fälligkeit des bereits mit Vertragsschluss entstandenen27 Darlehensrückerstattungsanspruchs abhängt.

III. Definition und dogmatische Einordnung des „verhaltenen Anspruchs“ 1. Langheineken prägte den Begriff des verhaltenen Anspruchs als Bezeichnung einer „Unterart“28 des Anspruchs. Die formale Deduktion derartiger „Gruppen“29 innerhalb oberster Systembegriffe, genauer: die Beschreibung von Arten einer Gattung30, etwa mit den kontradiktorischen und damit in sich geschlossenen Begriffspaaren der „fälligen“ und „nichtfälligen“ oder der „freien“ und „gehemmten“ Ansprüche31 folgt der Methode der „Begriffsjurisprudenz“32. Deren zentrale hermeneutische Behauptung liegt darin, dass sämtliche in einer „Begriffspyramide“33 einander nachfolgenden Begriffe die – Rechtsfolgen auslösenden – Eigenschaften aller übergeordneten Begriffe aufweisen und mindestens eine weitere Eigenschaft, nämlich die artbildende. Die Begriffspyramide steht dabei für den Versuch, die (juristische) Welt als geschlossenes System zu entwickeln, deren Spitze die Rückkopplung an einen Überbau ermöglicht34 und deren Ableitungen den Rechtsstoff für die treffsichere Rechtsanwendung unter Bindung an das Gesetz ordnen35. Lang-

__________ 25 Gernhuber in Erfüllung, § 3 I 7 a, S. 57; Bittner in Staudinger, BGB (März 2009), § 271 BGB Rz. 27. 26 Langheineken, Anspruch und Einrede, S. 111; Bittner in Staudinger, BGB (März 2009), § 271 BGB Rz. 27; a. A. Gernhuber, Erfüllung, § 3 I 7 a S. 57. 27 Arg. ex. § 488 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 Satz 1 BGB („Fälligkeit“); Habersack, Auswirkungen der Schuldrechtsmodernisierung auf das Recht der Bankgeschäfte, in Neues Schuldrecht und Bankgeschäfte, Bankrechtstag 2002, Berlin 2003, S. 3, 7; Reiff in AnwKomm, Bonn 2005, § 488 BGB Rz. 5; a. A. Mülbert, Die Auswirkungen der Schuldrechtsreform im Recht des bürgerlichen Darlehensvertrags, WM 2002, 465, 469. 28 Langheineken in FS Brünneck, S. 27. 29 Langheineken in FS Brünneck, S. 27. 30 Vgl. nur Immanuel Kant, Logik – Ein Handbuch zu Vorlesungen, Allgemeine Elementarlehre, § 10 – Gattung und Art, Königsberg 1801, S. 138 (= Logik, Physische Geographie, Pädagogik, Akademie-Ausgabe Bd. IX, Berlin 1923, S. 96): „Der höhere Begriff heißt, in Rücksicht seines niederen, G a t t u n g (genus); der niedere Begriff, in Ansehung seines höheren, A r t (species)“ (Sperrung i.O.). 31 Jeweils Langheineken in FS Brünneck, S. 27. 32 Heck, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, Leipzig 1884, S. 337. 33 Larenz, Methodenlehre des Rechts, 6. Aufl. Berlin 1991, S. 20. 34 Puchta, Cursus der Institutionen Bd. 1, Leipzig 1865 §§ 1–6, S. 1 ff. 35 Methodenprägend und epochemachend durchgeführt von Puchta, Lehrbuch der Pandekten, Leipzig 1838, Zweites Kapitel – Von den Rechten, §§ 23 ff. S. 27 ff. Hierzu z. B. Hans-Peter Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die Begriffsjurisprudenz, Frankfurt 2002; Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre des 19. Jahrhunderts, 2. Aufl. Frankfurt 2003, S. 70 ff.

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heineken will also nichts anderes, als der Begriffspyramide des Anspruchs, die er „allgemeine Anspruchslehre“ nennt36, einen Baustein hinzuzufügen37. Auch wenn längst erkannt ist, dass das von der Begriffsjurisprudenz angestrebte Ideal einer lückenlosen formallogischen Subsumtion eben Ideal und als solches unerreichbar ist38, bleibt das Anliegen berechtigt, den Rechtsstoff für den in sich widerspruchsfreien Zugriff zu strukturieren. Freilich verbietet es sich aus heutiger dogmatischer Sicht, der formallogischen Begriffsableitung Priorität vor der juristischen Wertung einzuräumen. An der Notwendigkeit einer begrifflichen Praktizierung, worum es sich bei dem „verfallenen“ Anspruch handelt, ändert dies freilich nichts. Insoweit gelangt Langheineken zu folgenden Erkenntnissen: zu den von nichtfälligen Ansprüchen zu unterscheidenden „gehemmten“ Ansprüchen zählen betagte, bedingt wirksame und einredebehaftete Ansprüche39. Aus den § 202 Abs. 1 BGB a. F. und §§ 387 a. E., 390 BGB erwächst für gehemmte Ansprüche die charakteristische Rechtsfolge der Nichtaufrechenbarkeit und der Verjährungshemmung. Die Hemmung und die Nichtfälligkeit des Anspruchs sollen zwar in ihrer Bedeutung „nicht weit voneinander entfernt“ liegen40, jedoch gelte folgendes Verhältnis: alle gehemmten Ansprüche gehören zu den nichtfälligen, aber nicht alle nichtfälligen zu den gehemmten; „es gibt nämlich nichtfällige Ansprüche, die nicht als gehemmte Ansprüche bezeichnet werden können: das sind die „verhaltenen Ansprüche“41. Diese sind also nichtfällig, aber „frei“, demnach ungehemmt. Langheineken sieht sie damit „in der Mitte zwischen den fälligen Ansprüchen und den gehemmten Ansprüchen“42. Die begriffsjuristisch begründete Konsequenz aus dieser Ableitung ist: wenn ein nichtfälliger Anspruch nicht zur Gattung der gehemmten Ansprüche gehört, können für ihn die für gehemmte Ansprüche arttypischen Rechtsfolgen der Nichtaufrechenbarkeit und der Verjährungshemmung nicht gelten43. Ein Blick auf die §§ 257, 273, 738, 775, 1475, 2046 BGB zeigt indessen, wie problematisch diese ausschließlich begriffsgestützte Argumentation ist. Sämtliche zitierten Vorschriften betreffen nämlich Ansprüche, die Langheineken als gehemmt qualifiziert, und doch spricht der Normtext vom „nicht fälligen“ Anspruch, bedient sich also eines Terminus als Begriffsmerkmal, der die nächsthöhere Art und damit aus Sicht des gehemmten Anspruchs seine Gattung bezeichnet, zu der neben den gehemmten auch die verhaltenen An-

__________ 36 Langheineken in FS Brünneck, S. 29. 37 Langheineken in FS Brünneck, S. 35: Ziel sei es, „die Kategorie des verhaltenen Anspruches aus einer Vorschrift allgemeinen Charakters mittels der Grundsätze der sprachlichen Logik abzuleiten“ (kursive Hervorhebung hinzugefügt). 38 Prägnant jüngst Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, in Heinz Müller-Dietz (Hrsg.), Festschrift für Heike Jung zum 65. Geburtstag am 23. April 2007, Baden-Baden 2007, 231 ff., 237: „aus der Traum“, und S. 240: „Armseligkeit der Deduktion“. 39 Langheineken in FS Brünneck, S. 28. 40 Langheineken in FS Brünneck, S. 28. 41 Langheineken in FS Brünneck, S. 29. 42 Langheineken in FS Brünneck, S. 29. 43 Langheineken in FS Brünneck, S. 29.

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sprüche gehören, während in den §§ 387, 390 BGB von der dem Schuldner „nicht gebührenden Leistung“ oder davon die Rede ist, dass „eine Einrede entgegensteht“, die Begriffswahl also funktional bleibt und keine begriffliche Aussage über die Artzugehörigkeit des jeweiligen Anspruchs enthält. 2. Die methodische Aufarbeitung der Thematik durch Langheineken erweist sich hiernach als unzureichend. Vielmehr ist es geboten, nach der Funktion „verhaltener“ Ansprüche, nach den zugrunde liegenden Wertungen44 zu fragen. Die Folge ist: Es beginnt eben nicht schon deswegen die Verjährung eines Anspruchs sofort mit seiner Entstehung oder später, weil es sich um einen verhaltenen oder erst entstehenden Anspruch handelt, sondern weil die Entscheidung über konfligierende Wertungen und deren Abwägungen dies gebietet. Allein der Begriff des „verhaltenen Anspruchs“ als Begründungstopos verführt dagegen gerade wegen seiner begriffsjuristischen Provenienz zu formaler Abgrenzung45. Im Ergebnis zeichnet sich der verhaltene Anspruch in seiner Rechtswirkung dadurch aus, dass er zwar bereits besteht, weil bereits entstanden, also nicht etwa nur dem Grunde nach im Schuldverhältnis zur Entstehung „angelegt“ ist, aber noch nicht erfüllbar ist46. Dieses Ergebnis ist mit den im Gesetz sicher und unumstritten erkennbaren dogmatischen Grundelementen des Bestands des Anspruchs (§§ 311 Abs. 1, 241 Abs. 1 BGB), sowie seiner Fälligkeit und Erfüllbarkeit (§ 271 BGB) zu rekonstruieren. Erst dies erlaubt tragfähige Rückschlüsse im Blick auf die Verjährung.

IV. Bestand des Anspruchs § 241 Abs. 1 Satz 1 BGB setzt den „Bestand“ des Anspruchs als Teil des nach § 311 Abs. 1 BGB begründeten Schuldverhältnisses im weiteren Sinne voraus, um aus ihm die Berechtigung des Gläubigers abzuleiten, von dem Schuldner eine Leistung zu fordern. Die geschuldete Leistung gilt also nicht bereits mit Entstehung des Anspruchs als „gefordert“, vielmehr ist davon auszugehen, dass die Leistung nunmehr gefordert werden kann. Ob der Gläubiger die Leistung dann tatsächlich einfordert, bleibt außerhalb qualifizierter Formen der Leistungsforderung etwa in Gestalt der verzugsbegründenden Mahnung oder

__________

44 Zur heute herrschenden Wertungsjurisprudenz als verfeinerter Interessenjurisprudenz u. a. Larenz, Methodenlehre, S. 119 ff.; Esser, Grundsatz und Norm, Tübingen, 4. Aufl. 1990, S. 150: autonome Wertprinzipien als „starting points“ für die konkrete richterliche Normbildung“; Zippelius, Methodenlehre, München, 8. Aufl. 2003, S. 13; aus historischer Perspektive z. B. Meyer, Grundzüge einer systemorientierten Wertungsjurisprudenz, Juristische Studien Bd. 75, Tübingen 1984, Kap. 2 „Von der Interessenjurisprudenz zur Wertungsjurisprudenz“. Für die Rezeption durch die Rechtsprechung z. B. BGH, Urt v. 18.5.1955 – I ZR 8/54, BGHZ 17, 266, 267: „Jedem Gesetz liegt … eine Interessenabwägung zugrunde, die in bestimmter Weise auf das soziale Leben einwirken will“. 45 Symptomatisch jüngst OLG Köln, Urt. v. 3.6.2009 – 11 U 213/08, nicht rechtskräftig; hierzu noch genauer unten. 46 Gernhuber, Erfüllung, § 3 I 7 a, S. 56; Krüger in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, § 271 BGB Rz. 4.

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der verjährungsunterbrechenden Klageerhebung rechtlich irrelevant. Dies muß insofern überraschen, als zahlreiche Vorschriften zum verhaltenen Anspruch rechtstechnisch identisch gestaltet sind, indem sie lediglich vorsehen, dass der Gläubiger etwas verlangen kann47. Genau dies und nicht mehr regelt § 241 Abs. 1 Satz 1 BGB. Entsprechendes gilt für offensichtlich nicht verhaltene konkrete Ansprüche: braucht der Schuldner nach § 275 Abs. 1 bis 3 BGB nicht zu leisten, „kann“ der Gläubiger unter den Voraussetzungen des § 280 Abs. 1 BGB „Schadensersatz statt der Leistung verlangen“48 – es sei denn, man wollte das auch zur Verfügung stehende Rücktrittsrecht als Wahlalternative begreifen, wobei dies daran scheitert, dass das Schadensersatzverlangen nach § 325 BGB das Rücktrittsrecht gerade nicht (mehr) ausschließt. Selbst diejenigen Vorschriften, welche die angeblich den verhaltenen Anspruch signalisierende Wendung „auf Verlangen“ im Normtext enthalten, unterscheiden sich rechtstechnisch insoweit nicht von § 241 Abs. 1 Satz 1 BGB, sondern enthalten lediglich inhaltliche Konkretisierungen dessen, was der Gläubiger zu fordern berechtigt ist oder eben „verlangen“ darf49. Damit wird erkennbar, dass die Unterscheidung zwischen verhaltenen und nicht verhaltenen Ansprüchen jedenfalls nicht am Bestand oder Nichtbestand des jeweiligen Anspruchs anknüpfen kann. Daher ist die Auffassung abzulehnen, der verhaltene Anspruch entstehe (nach neuem Schuldrecht) erst mit seiner Aktivierung50.

V. Fälligkeit des Anspruchs Mit dem Befund, dass sich der verhaltene vom nicht verhaltenen Anspruch nicht im „Bestand“ unterscheidet, ist indessen noch nicht die Frage beantwortet, von welchem Zeitpunkt an der Gläubiger die Leistung zu fordern berechtigt ist. Dies ergibt sich aus dem systematischen Verhältnis von § 241 Abs. 1 Satz 1 BGB und § 271 BGB. Zugleich erwächst aus diesem Verhältnis eine Unterscheidung zwischen einem gleichsam allgemein bestehenden Forderungsrecht im Sinne von § 241 Abs. 1 Satz 1 BGB und der speziell in zeitlicher Hin-

__________ 47 §§ 285, 340 Abs. 2 Satz 1, 432 Abs. 1 Satz 2, 604 Abs. 1, 660 Abs. 2 Halbsatz 2, 1077 Abs. 1 Satz 2, 1281 Satz 2, 2039 Satz 2 BGB; ähnlich §§ 695 Satz 1, 696 Satz 1, 749 Abs. 1 BGB („kann jederzeit zurückfordern“ bzw. „kann jederzeit die Aufhebung der Gemeinschaft verlangen“). 48 Weniger offensichtlich ist die Qualifikation des Anspruchs aus § 281 BGB. Denn hier ist der Ausschluss der Leistung kein Tatbestandsmerkmal, so dass der Gläubiger zunächst den Primäranspruch behält, und zwar auch über die fruchtlos abgelaufene Frist zur Leistung hinaus. Erst wenn und soweit der Gläubiger Schadensersatz statt der Leistung verlangt, ist der Anspruch auf die Leistung ausgeschlossen, § 281 Abs. 4 BGB, und der Sekundäranspruch tritt an seine Stelle. Dies entspricht rechtstechnisch dem Verhältnis des Schadensersatzanspruchs zum Anspruch auf das stellvertretende commodum, so dass die Qualifikation als verhaltener Anspruch durchaus in Betracht kommt. 49 §§ 259 Abs. 2 Satz 1, 260 Abs. 2 Satz 1, 368, 416 Abs. 3, 669, 2217, 2314 BGB, 166 Abs. 1 HGB; rechtstechnisch ähnlich § 439 Abs. 1 BGB („kann … nach seiner Wahl … verlangen“). 50 Heinrichs in Palandt, BGB, 68. Aufl. 2009, § 199 BGB Rz. 8. Insoweit ebenso bereits Windscheid, Pandekten I, S. 307 f.

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sicht eintretenden Forderbarkeit des Anspruchs51. Die Forderbarkeit wird üblicherweise als Fälligkeit bezeichnet. Wenn es diese Unterscheidung gibt, dann stellt sich für den verhaltenen Anspruch die Frage, ob und gegebenenfalls ab wann er nicht nur gleichsam allgemein im Sinne von § 241 Abs. 1 Satz 1 BGB forderbar ist, sondern auch und gerade in Ansehung des Zeitmoments im Sinne von § 271 BGB. Hierüber gehen die Auffassungen auseinander. Langheineken hält den verhaltenen Anspruch bis zur Aktivierung für nicht fällig52. Dem steht die heute herrschende Auffassung gegenüber, dass der verhaltene Anspruch durchaus bereits vor Aktivierung fällig sein kann und dies nach § 271 Abs. 1 BGB auch regelmäßig ist53. Von Nichtfälligkeit zu sprechen, obwohl der Anspruch jederzeit nach freiem Belieben wirksam aktiviert werden kann, überzeugt in der Tat nicht. Fälligkeit ist vielmehr anzunehmen, sobald der Gläubiger seinen bestehenden Anspruch aktivieren kann, nicht erst, wenn er ihn tatsächlich aktiviert54. Die Aktivierung ist als eine Ausübungsmodalität des Anspruchs zu verstehen, die Fälligkeit voraussetzt. Hieraus folgt, dass der Fälligkeitszeitpunkt für einen Anspruch autonom zu bestimmen ist, insbesondere losgelöst von der Frage, ob ein verhaltener Anspruch vorliegt. Sowohl der verhaltene als auch der nicht verhaltene Anspruch können sofort mit ihrer Entstehung oder später fällig werden. Wird der Anspruch später als mit seiner Entstehung fällig, hängt dies nicht vom Zeitpunkt der tatsächlichen Aktivierung des verhaltenen Anspruchs ab. Umgekehrt gilt vielmehr, dass die Wirksamkeit der Rechtshandlung der Aktivierung von der Fälligkeit abhängt. Die Qualifikation eines Anspruchs als ein verhaltener enthält damit keine Aussage über den Fälligkeitszeitpunkt. Es ist deshalb verfehlt, zu fragen, ob ein verhaltener Anspruch als solcher fällig oder nicht fällig ist. Er kann es sein, er muss es aber nicht sein. Ob er es ist, richtet sich für den verhaltenen wie für den nicht verhaltenen Anspruch nach denselben allgemein schuldrechtlichen Kriterien der Fälligkeit gemäß § 271 BGB.

__________ 51 Der Sache nach ebenso Langheineken, Anspruch und Einrede, S. 101: „Der [verhaltene] Anspruch ist also bereits voll begründet, es ist also jemand berechtigt, eine Leistung zu verlangen‘; es liegt aber noch keine a k t u e l l e Verpflichtung beim Schuldner vor“ (Sperrung i.O.). 52 Langheineken in FS Brünneck, S. 29. Gernhuber, Erfüllung, § 3 I 7 a, S. 56, Fn. 20, entnimmt Langheineken, Anspruch und Einrede, S. 112 Fn. 2 allerdings die gegenteilige Behauptung, dass Fälligkeit notwendige Voraussetzung des verhaltenen Anspruchs sein solle, übersieht dabei aber, dass Langheineken insoweit nur den Zustand des Anspruchs nach seiner Aktivierung meint, für die Zeit vor Aktivierung hingegen in sich konsistent lehrt „die Thatsache, daß die [a. a. O. behandelten] … Ansprüche … nichtfällig sind deshalb, weil sie verhaltene Ansprüche sind“. 53 Bittner in Staudinger, BGB (März 2009), § 271 BGB Rz. 27; Krüger in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, § 271 BGB Rz. 4; Gernhuber, Die Erfüllung und ihre Surrogate, § 3 I 7 a, S. 56. 54 Windscheid, Pandekten I, S. 307 f., hielt aus denselben Gründen einen Verjährungsbeginn ausnahmsweise bereits vor Anspruchsentstehung (durch Aktivierung) für möglich. Die dogmatische Konstruktion tritt also auch bei ihm schon hinter der gebotenen Wertung im Konfliktfall zurück. Vorzugswürdig ist allerdings eine dogmatische Konstruktion, die die Wertung konstruktiv widerspiegelt. Auch deswegen ist die heute herrschende Auffassung – Bestand und Fälligkeit ab Aktivierungsmöglichkeit – überlegen.

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VI. Erfüllbarkeit des Anspruchs Wenn also weder Besonderheiten im „Bestand“ noch solche der Fälligkeit den verhaltenen Anspruch dogmatisch prägen, kommen nur noch Besonderheiten der Erfüllbarkeit in Betracht. Grundsätzlich kann der Schuldner unabhängig von einem Leistungsverlangen des Gläubigers die Leistung bewirken, sobald der Anspruch besteht, und zwar selbst dann, wenn die Leistung noch nicht fällig ist55. Diese Unabhängigkeit der Erfüllbarkeit von der Fälligkeit bringt § 271 Abs. 1 BGB zum Ausdruck: der Schuldner kann die Leistung sofort bewirken, daneben kann der Gläubiger die Leistung sofort verlangen, ohne dass Letzteres Voraussetzung für Ersteres wäre. Fälligkeit und Erfüllbarkeit sind damit jeweils autonom eintretende, allerdings verkehrstypisch zeitgleich eintretende Rechtswirkungen des Bestands des Anspruchs. Erfüllbarkeit und Fälligkeit können dann aber auch ohne weiteres und unabhängig voneinander zeitlich auseinanderfallen, weil beide Rechtswirkungen jeweils auch später als mit der Entstehung des Anspruchs eintreten können, etwa bei einer Leistungszeitbestimmung. Diese ist nämlich nach § 271 Abs. 2 BGB dahingehend auszulegen, dass der Gläubiger die Leistung zwar nicht vor der bestimmten Zeit zu fordern berechtigt ist, wohl aber der Schuldner die Leistung „vorher“ und damit regelmäßig sofort mit Entstehung des Anspruchs bewirken kann. § 271 Abs. 2 BGB erinnert damit daran, dass es den Parteien in den Grenzen der Privatautonomie freisteht, von grundsätzlich eintretenden Rechtswirkungen der Entstehung des Anspruchs durch Vereinbarung abzuweichen. Ohne weiteres könnten die Parteien die zu § 271 Abs. 2 BGB umgekehrte Reihenfolge der Rechtswirkungen vereinbaren: erst Fälligkeit (im Sinne jederzeitiger Aktivierbarkeit), später, nämlich ab Aktivierung, Erfüllbarkeit. Eben dieser Schuldinhalt ist es, der in Ansehung der Leistungszeit mit dem Begriff des „verhaltenen Anspruchs“ gekennzeichnet werden soll56. Damit wird zugleich erkennbar, dass es für die umgekehrte Reihenfolge, also die unter § 271 Abs. 2 BGB angesprochene, keine eigene Bezeichnung gibt. Das Fehlen eines Gegenbegriffs zum Begriff des „verhaltenen“ Anspruchs57 kann man hinnehmen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es eben nicht auf eine terminologische Ableitung ankommt, sondern auf eine funktionale. Die Qualifikation eines Anspruchs als „verhalten“ bezeichnet folglich in methodischer Hinsicht ein bestimmtes Ergebnis der (ergänzenden) Vertragsauslegung, das gegebenenfalls durch dispositives Recht determiniert wird, wenn nämlich der Gesetzgeber zum Ausdruck bringt, dass er in dem jeweils speziell geregelten Sachverhalt – etwa für das Rückforderungsrecht des Hinterlegers nach § 695 Satz 1 BGB – die

__________ 55 Gernhuber, Erfüllung, § 3 I 6, S. 54: „Die vorzeitige Leistung ist dem Schuldner grundsätzlich erlaubt“. 56 So Heinrichs in Palandt, BGB, 68. Aufl. 2009, § 271 BGB Rz. 1: „Umgekehrt ist es bei den sog. verhaltenen Ansprüchen. Bei ihnen darf der Schuldner nicht von sich aus leisten, der Gläubiger kann aber jederzeit die Leistung fordern“. Ebenso Krüger in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, § 271 BGB Rz. 4. 57 Man kann natürlich – farblos, aber formallogisch korrekt – vom „nicht verhaltenen“ Anspruch sprechen.

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Modifikation des Erfüllbarkeitszeitpunktes entgegen der generellen Regel für verkehrstypisch hält.

VII. Verjährung In welcher Weise sich der solchermaßen gewillkürte Zeitpunkt der Erfüllbarkeit darauf auswirkt, ab wann der Anspruch der Verjährung unterliegt, ist damit noch nicht geklärt. Begrifflich ist die Antwort einfach: der verhaltene Anspruch ist entstanden und besteht fort, er unterliegt damit bereits als solcher der Verjährung, denn auch der verhaltene Anspruch gehört als Unterart zur Gattung der Ansprüche und diese Gattung wiederum unterliegt nach § 194 Abs. 1 BGB einschränkungslos der Verjährung. Begriffsjuristisch folgt hieraus: „Der verhaltene Anspruch beginnt … s o f o r t (mit seiner Entstehung) zu v e r j ä h r e n“58. Dies freilich bedarf noch der wertenden Absicherung. Denn wenn die Qualifikation des Anspruchs als „verhalten“ lediglich die Verschiebung des Erfüllbarkeitszeitpunktes kraft ergänzender Vertragsauslegung bezeichnet, ist das Verjährungsrecht dogmatisch frei, den Beginn der Verjährung eigenständig zu bestimmen. Diese Freiheit nimmt das Verjährungsrecht – zu Recht, weil eigenständigen, bereichsspezifischen Wertungen unterliegend – auch in Anspruch59. Die entscheidende Frage zur Verjährung verhaltener Ansprüche weist damit zwei Aspekte auf: zum einen ist zu klären, warum die Parteien in manchen Fällen eine Modifikation des Erfüllbarkeitszeitpunkts vereinbaren, zum anderen stellt sich die Frage, ob sich die Gründe hierfür auf den Verjährungsbeginn auswirken können. 1. Im Kern sichert die Herrschaft des Gläubigers über den Zeitpunkt der Erfüllbarkeit Wahlrechte des Gläubigers. Die ihm atypisch eingeräumte „Aktivierungsbefugnis“ hat also eine rechtstechnische Hilfsfunktion und beruht nicht primär auf einer Wertung zum angemessenen Zeitpunkt der Erfüllbarkeit. Nach § 285 BGB kann der Gläubiger wählen zwischen dem Schadensersatz statt der Leistung und dem stellvertretenden commodum60. Nach § 340 Abs. 1 bzw. Abs. 2 BGB etwa soll der Gläubiger wählen dürfen zwischen Erfüllung und der Vertragsstrafe bzw. Schadensersatz statt der Leistung und der Ver-

__________ 58 Langheineken in FS Brünneck, S. 40. 59 Erfreulich explizit Mansel/Budcikiewicz, Das neue Verjährungsrecht, S. 61 Rz. 77, zur Entstehung des Anspruchs als Anknüpfungspunkt für den Beginn der Verjährung nach § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB: „Damit ist aber allein die Anspruchsentstehung im Sinne des Verjährungsrechts gemeint“. Diese schließt, anders als sonst, die Fälligkeit des Anspruchs aus spezifisch verjährungsrechtlichen Wertungen ein, Mansel/ Budcikiewicz, a. a. O., S. 62 Rz. 78. 60 Grüneberg in Palandt, BGB, 68. Aufl. 2009, § 285 BGB Rz. 10: elektive Konkurrenz zwischen Schadensersatzanspruch und Herausgabeanspruch im Sinne eines ius variandi des Gläubigers; Emmerich in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, § 285 BGB Rz. 36: Ersetzungsbefugnis steht dem Gläubiger zu. Danach kann der Anspruch aus § 285 BGB dann kein verhaltener sein, wenn mangels Schadensersatzanspruchs gar keine elektive Konkurrenz besteht.

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tragsstrafe61. Nach § 432 Abs. 1 Satz 2 BGB kann jeder Gläubiger zwischen Erfüllung an die Forderungsgemeinschaft oder den angegebenen Erfüllungssurrogaten wählen. Nach § 439 Abs. 1 BGB soll der Gläubiger des Nacherfüllungsanspruchs wählen können zwischen Nacherfüllung durch Mangelbeseitigung und Neulieferung62. Der Verleiher soll nach § 604 Abs. 3 BGB wählen können zwischen Fortführung der auf unbestimmte Zeit vereinbarten Leihe und Rückforderung der geliehenen Sache, der Hinterleger nach § 695 Satz 1 BGB zwischen Fortführung der auf unbestimmte Zeit vereinbarten Verwahrung und Rückforderung der hinterlegten Sache. Der Verwahrer kann nach § 696 Satz 1 BGB zwischen der Fortführung der Verwahrung und der Rücknahme der hinterlegten Sache durch den Hinterleger wählen. In allen diesen Fällen soll es dem Schuldner verwehrt sein, seinerseits die Wahl zu treffen. Anderenfalls hat seine Leistung keine Erfüllungswirkung, denn es fehlt ohne die „Aktivierung“ durch den Gläubiger eben an der Erfüllbarkeit der Leistung. Das Erfordernis der Geltendmachung der Leistung als Voraussetzung der Erfüllbarkeit dient somit zur rechtstechnischen Durchsetzung von Wahlrechten des Gläubigers innerhalb der geschuldeten Leistung. Dass er damit insgesamt auch über den Zeitpunkt der Erfüllbarkeit entscheidet, ist lediglich ein Reflex der gewählten Rechtstechnik. Nicht alle als verhalten geltenden Ansprüche lassen sich in dieser Weise „rationalisieren“. Die Ansprüche auf die Versicherung an Eides statt, der Richtigkeit der gegebenen Rechenschaft bzw. der Auskunft über den Inbegriff des Gegenstands aus §§ 259 Abs. 2, 260 Abs. 2 BGB verstärken über die an sie knüpfende Strafdrohung aus § 156 StGB lediglich den Anspruch des Gläubigers auf sorgfältige Rechnungslegung bzw. Auskunft. Es ist daher nicht erkennbar, warum es den Interessen des Gläubigers zuwiderlaufen sollte, wenn der Schuldner von sich aus die eidesstattliche Versicherung abgibt. In der Tat ist der Schuldner berechtigt zur freiwilligen Abgabe der Versicherung vor Geltendmachung des Anspruchs durch den Gläubiger63 – ein mit der Funktion des verhaltenen Anspruchs unvereinbares Ergebnis. Dennoch ist das Ergebnis richtig. Hier scheint die Qualifikation des Anspruchs als ein verhaltener wohl eher den Schuldner vor der Unterstellung schützen zu wollen, er habe nicht richtig Rechenschaft abgelegt oder Auskunft erteilt. Hierauf nimmt das Gesetz aber schon insofern hinreichend Rücksicht, als der Anspruch tatbestandlich den „Grund zur Annahme“ voraussetzt, „dass die in der Rechnung enthaltenen Angaben über die Einnahmen nicht mit der erforderlichen Sorgfalt gemacht worden sind“, § 259 Abs. 2 BGB, bzw. „dass das Verzeichnis nicht mit der erforderlichen Sorgfalt aufgestellt worden ist“, wofür jeweils der Gläubiger nach allgemeinen Grundsätzen darlegungs- und beweisbelastet ist. Dann aber empfiehlt es sich, für die §§ 259, 260 BGB nicht mehr – irreführend – von verhaltenen Ansprüchen zu

__________ 61 Rieble, Verjährung „verhaltener“ Ansprüche – am Beispiel der Vertragsstrafe, NJW 2004, 2270. 62 Weidenkaff in Palandt, BGB, 68. Aufl. 2009, § 439 BGB Rz. 5: elektive Konkurrenz zugunsten des Gläubigers, keine Wahlschuld i. S. v. §§ 262–265, unter der das Wahlrecht (im Zweifel) dem Schuldner zusteht. 63 Heinrichs in Palandt, BGB, 68. Aufl. 2009, §§ 258–261 BGB Rz. 32.

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sprechen, ungeachtet dessen, dass der Normtext den Vorbehalt „auf Verlangen“ enthält. Darauf, dass dieser Wortlaut auch deswegen unbeachtet bleiben kann, weil § 241 Abs. 1 Satz 1 BGB eine ganz ähnliche Formulierung („ist berechtigt, … zu fordern“) enthält, wurde bereits hingewiesen. 2. Die entscheidende Frage ist damit, wie sich der Grund für die Modifikation des Erfüllbarkeitszeitpunkts, nämlich die Sicherung von Wahlrechten für den Gläubiger, auf den Verjährungsbeginn auswirkt. Dabei muss gelten, dass eine Modifikation des Verjährungsrechts nur dann in Betracht kommt, wenn es anderenfalls das Wahlrecht des Gläubigers leerlaufen lässt. Dies war nach der Schuldrechtsreform der Fall für die Ansprüche des Verleihers, des Hinterlegers und des Verwahrers, §§ 604 Abs. 3, 695 Satz 1, 696 Satz 1 BGB. Denn angesichts der Verkürzung der regelmäßigen Verjährungsfrist von 30 auf 3 Jahre besteht die Gefahr, dass die jeweiligen Gläubiger unter dem Druck der mit Entstehung des Anspruchs laufenden Verjährung die zugrunde liegenden, unbefristeten Rechtsverhältnisse beenden, um ihre Rückgabe- bzw. Rücknahmeansprüche nicht verjähren zu lassen, obwohl sie vielleicht das Rechtsverhältnis ohne die drohende Verjährung fortgeführt hätten. Das neue Verjährungsrecht nimmt damit – nach drei Jahren64 – den Gläubigern ihr Wahlrecht, das Rechtsverhältnis fortzuführen oder die Sache zurückzuverlangen bzw. zurückzugeben. Nach altem Recht war dies zwar nicht anders, jedoch führte die 30-jährige Regelverjährung dazu, dass rechtstatsächlich derartige Fälle nicht auftraten, so dass man diese Verwerfung nicht erkannte oder jedenfalls hinnehmen konnte. Weil dies unter der dreijährigen Frist anders ist, entschloss sich der Gesetzgeber dazu, das Verjährungsrecht zur Sicherung des Wahlrechts des Gläubigers durch die §§ 604 Abs. 5, 695 Satz 2, 696 Satz 3 BGB zu modifizieren und die Verjährung hier erst mit Ausübung des Wahlrechts, also „Aktivierung“ des verhaltenen Anspruchs, beginnen zu lassen65. Im Umkehrschluss folgt hieraus, dass dort, wo ein Wahlrecht nicht in derselben oder vergleichbarer Weise durch allgemeines Verjährungsrecht konterkariert wird oder überhaupt kein Wahlrecht des Gläubigers besteht, eine Korrektur des Verjährungsrechts durch Rechtsanalogie zu den genannten Vorschriften von vornherein ausscheidet. Von einem nunmehr geltenden „Prinzip“ für verhaltene Ansprüche, dass diese erst mit Aktivierung der Verjährung unterliegen, kann also bei der gebotenen wertenden Betrachtung keine Rede sein66. Vielmehr ist

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64 Genauer: drei Jahre nach Ablauf des Jahres, in dem der Rückforderungsanspruch durch Begründung des Leih- bzw. Verwahrungsvertrags entstand, § 199 Abs. 1 BGB. 65 Die Gesetzesbegründung dringt freilich zu diesem Begründungszusammenhang nicht vor, sondern lässt sich vom Begriff des verhaltenen Anspruchs irreführen, BTDrucks. 14/6040, S. 258, re.Sp., zu § 604 Abs. 5 BGB-RegE. 66 Gegen Heinrichs in Palandt, BGB, 68. Aufl. 2009, § 199 BGB Rz. 8; Mansel/Stürner in AnwKomm, Bonn 2005, § 199 BGB Rz. 22; zu Recht differenzierend Mansel/ Budcikiewicz, Das neue Verjährungsrecht, S. 64 Rz. 89: „Überträgt man den in den §§ 604 Abs. 5, 695 Satz 2, 696 Satz 3 statuierten Grundsatz auf alle verhaltenen Ansprüche, so wird dennoch einschränkend in jedem Einzelfall gesondert zu prüfen sein, ob die Verlagerung des Verjährungsbeginns interessengerecht ist“. Nur erwächst aus den genannten Vorschriften eben kein Grundsatz für verhaltene Ansprüche insgesamt, sondern der Grundsatz, dass das Wahlrecht nicht durch das Verjährungsrecht unterlaufen werden darf.

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eine Interessenbewertung anhand des jeweiligen Einzelfalles erforderlich67, ob vom Grundsatz des § 199 Abs. 1 Satz 1 BGB abzuweichen ist, wonach die Verjährung mit dem Schluss des Jahres beginnt, in dem der Anspruch entstanden und fällig geworden ist. Das aus den spezifischen Wertungen des verhaltenen Anspruchs erwachsende Interesse kann dabei allein die Sicherung des Wahlrechts der Gläubiger gegenüber eigenmächtiger Wahl unter möglichen Erfüllungs- bzw. Anspruchsalternativen durch den Schuldner sein. Im Übrigen kommen nur die allgemeinen verjährungsrechtlichen Wertungen in Betracht. Danach aber gilt: Verjährung ab Fälligkeit des Anspruchs.

VIII. Resümee Der Begriff des „verhaltenen Anspruchs“ verspricht mehr, als er halten kann, was daran liegt, dass er einer begriffsjuristischen Ableitung entstammt. Dies verdeckt seine Funktion, rechtstechnisch Wahlrechte des Gläubigers durch Kontrolle des Erfüllbarkeitszeitpunkts zu sichern. Nur dort, wo ein solches Wahlrecht tatsächlich besteht, kann die ergänzende Vertragsauslegung zu der Annahme führen, die Parteien hätten redlicherweise dem Gläubiger die Herrschaft über den Erfüllbarkeitszeitpunkt eingeräumt und also einen verhaltenen Anspruch schaffen wollen. Dies ist längst nicht bei allen als „verhalten“ geltenden Ansprüchen der Fall. Für diese nur scheinbar „verhaltenen“ Ansprüche muss es von vornherein beim Grundsatz des § 199 Abs. 1 Satz 1 BGB bleiben: Verjährung mit Fälligkeit des Anspruchs. Für die auch bei wertender Betrachtung „verhaltenen“ Ansprüche gilt grundsätzlich nichts anderes. Denn fällig ist der verhaltene Anspruch bereits dann, wenn er jederzeit „aktivierbar“ ist. Modifikationen des Verjährungsrechts für verhaltene Ansprüche kommen daher allein dort in Betracht, wo ansonsten das Wahlrecht des Gläubigers durch das allgemeine Verjährungsrecht unterlaufen wird. Dies wäre der Fall gewesen für die Ansprüche aus §§ 604 Abs. 3, 695 Satz 1, 696 Satz 1 BGB, nachdem die Regelverjährungsfrist von 30 auf 3 Jahre verkürzt wurde. Nur deswegen hat sich der Schuldrechts-Reformgesetzgeber zur Korrektur durch spezialgesetzliche Verschiebung des Verjährungsbeginns auf den Zeitpunkt der Geltendmachung des „verhaltenen“ Anspruchs entschlossen, §§ 604 Abs. 5, 695 Satz 2, 696 Satz 3 BGB. Es verbietet sich daher eine Rechtsanalogie aus diesen Vorschriften für alle verhaltenen Ansprüche. Vielmehr gilt auch in Anbetracht der §§ 604 Abs. 3, 695 Satz 1, 696 Satz 1 BGB unverändert der aus § 199 Abs. 1 Satz 1 BGB abzuleitende Grundsatz: Verjährung mit Fälligkeit des (verhaltenen) Anspruchs.

__________ 67 Zutreffend Mansel/Budcikiewicz, Das neue Verjährungsrecht, S. 64 Rz. 89 mit der Konsequenz, dass etwa der Anspruch auf das stellvertretende commodum aus § 285 BGB nicht erst mit Herausgabeverlangen der Verjährung unterliegt, denn in der Tat ist hier „nicht ersichtlich, aus welchem Grund dem Gläubiger die Möglichkeit eröffnet werden sollte, trotz Kenntnis von dem Empfang des Ersatzes oder des Ersatzanspruchs die Verjährung des Herausgabeanspruchs dadurch hinausschieben zu können, dass er diesen nicht geltend macht“. Ebenso geht Rieble, NJW 2004, 2270, 2272 ff., für die Vertragsstrafe vor.

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Gedanken zum Girokonto für jedermann Inhaltsübersicht I. Historische Entwicklung 1. Die ZKA-Empfehlung zum Girokonto für jedermann 2. Die Einschätzung der ZKA-Empfehlung durch die Bundesregierung II. Die ZKA-Empfehlung im Spiegel der Schlichtungspraxis des Ombudsmanns der privaten Banken 1. Schlichtungssprüche zur ZKAEmpfehlung a) Unzulässigkeit eines Schlichtungsverfahrens b) Erforderlichkeit einer Beweisaufnahme c) Unanwendbarkeit der ZKAEmpfehlung aa) Kreditinstitute, die Girokonten nicht für alle Bevölkerungsgruppen führen bb) Direktbanken

cc) Anderweitiges Girokonto dd) Keine Subsidiarität ee) Insolvenz des Kunden d) Allgemeine (unbenannte) Unzumutbarkeitsgründe e) Besondere Unzumutbarkeitsgründe 2. Erledigung von Beschwerden zugunsten des Kunden ohne Schlichtungsspruch und Umsetzung der gegen die Bank ergangenen Schlichtungssprüche III. Zum Rechtsanspruch auf ein Girokonto 1. Gewährt das geltende Recht einen Anspruch auf ein Girokonto? a) Rechtsprechung b) Stellungnahme 2. Einführung eines Kontrahierungszwangs durch den Gesetzgeber?

Die Problematik des Beitrags steht im Focus „Zwischen Vertragsfreiheit und Verbraucherschutz“ und passt sich deshalb in besonderer Weise dem Titel der Festschrift zu Ehren des Freundes Friedrich Graf von Westphalen ein, für den dieses Spannungsfeld seit Jahrzehnten ein Thema mit immer neuen Variationen ist. In der Diskussion um das Girokonto für jedermann geht es zum einen um die Frage, ob es einen Rechtsanspruch auf Eröffnung eines Girokontos geben und wie ein solcher Anspruch durchgesetzt werden soll, zum anderen um die Grenzen, die einem solchen Anspruch gesetzt sind. Diese Fragen werden im Folgenden mehr am Rande berührt. Im Mittelpunkt soll die Empfehlung der Spitzenverbände der deutschen Kreditwirtschaft zum Girokonto für jedermann und ihre Handhabung in Schlichtungsverfahren vor dem Ombudsmann der privaten Banken stehen.

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I. Historische Entwicklung 1. Die ZKA-Empfehlung zum Girokonto für jedermann In der Erkenntnis, dass dem unbaren Zahlungsverkehr im Wirtschaftskreislauf eine besondere Bedeutung zukommt, in Deutschland fast jeder Erwachsene über ein Girokonto verfügt und daher Verbraucher, die davon ausgeschlossen sind, „bei der Entgegennahme von Gehaltszahlungen oder sonstigen Einkünften oder der Begleichung von Miet-, Strom-, Telefon- oder Versicherungsrechnungen in Schwierigkeiten kommen“ können „bzw. … zumindest einen Zusatzaufwand und/oder Kosten für Bareinzahlungen in Kauf nehmen“ müssen, kam es Anfang 1995 nach einem Gutachten des Instituts für Finanzdienstleistungen (IFF) in Hamburg, das in dem Ausschluss sozial und wirtschaftlich schwacher Verbraucher von der Unterhaltung einer Kontoverbindung bei Banken und Sparkassen einen Verstoß gegen das Sozialstaatsprinzip sah, zu politischen Bestrebungen, jedem volljährigen Bürger einen Anspruch auf die Eröffnung eines sog. Guthaben-Girokontos zu verschaffen1. Auf Seiten der Kreditinstitute wurde demgegenüber auf eine „freiwillige Selbstverpflichtung“ gesetzt. So meldete der Bundesverband deutscher Banken gegen eine gesetzliche Verpflichtung von Banken zur Führung eines derartigen Guthaben- oder Mindestkontos wegen des damit verbundenen Kontrahierungszwangs grundsätzliche ordnungspolitische und rechtliche, insbesondere verfassungsrechtliche Bedenken an2. Nachdem Vertreter des Bundesministeriums der Finanzen bei einer Anhörung der im Zentralen Kreditausschuss (ZKA) zusammengeschlossenen Spitzenverbände der deutschen Kreditwirtschaft deutlich gemacht hatten, dass die Bundesregierung „aufgrund der sozialen Dimension, der Öffentlichkeitswirksamkeit und der allgemeinen politischen Qualität des Themas dringend Handlungsbedarf sehe und schnellstmöglich eine Lösung wünsche“3, erarbeitete der ZKA zusammen mit dem Bundesfinanzministerium eine Empfehlung zum Girokonto für jedermann. Sie beruht auf der Voraussetzung, dass „gewisse unternehmerische Grenzen, wie – die Freiheit eines jeden Instituts, seine bankgeschäftlichen Aktivitäten selbst zu bestimmen, – die Freiheit der Produktgestaltung, – der Anspruch auf ein angemessenes, möglichst kostendeckendes Leistungsentgelt sowie – der Grundsatz der Zumutbarkeit nicht beeinträchtigt werden“4. Die Bundesregierung begrüßte diesen Entschluss der kreditwirtschaftlichen Verbände, „durch eine an die Freiwilligkeit der ein-

__________ 1 Vgl. Kurzinformation Girokonto für jedermann, Die Bank 1995, 634. Zur wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung eines Girokontos auch BT-Drucks. 16/2265, S. 3 bis 5. 2 Die Bank 1995, 634 f. 3 Die Bank 1995, 635. 4 Die Bank 1995, 635. Vgl. auch Steuer, Girokonto für jedermann, WM 1998, 439.

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zelnen Mitgliedsinstitute appellierende Empfehlung den bestehenden Unzuträglichkeiten abzuhelfen“5. Die im Juni 1995 verabschiedete6 ZKA-Empfehlung zum Girokonto für jedermann hat folgenden Wortlaut7: Alle Kreditinstitute, die Girokonten für alle Bevölkerungsgruppen führen, halten für jede/n Bürgerin/Bürger in ihrem jeweiligen Geschäftsgebiet auf Wunsch ein Girokonto bereit. Der Kunde erhält dadurch die Möglichkeit zur Entgegennahme von Gutschriften, zu Barein- und -auszahlungen und zur Teilnahme am Überweisungsverkehr. Überziehungen braucht das Kreditinstitut nicht zuzulassen. Jedem Institut ist es freigestellt, darüber hinausgehende Bankdienstleistungen anzubieten. Die Bereitschaft zur Kontoführung ist grundsätzlich gegeben, unabhängig von Art und Höhe der Einkünfte, z. B. Arbeitslosengeld, Sozialhilfe. Eintragungen bei der Schufa, die auf schlechte wirtschaftliche Verhältnisse des Kunden hindeuten, sind allein kein Grund, die Führung eines Girokontos zu verweigern. Das Kreditinstitut ist nicht verpflichtet, ein Girokonto für den Antragsteller zu führen, wenn dies unzumutbar ist. In diesem Fall darf die Bank auch ein bestehendes Konto kündigen. Unzumutbar ist die Eröffnung oder Fortführung einer Kontoverbindung insbesondere, wenn – der Kunde die Leistungen des Kreditinstitutes missbraucht, insbesondere für gesetzwidrige Transaktionen, z. B. Betrug, Geldwäsche o. Ä.; – der Kunde Falschangaben macht, die für das Vertragsverhältnis wesentlich sind; – der Kunde Mitarbeiter oder Kunden grob belästigt oder gefährdet; – die bezweckte Nutzung des Kontos zur Teilnahme am bargeldlosen Zahlungsverkehr nicht gegeben ist, weil z. B. das Konto durch Handlungen vollstreckender Gläubiger blockiert ist oder ein Jahr lang umsatzlos geführt wird; – nicht sichergestellt ist, dass das Institut die für die Kontoführung und -nutzung vereinbarten üblichen Entgelte erhält; – der Kunde auch im Übrigen die Vereinbarungen nicht einhält.

2. Die Einschätzung der ZKA-Empfehlung durch die Bundesregierung a) Auf Bitten des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages vom September 1995 legte die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag im September 1996 ihren ersten Bericht zur Umsetzung der ZKA-Empfehlung vor8. Der zweite Bericht folgte am 9.6.20009, nachdem der Deutsche Bundestag in der Sitzung

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5 Die Bank 1995, 635. 6 BT-Drucks. 15/2500, S. 2. 7 Abgedruckt u. a. BT-Drucks. 15/2500, S. 8; bei Schimansky in Schimansky/Bunte/ Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2007, § 47 Rz. 4; in den vom Bundesverband deutscher Banken herausgegebenen Tätigkeitsberichten über den Ombudsmann der privaten Banken, zuletzt: Tätigkeitsbericht 2008, 116, abrufbar im Internet unter www.bankenverband.de. Der Text der ZKA-Empfehlung ist im Internet ebenfalls abzurufen unter www.zentraler-kreditausschuss.de „Girokonto für jedermann“, „ZKAEmpfehlung“. Die Sparkassen haben zur Ausfüllung der ZKA-Empfehlung „Sonderbedingungen für das Basis-Girokonto“ geschaffen. Sie sind abgedruckt bei Bunte in Schimansky/Bunte/Lwowski, a. a. O., Anhang zu § 2. 8 Vgl. BT-Drucks. 14/3611, S. 3; BT-Drucks. 16/2265, S. 9. 9 BT-Drucks. 14/3611.

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vom 5.6.1997 die Bundesregierung aufgefordert hatte, ihm über die weitere Umsetzung der ZKA-Empfehlung bis zum 31.12.1999 erneut zu berichten10. In seiner Sitzung vom 31.1.2002 nahm der Deutsche Bundestag eine Entschließung zum „Girokonto für jedermann“ an. Darin forderte er die Bundesregierung auf, alle zwei Jahre über die weitere Umsetzung der ZKA-Empfehlung, zur Wirkung der Beschwerdestellen und Struktur der Inhaber von Girokonten für jedermann als Grundlage für die Prüfung zu berichten, ob eine gesetzliche Regelung notwendig sei11. Dem kam die Bundesregierung mit ihren Berichten vom 11.2.200412, 14.7.200613 und 16.12.200814 nach. b) In dem Bericht vom 9.6.2000 hielt die Bundesregierung legislative Maßnahmen derzeit nicht für geboten. Nach ihrer näher begründeten Einschätzung wäre ein Gesetz auch nicht geeignet, die im Bereich des Girokontos für jedermann noch vorhandenen Probleme abschließend so zu regeln, dass für die Zukunft Problemfälle ausgeschlossen werden könnten15. c) In dem Bericht vom 11.2.2004 ging die Bundesregierung davon aus, dass die ZKA-Empfehlung mittlerweile von allen beteiligten Kreditinstituten dem Grunde nach akzeptiert werde, und begrüßte, dass sämtliche Bankenverbände Schlichtungsstellen eingerichtet hätten, die mit Problemfällen zur ZKA-Empfehlung befasst werden könnten. Allerdings mahnt sie die Kreditinstitute, die Nutzung dieser Einrichtungen attraktiv und verbraucherfreundlich zu gestalten, die Stellen im Fall einer Kontoablehnung oder -kündigung, deren Gründe dokumentiert werden sollten, schriftlich zu benennen und die Entscheidungsgründe der Schlichtungsstellen in kurzer anonymisierter Form zu veröffentlichen, damit „einzelne Schlichtersprüche Signalwirkung auch für andere Banken entwickeln könnten.“ Unter Anerkennung der grundsätzlich positiven Ergebnisse bei der Umsetzung der ZKA-Empfehlung und des Bestrebens der Kreditwirtschaft, diese Entwicklung fortzuführen, hielt die Bundesregierung „derzeit eine gesetzliche Verpflichtung der Kreditwirtschaft zur Einrichtung von Girokonten für nicht geboten“16. d) In dem Bericht vom 14.7.2006 kam die Bundesregierung zu dem Schluss, dass die ZKA-Empfehlung trotz unstreitiger Verbesserungen im Schlichtungswesen nicht ausreiche, das bestehende Problem auf Dauer zu minimieren und in Zukunft eine messbare Wirkung auf die einzelnen Institute mit dem Ziel zu entfalten, dem Begehren nach Kontoeröffnung immer dann stattzugeben, wenn dies für das einzelne Institut nach dem Inhalt der Empfehlung zumutbar sei. Grund hierfür sei, dass die ZKA-Empfehlung zu nichts verpflichte und nie-

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BR-Drucks. 417/97; BT-Drucks. 13/7627. BT-Drucks. 14/5216. BT-Drucks. 15/2500. BT-Drucks. 16/2265; abgedruckt in ZVI 2006, 356 ff.; dazu aus der Sicht der Verbraucherzentrale Bundesverband Springeneer, Ein etwas anderer Fall von „Masselosigkeit“: Die ZKA-Empfehlung „Girokonto für jedermann“, ZVI 2006, 313 ff.; vgl. auch WM 2006, 1650. 14 BT-Drucks. 16/11495. 15 BT-Drucks. 14/3611, S. 7. 16 BT-Drucks. 15/2500, S. 6.

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manden binde. Sie sei nicht als Selbstverpflichtung der Kreditinstitute zu interpretieren, weil sie nicht mit einem Rechtsbindungswillen ausgestattet sei. Das gelte auch für Schiedssprüche, die gegenüber dem einzelnen Institut bezüglich der Einhaltung der ZKA-Empfehlung keinerlei Bindungswirkung entfalteten. Deshalb sei allein ein Maßnahmepaket neuen Inhalts, das gemeinsam von Staat und Wirtschaft getragen werde, geeignet, mittelfristig Verbesserungen in diesem Bereich sicherzustellen. Eine Lösung mache nicht ausschließlich gesetzliche Regelungen erforderlich, sondern die Kreditwirtschaft könne durch Selbstverpflichtungen und Selbstregulierung einen wesentlichen Beitrag leisten17. Die Bundesregierung schlug deshalb neben der Vorlage eines die rechtlichen Rahmenbedingungen der kontoführenden Kreditinstitute verbessernden Gesetzentwurfs zur Änderung des Kontenpfändungsrechts vor18: Die Kreditwirtschaft ersetzt die bislang rechtlich unverbindliche Empfehlung des ZKA aus dem Jahr 1995 durch eine Selbstverpflichtung, die diesen Namen verdient. Darunter versteht die Bundesregierung eine Verpflichtung der einzelnen Kreditinstitute, Bürgerinnen und Bürgern auf Wunsch ein Girokonto für jedermann zu eröffnen bzw. ein solches Konto weiterzuführen, soweit diesem Wunsch keine Unzumutbarkeitsgründe entgegenstehen. Diese Verpflichtung muss die einzelnen Kreditinstitute gegenüber (potenziellen) Kunden rechtlich binden. Darüber hinaus verpflichten sich die Kreditinstitute, die Schlichtungssprüche ihrer jeweiligen Schlichtungsstellen als bindend zu akzeptieren. Durch diese Maßnahmen der Kreditwirtschaft würde das bisher bestehende Defizit der jetzigen Empfehlung, die fehlende rechtliche Bindung gegenüber den Kunden, beseitigt und Rechtssicherheit für die betroffenen Bürgerinnen und Bürger geschaffen werden.

e) In dem Bericht vom 16.12.2008 wies die Bundesregierung darauf hin, sie habe ihrerseits im September 2007 einen Gesetzentwurf zur Reform des Kontopfändungsschutzes auf den Weg gebracht und damit ihre – auch der Entlastung der Kreditwirtschaft dienende – Vorleistungspflicht bei der Umsetzung des Maßnahmenpakets zeitnah in Angriff genommen. Sie bedauerte, dass die von der Kreditwirtschaft zu schaffenden Komponenten noch nicht aufgegriffen worden seien. Die bisher unverbindliche Empfehlung zum Girokonto für jedermann habe zu einer wirklichen, d. h. rechtlich verbindlichen Selbstverpflichtung der Kreditinstitute gegenüber dem einzelnen Kunden weiterentwickelt und die Verpflichtung der Kreditinstitute, die Schlichtungssprüche ihrer jeweiligen Schlichtungsstellen als bindend anzuerkennen, akzeptiert werden sollen. Aus der Sicht des Bundesfinanzministeriums erscheine es mit Blick auf die Zeitachse unumgänglich, bei einem weiteren Verzicht der Kreditwirtschaft auf zusätzliche Maßnahmen der Selbstregulierung gesetzliche Maßnahmen zur Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger am Zahlungsverkehr zu treffen. Ein dem Finanzausschuss und dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages von dem Bundesministerium der Finanzen und dem insoweit federführenden Bundesministerium der Justiz im Februar 2008 zugeleiteter Bericht komme zu dem Ergebnis, dass eine Verpflichtung der Banken zum Abschluss eines Girovertrages mit Kunden, die kein Girokonto haben, gesetzlich

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17 BT-Drucks. 16/2265, S. 26 f. 18 BT-Drucks. 16/2265, S. 27.

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geregelt werden könne, soweit Ausnahmen für Fälle der Unzumutbarkeit vorgesehen würden. Als möglicher Regelungsort käme in erster Linie eine schuldrechtliche Regelung im Bürgerlichen Gesetzbuch in Betracht; eine aufsichtsrechtliche Regelung im Kreditwesengesetz wäre weniger geeignet19.

II. Die ZKA-Empfehlung im Spiegel der Schlichtungspraxis des Ombudsmanns der privaten Banken Um eine bessere Grundlage für die Entscheidung zu finden, ob im Interesse wirtschaftlich/sozial schwächerer Personen ein Rechtsanspruch auf die Einrichtung oder Fortführung eines Girokontos begründet werden sollte, mag es hilfreich sein, einen Blick auf die Erfahrungen eines Ombudsmanns im Umgang mit der ZKA-Empfehlung zu werfen. Dieser erlässt nicht nur Entscheidungen, sondern ist in geeigneten Fällen auch bemüht, in unmittelbarem Kontakt mit den Banken darauf hinzuwirken, dass diese dem Beschwerdeführer ohne weitere Umstände ein Girokonto (wieder) zur Verfügung stellen. 1. Schlichtungssprüche zur ZKA-Empfehlung a) Unzulässigkeit eines Schlichtungsverfahrens Der Ombudsmann kann nach Nr. 2 Abs. 1 Buchst. a der Verfahrensordnung für die Schlichtung von Kundenbeschwerden im deutschen Bankgewerbe20 (fortan kurz: VerfO) nur angerufen werden, wenn es sich bei dem Beschwerdeführer um einen Verbraucher handelt. Ist der streitige Geschäftsvorfall der gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit des Beschwerdeführers zuzurechnen, ist ein Schlichtungsverfahren nicht zulässig. Das gilt nach Auffassung des Ombudsmanns auch in Fällen, in denen der Beschwerdeführer einen Verstoß der Bank gegen die – auch sachlich auf Verbraucher zugeschnittene – ZKA-Empfehlung rügt. Demzufolge lautet Nr. 4 Abs. 4 Satz 5 VerfO: Beschwert sich ein Verbraucher darüber, dass die Bank ihm kein Girokonto – zumindest auf Guthabenbasis – errichtet, überprüft der Ombudsmann, ob die Bank hierbei die Empfehlung der Spitzenverbände der deutschen Kreditwirtschaft (ZKA) zum „Girokonto für jedermann“ beachtet.

Aus diesem Grund wird in der Schlichtungspraxis in den Fällen, in denen das gekündigte oder gewünschte Konto ausschließlich oder in erheblichem Umfang für gewerbliche oder berufliche Zwecke – auch für eine „Existenzgründung“ – genutzt wurde und/oder werden soll, gemäß Nr. 4 Abs. 4 Satz 3 VerfO wegen Unzulässigkeit der Beschwerde von einer Schlichtung abgesehen21.

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19 BT-Drucks. 16/11495, S. 8. 20 Vgl. Bekanntmachung im Bundesanzeiger vom 10.11.2009, 3862. Die frühere Fassung – Bundesanzeiger vom 5.3.2003, 3901 – ist abgedruckt bei Steuer in Schimansky/ Bunte/Lwowski (Fn. 7), § 3 Rz. 28 sowie in den Tätigkeitsberichten über den Ombudsmann der privaten Banken (Fn. 7), zuletzt Tätigkeitsbericht 2008, 100. Zum Schlichtungsverfahren etwa Kreft, Paralipomena zum Ombudsmann der privaten Banken, in FS A. Krämer, 2009, S. 287 ff. 21 Vgl. Tätigkeitsbericht (Fn. 7) 2004, 45.

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b) Erforderlichkeit einer Beweisaufnahme Nach Nr. 4 Abs. 4 Satz 2 VerfO führt der Ombudsmann eine Beweisaufnahme nicht durch, es sei denn, der Beweis kann durch die Vorlegung von Urkunden angetreten werden. Der Ombudsmann kann danach insbesondere keinen Beweis durch Zeugen- und Parteivernehmung oder durch Einholung eines Sachverständigengutachtens erheben. Eine derartige Beweisaufnahme kann bei streitigem Sachvortrag der Parteien auch bei Streitigkeiten im Rahmen der ZKA-Empfehlung erforderlich werden. In einem solchen Fall ist gemäß Nr. 4 Abs. 4 Satz 3 VerfO ebenfalls von einer Schlichtung, d. h. einer Entscheidung in der Sache, abzusehen. Derartige Entscheidungen kommen vor allem zu dem Unzumutbarkeitsgrund der groben Belästigung oder Gefährdung von Mitarbeitern oder Kunden in Betracht, wenn die Bank die Voraussetzungen dafür hinreichend vorträgt, der Beschwerdeführer sie aber in Abrede stellt. Dazu unten zu e), cc). c) Unanwendbarkeit der ZKA-Empfehlung aa) Kreditinstitute, die Girokonten nicht für alle Bevölkerungsgruppen führen Die ZKA-Empfehlung richtet sich nach ihrem ersten Satz nur an solche Kreditinstitute, die Girokonten für alle Bevölkerungsgruppen führen. Dies stellte eine Bank mit der Behauptung in Frage, sie biete ihre Produktpalette nur den Mitarbeitern von Unternehmen an, auf deren Werks- und Unternehmensgelände sie Filialen unterhalte; in Ausnahmefällen könnten auch Verwandte und Bekannte von Werksangehörigen an ihrem Geschäftsmodell teilnehmen. Der Ombudsmann stellte mit Hilfe des Internets fest, dass die Bank ihre Produktpalette in ganz Deutschland einschränkungslos offerierte, und kam zu dem Ergebnis, dass sie an die ZKA-Empfehlung gebunden sei. bb) Direktbanken (1) Begehrt ein Verbraucher von einer Direktbank ohne Filialnetz die Eröffnung oder Fortführung eines Girokontos für jedermann, geht die ständige Schlichtungspraxis dahin, dass der Bank dies nicht zuzumuten ist. Der Kunde kann das Girokonto hier nur hinreichend nutzen, wenn ihm die Möglichkeit der Barabhebung an einem Bankautomaten eingeräumt wird. Dazu geben die Direktbanken Karten heraus, die zur Abhebung an Automaten berechtigen, aber auch zu Kontoüberziehungen führen können. Überziehungen braucht eine Bank nach der ZKA-Empfehlung jedoch nicht zuzulassen. Von einer Direktbank zu verlangen, für einige wenige Kunden eine Karte zu entwickeln, die zwar Barabhebungen auf Guthabenbasis zulasse, Kontoüberziehungen aber ausschließe, wäre wegen des damit verbundenen beträchtlichen Aufwands unverhältnismäßig und sei ihr deshalb nicht zuzumuten. (2) Eine Unzumutbarkeit der Kontoführung ist jedoch zu verneinen, wenn die Direktbank ihren Girokunden die Möglichkeit eines Schalterservice bei einer anderen Bank einräumt. Dann bedarf der Kunde einer Karte zur Abhebung an 421

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Bankautomaten nicht, sondern kann am Schalter Barein- und -auszahlungen vornehmen, so dass Kontoüberziehungen ohne besonderen Aufwand zu verhindern sind. cc) Anderweitiges Girokonto (1) Wird für den Beschwerdeführer ein Girokonto bei einem anderen Kreditinstitut geführt, findet die ZKA-Empfehlung nach ihrem Sinn und Zweck grundsätzlich keine Anwendung, weil sichergestellt ist, dass der Beschwerdeführer am bargeldlosen Zahlungsverkehr teilnehmen kann. Auf mehr als ein Girokonto besteht auch nach der ZKA-Empfehlung kein Anspruch. Dies entspricht der ständigen Schlichtungspraxis22. Dies gilt regelmäßig auch dann, wenn für den Beschwerdeführer während des Schlichtungsverfahrens bei einem anderen Kreditinstitut ein Girokonto eröffnet wird. Das Schlichtungsverfahren hat sich damit erledigt23. (2) Allerdings muss das andere Girokonto zum bargeldlosen Zahlungsverkehr tauglich sein. Dies trifft nicht zu, wenn sich das Konto nach einer Kündigung in Abwicklung befindet. Ein solches Konto ist für den bargeldlosen Zahlungsverkehr ebenso ungeeignet wie ein bereits gelöschtes Konto und genügt daher nicht den Zielvorstellungen der ZKA-Empfehlung, jedermann ein Konto zur Verfügung zu stellen, über das er den Zahlungsverkehr – wenn auch nur auf Guthabenbasis – abwickeln kann24. (3) Führt der Beschwerdeführer zusammen mit seiner Ehefrau bei einem anderen Kreditinstitut ein ungekündigtes Girokonto in Form eines Oder-Kontos, findet die ZKA-Empfehlung jedenfalls dann keine Anwendung, wenn der Beschwerdeführer keine Gründe darlegt, die gegen eine Weiterführung des Gemeinschaftskontos sprechen. (4) Kündigt ein Kunde sein Girokonto ohne triftigen Grund und begehrt dann bei einem anderen Kreditinstitut die Eröffnung eines Girokontos, etwa weil er die Konditionen für besser hält, kann er sich grundsätzlich nicht mit Erfolg auf die ZKA-Empfehlung berufen, weil er sich ohne Not um ein Girokonto gebracht hat. Einen im Ermessen des Kunden liegenden Wechsel des Kreditinstituts will die ZKA-Empfehlung nicht begünstigen. (5) Anders kann es sein, wenn der Beschwerdeführer seinen Wohnort wechselt und ihm die Abwicklung des Zahlungsverkehrs an dem bisherigen Wohnort wegen zu großer Entfernung nicht zumutbar ist. dd) Keine Subsidiarität Kündigt ein Kreditinstitut die Kontoverbindung und wendet der Beschwerdeführer sich an ein anderes Institut mit der Bitte um Eröffnung eines Giro-

__________ 22 Vgl. Tätigkeitsbericht (Fn. 7) 2005, 50; 2006, 64; 2007, 68; 2008, 78. 23 Vgl. Tätigkeitsbericht (Fn. 7) 2004, 47. 24 Vgl. Tätigkeitsbericht (Fn. 7) 2006, 63.

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kontos, so kann dieses Institut das Begehren selbst dann, wenn die Kündigung mit der ZKA-Empfehlung nicht vereinbar war, nicht allein deshalb ohne Verstoß gegen die ZKA-Empfehlung ablehnen, weil der Antragsteller zunächst ein Schlichtungsverfahren gegen das Erstinstitut durchführen müsse. Der negative Kompetenzkonflikt darf nicht auf dem Rücken des Kunden ausgetragen werden, sondern ist zwischen den Instituten zu klären. Etwas anderes ist der ZKAEmpfehlung nicht zu entnehmen25. ee) Insolvenz des Kunden Wird über das Vermögen des Kunden ein Insolvenzverfahren eröffnet, erlischt der Girovertrag als Geschäftsbesorgungsvertrag gemäß § 304 Abs. 1 Satz 1, § 116 Satz 1, § 115 Abs. 1 InsO. Gleichwohl schließt dies die Notwendigkeit einer Teilhabe des Kunden am bargeldlosen Zahlungsverkehr nicht ohne weiteres aus. Deshalb findet nach der Schlichtungspraxis die ZKA-Empfehlung auch in diesem Fall Anwendung, soweit der Insolvenzverwalter/Treuhänder einer Kontoführung zustimmt26. d) Allgemeine (unbenannte) Unzumutbarkeitsgründe aa) Mit dem Hinweis, aufgrund früherer Erfahrungen mit dem Beschwerdeführer sehe die Bank keine Basis für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit, kann die Bank eine Unzumutbarkeit der Einrichtung eines Girokontos nicht dartun. Um ein Konto auf Guthabenbasis zu führen, bedarf es grundsätzlich keiner vertrauensvollen Zusammenarbeit27. bb) Die Führung eines Girokontos ist der Bank nicht zuzumuten, wenn der Antragsteller sich nicht damit einverstanden erklärt, dass die Bank der SCHUFA Holding AG die üblichen Daten übermittelt und eine Schufa-Auskunft über ihn einholt. cc) Altverbindlichkeiten (dazu unten zu e, ff, (4), (5)). e) Besondere Unzumutbarkeitsgründe aa) Der Kunde missbraucht die Leistungen des Kreditinstituts, insbesondere für gesetzwidrige Transaktionen, z. B. Betrug, Geldwäsche o. Ä. (1) Ein Girokonto für einen Antragsteller zu eröffnen, der zuvor im Wege der Kontovollmacht ein bei der Bank für eine andere Person geführtes Girokonto benutzte, um seine eigenen Geldgeschäfte abzuwickeln und sich so dem Zugriff seiner Gläubiger auf eigene Konten zu entziehen, ist der Bank nicht zumutbar28.

__________ 25 26 27 28

Vgl. auch Tätigkeitsbericht (Fn. 7) 2003, 45; 2006, 63. Vgl. auch Tätigkeitsbericht (Fn. 7) 2003, 44; 2004, 46; 2007, 67. Vgl. Tätigkeitsbericht (Fn. 7) 2001/2002, 29. Vgl. Tätigkeitsbericht (Fn. 7) 2003, 45.

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(2) Die Unzumutbarkeit der Fortführung einer Kontoverbindung wurde ferner in einem Fall bejaht, in dem auf dem Konto ausschließlich Zahlungen für einen Dritten eingingen und über Kontoguthaben nahezu ausnahmslos durch Barabhebungen verfügt wurde29. (3) Einen zur Kündigung berechtigenden Kontomissbrauch sah der Ombudsmann auch darin, dass der Beschwerdeführer sein Konto einem Bekannten zur Verfügung stellte, der veranlasste, dass dem Konto an zwei Tagen in betrügerischer Weise sechs Beträge in Höhe von mehr als 5.000 Euro gutgeschrieben wurden, von denen der Beschwerdeführer den Großteil abhob und dem Bekannten übergab, während der Rest sichergestellt wurde. (4) Der Verdacht auf eine strafbare Handlung des Kontoinhabers kann unter Umständen zur Annahme einer Unzumutbarkeit der Fortführung der Kontoverbindung wegen Missbrauchs des Kontos ausreichen. Dies bejahte der Ombudsmann in einem Fall, in dem das Girokonto des späteren Beschwerdeführers von der Bank mit sofortiger Wirkung gekündigt wurde, weil der Bank gefälschte Überweisungsaufträge zu Lasten von fünf bei ihr geführten Konten erteilt (wenn auch nicht ausgeführt) wurden, deren Beträge sämtlich dem Konto des Beschwerdeführers gutgeschrieben werden sollten. Die Inhaber der fünf Konten stellten Strafanzeige; Anklage wurde nicht erhoben. Knapp zwei Jahre nach der Kündigung beantragte der Beschwerdeführer bei der Bank die erneute Eröffnung eines Girokontos. Die Bank hielt dies für unzumutbar und bekam Recht. Die Umstände, die zur Kündigung geführt hätten, ließen den Verdacht aufkommen, dass der Beschwerdeführer in die mit den gefälschten Überweisungsaufträgen verbundenen strafbaren Handlungen – vor allem Urkundenfälschung und Betrugsversuch – verwickelt gewesen sei. Nach der Lebenserfahrung liege es nicht fern, dass der Inhaber eines Kontos, auf das die Beträge gefälschter Überweisungsaufträge transferiert werden sollten, in das Vorhaben einbezogen sei. Dafür sprächen auch die gegen den Beschwerdeführer gerichteten Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft. Dass es nicht zur Anklage gekommen sei, besage nicht notwendig, dass der Verdacht ausgeräumt worden sei. Dem Vorbringen des Beschwerdeführers sei nicht hinreichend zu entnehmen, dass er ohne sein Wissen und ohne seinen Willen in die Angelegenheit hineingezogen worden und ein bloßes Opfer anderer gewesen sei. Da die Bank der Schufa wegen der Kontokündigung keine Negativmeldung gemacht habe, auf die andere, mit dem Sachverhalt nicht vertraute Kreditinstitute eine Kontoablehnung stützen könnten, erscheine die Kontoablehnung durch die Bank nicht unverhältnismäßig. Dem Beschwerdeführer wurde geraten, anderweitig um ein Girokonto nachzusuchen. bb) Der Kunde macht Falschangaben, die für das Vertragsverhältnis wesentlich sind. Dieser Unzumutbarkeitsgrund ist verhältnismäßig selten Gegenstand von Schlichtungsverfahren.

__________ 29 Vgl. Tätigkeitsbericht (Fn. 7) 2008, 80 f.

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(1) Fragt eine Bank ihre Kunden regelmäßig als erstes nach Negativ-Merkmalen bei der Schufa und verweigert sie bei unwahren Angaben ertappten Kunden die Einrichtung eines Girokontos, unterläuft die Bank nach der Einschätzung des Ombudsmanns das Anliegen der ZKA-Empfehlung, auch für überschuldete Personen ein heute lebensnotwendiges Girokonto zu führen. (2) Anders wurde in einem Fall entschieden, in dem der Antragsteller die Frage nach negativen Schufa-Eintragungen wahrheitswidrig verneint hatte, obwohl die Bank, der damals eine Anfrage bei der Schufa aus technischen Gründen nicht möglich war, ihn auf die Wichtigkeit wahrheitsgemäßer Angaben über bedeutsame Bonitätskriterien hingewiesen und betont hatte, dass unrichtige Angaben zu einer Kündigung führen könnten. Als die Bank nach Eröffnung des begehrten Kontos feststellte, dass eine Fülle von negativen Merkmalen bestand, die aus zurückliegenden und aus aktuellen Begebenheiten herrührten, kündigte sie das Konto wegen Unzumutbarkeit. Dafür hatte der Ombudsmann Verständnis. cc) Grobe Belästigung oder Gefährdung von Mitarbeitern oder Kunden30. Auch dieser Unzumutbarkeitsgrund wird relativ selten von Banken angeführt. In einem Fall trug die Bank vor, im Zuge von unbegründeten Wünschen des Kontoinhabers nach Vorschusszahlungen, welchen die Bank nicht entsprochen habe, sei es regelmäßig zu lautstarken Diskussionen gekommen, durch die sich nicht nur die Mitarbeiter, sondern auch die Kunden erheblich gestört gefühlt hätten. Einmal sei von den Mitarbeiterinnen am Schalter männliche Unterstützung erbeten worden, mehrere Kunden hätten sich über die Belästigung und die zeitliche Verzögerung im Serviceablauf beschwert. Bei einem weiteren, von der Bank wieder abgelehnten Antrag auf Vorschuss habe der Kontoinhaber die zuständige Bankmitarbeiterin vor anderen Kunden persönlich beleidigt und sie und die Bank der Unfähigkeit bezichtigt. Hier hielt der Ombudsmann auf der Grundlage des Vorbringens der Bank die Kündigung des Kontos wegen Unzumutbarkeit der Fortführung der Kontoverbindung für berechtigt. Da der Kunde nicht bestritt, dass es zu unliebsamen, von ihm zu verantwortenden Vorfällen gekommen war, sondern sein Verhalten nur herunterspielte und die Darstellung der Bank für übertrieben hielt, wies er die Beschwerde zurück, betonte aber, dass wegen des gegenläufigen Parteivorbringens jedenfalls nicht ohne eine im Ombudsmannverfahren unzulässige Beweisaufnahme durch Zeugen- und ggf. Parteivernehmung zugunsten des Beschwerdeführers entschieden werden und daher in keinem Fall eine Sachentscheidung zugunsten des Beschwerdeführers ergehen könne. dd) Die bezweckte Nutzung des Kontos zur Teilnahme am bargeldlosen Zahlungsverkehr ist nicht gegeben, weil z. B. das Konto durch Handlungen vollstreckender Gläubiger blockiert ist oder ein Jahr lang umsatzlos geführt wird. Während eine Kündigung kaum je auf eine mindestens einjährige umsatzlose Kontoführung gestützt wird, führen Banken den Unzumutbarkeitsgrund der

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30 Vgl. auch Grüneklee, Der Kontrahierungszwang für Girokonten bei Banken und Sparkassen, 2001, S. 65 ff.

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Kontoblockierung durch Pfändungen am häufigsten zur Begründung einer Kündigung von Girokonten wirtschaftlich/sozial schwacher Personen an. In aller Regel haben Beschwerden hier jedoch Erfolg, wenn die Bank sich nicht zusätzlich auf einen anderen Unzumutbarkeitsgrund berufen kann. (1) In diesem Zusammenhang ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Ombudsmann bei jeder Kündigung zunächst prüft, ob die Sechs-Wochen-Frist (seit 1.11.2009 Zwei-Monats-Frist) der dem Muster von Nr. 19 Abs. 1 Satz 3 AGBBanken entsprechenden Klausel der Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Bank eingehalten wurde. Nicht ganz selten – freilich mit abnehmender Tendenz – kommt der Ombudsmann zu dem Ergebnis, dass die Kündigung wegen Nichtwahrung der Kündigungsfrist unwirksam ist und die Kontoverbindung daher fortbesteht. Dann erfolgt im Schlichtungsspruch eine entsprechende Feststellung. Obwohl es hier der Prüfung eines Unzumutbarkeitsgrundes nicht bedarf, legt der Ombudsmann in geeigneten Fällen dennoch dar, ob er einen solchen Grund für gegeben hält oder nicht, um Rechtsklarheit für die Zukunft zu schaffen31. (2) Da bei Kontopfändungen der Unzumutbarkeitsgrund nicht darin liegt, dass und in welchem Umfang die Bank infolge solcher Pfändungen finanziell belastet wird, sondern allein darin, dass das Konto durch die Gläubigerhandlung „blockiert“ wird, d. h. nicht mehr zur Entgegennahme von Gutschriften, für Barein- und -auszahlungen und zur Teilnahme am Überweisungsverkehr tauglich ist, kommt der Ombudsmann im Hinblick auf die Pfändungsschutzvorschriften des § 55 Abs. 1 SGB I und des § 850k ZPO, der nach höchstrichterlicher Rechtsprechung auf den gemäß § 55 Abs. 4 SGB I unpfändbaren Betrag laufender Sozialleistungen entsprechend anwendbar ist32, auch bei mehrfachen Pfändungen regelmäßig zu dem Ergebnis, dass eine Kontoblockierung nicht vorliege. Vielmehr habe der Kontoinhaber die Möglichkeit, im Rahmen der Pfändungsfreigrenzen das Konto für die Bargeldbeschaffung und für den bargeldlosen Zahlungsverkehr zu nutzen33. Für eine solche Auslegung spreche auch, dass auf diese Weise eine Verschiebung der mit einer Kontoführung verbundenen Belastung der Bank von einem auf ein anderes Kreditinstitut und damit ein unendliches „Jedermann-Konto-Karrussell“ vermieden werde34. Der erhöhte Aufwand, der damit verbunden sei, dass die Bank bei einzelnen Verfügungen – Bargeldabhebungen, Lastschriften, Überweisungen – prüfen müsse, ob sich die Verfügung innerhalb des pfändungsfreien Rahmens halte, mache die Kontoführung (grundsätzlich) nicht unzumutbar. Die ZKA-Empfehlung sei Ausdruck der von den Kreditinstituten übernommenen sozialen Verantwortung für die finanzschwachen Bevölkerungsgruppen. Sie sei in der klaren Erkenntnis verabschiedet worden, dass mit einem Girokonto für jedermann nicht unerhebliche Aufwendungen verbunden sein, Gewinne aber kaum erzielt werden könnten. Es erscheine deshalb konsequent, dass in der ZKA-Empfehlung

__________ 31 32 33 34

Vgl. Tätigkeitsbericht (Fn. 7) 2007, 67. BGHZ 170, 236. Vgl. Tätigkeitsbericht (Fn. 7) 2005, 50; 2006, 65 f.; 2007, 67; 2008, 81. Vgl. Tätigkeitsbericht (Fn. 7) 2008, 81.

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ein erhöhter Bearbeitungsaufwand nicht als Unzumutbarkeitsgrund genannt werde35. (3) Aufgrund des Gesetzes zur Reform des Kontopfändungsschutzes vom 7.7.200936, das gemäß seinem Art. 10 am 1.7.2010 (Art. 1 bis 6, 8, 9) und am 1.1.2012 (Art. 7) in Kraft tritt, wird damit gerechnet, dass sich der mit Kontopfändungen verbundene Bearbeitungsaufwand für Kreditinstitute erheblich reduzieren wird37. ee) Es ist nicht sichergestellt, dass das Kreditinstitut die für die Kontoführung und -nutzung vereinbarten üblichen Entgelte erhält. Auch bei Anwendung dieses Unzumutbarkeitsgrundes übt der Ombudsmann Zurückhaltung. (1) So wurde der Umstand, dass der Kontoinhaber das Kontoführungsentgelt für ein Quartal in Höhe von 17,70 Euro nicht bezahlte, weil er über das gesamte Kontoguthaben verfügt hatte, nicht als Grund für eine Unzumutbarkeit der Fortführung der Kontoverbindung angesehen, weil nicht auszuschließen sei, dass der Kontoinhaber über die Folgen der vollständigen Abhebung des Guthabens nicht hinreichend unterrichtet gewesen sei. Allerdings – so fügte der Ombudsmann hinzu – könne die Kontoführung für die Bank unzumutbar werden, wenn der Beschwerdeführer auch in Zukunft nicht sicherstelle, dass die Bank das ihr zustehende Kontoführungsentgelt erhalte. (2) Nicht selten wird aus früheren Verbindlichkeiten des Beschwerdeführers von der Bank gefolgert, der Kunde werde auch nach der erbetenen Eröffnung eines neuen Girokontos die für ein solches Konto anfallenden Entgelte nicht begleichen. Dem schließt sich der Ombudsmann regelmäßig nicht an. ff) Der Kunde hält auch im Übrigen die Vereinbarungen nicht ein. (1) Dieser Unzumutbarkeitsgrund liegt grundsätzlich vor, wenn der Kunde ein auf Guthabenbasis zu führendes Girokonto überzieht. (2) Er wird gelegentlich auch angeführt, wenn der Kunde es entgegen seiner Verpflichtung, das Konto im Guthaben zu führen, zu Lastschriften kommen ließ, die die Bank mangels ausreichenden Guthabens nicht einlöste, sondern zurückgab. Da solche Rückgaben mit nicht unerheblichem Aufwand verbunden sind, kann bei derartigen Pflichtverstößen – jedenfalls sofern es sich nicht nur um zu vernachlässigende wenige Einzelfälle handelt – eine Fortführung der Kontoverbindung unzumutbar werden. Das gilt insbesondere bei regelmäßig wiederkehrenden Rücklastschriften38. (3) Anders kann es liegen, wenn die aus Rücklastschriften resultierenden Vertragsverletzungen ausnahmsweise nicht als gravierend zu werten sind. Das nahm der Ombudsmann an, als der Kunde während der Zeit (konkret: drei

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35 Anders AG Passau, Urteil v. 31.3.2009 – 15 C 2028/08, WM 2009, 1566 f. zu einer Sparkassen-Ordnung. Vgl. auch Grüneklee (Fn. 30), S. 55 ff. 36 BGBl. I 2009, 1707. 37 Graf-Schlicker/Linder, Die Reform des Kontopfändungsschutzes, ZIP 2009, 989, 993. 38 Vgl. Tätigkeitsbericht (Fn. 7) 2005, 49.

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Monate), in der es zu (acht) Rücklastschriften kam, an einer Krankheit litt und einen Wechsel des Arbeitgebers zu verkraften hatte, es danach aber nicht mehr zu Rücklastschriften kommen ließ. In einem solchen Fall sei es noch zumutbar, dass die Bank ein Girokonto weiterführe. Auch hier wies der Ombudsmann jedoch darauf hin, dass der Bank wegen des vereinbarungswidrigen Verhaltens des Beschwerdeführers in der Vergangenheit eine Fortführung des Kontos künftig bereits bei nicht sonderlich schweren Verstößen gegen die vertraglichen Pflichten unzumutbar werden könne. (4) Mitunter leiten Banken, bei denen ein ehemaliger Kunde erneut die Eröffnung eines Girokontos beantragt, den Unzumutbarkeitsgrund der Nichteinhaltung von Vereinbarungen aus Verbindlichkeiten aus der früheren Geschäftsverbindung und dort vorgekommenen Leistungsstörungen ab. Der Ombudsmann geht davon aus, dass Altverbindlichkeiten die Eröffnung eines neuen Kontos für die Bank grundsätzlich nicht unzumutbar machen, weil aus ihnen allein keine Vermutung dafür abzuleiten sei, dass der Kunde seinen vertraglichen Verpflichtungen auch bei Eröffnung einer neuen Kontoverbindung nicht nachkommen werde. Das gelte insbesondere dann, wenn die Verbindlichkeiten unterdessen zurückgezahlt oder nicht besonders hoch seien und die Bank nicht darlege, dass die Verbindlichkeiten auf andere Gründe als wirtschaftliche Schwierigkeiten zurückzuführen seien. Denn mit Schulden, Zahlungsunfähigkeit, Insolvenz und Schufa-Einträgen könne die Ablehnung eines Girokontos nach der ZKA-Empfehlung gerade nicht begründet werden39. (5) Die Unzumutbarkeit einer Kontoführung kann aus früheren Verbindlichkeiten freilich dann gefolgert werden, wenn es sich um hohe, weiter steigende Verbindlichkeiten handelt und/oder der Kunde sich trotz ihm zu Gebote stehender Mittel nicht um eine – wenn auch nur teilweise – Rückführung der Altschulden bemüht. In solchen Fällen ist es dem Antragsteller anzusinnen, sich bei einem anderen Kreditinstitut um ein Girokonto zu bemühen. 2. Erledigung von Beschwerden zugunsten des Kunden ohne Schlichtungsspruch und Umsetzung der gegen die Bank ergangenen Schlichtungssprüche Der Bundesverband deutscher Banken legt in seinen Jahresberichten über die Tätigkeit des Ombudsmanns regelmäßig dar, dass der überwiegende Anteil der Beschwerden über die Nichteinhaltung der ZKA-Empfehlung bereits im laufenden Verfahren zugunsten des Kunden ausgeht, weil die Bank dem Kunden das gewünschte Konto von sich aus einrichtet40. Nach Vorlage der Beschwerde an den Ombudsmann wirkt dieser durch unmittelbaren Kontakt mit dem Ansprechpartner der Bank nicht selten mit Erfolg darauf hin, dass diese von einer Kündigung Abstand nimmt oder für den Beschwerdeführer ein Girokonto eröffnet. Nach der Einschätzung des Bundesverbandes deutscher Banken werden

__________ 39 Vgl. Tätigkeitsbericht (Fn. 7) 2007, 69; ferner 2004, 46. Vgl. auch Grüneklee (Fn. 30), S. 67 f. 40 Vgl. Tätigkeitsbericht (Fn. 7) 2004, 45; 2005, 48; 2007, 66; 2008, 76.

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Schlichtungssprüche in Fällen, in denen der Ombudsmann feststellt, die Bank habe die ZKA-Empfehlung nicht beachtet, „nahezu alle umgesetzt“41.

III. Zum Rechtsanspruch auf ein Girokonto 1. Gewährt das geltende Recht einen Anspruch auf ein Girokonto? a) Rechtsprechung Wiederholt haben Landgerichte einen Rechtsanspruch auf ein Girokonto bejaht. aa) Das Landgericht Berlin hat mit Urteil vom 24.4.200342 entschieden, dass eine Berliner Sparkasse, die gegenüber der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Arbeit und Frauen eine Selbstverpflichtung zur Errichtung von Girokonten auf Guthabenbasis eingegangen ist, einem unmittelbaren Kontrahierungszwang gegenüber Bankkunden unterliegt. Dieser Fall der ausdrücklichen Selbstverpflichtung eines Kreditinstituts weist eine besondere Problematik auf43. Diese ist mit derjenigen eines allgemeinen Rechtsanspruchs auf ein Girokonto, um die es hier geht, nicht zu verwechseln. bb) Das Landgericht Bremen hat mit Urteil vom 16.6.200544 einen Rechtsanspruch des Klägers gegen die beklagte Sparkasse auf die Einrichtung eines Girokontos auf Guthabenbasis aus der ZKA-Empfehlung abgeleitet. Die freiwillige Empfehlung sei als verbindliche Willenserklärung zu werten, mit der sich der Gesetzgeber einverstanden erklärt habe. Sie wirke als abstraktes Schuldversprechen in Form eines Vertrages zugunsten Dritter. Dieses Judikat wurde durch Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen vom 22.12.200545 abgeändert. Aus der ZKA-Empfehlung und einem Einverständnis des Gesetzgebers folge ein Anspruch auf Einrichtung eines Girokontos nicht, weil es sich bei der Empfehlung lediglich um die Bitte des ZKA an die Mitglieder der in ihm zusammengeschlossenen Verbände handele, sich in Zukunft an diese Empfehlung zu halten. Es sei nicht festzustellen, dass die Beklagte sich in einklagbarer Weise zur Einhaltung der ZKA-Empfehlung verpflichtet hätte46. cc) Das Landgericht Berlin hat mit Urteil vom 8.5.200847 in einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Verfügung einen Rechtsanspruch auf Eröffnung

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41 Vgl. Tätigkeitsbericht (Fn. 7) 2007, 66; 2008, 76. 42 21 S 1/03, WM 2003, 1895 f. 43 Vgl. Kohte, Das Girokonto für jedermann im Licht der Rechtsgeschäftslehre, in FS Derleder, 2005, S. 405 ff.; Koch, Das Girokonto für jedermann – ein altes Problem in neuem Licht, WM 2006, 2242, 2246 f. m. w. N.; Singer in Derleder/Knops/Bamberger, Handbuch zum deutschen und europäischen Bankrecht, 2. Aufl. 2009, § 37 Rz. 10. 44 2 O 408/05, WM 2005, 2137 ff. 45 2 U 67/05, ZIP 2006, 798 ff. 46 Gegen einen aus der ZKA-Empfehlung abzuleitenden Rechtsanspruch auf ein Girokonto auch AG Stuttgart, Urteil v. 22.6.2005 – 14 C 2988/05, WM 2005, 2139 f.; Singer (Fn. 43), § 37 Rz. 10. 47 21 S 1/08, WM 2008, 1825 ff.

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eines Girokontos auf Guthabenbasis bejaht. Das Konto war gekündigt worden, nachdem Gläubiger des Klägers das Konto gepfändet hatten und die Beklagte – eine private Bank – keine Perspektive sah, dass die Pfändung in absehbarer Zeit aufgehoben werde. Der Kläger versicherte an Eides Statt, er habe sich bei drei Kreditinstituten vergeblich um die Eröffnung eines Girokontos bemüht. Das Landgericht stützte seine Entscheidung nicht unmittelbar auf die ZKAEmpfehlung, sondern auf den Gesichtspunkt des Kontrahierungszwangs, den es aus § 20 GWB in Verbindung mit § 826 BGB ableitete. Dabei zog es auch § 242 BGB und das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG als eine die Vertragsfreiheit einschränkende Norm heran. Das Landgericht stellte drei Voraussetzungen für einen solchen Kontrahierungszwang auf: Angewiesenheit des Antragstellers auf die Leistung, keine zumutbare Alternative, kein sachlicher Grund zur Ablehnung durch den ausgesuchten Vertragspartner. Es nahm an, im Streitfall seien sämtliche Voraussetzungen erfüllt. Insbesondere bestehe für den Kläger keine zumutbare andere Möglichkeit, ein Girokonto zu eröffnen. Weitere Bemühungen bei anderen Kreditinstituten seien ihm nicht zuzumuten. Er könne auch nicht an die öffentlich-rechtlichen Sparkassen verwiesen werden, weil sich Privatbanken andernfalls einen durch nichts gerechtfertigten Wettbewerbsvorteil verschafften. b) Stellungnahme aa) Solange der Gesetzgeber davon absieht, einen Kontrahierungszwang für Kreditinstitute einzuführen, lässt dieser sich schwerlich durch die Judikative begründen48. Diese Auffassung dürfte der herrschenden Meinung entsprechen49. Schon aus diesem Grund vermag die Entscheidung des Landgerichts Berlin vom 8.5.2008 nicht zu überzeugen. Deshalb ist einer Besprechung dieses Urteils50 insoweit zuzustimmen als es dort für zweifelhaft gehalten wird, ob sich aus den vom Gericht herangezogenen Vorschriften eine analogiefähige „ratio legis“ gewinnen lasse. Die Bestimmungen hätten jeweils spezifische Leistungen zum Gegenstand, die Anlass für den Gesetzgeber gewesen seien, eigens einen Kontrahierungszwang festzulegen. Der vom Landgericht formulierte Grundsatz, eine Pflicht zum Vertragsschluss bestehe prinzipiell unter den Voraussetzungen Angewiesenheit auf die Leistung, Mangel zumutbarer Alternativen und Fehlen eines sachlichen Grundes für die Ablehnung, reiche weit über den Problembereich der auf Guthabenbasis geführten Girokonten hinaus und sollte einer Regelung durch den Gesetzgeber überlassen werden.

__________ 48 So auch Schimansky (Fn. 7), § 47 Rz. 5a; Segna, Anspruch auf Einrichtung eines Girokontos aufgrund der ZKA-Empfehlung „Girokonto für jedermann“?, BKR 2006, 274, 280. 49 Vgl. Schimansky (Fn. 7), § 47 Rz. 3; Berresheim, Der Kontrahierungszwang der Kreditwirtschaft für Girokonten aufgrund von Selbstverpflichtungserklärungen?, ZBB 2005, 420 ff.; Koch (Fn. 43), WM 2006, 2242, 2245 f., 2249; Segna (Fn. 48), BKR 2006, 274, 277 f.; Geschwandtner/Bornemann, Girokonto für jedermann, NJW 2007, 1253, 1254 zu I, 1 Abs. 1; a. A. etwa Singer (Fn. 43), § 37 Rz. 11 f. m. w. N. Informativ zum Kontrahierungszwang für Kreditinstitute Grüneklee (Fn. 30), S. 139 ff. 50 Steinicke, EWiR 2009, 375 f.

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bb) Freilich will der Urteilsbesprecher dem Landgericht Berlin im Ergebnis zustimmen. Die beklagte Bank habe mit ihrer Weigerung, für den Kläger ein Girokonto zu führen, den Tatbestand des § 826 BGB deshalb erfüllt, weil die ZKA-Empfehlung bewirkt habe, dass von Überlegungen des Bundestages über gesetzliche Schritte zur Regelung einer ungehinderten Teilnahme am bargeldlosen Zahlungsverkehr Abstand genommen worden sei. Es widerspreche dem Anstandsgefühl und sei deshalb sittenwidrig, wenn Mitgliedunternehmen des ZKA eine Klarheit schaffende gesetzliche Regelung unter Hinweis auf eine Selbstverpflichtung verhinderten, sich dann aber darauf zurückzögen, dass es sich um eine bloße Empfehlung handele und mangels gesetzlicher Regelung kein Kontrahierungszwang bestehe. Allerdings treffe der Vorwurf einer sittenwidrigen Schädigung im Sinne des § 826 BGB ein Kreditinstitut nicht, wenn es nicht Mitglied des ZKA oder eines seiner Mitgliedsverbände sei, es sich verbandsintern gegen die Empfehlung ausgesprochen habe oder es sich auf einen Unzumutbarkeitsgrund im Sinne der ZKA-Empfehlung berufen könne. Diese Erwägungen des Verfassers laufen im Ergebnis wieder darauf hinaus, einen Kontrahierungszwang und damit Rechtsansprüche aus einer bloßen Empfehlung herzuleiten. Dem ist nicht zu folgen, zumal da der Bundesregierung und dem Gesetzgeber völlig klar war und ist, dass die ZKA-Empfehlung keine Rechtsansprüche begründet51. cc) Der Entscheidung des Landgerichts Berlin vom 8.5.2008 ist auch bei einer bloßen Immanenzkritik in einem entscheidenden Punkt nicht beizupflichten. Inhaltlich dürfte es nicht zu beanstanden sein, dass das Gericht ein Angewiesensein des Klägers auf ein Girokonto bejaht und einen Unzumutbarkeitsgrund für die Fortführung eines Girokontos (wegen Blockierung des Kontos) verneint52 hat. Das Landgericht greift indes bei der Prüfung des – von ihm als eine der Voraussetzungen für einen Kontrahierungszwang formulierten – Fehlens einer zumutbaren Alternative zu kurz. Es beachtet nicht, dass der Kläger den Ombudsmann der privaten Banken hätte einschalten können, um überprüfen zu lassen, ob die Kündigung mit der ZKA-Empfehlung vereinbar sei. Da dem Urteil nicht zu entnehmen ist, dass der Kläger ein Schlichtungsverfahren vor dem Ombudsmann eingeleitet hatte, könnte es sogar an einem Dringlichkeitsgrund für den Erlass einer einstweiligen Verfügung gefehlt haben, jedenfalls dann, wenn der Kläger bei oder zeitnah nach der Kündigung über die Möglichkeit einer Anrufung des Ombudsmanns unterrichtet war53. Zumindest in einem Hauptsacheverfahren, bei dem es nicht um eine einstweilige Regelung geht, ist die Durchführung eines (für den Kläger gemäß Nr. 6 Abs. 2 Satz 1 VerfO zudem kostenfreien) Schlichtungsverfahrens als zumutbare Alternative zu einem Gerichtsverfahren anzusehen. Erst dann, wenn die Bank einen gegen sie ergangenen Schlichtungsspruch nicht umsetzt, dürfte auf

__________ 51 Vgl. oben zu I. 1.; I. 2. d) e). 52 Vgl. oben zu II. 1. e) dd) (2); a. A. Haertlein/Primaczenko, WuB I C 1. – 1.09 Anm. unter 3. 53 Vgl. Schuschke in Schuschke/Walker, Vollstreckung und Vorläufiger Rechtsschutz, 4. Aufl. 2008, § 935 Rz. 18; § 940 Rz. 8, 11.

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der Grundlage und in den Grenzen des vom Landgericht Berlin angenommenen richterrechtlichen Kontrahierungszwangs eine gerichtliche Sachentscheidung zu Lasten des Kreditinstituts ergehen. 2. Einführung eines Kontrahierungszwangs durch den Gesetzgeber? Ob die Kreditinstitute gesetzlich verpflichtet werden sollen, für jeden, der dies wünscht, ein Girokonto auf Guthabenbasis einzurichten, ist vor allem eine rechtspolitische Frage54. Durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken dürften, sofern die notwendigen Grenzen einer solchen Verpflichtung, zu denen auch eine Beschränkung auf Verbraucher gehören könnte, eingehalten werden55. Allerdings ist sorgfältig zu prüfen, ob eine Änderung des bisherigen Zustandes, der durch die ZKA-Empfehlung und Schlichtungsverfahren geprägt ist, in denen die Einhaltung dieser Empfehlung durch einen neutralen und unabhängigen56 Ombudsmann überprüft wird, tatsächlich eine nachdrückliche Verbesserung verspricht. Werden – wie es der Einschätzung des Bundesverbandes deutscher Banken entspricht – gegen private Banken ergehende Schlichtungssprüche „nahezu alle umgesetzt“57, und trifft dies auch für die übrigen Kreditinstitute zu, unterliegt es nicht unerheblichen Zweifeln, ob sich die Einführung eines Kontrahierungszwangs zugunsten der Konto suchenden Personen nennenswert auswirkt. Es deutet einiges darauf hin, dass die insoweit auch außerhalb der Kreditinstitute möglichen Erhebungen noch nicht in ausreichendem Maße vorgenommen wurden. Auch weniger einschneidende Maßnahmen als die Einführung eines Kontrahierungszwangs sind in den Blick zu nehmen58. So könnte in den (wenigen) Fällen, in denen der Ombudsmann wegen Beweisbedürftigkeit von einer Schlichtung absieht59, geprüft werden, ob es bereits nach geltendem Recht – etwa nach dem Rechtsgedanken von § 1050 ZPO – möglich ist, dass der Beschwerdeführer das Gericht mit dem Ziel anruft, die Beweisaufnahme durchzuführen und die Sache danach an den Ombudsmann zurückzugeben oder in Anlehnung an Nr. 4 Abs. 4 Satz 5, Abs. 5 Buchst. c VerfO auf der Grundlage des Ergebnisses der Beweisaufnahme eine feststellende Entscheidung darüber zu treffen, ob die Bank die ZKA-Empfehlung zum Girokonto für jedermann beachtet hat. Ggf. wäre einer solchen Entscheidung die gleiche Wirkung beizumessen wie einem entsprechenden Schlichtungsspruch des Ombudsmanns.

__________ 54 55 56 57 58 59

Zutreffend Geschwandtner/Bornemann (Fn. 49), NJW 2007, 1253, 1255. Vgl. oben zu I. 2. e). Nr. 1 Abs. 1, 3, 5 VerfO. Vgl. oben zu II. 2. Dazu etwa Geschwandtner/Bornemann (Fn. 49), NJW 2007, 1253, 1256. Vgl. oben zu II. 1. b) und e) cc).

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Rechtsschutz für ausländische Direktinvestitionen im Energiesektor: Neue Möglichkeiten in der Investitionsschiedsgerichtsbarkeit Kein Geschäftsfeld ist größeren Schwankungen ausgesetzt als der Energiesektor. Wo Geld, Politik, nationale Sicherheit, Privatisierungen und Umweltschutz zusammentreffen, finden sich Vertragspartner schnell im Rechtsstreit wieder. Um internationale Investitionen in diesem Bereich abzusichern, wurde bereits 1994 in Lissabon der Vertrag über die Energiecharta geschlossen (engl. „Energy Charter Treaty“, abgekürzt „ECT“). Die ersten Entscheidungen unter diesem Vertrag zeigen wichtige neue Entwicklungen auf. Der Vertrag über die Energiecharta. Der ECT stellt einen rechtlichen Rahmen für die dauerhafte wirtschaftliche Kooperation im Energiesektor dar, und ist dabei das erste bindende multilaterale Investitionsschutzabkommen. Wichtigstes Ziel des ECT ist die Förderung von Auslandsinvestitionen und der Schutz vor politischen Risiken wie z. B. Enteignungen oder Diskriminierungen. Der ECT enthält jedoch darüber hinaus ein weites Spektrum an Regelungen, welches auch den Handel und Transit von Energie, Energieeffizienz und Umweltschutz erfasst. Nicht zuletzt sieht der ECT generell bindende Vorschriften zur internationalen Streitbeilegung in Konfliktfällen vor. Der ECT ist mittlerweile von über 50 Staaten unterzeichnet oder ratifiziert worden, und weitere 19 Staaten und internationale Organisationen haben Beobachterstatus in der Versammlung der ECT-Vertragsstaaten. Er hat als solches gleichzeitig die größte geographische Ausdehnung unter den Investitionsschutzabkommen – abgedeckt sind Europa, Zentralasien, Australien und Japan. Bis vor kurzem ließ sich die Anzahl der anhängigen oder bereits entschiedenen Fälle mit Rückgriff auf den ECT an einer Hand abzählen. Das Sekretariat des ECT – mit Sitz in Brüssel – registriert bis heute 18 eingeleitete Verfahren, von welchen 14 noch anhängig sind. Zwei Verfahren wurden gütlich beigelegt und zwei wurden durch einen Schiedsspruch beendet. In den letzten öffentlich registrierten Verfahren ging es um Streitwerte zwischen 4,3 und 50 Mrd. US Dollar. Diesen Verfahren und insbesondere den ergangenen Entscheidungen lassen sich erste Hinweise für die künftige Entwicklung ableiten, nicht nur aus finanzieller, sondern auch aus rechtlicher Sicht. Eine Auswahl der aufgeworfenen Rechtsfragen zum ECT werden im Folgenden vorgestellt. Sachlicher Anwendungsbereich – Investoren und Investment. Ebenso wie bei den bilateralen Investitionsübereinkommen (engl. „bilateral investment treaties“, abgekürzt „BITs“) ist für die Anwendung des ECT der Begriff der „Investition“ von zentraler Bedeutung. Dieser wird in Art. 1 Abs. 6 ECT als „every kind of asset, owned or controlled directly or indirectly by an investor“

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definiert. Somit sind materielle und immaterielle Vermögensgegenstände, Unternehmen und Anteilsrechte ebenso erfasst wie Geldforderungen, geistiges Eigentum oder Erträge. Gleichwohl haben sich die Schiedsgerichte, wie es auch für die bisherigen Streitigkeiten unter der Anwendung der BITs nicht unüblich war, in den ersten Verfahren allesamt mit der Frage auseinandergesetzt, ob tatsächlich eine Investition im Sinne des ECT vorliegt. Sie entschieden sich hierbei für eine möglichst weite Auslegung des Begriffs der Investition. So urteilte beispielsweise das Schiedsgericht in einer Vorentscheidung in dem Fall Plama Consortium Ltd. (Zypern) v. Bulgarien (ICSID Case No. ARB/03/24), dass Art. 1 Abs. 6 ECT „a broad, non exhaustive list of different kinds of assets encompassing virtually any right, property or interest in money or money’s worth …“

erfasse. Eine ebenso weite Auslegung des Begriffs „Investition“ lag dem Entscheid im Fall Petrobart Limited (Gibraltar) v. Kirgisistan, (SCC Arbitration No. 126/2003) zugrunde. Dort war zwischen den Parteien umstritten, ob der Investmentbegriff auch Zahlungsklagen aus einem Kaufvertrag umfasst. Hierzu äußerte sich das Schiedsgericht: „While in ordinary language investment is often understood as being capital or property used as a financial basis for a company or a business activity with the aim to produce revenue or income, wider definitions are frequently found in treaties on the protection of investments, whether bilateral (BITs) or multilateral (MITs). […] [T]he sale of gas condensate is an investment according to the Treaty. This must also include the right to be paid for such a sale.“

Der Umfang, mit dem sich die Schiedsgerichte zur Frage des Investitionsbegriffes äußern, variiert jedoch von Fall zu Fall. Während das Schiedsgericht in Nykomb Synergetics Technology Holding AB (Schweden) v. Lettland (Stockholm Chamber of Commerce Arbitration No. 118/2001) schlicht urteilte, dass „acquisition of shares [… and] giving of credits […] constitute investments within the meaning of the Treaty“,

befand das Schiedsgericht im Fall Ioannis Kardassopoulos (Griechenland) v. Georgien (ICSID Case No. ARB/05/18) erst nach ausführlichem Bezug auf einen früheren ICSID Fall, dass „indirect ownership of shares by Claimant“

ein Investment im Sinne des ECT darstelle. Neben einer Investition im Sinne des Art. 1 Abs. 6 ECT muss ein Kläger geltend machen, „Investor“ im Sinne des Art. 1 Abs. 7 ECT zu sein, bevor er sich auf die Vorteile des ECT berufen kann. Eine natürliche Person ist dann Investor, wenn sie Staatsangehöriger eines Mitgliedsstaates ist oder zumindest ihren ständigen Aufenthalt in einem Vertragsstaat hat. Von größerer Relevanz ist allerdings die Frage, wann eine juristische Person Investor im Sinne des Art. 1 Abs. 7 ECT ist. Hier sind die Voraussetzungen strenger: Nur dann, wenn die Gesellschaft nach den Rechtsvorschriften eines Vertragsstaates gegründet worden ist, fällt sie auch in den Anwendungsbereich des Abkommens. Eine 434

Rechtsschutz für ausländische Direktinvestitionen im Energiesektor

spätere Verlagerung des Unternehmens in einen Mitgliedstaat reicht also nicht aus. Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich, bereits vor einer Investition im Energiesektor Rechtsberatung in Anspruch zu nehmen. Der optimale Schutz für Investitionen beginnt also schon mit der geschickten gesellschaftsrechtlichen Strukturierung des Unternehmens. Einschränkungen für Briefkastenfirmen. Demgegenüber gestattet Art. 17 Abs. 1 ECT den Vertragsstaaten, Investoren die Vorteile des einschlägigen 3. Abschnittes des ECT zu verweigern, wenn diese, obwohl dort gegründet, keine nennenswerte Geschäftstätigkeit im Gebiet eines Vertragsstaats ausüben (sog. „mailbox companies“). Gleichwohl wird Art. 17 Abs. 1 ECT in der Literatur restriktiv interpretiert. Dieser Ansicht folgte auch das Schiedsgericht im Fall Plama v. Bulgarien und entschied, dass sich ein Vertragsstaat nicht mehr rückwirkend auf diese Beschränkung berufen kann, sondern die Beschränkung erst eingreift, nachdem er sie gegenüber dem Investor tatsächlich geltend gemacht hat. Dies entspricht dem Geist des ECT, das berechtigte Vertrauen der Investoren möglichst weitgehend zu schützen. Schutz vor Diskriminierung und Enteignung. Ist der sachliche Anwendungsbereich eröffnet, bietet der ECT ein differenziertes Schutzsystem. Den Schutz von Investitionen vor Enteignungen und willkürlicher Ungleichbehandlung durch die Vertragsstaaten bezwecken vor allem die Vorschriften des 3. Abschnitts des ECT. Während Art. 10 ECT hierbei zunächst allgemein bindende Verhaltensstandards hinsichtlich fairer und gerechter Behandlung beschreibt und diskriminierendes Verhalten verbietet, befasst sich Art. 13 mit dem konkreten Schutz vor willkürlicher Enteignung und Verstaatlichung (im Folgenden: Enteignung). Gemäß Art. 10 Abs. 1 ECT hat jeder Vertragsstaat investitionsförderliche Bedingungen – „stable, equitable, favourable and transparent conditions for Investors“

– zu schaffen. Ebenfalls sieht Art. 10 Abs. 1 ECT eine Günstigkeitsregelung im Bezug auf anderweitige völkerrechtliche und vertragliche Verpflichtungen vor: „In no case shall such Investments be accorded treatment less favourable than that required by international law, including treaty obligations“.

Die Anwendung des ECT kann daher in keinem Fall zu einer Verschlechterung der Rechtsposition des Investors führen. Die Vertragsstaaten dürfen auch hinsichtlich laufender Investitionen diese nicht behindern und ausländische Investoren nicht diskriminieren. Daher sieht Art. 10 Abs. 7 ECT insbesondere vor, dass jeder Vertragsstaat Investitionen und Investoren anderer Vertragsstaaten keine weniger günstige Behandlung zukommen lassen darf, als er es seinen eigenen Investoren, den Investoren anderer Vertragsparteien oder Investoren aus Drittstaaten gewährt. Der ECT enthält mithin ein Meistbegünstigungsgebot, welches in vergleichbarer Art und Weise so zumeist nur in BITs neueren Datums enthalten ist. Eine erste Entscheidung zur Verletzung der Standards des Art. 10 ECT wurde im Fall Nykomb getroffen. Hier war einem Stromerzeuger der (vertraglich ver435

Richard Kreindler

einbarte) Tarif verweigert worden, welcher den inländischen Stromerzeugern hingegen grundsätzlich bewilligt wurde. Darin sah das Schiedsgericht einen klaren Verstoß gegen Art. 10 Abs. 1 ECT. Art. 13 ECT bezweckt den Schutz vor Enteignung von Investitionen, die in einem anderen Mitgliedsstaat getätigt wurden. Enteignungen sind dabei nicht per se unzulässig. Nach den in Art. 13 Abs. 1 lit. a–d ECT enthaltenen, sehr differenzierten Regelungen muss eine solche staatliche Maßnahme aber im öffentlichen Interesse liegen, nicht diskriminierend sein, nach rechtsstaatlichen Grundsätzen erfolgen und insbesondere mit einer umgehenden, angemessenen und tatsächlich verwertbaren Entschädigung einhergehen. De facto-Enteignungen. In der Praxis wird eine derart offene, unmittelbare Enteignung zwar weniger zu befürchten sein (obgleich dies in Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion zum Teil der Fall war). Der Vorschrift des Art. 13 ECT kommt aber darüber hinaus vor dem Hintergrund indirekter bzw. De facto-Enteignungen, die auch als „Maßnahmen gleicher Wirkung“ bezeichnet werden, noch eine weitergehende, erhebliche Bedeutung zu. Obschon die De facto-Enteignung mit geringfügig abweichender Formulierung weitgehend international anerkannt ist (siehe andere bi- und multilaterale Investitionsabkommen wie z. B. das North American Free Trade Agreement), fehlt es an einer eindeutigen Definition dieses Begriffs. Dieser Umstand lässt sich gleichwohl vor dem Hintergrund erklären, dass wegen der großen Vielzahl an denkbaren staatlichen Maßnahmen, welche tatsächlich eine enteignende Wirkung haben können, eine abschließende Definition kaum möglich ist. Folglich stellt sich bei Investitionsstreitigkeiten weniger die Frage, ob eine Enteignung rechtmäßig ist, als vielmehr die Frage, inwieweit überhaupt eine Enteignung im Sinne des Vertrages vorliegt. Dabei lässt sich zunächst festhalten, dass sowohl ein Verlust effektiver Kontrolle als auch ein wirtschaftlicher Verlust Enteignung im Sinne des Art. 13 Abs. 1 ECT sein kann. Bei den bislang entschiedenen und den noch anhängigen Verfahren unter Anwendung des ECT beschäftigten sich die Schiedsgerichte – soweit ersichtlich – nur mit dem wirtschaftlichen Verlust als Enteignungsform. Verlust effektiver Kontrolle, wie etwa bei der aufgezwungenen Bestellung eines staatlichen, provisorischen Managers, Thema in den beiden Entscheidungen Starrett Housing v. Iran (19 Dec. 1983, 4 Iran-US CTR 122) und Tippetts, Abbett, McCarthy, Stratton v. TAMS-AFTA Consulting Engineers of Iran (22 June 1984, 6 Iran-US CTR 219), wurden bislang nicht erörtert. Die sehr ähnliche, etwas weiter gehende Formulierung und die nahezu identische Struktur des Art. 1110 NAFTA könnte allerdings dazu beitragen, dass obigen Entscheidungen gleichwohl eine präjudizielle Wirkung für die Auslegung des Art. 13 Abs. 1 ECT zukommt. Im Zusammenhang mit der erheblichen Unterzahlung eines vertraglich vereinbarten Tarifs prüfte allerdings das Schiedsgericht in Nykomb v. Lettland den Umfang des Enteignungsbegriffs. Die Schiedsrichter führten hierbei zunächst aus, dass übermäßige Besteuerung zwar grundsätzlich geeignet sei eine enteignungsgleiche Wirkung hervorzurufen. Entscheidend für eine Enteignung im Sinne des Art. 13 ECT sollte nach Auffassung des Schiedsgerichts aber das 436

Rechtsschutz für ausländische Direktinvestitionen im Energiesektor

Maß an Besitzerlangung bzw. das Maß an Kontrollrechten sein, welches die entsprechenden staatlichen Maßnahmen zur Folge hätten. Dem Argument des Klägers Nykomb, dass bereits die erhebliche Unterzahlung des Kaufpreises, die mit einer exzessiven Besteuerung vergleichbar sei, eine Verletzung des Art. 13 ECT darstelle, folgte das Schiedsgericht daher nicht. Kompensationsstandard des ECT. Mit Ausnahme der Regelungen für die Enteignung enthält der ECT weder explizite Vorschriften noch lässt sich aus den Formulierungen zweifelsfrei ableiten, welcher Kompensationsstandard bei Verstößen gegen Investitionsschutzvorschriften maßgeblich ist. Bei Enteignungen muss gemäß Art. 13 Abs. 1 ECT die Höhe der Entschädigung dem angemessenen Marktwert der enteigneten Investition inklusive marktüblicher Zinsen entsprechen. Auf Antrag des Investors ist die Entschädigung ferner umgehend in einer frei konvertierbaren Währung auszuzahlen. Mit der Frage der Entschädigung bei Verstößen gegen Art. 10 ECT (z. B. Verletzung der Günstigkeitsregelung) haben sich mittlerweile gleich zwei Schiedsgerichte beschäftigt. Es fällt auf, dass in beiden Fällen – Nykomb v. Lettland und Petrobart v. Kirgisistan – auf internationales Gewohnheitsrecht verwiesen wurde. Als Leitlinien wurden dabei regelmäßig die sog. Draft Articles on State Responsibility der internationalen Völkerrechtskommission (eng. „International Law Commission“, auch „ILC“) zu Rate gezogen, welche in den meisten ihrer Bestimmungen internationales Gewohnheitsrecht widerspiegeln. Danach ist der Standard der Entschädigung gemäß Art. 31 der Draft Articles auf volle Wiederherstellung gerichtet: „The responsible State is under an obligation to make full reparation for the injury caused by the internationally wrongful act“.

Zur Frage der Methode der Schadensberechnung kann dem internationalen Gewohnheitsrecht allerdings wenig Verbindliches entnommen werden. Neben den international anerkannten Grundsätzen der Kausalität, Vorhersehbarkeit und Angemessenheit, auf die das Schiedsgericht im Fall Nykomb v. Lettland explizit verweist, waren daher insbesondere die Umstände des Einzelfalls für die konkrete Schadensberechnung jeweils entscheidend. Im Fall Petrobart v. Kirgisistan sah sich das Schiedsgericht daher beispielsweise gezwungen, die genaue Schadenshöhe durch eine Schätzung zu ermitteln. Streitbeilegungsmechanismen – Bedeutung alternativer Streitbeilegung. Insgesamt ist die Streitbeilegung unter dem ECT von alternativen Mechanismen wie internationalen Konsultations-, Mediations- und Schiedsverfahren geprägt. Die Regelungen des ECT sind dabei äußerst differenziert. So gibt es unterschiedliche Verfahren für Streitigkeiten zwischen den Mitgliedsstaaten untereinander, für solche zwischen einem Investor und einer Regierung, für TransitStreitigkeiten, Handelsstreitigkeiten, und schließlich für Streitigkeiten über Wettbewerbs- oder Umweltschutzfragen. Für Streitigkeiten zwischen den Vertragsstaaten über die Auslegung und Anwendung des Vertrags ist in Art. 27 ECT nach erfolglosen diplomatischen Schlichtungsversuchen grundsätzlich ein internationales Schiedsverfahren vorgesehen. 437

Richard Kreindler

Was die Klagen natürlicher und juristischer Personen gegen Vertragsstaaten anbelangt, so eröffnet die weit gefasste Schirmklausel des Art. 10 Abs. 1 ECT die Möglichkeit, Verletzungen der Verpflichtungen aus dem ECT auch im direkten Verhältnis von Investor zu Vertragsstaat geltend machen zu können: „Each Contracting Party shall observe any obligations it has entered into with an Investor or an Investment of an Investor of any other Contracting Party“.

Dies war bei älteren BITs nur auf diplomatischem Wege möglich und gilt als eine der Vorzüge des ECT. Natürlichen und juristischen Personen bleibt es gemäß Art. 26 ECT überlassen, ob sie nach einem fehlgeschlagenen Versuch zur gütlichen Einigung mit einem Vertragsstaat ein staatliches Gericht anrufen oder ein Schiedsverfahren einleiten (sog. „fork-in-the-road provision“). Sollte sich ein Investor für die Schiedsgerichtsbarkeit entscheiden, eröffnet der ECT ihm zur effektiven Streitbeilegung die Auswahl unter den folgenden Schiedsverfahrensarten: – ICSID-Schiedsverfahren oder ein Schiedsverfahren unter den ergänzenden, vereinfachten ICSID Regeln oder – Einzelschiedsrichter oder Ad-hoc-Verfahren unter Anwendung der UNCITRAL Schiedsregeln oder – Schiedsverfahren unter Anwendung der Regeln der Stockholmer Handelskammer. Potentielle Kläger haben somit allein für den Bereich der Schiedsgerichtsbarkeit die Auswahl zwischen drei verschiedenen Alternativen. Bereits die Wahl der jeweiligen Schiedsregeln sollte daher mit Blick auf die Besonderheiten der jeweiligen Schiedsordnung, die Kultur der verschiedenen Schiedsinstitution und die am Schiedsverfahren beteiligten Personen vorgenommen werden. Von den bislang anhängigen Verfahren wurde die überwiegende Mehrzahl nach den ICSID Regeln geführt und die weiteren Verfahren jeweils nach den UNCITRAL Regeln und den Regeln der Stockholmer Handelskammer. Für die bislang überwiegende Wahl des ICSID Verfahrens im Rahmen der ECT Verfahren mag hierbei einerseits deren große Erfahrung im Bereich der Investitionsschiedsgerichtsbarkeit sprechen, andererseits kann auch die Möglichkeit einer größeren öffentlichen Wahrnehmung für die Wahl der ICSID Schiedsordnung von Bedeutung sein. Die Attraktivität der Schiedsverfahren wird ferner dadurch erhöht, dass der ECT die grundsätzliche Vollstreckbarkeit der aufgrund des ECT ergangenen Schiedsentscheide gewährleistet. Nach Art. 26 Abs. 8 ECT können solche Entscheide direkt vollstreckt werden, ohne dass es einer vorherigen Anerkennung bedarf. Zeitlicher Anwendungsbereich – „Effective Date“ und vorläufige Anwendbarkeit. Von besonderer praktischer Relevanz ist die Frage der Anwendbarkeit des ECT auf Vorfälle, die vor Inkrafttreten des ECT stattfanden. Hiermit sind sowohl solche Vorfälle gemeint, die sich vor dem allgemeinen Inkrafttreten des ECT am 16.4.1998 vollzogen haben, als auch diejenigen, die Staaten betreffen, 438

Rechtsschutz für ausländische Direktinvestitionen im Energiesektor

welche zwar den Vertrag unterzeichnet, bis zum Zeitpunkt der Streitbeilegung aber nicht ratifiziert haben. Die vorläufige Anwendbarkeit („provisional application“) des ECT wird in Art. 45 ECT geregelt. Der ECT umfasst prinzipiell nur solche Investitionen, welche bei Inkrafttreten („Effective Date“) des ECT bestehen oder danach getätigt werden. Jedoch verpflichten sich die Unterzeichner gemäß Art. 45 Abs. 1 ECT, den ECT bis zur Ratifikation vorläufig anzuwenden, sofern dies nicht gegen nationale Gesetze verstößt. Eine Ausnahme bildet nur der unter Art. 45 Abs. 2 ECT geregelte Fall, in dem die Vertragsunterzeichner bei der Unterzeichnung eine Erklärung abgeben, wonach sie die vorläufige Anwendbarkeit bis zur Ratifikation des ECT ausschließen. Die Entscheidung Kardassopoulos v. Georgien ist die erste bekannte umfassende Interpretation des Art. 45 ECT. Der Grieche Kardassopoulos beklagte die Enteignung durch die Republik Georgien der seinem Unternehmen in den Jahren 1992 und 1993 vertraglich vergebenen Konzession für die Sanierung von Pipelines und dazugehöriger Infrastruktur. Kardassopoulos bezog sich dabei sowohl auf das griechisch-georgische BIT als auch auf den ECT. Georgien hielt dem entgegen, dass der ECT und das BIT noch gar nicht in Kraft getreten seien und daher das Schiedsgericht ratione temporis nicht zuständig sei. Georgien und Griechenland unterzeichneten den ECT in 1994. Die enteignenden Maßnahmen fanden vorgeblich zwischen 1995 und 1997 statt, der ECT trat aber gemäß seinem Art. 44 Abs. 1 ECT erst am 16.4.1998 in Kraft. Sowohl die prozessuale Frage der Gerichtsbarkeit des Schiedsgerichts (Art. 1 Abs. 6 und 26 Abs. 1 ECT) als auch die materielle Frage der Einschlägigkeit der Schutzvorschriften (3. Abschnitt des ECT) hing in Kardassopoulos v. Georgien von der Frage ab, ob vorliegend der zeitliche Anwendungsbereich des Vertrages eröffnet war. Das Schiedsgericht kam zu dem Ergebnis, dass „Effective Date“ sich bereits auf den Beginn der vorläufigen Anwendbarkeit beziehe und gründete sein Judiz auf die folgenden zwei Erwägungen: Erstens waren dem Schiedsgericht nach eingehender Prüfung des georgischen und griechischen Rechts keine der vorläufigen Anwendung gegenläufige Gesetze ersichtlich. Zweitens hatte weder Georgien noch Griechenland bei Unterzeichnung des ECT eine Erklärung abgegeben, dass der Vertrag bis zu seiner Ratifizierung nicht vorläufig anwendbar sei. Daraus schloss das Schiedsgericht – arg. ext. contr. –, dass vorliegend bereits der Tag der Unterzeichnung als „Effective Date“ anzusehen ist, der ECT provisorisch angewendet wird und daher dessen Schutzvorschriften voll einschlägig sind. Von aktuellem Interesse ist die Frage der vorläufigen Anwendbarkeit auch im Fall Yukos (Yukos Universal Ltd. (Vereinigtes Königreich) u.a. v. Russische Föderation), in dem die Anwendbarkeit der Regelungen des ECT auf die Russische Föderation erwogen wird. Hintergrund dieser insgesamt drei parallel geführten UNCITRAL Verfahren verschiedener Investoren ist die Enteignung und Zerschlagung des Yukos Konzerns durch die russischen Behörden. Die Russische Föderation hat bislang den ECT unterzeichnet, nicht aber ratifiziert. 439

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Fazit: Vorteile des ECT – Hohes Schutzniveau und größere Rechtssicherheit. Als relativ junger Staatsvertrag übernimmt der ECT einerseits hinsichtlich Meistbegünstigungsregelungen und der direkten Durchsetzbarkeit der Rechte aus dem Vertrag rechtliche Mechanismen, die sich im Bereich der bilateralen Investitionsschutzabkommen bereits bewährt haben. Andererseits setzt der Vertrag Maßstäbe, die weit über die bilateralen Investitionsverträge in seinem Gebiet herausgehen, nämlich mit dem weiten räumlichen und zeitlichen Anwendungsbereich des Vertrages, der über 50 Vertragsstaaten erfasst, dem als umfassend interpretierten Begriff der „Investition“ sowie der großen Auswahl an Optionen zur gerichtlichen und außergerichtlichen Streitbeilegung. Neben dem hohen Schutzniveau, welches sich durchaus mit dem moderner BITs vergleichen lässt, bietet der ECT ein zunehmendes Maß an Rechtssicherheit. Da im Verhältnis der Vertragsstaaten zueinander stets der ECT Anwendung finden kann, ergehen die Entscheidungen der Schiedsgerichte hierzu nicht mehr auf Basis ähnlicher, aber im genauen Wortlaut doch oftmals unterschiedlicher Investitionsschutzabkommen, sondern wegen eines identischen Vertragstextes. Die ersten Entscheidungen haben gezeigt, dass aufgrund der Veröffentlichung der Verfahren durch das ECT-Sekretariat die Schiedsgerichte um eine einheitliche Auslegung des Vertrages bemüht sind. Aufbauend auf diesen Entscheidungen dürfte das Ergebnis eines ECT-Rechtsstreits in Zukunft in einem weit größeren Umfang als bisher vorhersehbar sein.

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Flüchtige Begegnung mit einem Totgeglaubten – Verbraucher und Vernunft in der Rechtssprache der EU Inhaltsübersicht I. Vernünftig? II. Verbreitet!

III. Verkannt? IV. Vergebens …

I. Vernünftig? Irgendwo in Deutschland, Spätherbst 2008. Erste Beschäftigung mit dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Rechte der Verbraucher1, der geplanten Wunderwaffe zur Zusammenführung der augenblicklich geltenden „Sektorenrichtlinien“ über Haustürgeschäfte, missbräuchliche Klauseln, Fernabsatz und den Verbrauchsgüterkauf zu einem voll harmonisierten Rechtsinstrument. Man arbeitet sich durch das Dokument, entdeckt Vorzüge hier, Nachteile dort, wägt ab, notiert – und reibt sich plötzlich erstaunt die Augen. Mitten im Text, unauffällig wie die Tarantel auf der Sachertorte2, strahlt einem eine geradezu unerhörte Formulierung entgegen: „Eine Vertragswidrigkeit (…) liegt nicht vor, wenn der Verbraucher zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses Kenntnis von der Vertragswidrigkeit hatte oder vernünftigerweise nicht in Unkenntnis darüber sein konnte (…)“3 „[Gelieferte Waren] weisen eine Qualität und Leistungen auf, die bei Waren der gleichen Art üblich sind und die der Verbraucher vernünftigerweise erwarten kann (…)“4 „Vor dem Abschluss eines Kauf- oder Dienstleistungsvertrages informiert der Gewerbetreibende den Verbraucher über (…) alle zusätzlichen Fracht-, Liefer- oder Zustellkosten

__________ 1 KOM(2008) 614 endgültig, im Weiteren kurz der „Richtlinienvorschlag“. 2 Raymond Chandler, Farewell, My Lovely, 1940: „He was a big man but not more than six feet five inches tall and not wider than a beer truck. He had curly black hair and heavy eyebrows that almost met over his thick nose. He wore a shaggy borsalino hat, a rough gray sports coat with white golf balls for buttons, a brown shirt, a yellow tie, pleated gray flannel slacks and alligator shoes with explosions on the toes. He looked about as inconspicuous as a tarantula on a slice of angel food.“ – Die Verwandlung von angel food, einem äußerst reichhaltigen Konditoreiprodukt aus dem Nordamerika des 19. Jh., in Sachertorte verdanken wir dem sicheren Gespür guter Übersetzer für kulturelle Entsprechungen. Beides sollte man vernünftigerweise nur in kleinen Mengen verbrauchen. 3 Art. 24 Abs. 3 Richtlinienvorschlag; Hervorhebung hier wie in allen folgenden Zitaten aus europäischen Rechtsakten durch den Verfasser. 4 Art. 24 Abs. 2 lit. d Richtlinienvorschlag.

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Thomas Krümmel oder in den Fällen, in denen diese Kosten vernünftigerweise nicht im Voraus berechnet werden können, die Tatsache, dass solche zusätzlichen Kosten anfallen können (…)“5

Vernünftigerweise? Haben wir nicht in mehreren Dekaden europäischer Verbraucherschutzgesetzgebung damit zu leben gelernt, dass es kaum etwas gibt, das ein Verbraucher so wenig einzusetzen hat wie Vernunft? War Verbraucher nicht ein Wesen, das weniger von der ratio beseelt als vielmehr in Sicherungsscheine eingewickelt ist, mit Widerrufsrechten gepolstert, an der Mängelhaftungskette sicher geführt, zu immer neuer Destination navigiert werdend auf dem Ozean der Pflichtinformationen, auf ewig die süße Symphonie der Warnhinweise in den klauselkontrollierten Ohren? Setzen die legislativen Mechanismen des Verbraucherschutzes nicht nachgerade denklogisch voraus, dass ein Verbraucher, der diesen Namen verdient, Vernunft, da für den vollen Genuss der Schutzmechanismen hinderlich, entweder nicht besitzt oder im verbrauchenden Kontakt mit der Außenwelt freiwillig auf ihren Gebrauch verzichtet? Und da will es ausgerechnet die geplante Krönung, die Über-Synopse und -Synthese des europäischen Verbraucherschutzes, gleichsam der Rolls-Royce of consumer protection, unternehmen, jenen homo fortissime tutus vor die Herausforderung vernunftmäßigen Handelns zu stellen, ohne Auffangnetz, geschützte Herkunftsbezeichnung und CE-Siegel, mutterseelenallein gegenüber der Dunklen Seite der Marktmacht6? Das muss man sich näher ansehen7.

II. Verbreitet! Kopfsprung in die Datenbank europäischer Rechtsakte. Gleich nach dem Auftauchen noch eine Überraschung. Ist das schon so lange her? Hätte einem das nicht schon damals auffallen müssen? Gut sichtbar in der gleißenden Mittagssonne der europäischen Rechtsöffentlichkeit, aber für den deutschen Rechts-

__________ 5 Art. 5 Abs. 1 lit. c Richtlinienvorschlag; Hervorhebung durch den Verfasser. 6 The Dark Side of the Force, Leitmotiv der Star Wars-Filmreihe (von George Lucas, 1977–2005), repräsentiert durch den „Schwarzen Lord“ Darth Vader. Bei diesem handelt es sich zugegebenermaßen um eine recht drastische Ausprägung des Gewerbetreibenden, der nicht nur hilflose intergalaktische Verbraucher, sondern auch kundige „Jedi-Ritter“ vor arge Herausforderungen stellt. 7 So beschlossen und – in Gestalt einer Stellungnahme (Nr. 24/2009), abrufbar unter www.anwaltverein.de – auch geschehen in der Sitzung des Ausschusses Europäisches Vertragsrecht des Deutschen Anwaltvereins am 12.11.2008 in Köln unter Vorsitz des verehrten Jubilars. Der Verfasser dankt seinem Ausschusskollegen Georg MaierReimer für die sofortige Bereitschaft, es beim erstaunten Augenreiben nicht bewenden und ihn bei der näheren Auseinandersetzung mit dem hier behandelten Phänomen nicht allein zu lassen. An der hier gewählten Form und Methode der Auseinandersetzung trifft Maier-Reimer freilich keinerlei Schuld.

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Verbraucher und Vernunft in der Rechtssprache der EU

anwender8 eher under cover9, sitzt der vernünftigerweise agierende oder reagierende Verbraucher schon seit 1999 scheinbar glücklich und zufrieden mitten in der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie: „Es wird vermutet, dass Verbrauchsgüter vertragsgemäß sind, wenn sie (…) eine Qualität und Leistungen aufweisen, die bei Gütern der gleichen Art üblich sind und die der Verbraucher vernünftigerweise erwarten kann, wenn die Beschaffenheit des Gutes und gegebenenfalls die insbesondere in der Werbung oder bei der Etikettierung gemachten öffentlichen Äußerungen des Verkäufers, des Herstellers oder dessen Vertreters über die konkreten Eigenschaften des Gutes in Betracht gezogen werden.“10 „Es liegt keine Vertragswidrigkeit im Sinne dieses Artikels vor, wenn der Verbraucher zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses Kenntnis von der Vertragswidrigkeit hatte oder vernünftigerweise nicht in Unkenntnis darüber sein konnte (…)“11 „Der Verkäufer ist durch die (…) öffentlichen Äußerungen nicht gebunden, wenn er (…) nachweist, dass er die betreffende Äußerung nicht kannte und vernünftigerweise nicht davon Kenntnis haben konnte (…)“12

Wie man schnell feststellt, ist der Begriff „vernünftigerweise“ seit 1999 von dieser sicheren Basis aus immer wieder auch in entlegenere Winkel der europäischen Verbraucherschutzgesetzgebung gezogen. Wie in der Verbraucherschutzrichtlinie von 1999 und dem Harmonisierungsvorschlag von 2008 charakterisiert er dabei allerdings selten ein Handeln oder Unterlassen des Verbrauchers, sondern seine Kenntnis oder seine Erwartungen. So setzt er Maßstäbe im Kernbereich von Health and Safety, wo eigentlich kein Verbraucher auch nur einen Schritt ohne Bewachung durch die Amme Europa tun sollte: „In anderen als den (…) genannten Fällen wird die Übereinstimmung eines Produkts mit der allgemeinen Sicherheitsanforderung unter Berücksichtigung insbesondere folgender Elemente – soweit vorhanden – beurteilt: (…) die Sicherheit, die von den Verbrauchern vernünftigerweise erwartet werden kann“13.

Dass ein Verbraucher von einem Produkt umfassende Sicherheit erwartet, noch bevor er es ge- oder verbraucht hat, versteht sich wohl von selbst. Aber was bleibt von der umfassenden Sicherheitserwartung übrig, wenn sie den Filter der Vernunft passiert hat? Oder, umgekehrt gefragt, in welchen Fällen könnte diese Sicherheitserwartung des Verbrauchers einmal nicht oder nur teilweise vorhanden sein? Man denkt an Momente gewollter Unvernunft und

__________ 8 Verniedlichende Bezeichnung für sog. Praktiker wie den Verfasser, die Gesetze sehr viel häufiger anlass- bzw. mandatsbezogen in die Hand als ihre exakte Entstehungsgeschichte zur Kenntnis nehmen, gleichsam die Verbraucher der Rechtspflege. Honi soit qui mal y pense. 9 Denn im BGB und verbraucherbezogenen Nebengesetzen sucht man den Begriff „vernünftigerweise“ vergeblich. 10 Art. 2 Abs. 2 lit. c Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter (Verbrauchsgüterkaufrichtlinie). Vgl. auch Erwägungsgrund (8) der Richtlinie. 11 Art. 2 Abs. 3 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie. 12 Art. 2 Abs. 4 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie. 13 Art. 3 Abs. 3 lit. f Richtlinie 2001/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 3.12.2001 über die allgemeine Produktsicherheit (Produktsicherheitsrichtlinie).

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sieht Gefahren, Abenteuer, Dinge, vor denen ein Verbraucher bewahrt werden sollte, wenn er sie nicht ausdrücklich wünscht. Damit öffnet sich der Blick auf eine andere häufige und kaum weniger irritierende Verwendung des Wortes „vernünftigerweise“, nämlich den Kampf gegen Fehlernährung und Fettleibigkeit. Tagelange Beutezüge des Verbrauchers in den Abgründen der reichhaltigen europäischen Snackkultur lassen sich vielleicht noch verhindern, wenn dem nimmersatten Eiweiß-, Zucker- und FettRaptor die möglichen Folgen des nächsten XXL Meals vor Augen geführt werden, und zwar in Form nährwert- und gesundheitsbezogener Angaben auf bzw. vor demselben. Dies nach dem Willen des europäischen Gesetzgebers freilich nur dann, wenn u. a. folgende Bedingung erfüllt ist: „Die Menge des Produkts, deren Verzehr vernünftigerweise erwartet werden kann, liefert eine gemäß dem Gemeinschaftsrecht signifikante Menge des Nährstoffs oder der anderen Substanz, auf die sich die Angabe bezieht (…)“14

Hier ist als Maßstab weniger die vernünftige Erwartung des zu schützenden Verbrauchers erkennbar, der die Dimensionen seines unvernünftigen Überverzehrs ja gerade nicht vernünftig beurteilen kann, sondern eher die der übrigen, derjenigen, die vernünftigerweise um Kalorienbomben und deren Anbieter einen großen Bogen machen und für die als Schutzobjekte der europäische Gesetzgeber sich vermutlich weniger interessiert. Es geht nicht darum, wie viel von dem Inhaltsstoff eines Lebensmittels man verbrauchen darf, um sich vernünftig zu verhalten, sondern welcher Verbrauch dieses Inhaltsstoffs nach Vernunftmaßstäben so unvernünftig ist, um mit einer nährwert- oder gesundheitsbezogenen Angabe zur Vernunft zu mahnen. Es schwirrt einem der Kopf, man ist geradezu dankbar, auf das nächste Anwendungsbeispiel zu treffen, diesmal deutlich leichter greifbar. Dass die „verantwortungsvolle Kreditvergabe“ eine Frage der Vernunft ist, scheint sich von selbst zu verstehen. Der Vorschlag für eine Harmonisierung der Verbraucherkreditvorschriften zeigt auf, wo und wie: „Schließt ein Kreditgeber einen Kredit- oder Sicherungsvertrag ab oder erhöht er den Gesamtkreditbetrag oder den garantierten Betrag, so wird angenommen, dass er zuvor unter Ausnutzung aller ihm zu Gebote stehenden Mittel zu der Überzeugung gelangt ist, dass der Verbraucher und gegebenenfalls der Garant vernünftigerweise in der Lage sein werden, ihren vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen“15.

Ist damit die vernünftige Einschätzung des Verbrauchers angesprochen, wie viel Kredit oder Krediterhöhung er wird schultern können? Oder geht es um die vernunftgemäße Beurteilung des Kreditgebers, der im Interesse des potentiell unvernünftigen, weil zu viel verbrauchenden Verbrauchers eine Vorher-

__________ 14 Art. 5 Abs. 1 lit. d Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.12.2006 über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben für Lebensmittel (Nährwertangabeverordnung). 15 Art. 9 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit (KOM/2002/0443 endg.) – Vgl. auch Art. 8 sowie Erwägungsgrund (17) dieses Richtlinienvorschlags.

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Verbraucher und Vernunft in der Rechtssprache der EU

sage zu treffen hat, ob dieser infolge des begehrten Kredits dem Privatkundenberater erhalten bleibt und nicht der Privatinsolvenz anheim fällt? Überhaupt verknüpft der europäische Gesetzgeber die Frage nach der Vorhersehbarkeit eines Tuns, Unterlassens, Ereignisses oder Geschehensablaufs besonders oft mit dem Terminus „vernünftigerweise“. Man findet ihn im Zusammenhang mit der Sicherheit eines Produkts, das „unter vernünftigerweise vorhersehbaren Bedingungen von Verbrauchern benutzt werden könnte“16.

Auf Produkthaftungsfälle ist nach der Rom II-Verordnung „das Recht des Staates anzuwenden, in dem die Person, deren Haftung geltend gemacht wird, ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn sie das Inverkehrbringen des Produkts in dem Staat, dessen Recht [ansonsten] anzuwenden ist, vernünftigerweise nicht vorhersehen konnte“17.

„Vernünftigerweise“ begegnet einem auch dort, wo ansonsten mit Vernunft kaum zu rechnen ist, nämlich beim Spiel mit dem Feuer. Ein „kindergesichertes Feuerzeug“ ist, so lernt man etwa, „ein Feuerzeug, das dergestalt konstruiert und beschaffen ist, dass es unter üblichen oder vernünftigerweise vorhersehbaren Verwendungsbedingungen etwa aufgrund des erforderlichen Kraftaufwands oder seiner konstruktiven Beschaffenheit oder des Schutzes des vorhandenen Zündmechanismus oder aufgrund der Komplexität oder Ablauffolge der erforderlichen Handhabungsvorgänge zur Erzeugung der Flamme nicht von Kindern unter 51 Monaten betätigt werden kann“18.

Und ein letztes Beispiel: Die Analyse von Gefahren, die von Spraydosen (auf gut Europäisch: Aerosolpackungen) ausgehen, soll auch Risiken berücksichtigen, „die unter normalen oder vernünftigerweise vorhersehbaren Verwendungsbedingungen mit dem Einatmen des von der Aerosolpackung erzeugten Sprühnebels verbunden sind“19.

Spätestens hier legt sich ein vernünftigerweise unvorhersehbarer Sprühnebel der Unsicherheit über die Szene. Einerseits steht vor uns noch der Verbrau-

__________ 16 Art. 2 lit. a Produktsicherheitsrichtlinie. Vgl. auch Art. 2 lit. b, lit. b ii, Art. 5 Abs. 1 sowie Erwägungsgründe (6) und (10) der Richtlinie. 17 Art. 5 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.7.2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II-Verordnung). 18 Art. 1 Beschluss der Kommission v. 23.4.2008 über spezifische Kindersicherheitsanforderungen, denen Europäische Normen für Feuerzeuge gemäß der Richtlinie 2001/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates genügen müssen (2008/357/ EG). Mit diesem Wortlaut auch Art. 1 Ziff. 3 Entscheidung der Kommission v. 11.5. 2006 zur Verpflichtung der Mitgliedstaaten, Maßnahmen zu treffen, damit nur kindergesicherte Feuerzeuge in Verkehr gebracht werden und das Inverkehrbringen von Feuerzeugen mit Unterhaltungseffekten [sic!] untersagt wird (2006/502/EG). 19 Ziff. 3 lit. d Richtlinie 2008/47/EG der Kommission v. 8.4.2008 zur Änderung der Richtlinie 75/324/EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Aerosolpackungen zwecks Anpassung an den technischen Fortschritt.

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cher, der in Brüssel, Straßburg, Luxemburg und anderswo tausende Arbeitsplätze sichert, das besorgniserregende Lieblingskind der Legislatoren, Referenten, Ausschussmitglieder, Berater, Beamten, der über seine Verhältnisse lebende, zügellos essende, Kinder mit Feuerzeugen spielen lassende KonsumentenTor, civis consumens europaeus. Doch andererseits: wenn man das gelten lässt, was er vernünftigerweise kennt, erwartet, ja: vorhersehen kann – bedeutet das nicht, dass er dann auch selbst mit einem gewissen Maß an Vernunft ausgestattet sein muss – civis consumens europaeus ratione praeditus? Und wenn ja, wie lässt sich dieser nachgerade subversive Einfall der Vernunft in den Verbraucherschutz erklären? Woher fließt diese tückische Strömung?

III. Verkannt? Bei weiterem Forschen findet man schon bald einen dringend Verdächtigen: den „Durchschnittsverbraucher“, der jedenfalls auf den ersten Blick einen gefährlich vernunftbegabten Eindruck macht. Das im Wettbewerbsrecht für die Verkehrsauffassung relevante Verbraucherleitbild ist nach der Rechtsprechung des EuGH seit der Entscheidung Gut Springenheide und Tusky20 die mutmaßliche Erwartung des durchschnittlich informierten, im vernünftigen Umfang aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbrauchers21. An diesem „modernen Konzept des ‚eigenverantwortlichen‘ Verbrauchers“22, des mündigen, sich informierenden und informierbaren Marktbürgers23, dem eine aktive Rolle bei der Realisierung des Binnenmarktes zukommen soll24, orientieren sich, wiederum unter liberaler Verwendung des Begriffs vernünftig, eine ganze Reihe von europäischen Rechtsakten namentlich im Bereich des Lebensmittelrechts25, und in der Literatur erfreut man sich an der Vision einer „eigenen

__________ 20 Rs. C-210/96, Gut Springenheide und Tusky, GRURInt 1998, 795; s. auch EuGH, Rs. C-220/98 Estée Lauder Cosmetics – „Lifting-Creme“, GRURInt 2000, 354; EuGH, Rs. C-465/98 Adolf Darbo – „d’arbo naturrein“, NJW 2000, 2729. 21 EuGH, Rs. C-210/96, (Fn. 20), Rz. 31. 22 So Hans-W. Micklitz/Peter Rott in Manfred Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 24. EL 2009, Rz. 75. 23 Vgl. Jochen Glöckner in Reiner Schulze/Manfred Zuleeg (Hrsg.), Europarecht, 1. Aufl. 2006, § 17 Rz. 47. 24 Micklitz/Rott (Fn. 22), Rz. 75. 25 Vgl. z. B. Art. 2 Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 28.1.2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit, wonach ein Lebensmittel vorliegt, „wenn erwartet werden kann, dass ein Stoff nach vernünftigem Ermessen von Menschen aufgenommen wird“. – Die Nährwertangabeverordnung erklärt in ihrem Erwägungsgrund (16) zum Maßstab den „normal informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher unter Berücksichtigung sozialer, kultureller und sprachlicher Faktoren nach der Auslegung des Gerichtshofs“.

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neuen marktgeprägten Rechts(Konsum)welt, in der sich der ‚vernünftige Bürger in entspannter Aufmerksamkeit‘26 bewegen kann“27. Doch Vorsicht: Ist denn der in vernünftigem Umfang Aufmerksame wirklich gleichzeitig auch vernünftig? Vollzieht der so umschriebene „funktionale Verbraucherbegriff“ wirklich einen signifikanten Schritt von consumo, ergo sum in Richtung von cogito, ergo sum? Die Definition des Begriffs „Vernunft“ in einem klassischen philosophischen Wörterbuch lautet so: „Im engeren Sinne wird Vernunft vom Verstande (…) unterschieden als höhere Geistesfähigkeit. In diesem Sinne ist Vernunft die Einheit und Kraft alles besonnenen, zielbewussten Denkens und Wollens, die auf Zusammenhang und abschließende Einheit des Wissens und Handelns (theoretische – praktische Vernunft) abzielende (auf das „Unbedingte“ gehende) Geistestätigkeit, Geistesdisposition. Sie verarbeitet das durch den Verstand, durch die den Erfahrungsinhalt urteilend gestaltende Geistesrichtung Gewonnene zu innerlich verbundenen, geschlossenen, „vernünftigen“ (nach Grund und Folge, Mittel und Zweck geordneten) Zusammenhängen (von Gedanken, Handlungen)“28.

Man könnte trefflich darüber diskutieren, ob der „vernünftige Bürger“, erst recht der „Durchschnittsverbraucher“, solchen oder ähnlichen Anforderungen vernünftigen Denkens und Handelns wirklich zu genügen hat. Vieles, vor allem ja die Existenz eines äußerst umfassenden, zwingenden kollektiven Verbraucherschutzrechts selbst, spricht dagegen. Langsam dämmert einem, dass man es hier mit nicht mehr und nicht weniger als mit einem Sprach- oder Formulierungsfehler zu tun zu hat. Der „Durchschnittsverbraucher“, der „vernünftigerweise“ erwartet, voraussieht, ermisst, in „vernünftigem“ Umfang aufmerksam und verständig ist, ist gerade nicht der „vernünftige“ Verbraucher. Es mag derjenige sein, der „angemessen gut unterrichtet und angemessen aufmerksam und kritisch ist“29. Es mag das mündige und eigenverantwortlich handelnde Individuum sein30. Es mag vielleicht auch der citoyen sein, das mit

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26 Psychologisch untrainierte Spötter wie der Verfasser werden den Begriff der „entspannten Aufmerksamkeit“ in den Olymp der contradictiones in se aufgenommen sehen wollen, wo Laureaten wie „military intelligence“ und „Unternehmerethik“ bereits sehnsüchtig auf Gesellschaft warten. Gibt man „entspannte Aufmerksamkeit“ in eine beliebige Online-Suchmaschine ein, so erzielt man jedenfalls eine Menge Treffer, die sich mit Sphärenmusik, wohligen Gefühlen von Wärme und Schwere oder auch „Buddhismus für den Alltag“ beschäftigen. 27 Bettina Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts. Insbesondere zur Reichweite europäischer Auslegung, 2004, S. 289, 423. – S. auch Hans-W. Micklitz/Peter Rott in Manfred Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 24. EL 2009, Rz. 75. 28 Rudolf Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 1904, sub „Vernunft“. 29 Erwägungsgrund (18) Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.5.2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken). S. auch Fn. 25 zur Nährwertangabeverordnung. 30 Vgl. zu diesem Begriff Benedikt Buchner/Markus Rehberg, Wann ist der Verbraucher ein „mündiger“ Verbraucher? Zur Diskussion um die Nutrition & Health ClaimsVerordnung der EU, GRURInt 2007, 394.

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Rechten zur eigenständigen – und transparent vorbereiteten – Entscheidung ausgestattete Gegenbild zum homo oeconomicus, der nur noch als Datensammlung lebt31. Möglicherweise ist es, im Sinne einer Negativabgrenzung, auch nur der Verbraucher, dessen Beurteilungsvermögen den Satz „Ich bin doch nicht blöd“ als ihm nahe legend zu verstehen hat, sich mit der Preiswürdigkeit des so beworbenen Sortiments begehrenswerter Errungenschaften der Unterhaltungselektronik näher zu befassen32. Schon wenn diese, mehr oder weniger weit unterhalb von „Vernunft“ im eigentlichen Sinne angesiedelten Begriffe zum Maßstab erhoben werden, wird aber Kritik laut, die sehr plausibel erscheint: Allein das normative Leitbild eines mündigen Verbrauchers garantiere noch nicht, dass der durchschnittliche Verbraucher auch in der Realität stets mündig agiere bzw. agieren könne33; die hohen und konkreten inhaltlichen – ethischen – Ziele stünden im Widerspruch zur Privatautonomie, die dem einzelnen sehr weitgehenden Freiraum auch bei der Bewertung von Sachverhalten lasse; solche Inhalte liefen Gefahr, einfach an der Realität des Alltags vorbeizugehen34. Derartige Zweifel wären umso eher angebracht, wenn die Formulierung in europäischen Rechtsakten, der Verbraucher erwarte oder wisse etwas vernünftigerweise, wirklich so zu verstehen wäre, als sei dieses Erwarten oder Wissen von der ratio, vom , beherrscht, bestimmt, gesteuert. Nein, der immerfort wache, zielbewusste, besonnene, auf geschlossene Zusammenhänge hindenkende Unionsbürger kann nicht der entspannt aufmerksame Konsumweltbürger sein, der uns in den Rechtstexten der Europäischen Union vernünftigerweise gegenübertritt. Citoyens, dormez en paix, tout est tranquille!?35.

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31 So Friedrich Graf von Westphalen, Wir sind Citoyens!, Rheinischer Merkur Nr. 29/2009 vom 16.7.2009, S. 22. 32 OLG Karlsruhe, NJWE-WettbR 1998, 49. – Der Appell an das Beurteilungsvermögen des Verbrauchers fällt bei jenseits der Oder gelegenen Elektronikmärkten mit angeblich so preiswürdigem Sortiment noch etwas unverblümter aus. Auf polnisch heißt der – mittlerweile nicht mehr verwendete – Slogan Nie dla idiotów (Nicht für Dummköpfe). 33 Buchner/Rehberg (Fn. 30), 401. 34 So Bettina Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, 2. Aufl. 2007, S. 133 f. – Auf einer zumindest für Juristen eher heiteren Note vertritt der Göttinger Sozialwissenschaftler Volker Pudel (Der mündige Verbraucher: Zwischen Gefühl und Vernunft? Lohmann Information 3/2002, 1 ff.) die Auffassung, Verbraucherhandeln sei keineswegs mündig und verantwortungsbewusst, sondern vorrangig von dem Ziel bestimmt, „kognitive Dissonanz“ zu vermeiden. Der Verbraucher organisiere sich seine Welt und ihre Risiken nach rein subjektiven Kriterien, um möglichst „konsonant“ zu leben. Dies beginne damit, sich alles selbst zu erklären, um die verunsichernde Antwort ‚Ich weiß nicht‘ zu vermeiden: „Auf die Frage ‚Warum springt Toast aus dem Toaster?‘ geben 80 % der Deutschen die Antwort: ‚Weil er fertig ist!‘“. 35 „Dormez braves gens, dormez tranquilles. Dormez en paix“: Erkennungszeichen und Entwarnungsruf der Nachtwächter, die in den Städten des mittelalterlichen Frankreich patrouillierten. In der hier wiedergegebenen Form, und häufigen Abwandlungen, im heutigen Frankreich zumeist als ironisch-sarkastische Annotation fehlerhaften oder korrupten Behördenhandelns verwendet, so als Titel des Spionageromans von André Caroff, Citoyens, dormez en paix tout est tranquille, 1981, oder in Alain Delons erinnernswertem Schlussmonolog in George Lautners Film „Mort d’un pourri“ (dt. Verleihtitel: „Der Fall Serrano“, 1977).

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IV. Vergebens ... Man hat sich auch die englischen und französischen Sprachfassungen der Trouvaillen aus dem legislativen Füllhorn angesehen. Eigentlich war es vernünftigerweise vorhersehbar: Wie fast immer in der Europäischen Union sind die Briten an allem schuld. Denn mittlerweile ist man längst dahinter gekommen, dass „vernünftigerweise“ nicht nur die schon skizzierte, weltbildverändernde Bedeutung in der deutschen Sprache hat, sondern es sich auch und vor allem um die Übersetzung des im Rechtsidiom des perfiden Albion36 vollkommen gewöhnlichen und geläufigen Begriffs reasonably handelt. Was dort reasonably oder reasonable heißt, ist keineswegs immer im deutschen Sinne „vernünftig“ und hat etwas mit „Vernunft“, das heißt dem geistigen Vermögen des Menschen, zu tun. Die Bedeutung der Begriffe reason oder reasonable stellt sich, je nach Rechtsgebiet und Zusammenhang, vielmehr durchaus vielschichtig dar. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen: Im haftungsrechtlichen Zusammenhang ist die reasonable person als Rechtsfiktion des Common Law ein objektiver Maßstab zur Beurteilung des Verhaltens beliebiger Personen. Dieser Maßstab kommt vor allem im Bereich der Haftung für die Verletzung von Sorgfaltspflichten zum Einsatz: jede Person hat sich so zu verhalten, wie sich eine „vernünftige Person“ in der gleichen oder einer ähnlichen Situation verhalten würde37. Ungeachtet der Umstände des konkreten Einzelfalls bleibt der Maßstab der reasonable person selbst unverändert38. Der englische Schriftsteller und Rechtsreformer Alan Patrick Herbert beschreibt die reasonable person als „an ideal, a standard, the embodiment of all those qualities which we demand of the good citizen (…) [He] invariably looks where he is going, (…) is careful to examine the immediate foreground before he executes a leap or bound; (…) neither stargazes nor is lost in meditation when approaching trapdoors or the margins of a dock; (…) never mounts a moving [bus] and does not alight from any car while the train is in motion, (…) uses nothing except in moderation, and even flogs his child in meditating only on the golden mean“39.

Das anglo-amerikanische Wettbewerbsrecht kennt die Rule of Reason als eine vom Supreme Court der Vereinigten Staaten entwickelte Anti-Trust-Doktrin:

__________ 36 Augustin Marquis de Ximénez, L’ère français, 1793 („Attaquons dans ses eaux la perfide Albion“). – Wer hinter dem Zitat des Begriffs einen Britenhasser vermutet, irrt gewaltig. Es handelt sich vielmehr um eine Ausprägung professioneller Schizophrenie des Verfassers, heute noch – auch dies unter der Ägide des verehrten Jubilars – mit dem wehenden Banner Law – Made in Germany in den gerechten Kampf gegen England and Wales – The Jurisdiction of Choice, morgen schon vorzugsweise britische Auftraggeber aus nicht immer selbst verschuldeten Sümpfen ziehend. 37 Erstmals im englischen Fall Vaughan v. Menlove, 132 ER 490 (Common Pleas 1837). In den USA: Brown v. Kendall, 60 Mass. 292 (1850). Vgl. auch Marc A. Franklin, Torts, 23. Aufl. 2002, S. 54. 38 Triestram v. Way, 281 N.W. 420 (Mich. 1938). Vgl. Franklin, Torts, 23. Aufl. 2002, S. 55. 39 Alan Patrick Herbert, Misleading Cases in the Common Law, 7. Aufl. 1932, S. 9–11.

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Monopole sind nicht per se unzulässig, und nur Zusammenschlüsse und vertragliche Bindungen sind wettbewerbs- bzw. kartellrechtlich zu beanstanden, die den Handel unreasonably – gemeint ist hier: in unangemessener oder unbilliger Weise – beschränken40. Auch im Vertragsrecht kann der Begriff reasonable je nach dem Zusammenhang Angemessenheits- oder Billigkeitskriterien betreffen. Ein klassisches Problem der Übertragung eines englischen Vertragstextes in die deutsche Sprache41 besteht darin, immer wiederkehrende Passagen wie „unless the Contractor cannot reasonably be expected to do so“ zutreffend im Deutschen wiederzugeben; hier hilft man sich, oft wenig überzeugt, mit dem Begriff der Zumutbarkeit42. Die deutsche Sprache verfügt über kein Wort, das in der Vielschichtigkeit seines möglichen Bedeutungsgehalts43 dem Begriff „reasonable“ oder „reasonably“ in der angelsächsischen Rechtsterminologie entspräche44. Wenn also, zurückgekehrt auf die terra teutonica, der Verbraucher von einer Vertragswidrigkeit „vernünftigerweise nicht in Unkenntnis sein konnte“, dann könnte damit ein Fall gemeint sein, in dem der Verbraucher die Vertragswidrigkeit hätte kennen müssen, wobei „vernünftigerweise“ das Maß an Sorgfalt indiziert, das diesem Kennenmüssen zugrundezulegen ist: hätte er selbst prüfen, oder hätte er nur vorhandene Hinweise beachten müssen? Es könnte sich aber auch schlicht um eine Beweisregel handeln: waren die Umstände so, dass man annehmen kann, der Verbraucher habe die Vertragswidrigkeit erkannt, so soll es nicht mehr auf den Beweis ankommen, dass er sie tatsächlich erkannt hat. Es ginge also um die Offensichtlichkeit der Vertragswidrigkeit45.

__________ 40 Standard Oil Co.of New Jersey v. United States, 221 U.S. 1 (1911). 41 Zu dieser Problematik allgemein Friedrich Graf von Westphalen, Fallstricke bei Verträgen und Prozessen mit Auslandsberührung, NJW 1994, 2113; ders., Von den Vorzügen des deutschen Rechts gegenüber Anglo-Amerikanischen Vertragsmustern, ZVglRWiss 102 (2003), 53; Wulf Döser, Anglo-Amerikanische Vertragsstrukturen in deutschen Vertriebs-, Lizenz- und sonstigen Vertikalverträgen, NJW 2000, 1451; Claudia Seibel, Der angloamerikanische Einfluss auf deutsche Vertragsdokumentationen, AnwBl 2008, 313. 42 Eher eine Notlösung, denn dahinter verbirgt sich nach deutschem Verständnis natürlich auch das gesetzliche Leitbild des § 626 Abs. 1 BGB, with all strings attached. 43 Vgl. z. B. auch Kap. III. § 1.104 des DCFR (Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law – Draft Common Frame of Reference, Interim Outline Edition, 2008): „The debtor and creditor are obliged to co-operate with each other when and to the extent that this can be reasonably expected for the performance of the debtor’s obligation.“ 44 Vgl. Georg Maier-Reimer, Englische Vertragssprache bei Geltung deutschen Rechts, in Friedrich Graf von Westphalen (Hrsg.), Arbeitsgemeinschaft Internationaler Rechtsverkehr. Deutsches Recht im Wettbewerb – 20 Jahre transnationaler Dialog, Berlin 2009, S. 82 ff., 92. – S. auch Thomas Krümmel, Influences of Anglo-American Legal Language on Civil Law Contracts, Mitteilungsblatt ARGE Internationaler Rechtsverkehr im DAV Nr. 2/2007, 41. 45 Vgl. Stellungnahme des DAV-Ausschusses Europäisches Vertragsrecht Nr. 24/2009 (Fn. 7).

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Ähnlich liegt es bei den Kosten, die „vernünftigerweise nicht im Voraus berechnet werden können“. Die Berechnung dieser Kosten könnte objektiv im Voraus nicht möglich sein. Vielleicht könnten sie auch nicht mit angemessenem Aufwand im Voraus berechenbar, oder die Grundlagen jener Berechnung könnten so komplex sein, dass sie den Verbraucher überfordern würde und deshalb unreasonable wäre, also „unangemessen“, möglicherweise sogar „unzumutbar“46. Es sieht somit ganz danach aus, als verdanke man seine eingangs dargestellte Schrecksekunde doch nicht der schleichenden Wieder-Vernünftig-Machung47 des europäischen Verbrauchers, sondern eher der etwas unsorgfältigen Berufsauffassung der Autoren und Übersetzer europäischer Rechtsakte. Denn diese dürfen schon angesichts der Existenz klarer Anweisungen vernünftigerweise nicht darüber in Unkenntnis sein, dass sie sich allzeit um eine klare Sprache zu bemühen haben: „Ausdrücke und Wendungen – besonders juristische Begriffe (…) – dürfen nicht zu stark an die Sprache oder das Rechtssystem des Verfassers gebunden sein, damit eine Übersetzung möglich ist. Der Verfasser muss sich der beiden folgenden Probleme bewusst sein: (…) Für manche Ausdrücke seiner Sprache (…) gibt es in anderen Gemeinschaftssprachen kein Äquivalent. In diesen Sprachen können diese Begriffe daher nur umschrieben oder durch Worte mit ähnlicher Bedeutung ersetzt werden, wodurch notgedrungen eine semantische Abweichung zwischen den einzelnen Sprachfassungen entsteht. Daher sollten Ausdrücke, die zu sehr auf eine Sprache zugeschnitten sind, so weit wie möglich vermieden werden. (…) Bei juristischen Fachausdrücken sollte auf Begriffe verzichtet werden, die zu eng an die nationalen Rechtsordnungen gebunden sind. (…) Ein Großteil der Kritik an den gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften lässt sich auf Texte mit Entlehnungen und nachgebildeten Begriffen oder schwer verständlichem Jargon zurückführen, die in diesen Fällen als etwas ‚Fremdes‘ empfunden werden“48.

Dixit commissio. Dass es sich bei reasonable genau um einen Begriff der hier beschriebenen Art handeln könnte, scheint freilich bislang den Adressaten dieser guten Ratschläge, nämlich den „Personen, die in den Gemeinschaftsorganen an der Abfassung von Rechtstexten mitwirken“, noch nicht recht aufgefallen zu sein. Mit „Vernunft“ als der Zügelung der Naturliebe im Sinne Kants, der Zügelung der unbestimmten Subjektivität im Sinne Hegels und der Leidenschaft im Sinne von Hobbes, hat all dies freilich wenig oder gar nichts zu tun. Unser Weltbild vom willfährigen, hilfebedürftigen, eben unvernünftigen consumer

__________ 46 Vgl. Stellungnahme des DAV-Ausschusses Europäisches Vertragsrecht Nr. 24/2009 (Fn. 7). 47 Vorgeschlagene englische Übersetzung: re-reasonabilisation. 48 Ziff. 5.3, 5.4 Gemeinsamer Leitfaden des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission für Personen, die in den Gemeinschaftsorganen an der Abfassung von Rechtstexten mitwirken, http://eur-lex.europa.eu/de/techleg/5.htm.

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bleibt unangetastet, und den „vernünftigen Verbraucher“ können wir getrost als eine bedauerliche sprachliche Unvollkommenheit in jenen Hades zurücksenden, wo wir ihn ohnehin schon längst vermutet hatten. Bitte gehen Sie also weiter, seien Sie doch vernünftig, es gibt hier nichts mehr zu sehen, alles ist gelaufen …49.

__________ 49 Dieser Satz war integraler Bestandteil nahezu jeder Folge der US-amerikanischen Fernsehkrimiserien der 1970er und 1980er Jahre, endemisch insbesondere in den „Straßen von San Francisco“ („The Streets of San Francisco“, 1972–1977), „Einsatz in Manhattan“ („Kojak“, 1973–1978) und „Miami Vice“ (1984–1989). Er diente dazu, gerade die crime sites, an denen es besonders viel und besonders viel Furchtbares zu sehen gab, von neugierigen Zuschauern zu räumen. In der hier wiedergegebenen Form ist er nicht ganz vollständig. Die bekannt schlechten Übersetzer der deutschen Synchronstudios ließen es sich nämlich nicht nehmen, schlecht Übersetzbares schlicht unübersetzt zu lassen: „Bitte, Ladies und (!) Gentlemen, gehen Sie weiter, seien Sie doch vernünftig, folgen Sie den Anweisungen des Officers, es gibt hier nichts mehr zu sehen, alles ist gelaufen!“ Soweit sich der Verfasser aufgrund eigenen, mehr als reichlichen Konsums dieser Werke erinnern kann, kam im Original allerdings der Begriff reasonable für „vernünftig“ nicht vor.

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Exportkontrolle und Terrorismusbekämpfung: Auswirkungen auf privatrechtliche Verträge Inhaltsübersicht I. Überblick über Exportbeschränkungen 1. Beschränkungen für Dual-UseGüter, Embargos und Terrorismuslisten a) Dual-Use-Güter b) Embargovorschriften c) Terrorismuslisten 2. Formen von Ausfuhrbeschränkungen und Sanktionsmöglichkeiten 3. Genehmigungsverfahren II. Auswirkungen auf die Vertragsgestaltung 1. Ausgangslage 2. Verträge mit Lieferanten a) Problemstellung b) Gestaltungsmöglichkeiten aa) Festlegung einer Geschäftsgrundlage bb) Informationsverschaffungspflichten cc) Rechtliche Aussagen über Produkteigenschaften (1) Zusagen über fehlende Listung

(2) Zusagen über fehlende Ausfuhrgenehmigungspflic ht nach EG-Recht (3) Zusagen über fehlende Ausfuhrgenehmigungspflicht nach anderen Rechtsordnungen (4) Hinweis auf Listung bei innergemeinschaftlicher Verbringung 3. Verträge mit Abnehmern a) Problemstellung b) Rechtlicher Ausgangspunkt aa) § 134 BGB bb) § 31 Abs. 1 AWG cc) Auswirkungen von § 31 Abs. 1 AWG c) Gestaltungsmöglichkeiten aa) Kooperationspflichten bb) Vorsorge während der Schwebezeit cc) Beendigung des Schwebezustandes III. Zusammenfassung

Der folgende Beitrag bringt zwei auf den ersten Blick im Tatsächlichen und im Rechtlichen weit auseinander liegende Themenbereiche zusammen: Die Terrorismusbekämpfung einerseits und die privatrechtliche Vertragsgestaltung andererseits. Doch bei näherer Betrachtung leuchtet der Bezug unmittelbar ein, müssen doch alle Wirtschaftsbeteiligten in der Gestaltung ihrer privatrechtlichen Beziehungen den durch den Staat gesetzten Handlungsrahmen und die darin enthaltenen Beschränkungen des rechtlich Zulässigen, auch und gerade bei der Gestaltung ihrer Kauf- und Lieferverträge mit ihren Geschäftspartnern berücksichtigen. Der folgende Beitrag führt zunächst in die öffentlich-rechtlichen Exportbeschränkungen ein, soweit sie für die privatrechtliche Vertragsgestaltung von Bedeutung sind (I.). Auf dieser Grundlage werden die Auswirkungen auf privatrechtliche Verträge erörtert (II.). Hierbei wird nach einer Darstellung der Aus453

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gangslage (1.) zwischen Verträgen mit Lieferanten (2.) einerseits und Verträgen mit Abnehmern andererseits unterschieden (3.).

I. Überblick über Exportbeschränkungen Die Ausfuhr ist – und dies wird in den jetzigen Krisenzeiten besonders schmerzlich spürbar – nach wie vor die tragende Stütze der Konjunktur in Deutschland. Da eine florierende Außenwirtschaft die Staatskasse klingeln lässt, hat auch der Staat ein Interesse daran, die Ausfuhr möglichst wenig zu behindern. Gleichzeitig ist das „Recht auf Ausfuhr“ grundrechtlich verbürgt. Die Ausfuhr ist nämlich Ausdruck der Berufsausübungsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG und – soweit sie nicht kommerziellen Gesichtspunkten dient – auch Ausdruck der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG. Dieses subjektive Recht auf Ausfuhr ohne behördliche Beschränkungen findet seinen Ausdruck auch in § 1 Abs. 1 des Außenwirtschaftsgesetzes (AWG), in dem es heißt: „Der Waren-, Dienstleistungs-, Kapital-, Zahlungs- und sonstige Wirtschaftsverkehr mit fremden Wirtschaftsgebieten sowie der Verkehr mit Auslandswerten und Gold zwischen Gebietsansässigen (Außenwirtschaftsverkehr) ist grundsätzlich frei. […]“

Gleichwohl muss der Staat, um außenpolitisch handlungsfähig zu sein und einen effektiven Schutz seiner Bürger vor äußeren Gefahren zu gewährleisten, das Recht haben, unter bestimmten Umständen auch die Ausfuhr zu beschränken. 1. Beschränkungen für Dual-Use-Güter, Embargos und Terrorismuslisten Solche Beschränkungen der Exporttätigkeit aus außenpolitischen Gründen bestehen vor allem für sogenannte Dual-Use-Güter. Daneben gibt es zahlreiche Embargo-Vorschriften gegenüber dem Handel mit bestimmten Ländern oder Personen sowie die sog. Terrorismuslisten1. a) Dual-Use-Güter Güter mit doppeltem Verwendungszweck (Dual-Use-Güter) werden definiert als „Güter, einschließlich Datenverarbeitungsprogramme und Technologie, die sowohl für zivile als auch für militärische Zwecke verwendet werden können“2. Da letztlich auch Schuhe, wenn sie von Soldaten getragen werden, zu militärischen Zwecken eingesetzt werden können, ist diese Definition zu weit, um den Kreis der Güter, deren Ausfuhr bestimmten Kontrollen unterliegen soll, zu umgrenzen. Die einschlägigen Rechtsvorschriften enthalten daher Listen, in denen die Produkte, die kontrolliert werden sollen, einzeln aufgeführt sind.

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1 Weitere Handelsbeschränkungen bestehen beispielsweise aus Umweltschutzgründen für Chemikalien und Abfälle oder auch aus Gründen des Tierschutzes. S. dazu Bender in Paschke/Graf/Olbrisch (Hrsg.), Hamburger Handbuch des Exportrechts, 2009, Abschnitt 41, Exportbeschränkungen für Waffen, Chemikalien und Abfälle. 2 Art. 2 Nr. 1 der EG-Dual-Use-Verordnung, dazu sogleich.

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Exportkontrolle und Terrorismusbekämpfung: Auswirkungen auf Verträge

Was ein Dual-Use-Gut ist und wann seine Ausfuhr genehmigungspflichtig ist, ergibt sich vor allem aus der EG-Dual-Use-Verordnung. Bis zum Mai 2009 verstand man hierunter die Verordnung (EG) Nr. 1334/2000 des Rates vom 22.6.2000 über eine Gemeinschaftsregelung für die Kontrolle der Ausfuhr von Gütern und Technologien mit doppeltem Verwendungszweck3 (alte Dual-UseVerordnung, DUV a. F.). Über eine Novellierung dieser Dual-Use-Verordnung wurde seit 2006 verhandelt. Das Ergebnis dieser Bemühungen stellt die am 5.5.2009 erlassene Verordnung (EG) Nr. 428/2009 des Rates über eine Gemeinschaftsregelung für die Kontrolle der Ausfuhr, der Verbringung, der Vermittlung und der Durchfuhr von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck4 (neue Dual-Use-Verordnung, DUV n. F.) dar. Mit dieser Novelle wurde die alte DualUse-Verordnung außer Kraft gesetzt. Sie wurde am 29.5.2009 im Amtsblatt der EG veröffentlicht und trat am 27.8.2009 in Kraft; die alte Dual-Use-Verordnung verlor gleichzeitig ihre Gültigkeit. Für Anträge auf Erteilung einer Ausfuhrgenehmigung, die vor diesem Datum gestellt wurden, wurde und wird weiterhin auf der Grundlage der alten Dual-Use-Verordnung entschieden. Für Anträge, die ab dem 27.8.2009 gestellt werden, gilt die neue Dual-Use-Verordnung. Die neue Dual-Use-Verordnung enthält – und insoweit ergibt sich keine Änderung gegenüber der alten Dual-Use-Verordnung – im Kern eine Genehmigungspflicht für die Ausfuhr von Gütern aus der EG in ein Drittland, sofern diese Güter im Anhang I zur Dual-Use-Verordnung aufgeführt, d. h. „gelistet“, sind5. Neben diesen gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften finden sich zusätzliche Handelsbeschränkungen in der deutschen Außenwirtschaftsverordnung (AWV), der Ausführungsverordnung zum Außenwirtschaftsgesetz. Die zu dieser Verordnung ergangene Ausfuhrliste benennt weitere Waren, deren Ausfuhr genehmigungspflichtig ist. Außerdem enthält das deutsche Recht über das EGRecht hinausgehende Genehmigungspflichten für nicht gelistete Güter, insbesondere wenn der Verdacht besteht, dass die Waren im Zusammenhang mit Massenvernichtungsmitteln eingesetzt werden6. b) Embargovorschriften Neben diesen allgemeinen Handelsbeschränkungen, die für die Ausfuhr in sämtliche Drittstaaten gelten, hat der Ausführer auch Embargovorschriften zu beachten. Sie gehen meist auf internationale Vereinbarungen innerhalb der Vereinten Nationen zurück und richten sich gegen Staaten, deren Verhalten von den Mitgliedern der Vereinten Nationen missbilligt wird. Solche Embargos richten sich klassischerweise gegen Staaten, können jedoch auch gegen

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ABl. EG 2000 L 159/1. ABl. EG 2009 L 134/1. Art. 3 Abs. 1 DUV n. F. Weiterführend Bender (Fn. 1), Abschnitt 39 Rz. 66 ff.

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bestimmte Personengruppen verhängt werden7. Diese Embargos enthalten in sehr unterschiedlichem Umfang Handelsbeschränkungen, Verbote oder Kontroll- bzw. Informationspflichten für die Ausführer bereit. In der Praxis besonders relevant dürfte das Iran-Embargo sein8. Es enthält eine Liste mit Gütern, die über die Dual-Use-Liste der EG-Dual-Use-Verordnung hinaus geht. Die Ausfuhr dieser Güter ist entweder verboten oder unterliegt einem besonderen Genehmigungsvorbehalt. Außerdem enthält das Iran-Embargo bestimmte Verbote zur wirtschaftlichen Interaktion und Informationspflichten der Ausführer9. c) Terrorismuslisten Auf der Grundlage der Resolution 1267(1999) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen hat die EG Verordnungen erlassen, die der Bekämpfung des Terrorismus dienen. Diese Verordnungen beschränken sich nicht auf den Außenhandel mit bestimmten Ländern oder Waren, sondern sind personenbezogen. Sie enthalten Namenslisten von bestimmten Personen, Gruppen und Organisationen. Diesen dürfen weder direkt noch indirekt finanzielle Vermögenswerte oder wirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Die Verordnung (EG) Nr. 881/2002 vom 27.5.200210 enthält Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen, die mit Osama Bin Laden, dem Al-Qaida-Netzwerk oder den Taliban in Verbindung stehen. Die Verordnung (EG) Nr. 2580/200111 enthält Maßnahmen gegen sonstige terrorverdächtige Personen und Organisationen. 2. Formen von Ausfuhrbeschränkungen und Sanktionsmöglichkeiten Ausfuhrbeschränkungen können, wie bereits angedeutet, verschiedene Formen annehmen. Die stärkste Form der Ausfuhrbeschränkung ist das Ausfuhrverbot zum Beispiel für Kriegswaffen. Auch Embargo-Vorschriften können Verbote enthalten, wie dies für bestimmte Güter, die für den Iran bestimmt sind, zutrifft. In der Praxis am wichtigsten sind die Genehmigungspflichten für DualUse-Güter, die sich in der Dual-Use-Verordnung finden. Die Dual-Use-Verordnung enthält ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt. Bevor die zollrechtlichen Ausfuhrformalitäten begonnen werden, muss eine Ausfuhrgenehmigung des zuständigen Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle

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7 Zum Beispiel das Embargo gegen bestimmte Personen der weißrussischen Regierung, Verordnung (EG) Nr. 765/2006 über restriktive Maßnahmen gegen Präsident Lukaschenko und verschiedene belarussische Amtsträger, zuletzt geändert durch Verordnung (EG) Nr. 646/2008 v. 8.7.2008, ABl. EG 2008 L 180/5. 8 Verordnung (EG) Nr. 423/2007 vom 19.4.2007, zuletzt geändert durch Verordnung (EG) Nr. 1110/2008 v. 10.11.2008, ABl. EG 2008 L 300/1. 9 Richter/Lutz, Überblick über die neuen Iran-Sanktionen, AW-Prax 2009, 3 ff. 10 ABl. EG 2002 L 139/9, zuletzt geändert durch Verordnung (EG) Nr. 490/09 v. 11.6.2009, ABl. EG 2009 L 148/12. 11 ABl. EG 2001 L 344/70, zuletzt geändert durch Verordnung (EG) Nr. 501/09 v. 15.6.2009, ABl. EG 2009 L 151/14.

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(BAFA) vorliegen. Vor allem mit den sich hieraus ergebenden Implikationen für die Vertragsgestaltung im Ausfuhrvertrag und dem zugehörigen Einkaufsvertrag befasst sich dieser Beitrag. Ein ebenfalls sehr rigides Mittel der Beschränkung der Außenhandelsfreiheit sind die Verbote wirtschaftlicher Interaktion, die vor allen Dingen in den sogenannten Terrorismusverordnungen12 niedergelegt sind. Ist eine Person dort gelistet, darf mit ihr wirtschaftlich nicht interagiert werden. All diese Genehmigungsvorbehalte und Verbote sind bei der Ausfuhr gemäß Art. 58 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 (Zollkodex) neben den allgemeinen Zollbestimmungen13 zu beachten. Verstöße gegen diese Beschränkungen haben erhebliche Folgen. Im Bereich der Embargos und bestimmter Produkte, die im Zusammenhang mit ABC-Waffen verwendet werden könnten, stellen Ausfuhren ohne die erforderliche Genehmigung unter Umständen eine Straftat gemäß § 34 AWG dar14. Die Gefahr der strafrechtlichen Sanktionierung besteht darüber hinaus immer dann, wenn die Interessen der Bundesrepublik Deutschland durch die Ausfuhr beeinträchtigt sein könnten. Zusätzlich gibt es zahlreiche Ordnungswidrigkeiten und Tatbestände, die Verstöße gegen die Ausfuhrbestimmungen sanktionieren. Sofern derartige Verstöße nicht bereits im Zuge des Ausfuhrvorgangs zutage treten, wird die Einhaltung der Ausfuhrvorschriften im Rahmen von Außenwirtschaftsprüfungen nach § 44 AWG geprüft15. Ob ein Unternehmen sich einer solchen Prüfung unterziehen muss, hängt vom Umfang der Ausfuhrtätigkeit ab; es gibt jedoch auch zufällige Prüfungen. Zu diesen rechtlichen Sanktionen – und möglicherweise für das Unternehmen schädlicher – tritt die negative Öffentlichkeit, die durch Verstöße gegen Ausfuhrvorschriften entstehen kann. 3. Genehmigungsverfahren Hat ein Ausführer festgestellt, dass für seinen Ausfuhrvorgang eine Genehmigung notwendig ist, sei es auf der Grundlage der europäischen oder deutschen Dual-Use-Vorschriften oder einer Embargomaßnahme, muss er einen Antrag auf Erteilung einer Ausfuhrgenehmigung bei dem in Deutschland zuständigen Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) in Eschborn bei Frankfurt stellen. Neben den amtlichen Vordrucken muss der Antrag vor allem eine möglichst genaue Warenbeschreibung enthalten. Da die Listen mit den Dual-Use-Gütern, für die eine Ausfuhrgenehmigung nötig ist, häufig sehr feine Unterscheidungen nach technischen Parametern wie Materialeigenschaf-

__________ 12 S. oben unter I. 1. c). 13 S. hierzu Harings in Paschke/Graf/Olbrisch (Hrsg.), Hamburger Handbuch des Exportrechts, 2009, Abschnitt 32, Zollrechtliches Ausfuhrverfahren. 14 Hierzu Bender (Fn. 1), Abschnitt 40 Rz. 56 ff. Vertiefend zu § 34 AWG Diemer in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 169. EL 2008, Bd. 1, § 34 AWG Rz. 1 ff. 15 Weiterführend Friedrich in Hocke/Berwald/Maurer/Friedrich (Hrsg.), AWG, 108. EL Februar 2004, § 44 Rz. 15 ff.

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ten oder Leistungsfähigkeit treffen, bedarf es einigen technischen Verständnisses, um die Unterlagen zusammenzubringen. Die Genehmigungspflicht kann sich dabei unter Umständen auch daraus ergeben, dass in das Hauptprodukt, etwa eine Werkzeugmaschine, ein elektronisches Gerät zur Fernwartung eingebaut wird, dass mit einer Software betrieben ist, für die wegen der enthaltenen Verschlüsselungstechnologie eine Ausfuhrgenehmigung erforderlich wäre. Neben den detaillierten Warenbeschreibungen muss ebenfalls Zeugnis über den Endverwender und die Endverwendung abgelegt werden. Hierzu muss der Abnehmer sog. Endverwendungsnachweise beibringen. Hierbei ist der Ausführer auf die Kooperation mit dem Vertragspartner bzw. dem Endverwender angewiesen. Das BAFA strebt eine Bearbeitung des Antrags innerhalb eines Monats an. Da das BAFA jährlich zirka 30.000 Anträge16 zu bearbeiten hat, ist es leicht vorstellbar, dass es zu Bearbeitungsverzögerungen kommt. Neben der Arbeitsüberlastung kann die Antragsbearbeitung auch dann sehr viel länger dauern, wenn es um die Ausfuhr besonders sensibler Güter und/oder politisch brisante Zielländer geht. Das Genehmigungsverfahren kann sich über mehrere Monate erstrecken, wenn das BAFA nicht alleine entscheiden kann, sondern das Wirtschaftsministerium einschaltet oder sogar im interministeriellen Konsultationsverfahren auch das Auswärtige Amt und gegebenenfalls die Geheimdienste in die Entscheidungsfindung mit einbeziehen muss17. Insgesamt gilt, dass Anträge unbedingt komplett abgegeben werden müssen, da es ansonsten zu weiteren Verzögerungen kommt. Vollständige Informationen kann der Ausführer jedoch nur dann vorlegen, wenn er die nötigen Informationen zur Wareneigenschaft und Empfängern bzw. Endverwendern von seinen Vertragspartnern erhalten hat. Um vereinbarte Liefertermine einhalten zu können, sollten Genehmigungsanträge auch möglichst früh gestellt werden. Insoweit bedarf es also nicht nur der Lieferung vollständiger Informationen von den Vertragspartnern, sondern diese müssen auch noch zu einem möglichst frühen Zeitpunkt abgegeben werden.

II. Auswirkungen auf die Vertragsgestaltung Vor dem Hintergrund dieses öffentlich-rechtlichen Regulierungsrahmens wird dargestellt, welche vertraglichen Absicherungen es gibt, um die Beantragung einer Ausfuhrgenehmigung möglichst reibungslos in die Abwicklung des Ausfuhrgeschäfts einzubauen und – sofern eine Ausfuhrgenehmigung einmal verspätet erteilt oder gar verweigert wird – Haftungsrisiken zu minimieren. Nach Darstellung der Ausgangslage (1.) werden entlang der Lieferkette die für den

__________ 16 Im Jahr 2008 waren es nach Auskunft des BAFA 31.710 Anträge. 17 Bender (Fn. 1), Abschnitt 40 Rz. 27.

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Ausführer relevanten Vertragsbeziehungen mit dem Lieferanten einerseits (2.) und dem Abnehmer im Drittland andererseits (3.) beleuchtet. 1. Ausgangslage Fragt man nach den Möglichkeiten, wie durch zivilrechtliche Vertragsgestaltungen aus dem öffentlichen Recht erwachsenen Risiken vorgebeugt und diese minimiert werden können, muss sich der Blick zunächst auf die Grenzen der Vertragsgestaltung richten. Durch den Abschluss privatrechtlicher Verträge können nämlich keine Pflichten übertragen werden, die aus der außenwirtschaftsrechtlichen Stellung des Exporteurs als Ausführer im zoll- und außenwirtschaftsrechtlichen Sinne herrühren. In dieser Hinsicht ist allein der Ausführer verpflichtet, die Ausfuhrvorschriften einzuhalten. Er kann sich nicht den strafrechtlichen oder ordnungswidrigkeitenrechtlichen Sanktionen entziehen, die bei einem Verstoß gegen Zoll- oder Außenwirtschaftsvorschriften drohen. Es kann – nebenbei gesagt – auch gar nicht im Interesse des Ausführers sein, das gesamte Risiko des Ausfuhrgeschäfts abzuwälzen, da er sich damit selbst überflüssig zu machen droht. Die Übernahme des Ausfuhrrisikos ist nämlich für den Außen-Händler geradezu berufsprägend. Insbesondere kleinere Unternehmen des produzierenden Gewerbes möchten sich mit den Besonderheiten des Außenwirtschaftsrechts nicht beschäftigen und bedienen sich gerade deswegen eines Mittelsmannes, der das Ausfuhrgeschäft für sie tätigt. Würde der Händler aber die mit dem Ausfuhrgeschäft verbundenen Risiken auf den Lieferanten abwälzen, könnte sich der Lieferant zu Recht die Frage stellen, wofür er einen Händler mit der Ausfuhr beauftragt. Was die Vertragsgestaltung jedoch leisten kann, ist eine Risikovorsorge, um eine möglichst reibungslose Abwicklung des Ausfuhrgeschäftes zu gewährleisten. Außerdem kann sie die wirtschaftlichen Risiken, die mit Lieferverzögerungen zusammenhängen, soweit wie möglich von dem Ausführer fernhalten. Der erste Schritt der Risikovorsorge besteht dabei darin, deutsches Recht zur Anwendung zu bringen. Bei der Ausarbeitung der Verträge sind aber die Grenzen der privatautonomen Vertragsgestaltung zu berücksichtigen, die sich zum einen aus dem Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen ergeben und zum anderen auch öffentlich-rechtlicher Natur sein können. 2. Verträge mit Lieferanten Bei der Gestaltung der Lieferverträge ist zwischen zwei Typen von Lieferanten zu unterscheiden: Sie können zum einen das auszuführende Produkt selbst vollständig liefern; der Exporteur ist dann (nur) Händler. Wenn der Ausführer selbst Hersteller ist, werden Lieferanten zum anderen freilich nur Komponenten beisteuern.

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a) Problemstellung Die Problemlage unterscheidet sich, je nach dem, in welcher Rolle der Ausführer tätig wird. Als Hersteller der Waren hat er in der Regel leicht Zugriff auf Produktinformationen. Es kommt dann allerdings darauf an, dass unternehmensintern die notwendigen Informationen aus der Vertriebsabteilung und der Entwicklung bzw. Produktion an die Abteilung weitergegeben werden, die den Ausfuhrgenehmigungsantrag stellt. Dabei handelt es sich nicht mehr um ein Problem der Vertragsgestaltung, sondern der innerbetrieblichen Verfahrensabläufe18. Freilich stellt kaum ein Hersteller sämtliche Komponenten eines auszuführenden Produkts selbst her. Er ist dann selbst Kunde von Zulieferern, deren Kooperationsbereitschaft er sich versichern muss, um alle nötigen Produktinformationen zu erhalten. Schwieriger ist dagegen die Lage für Außen-Händler, insbesondere wenn sie nicht nur eine begrenzte Zahl von Waren ausführen, sondern eine umfangreiche Produktpalette im Angebot haben. Handelt es sich dabei um nichtstandardisierte Einzelanfertigungen, wie dies etwa im Maschinen- oder Anlagebau der Regelfall ist, so hat der Händler-Ausführer kaum Möglichkeiten, ohne die frühzeitige Mithilfe des Lieferanten die Ausfuhrgenehmigungspflicht zu erkennen und/oder alle erforderlichen Antragsunterlagen zusammenzustellen. b) Gestaltungsmöglichkeiten Im Folgenden werden die Gestaltungsmöglichkeiten bei der Festlegung einer Geschäftgrundlage sowie der Informationsverschaffungspflicht in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beleuchtet. aa) Festlegung einer Geschäftsgrundlage Sofern die Parteien nicht ohnehin davon ausgehen, dass die gelieferte Ware einer Ausfuhrgenehmigung bedarf, hat es sich als flexibles Instrument der Vertragsgestaltung bewährt, die fehlende Ausfuhrgenehmigungspflicht zur Geschäftsgrundlage des Liefervertrages zu erheben. Besteht doch eine Genehmigungspflicht, kann sich der Ausführer ein vertragliches Rücktrittsrecht gewähren lassen, das er ausüben kann, wenn sich die Genehmigungserteilung so lange verzögert, dass sein Abnehmer im Drittstaat vom Ausfuhrvertrag Abstand nimmt, oder die Ausfuhrgenehmigung verweigert wird. Dadurch verhindert er, dass er zur Abnahme der gelieferten Ware verpflichtet ist, diese aber nicht in ein Drittland ausführen kann, weil keine Genehmigung erteilt wird. Bei Produkten, die für den Endkunden spezifiziert sind, kann dies zur Unverkäuflichkeit der Ware führen, die – je nach Auftragsvolumen und Firmengröße des Ausführers – erhebliche finanzielle Belastungen nach sich zieht.

__________ 18 S. hierzu Bender (Fn. 1), Abschnitt 40 Rz. 82 ff.

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bb) Informationsverschaffungspflichten Unabhängig davon, ob sich die Parteien der Notwendigkeit einer Ausfuhrgenehmigung bewusst sind, stellt die Vereinbarung von Informationsverschaffungspflichten des Lieferanten das A und O des Liefervertrages dar. Diese Informationspflichten dienen erstens der Überprüfung von Angaben des Lieferanten, dass eine Ausfuhrgenehmigung für das von ihm gelieferte Produkt bzw. die Komponente nicht erforderlich ist. Eine solche Überprüfung durch den Ausführer selbst ist unerlässlich, da er sich nicht einfach auf die Aussagen des Lieferanten verlassen darf. Jedenfalls kann er sich durch den Verweis auf die Information des Lieferanten, es bedürfe keiner Ausfuhrgenehmigung, nicht von seiner straf- und ordnungswidrigkeitenrechtlichen Verantwortung exkulpieren, wenn er eine doch genehmigungspflichtige Ware ohne Erlaubnis ausführt. Steht fest, dass eine Ausfuhrgenehmigung nötig ist, sind die Informationspflichten zweitens unersetzlich, weil der Ausführer nur so rechtzeitig an die für die Antragstellung nötige Warenbeschreibung gelangt. Im Rahmen von dauernden Geschäftsbeziehungen zwischen Lieferanten und Ausführern sollte ebenfalls vertraglich klargestellt (und in den laufenden Geschäftsbeziehungen gelebt) werden, dass der Lieferant den Ausführer über Änderungen in den Produktspezifikationen informieren muss, die Auswirkung auf die Genehmigungsfähigkeit eines Produktes haben können. cc) Rechtliche Aussagen über Produkteigenschaften Neben der Übermittlung von tatsächlichen Informationen über die Produkte, können vom Lieferanten auch rechtliche Bewertungen des gelieferten Produktes verlangt werden. Sie reichen von der Zusage, dass ein bestimmtes Gut nicht von Anhang I DUV bzw. der Ausfuhrliste erfasst ist, bis zur umfassenden Garantiezusage, dass die gelieferte Ware keinem Exportkontrollregime der Welt unterliegt. (1) Zusagen über fehlende Listung Exporteure können mit Lieferanten vereinbaren, dass diese eine Zusage abgeben, eine zu liefernde Ware sei nicht gelistet, vor allem nicht im Anhang I DUV sowie in der deutschen Ausfuhrliste19. Dies sollte in Form einer Beschaffenheitsangabe geschehen und nicht in Gestalt einer Zusicherung, da Beschaffenheitsangaben im Sinne von § 434 BGB der AGB-Kontrolle entzogen sind20. Der Verwender entgeht so der Frage, ob die Information der fehlenden Listung als Zusicherung einer AGB-Kontrolle standhält. Letztlich dürfte diese Frage jedoch zu bejahen sein, da der Lieferant diese Frage allein aufgrund der ihm vorliegenden Produktinformationen und der entsprechenden Subsumtion tref-

__________ 19 S. oben I. 1. a). 20 Grüneberg in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 307 BGB Rz. 57.

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fen kann und ihn daher keine unangemessene Benachteiligung gemäß § 307 Abs. 2 BGB trifft. (2) Zusagen über fehlende Ausfuhrgenehmigungspflicht nach EG-Recht Problematischer ist dagegen eine Aussage über das Fehlen einer Ausfuhrgenehmigungspflicht. Denn selbst wenn der Lieferant sich Klarheit darüber verschaffen kann, dass eine Ware nicht gelistet ist, kann sich die Ausfuhrgenehmigungspflicht oder gar ein Ausfuhrverbot aus dem Empfangsland ergeben, wenn die Ware in ein Embargo-Land geliefert werden soll oder von der konkreten Verwendung abhängen, sofern der Verdacht besteht, dass die Ware im Zusammenhang mit ABC-Waffen oder für militärische Zwecke in einem Embargo-Land verwendet werden kann21. Diese Umstände kann der Lieferant jedoch nicht einschätzen, da er in der Regel nicht in die Details des Weiterveräußerungsvertrages eingeweiht ist. Selbst wenn er das Zielland und den Endempfänger kennen würde, steht der Lieferant nicht immer im direkten Kontakt mit dem Endempfänger, so dass er keine Aussagen über verwendungsbezogene Genehmigungspflichten treffen kann. Im Übrigen liegen diese Fragen auch außerhalb der Sphäre des Lieferanten, so dass rechtliche Zusagen über die Genehmigungspflichtigkeit einer Ware, bei denen Informationen über den Endempfänger oder Detailkenntnisse des Weiterveräußerungsgeschäfts notwendig sind, eine unangemessene Benachteiligung des Lieferanten darstellten. Selbst wenn der Käufer derartige Klauseln aufgrund seiner Marktmacht faktisch durchsetzen könnte, hielten sie einer gerichtlichen Kontrolle wohl nicht stand. Im Übrigen würden sie dem Exporteur auch nicht helfen, seiner eigenen, sich aus seiner Stellung als Ausführer ergebenden Verpflichtung nachzukommen, da er die fehlende Ausfuhrgenehmigungspflicht ohnehin selbst prüfen muss. (3) Zusagen über fehlende Ausfuhrgenehmigungspflicht nach anderen Rechtsordnungen Noch schwieriger sind Klauseln, mit denen der Lieferant zusagt, dass nicht nur keine Genehmigungspflicht für die Ausfuhr aus der EG besteht, sondern dass das gelieferte Produkt auch nicht den Exportkontrollregimen anderer Länder unterliegt. Der Sache nach handelt es sich bei der Klausel um eine materiellrechtliche Verweisung, die dazu führt, dass fremde öffentlich-rechtliche Normen zusätzlich Anwendung finden22. Hierbei wird insbesondere das Exportregime der USA einbezogen, das teilweise extraterritoriale Wirkung entfaltet und den Reexport US-amerikanischer Güter oder Güter, die US-Komponenten enthalten, ebenfalls einer Ausfuhrgenehmigungspflicht nach US-amerikanischem Recht unterstellt23. Derartige Klauseln können in Fällen bedeutsam

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21 Bender (Fn. 1), Abschnitt 39 Rz. 62 ff., 90 ff. 22 Martiny in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2006, Art. 34 EGBGB Rz. 64; von Hoffmann in Soergel, 12. Aufl., Art. 34 EGBGB Rz. 103. 23 Hierzu ausführlich BAFA (Hrsg.), Haddex, Band 1, Teil 12, 53. EL, Mai 2007.

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sein, in denen der den Ausfuhr-Händler beliefernde Hersteller US-amerikanische Komponenten, wie z. B. Software bei der Produktion der Ausfuhrgüter eingesetzt hat. Sie begegnen erst recht den Bedenken, die bereits für die Zusicherung der fehlenden Ausfuhrgenehmigungspflicht nach EG-Recht vorgebracht wurden24. Zusätzlich sind sie häufig zu unbestimmt, wenn sie dem Betroffenen die Pflicht aufbürden, die Ausfuhrgenehmigungspflicht auf der Grundlage des Exportkontrollrechts aller Staaten dieser Erde zu prüfen. Selbst wenn aber lediglich das US-Exportkontrollrecht einbezogen werden sollte, führt ein pauschaler und dynamischer Verweis darauf zu erheblicher Rechtsunsicherheit, so dass nach verbreiteter Ansicht eine umfassende und uneingeschränkte Unterwerfung unter ein fremdes Exportkontrollregime nicht einmal individualvertraglich zu vereinbaren wäre25. Eine derartig uferlose Prüfpflicht stellt dann erst recht eine unangemessene Benachteiligung des Lieferanten gemäß § 307 Abs. 1 BGB dar. Überdies stellt sich bei globalen Verweisungen – insoweit vorrangig – immer auch die Frage der wirksamen Einbeziehung der Verweisungsklausel, weil zweifelhaft ist, ob es dem Vertragspartner des Verwenders überhaupt möglich ist, von den nicht in einem einheitlichen Gesetzestext zusammengefassten US-amerikanischen Vorschriften in zumutbarer Weise Kenntnis zu nehmen26. Dies wird man allenfalls bei global operierenden Unternehmen bejahen können27. Klauseln, die den Lieferanten verpflichten, den Ausfuhr-Händler über den Einsatz von Komponenten zu unterrichten, die bei der Produktion der Ausfuhrgüter verwendet und aus den USA eingeführt worden sind, sollten dagegen weder in Individualverträgen noch in AGB bedenklich sein. Dies gilt auch für Klauseln, mit denen der Lieferant versichert, ihm seien keine Informationen oder Indizien dafür bekannt, dass der (Re-)Export derartiger Komponenten gegen Vorschriften des Exportkontrollrechts von Drittstaaten verstoße. (4) Hinweis auf Listung bei innergemeinschaftlicher Verbringung Im Zusammenhang mit den hier behandelten vertraglichen Gestaltungsmöglichkeiten ist auf eine gesetzliche Pflicht zur Informationsbeschaffung hinzuweisen. Werden Waren, die in Anhang I DUV gelistet sind, innerhalb der EG verbracht, muss der Verbringer, d. h. das liefernde Unternehmen, nach Art. 22 Abs. 10 DUV n. F. in den einschlägigen Geschäftspapieren, insbesondere Kaufvertrag, Auftragsbestätigung, Rechnung oder Versandanzeige, mitteilen, dass die Ware in Anhang I DUV gelistet ist und diese Güter bei der Ausfuhr aus der

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24 S. oben (2). 25 Funk/Zeifang, US-Exportkontrollrecht und dessen Erstreckung auf deutsche Softwareverträge, CR 2004, 11, 15 m. w. N. 26 Die Anforderung der zumutbaren Kenntnisnahme gilt trotz § 310 Abs. 1 BGB auch für die Einbeziehung von AGB im unternehmerischen Verkehr, Pfeiffer in Wolf/ Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 5. Aufl. 2009, § 305 BGB Rz. 131. 27 Zu berücksichtigen dann, dass die AGB in der Vertragssprache, zumeist also deutsch oder englisch, gehalten sein müssen, um die zumutbare Kenntniserlangung zu gewährleisten. Vgl. Schlosser in Staudinger, §§ 305–310 BGB, Bearb. 2006, § 305 BGB Rz. 141.

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Gemeinschaft einer Kontrolle unterliegen. Da diese Vorschrift vielen Wirtschaftsbeteiligten nicht bekannt sein dürfte, sollte im Liefervertrag hierauf hingewiesen werden. 3. Verträge mit Abnehmern Bei Verträgen mit Abnehmern ist zwischen zwei Typen von Abnehmern zu unterscheiden, nämlich einerseits Endkunden und andererseits Weiterverkäufern. a) Problemstellung Für die exportkontrollrechtlichen Verpflichtungen des Exporteurs ist ein Ausfuhrvertrag mit einem Endkunden weniger problematisch als einer mit einem Weiterverkäufer. Bei Verträgen mit Endkunden reicht es nämlich aus, diese zu überprüfen, ob sie in den einschlägigen Terrorismusverordnungen oder Embargo-Vorschriften genannt sind. Außerdem sind es auch sie, die die Endverbleibserklärung abgeben28. b) Rechtlicher Ausgangspunkt Bei Verträgen mit Abnehmern in Drittländern ist zunächst eine Rechtswahl zu treffen. Der Beitrag geht davon aus, dass deutsches Recht zur Anwendung kommt29. aa) § 134 BGB Soweit Lieferverträge gegen Ausfuhrverbote verstoßen, wie sie beispielsweise im Iran-Embargo enthalten sind, sind sie gemäß § 134 BGB wegen des Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot nichtig30. Das Verbot muss sich aber gerade gegen die Vornahme des Rechtsgeschäfts richten. Dies ist wiederum nur dann der Fall, wenn die Ein- bzw. Ausfuhr Teil der vertraglichen Leistung ist31. Dann richtet sich die Rückabwicklung des Vertrages nach bereicherungsrechtlichen Gesichtspunkten.

__________ 28 Beim Antragsverfahren sind unterschiedliche Vordrucke für Endverwendungsnachweise zu verwenden, abhängig davon, ob an einen Endverwender oder einen Weiterverkäufer geliefert werden soll. 29 Die Anwendbarkeit des § 31 Abs. 1 AWG ist allerdings unabhängig von der Frage der Rechtswahl, dazu sogleich unter bb). 30 Ausführlich Mankowski in Wolffgang/Simonsen (Hrsg.), AWR-Kommentar, Stand: 12. EL, 2006, § 31 Rz. 28 ff.; a. A. offenbar Richter/Lutz, Überblick über die neuen Iran-Sanktionen, AW-Prax 2009, 3 (5), die § 275 BGB anwenden wollen. Ausführlich zu weiteren zivilrechtlichen Folgen Bittner, Die Auswirkungen des Irak-Embargos für Warenlieferungsverträge: Zivilrechtliche Folgen von Handelsbeschränkungen, RIW 1994, 458 ff. 31 BGH, NJW 1983, 2873.

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bb) § 31 Abs. 1 AWG Komplizierter wird die zivilrechtliche Rechtslage, wenn ein Liefervertrag über ein Gut geschlossen wird, dessen Ausfuhr einer Ausfuhrgenehmigung bedarf. Dreh- und Angelpunkt der zivilrechtlichen Vertragsgestaltung ist hier § 31 Abs. 1 AWG. Da es sich hierbei um eine sprichwörtliche „Dunkelnorm“ handelt32, soll der Wortlaut wiedergegeben werden: „1Ein Rechtsgeschäft, das ohne die erforderliche Genehmigung vorgenommen wird, ist unwirksam. 2Es wird durch nachträgliche Genehmigung vom Zeitpunkt seiner Vornahme an wirksam. 3Durch die Rückwirkung werden Rechte Dritter, die vor der Genehmigung an dem Gegenstand des Rechtsgeschäfts begründet worden sind, nicht berührt.“

§ 31 Abs. 1 Satz 1 AWG ordnet an, welche zivilrechtliche Rechtsfolge das Bestehen einer öffentlich-rechtlichen Ausfuhrgenehmigungspflicht hat. Der Gesetzgeber hat dabei bestimmt, dass ein Liefervertrag, der sich auf eine Ware bezieht, für die eine Ausfuhrgenehmigung nötig ist, die noch nicht erteilt wurde, zunächst schwebend unwirksam ist33. Diese Rechtsfolge gilt unabhängig davon, ob deutsches Recht vereinbart worden ist34. § 31 Abs. 1 Satz 2 AWG normiert die zivilrechtliche Rechtsfolge, die eintritt, wenn die Genehmigung erteilt worden ist. Er ordnet an, dass durch die Erteilung der Ausfuhrgenehmigung das Liefergeschäft vom Zeitpunkt seiner Vornahme (ex tunc) voll wirksam wird. Insoweit wiederholt § 31 Abs. 1 Satz 2 AWG den § 184 Abs. 1 BGB, allerdings ohne die darin enthaltene Öffnungsklausel, nach der die Parteien auch etwas anderes vereinbaren können. § 31 Abs. 1 Satz 3 AWG regelt den Spezialfall der Verfügung, d. h. Weiterveräußerungen, während der Schwebezeit. Durch § 31 Abs. 1 Satz 3 AWG wird angeordnet, dass ein Dritter, der den Gegenstand vom Ausführer während der Schwebezeit erwirbt, dabei nicht vom Nichtberechtigten erwirbt35, sondern vom Berechtigten36. cc) Auswirkungen von § 31 Abs. 1 AWG § 31 Abs. 1 AWG hat erhebliche Auswirkungen auf die vertraglichen Beziehungen zwischen Ausführer und Abnehmer. Die schwebende Unwirksamkeit nach § 31 Abs. 1 Satz 1 AWG hat zur Folge, dass bis zur Erteilung der Ausfuhr-

__________ 32 Entsprechend gering ist die Rspr. zu § 31 AWG; es gibt lediglich drei – allerdings höchstrichterliche – Entscheidungen, die sich mit Wirkung und Reichweite des § 31 AWG befassen. So legt der BFH, Urteil v. 30.1.1975 – V R 143/70, § 31 AWG dahingehend aus, dass dieser auch die Umsatzsteuerfreiheit von an sich begünstigten Ausfuhren ohne außenwirtschaftsrechtliche Genehmigung entfallen lässt. 33 Grundlegend BGH, NJW 1977, 2030, 2032. Hierzu auch Friedrich (Fn. 15), 112. EL, Sept. 2004, § 31 Rz. 2, 7. Ausführlicher zur Rechtswahl Paschke in Paschke/Graf/ Olbrisch (Hrsg.), Hamburger Handbuch des Exportrechts, 2009, Abschnitt 2 Rz. 27 ff. 34 Ausführlich Mankowski (Fn. 30), § 31 Rz. 49 ff. 35 Was der Veräußerer wegen der Ex-tunc-Wirkung der Genehmigung an sich wäre. 36 Ausführlich Mankowski (Fn. 30), § 31 Rz. 43 ff.

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genehmigung keine Hauptleistungspflichten bestehen. Der Ausführer kann keine Zahlungen, der Empfänger keine Lieferungen verlangen. Mit Bedingungseintritt, d. h. der Erteilung der Ausfuhrgenehmigung, wird der Vertrag dann endgültig wirksam. Wird die Ausfuhrgenehmigung abgelehnt, ist der Vertrag gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 AWG endgültig unwirksam. Es bestehen keine Hauptleistungspflichten und keine Schadenersatzansprüche. Trotz der Ex-tunc-Wirkung der Genehmigung besteht für die Zeit der schwebenden Unwirksamkeit kein Anspruch auf Verzugsschaden37. c) Gestaltungsmöglichkeiten Vor dem Hintergrund dieser Norm gibt es verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten. aa) Kooperationspflichten Auch wenn der Empfänger der Ware keinen Anspruch auf Verzugsschaden während der Schwebezeit hat, sollte zur Vermeidung von Irritationen bereits im Liefervertrag klargestellt werden, dass ein Liefertermin unter dem Vorbehalt der rechtzeitigen Erteilung einer Ausfuhrgenehmigung steht. Die Parteien sollten sich in diesem Zusammenhang verpflichten, sich wechselseitig bei der Beantragung der Ausfuhrgenehmigung zu unterstützen. Zur Absicherung des Empfängers könnte klarstellend hinzugefügt werden, dass es trotz dieser Kooperationspflicht Sache des Ausführers bleibt, die entsprechenden Anträge zu stellen. Dieser Umstand ist öffentlich-rechtlich ohnehin zwingend und durch Parteivereinbarung nicht abzuändern, vermag aber gegenüber dem Abnehmer dem Eindruck vorzubeugen, dass sich der Ausführer seiner Pflichten entledigen will. bb) Vorsorge während der Schwebezeit Da der Vertrag während der Schwebezeit unwirksam ist, es gleichzeitig aber möglich sein soll, aus einem vorvertraglichen Schuldverhältnis vorläufige Pflichten abzuleiten38, ist es sinnvoll, diese vorvertraglichen Pflichten zu konkretisieren. Hier sollte eine Auskunfts- und Unterstützungsverpflichtung des Empfängers niedergelegt werden, die sich insbesondere auf die Beschaffung des Endverwendungsnachweises bezieht. Weiter können vorgezogene Leistungspflichten vereinbart werden, etwa die Zahlung eines Vorschusses. Bei hochpreisigen Ausfuhren, bei denen der Ausführer gegenüber seinem Lieferanten in Vorleistung treten muss, können solche Vorschusspflichten die Liquidität des Ausführers verbessern. Außerdem stellen sie einen weiteren Anreiz für den Abnehmer dar, sich in das Antragsverfahren einzubringen.

__________ 37 Grüneberg in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 286 BGB Rz. 9. 38 Ausführlich Mankowski (Fn. 30), § 31 Rz. 22 m. w. N.

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cc) Beendigung des Schwebezustandes Für den Fall, dass sich das Genehmigungsverfahren für die Parteien unzumutbar in die Länge zieht, ist es ratsam, ein vertragliches Rücktrittsrecht zu vereinbaren. Der Ausführer enthält somit ein flexibles Instrument, um sich vom Vertrag lösen zu können. Damit dies einer AGB-rechtlichen Kontrolle standhält, sollten dabei jedoch auch die berechtigten Interessen des Empfängers berücksichtigt werden. Denkbar wäre insoweit etwa die Vereinbarung eines Reugelds gemäß § 353 BGB oder einer Vertragsstrafe. Nicht zu empfehlen ist dagegen die Vereinbarung einer Klausel, nach der die Verweigerung einer Ausfuhrgenehmigung oder die unzumutbare Verzögerung des Genehmigungsverfahrens den Tatbestand der höheren Gewalt erfüllt. Höhere Gewalt setzt nach deutschem Rechtsverständnis grundsätzlich ein Überraschungsmoment voraus39. Ist den Parteien jedoch vorher bekannt, dass eine Genehmigungspflicht besteht, können sie hiervon auch nicht überrascht sein. Das gilt auch für Verzögerungen beim Genehmigungsverfahren, mit denen ebenfalls grundsätzlich zu rechnen ist. Als höhere Gewalt qualifiziert werden können dagegen nachträgliche Ausfuhrbeschränkungen oder Verbote, etwa durch die Verhängung eines Embargos, sofern diese bei Vertragsschluss noch nicht absehbar waren.

III. Zusammenfassung Das deutsche und europäische Außenwirtschaftsrecht statuiert vor allem aus außenpolitischen Gründen eine Vielzahl von Exportbeschränkungen. Sie betreffen insbesondere Waren, die (auch) für militärische Zwecke verwendet werden können, oder sollen Embargomaßnahmen absichern. Ihre Verletzung ist wenigstens ordnungswidrig (§ 33 AWG), in vielen Fällen sogar strafbar (§ 34 AWG). Bei der Gestaltung der Verträge mit Lieferanten und Abnehmern sollte den entsprechenden Risiken der Außen-Händler insbesondere durch die Vereinbarung von Informations- und Kooperationspflichten vorgebeugt werden. Aus außenwirtschaftsrechtlichen Normen ergeben sich aber auch zivilrechtliche Risiken und Konsequenzen, die bis zur Nichtigkeit einschlägiger Verträge gehen können. Diese Risiken sind durch eine sinnvolle Vertragsgestaltung angemessen auf die Beteiligten zu verteilen.

__________ 39 Heinrichs in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 206 BGB Rz. 4 m. w. N.

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Wirtschaftskrise – Bankvorstände und D&O-Versicherung Zugleich ein Beitrag zu „Spekulationsgeschäften“ und zu „versicherten Tätigkeiten“

Inhaltsübersicht I. Einleitung 1. Die Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2007 2. „Bank und Ethos“ 3. Zementierung der sozialen Marktwirtschaft und Auswirkungen für die Versicherungswirtschaft II. Auswirkungen für die D&O-Versicherung 1. Vorstandshaftung – Sorgfaltsanforderungen im Bankenbereich a) Grundlagen b) Einrichtung eines Frühwarnsystems i. S. d. § 91 Abs. 2 AktG 2. Delegitimierung der wirtschaftsethischen Grundlagen und Funktionsprinzipien der sozialen Marktwirtschaft a) Übersicht b) Zwei Beispielfälle aa) Fall 1: Überschreitung von (Groß-)kreditgrenzen bb) Fall 2: Verlust aus Derivatgeschäften cc) Auswirkungen dieser Entscheidungen

c) Konkrete Konsequenzen für den Deckungsumfang im D&OBereich aa) Vorsätzliche Schadensverursachung und wissentliche Pflichtverletzung bb) „Spekulationsgeschäfte“ und „nicht mit dem Unternehmensgegenstand vereinbare Geschäfte“ (1) Der Wortlaut des „Spekulationsgeschäftes“ (2) Sinn und Zweck (3) Nicht innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs üblich und erforderlich (4) Conclusio und AGB-rechtliche Inhaltskontrolle cc) Nicht mit dem Unternehmensgegenstand vereinbare Geschäfte III. Fehlende Ausschlusstatbestände zu „Spekulation“ und „versicherten Tätigkeiten“ IV. Zusammenfassung

I. Einleitung 1. Die Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2007 Phasen von deutlich negativen Entwicklungen des Wirtschaftswachstums werden in der Volkswirtschaft als „Wirtschaftskrise“ bezeichnet, die bekanntlich einzelne oder mehrere Volkswirtschaften oder gar die gesamte Weltwirtschaft betreffen kann1. Werden die wichtigsten Märkte weltweit erfasst, kann

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1 Das Phänomen der Konjunktur wird in allen gängigen makroökonomischen Lehrbüchern erörtert, statt vieler etwa: Arnold, Makroökonomik, 3. Aufl. Tübingen 2009,

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sie sich – und die Gefahr bestand und soll nach Meinung einiger Experten nach wie vor nicht gebannt sein – global ausweiten. In den letzten Jahren behandelten nicht nur die Wirtschaftsteile in den führenden Zeitungen nahezu täglich Begriffe wie „Stagnation“, also Phasen des Nullwachstums, oder der „Deflation“. Wir befanden uns tatsächlich im Abschwung und damit in einer bereits als „Rezession“ zu bezeichnenden Phase. Krisen gab es aber zahlreiche, etwa der New Yorker Börsenkrach, der „Schwarze Freitag“, der die „Goldenen Zwanziger“ beendete. An einem Tag – nämlich bereits am 24.10.1929 – wurden auf einen Schlag 16 Millionen Aktien verkauft2. Die seit 2007 herrschende – vielleicht etwas unscharf in Deutschland als „Wirtschaftskrise“, bisweilen wohl besser als „Finanz(markt)krise“ bezeichnete – Krise wurde ausgelöst durch Spekulationen am US-Markt (Stichworte: Subprime-Risiken, Subprime-Loans, Zertifikate). Folgen derartiger Krisen sind in der Regel Unternehmenszusammenbrüche, Massenentlassungen oder Massenarbeitslosigkeit sowie fallende Löhne. Auch Experten sind erstaunt, dass im Zusammenhang mit der jetzt postulierten Finanzkrise anders als im Höhepunkt der Bankenkrise im Jahre 1931 Massenentlassungen und Massenarbeitslosigkeit bis heute nicht eingetreten sind, ebenso wenig fallende Löhne3. Möglicherweise verläuft die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise also doch anders. Trotzdem werden nahezu täglich Fragen nach den Schuldigen gestellt. Trifft die Schuld – wie vielfach zu lesen ist – tatsächlich und oder gar ausschließlich „Banker“? Tragen sie gar die Schuld des Ganzen oder tragen sie zumindest eine Mitschuld4? 2. „Bank und Ethos“ Anlässlich der Vorbereitung eines Vortrages stieß ich (erneut) auf eine – und ich möchte betonen – „ungehaltene“ Rede eines namhaften Bankiers, eines ehemaligen Vorstandsvorsitzenden. Dieser sollte eine Rede zu dem Thema „Die Landesbanken im Wandel der Zeit“ halten. Er aber wollte sich jedoch lieber mit dem Thema „Bank und Ethos“ und dem „Sittenverfall im deutschen Bankwesen“ befassen. Bekanntlich konnte er die Rede nicht halten. Die Inhalte wurden dann aber als die berühmte „ungehaltene Rede“ im Juli 2004 ganzseitig in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckt5. Wörtlich hieß es darin: „Die meisten Mitglieder unserer Gesellschaft nehmen sich nicht mehr als Bestandteil unseres Staates wahr. Sie sind von Fördernden zu Fordernden

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S. 1 ff.; Blanchard/Illing, Makroökonomie, 5. Aufl. München 2009, S. 1 ff.; vgl. speziell zur Konjunktur: Arnold, Business cycle theory, Oxford 2002, S. 1 ff.; Tichy, Konjunktur, Stilisierte Fakten, Theorie, Prognose, 2. Aufl. Berlin 1994; Friedman, A Monetary History of the United States, 9. Aufl. Princeton 1993; Kindleberger, Die Weltwirtschaftskrise, München 1973; Meister, Die große Depression, Regensburg 1991; James, Deutschland in der Wirtschaftskrise, Stuttgart 1988. Borchardt, Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik, Göttingen 1982; Blaich, Der schwarze Freitag, Inflation und Wirtschaftskrise, 3. Aufl. München 1994. Ritschl, „Die teure Fehldiagnose 1929“: Der Vergleich mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 habe die Politik in die Irre geführt, FAZ vom 23.10.2009, S. 14. Erneut statt vieler: Enste, Focus 2009, S. 124: „Sie vergessen schnell“. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 16.7.2004.

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geworden. Die Denkweise hat auch das einst hoch angesehene Bankgewerbe erfasst. Auch dort haben sich die Wertmaßstäbe verschoben. […] Gewinnmaximierung ist keine Maxime: Gewinnmaximierung zum Hauptziel des geschäftlichen Tuns zu erklären, bedeutet die Verletzung der ethischen Pflichten des Unternehmens […] Die „soziale Marktwirtschaft“ ist nicht nur der Generator unserer Gesellschaftsordnung, sie ist auch ihr moralisches Korsett. Gerade das letztere gilt auch dann noch, wenn ich werte, dass die Marktwirtschaft immer noch Substantiv und das Wörtchen „soziale“ nur das Adjektiv ist. Nicht die mit ihr Unzufriedenen – weil sie zu wenig Soziales abwirft – noch die sie kritisierenden Werteverbesserer können sie gefährden, dies vermögen allein die in ihrem Zentrum Agierenden, wenn sie nicht endlich die Balance zwischen ihrem Eigennutz und der Verantwortung, die sie für unser Land tragen, finden“6. Nun, diese Worte stammen von keinem geringeren als von Herrn Dr. h. c. Ludwig Poullain, ein biederer Bäckerssohn, der dem Rat seines Vaters gefolgt und „was Vernünftiges“ geworden ist, der eigentlich Musiker werden wollte und schließlich vom „Saulus zum Paulus“ avancierte. In den Siebziger Jahren gehörte er zu den einflussreichsten Managern im Bankengewerbe, war von 1967 bis 1972 Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes und von 1968 bis 1972 Chef der Westdeutschen Landesbank. Warum zitiere ich aus dieser „Brandrede“? Es geht um Werte. Werte wie „Nachhaltigkeit“ und „Beständigkeit von Beziehungen“ sind nicht überflüssige Traditionen, sondern Maximen und sollten es bleiben. Der sozialen Marktwirtschaft gehört auch weiterhin die Zukunft. Aber wie lässt sich dies verankern und welche Konsequenzen und Auswirkungen hat dies konkret für die Versicherungsbranche? Hier gilt es einen „Bogen im und zum Recht“ zu spannen. 3. Zementierung der sozialen Marktwirtschaft und Auswirkungen für die Versicherungswirtschaft Bleiben wir zunächst bei der Finanzkrise. Derzeit herrscht Streit unter den Experten wie und in welcher Effizienz in der Finanzkrise „gegengesteuert“ werden kann: Deutschlandweit, europaweit oder auch nur global. In den westlichen Industriestaaten war die letzten Jahrzehnte stets von der „Deregulierung“ die Rede. Aber der „Glaube an die Selbstheilungskräfte des Marktes“ hat vielleicht doch, wenn nicht gerade „einen tödlichen Stoß“7, dann doch zumindest einen schweren Schlag erhalten. Regulatorische Forderungen wurden wieder erhoben. Konkrete Maßnahmen sind bereits zum Teil umgesetzt: Die Bundesregierung verabschiedete bisher zwei umfassende Konjunktur-

__________ 6 S. ähnlich auch Stephen Green, Verwaltungsratschef der HSBC und Vorsitzender des britischen Bankenverbandes, Good value: Reflections on money, morality and an uncertain world, 2009 und ders. in Die Zeit v. 6.8.2009, S. 24 „Moral für Banker“. 7 So aber ausdrücklich Lawrence Summers, Vorsitzender des National Economic Council in den USA und ein glühender Verfechter der freien Märkte im Frühjahr 2009.

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pakete8. Mit leicht kritischem Unterton wird bisweilen gerügt, dass es sich um ad hoc Maßnahmen unter hohem Zeitdruck gehandelt habe, die von der Verstaatlichung über staatlich vermittelte Stützungskredite bis hin zu „Garantieerklärungen“ für Einlagen gereicht hätten9. Zu erwähnen sind aber auch die noch unter der damaligen Bundesregierung initiierten Koalitionsvereinbarungen von Januar 2008, deren Ziele durch die Arbeitsgruppe der großen Koalition umgesetzt wurden und zunächst für die „März-Eckpunkte“ (im Jahre 2008) sorgten: Es ging um konkrete Vereinbarungen zur (angemessenen) Begrenzung von Managergehältern sowie um die nachträgliche Herabsetzung unbillig hoher Bezüge bei veränderter Wirtschaftslage, um die verbesserte Kontrolle der Managervergütung (über die Höhe der Gehälter sollte nicht mehr nur der Ausschuss, sondern der gesamte Aufsichtsrat entscheiden) und Aktienoptionen sollten künftig nach vier – statt wie bisher nach zwei – Jahren eingelöst werden können. So kam es – 2008 – zu den „April-Beschlüssen“. Stichworte in diesem Zusammenhang waren: Die Haftung bis zu einem Jahresgehalt für verursachte Verluste, Auszahlung erfolgsabhängiger Boni (Vergütungsbestandteile) erst am Ende der Vertragslaufzeit und bei börsennotierten Unternehmen eine Karenzzeit von zwei Jahren beim Wechsel von Vorstandsmitgliedern in den Aufsichtsrat desselben Unternehmens. Ein weiteres Thema war die Beschränkung der gleichzeitig wahrnehmbaren Aufsichtsratsmandate pro Person – diese Mandate sollten halbiert werden10 – und Einigkeit bestand im Ausschuss auch weitgehend bereits dahingehend, den Verbraucherschutz bei der Vermögensberatung weiter zu verstärken. Die im Jahre 2008 von der Regierung angestrengten Maßnahmen11 endeten letztendlich mit dem Inkrafttreten des (inhaltlich gegenüber den April-Beschlüssen 2008 nochmals abgeänderten) „Gesetzes zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (VorstAG)12, flankiert von europäischen Maßnahmen13. Nur en passant sei erwähnt, dass das VorstAG zwar durchaus populistisch als „Haftungsverschärfung zu Lasten der Manager“ von Seiten der damaligen Koalition „verkauft“ werden konnte, dem Ergebnis nach das eigentliche Ziel der sog. „verhaltenssteuernden Wirkung“14 aber eher nicht erreicht wurde und das Gesetz daher wohl besser als „Beruhi-

__________ 8 S. dazu das „Gesetz zur Sicherung von Beschäftigung und Stabilität in Deutschland“ v. 2.3.2009, BGBl. I 2009, 116 ff. (Konkunkturpaket II) und das Konjunkturpaket I von November 2008. 9 Ritschl (Fn. 3), S. 14; vgl. zur Absicherung der Spareinlagen durch angeblich öffentliche „Bürgschaftsübernahmen auch Säcker, NJW 2008, 3313, 3316 f. 10 Erinnerungen wurden wach an die berühmte „Lex Abs“, mit der 1965 die Anzahl der besetzten Aufsichtsratsmandate auf maximal zehn beschränkt wurde. Abs selbst saß seinerzeit in mehr als vierzig Aufsichtsräten bei Banken und Industriekonzernen im In- und Ausland; vgl. dazu etwa Fuchs, Hermann Josef Abs, Bd. 16, Herzberg 1999 und Gall, Der Bankier Hermann Josef Abs, München 2004. 11 Am 18.6.2009 wurde es vom Bundestag in der Fassung der Beschlussempfehlung v. 17.6.2009 (vgl. dazu BT-Drucks. 16/13433) verabschiedet. 12 Dazu: Dauner-Lieb/Tettinger, ZIP 2009, 1555 ff.; Hanau, NJW 2009, 1652 ff.; Seibert, DB 2009, 1167 ff. und ders., WM 2009, 1489, 1492. 13 U. a. EU-Verordnung v. 23.3.2009 zur verstärkten Kontrolle von Ratingagenturen. 14 Lenz in Badischer Zeitung vom 13.11.2009: „Keine verhaltenssteuernde Wirkung“, S. 20.

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gungsgesetz der Bevölkerung“ mit breit angelegten Diskussionen um einzelne Aspekte, z. B. um den Selbstbehalt15, in die Geschichte eingehen wird. Zu erwähnen ist ferner das „Gesetz zur Begrenzung der mit Finanzinvestitionen verbundenen Risiken“, das sog. Risikobegrenzungsgesetz vom 12.8.200816 mit Änderungen unter anderem zum Wertpapierhandels- sowie zum Wertpapiererwerbs- und übernahmegesetz. Noch bedeutsamer war das „Finanzmarktstabilisierungsgesetz“17, das als Eilgesetz am 17.10.2008 als Folge der Krise um die Hypo Real Estate zur Sicherstellung der Zahlungsfähigkeit von Finanzinstituten und der Vermeidung von Kreditklemmen durch Schaffung eines Rettungsfonds erlassen wurde. Die schwierige juristische Aufarbeitung des Milliardenskandals um die Berliner Bankgesellschaft aus den Jahren 2001 bis 2004, bei der die schwer in Schieflage geratene BBG vom hoch verschuldeten Land Berlin nur durch eine ergänzende Finanzspritze von rund 1,8 Milliarden Euro sowie die Übernahme von Risiken im Umfang von fast 22 Milliarden Euro vor der Pleite gerettet werden konnte, und zahlreichen Prozessen brachten Themen um Betrug, Untreue und Finanzfälschung hervor. Entlassungen nahezu aller Vorstände in der Konzernholding sowie den Teilbanken Landesbank Berlin, BerlinHyp und Berliner Bank waren die Folge. Prozesse um Schadenersatz und Abfindungen beherrschten die Tagespolitik. Trotzdem wurden Klagen gegen die Ex-Banker im Wesentlichen abgewiesen. Parallel zu den Maßnahmen der Bundesregierung verdichteten sich Zusammenbrüche und Insolvenzen von internationalen Großbanken. Besonders hart traf die Insolvenz die amerikanische Investmentbank Lehman Brothers18. Auch die Hypo Real Estate konnte nur durch Milliarden staatlicher Zuschüsse gerettet werden. Schnell wurden Rufe laut, (Ex)-Vorstände wieder schärfer haften zu lassen.

II. Auswirkungen für die D&O-Versicherung Doch was bedeutet dies alles für die konkrete Haftung der Bankenvorstände und welche Auswirkungen haben diese „Schieflagen“ von Banken mit Diskussionen über die Existenzberechtigung der sozialen Marktwirtschaft für die Versicherungswirtschaft?

__________ 15 Interessanter- und zugleich überraschenderweise wird derzeit mehr zum Thema „Selbstbehalt“ publiziert als zu den Auswirkungen der Finanzkrise auf die D&O Versicherung oder zu anderen aktuellen D&O Themen. Zum neuen VorstAG und auch zum Selbstbehalt s. aber vor allem Laschet, PHi 2009, 158 ff.; Fiedler, MDR 2009, 1077 ff.; Lange, VersR 2009, 1011 ff.; Schultz, ZfV 2009, 558, 561 ff.; Bosse, BB 2009, 1650 ff.; Olbrich, VP 2009, 160 ff.; Olbrich,/Kassing, BB 2009, 1659 ff.; Deilmann/Otte, GWR 2009, 287105; E. Lorenz in FS Prölss, München 2009, S. 177 ff.; Gaudig, www.faz.net v. 30.6.2009. 16 BGBl. I 2008, 1666 ff. 17 Gesetz zur Umsetzung eines Maßnahmenpakets zur Stabilisierung des Finanzmarktes, BGBl. I 2008, 1982. 18 In Deutschland nahm man mehr die Klagen gegen Banken wahr, die Kundenzertifikate der US-Bank Lehmann Brothers verkauft hatten, vgl. dazu etwa Sieg/ Schramm, PHi 2008, 222, 223.

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1. Vorstandshaftung – Sorgfaltsanforderungen im Bankenbereich a) Grundlagen Vorstände haften bekanntlich vor allem nach § 93 AktG. Für Vorstandsmitglieder von Banken und Kreditinstituten ist der Sorgfaltsmaßstab in Deutschland spezialgesetzlich zudem in den §§ 24 ff. des Kreditwesengesetztes (KWG) geregelt. Vorstandsmitglieder haben danach gesteigerte Organisationspflichten zu beachten. Nach § 25a KWG ergeben sich besondere organisatorische Pflichten in einem detailliert gefassten Katalog dahingehend, dass Banken und Kreditinstitute zur Implementierung eines besonderen Risikomanagements verpflichtet sind. Danach muss ein Institut über geeignete Regelungen zur Steuerung, Überwachung und Kontrolle der Risiken sowie über angemessene Regelungen verfügen, anhand deren sich die finanzielle Lage des Instituts jederzeit mit hinreichender Genauigkeit bestimmen lässt; ferner bedarf es eines angemessenen internen Kontrollverfahrens. Institute müssen dafür Sorge tragen, dass die Aufzeichnungen über die ausgeführten Geschäfte eine lückenlose Überwachung durch das Amt gewährleisten. Darüber hinaus lohnt der Hinweis, dass Weisungen durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) im Einzelfall bindende Wirkung haben können. Im Übrigen gilt bei Kreditvergaben aber auch ein grundsätzlich „weiter unternehmerischer Ermessensspielraum“19: Schuldhafte Pflichtverletzungen setzen daher im Regelfall „grob unvernünftige Entscheidungen“ oder deren „unzureichende Vorbereitung“ voraus. Dies entbindet Vorstände naturgemäß nicht, sich bei Investitionsentscheidungen sorgfältig zu informieren. Die Bewertung durch RatingAgenturen ist insofern tatsächlich nur eine Informationsquelle. Dabei stellt sich stets die Frage, wann Investitionsentscheidungen noch von dem Sorgfaltspflichtenmaßstab abgedeckt sind und im unternehmerischen Ermessen stehen und wann die Grenze zur Pflichtwidrigkeit solcher Entscheidungen überschritten ist. Will ein Vorstand in ein ganz konkretes Finanzprodukt investieren, darf er eben nicht nur der Bewertung durch eine Rating-Agentur folgen. Dabei wurde in der Vergangenheit nicht selten übersehen, dass bei der Bewertung von Finanzprodukten durch Rating-Agenturen von diesen keine konkrete Investitionsempfehlung ausgesprochen wird, dass diese eben „nur bewerten“. Die Aufgabe von Rating-Agenturen besteht bekanntlich im Wesentlichen in der zeitpunktbezogenen Risikogewichtung. Diese kann dem Vorstand allenfalls eine Einschätzung über ein Ausfallrisiko im Zeitpunkt der Bewertung ermöglichen. Künftige Ausfallrisiken eines konkreten Finanzproduktes werden durch die Bewertung von Rating-Agenturen demgegenüber nicht zum Ausdruck gebracht, ebenso wenig wie Rating-Agenturen Aussagen

__________ 19 Sieg, Vorstandshaftung bei Banken – Kreditvergabe, Organisationspflichten, Gremienvorbehalte, PHI 2008, 42 ff., zugleich eine Anm. zum Urteil des OLG Frankfurt vom 12.12.2007 (17 U 111/07) in Sachen Insolvenzverwalter der Gontard & Metallbank AG gegen frühere Vorstandsmitglieder.

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über den Marktwert von Finanzprodukten treffen, deren Angemessenheiten oder deren künftige weitere Entwicklung20. b) Einrichtung eines Frühwarnsystems i. S. d. § 91 Abs. 2 AktG Ungeachtet dieser speziellen Regelungen und der zu berücksichtigenden Aspekte aus dem Kreditwesengesetz trifft den Vorstand und auch den Aufsichtsrat die Pflicht zur Errichtung und Nutzung eines angemessenen RisikoFrühwarnsystems im Sinne des § 91 Abs. 2 AktG. Der Vorstand einer Aktiengesellschaft ist verpflichtet, das Unternehmen so zu organisieren, dass er für die von ihm zu treffenden Leitungsentscheidungen rechtzeitig alle wichtigen Daten zur Verfügung hat, um mögliche Gefahren für den Bestand des Unternehmens zu erkennen und in der Lage ist, durch geeignete Maßnahmen Gefahren abzuwenden21. Nach nahezu unbestrittener Auffassung gehört auch die Errichtung eines Frühwarnsystems in Form eines umfassenden Risikomanagements dazu, was eine bestimmte Kontrolle von Limits also auch eine Finanzflussrechnung mit umfasst22, zu den geforderten Pflichten. Es ist hier nicht der Raum, sämtliche Details zur Banken- und Vorstandshaftung und zur Implementierung von derartigen Systemen anzusprechen, doch möchte ich – im Rahmen des Ausblicks der deckungsrechtlichen Probleme im Zusammenhang mit der Absicherung durch D&O-Versicherungen – den Bogen schlagen: Zur Bankenhaftung und zu Frühwarnsystemen ist inzwischen viel publiziert worden, ohne dass – überraschenderweise – die deckungsrechtlichen Auswirkungen konsequent betrachtet worden wären. Insoweit sei jedoch darauf hingewiesen, dass Forderungen nach „scharfer Inanspruchnahme“ bei unterlassener Risikofrühwarnung, jedenfalls wenn damit zugleich das Gesamtsystem in Frage gestellt wird und Banken in Schieflagen geraten und die Schieflage zahlreicher Banken ganze Volkswirtschaften in Schwierigkeiten bringt und sogar Fragen nach der Berechtigung der „sozialen Marktwirtschaft“ gestellt werden, es dann doch sehr erstaunt, dass – soweit feststellbar – die entsprechenden Fragen nach der tatsächlichen Deckung im Rahmen von D&O-Versicherungen gar nicht gestellt werden. Genau dies gilt es nachfolgend aufzuzeigen und zu durchleuchten. Fast konsequent – und darauf hat bereits Säcker23 hingewiesen – wurde hervorgehoben, dass derjenige, der hohe Risiken zur Erzielung hoher Gewinne eingeht und deshalb gewagte Spekulationsgeschäfte abschließt, sich nicht wundern darf, wenn sich die Risiken verwirklichen. Berechtigt zur Eingehung solcher Risiken ist der Vorstand eines Unternehmens nur, wenn er mit

__________ 20 Nach dem Ausführungsgesetz zur EU-Ratingverordnung am 13.1.2010 – durch das Bundeskabinett beschlossen – soll die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) als zuständige Behörde künftig für die Beaufsichtigung der RatingAgenturen zuständig sein. 21 Spindler in MünchKomm.AktG, 3. Aufl. 2008, § 91 Rz. 15 ff. m. w. N. 22 von Westphalen, Derivatgeschäfte, Risikomanagement und Aufsichtsratshaftung, 2000, S. 80 ff.; vgl. dazu auch Preußner, NZG 2004, 57. 23 Säcker, NJW 2008, 3313 ff. – Gesellschaftliche Grenzen spekulativer Finanztermingeschäfte und Überlegungen aus Anlass der Garantieerklärung der Bundesregierung für die Hyp Real Estate-Group.

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entsprechender satzungsrechtlicher Ermächtigung riskante Finanztermingeschäfte eingeht und im Falle ihres Eintritts diese mit dem vorhandenen Eigenkapital auffangen kann. Wer stattdessen – so Säcker wörtlich weiter – „den Staat zur Hilfe ruft und eine Garantie zu Lasten der Steuerzahler erwartet, delegitimiere damit die wirtschaftsethischen Grundlagen und Funktionsprinzipien der sozialen Marktwirtschaft“. Leider fehlt bis dato die konsequente Folgerung aus diesem möglichen Fehlverhalten der Banker für die Versicherungsbranche und für den konkreten D&O Versicherungsvertrag, ein Aspekt, der im Rahmen dieses Festschriftartikels zu Ehren des Jubilars einmal näher beleuchtet werden soll. Ich erhebe jedoch nicht den Anspruch dazu abschließende Lösungsvorschläge zu unterbreiten. 2. Delegitimierung der wirtschaftsethischen Grundlagen und Funktionsprinzipien der sozialen Marktwirtschaft a) Übersicht Vor allem Säcker24 – soweit feststellbar nahezu unbestritten – hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass nicht sein kann, was nicht sein darf: So stellt er heraus, dass der Abschluss spekulativer Zinssatz- und Währungsgeschäfte, der in keinem vertretbaren Umfang zum Eigenkapital der Gesellschaft steht, tatsächlich zu allen Zeiten ein Verstoß gegen die Pflicht des Vorstandes nach § 93 AktG war. Diese Geschäfte sind aus Gründen der „Optimierung der Refinanzierungsstrategie“ oder zur „Optimierung erwarteter Fremdwährungseingänge“ inzwischen zu hochriskanten Zinssatz- und Devisenspekulationsgeschäften avanciert. Natürlich kann es nicht sein, dass Vorstände eine Bank als „Spielbank“ benutzen. Aber es greift auch zu kurz, dann „nur“ von Haftung zu sprechen. Anders gewandt: Kann es denn sein, dass Vorstände eine Bank als „Spielbank“ benutzen, dann dafür einzustehen haben und im Falle einer Inanspruchnahme des Bankvorstandes ein Versicherer – der von diesem allem am wenigsten weiß und die Hintergründe kaum beurteilen kann – dafür dann Deckung gewähren muss? In der gesellschaftsrechtlichen Auseinandersetzung kommt die Beantwortung dieser Fragestellung naturgemäß zu kurz: Sie wird schlichtweg ausgeblendet oder besser gesagt: verdrängt. Wenn Vorstände – hart am Gesetz, aber eben doch am Gesetz vorbei – losgelöst von allen typischen Gepflogenheiten Geschäfte tätigen, Banken in Schieflagen bringen, Schieflagen ganze Volkswirtschaften erschüttern und dies dazu führt, dass das marktwirtschaftliche System insgesamt in Frage gestellt wird, kann es dann für derartig haftungsträchtige Geschäfte überhaupt eine Absicherung im Rahmen der „Managerversicherung“25 geben, ungeachtet dessen, was dort schriftlich fixiert worden ist? Im Rahmen dieses, dem Jubilar gewidmeten Aufsatzes möchte ich zunächst nur auf zwei unterschiedliche Fallkonstellationen verweisen und

__________ 24 Säcker, NJW 2008, 3313 ff. 25 Zum Begriff statt vieler: Hübner, Managerhaftung, München 1992; Lenz in van Bühren, Handbuch Versicherungsrecht, 4. Aufl. 2009, § 26 D&O-Versicherung, S. 2705, 2706 Rz. 1.

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anhand dieser den Versuch unternehmen, eine Diskussion über die soeben aufgeworfenen Fragen zu eröffnen: b) Zwei Beispielfälle Die nachfolgenden Beispiele gilt es, haftungs- und deckungsrechtlich zu bewerten und dabei herauszuarbeiten, dass diese – deckungsrechtlich betrachtet – nicht gleich behandelt werden sollten, mit welchen Schlüssen auch immer: aa) Fall 1: Überschreitung von (Groß-)kreditgrenzen26 Die klagende Bank nimmt ihr ehemaliges Vorstandsmitglied auf Schadenersatz nach § 93 AktG in Anspruch und wirft diesem zahlreiche Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit Kreditbeschlüssen für Bauträgergesellschaften (Kreditnehmer sind juristische Personen mit wenig Eigenkapital) vor. Der Vorstand hatte u. a. ein von seinem Vorgänger bereits initiiertes (aber riskantes) Kreditengagement nach seinem Amtsantritt nochmals ausgeweitet, zum Teil unter Verstoß gegen die Obergrenzen des § 13 KWG, zum Teil waren die hohen Anleihen nach Ansicht der Klägerin nicht werthaltig gesichert (Blankoanteile). Nachdem zahlreiche Kredite notleidend geworden waren, geriet die Bank in eine Schieflage, die sie nur durch Abschluss eines sog. Sicherungsvertrages (durch eine Ausfallbürgschaft) bei „Dritten“ absichern musste. Den dadurch entstandenen Schaden machte Sie gegenüber dem Vorstand geltend. bb) Fall 2: Verlust aus Derivatgeschäften27 Die Klägerin ist ein Kreditinstitut, das Hypothekendarlehen gewährt. Die Beklagten waren deren Vorstände. Bei der Klägerin existierte ein Ausschuss für die (aktive und passive) Steuerung des Zinsänderungsrisikos unter Einsatz von Derivatgeschäften. Die im Ausschuss beschlossenen Derivatgeschäfte wurden dem Vorstand zur Genehmigung vorgelegt. Die Vorstände tätigten für die Klägerin neben dem originären Hypothekenbankgeschäft im Jahr 2004 auch sog. Zinsswapgeschäfte. Die 247 Swap-Geschäfte, so die Klägerin, hätten zu Verlusten in Höhe von 200 Mio. Euro geführt, es könne gar ein Schaden von etwa einer Mrd. Euro entstehen. 2006 hat der Aufsichtsrat (der erst Anfang

__________ 26 Wenn der Bankvorstand Kredite unter Verstoß gegen die gesetzlichen Vorgaben (KWG) auslegt, LG Köln, NJW-RR 2000, 1056 ff., viel zu allgemein und zu weitgehend; demgegenüber – zu Recht – restriktiver LG Frankfurt/M, Urteil v. 1.2.2006 (13 O 148/04); vgl. dazu aber OLG Frankfurt/M, Urteil v. 10.7.2007 (5 U 31/06), OLGR 2008, 389 und BGH, Beschluss v. 9.6.2008 (II ZR 205/07); auch LG Aachen, Urteil v. 11.11.2004 (1 O 82/04), nicht rechtskräftig; zur Innenhaftung generell: Lenz (Fn. 25), § 26 D&O-Versicherung, S. 2735 Rz. 73 ff. sowie Fn. 137 m. w. N.; zur Vorstandhaftung bei Banken generell: Sieg, PHi 2008, 42 ff. 27 Vgl. zur haftungsrechtlichen Fallgestaltung ähnlich dem geschilderten Fall die Entscheidung des LG Frankfurt/M v. 25.1.2006 (3/9 O 143/04), nicht rechtskräftig; vgl. dazu auch Sieg/Schramm, PHi 2006, 65; Lenz (Fn. 25), § 26 D&O-Versicherung, S. 2751 Rz. 116.

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2005 von der riskanten Geschäftsstrategie Kenntnis erlangt hatte) beschlossen, den Schadenersatzanspruch gerichtlich verfolgen zu lassen. cc) Auswirkungen dieser Entscheidungen Schauen wir uns zunächst Fallbeispiel 1 an: Unterstellt, dem Vorstand wäre der Beweis nicht gelungen, die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters angewandt zu haben, könnte er nach § 93 Abs. 2 AktG – sämtliche Voraussetzungen als gegeben unterstellt – haften. Im Rahmen der D&O-Versicherung würde dann der Versicherer Versicherungsschutz gewähren müssen, weil bei einer Ausübung einer konkreten Tätigkeit und einer Pflichtverletzung aufgrund gesetzlicher Haftpflichtbestimmung – sogar: privatrechtlichen Inhalts – für einen Vermögensschaden gehaftet würde. Ungeachtet weiterer Fragen zum Versicherungsfall und zur erfassten Pflichtverletzung und zur Anspruchserhebung wäre dann noch die Frage zu prüfen, ob und inwieweit Haftpflichtansprüche vom Versicherungsschutz im Rahmen der D&O-Versicherung „ausgeschlossen“ wären, etwa wegen vorsätzlicher Schadensverursachung oder wegen wissentlichen Abweichens vom Gesetz oder wegen sonstiger wissentlicher Pflichtverletzungen. Jedenfalls käme – und darüber dürfte Einigkeit bestehen – der Versicherer wohl zu Recht nicht auf den Gedanken, sich auf einen weitergehenden Ausschluss zu berufen, gleichwie die Klauseln im einzelnen Versicherungsvertrag definiert worden wären. Er käme auch nicht auf den Gedanken, auszuführen, dass eine mögliche Deckung mit dem Grundsatz von Treu und Glauben nicht in Einklang stehe oder er nicht decken müsse, weil wirtschaftsethische Grundlagen missachtet oder gar die tragenden Säulen der sozialen Marktwirtschaft aufs Gröbste verletzt wären. Denn: Hier realisiert sich ein typisches Risiko, was für jeden D&O-Versicherer im Bankensegment im Vorfeld auch erkennbar gewesen ist. Dass die Konsequenzen ökonomisch betrachtet massive Auswirkungen haben können, hat der Versicherer bei der Prämienberechnung üblicherweise berücksichtigt und entsprechende Deckungssummen zur Absicherung im Versicherungsvertrag vereinbart. Im zweiten Fall war die Behauptung der Klägerin, unter anderem hätten die Beklagten als Vorstände gegen § 5 des Hypothekenbankgesetzes28 (jetzt §§ 1, 2 PfandBG)29, aber auch gegen die diesen obliegende Pflicht aus § 91 Abs. 2 AktG zur Implementierung eines funktionierenden Frühwarnsystems und gegen die Pflicht zur sorgfältigen Vermögensbetreuung verstoßen. Zu Recht wird immer wieder auf die gesellschaftsrechtlichen Grenzen spekulativer Finanztermingeschäfte hingewiesen30. In der Literatur wird angeführt, dass Spezialbanken, wie etwa Pfandbriefbanken, nur befugt seien, das Bankgeschäft mit Hypothekenpfandbriefen und öffentlichen Pfandbriefen zu betreiben.

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28 Hypothekenbankgesetz in der Fassung der Bekanntmachung v. 9.9.1998 (BGBl. I 1998, 2674), zuletzt geändert am 5.4.2004 (BGBl. I 2004, 502); vgl. dazu LG Frankfurt, Urteil v. 25.1.2006 (3/9 O 143/04), nicht rechtskräftig. 29 PfandBG v. 27.5.2006, BGBl. I 2006, 1373. 30 U. a. Säcker, NJW 2008, 3313, 3314 f.

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Derivatgeschäfte seien eben nur erlaubt, soweit eine ordnungsgemäße Deckung für die aus Derivaten entstehenden Verbindlichkeiten der Pfandbriefbank vorhanden sind (§ 4 Abs. 3 i. V. m. § 2 Abs. 1, 2 Nr. 3 PfandBG). Derivative Geschäfte dürften demzufolge nur dem Zweck dienen, Lücken zu schließen, die trotz einer konservativen, von Anfang an auf die Sicherung gegen Rentabilitäts-, Liquiditäts- und Währungsrisiken gerichteten Geschäftspolitik entstehen31. Außerbörsliche Finanztermingeschäfte (sog. OTC-Derivate32) und insbesondere deren wichtigster Anwendungsfall, die sog. Swapgeschäfte33, sind eben nur unter strengen restriktiven Vorgaben des § 20 Abs. 2 Nr. 3 i. V. m. § 19 Abs. 1 Nr. 4 PfandBG erlaubt34. Anders gewendet und einfacher formuliert: Eine auf Pfandbriefgeschäfte spezialisierte Bank handelt – wie es Säcker ausführt – „rechtswidrig“, wenn sie Swapgeschäfte nicht nur zur Deckung offener Positionen betreibt, sondern diese ohne Rücksicht auf das Volumen und die Struktur des bilanziellen Geschäfts als eigenständigen, auf Gewinnerzielung gerichteten Geschäftszweig einrichtet. Es könne eben nicht sein, am Gesetz vorbei (aber Einzelheiten sind gerade hier strittig) riskante Derivatgeschäfte als „zweites Standbein“ des Unternehmens zu etablieren und daraus unter spekulativer Einschätzung der künftigen Zinsentwicklungen eine Kompensation für ein konjunkturell schwächelndes Real- und Kommunalkreditgeschäft zu suchen, um höhere Gewinne auszuweisen. Gesetz- und satzungswidrig handelt, wer in der Pfandbriefbranche systematisch den Ausbau der Derivatgeschäfte unabhängig vom bilanziellen Geschäft unter Inkaufnahme erheblicher Risiken betreibt, wenn nicht zumindest ein umfassendes Risikokontrollinstrument geschaffen wird, was mit dem Verhalten eines ordentlich und gewissenhaft handelnden Kaufmanns vereinbar ist35. Zudem steht dem Vorstand eines Unternehmens im Zusammenhang mit dieser Art „Geschäften“ kein Ermessensspielraum zu. Der „Schutz“ der Business Judgement Rule (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) besteht eben bei Gesetzes- oder Satzungsverstößen nicht lediglich innerhalb des gesetzlichen oder satzungsmäßigen

__________ 31 von Westphalen, Derivatgeschäfte, Risikomanagement und Aufsichtsratshaftung, 2000, S. 80 ff.; Bellinger/Kerl, Kommentar zum Hypothekenbankgesetz, 4. Aufl. 1995, § 1 Rz. 6 und § 3 Rz. 88 f. 32 OTC-Derivate (= Over The Counter-Derivate) sind Derivate, die nicht standardisiert sind. 33 Bei einem Swapgeschäft handelt es sich um einen sog. Zinstausch; vgl. auch Zinssicherungsvereinbarungen (Forward Rate Agreements = FRA). Erne, Die Swapgeschäfte der Banken: Eine rechtliche Betrachtung der Finanzswaps unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Zivil-, Börsen-, Konkurs- und Aufsichtsrechts, Berlin 1992, S. 50 ff.; Borchers, Swapgeschäfte im Zivil- und Steuerrecht, Frankfurt/ a. M.1993, S. 19 ff., 24 ff.; Fragos/Lindemann, RIW 2006, 593 ff.; Fülbier, ZIP 1990, 544 ff. 34 Wie hier Säcker, NJW 2008, 3313, 3314; aber andere Ansicht: Fragos/Lindemann, RIW 2006, 593, 596. 35 Verwiesen werden kann insoweit auf das Herstadt-Urteil des BGH, NJW 1979, 1879: Bereits vor in Inkrafttreten des § 91 Abs. 2 AktG hatte der BGH auf die Organisations- und Überwachungspflichten des Vorstandes bei riskanten Devisenhandelsgeschäften – gleiches müsste sinngemäß gelten für Zinsderivatgeschäfte – hingewiesen.

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Handlungsspielraums36. Und unabhängig aller Details im Umgang mit der Business Judgement Rule: Zinsderivatgeschäfte, die nicht der Schließung offener Positionen dienen, haben unter Umständen reinen „Glücksspielcharakter“37. Säcker hält – und Beispielfall 2 ist ein möglicher Fall – derartige (Swap-)Geschäfte für „einen alleatorischen Gewinnbetrieb“. An die Stelle risikomindernder Wertsicherung tritt eben reines Glücksspiel, zudem mit fremdem Geld. c) Konkrete Konsequenzen für den Deckungsumfang im D&O-Bereich Bisweilen wird in der Literatur angeführt, dass der Mut mancher Vorstände, hochriskante Derivatgeschäfte einzugehen ohne D&O-Versicherungen nicht recht vorstellbar sei38. Dabei wird aber nicht die Wurzel gepackt. Deckt nämlich die Versicherung diese (also die zulässigen und die sich ggf. noch in der „hellgrauen“ Zone bewegenden) Tätigkeiten eines Vorstandes nicht, wären derartigen Äußerungen, seien sie zutreffend, seien sie ihrerseits spekulativ, jedenfalls in der Praxis der Boden entzogen. Daher – und hier liegt nun der Kern der These – sollte es sich lohnen, darüber nachzudenken, ob derartige haftungsrechtliche Konstellationen nicht aus dem Deckungskonzept der typischen D&O-Versicherungen (bereits) ausgeschlossen sind oder jedenfalls künftig ausgeschlossen werden sollten: Was die deckungsrechtlichen Auswirkungen angeht, lassen sich im Regelfall – gleich welches Deckungskonzept der einzelne Versicherer anbietet – drei konkrete Ansatzpunkte finden. Zum einen reden wir in dem geschilderten Zusammenhang über den Vorsatzausschluss (in Form der modifizierten Vorsatzausschlüsse, sub. aa))39, in erster Linie aber über Ausschlüsse für Schäden aus sog. „Spekulationsgeschäften“ (sub. bb)) und einen – verständlicherweise – wenig beachteten Aspekt dahingehend, dass es sich zunächst einmal um eine „versicherte Tätigkeit“ handeln muss. Bekanntlich wird die Berufung auf die „versicherten Tätigkeiten“ als schwaches Argument bezeichnet, doch stellt sich die Frage, ob sich hier nicht doch ein Blick auf diesen Aspekt lohnt in Anbetracht von Zusammenbrüchen von

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36 Horn, Unternehmerisches Ermessen und Vorstandshaftung nach § 93 AktG, in FS Harm Peter Westermann, S. 1053 ff.; Lohse, Unternehmerisches Ermessen – zu den Aufgaben und Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat, Tübingen 2005, S. 37 ff., 237 ff. m. w. N.; Roth, Unternehmerisches Ermessen und Haftung des Vorstands, München 2001, S. 54 ff., 58, 66; Hüffer, Aktiengesetz, 8. Aufl. München 2008, § 76 Rz. 7; Säcker, AG 2004, 180 ff. Die Einzelheiten zur Abgrenzung sind allerdings streitig. Ob tatsächlich Vorstandsmitglieder einen Beurteilungsspielraum nur bei der Frage haben, wie sie „innerhalb des gesetzlichen bzw. satzungsmäßigen Handlungsspielraums agieren, um das Unternehmen so erfolgreich wie möglich zu führen“, so eben Säcker, NJW 2008, 3313, 3316 unter Berufung auf den BGH in BGHZ 135, 244, 251 ff. – ARAG/Garmbeck, und Roth, BB 2004, 1066 ist abschließend noch ungeklärt. 37 So das ausdrückliche Zitat bei Säcker, NJW 2008, 3313, 3316. 38 Säcker, NJW 2008, 3313, 3316; dies rührt an den Fundamenten der D&O-Versicherung und stärkt all diejenigen, die sich gegen die Einführung solcher – heute nicht mehr hinweg zu denkender – Deckungskonzepte gewandt haben; vgl. zur Zulässigkeit statt vieler Ihlas, D&O, 2. Aufl. 2009, S. 56 ff. 39 Ihlas (Fn. 38), S. 454 ff.; Lenz (Fn. 25), S. 2749 Rz. 113.

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weltweit mehr als hundert Banken und bei einem Infragestellen der sozialen Marktwirtschaft als generell richtiger Wirtschaftsform für die Zukunft. Im Einzelnen: aa) Vorsätzliche Schadensverursachung und wissentliche Pflichtverletzung Die Formulierungen einzelner Anbieter variieren. Dessen ungeachtet steht dieser Ausschluss – gleich wie er formuliert ist – in der D&O-Versicherung unangefochten an der Spitze40. Die Ausschlüsse mögen unterschiedlicher Natur und unterschiedlich formuliert sein, vor allem steht die vorsätzliche Schadensverursachung aber im Vordergrund, ein bereits in § 103 VVG zum Ausdruck kommender Grundsatz. Ausgeschlossen vom Versicherungsschutz sind aber auch Haftpflichtansprüche, bei denen Schäden durch „wissentliches Abweichen“ von im Einzelnen zitierten Regelungen, Satzungen und/oder Gesellschafterbeschlüssen entstanden sind41. Ausgeschlossen sind nicht selten „sonstige wissentliche Pflichtverletzungen“42 oder ähnlich vorzufindende Formulierungen43, etwa vorsätzliche Pflichtverletzungen44, teilweise alternativ, teilweise kumulativ45. Auf die Einzelheiten möchte ich hier im Rahmen dieser Diskussion nicht eingehen. Soweit dieser Ausschlusstatbestand greift, wäre im Einzelfall natürlich die Deckung ausgeschlossen46. bb) „Spekulationsgeschäfte“ und „nicht mit dem Unternehmensgegenstand vereinbare Geschäfte“ Ausgeschlossen vom Versicherungsschutz sind – nach unterschiedlichen Klauseln und je nach Anbieter – Haftpflichtansprüche auch bei folgenden vor allem anzutreffenden Formulierungen:

__________ 40 Held in Halm/Engelbrecht/Krahe, Handbuch des Fachanwalts Versicherungsrecht, 2. Aufl. 2006, D&O-Versicherung, Rn. 30, bezeichnet diesen als den zentralen Ausschlusstatbestand; ähnlich Ihlas (Fn. 38), S. 554; Lenz (Fn. 25), § 26 D&O-Versicherung, S. 2749 Rz. 113. 41 Weitergehende Nachweise bei Lenz (Fn. 25), Rz. 113 unter Verweis auf im D&O-Markt gebräuchliche Klauseln; Penner, VersR 2005, 1359 ff.; Vothknecht, PHi 2006, 52 f.; ders., VW 2006, 488 f.; Hendricks, VW 2006, 229 f.; Hansen, VW 2006, 313; Mahncke, ZfV 2006, 540. 42 Vgl. dazu etwa OLG Düsseldorf, NJOZ 2007, 1242: In jenem Verfahren lag die Besonderheit vor, dass der Ausschluss nur unter der Voraussetzung eingegriffen hätte, das die wissentliche Pflichtverletzung durch ein Gerichtsurteil oder ähnliches gegen die versicherte Person hätte festgestellt werden müssen, woran es fehlte; vgl. zur Wissentlichkeit auch Seitz, VersR 2007, 1476, 1477; vgl. auch Graf von Westphalen, Ausgewählte neuere Entwicklungen in der D&O-Versicherung, VersR 2006, 17 ff. 43 Olbrich, D&O Versicherung, 2. Aufl. 2007, S. 178; Koch, WM 2007, 2173, 2179. 44 LG Wiesbaden, VersR 2005, 545; vgl. dazu OGH, VersR 2005, 1710. 45 Reformüberlegungen zur Vorsatzklausel gehen in beide Richtungen: zur weitergehenden Einschränkung sowie zur Erweiterung des Deckungsschutzes. 46 Vgl. dazu jüngst auch Tödtmann, Handelsblatt v. 12.11.2009.

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Tobias Lenz „Wegen Schäden aus Spekulationsgeschäften“ oder „wegen Schäden aus Spekulationsgeschäften, soweit diese nicht innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs erforderlich und üblich sind (z. B. Kurssicherungsgeschäfte) […]“

Beispiele aus Fehlschlägen durch Spekulationsgeschäfte kennen wir aus dem In- und Ausland47. Sind derartige Geschäfte nicht erfolgreich, lösen sie nicht selten – die Beispiele mögen dies verdeutlicht haben – exorbitante Vermögensschäden aus. Doch lassen sich diese alle gleich behandeln und unter die Ausschlüsse subsumieren? Soeben hatten wir uns bereits auf die wissentliche Pflichtverletzung gestützt. Die für den Spekulationsverlust zunächst einmal verantwortlich zu machenden „Einzelhändler“ – denken wir doch zum Beispiel an Nick Leeson, dessen Leben inzwischen erfolgreich verfilmt wurde („Rogue Trader“) und dessen Tätigkeit bei der Barings Securities Ltd. 825 Mio. GBP-Verluste aus nicht genehmigten Spekulationsgeschäften mit Derivaten herbeigeführt und in der schlecht kontrollierten Niederlassung Singapur zum Zusammenbruch der 233 Jahre alten Bank geführt hat – werden, wenn sie überhaupt unter die Regie einer D&O-Police als versicherte Person48 fallen, häufig den Ausschluss der wissentlichen Pflichtverletzung verwirklicht haben. Aber gleich hier wird das Problem um die Ausschlüsse der Spekulationsgeschäfte im D&O-Bereich deutlich: Ausschlüsse von Spekulationsgeschäften erfassen nicht selten (oder eher sogar häufig) die auf höheren Ebenen – also die durch Vorstände zumeist durch Unterlassen – begangenen Pflichtverletzungen aufgrund fehlender Kontrolle und sind deshalb von ganz besonderer Bedeutung. Der Umfang war bis zum Ausbruch der Finanzkrise 2007 in Deutschland sicherlich nicht jedem in dieser Tragweite bewusst49. (1) Der Wortlaut des „Spekulationsgeschäftes“ Soweit auf D&O-Policen deutsches Recht Anwendung findet, ist nach dem Empfängerhorizont eine Spekulationsgeschäftsklausel im Sinne der §§ 133, 157 BGB auszulegen. Vom Wortlaut erfasst sind Rechtsgeschäfte (Kauf oder auch Tausch), mit denen der Vertragspartner die Absicht verfolgt, einen Gewinn dadurch zu erzielen, dass die Differenz zwischen dem Preis bei Abschluss

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47 Evidente Fälle von Spekulationsgeschäften im Inland etwa RG, JW 1930, 3730; BFH, GmbHR 1995, 234 zur Behandlung von Verlusten aus Gold-Optionen als verdeckte Gewinnausschüttung bei einer GmbH, die Nähmaschinen verkauft und repariert hat, Stichworte sind auch „Bremer Vulkanverbund AG“ und Öltermingeschäfte der Metallgesellschaft, vgl. dazu Nachweise bei Ihlas (Fn. 38), S. 552 Fn. 653; Beispiele sind aber auch Deutsche Herstadt Bank, BGH, NJW 1979, 1879 und „WestLB“, vgl. dazu FTD v. 8.12.2008, S. 15: WestLB und Ex-Händler schließen Vergleich; Fromme, WestLB meldet Schaden bei Versicherern, FTD v. 24.5.2007, S. 19. Aus dem Ausland sei vor allem erinnert an die Barings Bank (1995): Schaden: 1,4 Mrd. US-$, vgl. dazu Ihlas (Fn. 38), S. 552. 48 Zur Nichterteilung der Prozessvollmacht durch die „versicherte Person“ in D&O Fällen, Lenz, PHI 2006, 31. 49 Koslowski, „Spekulation: Wette oder Glückspiel?“ in FAZ vom 23.10.2009, S. 12, zu der durch die Finanzmarktkrise ausgelösten Debatte über den Nutzen der Spekulation und von Finanzwetten.

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des Vertrages und dem zu einem späteren Zeitpunkt festgesetzten Preis von dem anderen Vertragspartner auszugleichen ist. Vom Wortlaut ausgehend gilt dieser Ausschluss für Termingeschäfte/Swaps, aber auch bei einfachen Fixgeschäften. Der Sinn von Spekulationsgeschäften ist klar: Aufgrund der Schwankungen des Marktes soll ein Gewinn erzielt werden50. Ein Güterumsatz ist – auch wenn es bisweilen den Eindruck macht – vom Wortlaut her nicht zwingend notwendig und muss eigentlich auch nicht beabsichtigt sein. Gerade dadurch kommt der spekulative Charakter zum Ausdruck. Der Wortlaut selbst kann im „weiten Sinne“ interpretiert werden. (2) Sinn und Zweck Was aber nun ist der Sinn und Zweck dieses Ausschlusses? Geht es wirklich darum, hochspekulative Geschäfte, deren Ergebnis niemand im Vorhinein voraussehen kann, aus dem Deckungsbereich der D&O-Versicherung auszunehmen, oder sollen nur die die Unternehmensexistenz gefährdenden Geschäfte ausgeschlossen werden? Sind dann nicht jedenfalls die Geschäfte gemeint, die ganze Volkswirtschaften in Unordnung bringen können? Vom Wortlaut her sind der Auslegung keine Grenzen gezogen, so dass im hochspekulativen SwapBereich konkrete Geschäfte, mit denen existenzgefährdende Liquiditätskrisen verursacht werden oder verursacht werden können, nach der ratio vom Ausschluss erfasst sein müssen. Dies gilt insbesondere, wenn im Ergebnis – aufgrund des spekulativen Charakters, nicht aufgrund einer fundierten Fehlentscheidung – eine einzelne Bank zusammenbricht und erst recht, wenn es gar zu einer Kettenreaktion von Zusammenbrüchen von Banken kommt. Derartig riskante Geschäfte, die einen enormen Schaden hervorrufen können, die nicht auf (reinen fehlerhaften) Abwägungsentscheidungen beruhen, sondern mehr auf dem „Bauchgefühl“ basierten, sollten als Spekulationsgeschäfte erfasst werden. Für derartig riskante Geschäfte haben Versicherer – wenn denn ein Spekulationsausschluss vereinbart war – nicht einzustehen51. (3) Nicht innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs üblich und erforderlich Ob und inwieweit sich am Markt tatsächlich einschränkende Klauseln dahingehend bewähren, zu formulieren, dass der Versicherungsschutz versagt wird wegen Schäden aus Spekulationsgeschäften, soweit diese nicht innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs erforderlich und üblich sind (z. B. Kurssicherungsgeschäfte), ist nicht abschließend zu beurteilen52. Sicher, die kon-

__________ 50 BGH, NJW 1980, 390, 391: zu Differenzgeschäftsgewinnen. 51 Vgl. dazu bereits Lenz (Fn. 25), D&O-Versicherung, § 26, S. 2751 Rz. 17; vgl. dazu etwa auch den Fall der Sachsen LB nach der Pressemitteilung des BKA v. 12.8.2008, Nachweise in PHi 2008, 175. 52 Olbrich (Fn. 43) verweist auf die mangelnde Durchdringung dieser Klauseln am Markt, S. 194.

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kretisierenden Formulierungen („innerhalb […] üblich und erforderlich […]“) führen zur hinreichenden Klarheit und Transparenz, doch schaffen derartige „Einschränkungen“ – und als solche lassen sich die zitierten Einschlüsse auch interpretieren – weitere Risiken im Rahmen der Auslegung. Sie dienen nämlich dem Wortlaut nach nicht zwingend der Erklärung des Spekulationsgeschäftes. Bei kundenfeindlichster Auslegung ließe sich – was die typischen Derivatgeschäfte also z. B. angeht – ausführen, dass diese ja gerade – in den letzten Jahren – üblich geworden sind. Dies kann wohl kaum Zweck der Auslegung sein. Nur weil (auch) andere entsprechende spekulative Geschäfte machen, erreichen diese nicht den Status der Üblichkeit. Wie bereits ausgeführt, kann der Vorstand in die Haftung geraten, wenn er außerbörsliche Finanztermingeschäfte und Geschäfte zur Optimierung erwarteter Fremdwährungseingänge tätigt und diese eben nicht lediglich der Absicherung von Zins- und Währungskursänderungsrisiken dienen. Immer dann, wenn der Charakter des „risikomindernden Hilfsgeschäfts“ nicht mehr gewahrt ist, ist die Grenze überschritten und die Haftung lässt sich kaum noch vermeiden. Hochriskante Spekulationsgeschäfte führen dazu, dass der Vorstand aus der Bank eine „Spielbank“ macht. Daran ändert sich nichts, wenn ein Hersteller von Kraftfahrzeugen oder ein Maschinen- und Anlagenbauer ebenfalls OTCFinanztermingeschäfte durchführt. Diese können ebenfalls OTC-Finanztermingeschäfte eingehen, aber eben nur zum Zweck der Wertsicherung der erwarteten Fremdwährungseingänge, nicht aber zum Aufbau eines „weiteren Geschäftsbereiches“. Gerade aber das selbständige Betreiben von derivaten Geschäften gehört eben nicht – jedenfalls im Regelfall nicht – zu den satzungsrechtlich erlaubten Geschäften. Auch dies ist bei der Auslegung des Begriffs der „Spekulation“ und vor allem der „Branchenüblichkeit“ und der „Branchennotwendigkeit“ zu berücksichtigen. Entscheidend ist das Kerngeschäft in der jeweiligen Branche und die Frage, ob und inwieweit man noch von Hilfsgeschäften zur Betreibung dieses Kerngebietes ausgehen kann. Ist letzteres nicht mehr der Fall, handelt es sich – kommt das „spielerische Element“ hinzu – um ein „Spekulationsgeschäft“, das nicht mehr innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs erfolgt und das eben nicht erforderlich und üblich ist, wie z. B. das in einigen Bedingungen zitierte Kurssicherungsgeschäft. (4) Conclusio und AGB-rechtliche Inhaltskontrolle Demnach erscheint – deckungsrechtlich betrachtet – die weite Auslegung des Begriffs des „Spekulationsgeschäfts vom Wortlaut her möglich und zulässig und nach Sinn und Zweck geradezu geboten. Die typischerweise verwandten Formulierungen, die sich auf den Begriff des Ausschlusses für Schäden wegen „Spekulationsgeschäften“ beschränkten, aber auch Klauseln, die eine gewisse Einschränkung dahingehend vornehmen, dass es sich um „bestimmte“ Spekulationsgeschäfte, die dem zitierten Beispiel ähneln, handeln muss, die nicht innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs erforderlich und üblich sind, sind weder überraschend im Sinne des § 305c BGB, noch sind sie intransparent

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(§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB). Von anderen Versicherungszweigen außerhalb des D&O-Bereiches lassen sich hier durchaus Anleihen ziehen53. Erst recht sind derartige Ausschlussklauseln nicht unangemessen im Sinne von § 307 Abs. 2 BGB54. Der Versicherungsnehmer geht – wenn es sich wirklich um Spekulationen handelt – geradezu willkürliche Risiken ein, ein Aspekt, der die Vorhersehbarkeit zu Lasten der Versicherer nahezu unmöglich macht bzw. entscheidend einschränkt. Gerade die „Willkürlichkeit“ beim Eingang der Risiken aber widerspricht jedwedem Grundgedanken im Haftpflichtrecht. Zudem sollen unternehmerische Entscheidungen erfasst werden, aber nicht Risiken, die zu einem wie auch immer gearteten „Totalzusammenbruch“ ganzer Banken oder gar Wirtschaftssystemen führen können. Derartige Risiken abzusichern würde dem Grundgedanken der D&O-Versicherung widersprechen55. cc) Nicht mit dem Unternehmensgegenstand vereinbare Geschäfte Soweit bisweilen Ausschlussformulierungen verwandt werden, welche Schäden aus Geschäften erfassen sollen, die „mit dem Gegenstand des Unternehmens nicht vereinbar sind“56, sei hier lediglich erwähnt, dass derartig vage Formulierungen die Grenzen zur Unklarheit im Sinne des § 305c Abs. 2 BGB im Zweifel überschritten haben dürften. Zu Recht wird in der Literatur auf die in der Praxis nicht selten auftretenden Schwierigkeiten verwiesen im Zusammenhang mit der Abgrenzung, ab wann etwa ein Darlehen nicht mehr mit dem Gegenstand des Unternehmens vereinbar ist57. Das bedeutet für die in Rede stehenden Beispielsfälle konkret: Nur im zweiten Fallbeispiel würde der zitierte Spekulationsausschluss wie oben erwähnt – als in den Versicherungsvertrag wirksam einbezogen unterstellt – im Ergebnis durchgreifen. Im ersten Fall basierte das Geschäft auf einer Fehlentscheidung; wirft ein Vorstand gutes Geld schlechtem hinterher, hat er dabei jedoch vorab eine ausgewogene Abwägung vorgenommen, ist dies keine Spekulation. Es war eine Prognoseentscheidung aufgrund sachlicher Argumente, die sich dann im Ergebnis in der Zukunft nicht positiv verwirklicht hat. Der Fall 1 entbehrt spekulativen Charakter. Gerade dies ist anders im Fall 2.

__________ 53 Vgl. AG Hamburg, r+s 1997, 376 zu § 3 ARB 94: Keine unklare Bestimmung und keine ungemessen Benachteiligung; ebenso LG Hannover, zfs 1997, 391 zu § 4 ARB. 54 Zur Inhaltskontrolle vgl. Graf von Westphalen, AGB-Klauselwerke, 23. Ergänzungslieferung, München 2008. 55 Vgl. zu Sinn und Zweck der D&O-Versicherung: Lenz (Fn. 25), § 26 D&O-Versicherung, Rz. 1–13. 56 Statt anderer Ihlas (Fn. 38), S. 553, 554. 57 Vgl. etwa LG Düsseldorf, GmbHR 1995, 227; BGH, ZIP 1995, 607; BGH, WM 1978, 109 und weitergehend auch Ihlas (Fn. 38), S. 554 Fn. 661.

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III. Fehlende Ausschlusstatbestände zu „Spekulation“ und „versicherten Tätigkeiten“ In vielen Fällen helfen Versicherern – wie bereits erwähnt – also der Vorsatzausschluss und der Spekulationsausschluss. Gerade aber im Bankensektor finden sich derartige Ausschlüsse im Regelfall nicht, und erst recht nicht mit der bereits dargestellten auslegbaren Formulierung58. Hier aber stellt sich die Gretchenfrage: Hat dann eben – und dies beträfe fast alle systematischen Fallkonstellationen im Bankenbereich im Rahmen der spekulativen Tätigkeit – der Versicherer, greift nicht der Vorsatzausschluss, Deckung zu gewähren? Gilt dies selbst dann, wenn hochspekulative Swap-Geschäfte existenzgefährdende Liquiditätskrisen verursachen und den Zusammenbruch eines Hypothekenmarktes in einer Volkswirtschaft herbeiführen können? Ein (bisweilen überraschender) Einwand der Versicherer ist unter Umständen der, dass der jeweilige Unternehmensleiter eben nur „als Organ“, nicht aber hinsichtlich des „operativen Tagesgeschäfts versichert“ ist59. Mit dieser Begründung – so wird in der versicherungsrechtlichen Literatur hervorgehoben60 – würde mancher Versicherer beispielsweise bei einem Bankvorstand den Versicherungsschutz hinsichtlich der Kreditvergabe ablehnen. Möglicherweise hilft im Einzelfall aber auch die Berufung auf die „versicherte Tätigkeit“. Gleich wie Klauseln einzelner D&O-Versicherer im Einzelfall variieren, sind – im Regelfall jedenfalls – Schadensersatz aus Unterlassungen und Pflichtverletzungen, die im einzelnen zitierte versicherte Personen bei Ausübung einer „Tätigkeit“ begangen haben, versichert. Mit der „Tätigkeit“ sind zunächst einmal die aufgrund des Gesetzes zugewiesenen Tätigkeiten gemeint. Darüber hinaus können sich aus der Satzung bzw. aus dem Gesellschaftsvertrag weitere konkrete Aufgaben ggf. auch im Rahmen einer Geschäftsordnung ergeben, die den Tätigkeitsbereich des Organs ausdehnen oder einschränken. Schließlich können sich die Aufgaben und Pflichten, der Tätigkeitsumfang von Organmitgliedern, auch aus dem zugrunde liegenden Dienstvertrag ableiten lassen. Und hier schließt sich der Kreis – und ich möchte dies in aller Deutlichkeit hervorheben – auch hier lässt sich ein Argument zugunsten der Versicherer finden: Handelt es sich bei konkreten Derivat-Geschäften, etwa Swaps, um Tätigkeiten, die nicht generell verboten waren, waren sie doch im Regelfall keine aufgrund Gesetzes zugewiesene oder aufgrund Satzung oder Geschäftsordnung übernommene Tätigkeiten. Geschäfte, die also nicht lediglich risikominimierende Hilfsgeschäfte sind, haben eben den Charakter der Spekulation in sich, insbesondere dann, wenn sie unternehmerische Existenzen vernichten können oder Folgen herbeiführen, die nur durch Sicherungsfonds oder Bürgschaften des Staates abgewendet werden können. Derartige Tätigkeiten haben eben nicht mehr den Charakter risikomindernder Hilfsgeschäfte, sondern sind – vom Tätigkeitsumfang im Rahmen der versicherten

__________ 58 Ebenso Olbrich (Fn. 43), S. 194 ff. 59 Olbrich (Fn. 43), S. 119. 60 Olbrich (Fn. 43), S. 119.

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Tätigkeit – nicht mehr zu erfassen. Anknüpfungspunkt ist im Vertrag die „versicherte Tätigkeit“, Kernpunkt des dogmatischen Ansatzes ist § 242 BGB. Weicht der Handelnde von den versicherten Tätigkeiten ab und dies in erheblicher Weise, trifft ihn eine erhebliche eigene vertragliche Untreue und die Geltendmachung von Deckungsansprüchen – unter diesen Umständen – kann sich dann als unzulässige Rechtsausübung – jedenfalls in krassen Ausnahmefällen61 – darstellen62. Im Fallbeispiel 2 kann dies der Versicherer möglicherweise erfolgreich einwenden. Die hier nur aufgerissene These kann (noch) nicht abschließend beantwortet werden. So gilt es in Zukunft die deckungsrechtlichen Grenzen bei spekulativen Finanztermingeschäften fest zu umreißen. Die Frage ist also, ob und inwieweit bereits Hilferufe an den Staat und Forderungen nach Garantien des Steuerzahlers zum Deckungsausschluss führen können. Der Ruf alleine wird wohl kaum bereits ausreichend sein; wo die Grenzen genau liegen, werden Gerichte entscheiden müssen.

IV. Zusammenfassung Gefragt waren die Konsequenzen daraus, dass bereits das Gesellschaftsrecht spekulativen Finanztermingeschäften Grenzen aufzeigt. Überlegungen aus Anlass der Anfragen an die Bundesregierung nach staatlicher Hilfe, insbesondere im Zusammenhang mit der Hypo Real Estate-Group, sollten Anlass sein, deckungsrechtliche Aspekte der D&O-Versicherung erneut auf den Prüfstand zu stellen. Dies gilt insbesondere für die Versicherungen von Bankvorständen, aber eben nicht nur. Werden gesetz- und satzungswidrig Institute systematisch zum Ausbau der Derivatgeschäfte unabhängig vom bilanziellen Geschäft unter Inkaufnahme erheblicher Risiken – kaum oder gar nicht beherrschbar – betrieben, werden diese also nicht lediglich als risikomindernde Hilfsgeschäfte getätigt, sondern nur, um – komme was wolle – Ergebnisverbesserungen zu erzielen, dürften dafür zwar – je nach Einzelfall – die Vorstände im Regelfall haften, wenn es ihnen nicht gelingt, nachzuweisen, dass sie die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters angewandt haben. Dies dürfte – und dies wird gerade diejenigen, die auf immer extensivere Haftung von Managern hoffen, gar nicht erfreuen – durchaus nicht stets Deckungsschutz im Rahmen einer D&O-Versicherung bedeuten. Es kann durchaus sein, dass die Vornahme bestimmter Derivatgeschäfte, die eben nicht rein risikomindernden Hilfs-, sondern „Spielbank“-Charakter haben, deckungsrechtlich betrachtet, zum Eingreifen eines Ausschlusses führen. Der für den Spekulationsverlust verantwortlich zu machende Angestellte im Unternehmen, wenn er überhaupt den Rang einer unter die D&O-Police fallenden sog. „versicherten Person“, etwa als mitversicherter Unternehmens-

__________ 61 Looschelders/Oelzen in Staudinger, Neubearbeitung 2005, Berlin 2005, Rz. 214 ff., 1013 m. w. N.; Roth in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. München 2007, § 242 BGB Rz. 211 ff., 255 ff. 62 Zur Anwendung des § 242 BGB auf Versicherungsverträge vgl. Lenz, Die Kulanzleistung des Versicherers, Karlsruhe 1992, S. 166, dort insbesondere Nachweise in Fn. 642.

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leiter, hat, hat nicht selten den Ausschluss der „wissentlichen Pflichtverletzung“ (oder „Vorsatz“) bereits verwirklicht. Aber: Auch die auf höheren Ebenen – also etwa Vorstände – zumeist dann wegen Unterlassung in Anspruch genommenen gesetzlichen Vertreter der Gesellschaften erhalten dann keine Entschädigung von Versicherern, wenn und soweit der „Spekulationsgeschäfte-Ausschluss“ greift. Der Begriff des Spekulationsgeschäfts ist nach Wortlaut und Sinn und Zweck weit zu fassen; ggf. sind Modifizierungen bei den einzelnen von Versicherer zu Versicherer variierenden Klauseln angezeigt; dem Ausschluss des „Spekulationsgeschäfts“ sind, selbst wenn dieser nicht weiter eingeschränkt wird, so wie die derzeit üblichen Klauseln am Markt formuliert sind, ersichtlich keine AGB-rechtlichen Grenzen gesetzt. Ob und inwieweit der Handel mit Derivaten sicher reglementiert werden kann, ist ein derzeit aktuell diskutiertes politisches Thema, ebenso wie die Bemühungen um Risikobegrenzung. Eins aber scheint nicht unvertretbar zu sein: Die die „Unternehmensexistenz“ gefährdenden spekulativen Finanztermingeschäfte (insbesondere Swaps, aber auch andere außerbörsliche Finanztermingeschäfte, sog. OTC-Derivate), die einen Schaden auslösen aufgrund spekulativer Verhaltensweisen, die im Ergebnis allenfalls durch einen Sicherungsfond oder staatliche Sicherungssysteme abgewendet werden können, sollten im D&O-Bereich als „deckungsschädlich“ behandelt werden, insbesondere dann, wenn sie Folgen für das gesamte Bankensystem hervorrufen oder gar in Gänze liberale Wirtschaftssysteme in Frage stellen können. Derartige Geschäfte sollten als deckungsschädlich gelten und aus dem Rahmen der D&O-Deckung herausgenommen sein, und zwar selbst dann, wenn eine Spekulationsausschlussklausel im konkreten Versicherungsvertrag nicht verankert ist. Ein Ansatzpunkt dafür könnte das Thema „versicherte Tätigkeit“ im konkreten Versicherungsvertrag verbunden mit einer unzulässigen Rechtsausübung sein. Wo aber dann die Grenze zwischen noch versicherten und nicht mehr versicherten Geschäften zu ziehen sein wird, wird sich in der Zukunft entscheiden.

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Gutgläubiger Anteilserwerb und Bedingung Inhaltsübersicht I. Einführung II. Zwischenverfügungen III. Maßgeblicher Zeitpunkt 1. Hinsichtlich des Listenstands

2. Hinsichtlich des guten Glaubens 3. Hinsichtlich der Dauer oder Zurechenbarkeit der Unrichtigkeit IV. Zusammenfassung

Das Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG)1 hat unter anderem eine vollkommene Neuheit in das GmbH-Recht eingeführt: Nach dem neuen § 16 Abs. 3 GmbHG ist unter gewissen Voraussetzungen der gutgläubige Erwerb von GmbH-Anteilen möglich. Geschützt wird jedoch nur der gute Glaube an die Inhaberschaft des Veräußerers2. Der gute Glaube an die Lastenfreiheit des erworbenen Geschäftsanteils wird nicht geschützt. Die neue Regelung wirft zahlreiche Fragen auf, die noch keineswegs geklärt sind. Dazu gehört auch die Frage des Gutglaubensschutzes bei aufschiebend bedingten Anteilsübertragungen und vergleichbaren Rechtsverhältnissen. Zwar zeichnet sich zu den Ergebnissen oft eine überwiegende Meinung ab. Die Begründung zeigt jedoch große Unsicherheit. Deshalb sollen einige der sich daraus ergebenden und namentlich im Allgemeinen Teil des BGB verwurzelten Fragen in diesen Friedrich Graf von Westphalen gewidmeten Zeilen weiter untersucht werden.

I. Einführung 1. Aufschiebend bedingte Anteilsübertragungen begegnen im Rechtsleben häufig. Am häufigsten begegnen sie bei „normalen“ Unternehmenskäufen und vergleichbaren Transaktionen, die den Erwerb von Beteiligungen an einer GmbH zum Gegenstand haben. Schon allein der Grundfall, dass nämlich die Abtretung Zug um Zug gegen Zahlung des Kaufpreises erfolgt, vollzieht sich oft dadurch, dass die Abtretung unter der aufschiebenden Bedingung der Gutschrift des Kaufpreises auf dem Bankkonto des Veräußerers steht. In dieser Lage werden sich hinsichtlich des Gutglaubensschutzes nur selten Besonderheiten aus der aufschiebenden Bedingung ergeben, weil die Zeitspanne zwischen der Beurkundung der Abtretung und Erfüllung der Bedingung kurz sein

__________ 1 BGBl. I 2008, 2026. 2 Was das konkret bedeutet, ist Gegenstand dieser Überlegungen.

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wird3. Anders ist dies schon, wenn der Gesamtvollzug der Transaktion noch unter einer Bedingung steht, beispielsweise der fusionskontrollrechtlichen Freigabe oder auch der Finanzierung des Kaufpreises auf Seiten des Käufers. Oft wird auch in solchen Fällen die Beurkundung des Kaufvertrages mit einer aufschiebend bedingten Abtretung der Anteile verbunden – schon um die Kosten einer erneuten Beurkundung zu sparen (auch wenn diese geringer sind als die der ersten Beurkundung)4. Darüber hinaus ist es aber auch möglich, dass beispielsweise langfristige Optionen oder die Rechte eines Treugebers durch aufschiebend bedingte (Rück-)Abtretungen abgesichert werden.5 Eine entsprechende Lage entsteht, wenn dem Treuhänder oder Optionsverpflichteten die Geschäftsanteile von vornherein unter einer auflösenden Bedingung vom Treugeber oder Options-(Rückkaufs-)Berechtigten abgetreten waren. Schließlich kann die Position des Veräußerers aus anderen Gründen – wie beispielsweise die des Vorerben – unter einer auflösenden Bedingung stehen. Die Konstellation des Vorerben ist für unsere Fragestellung allerdings nur dann relevant, wenn die Abtretung unentgeltlich erfolgt, weil sonst der Vorerbe auch mit Wirkung gegenüber dem Nacherben über den Anteil verfügen kann6. In den zuletzt genannten Fällen vergeht mehr oder weniger Zeit zwischen der aufschiebend bedingten Abtretung und dem Eintritt der Bedingung. Es fragt sich, wie es sich mit dem Gutglaubenserwerb verhält, wenn sich zwischen der Beurkundung der Abtretung und dem Eintritt der Bedingung der relevante Sachverhalt verändert. Dann kommt es darauf an, welcher Zeitpunkt für den Gutglaubenserwerb maßgeblich ist und ob derjenige, der unter einer aufschiebenden Bedingung erwirbt, gegen den Erwerb eines – möglicherweise gutgläubigen – Dritten aufgrund einer Zwischenverfügung geschützt ist. 2. Der gute Glaube wird dann geschützt, d. h. der Erwerber kann den Anteil oder ein Recht daran von einem Nichtberechtigten gemäß § 16 Abs. 3 GmbHG erwerben, wenn der Veräußerer als Inhaber des Geschäftsanteils in der im Handelsregister aufgenommenen Gesellschafterliste eingetragen ist, es sei denn – die Liste ist seit weniger als drei Jahren unrichtig und die Unrichtigkeit ist dem Berechtigten nicht zuzurechnen oder – der Liste ist ein Widerspruch zugeordnet oder – der Erwerber ist nicht in gutem Glauben, d. h. ihm ist die mangelnde Berechtigung des Veräußerers bekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt.

__________ 3 Anders die Beispiele von D. Mayer, ZIP 2009, 1037, 1049 und Weigl, MittBayNot 2009, 116; solche Fälle scheinen tatsächlich vorzukommen, s. FAS v. 6.12.2009, S. 66 (zu WBCC/UNCC). 4 § 38 Abs. 2 Nr. 6d KostO. 5 Hierauf verweist auch D. Mayer, ZIP 2009, 1037, 1049; s. auch Weigl, MittBayNot 2009, 116. 6 §§ 2112, 2113 Abs. 2 BGB.

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Die Regelung lehnt sich teilweise an § 892 BGB an7, unterscheidet sich aber schon im Wortlaut und – wegen des hier nicht einschlägigen Grundbuchverfahrens – in der Funktionsweise ganz erheblich von diesem. 3. Für den Fall der aufschiebend bedingten Verfügung kommt es darauf an, welcher Zeitpunkt maßgeblich ist: derjenige der Beurkundung der Abtretung oder derjenige des Bedingungseintritts. Bevor diese Frage näher erörtert wird, ist jedoch die zentrale Frage zu behandeln, wie sich der Gutglaubensschutz gemäß § 16 Abs. 3 GmbHG zu dem Schutz des Ersterwerbers gegen Zwischenverfügungen gemäß § 161 BGB verhält. Denn hiervon hängen auch einige der Antworten auf die Frage nach dem maßgebenden Zeitpunkt ab. 4. Bei der Behandlung dieser Fragen wird im Folgenden, sofern nicht ausdrücklich anders angegeben, immer von dem Fall der aufschiebend bedingten Abtretung eines Geschäftsanteils ausgegangen. Die dazu anzustellenden Überlegungen gelten sinngemäß für sonstige aufschiebend bedingte Verfügungen, insbesondere Belastungen eines Geschäftsanteils. Die Überlegungen zu Zwischenverfügungen gelten entsprechend, wenn der Verfügende vorher keine aufschiebend bedingte Verfügung getroffen hat, sondern seine Rechtsposition unter einer auflösenden Bedingung stand, § 161 Abs. 2 BGB.

II. Zwischenverfügungen Der Kern der Frage liegt in der Behandlung von Zwischenverfügungen, also insbesondere darin, ob nach einer aufschiebend bedingten Verfügung des Berechtigten der Begünstigte einer Zwischenverfügung gutgläubig ein Recht an dem Anteil erwerben kann. Hierzu scheint sich seit Inkrafttreten des MoMiG eine jedenfalls überwiegende Meinung herausgebildet zu haben, die dies bejaht8. Deren Begründung ist allerdings außerordentlich zaghaft und schwankt entsprechend9. Eine tiefgründige Untersuchung hat Reymann10 vorgelegt, der allerdings über dem Versuch der Systematisierung und Einordnung zu Schwierigkeiten kommt, die im Gesetz selbst nicht angelegt sind. Es lohnt deshalb immer noch, der Frage erneut nachzugehen. 1. Das Spannungsverhältnis zwischen § 161 BGB und § 16 Abs. 3 GmbHG sei an folgendem Beispiel verdeutlicht: Der Inhaber eines Geschäftsanteils verkauft diesen und überträgt ihn unter der aufschiebenden Bedingung der Zahlung des Kaufpreises an den Ersterwerber.

__________ 7 BT-Drucks. 16/6140, S. 38. 8 Zum Meinungsstand s. nachfolgend 2. sowie insbesondere Fn. 14 und 15. 9 S. nur Bayer in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, § 16 GmbHG Rz. 63, nach dem die Liste trotz ihrer von Bayer angenommenen Richtigkeit als Rechtsscheinträger fungieren soll. 10 Reymann, GmbHR 2009, 343 ff.

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Vor Eintritt der Bedingung tritt er den Anteil bedingungsfrei an einen Zweiterwerber ab. Im Zeitpunkt der Erstabtretung war der Veräußerer uneingeschränkter Inhaber. Ohne die zweite Verfügung hätte der Ersterwerber also den Anteil bei Bedingungseintritt, d. h. mit Zahlung des Kaufpreises, erworben. Nun ist ihm aber der Veräußerer durch die Zwischenverfügung zuvorgekommen, indem er den Anteil – vor Eintritt der Bedingung der Erstabtretung – erneut abtrat. Der Zweiterwerber erwarb damit vom Inhaber des Geschäftsanteils. Dieser Zwiespalt wird zunächst durch § 161 Abs. 1 BGB gelöst: Die während der Schwebezeit vorgenommene zweite Verfügung über den Gegenstand ist bei Eintritt der Bedingung – absolut, nicht nur gegenüber dem Ersterwerber11 – insoweit unwirksam, als sie die erste Abtretung vereiteln oder beeinträchtigen würde (§ 161 Abs. 1 Satz 1 BGB). Danach würde die zweite Verfügung mit Eintritt der Bedingung der ersten Verfügung (Zahlung des Kaufpreises) unwirksam. Dies war – unabhängig von gutem oder bösem Glauben des Zweiterwerbers – die Rechtslage bis zum Inkrafttreten des MoMiG. Mangels einer Vorschrift zur Ermöglichung eines gutgläubigen Erwerbs von GmbH-Anteilen hatte der § 161 Abs. 3 BGB – nach dem die Gutglaubensvorschriften entsprechend gelten – für GmbH-Anteile keinen Anwendungsbereich. Mit der Ermöglichung eines gutgläubigen Anteilserwerbs vom Nicht-Berechtigten hat sich hier die Lage – vielleicht – geändert: Der Zweiterwerber kannte in unserem Beispiel die erste Verfügung nicht, und dies – so sei angenommen – beruhte auch nicht auf grober Fahrlässigkeit. Er war also hinsichtlich der ersten Verfügung gutgläubig. Wäre nicht ein GmbH-Anteil abgetreten worden, sondern eine bewegliche Sache, so wäre er in seinem guten Glauben geschützt, § 161 Abs. 3 BGB12. Der Ersterwerber hätte den Gegenstand nicht erworben und müsste sich hinsichtlich des von ihm zwischenzeitlich gezahlten Kaufpreises an den Veräußerer halten. Die zu untersuchende Frage ist die, ob das jetzt, nach Einfügung des § 16 Abs. 3 GmbHG, auch gilt, wenn Gegenstand der Erstverfügung ein GmbH-Anteil war. Die Frage kennzeichnet ein Dilemma gerade auch aufgrund des Ziels, das das MoMiG mit der Ermöglichung des gutgläubigen Anteilserwerbs verfolgt, nämlich einer – gewissen – Verbesserung der Verkehrsfähigkeit von GmbH-Anteilen13: Ist der Zweiterwerber in seinem guten Glauben geschützt14, so steht der Ersterwerber schlechter als nach bisherigem Recht. Wird dagegen der Erst-

__________ 11 Westermann in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, § 161 BGB Rz. 7; Bork in Staudinger, 2003, § 161 BGB Rz. 12. 12 Das gilt problemlos, wenn der Besitz bei der ersten Verfügung gemäß §§ 930 oder 931 BGB übertragen wurde. Im Übrigen s. nachfolgend im Text unter 2. c). 13 BT-Drucks. 16/6140, S. 38. 14 So (analoge Anwendung des § 16 Abs. 3 GmbHG) Bayer in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, § 16 GmbHG Rz. 63; Klöckner, NZG 2008, 841, 842; Oppermann, ZIP 2009, 651, 652 f.; Vossius, DB 2007, 2299, 2301; Wachter, GmbHR-Sonderheft 10/2008, 51, 61; Wälzholz, MittBayNot 2008, 425, 436; Schreinert/Berresheim, DStR 2009, 1265, 1267; Reymann, WM 2008, 2095, 2097 f. In GmbHR 2009, 343, 349 bezeichnet Reymann den Streit hingegen als „offen“, ohne eindeutig Stellung zu beziehen.

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erwerber geschützt15, so geht der Schutz des guten Glaubens beim Zweiterwerber ins Leere. Der Gutglaubensschutz ist zwar von vornherein nicht vollkommen, weil der gute Glaube an die Existenz oder Lastenfreiheit des Anteils sowie derjenige an die Verfügungsbefugnis des Veräußerers nicht geschützt ist und der Schutz überdies nur einsetzt, wenn der (falsche) Rechtsschein seit drei Jahren besteht oder dem Berechtigten zuzurechnen ist. Wenn der Zweiterwerber aber auch keinen Schutz gegen mehr als drei Jahre zurückliegende aufschiebend bedingte Verfügungen seines Veräußerers hätte, wäre der Schutz noch lückenhafter, als – möglicherweise – geplant. 2. Der Begünstigte der Zwischenverfügung wird durch § 161 Abs. 3 BGB nicht in allen Fällen geschützt. Vielmehr sind „die Vorschriften zugunsten derjenigen, welche Rechte von einem Nicht-Berechtigten herleiten“, entsprechend anzuwenden. Der Berechtigte der Zwischenverfügung erwirbt das Recht daher nur, wenn er von einem (vollständig) Nicht-Berechtigten hätte erwerben können. Voraussetzung ist also immer eine Verfügung, für die grundsätzlich ein Gutglaubensschutz vorgesehen ist16. a) § 16 Abs. 3 GmbHG setzt voraus, dass ein „Nichtberechtigter“ verfügt, der in der Liste als „Inhaber des Geschäftsanteils“ eingetragen ist17. Diese Lage wird in Satz 3 der Vorschrift als „Unrichtigkeit“ der Gesellschafterliste gekennzeichnet. Im Fall einer Zwischenverfügung des noch Berechtigten ist dessen Eintragung im Zeitpunkt der Zwischenverfügung nicht unrichtig, so dass schon der Wortlaut des § 16 Abs. 3 GmbHG nicht erfüllt zu sein scheint18. Allerdings: § 161 Abs. 3 BGB setzt geradezu voraus, dass der Tatbestand der Gutglaubensvorschriften nicht vollständig erfüllt ist – sonst wäre die Bestimmung überflüssig. Die Vorschriften über den Gutglaubensschutz sind entsprechend anzuwenden. Auch im Kardinalfall der bedingten Übereignung von Fahrnis gemäß § 932 BGB ist dessen Tatbestand nicht voll erfüllt. Nach dieser Vorschrift „wird der Erwerber auch dann Eigentümer, wenn die Sache nicht dem Veräußerer gehört“. Im Falle des § 161 BGB gehörte sie aber (noch) dem Veräußerer, so dass § 932 BGB seinem Wortlaut nach nicht anwendbar ist. Der Sinn des § 161 Abs. 3 BGB liegt gerade darin, gegenüber § 932 BGB (und ähnlichen Vorschriften) aufgrund der Analogie zu einer Anwendung über den Tatbestand hinaus zu kommen19. Die bloße Tatsache, dass die Gesellschafterliste nicht unrichtig war, steht demnach der entsprechenden Anwendung nicht entgegen20.

__________ 15 So (Schutz des Anwartschaftsrechts) D. Mayer, ZIP 2009, 1037, 1050; Preuß, ZGR 2008, 676, 692; von Hoyenberg in Münchener Vertragshandbuch, Wirtschaftsrecht I, Bd. 2, 6. Aufl. 2009, Muster IV 3, 4 Anm. 57; Weigl, MittBayNot 2009, 116, 117; Zessel, GmbHR 2009, 303, 305; zweifelnd Link, RNotZ 2009, 193, 220. 16 Bork in Staudinger, 2003, § 161 BGB Rz. 15. 17 So die Formulierung in § 16 Abs. 3 Satz 1 GmbHG. 18 Darauf verweisen unter anderem Reymann, GmbHR 2009, 343, 345; Weigl, MittBayNot 2009, 116, 117 sowie Link, RNotZ 2009, 193, 220. 19 Wiegand in Staudinger, 2004, § 932 BGB Rz. 5; Westermann in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, § 161 BGB Rz. 19. 20 Ebenso Schreinert/Berresheim, DStR 2009, 1265, 1267.

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b) In dem genannten Beispiel wird es möglicherweise dennoch nicht zu einem gutgläubigen Erwerb des Geschäftsanteils durch den Zweiterwerber kommen können, weil die „Unrichtigkeit“ der Liste nicht seit drei Jahren besteht und – je nach Zeitablauf – dem Ersterwerber eine „Unrichtigkeit“ auch nicht zuzurechnen ist. Deshalb ist dieser Zeitfaktor zunächst durch ein anderes Beispiel auszublenden: Der Anteil sei (zur Absicherung einer Option oder eines Treuhandanspruchs) aufschiebend bedingt an den Optionsberechtigten/Treugeber abgetreten und der Anteil sei dann mehr als drei Jahre nach dieser aufschiebend bedingten Abtretung an einen Dritten, der von der bedingten Abtretung nichts wusste und nichts wissen konnte, abgetreten worden. Die unbefangene Auslegung des § 161 Abs. 3 BGB scheint hier problemlos zu dem Ergebnis zu führen, dass der gutgläubige Erwerber geschützt werden muss. c) Allerdings: Ein gutgläubiger Erwerb zulasten des wahren Berechtigten setzt, von den Fällen eines absolut vorrangigen Verkehrsschutzes (§ 935 Abs. 2 BGB) abgesehen, einen Rechtsschein voraus, der entweder – wie in § 892 BGB – auf staatlicher Prüfung und Kontrolle beruht oder dem Berechtigten zuzurechnen ist21. Die Voraussetzung eines zurechenbaren Rechtsscheins gilt auch für die aufschiebend bedingte Übereignung von Fahrnis: Wer sich darauf einlässt, bewegliche Gegenstände unter einer aufschiebenden Bedingung zu erwerben, ohne auf der gleichzeitigen Übertragung des unmittelbaren Besitzes zu bestehen, überlässt dem Veräußerer bewusst die den Rechtsschein vermittelnde Position. Wird dem Erwerber dagegen der unmittelbare Besitz, bspw. aufgrund eines Mietverhältnisses oder Vorbehaltskaufs, übertragen und erfolgt dann die Besitzübergabe an den Zweiterwerber gemäß § 931 BGB nach Bedingungseintritt, so ist der Ersterwerber trotz § 161 Abs. 3 BGB durch eine analoge Anwendung des § 936 Abs. 3 BGB auf den Fall des § 934 Alt. 1 BGB geschützt22. d) Die Gesellschafterliste als Rechtsscheinträger gehört in die Kategorie des Gutglaubenserwerbs aufgrund zuzurechnenden Rechtsscheins. Der durch sie begründete Rechtsschein wirkt zum Nachteil des Berechtigten nur, wenn er mindestens drei Jahre bestanden hat – dann ist er dem Berechtigten, der ihn drei Jahre hat bestehen lassen, abstrakt zuzurechnen – oder dem Berechtigten konkret zuzurechnen ist. Im Fall bedingungsfreier Verfügungen des Nichtberechtigten bleibt also das Prinzip gewahrt. Wie aber ist es im Fall bedingter Verfügungen? e) Da das Gesetz die Aufnahme aufschiebend bedingter Gesellschafterpositionen oder die Angabe auflösender Bedingtheit einer Gesellschafterposition in die Gesellschafterliste nicht vorsieht23, scheint eine wesentliche Voraussetzung für einen gutgläubigen Erwerb durch Zwischenverfügungen zulasten des-

__________

21 Für bewegliche Sachen: BGHZ 10, 81; Wiegand in Staudinger, 2004, § 932 BGB Rz. 14; für unbewegliche Sachen: Baur/Stürner, Sachenrecht, 18. Aufl. 2009, § 23 Rz. 3. Hierauf weist auch Harbarth, ZIP 2008, 57 hin. 22 BGHZ 45, 186, 190 (obiter); Oechsler in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 934 BGB Rz. 9; Wiegand in Staudinger, 2004, § 936 BGB Rz. 16. 23 Darauf beharrt OLG München, ZIP 2009, 1911.

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jenigen, der zunächst bedingt erworben hat, zu fehlen24. Es wäre jedoch voreilig, den gutgläubigen Erwerb hieran scheitern zu lassen. Denn das Gesetz gibt durchaus eine Möglichkeit, den Begünstigten der ersten Verfügung gegen nachfolgenden gutgläubigen Erwerb zu schützen, nämlich durch die Eintragung eines Widerspruchs. Die Möglichkeit eines solchen Widerspruchs wird bestritten. Darauf ist unten näher einzugehen. Hier sei nur soviel gesagt: Die Erforderlichkeit der Eintragung eines Widerspruchs wird vor allem auch mit der Begründung bestritten, es bestehe dafür überhaupt kein Bedürfnis, weil es den gutgläubigen Erwerb des Zweiterwerbers nicht gebe25. Umgekehrt wird argumentiert, den gutgläubigen Erwerb des Zweiterwerbers könne es deshalb nicht geben, weil der Ersterwerber keine Möglichkeit habe, seine Position durch Eintragung eines Widerspruchs zu schützen26. Eine gewisse Zirkularität der Argumentation ist hier schwer zu übersehen. f) Systematisch wird die Anwendbarkeit des § 161 Abs. 3 BGB mit der Begründung in Zweifel gezogen, es fehle an einem Rechtsscheinträger. Denn die Liste besage nichts über eine Verfügungsbeschränkung, wie sie aus § 161 BGB folge27, und das Fehlen eines Widerspruchs könne nicht Träger des Rechtscheins sein28. Nach dieser Argumentation müsste die Systematik das Gesetz verdrängen, das indes von dieser Systematik nicht abhängt. g) Ferner wird auf § 892 Abs. 1 Satz 2 BGB verwiesen, der trotz teilweiser Anlehnung des § 16 Abs. 3 GmbHG an § 892 BGB „ausdrücklich“ nicht übernommen sei29. § 892 Abs. 1 Satz 2 BGB bewirke aber gerade einen Gutglaubensschutz in Bezug auf Verfügungsbeschränkungen, wozu „insbesondere“ auch diejenige nach § 161 BGB gehöre30. Diese Argumentation kann schwerlich überzeugen. Es kann keine Rede davon sein, dass auf eine Regelung entsprechend § 892 Abs. 1 Satz 2 BGB „ausdrücklich“ verzichtet worden sei. Wegen des unterschiedlichen Aufbaus und Wortlauts der beiden Bestimmungen können auch keine Schlüsse daraus hergeleitet werden, dass in § 16 Abs. 3 GmbHG keine dem § 892 Abs. 1 Satz 2 BGB entsprechende Regelung enthalten ist. Zudem ist zweifelhaft, ob § 892 Abs. 1 Satz 2 BGB überhaupt den Fall des § 161 BGB umfasst31. Auf die Bestimmung des § 892 Abs. 1 Satz 2 BGB kommt es überhaupt nur an, wenn der gleiche Gutglaubensschutz nicht, wie

__________ 24 So Preuß, ZGR 2008, 676, 692; Weigl, MittBayNot 2009, 116, 117; von Hoyenberg (Fn. 15), Anm. 57(4); D. Mayer, ZIP 2009, 1037, 1050. 25 D. Mayer, ZIP 2009, 1037, 1050; s. auch Link, RNotZ 2009, 193, 220. 26 D. Mayer, ZIP 2009, 1037, 1050; Preuß, ZGR 2008, 676, 692; Weigl, MittBayNot 2009, 116, 117. 27 Reymann, GmbHR 2009, 343, 345; von Hoyenberg (Fn. 15). 28 Reymann, GmbHR 2009, 343, 346. 29 So D. Mayer, ZIP 2009, 1037, 1050. 30 D. Mayer, ZIP 2009, 1037, 1050 unter Berufung auf BayObLG, Rpfleger 1994, 343; ähnlich Reymann, GmbHR 2009, 343, 346 unter Berufung auf BayObLG, NJW-RR 1986, 697, das die Eintragung eines Vermerks über die bedingte Abtretung eines durch Vormerkung gesicherten Anspruchs zulässt, ohne dies jedoch mit § 892 Abs. 1 Satz 2 BGB zu begründen. 31 Denn er gilt nur für relative Verfügungsbeschränkungen, s. dazu im Text unter 2. h). S. ferner Gursky in Staudinger, 2008, § 892 BGB Rz. 263.

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bspw. beim gutgläubigen Erwerb von Fahrnis, bereits aus § 161 Abs. 3 BGB folgt. Demgemäß enthalten die §§ 932 ff. BGB keine dem § 892 Abs. 1 Satz 2 BGB entsprechende Regelung. h) Weiter wird angeführt, § 16 Abs. 3 GmbHG schütze nur den guten Glauben an die Inhaberschaft, nicht aber den an die Verfügungsmacht des Verfügenden32. § 161 BGB beschränke die Verfügungsmacht, und deshalb sei der gute Glaube des Zweiterwerbers nicht geschützt33. Diese Argumentation beruht auf einem Missverständnis. Wenn z. B. in §§ 932 ff. BGB – anders als in § 366 HGB – nur der gute Glaube an die Rechtsinhaberschaft, nicht aber der an die Verfügungsmacht, geschützt ist, so entfällt der Schutz, wenn der Erwerber hinsichtlich der Rechtsinhaberschaft bösgläubig ist, aber irrig an die Verfügungsmacht des Rechtsscheinsträgers glaubt. Demgegenüber wird in § 366 HGB auch der gute Glaube an die (bloße) Verfügungsmacht geschützt34. Hier geht es jedoch um etwas ganz anderes, nämlich darum, ob der gute Glaube an das Fehlen von Verfügungsbeschränkungen des Rechtsinhabers geschützt wird. Diese Frage regelt das Gesetz in der Regel nicht in den Gutglaubensvorschriften, sondern durch Verweisung auf diese in den einzelnen Vorschriften zu den Verfügungsbeschränkungen35. Eine Ausnahme macht insoweit § 892 Abs. 1 Satz 2 BGB bezüglich relativer Verfügungsbeschränkungen. § 161 BGB enthält jedoch keine relative Verfügungsbeschränkung i. S. v. § 135 BGB, denn er führt – vorbehaltlich der Gutglaubensvorschriften – zu einer absoluten, nicht nur relativen Unwirksamkeit der kollidierenden Zwischenverfügung36. Reymann sieht in § 161 Abs. 3 BGB, der eine solche Verweisung auf die Gutglaubensvorschriften enthält, eine „Schutzzweckserweiterung“ der Gutglaubensvorschriften37. Es trifft die Sache aber wohl besser, in derartigen Vorschriften eine Begrenzung der Wirkung der einzelnen Verfügungsbeschränkung zu sehen. Das erklärt dann auch, warum entsprechende Regeln nicht bei allen Verfügungsbeschränkungen gelten38. i) Schließlich wird der Anwendung des § 161 Abs. 3 BGB entgegengehalten, dass dem bedingt Berechtigten ein Anwartschaftsrecht zustehe, das wie eine

__________ 32 Die Regierungsbegründung spricht freilich gerade davon, dass ausschließlich der gute Glaube an die Verfügungsmacht geschützt sei, BT-Drucks. 16/6140, S. 39. Damit soll aber die Rechtsinhaberschaft gemeint sein. So auch D. Mayer, ZIP 2009, 1037, 1050 (Fn. 140); Götze/Bressler, NZG 2007, 894, 897; Bohrer, DStR 2007, 995, 998. 33 D. Mayer, ZIP 2009, 1037, 1050; Weigl, MittBayNot 2009, 116, 117; Zessel, GmbHR 2009, 303, 305. 34 S. nur Hopt in Baumbach/Hopt, 33. Aufl. 2008, § 366 HGB Rz. 2. 35 S. nur §§ 135 Abs. 2, 161 Abs. 3, 2113 Abs. 3 BGB sowie § 81 Abs. 1 Satz 2 InsO. 36 Heinrichs in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 161 BGB Rz. 1 m. w. N. 37 Reymann, GmbHR 2009, 343, 345. 38 Zum Beispiel nicht bei § 1365 BGB (auch wenn die Rechtsprechung hinsichtlich der tatsächlichen Voraussetzungen – Vermögen im Ganzen, nicht aber bezüglich des Güterstands – schon den Tatbestand von der relevanten Kenntnis abhängig macht; Brudermüller in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 1365 BGB Rz. 9 m. w. N.) und auch nicht bei § 81 Abs. 1 InsO hinsichtlich der §§ 932 ff. BGB.

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Belastung des Anteils wirke. § 16 Abs. 3 GmbHG schütze aber nicht den guten Glauben an die Lastenfreiheit, weshalb ein Schutz über § 161 Abs. 3 BGB nicht in Betracht komme39. Deshalb erwerbe der Zweiterwerber den Anteil belastet mit der Anwartschaft40. Auch diese Argumentation trifft nicht zu. Das Gesetz enthält keine ausdrückliche Bestimmung, dass Belastungen bestehen bleiben. Es fehlt nur eine dem § 936 BGB entsprechende Vorschrift über den lastenfreien Erwerb kraft guten Glaubens. Einer solchen Vorschrift bedarf es hinsichtlich des Schutzes vor der Anwartschaft nicht. Denn dieser Schutz ergibt sich nicht aus § 936, sondern aus § 161 Abs. 3 BGB. j) Träfe die Meinung zu, wonach § 161 Abs. 3 BGB auf den Anteilserwerb keine Anwendung findet, so hätte dies die merkwürdige Konsequenz, dass der noch nicht Berechtigte einen stärkeren Schutz gegen einen Gutglaubenserwerb hat, als derjenige, der den Anteil sofort bedingungsfrei erwirbt, aber noch nicht in der Liste eingetragen ist41. Erfolgt die Zwischenverfügung freilich so kurz nach der Erstverfügung, dass deren Begünstigter auch dann noch nicht in der Liste eingetragen wäre, wenn die Erstverfügung bedingungsfrei erfolgt wäre42, so ist dem (aufschiebend bedingt) Begünstigten der Erstverfügung ein falscher Rechtsschein nicht zuzurechnen. Daraus folgt aber nicht, dass auch nach längerer Zeit der noch nicht Berechtigte ohne Wertungswiderspruch besser geschützt sein könnte (oder gar müsste) als der bereits voll Berechtigte43. Erst nach Ablauf der dafür anzusetzenden Zeit ist dem einen wie dem anderen die „Unrichtigkeit“ zuzurechnen. Als Zwischenergebnis ist deshalb festzuhalten, dass § 161 Abs. 3 BGB nach Wortlaut und Sinn auch für den Anteilserwerb gemäß § 16 Abs. 3 GmbHG gilt. Durch die Ermöglichung eines gutgläubigen Erwerbs von GmbH-Anteilen ist eine weitere Vorschrift „zugunsten derjenigen, welche Rechte von einem Nichtberechtigten herleiten,“ eingefügt worden und gemäß § 161 Abs. 3 BGB entsprechend anzuwenden. 3. Die grundsätzliche Anwendbarkeit des § 161 Abs. 3 BGB entbindet jedoch nicht von der Prüfung der Anwendungsvoraussetzungen des § 16 Abs. 3 GmbHG in der Erweiterung, die diese durch die entsprechende Anwendung erfahren. a) Voraussetzung ist dafür zunächst der Erwerb „vom Nichtberechtigten“ (§ 16 Abs. 3 Satz 1 GmbHG). „Nichtberechtigt“ ist derjenige, der zu dieser Verfügung nicht berechtigt ist. Das ist – im Rahmen des § 161 BGB – zwanglos

__________ 39 D. Mayer, ZIP 2009, 1037, 1050; wohl auch von Hoyenberg (Fn. 15). Dagegen will Reymann, WM 2008, 2095, 2097, 2101 ff. die Eintragung von Belastungen in der Liste und demgemäß auch einen gutgläubig lastenfreien Erwerb zulassen. 40 D. Mayer, ZIP 2009, 1037, 1050; Weigl, MittBayNot 2009, 116, 119. 41 Oppermann, ZIP 2009, 651, 652; allg. Bassenge in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 161 BGB Rz. 3. 42 So das Beispiel von D. Mayer, ZIP 2009, 1037, 1050; ähnlich Weigl, MittBayNot 2009, 116 ff. 43 So aber D. Mayer, ZIP 2009, 1037, 1050 aufgrund seines gestellten Beispiels.

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auch derjenige, dessen Rechtsinhaberschaft aufgrund einer vorangegangenen aufschiebend bedingten Abtretung oder eines auflösend bedingten Erwerbs unter einer Bedingung steht44. Es bedarf dazu nicht der verbalen Hilfskonstruktion eines „Nicht-so-Berechtigten“45. b) Nur wenig schwieriger verhält es sich mit den negativ umschriebenen Voraussetzungen des gutgläubigen Erwerbs. Der Erwerb vom Nichtberechtigten ist nicht möglich, wenn die Liste hinsichtlich des betroffenen Geschäftsanteils „weniger als drei Jahre unrichtig und die Unrichtigkeit dem Berechtigten nicht zuzurechnen ist.“, § 16 Abs. 3 Satz 2 GmbHG. Aus dem Verhältnis von Satz 2 zu Satz 1 folgt, dass die Liste im Sinne dieser Vorschrift i. V. m. § 161 Abs. 3 BGB dann unrichtig ist, wenn sie hinsichtlich des Geschäftsanteils einen Inhaber ausweist, der „Nichtberechtigter“ im Sinne des Satzes 1 ist. Dafür kommt es nicht darauf an, ob der Mangel im Recht – der aus § 161 BGB folgt – in der Liste eintragungsfähig ist46. Bestand eine solche Unrichtigkeit mindestens drei Jahre lang, so ist der gutgläubige Erwerb durch den Zweiterwerber deshalb möglich. Auf die zweite Variante, der Möglichkeit eines gutgläubigen Erwerbs, dass nämlich „die Unrichtigkeit dem Berechtigten … zuzurechnen ist“, ist näher einzugehen47. 4. Wird die Liste durch eine aufschiebend bedingte Verfügung unrichtig, auch wenn diese Verfügung als solche in die Liste nicht aufgenommen werden kann, so ist zu prüfen, wie der Ersterwerber seine Position gegen einen gutgläubigen Erwerb des Zweiterwerbers absichern kann. Das dafür gegebene Mittel ist im Gesetz ausdrücklich vorgezeichnet: Er kann der Liste einen Widerspruch gegen die Berechtigung des eingetragenen Gesellschafters zuordnen lassen48. Eine solche Zuordnung ist entweder mit Bewilligung des Eingetragenen oder aufgrund einer einstweiligen Verfügung möglich49. a) Der Widerspruch ist in § 16 Abs. 3 Satz 3 bis 5 GmbHG nur sehr rudimentär geregelt. Dies gilt insbesondere für seine Voraussetzungen und Wirkungen. Diese sind deshalb § 892 Abs. 1 Satz 1 BGB zu entnehmen, der insoweit als Vorbild diente. Der Widerspruch ist zwar nach dem Wortlaut des § 16 Abs. 3 GmbHG „der Liste“ zugeordnet. Er richtet sich aber nicht gegen die Liste insgesamt, sondern, wie sich aus § 16 Abs. 3 Satz 4 GmbHG ergibt, nur gegen die Berechtigung eines bestimmten Gesellschafters und ggf. auch nur hinsichtlich eines von mehreren Geschäftsanteilen, als dessen Inhaber der Gesellschafter

__________ 44 So im Ergebnis auch Reymann, GmbHR 2009, 343, 344. 45 So aber D. Mayer, ZIP 2009, 1037, 1051. 46 Hierzu im Detail Reymann, GmbHR 2009, 343, 345 f.; Schreinert/Berresheim, DStR 2009, 1265, 1267; a. A. D. Mayer, ZIP 2009, 1037, 1050. 47 Im Text unter 4. 48 Greitemann/Bergjan in FS Pöllath & Partner, 2008, S. 271, 285 f.; Link, RNotZ 2009, 193, 218; Vossius, DB 2007, 2299, 2301; Wachter, GmbHR-Sonderheft 10/2008, 51, 61; Wälzholz, MittBayNot 2008, 425, 436. 49 § 16 Abs. 3 Satz 4 GmbHG.

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eingetragen ist50. Der Widerspruch entfaltet, wie im Grundbuchrecht51, Wirkungen nur, wenn er zugunsten des wahren Berechtigten eingetragen ist52. Die Zuordnung des Widerspruchs zugunsten des aufschiebend bedingten Erwerbers gefährdet daher nicht dessen Gutglaubensposition53. b) Der Widerspruch bedeutet nicht, dass der Eingetragene nicht Inhaber des Geschäftsanteils sei, auf den sich der Widerspruch bezieht, oder gar dass derjenige, zugunsten dessen der Widerspruch eingetragen ist, Inhaber des Anteils sei54. Die Funktion des Widerspruchs erschöpft sich vielmehr in der Verhinderung eines gutgläubigen Erwerbs. Die Argumentation gegen den Widerspruch, dieser Widerspruch sei dann selbst unrichtig55, geht deshalb fehl. Der Widerspruch bedarf weder einer Begründung noch einer Erläuterung. Er besagt lediglich, dass der Eingetragene – möglicherweise – „Nichtberechtigter“ im Sinne des Satzes 1, d. h. zu einer Verfügung über den Geschäftsanteil nicht berechtigt ist. Mit diesem Verständnis ist der Widerspruch auch richtig. c) Dem Vernehmen nach zeigen manche Handelsregister eine erhebliche Reserve gegenüber der Eintragung von Widersprüchen, selbst wenn sie vom Berechtigten bewilligt sind56. Die zuständigen Registerrichter sollten – zur Vermeidung eines Haftungsrisikos – diese Reserve aufgeben: Ein Handelsregister, das trotz Bewilligung desjenigen, „gegen dessen Berechtigung sich der Widerspruch richtet“, die Zuordnung eines Widerspruchs verweigert, handelt pflichtwidrig und setzt sich Schadensersatzansprüchen für den Fall aus, dass infolge der Weigerung der Zuordnung eines Widerspruchs ein gutgläubiger Erwerb durch Dritte (in unserem Beispiel: einen Zweiterwerber) möglich wird oder der Listenstand ohne Widerspruch dem Anwartschaftsberechtigten nicht zuzurechnen und der Zweiterwerber deshalb schutzlos ist. d) Die Zuordnung eines Widerspruchs verdient gegenüber anderen kautelarjuristischen Vorschlägen den Vorzug. Reymann schlägt vor, in der Satzung einen Abtretungsausschluss gemäß § 15 Abs. 5 GmbHG für den Fall vorzusehen, dass ein Anteil unter einer aufschiebenden Bedingung abgetreten ist, die noch nicht eingetreten und auch noch

__________ 50 Schreinert/Berresheim, DStR 2009, 1265, 1269. Dass das Gesetz dies nicht (ausdrücklich) vorschreibt, kritisiert Kort, GmbHR 2009, 169, 175 f.; eine solche Konkretisierung als vom Registergericht überprüfbaren Mindestinhalt des Widerspruchs fordern Link, RNotZ 2009, 193, 218 und Weigl, MittBayNot 2009, 116, 119. A. A. Wachter, GmbHR-Sonderheft 10/2008, 51, 60 f. 51 Kohler in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 892 BGB Rz. 41; Gursky in Staudinger, 2008 § 892 BGB Rz. 132; Stürner in Soergel, 13. Aufl. 2002, § 892 BGB Rz. 27. 52 Oppermann, ZIP 2009 651, 654. 53 So aber die Befürchtung von Greitemann/Bergjan in FS Pöllath & Partner, 2008, S. 271, 287; wie hier Oppermann, ZIP 2009 651, 654; Schreinert/Berresheim, DStR 2009, 1265, 1269. 54 Kamlah, GmbHR 2009, 841, 843; Zessel, GmbHR 2009, 303, 305. 55 So D. Mayer, ZIP 2009, 1037, 1050 f.; Weigl, MittBayNot 2009, 116, 117. 56 Auf diese Erfahrungen verweisen D. Mayer, ZIP 2009, 1037, 1051 und Link, RNotZ 2009, 193, 220; anders aber LG Köln, NZG 2009, 1195.

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nicht endgültig ausgefallen ist57. Diese Lösung hilft nicht im Falle einer auflösend bedingten Rechtsposition (einschließlich der auflösend bedingten Übertragung an einen Treuhänder) und sie schüttet außerdem das Kind mit dem Bade aus58. Da nämlich der Erwerber eines Geschäftsanteils niemals feststellen kann, ob derselbe Geschäftsanteil bereits unter einer aufschiebenden Bedingung an einen Dritten abgetreten ist, kann er nicht sicher sein, ob er den Anteil erwirbt. Gerade diese Gewissheit soll ihm die Möglichkeit des Gutglaubenserwerbs gemäß § 16 Abs. 3 GmbHG aber verschaffen, wenn auch mit der Einschränkung, dass die in der Liste nicht verlautbarte Verfügung mindestens drei Jahre zurückliegt oder es dem durch sie Begünstigten zuzurechnen ist, dass sie noch nicht verlautbart ist. Einen anderen kautelarjuristischen Weg schlägt D. Mayer vor59. Danach soll die aufschiebende Bedingung auch für den Fall eintreten, dass der Listengesellschafter eine andere Verfügung vor einem Notar unterschreibt60. Da die andere Verfügung erst mit Unterzeichnung durch den Notar wirksam wird, käme diese Bedingung der anderweitigen Verfügung gerade noch zuvor. Ob damit alle Fälle befriedigend geregelt werden können, erscheint zweifelhaft, z. B. können andere, z. B. fusionskontrollrechtliche Hindernisse der Wirksamkeit der Abtretung gerade in diesem Fall entgegenstehen. Gleiches gilt für den Vorschlag, den Anteil bedingungsfrei an eine zwischen Veräußerer und Erwerber zu diesem Zweck errichtete GbR zu übertragen und den Anteil des Veräußerers an der GbR bedingt an den Erwerber abzutreten61. Zur Absicherung der Rechte eines Treugebers ist diese Gestaltung auch kaum geeignet. Der Anteil kann allerdings sofort bedingungsfrei an den Erwerber zur Sicherung von dessen Schadensersatzansprüchen im Falle von Zwischenverfügungen verpfändet werden62. Da es einen gutgläubig lastenfreien Erwerb des Anteils nicht gibt63, ist der Ersterwerber dann wirtschaftlich geschützt. Er muss freilich seinen Schaden nachweisen oder ihn von vornherein pauschalieren. Alle diese Vorschläge widersprechen in ihrer Tendenz dem gesetzgeberischen Ziel, den gutgläubigen Erwerber zu schützen.

__________ 57 Reymann, GmbHR 2009, 343, 347 f.; ähnlich Schreinert/Berresheim, DStR 2009, 1265, 1270 f. 58 Ablehnend auch: Schreinert/Berresheim, DStR 2009, 1265, 1271. 59 D. Mayer, ZIP 2009, 1037, 1051. 60 Ähnlich Schreinert/Berresheim, DStR 2009, 1265, 1271 mit dem Vorschlag eines satzungsmäßigen Verbots von Zwischenverfügungen oder der Abtretung eines vinkulierten Anteils. 61 Schreinert/Berresheim, DStR 2009, 1265, 1271; Weigl, MittBayNot 2009, 116, 120. 62 So der Vorschlag von Schreinert/Berresheim, DStR 2009, 1265, 1270; ähnlich Link, RNotZ 2009, 193, 204. 63 So die ganz h. M.: Bayer in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, § 16 GmbHG Rz. 60; Link, RNotZ 2009, 193, 204; D. Mayer, DNotZ 2008, 403, 418; Oppermann, ZIP 2009, 651, 652; Preuß, ZGR 2008, 676, 688; Vossius, DB 2007, 2229, 2303; Wälzholz, MittBayNot 2008, 425, 436; Weigl, MittBayNot 2009, 116, 117. A. M. Heidinger in Heckschen/Heidinger, Die GmbH in der Gestaltungs- und Beratungspraxis, 2. Aufl. 2009, § 13 Rz. 135; Reymann, WM 2008, 2095, 2098 ff.

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5. Ist demnach die Zuordnung eines Widerspruchs das Mittel, den gutgläubigen Erwerb aufgrund späterer Verfügungen zu verhindern, so ist dieser Weg auch unmittelbar nach der aufschiebend bedingten Verfügung eröffnet64. Sorgt der Ersterwerber nicht unverzüglich nach der erfolgten aufschiebend bedingten Abtretung an ihn für die Zuordnung eines Widerspruchs, so ist ihm die Unrichtigkeit im Sinne von § 16 Abs. 3 Satz 3 GmbHG zuzurechnen65. Daraus ergibt sich eine Obliegenheit des Anwartschaftsberechtigten, für die Zuordnung des Widerspruchs zu sorgen. Das Ziel eines verbesserten Verkehrschutzes lässt sich im Zusammenhang mit bedingten Verfügungen nur auf der Grundlage einer solchen Obliegenheit erreichen. Der Erwerber muss also entweder auf der Bewilligung des Widerspruchs durch den Veräußerer bestehen oder die Zuordnung des Widerspruchs durch einstweilige Verfügung erwirken. Scheitert die Zuordnung an dem Widerstand des Handelsregisters, so mag dies dem (berechtigten) Ersterwerber nicht zuzurechnen sein66. Daraus entsteht dann aber ein Haftungsrisiko des Registergerichts gegenüber dem Zweiterwerber. Der Widerspruch hat damit nicht – systemwidrig – die Funktion einer Vormerkung67. Denn die Vormerkung sichert ein rein obligatorisches Recht ab, das hinsichtlich der Eigentumsübertragung wegen der Bedingungsfeindlichkeit der Auflassung (§ 925 Abs. 2 BGB) auch gar nicht als aufschiebend bedingte Rechtsposition eingeräumt werden könnte. Die Möglichkeit eines gutgläubigen Erwerbs auch zulasten eines Anwartschaftsberechtigten entspricht der Zielsetzung und dem Sinn des § 16 Abs. 3 GmbHG. Die Instrumentalisierung des Widerspruchs ist das im Gesetz vorgesehene und stimmige Mittel, den Ersterwerber zu schützen. Weiterer Behelfskonstruktionen bedarf es dazu nicht. 6. Wenn die erste – aufschiebend bedingte – Verfügung keine Abtretung, sondern eine Belastung war, gilt Folgendes: Für eine spätere Abtretung bleibt der Listengesellschafter „Berechtigter“. Er kann auch ohne Rückgriff auf Gutglaubensvorschriften abtreten und einen gutgläubig lastenfreien Erwerb gibt es nicht. Ist dagegen die Zwischenverfügung ebenfalls eine Belastung, so ließe sich aus der oben (3. a)) vertretenen Auslegung des Begriffs des Nichtberechtigten herleiten, dass der Listengesellschafter hinsichtlich der Zweitbelastung „Nichtberechtigter“ ist. Geschützt werden soll jedoch nur der gute Glaube an die „Verfügungsbefugnis“ – womit die Rechtsinhaberschaft gemeint ist68. Wird der Begünstigte der Zweitverfügung nicht gegen eine bedingungsfreie Vor-

__________ 64 Die „pauschale“ Eintragung eines Widerspruchs zur Absicherung des Erwerbs empfehlen z. B. Altmeppen in Roth/Altmeppen, 6. Aufl. 2009, § 16 GmbHG Rz. 69; Klöckner, NZG 2008, 841, 842; Vossius, DB 2007, 2229, 2301; Wälzholz, MittBay Not 2008, 425, 436; a. A. Weigl, MittBayNot 2009, 116, 117. 65 Im Ergebnis (Übernahme des Risikos der Unredlichkeit des Zedenten) ebenso Schreinert/Berresheim, DStR 2009, 1265, 1267. A. A. Link, RNotZ 2009, 193, 220; Oppermann, ZIP 2009, 651, 654; Weigl, MittBayNot 2009, 116, 117. 66 Dafür, dass allgemein Fehler des Notars, der Geschäftsführer oder des Registergerichts dem Erwerber nicht zugerechnet werden: Link, RNotZ 2009, 193, 217; Apfelbaum, BB 2008, 2470, 2475; D. Mayer, DNotZ 2008, 403, 421. 67 Zu diesem Vergleich s. Link, RNotZ 2009, 193, 219 f. 68 S. hierzu die Nachweise in Fn. 32.

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belastung geschützt, so kann er – mangels einer entsprechenden Schutzvorschrift – auch nicht gegen eine aufschiebend bedingte Vorbelastung geschützt sein. § 161 Abs. 3 BGB hat insoweit keinen Anwendungsbereich. 7. In den vorstehenden Abschnitten ist der Gutglaubensschutz für den Fall erörtert, dass der ursprünglich Berechtigte aufschiebend bedingt verfügt und danach eine Zweitverfügung vornimmt. Im Folgenden wird untersucht, wie sich die Dinge gestalten, wenn ein von vorneherein nicht berechtigter Listengesellschafter unter einer aufschiebenden Bedingung über den Anteil verfügt. a) Trifft der nichtberechtigte Listengesellschafter nur eine (aufschiebend bedingte) Verfügung, so ist – vorbehaltlich der Frage des maßgeblichen Zeitpunktes (darüber unten III.) – nach Eintritt der Bedingung die Lage nicht anders, als im Fall der bedingungsfreien Verfügung eines Nichtberechtigten. b) Verfügt der nichtberechtigte Listengesellschafter nach der ersten Verfügung und vor Eintritt der für sie vereinbarten aufschiebenden Bedingung erneut über den Geschäftsanteil zugunsten eines Zweiterwerbers, so kommt ein gutgläubiger Erwerb aufgrund der zweiten Verfügung nur in Betracht, wenn der Zweiterwerber hinsichtlich der beiden Gründe des Berechtigungsmangels gutgläubig ist, also – weder den ursprünglichen Berechtigungsmangel des Verfügenden, – noch die von ihm vorgenommene aufschiebend bedingte Verfügung kennt oder ohne grobe Fahrlässigkeit kennen würde. Sind diese Voraussetzungen gegeben, so kommt auch ein gutgläubiger Erwerb aufgrund der zweiten Verfügung in Betracht. Erforderlich ist, dass hinsichtlich beider Berechtigten, also des wahren Berechtigten und des durch die erste Verfügung Begünstigten entweder die Dreijahresfrist abgelaufen oder die „Unrichtigkeit“ dem Berechtigten zuzurechnen ist. Ist die Erstverfügung wegen Bösgläubigkeit des durch sie Begünstigten unwirksam, so ist dieser nicht „Berechtigter“ mit der Folge, dass es für den gutgläubigen Erwerb aufgrund der Zwischenverfügung auf die Voraussetzungen des Gutglaubenserwerbs hinsichtlich der Rechte des Ersterwerbers nicht mehr ankommt. Das ändert sich freilich dann, wenn die Erstverfügung durch Genehmigung des wahren Berechtigten (vorbehaltlich des Eintritts der Bedingung) wirksam geworden ist. c) Ein Widerspruch kann in dieser Lage hinsichtlich desselben Geschäftsanteils sowohl zugunsten des wahren Berechtigten als auch zugunsten des Begünstigten der Erstverfügung eingetragen werden. Das ist mindestens in der Konstellation denkbar, dass der wahre Berechtigte eine einstweilige Verfügung auf Zuordnung des Widerspruchs bezüglich des Listengesellschafters erwirkt, während zugunsten des Begünstigten der Erstverfügung ein Widerspruch aufgrund Bewilligung des Listengesellschafters zugeordnet wird.

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III. Maßgeblicher Zeitpunkt Als Folge der aufschiebenden Bedingung wird die Abtretung mit Bedingungseintritt und damit zu einem Zeitpunkt nach der sonst maßgeblichen Einigung wirksam. Daraus ergibt sich die Frage, auf welchen Zeitpunkt es ankommt: – für den Stand der Liste – für den guten Glauben – für die Dreijahresfrist oder die Zurechenbarkeit der Unrichtigkeit. 1. Hinsichtlich des Listenstands Wenn zwischen der Beurkundung der Verfügung und dem Eintritt der Bedingung Änderungen in der Liste eintreten, fragt sich, ob der Listenstand im Zeitpunkt der Einigung oder derjenige im Zeitpunkt des Bedingungseintritts maßgeblich ist. In der Schwebezeit kann sich der Listenstand durch Zuordnung eines Widerspruchs oder durch Eintragung eines anderen Inhabers des Geschäftsanteils geändert haben. Grundsätzlich muss die Verfügungsbefugnis in dem Augenblick vorhanden sein, in dem die Verfügung wirksam werden soll69. Danach müsste es auf den Listenstand bei Eintritt der Bedingung ankommen. Im Einzelnen: a) Vorbild für den Widerspruch ist die entsprechende Regelung in § 892 Abs. 1 Satz 1 BGB. Danach kommt es darauf an, ob im Zeitpunkt des Rechtserwerbs ein Widerspruch eingetragen ist70. Das gilt auch in dem Fall, dass die erforderliche Einigung erst nach dem Eintragungsantrag oder sogar erst nach der Eintragung getroffen wird oder sonstige für den Rechtserwerb erforderliche Voraussetzungen erst zu einem späteren Zeitpunkt erfüllt werden71. Die Eintragung eines Widerspruchs ist auch keine Zwischenverfügung im Sinne des § 161 BGB. Grundsätzlich schadet daher ein Widerspruch, der der Liste vor Eintritt der Bedingung zugeordnet wird72. Jedoch ist hier weiter zu differenzieren: Wie im Grundbuchrecht73 steht dem Rechtserwerb nur ein „berechtigter“ Widerspruch, also der Widerspruch zugunsten des wahren Berechtigten entgegen74. Daraus folgt: Wenn der nicht berechtigte Listengesellschafter nach Be-

__________ 69 70 71 72

BGHZ 27, 360, 366. Bassenge in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 892 BGB Rz. 23 m. w. N. Gursky in Staudinger, 2008, § 892 BGB Rz. 188 ff. Götze/Bressler, NZG 2007, 894, 899; Altmeppen in Roth/Altmeppen, 6. Aufl. 2009, § 16 GmbHG Rz. 71. So im Rahmen des § 892 BGB: Gursky in Staudinger, 2008, § 892 BGB Rz. 188 ff. m. w. N. A. A. Greitemann/Bergjan in FS Pöllath & Partner, 2008, S. 271, 286, nach denen auf den Zeitpunkt der Abtretungserklärung abzustellen ist; Altmeppen in Roth/Altmeppen, 6. Aufl. 2009, § 16 GmbHG Rz. 67, der wegen der Bedingungsfeindlichkeit der Auflassung (§ 925 Abs. 2 BGB) die Literatur zu § 892 BGB nicht für einschlägig hält. Auch im Grundbuchverkehr sind jedoch bedingte Einigungen zulässig – nur die Auflassung ist bedingungsfeindlich. 73 Kohler in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 892 BGB Rz. 41; Gursky in Staudinger, 2008, § 892 BGB Rz. 132; Stürner in Soergel, 13. Aufl. 2002, § 892 BGB Rz. 27. 74 Ebenso Oppermann, ZIP 2009, 651, 654.

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urkundung der aufschiebend bedingten Abtretung die Eintragung eines Widerspruchs zugunsten eines bösgläubigen Dritten (bspw. des bösgläubigen Begünstigten einer Zwischenverfügung) bewilligt, ist dieser Widerspruch nicht zugunsten des wahren Berechtigten eingetragen, weil die Zwischenverfügung im Falle des Bedingungseintritts unwirksam ist (oben unter II.). Die Lage ist dann nicht anders, als wenn der Listengesellschafter eine Zwischenverfügung getroffen hätte. Diese wird aber (vorbehaltlich eines Gutglaubenserwerbs aufgrund der Zwischenverfügung) bei Bedingungseintritt unwirksam. b) Wird vor Bedingungseintritt der wahre Berechtigte in der Liste eingetragen, so muss dies dieselben Folgen haben, wie wenn zu seinen Gunsten ein Widerspruch eingetragen wird. Seine Eintragung als Inhaber des Geschäftsanteils vor dem Bedingungseintritt hindert also den gutgläubigen Erwerb. Dem gutgläubigen Erwerb aufgrund der aufschiebend bedingten Abtretung steht es auch entgegen, wenn ein Dritter als Berechtigter – z. B. aufgrund einer Abtretung des Berechtigten vor Eintritt der Bedingung – in der Liste eingetragen wird. Wird dagegen ein anderer Nicht-Berechtigter – gleich aus welchem Grund – vor Bedingungseintritt in die Liste eingetragen, so kann diese keine weiterreichenden Wirkungen haben, als wenn der andere von dem Listengesellschafter durch Zwischenverfügung den Anteil erworben hätte. Sofern nicht die Voraussetzungen eines Gutglaubenerwerbs dieses neuen Listengesellschafters vorliegen, geht der Ersterwerb vor. 2. Hinsichtlich des guten Glaubens Grundsätzlich muss der gute Glaube zu dem Zeitpunkt (noch) vorliegen, zu dem der Rechtserwerb erfolgen würde, wenn der Berechtigte verfügt hätte75. Im Rahmen des § 16 Abs. 3 GmbHG wird daraus bei bedingten Übertragungen zum Teil gefolgert, dass der gute Glaube des Erwerbers bis zu dem Zeitpunkt vorliegen muss, zu dem der letzte Rechtsakt stattfindet, der unter der Kontrolle der Beteiligten steht, wie beispielsweise die Zahlung des Kaufpreises76. Welcher Zeitpunkt maßgeblich ist, wenn der Erwerb noch von anderen Bedingungen, wie beispielsweise einer behördlichen oder vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung abhängig ist, ist hier nicht zu behandeln. Hier geht es allein darum, ob der für den guten Glauben maßgebliche Zeitpunkt (jedenfalls) bis zum Eintritt der Bedingung hinausgeschoben ist. Diese Frage ist in der gleichen Weise zu behandeln wie für § 892 und §§ 932 ff. BGB. Im Grundstücksverkehr ist der Gutglaubenserwerb nicht davon abhängig, dass der gute Glaube

__________

75 S. nur § 932 Abs. 1 Satz 1 BGB, Ausnahme § 892 Abs. 2 BGB. Zu § 892 BGB: BGH, NJW 2001, 359, 360; Kohler in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 892 BGB Rz. 53; Gursky in Staudinger, 2008, § 892 BGB Rz. 196. Zu § 932 BGB: Oechsler in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2009, § 932 BGB Rz. 37; Wiegand in Staudinger, 2004, § 932 BGB Rz. 92. 76 Gottschalk, DZWiR 2009, 45, 51; Götze/Bressler, NZG 2007, 894, 898 f.; D. Mayer, DNotZ 2008, 403, 422; Weigl, MittBayNot 2009, 116, 118; Zessel, GmbHR 2009, 303, 304. A. A. Greitemann/Bergjan in FS Pöllath & Partner, 2008, S. 271, 285 und Altmeppen in Roth/Altmeppen, 6. Aufl. 2009, § 16 GmbHG Rz. 66, nach denen entscheidender Zeitpunkt bereits die Abtretungserklärung sein soll.

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bis zum Eintritt einer vereinbarten Bedingung fortbesteht77. Dasselbe gilt für §§ 932 ff. BGB78. Gemäß § 932 Abs. 1 BGB wird der Erwerber vom Nichteigentümer Eigentümer der Sache, wenn er „zu der Zeit, zu der er nach diesen Vorschriften (§ 929 BGB) das Eigentum erwerben würde, in gutem Glauben ist“. Die Verweisung auf den Zeitpunkt des Rechtserwerbs meint den Zeitpunkt von Einigung und Übergabe, nicht aber den späteren Bedingungseintritt, auch wenn diese Bedingung die Zahlung des Kaufpreises ist79, also der Kontrolle des Erwerbers unterliegt. Ein erst nach dem sonst maßgeblichen Zeitpunkt aber vor Bedingungseintritt entstandener böser Glaube steht also dem gutgläubigen Erwerb nicht entgegen. 3. Hinsichtlich der Dauer oder Zurechenbarkeit der Unrichtigkeit Schließlich ist zu prüfen, nach welchem Zeitpunkt der Ablauf der Dreijahresfrist und die Frage zu beurteilen ist, ob die Unrichtigkeit dem wahren Berechtigten zuzurechnen ist. Hierfür kommt es auf den Zeitpunkt an, zu dem sich der Rechtserwerb vollziehen würde, einschließlich des Eintritts einer aufschiebenden Bedingung. Maßgeblich ist der letzte Zeitpunkt. Das entspricht der Maßgeblichkeit der Liste in diesem Zeitpunkt. Es genügt also, wenn bei Bedingungseintritt die Liste seit drei Jahren unrichtig oder dem Berechtigten die Unrichtigkeit zuzurechnen ist. Insofern ist jedoch eine Modifikation erforderlich: Wenn diese Voraussetzungen im Zeitpunkt der Einigung noch nicht vorlagen, wohl aber bei Bedingungseintritt, und umgekehrt der Erwerber im Zeitpunkt der Einigung gutgläubig war, nicht aber im Zeitpunkt des Bedingungseintritts, so kann die getrennte Betrachtung der maßgeblichen Zeitpunkte für die einzelnen Elemente nicht richtig sein. Denn in diesem Fall lagen zu keinem der beiden kritischen Zeitpunkte die Voraussetzungen des gutgläubigen Erwerbs vor: Im Zeitpunkt der Einigung war die Dreijahresfrist noch nicht abgelaufen und die Unrichtigkeit dem Berechtigten nicht zuzurechnen; die Voraussetzungen des gutgläubigen Erwerbs lagen also noch nicht vor; im Zeitpunkt des Bedingungseintritts liegen sie aufgrund mittlerweile eingetretenen bösen Glaubens des Erwerbers nicht mehr vor. Wenn zwischen Einigung und Bedingungseintritt zu einem gewissen Zeitpunkt die objektiven Voraussetzungen (Fristablauf/Zurechenbarkeit) vorlagen und zu diesem Zeitpunkt der Erwerber noch gutgläubig war, im Zeitpunkt des Bedingungseintritts aber nicht mehr, wäre es willkürlich, auf diesen Zeitpunkt abzustellen, zu dem kein Element des Rechtserwerbs verwirklicht wird.

__________ 77 Kohler in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 892 BGB Rz. 55; Gursky in Staudinger, 2008, § 892 BGB Rz. 212. 78 Oechsler in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 932 BGB Rz. 37; Wiegand in Staudinger, 2004, § 932 BGB Rz. 32. 79 BGHZ 10, 67, 73 ff.; s. bereits von Tuhr, II 2 S. 296; auf diese Parallele verweist zutreffend Altmeppen in Roth/Altmeppen, 6. Aufl. 2009, § 16 GmbHG Rz. 66.

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IV. Zusammenfassung Hat der – berechtigte – Listengesellschafter unter einer aufschiebenden Bedingung verfügt und trifft er danach eine mit der ersten Verfügung unvereinbare Zwischenverfügung, so wird der Begünstigte der ersten Verfügung grundsätzlich durch § 161 BGB geschützt. Der Begünstigte der Zwischenverfügung kann aber das Recht gutgläubig erwerben, wenn der Eintragung des Listengesellschafters kein Widerspruch zugeordnet ist und der Schwebezustand drei Jahre bestanden hat oder es dem Begünstigten der ersten Verfügung zuzurechnen ist, dass kein Widerspruch zugeordnet ist. Den Begünstigten der Erstverfügung trifft eine Obliegenheit, einen Widerspruch zuordnen zu lassen. Der maßgebliche Zeitpunkt für den Listenstand (einschließlich der Eintragung eines Widerspruchs), nicht aber derjenige für den guten Glauben des Erwerbers ist bis zum Eintritt der Bedingung hinausgeschoben. Liegen allerdings die objektiven Voraussetzungen (Listenstand und dessen Dauer oder Zurechenbarkeit) erst in diesem Zeitpunkt und die subjektiven Voraussetzungen (guter Glauber) zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vor, so scheidet ein gutgläubiger Erwerb aus.

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Pierre Mathijsen

Consumer Protection in the European Union: Who is in charge? The question „who is in charge?“ actually comes down to asking and try to determine „who is responsible for protecting consumers’ interests in Europe?“. The following remarks are based, among others, on the modified Treaty on European Union and the Treaty on the Functioning of the European Union (TFEU)1, provided for by the Lisbon Treaty2, which became applicable on the first of December, 2009. One of the most interesting novelties introduced by the TFEU is the classification of the Union’s competences in three categories, where, until now, they were enumerated in the EC Treaty without distinction3. Indeed, the amending Treaty provides for three categories of Union competences: „exclusive competence“4, „share[d] competence“5 and the „competence to carry out actions to support, coordinate or supplement the actions of the Member States“6. It is interesting also to note that the list of „shared“ competences provided for in the TFEU, is not exhaustive. Indeed, according to the TFEU, this „sharing“ applies where a competence is conferred7 upon the Union, „which does not relate to the areas referred to in Articles 3 [exclusive competence] and 6 [actions of support].“ (The lists in the latter articles are exhaustive). Furthermore, the non-exhaustive character of the list of ‚shared competences‘ in TFEU Article 4 is reinforced by the words: „[s]hared competence between the Union and the Member States applies in the following principal8 areas.“ Among the latter, one finds „consumer protection“9.

__________ 1 The TFEU replaces the European Community Treaty (EC). Where possible, the article number of the EC Treaty is given in square brackets after the number of the corresponding article in the TFEU; the reader will realise that under the TFEU all EC article numbers are changed. 2 Consolidated versions of the EU Treaty and the TEFU at [2008] Official Journal of the European Union (hereafter „O.J.“) C115. 3 EC Art. 3(1). 4 TFEU Art. 3(1). 5 TFEU Art. 4(1). 6 TFEU Art. 6. 7 The new Treaty on European Union („EU“) introduces the terms „conferral of powers“ to indicate that the Union may only act when competences have explicitly been provided: (EU Art. 5(1)): „The limits of Union competences are governed by the principle of conferral“ (See also TFEU Article 7: „the principle of conferral of powers“). 8 Emphasis added. 9 TFEU Art. 4(2)(f).

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Pierre Mathijsen

The TFEU also provides that „[c]onsumer protection requirements shall be taken into account in defining and implementing other Union policies and activities“10. These requirements thereby become part of every single Union activity; although it is not the only policy that must be taken into account in this way – the same is provided, e.g. for environment11 and regional policy12 – it confers upon consumer protection a particular place among the Union activities. This is somewhat surprising since, as indicated, the Union’s competence in this area constitutes only a „shared“ competence. But to understand the place of consumer protection within the Union’s legislation, it is necessary to first examine what is meant by „shared competence“ under the TFEU. The latter provides that „[w]hen the Treaties13 confer on the Union a competence shared with the Member States in a specific area, the Union and the Member States may legislate and adopt legal binding acts in that area“14. According to this basic rule, that area is therefore regulated, not necessarily in common, but also separately by the Union, on the one side, and by the Member States on the other. Which, in theory, could result within the Union in 27 plus 1 different legislations in the same area, with all the consequences this entails, e.g. where competition is concerned. Undertakings might chose to invest there were the requirements with regard to consumer protection are the least burdensome. However, where the Member States right to legislate is concerned, the TFEU also indicates that „[t]he Member States shall exercise their competence to the extend that the Union has not exercised its competence“15. In other words, the competence of the Member States with regard to e.g. consumer protection, is subsidiary to the Union’s competence in that area: it is only in so far as the Union has not exercised its competence, that the Member States may exercise theirs. Obviously the Union and the Member States are not, from a legislative point of view, equals. Once the Union exercises its „shared competence“, the Member States lose the right to exercise theirs. However, reference must be made here to Protocol (No 25) „on the exercise of shared competence“, attached to the TFEU, which provides that „when the Union has taken action in a certain area, the scope of this exercise of competence only covers those elements covered by the Union act in question and therefore does not cover the whole area“16.

__________ 10 11 12 13

TFEU Art. 12. [EC Art. 153(2)]. TFEU Art. 11 [EC Art. 6]. TFEU Art. 175,1. [EC Art. 159,1]. Reference is made to the „Treaties“, in the plural, since the Union is, according to Article 1,3 of the Treaty on European Union,“ founded on the present Treaty and the Treaty on the Functioning of the European Union (hereinafter referred to as ‚the Treaties‘). These two Treaties shall have the same legal value. The Union shall replace and succeed the European Community.“ 14 TFEU Art. 2(2) first sentence. 15 TFEU Art. 2(2) second sentence. 16 [2008] O.J. C115, 307.

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Consumer Protection in the European Union: Who is in charge?

Obviously the Member States were particularly jealous of their right to legislate in the areas of shared competence and wanted to make sure that when the Treaties do confer competence upon the Union in those fields, this competence remains strictly limited to certain „elements“ of that field i.e. those that are explicitly provided for in the Treaties, and does not cover the whole area! It would seem that this restriction follows automatically from the application of the principle of „conferred powers“17, and it seems therefore that the fact of making a specific mention of this limitation in a separate Protocol attached to the Treaty, indicates the importance the Member States attach to their own right to legislate in the areas of shared competence. At first sight, this seems to answer the question asked in the title: „who is in charge?“ by concluding that it is the Member States and that the legislative competence of the Union is more like a delegated competence. Indeed, the TFEU adds that „[t]he Member States shall again exercise their competence to the extent that the Union has decided to cease exercising its competence“18. This appears to give the Union a rather transitory legislative competence. This transfer of competence back to the Member States applies when the Union has decided to exercise its competence in the first place, thereby preventing the Member States from exercising theirs, and later on decides to no longer exercise its competence, thereby ‚liberating‘ the competence of the Member States. This might happen e.g. when it is discovered that the application of the principle of subsidiarity precludes Union legislation, although such a discovery is normally made by the national Parliaments before binding acts are adopted19. The principle of subsidiarity, which does not apply to areas within the exclusive competence of the Union, provides that „the Union shall act only and in so far as the proposed action cannot be sufficiently achieved by the Member States, either at central level or at regional and local level, but can rather, by reason of the scale or effects of the proposed action, be better achieved at Union level“20. Generally speaking this basic principle assigns a rather secondary role to the Union where the issue of binding acts is concerned. And this applies also, of course, to the area of consumer protection. This principle of subsidiarity seems to answer the question of ‚who is in charge‘ of the consumer protection area, as long as the Union has not yet been found to be the better legislator and has consequently exercised its competence: once again: the Member States. But, can this principle also be interpreted in the sense that when legislative action becomes mandatory to promote the interests of consumers, and because of the scale or effects of the required action it can „better“ be achieved at Union level, the latter is then obliged to legislate? The answer lies, as shall be seen, in the TFEU specific provisions concerning consumer protection21.

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See below for a more detailed reference to the „conferral“ of powers. TFEU Art. 2(2) third sentence. TFEU Art. 5(3),2. EU Art. 5(3)a. TFEU Art. 169 [EC 153].

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Before examining that provision, the question must be raised about what happens to existing Member States’ legislation and binding acts once the Union starts exercising its competence and it turns out that the Union’s legislation is in contradiction with existing Members States’ rules. The answer to this last question is, of course, simple: Union law prevails over national law; the latter ceases legally to exist in case of conflict. But, as long as there is no conflict between a national rule and the Union’s rule, both can coexist. So, are both the Union and the Member States then „in charge“ of the „consumer protection area“? To answer this last question, other TFEU provisions need to be examined. Where the relationship between the Union’s and the Member States’ legislation is concerned, it should also be noted that the TFEU provides, in the area of consumer protection, the right for the Member States to introduce „more stringent protective measures“ than those adopted by the Union22, as is the case, e.g. in the area of environment, where this is also provided for23. As long as such national ‚more stringent measures‘ are compatible with the Treaties, there is no reason to consider them as infringing Union law. The drawback is, of course, the absence of uniform legislation within the Union. The consequence of the latter on competition was briefly mentioned above. Having laid down, in the first place, a general rule for the exercise of legislative competence by the Union and, secondly, for the exercise of shared competences by the Union and by the Member States, the TFEU also provides that „[t]he scope of and arrangements for exercising the Union’s competences shall be determined by the provisions of the Treaties relating to each area“24. This implies that the rights of the Union, on the one hand, and the rights of the Member States, on the other, under the „shared competence“ regime, might be different according to the area to which it applies. The answer to the question of who is in charge of consumer protection must therefore, as indicated, be found, not only in the basic principle of subsidiarity and the general provisions just analysed, but also and probably more so, in TFEU’s Title XV on „consumer protection“, i.e. Article 169 [EC 153]. This article provides that, „[i]n order to promote the interests of consumers and to ensure a high level of protection, the Union shall contribute25 to protecting the health, safety and economic interests of consumers, as well as to promoting the right to information, education and to organize themselves in order to safeguard their interests“26.

__________ 22 TFEU Art. 169(4) [EC 153(5)]: Measures adopted by the European Parliament and the Council pursuant to Article 169(3), „shall not prevent any Member State from maintaining or introducing more stringent protective measures. Such measures must be compatible with the Treaties. The Commission shall be notified of them.“ 23 TFEU Art. 193 [EC 176]. 24 TFEU Art. 2 (6). 25 Emphasis added. 26 TFEU Art. 169(1) [153(1)].

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Besides the fact that ‚consumer protection‘ is given here a very wide interpretation since it seems to cover practically all aspects of consumers’ „interests“, what catches one’s attention is the term „contribute“27. The latter clearly indicates that the Union does not act on its own, but participates in a common enterprise i.e. „promote the interests of consumers“, leaving open the question of who takes the initiative for such an enterprise. This seems to be in contradiction with the general Treaty provisions examined above (TFEU Article 2(2)), which provide that the main actor in this field is the Union. Indeed, as indicated, according to that article, the Member States may only exercise their competence to the extend that the Union has not exercised its competence. But, on the other hand, the Treaty also provides, as was seen, that both the Union and the Member States may legislate and adopt legal binding acts. It now appears that these rules are very general provisions indicating that, in the cases of shared competence, the right to legislate is indeed „shared“ between the Union and the Member States, meaning that they both may act on their own, instead of being obliged to always act in common. Summarising, the TFEU provides for the following situation: – generally speaking, the Union may only legislate when it can do it ‚better‘ than the Member States; – shared competence does apply to the area of „consumer protection“ (TFEU Article 4), – both the Union and the Member States may legislate in this area (TFEU Article 2(2) first sentence), – Member States may only exercise their competence in so far as the Union has not exercised its competence (TFEU Article 2(2) second sentence), – the scope of and the arrangements for exercising the Union’s competence are determined by the Treaty provisions on consumer protection (TFEU Article 2(6)), – in this area the Union must „contribute“ to the attainment of the objectives set out in the Treaty (TFEU Article 169 [EC 153]). The latter being a lex specialis, it is this provision that determines, in the first place, the role of the Union in the area of consumer protection. The role of the Union in the protection of consumers’ interests as defined under the „shared competence“ regime provided for in TFEU Article 169 The Union’s contribution to consumer protection consists, in the first place, in „measures adopted pursuant to Article 11428 in the context of the com-

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27 According to Webster, to contribute means: „to give or supply in common with others“. 28 TFEU Article 114 [EC 95] concerns the approximation of laws and the provisions of the article „apply for the achievement of the objectives set out in Article 26 [EC 14].“ The latter article concerns the establishment or ensuring the functioning of the internal market. The reader will remember that the provisions of Article 114 [EC 95] were introduced by the Treaty on European Union (Maastricht), which added to the previously required unanimity, qualified majority for adopting „measures for the

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pletion of the internal market“29. According to that provision [EC 95] these measures for approximation of the provisions laid down by law, regulation or administrative action in Member States, are to be adopted by the European Parliament and the Council, after consulting the Economic and Social Committee, and acting in accordance with the ordinary legislative procedure. This procedure, provided for in TFEU Articles 289(1)30 and 294, is the normal procedure under the TFEU for adopting Union legislative acts; it corresponds grosso modo to what was generally referred to as „co-decision“ under EC Article 251. Those measures must have „as their object the establishment and functioning of the internal market“31. In the second place, TFEU Article 169 [EC 153] provides that the contribution of the Union to the promotion of the interests of consumers may take the form of „measures which support, supplement and monitor the policy pursued by the Member States“. In this case also, these measures are to be adopted by the European Parliament and the Council acting in accordance with the ordinary legislative procedure and after consulting the Economic and Social Committee. The appropriate instrument in both cases is the directive, and since this legislative act has to be adopted, inter alia, by the Council, composed of representatives of the Member States, the latter do, de facto, play a major role in the formulation and adoption of said directives, while, on the other hand, the Commission must necessarily make a proposal. In view of this procedure, one might wonder whether the answer to the question asked in the title is not simply: both the Union and the Member States acting together. This also seems to correspond to the concept of „shared“ competence. But, it also follows from both procedures that they only apply when Member States’ legislation is already in existence; in other words, the latter have taken the initiative and the role of the Union consists only in „approximating“ their existing legislations or in supporting, supplementing and monitoring the policy pursued by the Member States. However, nothing in the TFEU requires the institutions to act by way of directives, they may also act by issuing regulations. Indeed, where „the Treaties do not specify the type of act to be adopted, the institutions shall select it on a case-by-case basis, in compliance with the applicable procedures and with the principle of proportionality“32. Under this principle, „the content and form of

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approximation of the provisions laid down by law, regulation or administrative action in Member States“, thereby making it possible to complete the internal market by the end of 1992, as was required by Article 14(1) of the EC Treaty. TFEU Article 169(2)(a) [EC 153(3)(a)]. TFEU Article 289(1) : « The ordinary legislative procedure shall consist in the joint adoption by the European Parliament and the Council of a regulation, directive or decision on a proposal from the Commission.“ The ordinary legislative procedure is defined in TFEU Art. 294. It should be noted that TFEU Art. 289(1) enumerates the only binding acts provided for in the Lisbon Treaty. TFEU Art. 114(1) [95(1)]. TFEU Art. 296,1.

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union action shall not exceed what is necessary to achieve the objectives of the Treaties“33. The institutions of the Union must apply this principle as laid down in Protocol (No 2) annexed to the TFEU34. When the European Parliament and the Council issue a regulation in accordance with TFEU Article 169(2), the role of the Member States is, as indicated above, legally reduced to their participation in the preparatory phase. Practically all the existing legal acts issued by the Union in the area of consumer protection are based on TFEU Article 169(2)(a) „measures adopted … in the context of the completion of the internal market.“ According to the Commission’s website it concerns some 400 acts35; there is no indication about whether these acts were based on subparagraph (a) or (b). Some of the most important measures for both consumers and producers taken by the Union concern „product safety“36; they are based on Article EC 95, now TFEU Article 114, and „liability for defective products“37, which is based on EC Article 100, which, back in 1985, was the equivalent of what became EC Article 95 and is now TFEU Article 11438! So, both these acts are based on subparagraph (a): completion of the internal market. Under the directive on liability for defective products, only the producer can be held responsible, except in certain well defined cases were responsibility is shifted to the distributor. The Court of Justice determined that in order for the producer to incur liability the victim does not have to prove that the producer was at fault, but that the latter has a defence if he can prove certain facts exonerating him39. The Court also determined that national law may establish liability of the supplier without restriction of the producer’s fault-based liability. This constitutes an interesting example of Member States’ completing Union law with their national legislation. Other examples of the protection of the economic interests of the consumer by the Union legislator concern, inter allia, consumer credit40, the indication of prices on non-food products41, unfair terms in consumer contracts42, combat-

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EU Art. 5(4). [2008] O.J. C115, 307. http://eur-lex.europa.eu/en/legis/latest/chap15.htm. Directive 2001/95 : [2001] O.J. L11/04 on general product safety. Directive 85/374 : [1985] O.J. L 210/29, as amended. The constant modification of the article numbering in the European Treaties by successive modifying Treaties places the practitioner of Union law and the Union law professor, not to mention the European courts, in an extremely difficult situation; a typical example are the provisions concerning competition: under the Coal and Steel Community, they were for cartels: Article 65 and for abuse of dominant positions: Article 66, under the EEC Treaty they became Articles 85 and 86, under the EC Treaty: 81 and 82, and now under the TFEU: 101 and 102., while the content has not changed by one iota. Case C-300/95, Commission v. U.K.,[1997] E.C.R. I-2649. Directive 87/102: [1987] O.J. L42/48. Directive 88/314: [1988] O.J. L142/19. Directive 93/13: [1993] O.J. L95/29.

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ing late payments in commercial transactions43, misleading advertising44, protection in respect of distance contracts45 and electronic commerce46. Besides the protection of economic interests, there are other domains where the Union has been very active such as the promotion of safety and health and more particularly food safety47. It might be interesting to note what the Commission refers to as the „Ten basic principles of consumer protection“48: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Buy what you want, where you want If it doesn’t work, send it back High safety standard for food and other consumer goods Know what you are eating Contracts should be fair to consumers Sometimes consumers can change their minds Making it easier to compare prices Consumer should not be misled Protection while you are on holyday Effective redress for cross-border disputes.

The question concerning who is in charge of protecting the consumer has its importance not only because of the above mentioned principle of subsidiarity: i.e. the Union may only legislate when it can do this „better“ that the Member States, but because, as indicated above, the one in charge is the one who is responsible. In other words, who does the consumer turn to in order to have his/her interests promoted and protected. This question should not surprise since the citizen, in this case as consumer, plays, under the TFEU, a new role. Indeed, „any citizen of the Union shall have the right to address, individually or in association with other citizens or persons, a petition to the European Parliament on a matter which comes within the Union’s fields of activity and which affect him, her or it directly49. The Treaties also provide that, the institutions must „by appropriate means, give citizens and representative associations the opportunity to make known and publicly exchange their views in all areas of Union action“50. But, more important is the „citizens’ initiative“ introduced by the EU Treaty: „[n]ot less than one million citizens who are nationals of a significant number of Member States may take the initiative of inviting the European Commission, within the framework of its powers, to

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Directive 2000/35 : [2000] O.J. L200/35. Unfair Commercial Practice Directive: [2005] O.J. L149/23. Directive 97/7 : [1997] O.J. L144/19. Directive 2000/31: [2000] O.J. L178/1. See, for instance, Directive 2000/13: [2000] O.J. L109/29 on labeling, presentation and advertising of foodstuffs and Regulation 178/2002: [2002] O.J. L31/1 laying down the general principles and requirements of food law, establishing the European Food Safety Authority and laying down procedures in matters of food safety. 48 http://eu.europa.ec/int.comm/consumers/overview/index_en.htm. 49 TFEU Art. 227 [EC 194]. 50 EU Art. 11(1).

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submit any appropriate proposal on matters where citizens consider that a legal act of the Union is required for the purpose of implementing the Treaties“51. The procedure and conditions required for such a citizens’ initiative shall be determined in accordance with the first paragraph of Article 24 of the TFEU52. The question could be asked whether it is justified to classify „consumer protection“ as a „shared competence“ rather than an exclusive competence of the Union The consumer, under the European Treaties is closely linked to most of the fundamental activities of the Union. Who is, e.g. the main beneficiary of the free movement of goods? : the end consumer; indeed, free movement of goods does exist when the „consumer“ is free to choose the products he wants to acquire, whatever their origin. The same applies to services: who is the beneficiary of the services provided either by individuals such as doctors, nurses, architects or lawyers or by undertakings such as banks?, again the consumer. Obviously the same applies to the free movement of persons, the freedom of establishment and the free movement of capital and payments. It is even evident, in a certain sense, for the European competition rules: it suffices to think about the definition given by the Court of Justice of „dominant position“53: such a position exists for an undertaking when its economic strength allows it to behave to an appreciable extent „independently of its competitors and customers and ultimately of its consumers“54. The fate of the consumer, and therefore also of its protection, is intimately linked with the implementation of these rules and others in various areas; the consumer is practically part of all of them. Although one must ascertain that the rules governing those areas are also part of the shared competences of the Union55, one might nevertheless wonder whether it would not be more efficient to have „consumer protection“ part of the „exclusive competences“ of the Union, the more so since the Union legislation in this area is, as was seen, very extensive indeed and practically does cover all aspects of consumer protection. Conclusion Legally speaking, the area of consumer protection is the responsibility of the Union and of the Member States, acting either separately or together. In prac-

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51 EU Art. 11(4),1. 52 EU Art. 11(4),2. TFEU Art. 24 provides that the European Parliament and the Council, acting by means of a regulation in accordance with the ordinary legislative procedure, shall adopt the provisions and conditions required for citizens’ initiative, including the minimum number of Member States from which such citizens must come. 53 TFEU Art. 102. [EC Art. 82). 54 Case 302/81, Michelin versus Commission, [1983] European Court Reports page 3461, at 3503 (30). 55 TFEU Art. 3(1).

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tice, it appears, on the basis of the extensive body of existing legislation, that it is the Union who has taken the leading role. However, one should not exaggerate this ‚division‘ between Union and Member States, for the simple reason that Union legislation, especially when it takes the form of directives issued by the European Parliament and the Council, is, as shown, a common enterprise of the Union and the Member States acting together. It must therefore be accepted that, although the main body of legislation is of Union origin, the rules concerning consumer protection will vary from Member State to Member State. One could repeat and adapt here the words of the Court of Justice in the famous Cassis de Dijon case56: „in the absence of common rules relating to the [protection of consumers’ interests], it is for the Member States to regulate all matters relating to the [protection of consumers’ interests] on their own territory“ and that, consequently „disparities between the national laws relating to [the protection of consumers’ interests] must be accepted in so far as these provisions may be recognised as being necessary.“ The question therefore is not whether this is an ideal situation, since it will easily be admitted that the Union is a construction sui generis wherein a central authority co-exists with several national States, with each one its own sphere of responsibilities and activities. The European Treaties determine, as was seen above, the areas in which the Member States and the Union exercise their respective powers and the limits of these concurrent spheres of legislative competence. Between these two sets of rules, the consumer should find the necessary protection and the answer to the question asked in the title becomes evident: in Europe, both the Union and the Member States are in charge of protecting the consumer, although the Union does play the major role, since its legislation promotes practically all the „interests“ of the consumer, and better than the Member States could do it.

__________ 56 Case 120/78, Rewe-Zentral AG v. Bundesmonopolverwaltung für Brantwein: [1979] E.C.R. 649.

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Schadet das Verblistern dem Patienten? Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die rechtlichen Grundlagen des Verblisterns 1. Die Herstellererlaubnis 2. Zulassungspflicht 3. Die Kennzeichnung verblisterter Arzneimittel und deren Packungsbeilage

2. Die Haftung für Arzneimittelblister nach dem Produkthaftungsgesetz 3. Die Haftung der Hersteller verblisterter Arzneimittel 4. Haftungskonkurrenz zwischen Arzneimittel- und Produkthaftungsgesetz IV. Fazit

III. Die Haftung für verblisterte Arzneimittel 1. Die Haftung für Arzneimittelblister nach § 84 AMG

I. Einleitung Die Art und Weise der Arzneimittelversorgung hat sich über die Jahrhunderte stark verändert. „Früher“ waren es die Apotheker, die für die Arzneimittelherstellung ausschließlich zuständig waren. Arzneimittel wurden immer individuell für den einzelnen Patienten hergestellt. Die Herstellung von patientenindividuellen Arzneimitteln, die Herstellung von Rezepturarzneimitteln, ist auch heute noch eine wichtige Aufgabe der Apotheken, jedoch nicht mehr ihr Schwerpunkt. Mit dem Beginn der Industrialisierung im letzten Jahrhundert hat sich auch die Arzneimittelherstellung industrialisiert. Heute sind industriell hergestellte Fertigarzneimittel die Regel. Fertigarzneimittel haben eine vom Hersteller vorgegebene Packungsgröße. Handelt es sich um verschreibungspflichtige Arzneimittel, erhält der Patient vom Arzt eine Verschreibung für ein bestimmtes Arzneimittel in einer bestimmten Packungsgröße (N1, N2, N3). Das Rezept löst der Patient in der Apotheke ein. Handelt es sich um ein nicht verschreibungspflichtiges Arzneimittel, erhält der Patient dieses – regelmäßig nach Beratung – in der Apotheke in der für den voraussichtlichen Gebrauch notwendigen Größe. Viele Patienten haben oft mehrere Arzneimittel einzunehmen: Eine Tablette am Morgen, eine Tablette am Abend, die grüne vor dem Mittagessen und die gelbe danach. Gerade auch bei älteren Patienten entsteht hierdurch die Gefahr, dass Arzneimittel nicht oder zum falschen Zeitpunkt eingenommen werden. Durch die dann falsche Medikamentation wiederum kann der Therapieerfolg 517

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als solches infrage gestellt sein mit dem Risiko, dass hierdurch erhebliche Mehrkosten entstehen. Die Kosten für mangelnde Therapietreue werden für das deutsche Gesundheitswesen auf etwa 10 Milliarden Euro jährlich geschätzt1, die sich in den daraus entstehenden zusätzlichen ärztlichen Leistungen, Arbeitsausfällen usw. widerspiegeln. Durch die vorkonfektionierten Fertigarzneimittel können Restmengen entstehen, da für den Therapieerfolg nicht immer die vollständige Packung benötigt wird oder auch weil der Patient verstirbt. Diese – von der Krankenkasse bezahlten – Arzneimittel müssen dann vernichtet werden. Befürworter des Verblisterns sehen hierin ein erhebliches Einsparpotenzial2. Um die Übersicht zu wahren und die Einnahme der Arzneimittel zu sichern, gab und gibt es Dosiersysteme, kleine Behältnisse, in denen die Arzneimittel auf Tages- oder Wochenbasis zusammengestellt werden. In den Krankenhäusern oder Pflegeheimen werden diese Gefäße vom Pflegepersonal bestückt, die Arzneimittel werden „gestellt“. In den letzten rd. sechs Jahren wird auch in Deutschland vermehrt eine Technik angeboten, mit der das Stellen der Arzneimittel ersetzt werden soll, das sogenannte „Verblistern“. Beim Verblistern werden einzelne (hierfür geeignete) Arzneimittel in der Reihenfolge des Einnahmezeitpunktes verpackt. Das Verblistern wird überwiegend in der Heimund teilweise in der Krankenhausversorgung eingesetzt. Beim Verblistern werden Fertigarzneimittel aus dem Ursprungsblister ausgeeinzelt und nach einer Umsortierung neu verpackt, „verblistert“. Es werden nicht mehr die vom Arzt einem bestimmten Patienten verschriebenen Fertigarzneimittel in ihrer Originalverpackung an den Verbraucher bzw. das Heim abgegeben, sondern patientenbezogene Wochen- oder Monatspackungen, in denen sich in den unterschiedlichen Blistern für jeden Tag geordnet nach den jeweiligen Einnahmezeiten bereits die (neu) abgepackten Arzneimittel befinden3. Gängig sind Unitdose Blister, bei denen jeweils eine Tablette in einem Blister ist und sog. Multidose Blister, die mehrere Arzneimittel enthalten, die zu einem Zeitpunkt einzunehmen sind. Zum Verblistern geeignet sind nur feste, oral einzunehmende Arzneimittel. Durch das Verblistern kommt es in Heimen zu Zeitersparnissen des Pflegepersonals, weil das Stellen als zeitintensive Vorbereitung der Arzneimittelabgabe wegfällt. Zudem erhöht es die Sicherheit der Patienten/Heimbewohner, weil die Zuordnung der Arzneimittel zum Empfänger sowie deren Verblisterung professionell und unter besseren hygienischen Bedingungen erfolgt4. Außerdem verringert das Verblistern das

__________ 1 Newsletter des Apothekerverbandes Brandenburg, März 2007. 2 Die Möglichkeit der tablettengenauen Abrechnung ergibt sich nunmehr aus § 1 Abs. 3 Nr. 7 Arzneimittelpreisverordnung – AmPreisVO, was allerdings wiederum einer entsprechenden Verschreibung durch den Arzt bedarf. Inwieweit – wenn nicht alle Apotheken die Verblisterung anbieten – eine unzulässige Absprache gemäß § 11 Apothekengesetz – ApoG anzunehmen sein könnte, ist noch ungeklärt. Des Weiteren ist es nach derzeitiger Rechtslage ungeklärt, ob Apotheken, die aus verschiedenen Packungen verblistern, bei ihnen verbliebene Restbestände anderweitig verwerten können. 3 Voit, PharmR 2007, 1. 4 Voit, PharmR 2007, 1, 2; Grau/Kutlu, A&R 2009, 153, 160.

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Schadet das Verblistern dem Patienten?

Fehlerrisiko, das beim Stellen der Arzneimittel dadurch latent gegeben ist, dass das Stellen der Arzneimittel durch das Pflegepersonal oft in den Abendstunden und als Zeitfüller ausgeübt wird. Im Rahmen der Heimversorgung gemäß § 12a ApoG, kann das Verblistern von der versorgenden Apotheke angeboten werden. Die Apotheke erhält die einzelnen Verschreibungen, nimmt aus den verschriebenen Verpackungen die Arzneimittel heraus und verblistert diese neu entsprechend den Einnahmezeitpunkten. Die Verblisterung erfolgt regelmäßig durch Blisterautomaten und nicht per Hand. Die Zuordnung der einzelnen Arzneimittel zu den jeweiligen Patienten erfolgt durch ein Medikationsprofil. Werden z. B. aus einer 50iger Packung 14 Tabletten für einen Wochenblister benötigt, werden die verbliebenen 36 Tabletten in das Medikationsprofil eingestellt. Hierdurch können jedem Patienten „seine Arzneimittel“ zugeordnet werden, soweit sie noch nicht verblistert sind. Zudem gibt es Bemühungen, patientenindividuell-verblisterte Arzneimittel, die nach einer Verschreibung des Arztes zusammengestellt sind, über Apotheken zu vertreiben5. In dieser Variante ist dann das Ausblistern individuell verschriebener Packungsgrößen nicht notwendig. Ebenso entfällt das Bedürfnis eines Medikationsprofiles, weil es Patienten zugeordnete „Restarzneimittel“ nicht gibt. Die Fertigung dieser Blister erfolgt nicht notwendiger Weise durch die Apotheken selbst, sondern ebenfalls durch eigenständige Unternehmen, bei denen die Apotheken – wie sonst beim Hersteller oder beim Großhändler – die benötigten und patientenindividuell hergestellten Blister bestellen. Eine gesetzliche Regelung für das Verblistern von Arzneimitteln ist mit den 14. und 15. Novellen zum Arzneimittelgesetz-AMG eingeführt worden, und zwar in § 4 Abs. 1 und § 21 Abs. 2 AMG. Zur Anpassung an das Gemeinschaftsrecht definiert § 4 Abs. 1 Satz 1 AMG Fertigarzneimittel nunmehr als Arzneimittel, die im Voraus hergestellt und in einer zur Abgabe an den Verbraucher bestimmten Packung in den Verkehr gebracht werden oder als andere zur Abgabe an den Verbraucher bestimmte Arzneimittel, bei deren Zubereitung in sonstiger Weise ein industrielles Verfahren zur Anwendung kommt oder die, ausgenommen in Apotheken, gewerblich hergestellt werden. In § 21 Abs. 2 Nr. 1b AMG wurde klargestellt, dass aus im Geltungsbereich des AMG zugelassenen Arzneimitteln hergestellte Blister mit unveränderten Arzneimitteln nicht der Zulassung bedürfen. Diese Neuregelung ist zugeschnitten auf die Herstellung der Blister durch ein Drittunternehmen im Auftrag bzw. auf Bestellung der Apotheken (auch industrielle Verblisterung). Es gibt jedoch auch eine Vielzahl von Apotheken, die Arzneimittel ausschließlich für eigene Patienten, regelmäßig im Rahmen der Heimversorgung nach § 12a ApoG verblistern. Im Rahmen der teleologischen Interpretation sind angesichts der pharmazeutischen Kompetenz der Apotheken die Vorschriften jedoch so zu verstehen, dass eine Verblisterung der Arzneimittel durch Apotheken für den eigenen Gebrauch mit erfasst ist. Mit dieser Gesetzesänderung wollte der Ge-

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5 Eine untergesetzliche Vorgabe ist mit § 2 Abs. 1 Nr. 4a Arzneimittelverschreibungsverordnung-AMVV schon gegeben.

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setzgeber durch die Verringerung der Menge der abgegebenen Arzneimitteleinheiten die Therapiekosten senken und gleichzeitig sicherstellen, dass die für diese Art der Arzneimittelversorgung benötigten Arzneimittel in Deutschland zugelassen sind6. Im Rahmen der Gesetzesnovellen blieb jedoch ungeklärt, wie die Haftung zwischen den Herstellern der zu verblisternden Arzneimittel und den verblisternden Apotheken bzw. der von ihnen beauftragten Blisterhersteller zu verteilen ist. Insbesondere ist ungeklärt, ob die Patienten für den Vorteil der einnahmevereinfachten Arzneimittelpräsentation durch den Blister haftungsrechtlich Nachteile in Kauf nehmen müssen, weil sie möglicherweise gegenüber dem pharmazeutischen Unternehmer, der die verblisterten Arzneimittel hergestellt hat, den verbraucherfreundlichen Haftungsanspruch nach § 84 AMG verlieren. Die nachfolgenden Erwägungen sollen zu einer Klärung beitragen.

II. Die rechtlichen Grundlagen des Verblisterns Dem Verblistern ist eigen, dass bereits für den Verkehr zugelassene Fertigarzneimittel aus deren Verpackung entnommen und dann patientenindividuell neuverblistert werden. 1. Die Herstellererlaubnis Das Verblistern erfüllt den Tatbestand des § 4 Nr. 14 AMG, der das Herstellen von Arzneimitteln definiert als das Gewinnen, das Anfertigen, das Zubereiten, das Be- oder Verarbeiten, das Umfüllen einschließlich Abfüllen, das Abpacken, das Kennzeichnen und die Freigabe von Arzneimitteln und ist somit Herstellung eines Arzneimittels. Insoweit stellt sich die Frage, ob es für das Verblistern der Arzneimittel einer Herstellererlaubnis gemäß § 13 AMG bedarf. Nach dieser Vorschrift benötigt eine Erlaubnis, wer Arzneimittel zum Zwecke der Abgabe an andere herstellt. Derjenige, der die Verblisterung nach einer tablettenspezifizierten Verschreibung eines Arztes für die Apotheke zur Abgabe an den Kunden herstellt, erfüllt dieses Kriterium. Demgegenüber bestehen Bedenken gegen die Annahme einer „Abgabe an andere“ für den Fall, in dem ein Apotheker im Rahmen der Heimversorgung Arzneimittel verblistert, die unter Angabe einer Packungsgröße verschrieben wurden. Denn dann wird das Arzneimittel eines bestimmten Patienten für diesen verblistert. Insoweit könnte es sich auch um eine Dienstleistung für den jeweiligen Patienten handeln, nämlich das Umfüllen „seines Arzneimittels“. In diesem Falle wäre ein Herstellen zur Abgabe an andere zu verneinen, da das Arzneimittel des Patienten für diesen Patienten verblistert wird. Die Frage soll jedoch an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden, da nach ganz herrschender Meinung7 das Verblistern durch eine Apotheke für die eigenen

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6 Dettling, PharmR 2008, 96, 97. 7 OVG Lüneburg, Urt. v. 16.5.2006 – 11 LC 265/05, GesR 2006, 461; zustimmend in seiner Anmerkung zu diesem Urteil Gabriel, GesR 2006, 466.

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Kunden eine apothekenübliche Dienstleistung darstellt, die gemäß § 13 Abs. 2 Nr. 1 AMG keiner Herstellungserlaubnis bedarf. Dies soll unabhängig von der Anzahl der Verblisterungen gelten. Auch wenn eine Apotheke überdurchschnittlich viele Heime versorgt und für diese die Arzneimittel verblistert, bleibt die Verblisterung eine apothekenübliche Dienstleistung, da für die Apotheken die Anzahl der möglichen zu versorgenden Heime nicht begrenzt ist. Zwar mag ggf. eine Großherstellung im Sinne von § 9 Apothekenbetriebsordnung – ApoBO vorliegen, aber auch diese kann sich im Rahmen des üblichen Apothekenbetriebes halten, was bei einer Verblisterung von Arzneimitteln für Heime, mit denen Versorgungsverträge bestehen, grundsätzlich der Fall ist8. 2. Zulassungspflicht Fertigarzneimittel sind grundsätzlich zulassungspflichtig (§ 21 AMG). Gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 1b AMG bedürfen jedoch keiner Zulassung Arzneimittel, die für Apotheken, denen für einen Patienten eine Verschreibung vorliegt, aus im Geltungsbereich des AMG zugelassenen Arzneimitteln als Blister aus unveränderten Arzneimitteln hergestellt werden. Demzufolge ist die Verblisterung von Großgebinden, sogenannter Bulkware ausgeschlossen, weil diese keine Zulassung i. S. von § 21 AMG besitzen. Möglich ist aber eine Verblisterung aus Großpackungen. Hier hat die Industrie zum Teil schon reagiert und die Zulassung von Großpackungen beantragt. Auch wenn die Bestimmung Bezug nimmt auf die Herstellung von Blister „für Apotheken“, so gilt die Ausnahme von der Zulassungspflicht auch für Blister, die von Apotheken selbst hergestellt sind9. Aus der Regelung in § 21 Abs. 2 Nr. 1b AMG ergibt sich im Umkehrschluss, dass der Gesetzgeber davon ausgeht, dass es sich bei den Blistern um ein Fertigarzneimittel nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AMG handelt, obwohl es auf den individuellen Patienten abgestimmt ist. Und dies gilt grundsätzlich für alle Formen der Verblisterung. Eine Abgrenzung dahingehend, dass nur im Wege der industriellen Herstellung für die Apotheke ein Fertigarzneimittel vorliegt, bei Herstellung eines Blisters von der Apotheke für die eigene Apotheke hingegen nicht10, verwischt die Abgrenzung zwischen Rezeptur und Fertigarzneimittel11. Für die Feststellung, ob ein Fertigarzneimittel vorliegt, ist die qualitätskonstituierende Herstellungsphase in Abgrenzung zur qualitätskonservierenden Herstellung maßgeblich. Ein Fertig-

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8 OVG Lüneburg, Urt. v. 16.5.2006 – 11 LC 265/05, GesR 2006, 461. 9 Dettling, PharmR 2008, 96, 99. 10 So OVG Lüneburg, Urt. v. 16.5.2006 – 11 LC 265/05, GesR 2006, 461, 462, 464 und Voit, PharmR 2007, 1, 2, der aus diesem Grunde sogar annimmt, dass die Apotheken für die Verblisterung Bulkware nutzen könnten, da die Verblisterung individuell zugeschnittenen Rezeptur ähnele. 11 Würde die Apotheke, die sowohl für die eigene Heimversorgung verblistert aber – ggf. mit Herstellererlaubnis – auch für die benachbarte Apotheke für sich kein, für die benachbarte Apotheke aber Fertigarzneimittel herstellen? Eine solche Unterscheidung ist sachlich nicht gerechtfertigt. Insoweit ist der Herstellungsprozess kein taugliches Abgrenzungskriterium.

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arzneimittel liegt nur dann vor, wenn die stoffliche Arzneimitteleinheit vollständig industriell oder schon vor der ärztlichen Verschreibung oder Bestellung vollständig zubereitet wurde und danach an der stofflichen Arzneimitteleinheit keinerlei pharmazeutisch relevanten, molekularen Veränderungen (= qualitätskonstituierend) mehr vorgenommen werden. Werden dagegen in der Apotheke noch quantitative oder qualitative molekulare Veränderungen an dem im oder am Körper anzuwendenden Stoff vorgenommen, liegt ein Rezepturarzneimittel vor12. Bei der Verblisterung in der Apotheke oder bei einem beauftragten Lohnhersteller werden keine qualitätskonstituierenden Herstellungsschritte vorgenommen. Die stoffliche Zusammensetzung der umgepackten Arzneimitteleinheit bleibt dieselbe. Es werden demnach nur qualitätskonservierende Herstellungsschritte durchgeführt und das verblisterte Arzneimittel bleibt ein Fertigarzneimittel. Und auch die Verblisterung in der Apotheke erfolgt nicht händisch, sondern durch eigens hierfür entwickelte Automaten, was durchaus auch als industrielles Verfahren bezeichnet werden könnte13. 3. Die Kennzeichnung verblisterter Arzneimittel und deren Packungsbeilage Fertigarzneimittel unterliegen der Kennzeichnungspflicht gemäß § 10 AMG. Nach § 10 Abs. 11 AMG sind verblisterte Arzneimittel, weil sie aus Fertigarzneimitteln entnommene Teilmengen und zur Anwendung beim Menschen bestimmt sind, mit einer Kennzeichnung zu versehen, die mindestens den Anforderungen des § 10 Abs. 8 AMG entspricht. Danach sind Durchdrückpackungen mit dem Namen oder der Firma des pharmazeutischen Unternehmers, der Bezeichnung des Arzneimittels, der Chargenbezeichnung und dem Verfalldatum zu versehen. Diese Blisterkennzeichnung mit dem Namen des pharmazeutischen Unternehmers soll dem Verbraucher ermöglichen, bei auftretenden Nebenwirkungen oder sonstigen Unregelmäßigkeiten im Zuge der Anwendung des Arzneimittels den Zulassungsinhaber zu ermitteln14. Bei patientenindividuellen Arzneimittelblistern stellt sich die Frage, wer der pharmazeutische Unternehmer ist, der gem. § 10 Abs. 8 AMG auf dem Blister angegeben werden muss. Nach § 4 Abs. 18 AMG ist pharmazeutischer Unternehmer neben dem Inhaber der Zulassung oder Registrierung auch, wer Arzneimittel unter seinem Namen in den Verkehr bringt. Inverkehrbringen ist wiederum das Vorrätighalten zum Verkauf oder zu sonstiger Abgabe, das Feilhalten, das Feilbieten und die Abgabe an andere (§ 4 Abs. 17 AMG).

__________ 12 Dettling, PharmR 2008, 27, 32. 13 Im Zusammenhang mit der Zulassungspflicht kann dahingestellt bleiben, ob es sich bei dem in der Apotheke hergestellten Blister um ein Fertigarzneimittel handelt oder um eine Rezeptur, da in beiden Fällen eine Zulassungspflicht nicht besteht. 14 Rehmann, AMG-Kommentar, 3.Aufl., § 10 Rz. 28: Rehmann sieht hierin eine unzureichende Umsetzung der EU-Richtlinie, denn es wäre anstelle des pharmazeutischen Unternehmers die zur Inverkehrgabe des Arzneimittels berechtigte Person in das AMG aufzunehmen gewesen.

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Insoweit kommen als pharmazeutische Unternehmer neben dem Inhaber der Zulassung des verblisterten Arzneimittels sowohl die Apotheke als auch das Blisterunternehmen, das für die Apotheke die Blister herstellt, in Betracht. Es erscheint unpraktisch, wenn jeder dieser pharmazeutischen Unternehmer auf dem Blister benannt werden müsste. Es könnten zudem zu viele pharmazeutische Unternehmer zu nennen sein, wenn mehrere Arzneimittel verschiedener Hersteller in einem Blister zusammengefasst sind. Dies kann zu Verwirrung beim Verbraucher führen. Geht man davon aus, dass es sich bei dem Blister um ein neu hergestelltes Fertigarzneimittel handelt, das von der Zulassung ausgenommen ist, ist es sachgerecht, nicht den Zulassungsinhaber als pharmazeutischen Unternehmer zu nennen, der ja nur eine Art Vorprodukt für den Blister liefert. Im Falle der Eigenverblisterung ist es sachgerecht die Apotheke zu nennen. Und im Falle der Fremdverblisterung für die Apotheke entweder den Verblisterer oder die Apotheke, denn auch der Verblisterer bringt durch die Lieferung an die Apotheke das von ihm hergestellte Arzneimittel in den Verkehr15. Wer letztlich von beiden zu nennen ist, oder ob beide gemeinsam genannt werden, sollte sich nach vertraglicher Absprache der Beteiligten richten16. Es ist also ebenfalls möglich, dass sich beide zum pharmazeutischen Unternehmer erklären, wobei der Mitvertrieb im AMG zwar nicht geregelt aber allgemein anerkannt ist17. Die selbstverblisternde Apotheke hat darüber hinaus § 14 Abs. 1 Satz 2 ApoBO zu beachten. Danach hat die Apotheke bei Abgabe von Arzneimitteln, die aus Fertigarzneimitteln enthaltene Teilmengen enthalten, neben der soeben erörterten und vom AMG geforderten Kennzeichnung Name und Anschrift der Apotheke anzugeben. Mit dieser Kennzeichnung ist der verblisternde Apotheker pharmazeutischer Hersteller nach § 4 Abs. 18 Satz 2 AMG, denn pharmazeutischer Hersteller ist auch, wer Arzneimittel unter seinem Namen in den Verkehr bringt. Im Übrigen ist gemäß § 11 Abs. 7 Satz 1 AMG bei Abgabe der verblisterten Arzneimittel eine Ausfertigung der Packungsbeilage beizugeben. Dies kann nur entfallen, wenn die Pflichtangaben für eine Packungsbeilage gemäß § 11 Abs. 1–4 AMG auf dem Behältnis oder der äußeren Umhüllung stehen. Abweichend von § 11 Abs. 7 Satz 1 AMG müssen bei der im Rahmen einer Dauermedikation erfolgenden regelmäßigen Abgabe von aus Fertigarzneimitteln entnommenen Teilmengen in neuen, patientenindividuell zusammengestellten Blistern Ausfertigungen der für die jeweiligen Fertigarzneimittel vorgeschriebenen Packungsbeilagen erst dann erneut beigefügt werden, wenn sich diese gegenüber den zuletzt beigefügten geändert haben18. Bei der Heimversorgung werden die Packungsbeilagen regelmäßig auf den Stationen hinterlegt.

__________ 15 16 17 18

Rehmann, AMG-Kommentar, 3. Aufl., § 4 Rz. 19. Grau/Kutlu, A&R 2009, 153, 157. Grau/Kutlu, A&R 2009, 153, 157 unter Hinweis auf BVerwG, PharmR 2004, 93. § 11 Abs. 7 Satz 3 AMG.

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III. Die Haftung für verblisterte Arzneimittel Grundsätzlich geht die Erwartung der Verbraucher an Arzneimittel dahin, dass diese therapeutische Wirkung entfalten, den Schmerz der Erkrankten lindern und helfen, gesund zu bleiben oder gesund zu werden. Erfüllt sich diese Erwartung nicht oder kehrt sie sich sogar in ihr Gegenteil, fügt das Arzneimittel, anstatt zu heilen, eine weitere Verletzung hinzu, stellt sich die Frage der Haftung, und bei Fertigarzneimitteln, die industriell gefertigt werden, die der Produzentenhaftung in akzentuierter Form19. Grundsätzlich kann sich der Verbraucher auf den Schutz nach dem Produkthaftungsgesetz – ProdHaftG – berufen. Das auf einer EG-Richtlinie20 beruhene Gesetz soll ausweislich deren Präambel vor allem das Niveau des Verbraucherschutzes bei Schädigungen durch fehlerhafte Produkte angleichen. Die Haftung nach dem ProdHaftG ist allein an das Inverkehrbringen eines fehlerhaften Produktes durch den Hersteller geknüpft, ohne dass es zusätzlich auf ein Verschulden im Sinne persönlicher Vorwerfbarkeit ankäme21. Die Haftung nach dem AMG ist älter als die Haftung nach dem ProdHaftG. Ihr paralleles Bestehen ist dabei problematisch22, und wegen § 15 ProdHaftG schließt sich ihre gleichzeitige Anwendung sogar aus. Dennoch besteht insoweit Übereinstimmung, dass auch die Haftung nach dem AMG demselben Ansatz wie das ProdHaftG folgt und die Einstandspflicht des pharmazeutischen Unternehmers an die Inverkehrgabe eines fehlerhaften Produktes geknüpft ist23. 1. Die Haftung für Arzneimittelblister nach § 84 AMG Wegen der besonderen Gefährlichkeit von Arzneimitteln hat der Gesetzgeber mit §§ 84 ff. AMG besondere Haftungsgrundlagen für Schäden durch Arzneimittel geschaffen. Diese besonderen Vorschriften dienen einem höheren Verbraucherschutz, der vor allem durch den Gefährdungshaftungstatbestand zum Ausdruck kommt. Die Gefährdungshaftung ist die typische Antwort des Gesetzgebers auf schwer kontrollierbare Risiken – wie beim Einsatz von Arzneimitteln – der modernen Industriegesellschaft24. Zeigt ein verwendetes Arzneimittel unerwünschte Nebenwirkungen und führt dies zu einem Körper- oder Gesundheitsschaden besteht ein Anspruch aus § 84 AMG auf Ausgleich der erlittenen Schäden. Besonderheit dieses Schadenersatzanspruches ist die soeben erwähnte Unabhängigkeit von einem Verschulden des Schädigers, im Falle von § 84 Abs. 1 AMG dem pharmazeutischen Unternehmer. Haftungsvoraussetzung ist, dass das Arzneimittel bei be-

__________ 19 20 21 22 23 24

Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 6. Aufl., Rz. 1473. 85/374/EWG, geändert durch 99/34/EG. Wagner in MünchKomm.BGB, 5. Aufl., ProdHaftG Einl. Rz. 14. Wagner in MünchKomm.BGB, 5. Aufl., ProdHaftG § 15 Rz. 4 ff. Wagner in MünchKomm.BGB, 5. Aufl., ProdHaftG § 15 Rz. 4. Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 6. Aufl., Rz. 1476.

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stimmungsgemäßen Gebrauch schädliche Wirkungen hat, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen, ihre Ursache im Bereich der Entwicklung und Herstellung oder in einer nicht den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft entsprechenden Kennzeichnung, Fachinformation oder Gebrauchsinformation haben und hierdurch ein Mensch getötet oder in seiner Gesundheit nicht unerhebliches verletzt wird. Durch die AMG-Gesetzesnovelle im Jahr 2002 wurden wesentliche Änderungen der haftungsrechtlichen Vorschriften eingeführt25. So sieht das AMG in den §§ 84 ff. mittlerweile einen Auskunftsanspruch, die Umkehr der Beweislast für den Nachweis des Fehlers im Bereich der Entwicklung und Herstellung sowie die Kausalitätsvermutung zwischen diesem Fehler und dem eingetretenen Schaden vor. Schließlich sind in diesem Rahmen ebenfalls der Anspruch auf Schmerzensgeld erweitert und die Haftungshöchstgrenzen erhöht worden. Dies soll es dem Patienten erleichtern, etwaige Haftungsansprüche durchzusetzen. Die Haftung gemäß § 84 Abs. 1 AMG besteht aber nur für Arzneimittel, die der Pflicht zur Zulassung unterliegen oder durch Rechtsverordnung von der Zulassungspflicht befreit worden sind. Verblisterte Arzneimittel sind jedoch durch Gesetz, nämlich nach § 21 Abs. 2 Nr. 1b AMG, von der Zulassungspflicht ausgenommen. Mithin besteht für den patientenindividuell hergestellten Arzneimittelblister keine Haftung gemäß §§ 84 ff. AMG26, weder für von der Apotheke selbst noch für in ihrem Auftrag verblisterte Fertigarzneimittel. Denn für beide entfällt die Zulassungspflicht nach § 21 Abs. 1 AMG. Dies gilt konsequenterweise auch für den Hersteller von Blister für die Apotheke. 2. Die Haftung für Arzneimittelblister nach dem Produkthaftungsgesetz In Betracht kommt eine Haftung für verblisternde Apotheken oder von ihnen beauftragte Lohnhersteller nach dem ProdHaftG, da dessen Anwendung für verblisterte Arzneimittel nicht nach § 15 Abs. 1 ProdHaftG ausgeschlossen ist, weil die Herstellung der Arzneimittelblister nicht die Haftung gemäß §§ 84 ff. AMG bedingt. Die Haftung nach dem Produkthaftungsgesetz ist allein an die Inverkehrgabe eines fehlerhaften Produktes durch den Hersteller geknüpft, ohne dass es zusätzlich auf ein Verschulden im Sinne persönlicher Vorwerfbarkeit ankäme. Diese Haftungsgrundlage gilt auch für Arzneimittel, die nicht der Zulassungspflicht nach § 21 AMG unterliegen27. Nach § 1 Abs. 1 ProdHaftG ist der Hersteller eines Produkts zum Schadenersatz verpflichtet, wenn durch den Fehler eines Produkts jemand getötet, sein Körper oder seine Gesundheit verletzt oder eine Sache beschädigt wird.

__________ 25 S. dazu im Einzelnen Kleveman, PharmR 2002, 393. 26 So auch Wille, PharmR 2006, 501, 508; Voit, PharmR 2007, 1, 3; Saalfrank in Dautert/ Jorzig/Winter, 89, 101; Grau/Kutlu, A&R 2009, 153, 159; Rehmann, AMG-Kommentar, 3. Aufl., § 84 Rz. 2. 27 Wagner in MünchKomm.BGB, 5. Aufl., ProdHaftG § 15 Rz. 6.

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Zum Teil wird die Herstellereigenschaft im Sinne des ProdHaftG verneint, wenn ein Produkt ohne Substanzveränderung lediglich umgepackt oder abgefüllt wird. Dies könnte für das Verblistern anzunehmen sein. Derartige Abfüllund Abpackvorgänge seien von derart untergeordneter Bedeutung für die Produktsicherheit, dass die Anknüpfung der Verantwortung für das Gesamtprodukt nicht gerechtfertigt wäre28. Hier gewähre das verschuldensabhängige Deliktsrecht den gebotenen – und differenzierten, nämlich auf die eigene Handlungssphäre beschränkten – Schutz29. Hier sind jedoch die besonderen Eigenschaften von Arzneimitteln zu berücksichtigen. Die Verpackung eines Arzneimittels ist für die Arzneimittelsicherheit von großer Bedeutung. Arzneimittelverpackungen müssen drei Grundfunktionen erfüllen: Sie müssen den Inhalt der Verpackung umfassend und präzise beschreiben, vor Veränderungen durch Umwelteinflüsse (wie Licht, Feuchtigkeit, Stoß, Druck, Mikroorganismen) schützen und den Inhalt schnell, einfach und sicher verwenden lassen. Auch deshalb wird von § 4 Abs. 14 AMG im Arzneimittelbereich das Abpacken als Teil des Herstellens begriffen. Für die Verblisterung von Fertigarzneimitteln ist mithin bei der Beurteilung des Herstellers im Sinne des § 4 Abs. 1 ProdHaftG der Begriff des Herstellens im Sinne des § 4 Abs. 14 AMG heranzuziehen, so dass beim Verblistern der Apotheker oder ein beauftragter Lohnhersteller als Hersteller im Sinne des ProdHaftG einzustufen sind. Denn für Arzneimittel hat die Verpackung keine derartig untergeordnete Bedeutung bei der Produktsicherheit, wie sie für andere Produkte angenommen wird. Ein Auseinanderfallen des Herstellungsbegriffes zwischen AMG und ProdHaftG kann vom Gesetzgeber zudem nicht gewollt sein. Verblisternde Apotheken oder von ihr beauftragte Lohnhersteller sind mithin als Hersteller im Sinne des ProdHaftG zu klassifizieren30. Dies folgt ebenfalls aus § 4 Abs. 1 Satz 2 ProdHaftG: Als Hersteller gilt auch jeder, der sich durch das Anbringen seines Namens, seiner Marke oder eines anderen unterscheidungskräftigen Kennzeichens als Hersteller ausgibt. Durch die verpflichtende Angabe von Namen oder der Firma des pharmazeutischen Unternehmers, der Bezeichnung des Arzneimittels, der Chargenbezeichnung und dem Verfalldatum nach § 10 Abs. 11 und 8 AMG ergibt sich der Produkthersteller des verblisterten Arzneimittels. Nach § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHaftG tritt eine Ersatzpflicht des Herstellers nicht ein, wenn der Fehler nach dem Stand der Wissenschaft und Technik in dem Zeitpunkt, in dem der Hersteller das Produkt in den Verkehr brachte, nicht erkannt werden konnte. Dabei werden Fabrikationsfehler nicht als unvorhersehbar im Sinne dieses Ausschlusses angesehen31. Und um solche Fehler bei der Fabrikation, dem Verblisterungsvorgang, wie z. B. Verschmelzungen, Be-

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28 OLG Düsseldorf, NJW-RR 2001, 458; Wagner in MünchKomm.BGB, 5. Aufl., ProdHaftG § 4 Rz. 14. 29 Wagner in MünchKomm.BGB, 5. Aufl., ProdHaftG § 4 Rz. 14; OLG Düsseldorf, NJW – RR 2001, 458. 30 So auch Voit, PharmR 2007, 1, 4; Grau/Kutlu, A&R 2009, 153, 159. 31 BGHZ 129, 353, 358 ff.; Wagner in MünchKomm.BGB, 5. Aufl., ProdHaftG § 1 Rz. 51; Sprau in Palandt, 68. Aufl., ProdHaftG § 1 Rz. 21.

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schädigungen oder Kreuzkontaminationen wird es bei der Verblisterung in aller Regel gehen32. Ein verblisterndes Unternehmen kann sich deshalb nicht durch den Nachweis, dass es aus einem von ihm nicht zu beeinflussenden Umstand zu einem Fehler bei der Verblisterung gekommen ist, aus der Haftung befreien. Dagegen kann ihm die Entlastung bei Entwicklungsrisiken des arzneilichen Wirkstoffs, wie etwa unerkennbare Wechselwirkungen, durchaus gelingen33. Demzufolge haftet der Apotheker bzw. das von ihm mit der Verblisterung beauftragte Unternehmen für Fehler des Gesamtprodukts der aus Fertigarzneimitteln entnommenen Teilmengen als Hersteller gemäß § 1 Abs. 1 ProdHaftG34, soweit sie auf der Verblisterung beruhen. Weitere Anspruchsgrundlagen für eine Haftung des verblisternden Apothekers bleiben gemäß § 15 Abs. 2 ProdHaftG unberührt. Folgerichtig können Schadenersatzansprüche aus Vertrag oder Delikt neben dem ProdHaftG gegeben sein, die jedoch ein Verschulden seitens des Apothekers voraussetzen. 3. Die Haftung der Hersteller verblisterter Arzneimittel Fraglich ist, ob durch die Haftung der verblisternden Apotheke bzw. des für die Apotheke verblisternden Unternehmens nach dem ProdhaftG die Haftung des pharmazeutischen Unternehmers, der Inhaber der Zulassung für das verblisterte Arzneimittel ist, erloschen ist. Dies wäre für die Verbraucher nachteilig. Denn die Haftung nach §§ 84 ff. AMG bietet dem Verbraucher neben der Verschuldensvermutung eine hohe Deckungssumme, Auskunftsansprüche und Beweiserleichterungen. Nach § 88 AMG sind bei Körperschäden die Höchstgrenzen für den Schadenersatz erst bei 600000,- Euro für Verletzungen eines Menschen und erst bei 120 Millionen Euro für Verletzungen mehrerer Menschen begrenzt. Zur Begründung seines Anspruches stehen dem Patienten gemäß § 84a AMG Auskunftsansprüche gegen den pharmazeutischen Hersteller sowie Zulassungs- und Überwachungsbehörde zu. Zugunsten des Patienten wird widerlegbar vermutet, dass die schädlichen Wirkungen des Arzneimittels ihre Ursache im Bereich der Entwicklung oder Herstellung haben. Ebenfalls wird widerlegbar vermutet, dass das verwendete Arzneimittel nach den Gegebenheiten des Einzelfalls geeignet war, den entstandenen Schaden zu verursachen. Würden die Konsumenten von verblisterten Arzneimitteln die Ansprüche aus den §§ 84 ff. AMG verlieren, entstünde ihnen deshalb ein Nachteil. Das Fehlen eines Anspruches gegen den pharmazeutischen Hersteller der verblisterten Arzneimittel gemäß §§ 84 ff. AMG bejahen Wille35 und Saalfrank36.

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32 Voit, PharmR 2007, 1, 4. 33 Voit, PharmR 2007, 1, 4. 34 Diese Haftung besteht unabhängig davon, ob es sich bei den in der Apotheke hergestellten Blister um ein Fertigarzneimittel oder eine Rezeptur handelt. 35 Wille, PharmR 2006, 501. 36 Saalfrank in Dautert/Jorzig/Winter, Arzneimittelsicherheit – Wunsch und Wirklichkeit, 89.

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Zum einen geht ihrer Ansicht nach die Eigenschaft als pharmazeutischer Unternehmer für das verblisterte Arzneimittel verloren und zum anderen liege kein bestimmungsgemäßer Gebrauch im Sinne des § 84 Abs. 1 AMG mehr vor, wenn die Arzneimittel verblistert werden. a) Der Hersteller verblisterter Arzneimittel sei nicht mehr pharmazeutischer Unternehmer im Sinne der Vorschrift37, denn nach § 4 Abs. 18 Satz 1 AMG sei pharmazeutischer Unternehmer bei zulassungs- oder registrierungspflichtigen Arzneimitteln der Inhaber der Zulassung oder Registrierung oder wer gemäß § 4 Abs. 18 Satz 2 AMG unter seinem Namen die Arzneimittel in den Verkehr bringe. Eine Zulassung bestehe für das verblisterte Arzneimittel nicht (mehr), weil ein anderer unter seinem Namen das Arzneimittel in den Verkehr bringe38. Eine Inverkehrgabe des Herstellers des verblisterten Arzneimittels im Sinne des § 4 Abs. 18 AMG sei dann ausgeschlossen, wenn der Name des Herstellers der neu-verblisterten Arzneimittel nicht mehr auf der Verpackung genannt werde39. Die Ansicht, dass der Arzneimittelhersteller nicht mehr pharmazeutischer Unternehmer für das industriell verblisterte Arzneimittel sei, überzeugt nicht. Das AMG fokussiert zwar in § 84 Abs. 1 die Haftung auf den pharmazeutischen Unternehmer und gewährt keinen Anspruch gegen den Hersteller der verwendeten Teilprodukte oder Grundstoffe40. Dennoch kennt das AMG ein Nebeneinander mehrer pharmazeutischer Hersteller. Mit der 14. AMG Novelle wurde der Begriff des pharmazeutischen Unternehmers in § 4 Abs. 18 AMG erweitert: Pharmazeutischer Unternehmer ist neben dem Inhaber der Zulassung oder Registrierung auch, wer Arzneimittel unter seinen Namen in den Verkehr bringt. So sind beispielsweise Vertriebsunternehmer und Mitvertreiber neben dem Zulassungsinhaber stets pharmazeutische Unternehmer41. Es kann somit für ein und dasselbe Arzneimittel – abhängig von der Ausgestaltung des Vertriebs – mehrere pharmazeutische Unternehmer geben, die ggf. im Außenverhältnis als Gesamtschuldner (§ 93 AMG) haften. Dieses Nebeneinander ist auf die Situation der Verblisterung zu übertragen, obwohl § 21 Abs. 2 Nr. 1b AMG eine Zulassungspflicht für verblisterte Arzneimittel verneint. § 21 Abs. 2 Nr. 1b AMG ändert nämlich letztlich nichts am Status der Teilmengen als hinsichtlich ihrer stofflichen Beschaffenheit zulassungspflichtige Fertigarzneimittel, sondern schränkt nur das Maß der notwendigen Übereinstimmung mit der Zulassung im Bereich der Verpackung und Kennzeichnung als Voraussetzung für die Verkehrsfähigkeit in gewisser Hinsicht ein42. Solche Teilmengen stellen, soweit sie aus industriell hergestellten Fertigarzneimittel-Packungen entnommen sind und von Unterneh-

__________ 37 Wille, PharmR 2006, 501, 508 f.; Saalfrank in Dautert/Jorzig/Winter, Arzneimittelsicherheit – Wunsch und Wirklichkeit, 89, 100 ff. 38 Wille, PharmR 2006, 501, 509. 39 Wille, PharmR 2006, 501, 508 f. 40 Voit, PharmR 2007, 1, 4 f. 41 Rehmann, AMG-Kommentar, 3. Aufl., § 4 Rz. 20. 42 Dettling, PharmR 2008, 96, 98.

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men, die nicht Apotheken sind, entnommen sowie neu verpackt und gekennzeichnet werden, gemäß § 4 Abs. 1 AMG ihrerseits wiederum Fertigarzneimittel dar, die gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 1b AMG allerdings nicht (erneut) zulassungspflichtig sind, weil sie formell und materiell weitestgehend der Zulassung entsprechen43. Der Hersteller des verblisterten Arzneimittels bleibt also für die verwendete Teilmenge seines Fertigarzneimittels der pharmazeutische Unternehmer im Sinne von § 84 Abs. 1 AMG. Zum selben Ergebnis kommt man über die Produkthaftung des Teilherstellers nach dem ProdHaftG. Anders als im AMG ist nach § 4 Abs. 1 Satz 1 ProdHaftG auch Hersteller, wer (nur) ein Teilprodukt hergestellt hat. Im Hinblick auf die Verblisterung lässt sich nicht bezweifeln, dass die verwendeten, ausgeeinzelten Arzneimittel Teile des vom Apotheker abgegebenen Endprodukts sind44. Somit ist der Arzneimittelhersteller neben den verblisternden Apotheken aus § 1 Abs. 1 ProdHaftG grundsätzlich möglicher Haftpflichtiger von geschädigten Verbrauchern, die bei der Abgabe von neu verblisterten Medikamenten einen Schaden erlitten haben. Jedoch schränkt § 15 ProdHaftG den Anwendungsbereich des ProdHaftG in Bezug auf Arzneimittel wieder ein: die Anwendbarkeit ist ausgeschlossen, wenn durch die Anwendung eines zum Gebrauch bei Menschen bestimmten Arzneimittels, das im Geltungsbereich des AMG an den Verbraucher abgegeben wurde und der Pflicht zur Zulassung unterliegt oder durch Rechtsverordnung von der Zulassung befreit worden ist, jemand getötet oder Körper oder Gesundheit verletzt wurde. Bejaht man die Anwendung dieses Ausschlusstatbestandes auf den Teilproduktehersteller des verblisterten Arzneimittels, ersetzt die Gefährdungshaftung des § 84 AMG die Produkthaftung des Teileherstellers nach § 1 ProdHaftG. Dem steht nicht die Tatbestandsvoraussetzung der Zulassungspflicht entgegen, weil für das isoliert zu betrachtende Teilprodukt weiterhin eine Zulassungspflicht gem. § 21 Abs. 1 AMG besteht. Dieses Ergebnis wird durch die Stellung der §§ 84 ff. AMG als spezielle Ausformung der Produkthaftung bestätigt. Die Gefährdungshaftung nach § 84 AMG hat als speziellere Regelung gegenüber dem ProdHaftG Vorrang, sogar dann, wenn letzteres den Geschädigten besser stellen würde45. b) Bei der Bestimmung, ob die Verblisterung noch im bestimmungsgemäßen Gebrauch des Arzneimittels liegt, kommt es darauf an, welche Sicherheit der pharmazeutische Unternehmer aufgrund einer medizinisch-wissenschaftlich fundierten Risiko-Nutzen-Bewertung zu leisten verpflichtet war46. Der bestimmungsgemäße Gebrauch lässt sich nach der vom Unternehmer getroffenen Zweckbestimmung in der Packungsbeilage, in der Fachinformation, in der Kennzeichnung oder in etwaiger Werbung jeweils zu den Anwendungsgebieten, Gegenanzeigen, Wechselwirkungen etc. ermitteln. Hat der pharmazeutische Unternehmer in diesen Angaben die Auseinzelung und Neuverblisterung

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Dettling, PharmR 2008, 96, 98. Voit, PharmR 2007, 1, 5. Sprau in Palandt, 68. Aufl., ProdHaftG § 15 Rz. 2. Grau/Kutlu, A&R 2009, 153, 160.

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nicht ausdrücklich gestattet, könnte argumentiert werden, diese Verwendung bewege sich außerhalb des bestimmungsgemäßen Gebrauchs47. Für die Annahme, dass Auseinzelung und Neuverblisterung als bestimmungsgemäßer Gebrauch anzusehen sind, sprechen jedoch gewichtige Gründe: es war vor dem Angebot von Apotheken, für die zu versorgenden Heime patientenindividuell Arzneimittel neu zu verblistern, weit verbreitet, dass die Pflegekräfte in den Heimen die zu verabreichenden Arzneimittel in sog. Tages- oder Wochenschienen vorsortierten. Sie einzelten also ebenfalls aus und sortierten die Arzneimittelrationen vor. Bei dieser Tätigkeit wurde bisher die Haftung von pharmazeutischen Unternehmen nie in Frage gestellt, wenn die Arzneimittel beim Patienten schädliche Wirkungen verursacht hatten. Die Situation bei der Verblisterung durch Apotheken oder von ihnen beauftragten Unternehmen hat sich nunmehr nicht nur nicht verschlechtert, sondern sogar verbessert: die Hygiene in Apotheken oder den beauftragten Unternehmen ist um einiges höher als auf den Stationen der Heime48. Es kann jedenfalls dann, wenn feststeht, dass sich ein unentdeckbares Entwicklungsrisiko verwirklicht hat, keinen Unterscheid machen, ob das Arzneimittel aus einer Fertigpackung dem Patienten verabreicht wurde oder ob es den Umweg über Blister genommen hat49. Der Umfang der Haftung für den Hersteller wird durch das Verblistern nicht vergrößert. Für das Vorliegen eines bestimmungsgemäßen Gebrauches spricht weiterhin, dass die Arzneimittelhersteller die typischen voraussehbaren Schäden ohnehin durch die Deckungsvorsorge nach §§ 94, 88 AMG versichert hat50. 4. Haftungskonkurrenz zwischen Arzneimittel- und Produkthaftungsgesetz Für den pharmazeutischen Hersteller des (Teil-)Produkts und für die verblisternde Apotheke bzw. den beauftragten Unternehmer gibt es folglich ein Nebeneinander von einer Haftung nach dem AMG und einer Haftung nach dem ProdHaftG. Fraglich ist, ob hierdurch eine vom Gesetzgeber gemäß § 15 ProdHaftG nicht gewollte Überschneidung entsteht. Ein Nebeneinander, wie es vom Gesetzgeber in § 15 Abs. 1 ProdHaftG ausgeschlossen werden soll, tritt trotz des Vorhandenseins von mehreren Herstellern bei der Verblisterung nicht auf. Für Schäden am Patienten, die auf der Verblisterung von Fertigarzneimitteln beruhen, haftet die Apotheke bzw. das verblisternde Unternehmen nach dem ProdHaftG. Es sind dies Schäden, die durch eine Kreuzkontamination der verblisterten Arzneimittel, durch einen Wirkungsverlust wegen des Verblisterns und ähnliches, was auf die Fabrikation des Blisters zurückzuführen ist, entstehen können. Für Schäden, die sich aufgrund der Entwicklungs- und Herstellungsrisiken des verblisterten Arzneimittels verwirklicht haben, haftet der pharmazeutische Unternehmer nach

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47 So Grau/Kutlu, A&R 2009, 153, 160 mit Hinweis auf Wille, PharmR 2006, 501, die diesen Gedanken nicht ausführt, aber in ihr Gesamtkonzept passen würde. 48 So auch Grau/Kutlu, A&R 2009, 153, 160. 49 Voit, PharmR 2007, 1, 5. 50 Grau/Kutlu, A&R 2009, 153, 160.

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Schadet das Verblistern dem Patienten?

dem AMG. Aus § 84 Abs. 3 AMG ergibt sich eine Haftungsbeschränkung dergestalt, dass der pharmazeutische Unternehmer nur für schädliche Wirkungen des Arzneimittels haftet, die ihre Ursache im Bereich der Entwicklung und Herstellung des Arzneimittels haben. Durch die Verblisterung wird weder dessen Entwicklung noch dessen Herstellung berührt. Obwohl das Verblistern als Herstellen gemäß § 4 Abs. 14 AMG zu werten ist, ist es aber kein Herstellen in Bezug auf die entnommene Teilmenge eines Fertigarzneimittels, sondern das Herstellen eines neuen Fertigarzneimittels aus den verschiedenen Teilmengen. Verschiedene gemeinsam verblisterte, feste Arzneimitteleinheiten ähneln einem „Warenkorb“ als Vielheit verschiedener, nicht notwendig in einem sachlichen Zusammenhang stehender Produkte51. Sie sind nur in einem Blister neuverpackte Arzneimitteleinheiten, die als eigenständige Endprodukteeinheiten zu verstehen sind52. Da die die betroffen Arzneimitteleinheiten in ihrer stofflichen Beschaffenheit und damit zusammenhängend in ihrer therapeutischen Wirksamkeit unverändert sind und qualitativ in jeder Hinsicht der Zulassung als Einzelprodukt entsprechen53, ist es nur konsequent, dass für deren Entwicklung und Herstellung der pharmazeutische Unternehmer nach dem dafür eigens eingeführten Haftungstatbestand – § 84 AMG – in Anspruch genommen werden kann. In diesem Falle besteht kein Haftungsgrund gegen den verblisternden Apotheker oder gegen den von ihm beauftragten Lohnherstellers. Eine haftungsmäßige Überschneidung besteht also nicht. Dieses Ergebnis bestätigt auch der Rechtsgedanke aus § 1 Abs. 3 ProdHaftG, wonach die Ersatzpflicht des Herstellers eines Grundstoffes ausgeschlossen ist, wenn der Fehler durch die Konstruktion des Produkts, in welches der Grundstoff eingearbeitet wurde, oder durch Anleitungen des Herstellers des Endprodukts verursacht worden ist. Demnach ist der Teilehersteller nur ersatzpflichtig, wenn der Fehler auch aus seiner Sphäre stammt.

IV. Fazit Der Hersteller, Zulassungsinhaber des verblisterten Arzneimittels, haftet nach §§ 84 ff. AMG, das verblisternde Unternehmen bzw. die verblisternde Apotheke haften nach dem Produkthaftungsgesetz für Schäden aus ihrem jeweiligen Herstellungsprozess. Ausgeschlossen ist jedoch eine gesamtschuldnerische Haftung für den jeweils anderen Herstellungsvorgang. Insoweit muss der Patient sich ggf. entscheiden, welchen der pharmazeutischen Unternehmer er in Anspruch nehmen will. Für einen Anspruch nach §§ 84 ff. AMG hat der Patient u. a. die abstrakt generelle Eignung des streitgegenständlichen Medikaments den eingetretenen Schaden zu verursachen sowie ebenfalls die konkrete Eignung unter Anwen-

__________ 51 Dettling, PharmR 2008, 96, 99. 52 Dettling, PharmR 2008, 96, 99. 53 Dettling, PharmR 2008, 96, 98.

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dung des Anscheinsbeweises darzulegen54. Des Weiteren sind die Zusammensetzung und Dosierung des angewendeten Arzneimittels, die Art und die Dauer seiner bestimmungsgemäßen Anwendung, der zeitliche Zusammenhang mit dem Schadenseintritt, das Schadensbild und der gesundheitliche Zustand des Geschädigten zum Zeitpunkt der Anwendung durch ihn darzulegen, um erfolgreich einen Anspruch nach § 84 AMG gegen einen pharmazeutischen Unternehmer durchzusetzen55. Darüber hinaus hat er gegenüber dem pharmazeutischen Unternehmer, der nach § 84 AMG haftet, einen Auskunftsanspruch. Zur Begründung eines Anspruches sind insoweit die Haftungsvoraussetzungen vorprozessual zu bestimmen. Dabei wird sich auch ergeben, aus wessen Verantwortungsbereich aufgetretene Schäden voraussichtlich herrühren. Nicht auszuschließen ist, dass der in Anspruch genommene die Verantwortung auf „den anderen“ schiebt. Zur Vermeidung von Nachteilen sieht die Zivilprozessordnung für diesen Fall eine Streitverkündung vor. Ein Schaden im Sinne einer Verringerung der Haftung pharmazeutischer Unternehmer durch das Verblistern der Arzneimittel entsteht dem Patienten nach alledem nicht.

__________ 54 Heynemann in Dautert/Jorzig/Winter, Arzneimittelsicherheit – Wunsch und Wirklichkeit, 75, 79. 55 Kleveman, PharmR 2002, 393, 397.

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Die laufende Neubestimmung der Grenzen der Privatautonomie von Kaufleuten und Unternehmen im Wandel des Zeitgeistes Inhaltsübersicht I. Vertragsfreiheit als Voraussetzung der Wettbewerbsfähigkeit 1. Grenzen der Privatautonomie 2. Einzelinteresse/Allgemeininteresse 3. Verpflichtung zur Berücksichtigung des geänderten Normzwecks von Gesetzen? 4. Geänderter Normzweck oder völlige Neubewertung II. Zunehmende Dominanz des Verbraucherschutzes 1. Verbraucherschutz als wichtigstes Rechtsinstitut des Vertragsrechtes 2. Verbraucherschutz vor Handelsrecht III. Verbraucherschutz für Kaufleute und Unternehmen 1. Wechselvolle Gesetzesgeschichte 2. Einschränkung von Freizeichnungsklauseln durch Statuierung von Kardinalpflichten IV. Vertragskorrektur durch Wahl der Auslegungsmethode 1. Wahlfreiheit 2. Grenzen der Auslegung 3. Die sozialverträgliche Aufhebung des Abstraktheitsprinzips von Fall zu Fall

4. Wirksame Vertragserfüllungsbürgschaft trotz unwirksamen Verzichts auf § 768 BGB V. Auslegung von Treu und Glauben und Rechtsmissbrauch im ständigen Wandel 1. Variierende Missbrauchskriterien 2. Objektive Sittenwidrigkeit und sittenwidriges Bewusstsein 3. Ausweg über die Vermutung sittenwidrigen Bewusstseins 4. Vermutung der Sittenwidrigkeit auch bei nicht voraussehbarer Änderung der Rechtsprechung 5. Plädoyer für die Objektivierung des Tatbestandes der subjektiven Sittenwidrigkeit VI. Zunehmende Anerkennung zwingender Vorschriften wirtschafts- und sozialpolitischer Art durch Aktualisierung des Begriffs der Sittenwidrigkeit i. S. v. § 138 BGB 1. Territorialitätsprinzip 2. Interessengleichklang und Solidaritätserwägungen 3. Verpflichtung zur Anwendung des Rechtes der Mitgliedsstaaten der EG VII. Zunehmende Bedeutung von Finanzsanktionen VIII. Quintessenz

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I. Vertragsfreiheit als Voraussetzung der Wettbewerbsfähigkeit 1. Grenzen der Privatautonomie Das wesentliche Charakteristikum eines Kaufmanns ist seine Selbstverantwortlichkeit. „Als Unternehmer, der sich im Wettbewerb zu behaupten oder aus dem Markt ausscheiden muss, muss der Kaufmann seine Geschäfte frei gestalten können“1. Gleichwohl hat die Privatautonomie im Handelsrecht ebenso wenig wie in anderen Rechtsgebieten den Rang einer absoluten Wertvorstellung; sie besteht nicht um ihrer selbst willen, sondern bedarf der Einschränkung insbesondere zum Schutze des schwächeren Vertragsteiles, der nicht nur ein Verbraucher i. S. v. § 13 BGB, sondern auch ein Kaufmann/Unternehmen selbst sein kann. Das Thema der Festschrift „Vertragsfreiheit und Verbraucherschutz“ könnte Anlass für eine Betrachtung sein, nach welchen Kriterien der zwischen beiden Rechtsinstituten vorgegebene Gegensatz immer wieder entsprechend gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklung neu ausbalanciert werden muss. Dem Verfasser geht es jedoch mehr um den Versuch einer Übersicht, wonach die gesetzlichen Regelungen zum Verbraucherschutz nur eines der Mittel sind, um die Vertragsfreiheit von Kaufleuten und Unternehmen zu begrenzen. In mindestens gleichem Maße werden die Grenzen kaufmännischer Vertragsfreiheit durch die §§ 138, 242, 826 BGB bestimmt, und zwar insbesondere durch die dem Zeitgeist folgende Auslegung der in dieser Bestimmung verwandten und bekanntlich sehr biegsamen Begriffe der „guten Sitten“ sowie der „Sittlichkeit“. Hinzu kommen neuerdings die Beschränkungen des Kapital- und Zahlungsverkehrs auf der Grundlage von Sanktionsmaßnahmen der Vereinten Nationen, der Europäischen Union bzw. der Europäischen Gemeinschaft sowie der Nationalen Behörden mit ihren zum Teil weitschweifig und nicht immer genau formulierten Wortlaut. So gesehen hat ein Kaufmann/Unternehmen heute eine Vielzahl von geschriebenen und entsprechend der Auslegung durch die Gerichte ungeschriebenen Regeln zu beachten, deren Erlass oder Interpretation nicht immer kalkulierbar ist. Zwar sollen die zulässigen Schranken der Privatautonomie eine ähnliche Funktion haben wie der Grundrechtskatalog im Öffentlichen Dienst im Sinne einer Begrenzung der Regelungsbefugnis des einfachen Gesetzgebers2. Es fragt sich jedoch, welche Kriterien für die Zuläs-

__________ 1 Hopt in Baumbach/Hopt, 33. Aufl., Einf. Vor § 1 HGB Rz. 4; dabei werden nachstehend die Begriffe „Kaufmann“ und „Unternehmer“ weitgehend synonym gebraucht. Alle Kaufleute sind auch „Unternehmer“; jedoch geht der in § 14 BGB geregelte Unternehmerbegriff weiter; vgl. dazu auch die kritischen Anmerkungen von Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, 2. Aufl., Bd. 1, Vor § 1 HGB Rz. 8: „Der Unternehmensbegriff i. S. des hier vertretenen Konzeptes löst den traditionellen Gewerbebegriff ab.“ mit dem zusätzlichen Hinweis, dass die Verwendung der Begriffe „Handelsgeschäft“ (§§ 25 I, 27 I) „Gewerbe“ oder „Gewerbebetrieb (§ 1 II) eine überkommene Begriffsbildung“ darstellen. 2 Enzinger in MünchKomm.HGB, 2. Aufl., Bd. 2, § 109 HGB Rz. 6.

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Grenzen der Privatautonomie im Wandel des Zeitgeistes

sigkeit von Eingriffen in die kaufmännische Vertragsfreiheit – ganz unabhängig vom Verbraucherschutz – maßgebend sein sollen. 2. Einzelinteresse/Allgemeininteresse Seit je her hat für die Einschränkung der Privatautonomie die Abwägung zwischen Einzelinteresse und Allgemeininteresse eine maßgebliche Rolle gespielt. Bereits der auch heute noch in weiten Kreisen als „größter Nationalökonom aller Zeiten“ verehrte Adam Smith, Verfechter eines „offenbaren und einfachen Systems natürlicher Freiheit“3, hat gleichwohl u. a. als Pflicht des Staates angesehen, „soweit wie möglich jedes Mitglied des Gemeinwesens zu schützen gegen Unrecht und Unterdrückung von anderen Mitgliedern, d. h. die Pflicht für eine wirksame Rechtsordnung und Rechtspflege zu sorgen (excact administration of justice)“4. Demnach werden Eingriffe des Gesetzgebers in die Privatautonomie im Wesentlichen damit gerechtfertigt, dass es Aufgabe des Staates sei, seine Bürger vor unangemessener Benachteiligung zu schützen unter Abwägung von Einzel- und Allgemeininteressen. 3. Verpflichtung zur Berücksichtigung des geänderten Normzwecks von Gesetzen? Es kann nicht ausbleiben, dass die Auslegung von Gesetzen zum Schutze des Einzelnen oder der Allgemeinheit beeinflusst werden durch gesellschaftliche Entwicklungen sowie durch die allgemein anerkannte Änderung von rechtspolitischen Wertungen und Zielsetzungen. Diese führen nicht selten dazu, dass die Gerichte aufgerufen werden, oder sich aufgerufen fühlen , bei Anwendung bestehender Gesetze unabhängig von ihrem Wortlaut neue soziale oder wirtschaftliche Entwicklungen zu berücksichtigen. Ein prominentes Beispiel aus vergangenen Tagen für eine nicht mehr zeitgemäße Anwendung von Gesetzen liefert die Kritik des Bundeskartellamtes aus den 70er Jahren an den seinerzeit zu hohen Anforderungen des BGH an die Feststellung verbotswidriger Absprachen, die als Konflikt zwischen Einzelinteresse und Allgemeininteresse wie folgt formuliert wurde: „Nur in dem Maße, in dem bei der Rechtsanwendung dem Allgemeininteresse an der Freiheit des Wettbewerbs gegenüber dem Einzelinteresse am Fortbestand der rechtlichen oder faktischen Wettbewerbsbeschränkung der gebührende Rang eingeräumt wird und die Beweisanforderungen der gerichtlichen Tatsacheninstanz nicht zu hoch gestellt werden, lassen sich die in das Gesetz gegen

__________ 3 G. J. Stigler, The successes and failures of Professor Smith, Vortrag vor Pelerin Society, St. Andrews 1976. 4 Mestmäcker, Recht und ökonomisches Gesetz, 2. Aufl., S. 131: „(1) Die Pflicht, das Gemeinwesen gegen die Gewalt und Invasion anderer unabhängiger Staaten zu schützen; (2) die Pflicht, soweit wie möglich jedes Mitglied des Gemeinwesens zu schützen gegen Unrecht oder Unterdrückung von anderen Mitgliedern, d. h. die Pflicht für eine wirksame Rechtsordnung und Rechtspflege (exact administration of justice) zu sorgen.“

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Wettbewerbsbeschränkungen gesetzten Erwartungen des Gesetzgebers und der Öffentlichkeit erfüllen“5. Wenngleich den insbesondere kritisierten Entscheidungen des Kammergerichts (WuW/E OLG 1019) sowie des BGH (WuW/E BGH 115) nach den kritischen Anmerkungen von Mestmäcker keine grundsätzliche Unvereinbarkeit zwischen Kartellrecht und Vertragsrecht des BGB zugrunde lag, sondern nur eine fehlerhafte Anwendung der §§ 145 ff. BGB „die zivilrechtlichen Irrwege des Kammergerichts, denen der BGH unbeirrt folgt, damit nicht beendet [sind] …“6, so sieht er doch in den Urteilsgründen in dem nicht begründeten Nebeneinander von kartellrechtlichen Besonderheiten und privatrechtlichen Selbstverständlichkeiten einen „inneren Widerspruch“ mit folgender bedeutsamen Schlussfolgerung: „Dieser Widerspruch zeigt, dass den Gerichten der mit dem Wandel des Normzwecks notwendig verbundene Funktionswandel von Rechtsbegriffen in seiner prinzipiellen methodischen Bedeutung nicht bewusst geworden ist.“7 Nach Mestmäcker sollten also die Gerichte verpflichtet sein, dem Wandel des Normzweckes von Rechtsbegriffen, die vom Gesetzgeber nicht vorausgesehen wurden, durch eigenständige Auslegung Rechnung zu tragen. 4. Geänderter Normzweck oder völlige Neubewertung Während in früheren Jahren die Gerichte bei der Entscheidung über Sachverhalte, die sich nicht unmittelbar unter das jeweilige Schutzgesetz subsumieren ließen, auf den mutmaßlich gewollten Normzweck abstellten, besteht heute die Tendenz, ein Rechtsinstitut aufgrund gesellschaftspolitischer Entwicklung neu zu bewerten oder die in den §§ 138, 826 BGB enthaltenen Generalklauseln über einen Sittenverstoß modern, d. h. zeitgemäß zu interpretieren, um zum gewünschten Ergebnis zu kommen. Ein Beispiel für die erste Alternative ist die Einordnung des Rechtsinstitutes der Ehe, dessen Verständnis geradezu – je nach Standpunkt des Betrachters – radikal geänderter Anschauung unterworfen ist, wie der Beitrag „Die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Ehe im Wandel des Zeitgeistes“ zeigt mit dem Hinweis „Rechtlich lässt sich die Beziehung des ehebezogenen Verfassungsrechts mit dem einfachen Recht nur über eine ‚Gaukeltheorie’, wie sie aus der Anwendung des Art. 5 Abs. 2 GG bekannt ist, erklären“8. Demgegenüber wird das Rechtsinstitut der Privatautonomie zwar nicht grundsätzlich neu bewertet, gleichwohl aber durch eine Interpretation an allgemeinen Generalklauseln zeitgemäß bestimmt. In seiner Anmerkungen zur Konkurrenz mit anderen Normen des Zivilrechtes weist Horn ausdrücklich auf die Anwendung von § 138 BGB als Auffangregelung

__________ 5 Mestmäcker (Fn. 4), S. 662: Bericht des Bundeskartellamtes über seine Tätigkeit im Jahre 1970 sowie über die Lage und Entwicklung auf seinem Aufgabengebiet mit der Stellungnahme der Bundesregierung, Deutscher Bundestag 6. Wahlperiode Drucksache VI/2380, Bonn, 28.6.1971, S. 24. 6 Mestmäcker (Fn. 4), S. 666. 7 Mestmäcker (Fn. 4), S. 669. 8 Zuck, Die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Ehe im Wandel des Zeitgeistes, NJW 2009, 1449 ff.

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hin9, allerdings mit der Einschränkung, dass für die Anwendung von § 138 BGB gravierendere Umstände zu fordern sein werden. Nicht nur als Ergänzung zum Verbraucherschutz, sondern auch bei Anerkennung inländischer bzw. ausländischer Verbotsgesetze spielt die Auslegung der §§ 138, 826 BGB eine Rolle, wobei sich der Zeitgeist in den unterschiedlichen Anforderungen zeigt, die mit dem Tatbestand eines Sittenverstoßes sowie mit der Vermutung eines sittenwidrigen Bewusstseins der Beteiligten gerechtfertigt werden. Prominentes Beispiel für die Argumentation mit Berufung auf gute Sitten oder gar Sittlichkeit ist ein Aufsatz des Vorsitzenden Richters des Bankensenates, der selbst bei unberechtigten Widersprüchen im Lastschriftverkehr auf eine „sittliche Läuterung“ von vorläufigen Insolvenzverwaltern hofft10. Diese Bezugnahme auf gute Sitten sowie Treu und Glauben soll keineswegs ironisiert werden, denn ohne sie kommt kein Rechtssystem aus.

II. Zunehmende Dominanz des Verbraucherschutzes 1. Verbraucherschutz als wichtigstes Rechtsinstitut des Vertragsrechtes Der Schutz von Verbrauchern vor unangemessenen Klauseln in den AGB von Kaufleuten und Unternehmen hat durch Übernahme der Regeln des AGBGB in die §§ 305 bis 310 BGB eine weitere und sicherlich nicht die letzte Anerkennung erhalten. Ihre Schwerpunkte sind die Vorschriften über die Inhaltskontrolle von AGB (Generalklausel § 307 BGB, Katalog verbotener Klauseln §§ 308, 309 BGB). Diese Regelungen und ihre Anwendung und Fortbildung durch die Rechtsprechung sind „zu einem der wichtigsten Rechtsinstitute des Vertragsrechtes“ geworden11, abgerundet durch die Vorschriften über die Einbeziehungskontrolle (§ 305 Abs. 2 und 3 BGB). Schutzzweck ist die Verhinderung, dass ein AGB-Verwender, der die Vertragsgestaltungsfreiheit allein in Anspruch nimmt, den anderen Teil unter Abbedingung des dispositiven Rechtes unangemessen benachteiligt. Demgemäß unterscheidet das BGB nunmehr einerseits zwischen Verbrauchern i. S. v. § 13 BGB als einer im Verhältnis zu Unternehmen typischerweise unterlegenen Marktgruppe und andererseits zwischen Unternehmen bzw. Unternehmen i. S. v. § 14 BGB, die bei Abschluss von Rechtsgeschäften in Ausübung ihrer gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit handeln. Zugunsten der Verbraucher regeln die speziellen Klauselverbote in den §§ 308, 309 BGB exemplarisch wichtige Anwendungsfälle, in denen bedeutende Wertungsgrundlage der Inhaltskontrolle konkretisiert und ohne Anspruch auf Vollständigkeit zum Ausdruck gebracht werden. Diese haben jedoch keinen ab-

__________ 9 Horn in Kommentar AGB-Gesetz, 4. Aufl., Rz. 35 mit dem Hinweis: „Vielmehr können § 138 BGB sowie der Tatbestand der c.i.c. auch neben der Unwirksamkeit der Klauseln nach § 24a i. V. m. § 9 AGB (a. F.) eingreifen.“. 10 Nobbe, Unberechtigte Widersprüche des Schuldners im Lastschriftverkehr, „sittliche Läuterung“ durch den vorläufigen Insolvenzverwalter?, WM 2006, 1885 ff. 11 Palandt, 66. Aufl., Überblick Vor § 305 BGB Rz. 7.

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schließenden Charakter, weil die Generalklauseln des § 307 Abs. 1, 2 BGB die Funktion einer Auffangvorschrift haben12. Im Rahmen dieser Darstellung geht es jedoch in erster Linie darum, dass § 307 BGB nicht nur die Leitnorm für die richterliche Inhaltskontrolle von AGB und vorformulierten Verbraucherverträgen ist, sondern gemäß § 310 Abs. 1 BGB zusätzlich die Grundlage der Inhaltskontrolle von Klauseln darstellt, die im Geschäftsverkehr von Kaufleuten/Unternehmen untereinander verwandt werden. Somit hat § 307 BGB nicht nur für Verbraucherverträge, sondern auch im kaufmännischen Verkehr durch Verwendung seiner weit greifenden, wenn auch zum Teil sehr unbestimmten Recksbegriffe den Charakter einer Generalklausel, die an Bedeutung derjenigen des § 242 BGB kaum nachsteht (vgl. dazu unten 3.)13. 2. Verbraucherschutz vor Handelsrecht Die Verbraucherschutzvorschriften des BGB haben Vorrang auch gegenüber dem Handelsrecht. Die Sondervorschriften der §§ 343 ff. HGB können die BGB-Regeln nur ergänzen, nicht verdrängen. Das gilt insbesondere auch für das Verbraucherrecht. Handelsgesetzbuch und Verbraucherrecht stehen – auch bei einseitigen Handelsgeschäften – nicht in einem wirklichen Gegensatz zueinander, was Unstimmigkeiten zwischen beiden nicht ausschließt14. Der Stellenwert des Verbraucherschutzes ist heute unbestritten und die Tendenz nicht nur in der Rechtsprechung ist eindeutig auf einen weiteren Ausbau gerichtet. Darüber hinaus wird sogar im Interesse eines weiteren Verbraucherschutzes eine Einschränkung des Anwendungsbereiches der Vorschriften des HGB befürwortet. So hat z. B. Grunewald in ihrer rechtspolitischen Kritik an der Entstehungsgeschichte des HGB angemerkt, dass die Normen des Handelskaufs nahezu durchweg Verschärfungen des Kaufrechtes zu Lasten des Käufers enthalten, die eigentlich nur bei Rechtsgeschäften zwischen Kaufleuten untereinander angewandt werden sollten: „Es mag richtig sein, Sondernormen zu Lasten von Käufern zu schaffen, die Kaufleute sind“15. Allerdings wird ein Ausschluss der Vorschriften über Handelskäufe im Verhältnis zu Verbrauchern bisher nicht befürwortet. Unabhängig davon finden sich wichtige Normen, die den Kauf zwischen Unternehmern (§ 14 BGB), die meist Kaufleute sind, betreffen, nicht im HGB, sondern im BGB (§§ 478 ff. BGB). Diese vielschichtige Gesetzeslage beruht auch darauf, dass das Recht der Europäischen Union an den

__________ 12 Fuchs in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht Kommentar, 10. Aufl. 2006, Vor § 307 BGB Rz. 8 mit dem Hinweis, dass der Rückgriff auf die Generalklausel nicht dazu führen darf, dass die in den Verbotskatalogen zum Ausdruck gebrachten Wertungen konterkariert werden. 13 Heinrichs in Hadding/Hopt, AGB-Kommentar, S. 101, 106 ff. 14 Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, 2. Aufl., Bd. 5, Vor § 343 HGB Rz. 8–10 mit dem Hinweis in MünchKomm.HGB, 2. Aufl., Bd. 1, Vor § 1 HGB, dass Grundfiguren des Handelsrechts Unternehmen und der Unternehmensträger sind. 15 Grunewald in MünchKomm.HGB, 2. Aufl., Bd. 6, Vor § 373 HGB Rz. 18.

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Unternehmer – und nicht an den Kaufmannsbegriff – anknüpft und daher eine Umsetzung im HGB noch nicht einmal für den beiderseitigen Unternehmenskauf möglich ist. Daher sollten die Regeln des HGB an die europäische Einteilung (Unternehmer/Verbraucher) angeglichen und so gefasst werden, dass sie nur Kaufverträge betreffen, bei denen zumindest der Käufer Unternehmer ist16.

III. Verbraucherschutz für Kaufleute und Unternehmen 1. Wechselvolle Gesetzesgeschichte Die Frage, ob und ggf. in welcher Weise das AGB-Gesetz auch Kaufleuten zugute kommen sollte, war in der rechtspolitischen Auseinandersetzung der früheren 70er Jahre eines der meist diskutierten Themen17. Die Arbeitsgruppe beim Bundesjustizminister verstand ihre Aufgabe nur in der Erarbeitung einer Teilregelung und hat aus diesem Grund den Verkehr unter Vollkaufleuten ganz aus dem Anwendungsbereich des Gesetzes herausnehmen wollen. Dem ist der Gesetzgeber jedoch nicht gefolgt. Der jetzige § 310 BGB stellt eine Art Kompromiss dar. Einerseits beruht er auf dem Verzicht, einen Katalog verbotener Klauseln zu entwickeln, die auch im Verkehr unter Kaufleuten angemessen bzw. unangemessen wären mit der Folge: Bezieht sich der Vertrag auf die gewerbliche oder selbständige berufliche Tätigkeit des Unternehmens, so finden die §§ 305 Abs. 2 und 3, 308, 309 BGB keine Anwendung18. Andererseits schreibt § 310 Abs. 1 BGB vor, dass die im Geltungsbereich der §§ 308, 309 BGB in Verbraucherverträgen stets unwirksamen Klauseln im Verhältnis zu Unternehmen/Kaufleuten der Inhaltskontrolle nach § 307 BGB unterliegen. Obwohl im Geschäftsverkehr mit Unternehmen die Klauselverbote der §§ 308, 309 BGB dem Wortlaut nach nicht anzuwenden sind, haben sie in diesem Bereich gleichwohl die Bedeutung von Indizien für eine unangemessene Benachteiligung des Vertragspartners19. Auf diese Weise setzen sie sich auch im Geschäftsverkehr mit Unternehmen durch20. Die Inhaltskontrolle geht nach der Rechtsprechung so weit, dass z. B. die Klauselverbote des § 308 BGB regelmäßig auf den Geschäftsverkehr mit Unternehmen anwendbar sein sollen, weil ihr Wertungsspielraum die Berücksichtigung an Besonderheiten des Handelsverkehrs gestattet21.

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16 Grunewald (Fn. 15), Rz. 18; s. ferner Hoffmann, Das Zusammentreffen von Handelskauf und Verbrauchsgüterkauf: Wertungswidersprüche und Korrekturbedarf, BB 2005, 2090, 2091; Karsten Schmidt, Fünf Jahre „neues Handelsrecht“ – Verdienste, Schwächen und Grenzen des Handelsrechtsreformgesetzes von 1998, JZ 2003, 585, 596. 17 Kötz, Gutachten 50. DJT 1974, Bd. 1, AL 11, Anm. 7. 18 Palandt (Fn. 11), Vor § 304 BGB Rz. 11. 19 BGHZ 90, 273; 103, 316; vgl. ferner Lutz, AGB-Kontrolle im Handelsverkehr unter Berücksichtigung der Handelsverbote, 1991, S. 31 ff. 20 Vgl. z. B. BGHZ 85, 305 = NJW 1983, 385: Vertragsstrafenvorbehalt nach § 341 Abs. 3 nicht vollständig ausschließbar; BGH, NJW 1983, 1671: Kein vollständiger Ausschluss der Berufung auf Preis- und Kalkulationsirrtümer. 21 Ulmer in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht Kommentar, 10. Aufl. 2006, zu § 310 BGB Rz. 31 m. w. N.

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Auf diese Weise können die an sich unanwendbaren §§ 308, 309 BGB und die in ihnen enthaltenen Klauselverbote doch zum Zuge kommen unter Beachtung des geltenden Gewohnheitsrechtes und bestehender Gebräuche22. Beispielhaft heißt es im Tenor eines BGH-Urteils vom 19.9.2007: „Fällt eine Klausel in Allgemeine Geschäftsbedingungen bei ihrer Verwendung gegenüber Verbrauchern unter eine Verbotsnorm des § 309 BGB, so ist dies ein Indiz dafür, dass sie auch im Falle der Verwendung gegenüber Unternehmern zu einer unangemessenen Benachteiligung führt, es sei denn, sie kann wegen der besonderen Interessen und Bedürfnisse des unternehmerischen Geschäftsverkehrs ausnahmsweise als angemessen angesehen werden (im Anschluss an BGHZ 90, 273, 278 zu § 11 AGBG)“23. 2. Einschränkung von Freizeichnungsklauseln durch Statuierung von Kardinalpflichten Eine besondere Bedeutung für die Inhaltskontrolle von Geschäftsbedingungen und Verkehr zwischen Unternehmen/Kaufleuten untereinander spielt § 307 Abs. 2 Satz 2 BGB, wonach eine unangemessene Benachteiligung im Zweifel auch dann anzunehmen ist, wenn eine Bestimmung von „wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelungen“ oder wenn wesentliche Rechte oder Pflichten, die sich aus der Natur eines Vertrages ergeben, so eingeschränkt werden, dass die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet wird. § 307 BGB ist mithin ein Auffangtatbestand und wird als Kernstück des AGB-Rechts bezeichnet, denn selbst wenn eine Klausel nicht unter die Verbote der §§ 308, 309 BGB fällt, kann sie aus besonderen, von den vorstehenden Vorschriften nicht erfassten Gründen unwirksam sein24. So ist bei Annahme der Verletzung einer wesentlichen Vertragspflicht eine Haftungsfreizeichnung bereits im Verhältnis zwischen Unternehmer und Verbraucher auch bei einfacher Fahrlässigkeit nicht möglich. Freizeichnungsklauseln, die nicht zwischen der Verletzung wesentlicher und nicht wesentlicher Vertragspflichten unterscheiden, sind nach der Rechtsprechung des BGH im Zweifel auch im kaufmännischen Rechtsverkehr unwirksam25. Somit führt die Auslegung von § 307 Abs. 2 BGB (keine Abweichung von wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, keine Einschränkung von wesentlichen Rechten oder Pflichten, welche die Erreichung des Vertragszweckes gefährden) dazu, dass bei der Verletzung von sog. „Kardinalpflichten“ (wesentliche Vertragspflichten) die Haftung für einfache Fahrlässigkeit i. d. R.

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Palandt (Fn. 11), § 307 BGB Rz. 39. BGH, DNotZ 2008, Heft 5, S. 365. Palandt (Fn. 11), § 307 BGB Rz. 1. Langer, Haftungsausschluss und Haftungsbegrenzung gegenüber Unternehmern in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, WM 2006, 1233 ff. mit Hinweis auf die Rechtsprechung des BGH; BGH, WM 1984, 477 = NJW 1984, 1350, 1351; WM 1985, 127 = NJW 1985, 623, 237; WM 1984, 1224 = NJW 1985, 3016, 3018; NJW-RR 1986, 271, 272; NJW-RR 1988, 559, 561; WM 1992, 1413 = NJW 1992, 2016, 2017.

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nicht ausgeschlossen werden darf26. Im Einzelfall kommt es darauf an, ob der Haftungsausschluss tatsächlich eine Kardinalpflicht betrifft. So kann z. B. nach der Rechtsprechung des BGH die Echtheitsprüfung von Dokumenten im Akkreditivgeschäft für leichte Fahrlässigkeit durch AGB ausgeschlossen werden27. In der Entscheidung lehnte der BGH die teilweise im Schrifttum vertretene Auffassung28, wonach eine auch nur teilweise Freizeichnung für erkennbare Fälschungen nicht möglich sei, weil der damalige Art. 15 ERA 500 die Prüfung der Dokumente zu einer „Kardinalpflicht“ i. S. d. damaligen § 9 Abs. 2 Nr. 2 AGBGB mache, mit der Begründung ab, dass Art. 15a ERA eine Kardinalpflicht nur insoweit begründe, als es um die Feststellung einer zielgerichteten Prüfung der Dokumente auf ihre formelle Übereinstimmung mit den Akkreditivbedingungen geht. Zutreffend führt das Urteil aus, dass die Verpflichtung einer Bank, keine Zahlung gegen gefälschte Dokumente vorzunehmen, nicht eine Besonderheit des Akkreditivgeschäftes darstellt, sondern ein allgemeiner Rechtsgrundsatz ist, der für alle Bankgeschäfte gilt; es handelt sich dabei nicht um eine Haupt- oder Kardinalpflicht, sondern um eine sog. Schutzoder Nebenpflicht, die für die Abwicklung von Bankaufträgen aller Art gilt.

IV. Vertragskorrektur durch Wahl der Auslegungsmethode 1. Wahlfreiheit Weithin unbeachtet ist das Phänomen, dass die Vertragsfreiheit von Unternehmen nicht nur durch Auslegung bestehender Gesetze und Ausweitung ihrer Grundgedanken, sondern vorrangig dadurch modifiziert wird, dass sowohl inländische als auch ausländische Gerichte geschlossene Verträge durch eine für die Parteien häufig nicht voraussehbare Wahl einer bestimmten Auslegungsmethode korrigieren. Im deutschen Recht stehen sich gegenüber: Die „ergänzende Auslegung“, die eine Lücke einer rechtsgeschäftlichen Regelung voraussetzt, und die „einfache Auslegung“, die eine rechtsgeschäftliche Regelung als gegebenen Text hinnimmt und sich bemüht, seinen Sinn zu ermitteln29. Umstritten ist dabei das Verhältnis zwischen § 133 BGB, der auf dem

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26 Ständige Rechtsprechung vgl. BGHZ 89, 367; 93, 48; BGH, NJW 1993, 335; allerdings hat der BGH die Rechtsprechung des Freizeichnungsverbotes auf die grundlegende Organisation der betrieblichen Arbeitsabläufe und die Schaffung der wesentlichen Voraussetzungen für eine ordnungsgemäße Vertragserfüllung beschränkt (BGHZ 49, 363; 71, 228). 27 BGH, WM 1989, 1713 (BuB IH2 Akkreditiv 1.90 [Nielsen]). 28 Canaris, Bankvertragsrecht, 3. Aufl. 1988, Rz. 919. 29 Kötz, Vertragsauslegung, in FS Zeuner, 1984, S. 2019 = ders., Europäisches Vertragsrecht I, 1996, § 7, S. 162 ff. Innerhalb der einfachen Auslegung stehen sich gegenüber – die subjektiv individuelle Methode, die sich am Wollen des Erklärenden als einer psychischen Tatsache orientiert, – die objektivierende Methode, die auf den Sinn einer Erklärung für den konkreten Erklärungsempfänger abstellt, – die typisierende Methode, für die es nicht auf die besonderen Verhältnisse der bei Geschäftsabschluss Beteiligten, sondern vielmehr darauf ankommt, ob für die Angehörigen des angesprochenen, unbestimmten Personenkreises die auslegungsrelevanten Umstände allgemein erkennbar waren; Mayer-Marly/Busche in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, Bd. 1, § 133 BGB Rz. 6 m. w. N.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 69 ff.

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empirischen Parteiwillen abstellt, und § 157 BGB, der auf die objektive Erklärungsbedeutung verweist. Zwar haben Rechtsprechung und Lehre aus den beiden Normen unter Einbeziehung von allgemeinen Rechtsgrundsätzen einen weitgehend anerkannten Kanon von Auslegungsgrundsätzen entwickelt30. Gleichwohl ändert die Anerkennung auf einen solchen Kanon nichts daran, dass die Rechtsprechung deswegen zu überraschenden Urteilen kommt, weil ein Gericht in der Wahl der Auslegungsmethode grundsätzlich frei ist und von dieser Freiheit auch Gebrauch macht. Das zeigt sich darin, dass ein Urteil nicht selten von der Wahl der Auslegungsmethode abhängig ist; dies ist besonders nachteilig bei der Auslegung der Bestimmungen des UN-Kaufrechtes (CISG). Zwar sind nach Art. 8 Abs. 1 CISG „Erklärungen und das sonstige Verhalten einer Partei nach deren Willen auszulegen, wenn die andere Partei diesen Willen kannte oder darüber nicht in Unkenntnis sein konnte“. Unter diesen Voraussetzungen soll ein objektiver Maßstab angelegt und die Bedeutung ermittelt werden, die ihnen von einer vernünftigen Partei „der gleichen Art wie die andere Partei“ unter den gleichen Umständen beigelegt worden wäre. Gleichwohl interpretieren die nationalen Gerichte das UN-Kaufrecht aufgrund des Fehlens einer zentralen Instanz für die authentische Auslegung meist nach eigenem nationalen Verständnis ohne Berücksichtigung der Rechtsprechung anderer Länder31. Ein prominentes Beispiel für die eigenwillige Auslegung des UN-Kaufrechtes bietet das BGH-Urteil WM 1996, 1594, in dem es um die Frage ging, wann eine Falschlieferung bei einem grenzüberschreitenden Abladegeschäft als „wesentlich“ anzusehen ist. Das war im Urteilsfall von Bedeutung, weil nach Art. 49 Abs. 1a CISG der Käufer bei einem Abladegeschäfte nur dann zum Rücktritt berechtigt ist, wenn eine Schlecht- oder Falschlieferung als wesentliche Vertragsverletzung zu qualifizieren ist. Obwohl im Urteilsfall keines der vom Verkäufer zum Nachweis ordnungsgemäßer Lieferung vorgelegten vier Analysezertifikate die vertraglich vereinbarten Werte auswies, hat der BGH ein Recht des Käufers auf Zurückweisung der Dokumente verneint, weil die Abweichungen nicht als „wesentlich“ i. S. v. Art. 49 Abs. 1a CISG anzusehen seien. Das Urteil ist aus Sicht des Verfassers verfehlt, weil bei internationalen Abladegeschäften mit dokumentärer Zahlungsklausel Abweichungen bei der Zusammensetzung der Ware von den im Vertrag vereinbarten Werten nach international kaufmännischer Usance immer als wesentlich anzusehen sind. 2. Grenzen der Auslegung Eine besondere Problematik stellt sich bei der Auslegung von abstrakten Zahlungsversprechen (Wechsel, Akkreditiv, Garantie), weil diese nicht aus dem Gesamtkontext des zugrunde liegenden Vertrages, sondern nur aus der jeweiligen Verpflichtungsurkunde selbst heraus auszulegen sind. Trotz des in § 133 BGB enthaltenen Verbotes der Buchstabeninterpretation32 hat die Auslegung

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30 Palandt (Fn. 11), § 133 BGB Rz. 1. 31 Schlechtriem/Herber/Schütze in Bucher, Wiener Kaufrecht, 1991, S. 139 ff. 32 BGH, NJW 2002, 1260.

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vom Wortlaut der Erklärung auszugehen. Sofern diese nicht eindeutig ist, kommt es darauf an, ob die Auslegung im Rahmen des Kontextes der Urkunde zu erfolgen hat oder ob auch außerhalb der Urkunde liegende Umstände herangezogen werden dürfen. Das ist nicht der Fall. In diesem Sinne hat auch der BGH Zulässigkeit und Grenzen der Auslegung dokumentärer Zahlungsversprechen wie folgt definiert: „Ein Standby Letter of Credit ist ebenso wie ein Dokumenten-Akkreditiv einer Auslegung zugänglich, die nicht nur auf den Wortlaut, sondern auch auf den aus der Urkunde erkennbaren Sinn und Zweck der in ihm enthaltenen Bestimmungen abstellt“33. Die Betonung liegt darauf, dass die Umstände für eine Auslegung sich aus der Urkunde, d. h. nicht aus dem Grundgeschäft ergeben müssen. Nur mit dieser Einschränkung gilt die Feststellung des BGH, dass der Grundsatz der Dokumentenstrenge nicht im Widerspruch zu einer interessengerechten Auslegung steht34. 3. Die sozialverträgliche Aufhebung des Abstraktheitsprinzips von Fall zu Fall Ein nicht unproblematischer Eingriff in die Vertragsfreiheit durch Rechtsprechung und Lehre besteht in der Aufhebung des Abstraktheitsprinzips zwecks Vermeidung unbilliger Ergebnisse. Die Problematik besteht darin, dass sich die Gerichte über den klaren Wortlaut der von den Parteien geschlossenen Vereinbarung hinwegsetzen, wonach eine abgegebene abstrakte Verpflichtungserklärung unabhängig von dem zugrunde liegenden Grundvertrag sein soll. Die Entdeckung des Abstraktheitsprinzips für das deutsche Recht geht bekanntlich auf Savigny zurück und diente der Lösung der scheinbar einfachen Frage: „Wie wird Eigentum übertragen?“35 Die Erfindung des Trennungsprinzips durch Savigny bestand in der Verselbständigung der dinglichen Übertragung gegenüber dem obligatorischen Schuldvertrag36. Darüber hinaus hat das BGB auch Verpflichtungsgeschäfte als abstrakte Rechtsgeschäfte ausgestaltet (Schuldversprechen § 780 BGB, Schuldanerkenntnis § 781 BGB, Annahme der Anweisung § 784 BGB und ferner die Verpflichtung auf umlauffähigen Wertpapieren wie Wechsel, Scheck und Inhaberschuldverschreibung § 793 BGB). Das Trennungs-

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33 Nielsen, Auslegung eines Standby Letter of Credit über den Wortlaut hinaus, EWiR Heft 7/94, 635 f.; BGH, WM 1994, 1063. 34 BGHZ 115, 15 = ZIP 1991, 1437 m. w. N., dazu EWiR § 920 BGB 1/91, 1075 (Quack); BGH, WM 1992, 2026, 2028; BGH, WM 1993, 759, 760 m. w. N. 35 Zitiert nach Hoeren, Zivilrechtliche Entdecker, 2001, S. 73 ff. Die Frage geht auf das römische Recht zurück, das als erstes zwischen Eigentum (dominiun) und Besitz (possessio) unterschied. Der Grundsatz des justinianischen Rechtes, wonach für den Eigentumswechsel eine traditio, d. h. die Übergabe ausreichend sei, wurde durch die Auffassung modifiziert, dass zur Übergabe eine „Zutat“ hinzutreten müsse (vgl. zu den nicht ganz eindeutigen Quellen des corpus juris Haag Molketeller, Die These vom dinglichen Vertrag, 1961, S. 61). 36 „Die Tradition ist ein wahrer Vertrag, da alle Merkmale des Vertragsbegriffs darin wahrgenommen werden: Denn sie enthält von beiden Seiten die auf gegenwärtige Übertragung des Besitzes und des Eigentums gerichtete Willenserklärung.“ Savigny, System des heutigen römischen Rechtes, III, 1840, S. 312; ebenso Hugo Donellus in seinem Kommentar zur Glossensammlung des Accursins Lib. IV, Kap. 16 „Nihil tertium praeter illa duo, traditionen et animun requiatur“, zitiert nach Hoeren (Fn. 35), S. 88.

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und Abstraktionsprinzip ist eine Eigenart des deutschen Rechtes, war früher rechtspolitisch umstritten, hat sich aber im Ganzen gesehen bewährt37. Mag nun auch das Trennungs- und Abstraktionsprinzip eine Besonderheit des deutschen Rechtes sein, so ist doch unzweifelhaft, dass der für abstrakte Zahlungsverpflichtungen – sei es aus Schuldversprechen, Garantie auf erstes Anfordern oder Akkreditiv – geltende Grundsatz der Eigenständigkeit der Zahlungsverpflichtung fester Bestandteil internationaler Verträge ist mit der einzigen Modifikation, dass die Unabhängigkeit der Zahlungsverpflichtung vom Grundgeschäft in ausländischen Rechtsordnungen anders formuliert wird und zum Teil davon abgeraten wird, Begriffe wie Abstraktheit überhaupt zu verwenden38. Doch gerade der von den Parteien bei Vereinbarung abstrakter Schuldversprechen beabsichtigte konstruktive Einrede- und Einwendungsausschluss wird von der Rechtsprechung sowohl inländischer als auch ausländischer Gerichte kritisch überprüft und entweder durch Auslegung oder nach völlig unterschiedlichen Kriterien durchbrochen. 4. Wirksame Vertragserfüllungsbürgschaft trotz unwirksamen Verzichts auf § 768 BGB Im Gegensatz zu früheren Entscheidungen des BGH über die Unwirksamkeit einer formularmäßig vereinbarten Avalbeschaffungsklausel steht die neue Entscheidung des BGH vom 12.2.200939. Nach vorgenanntem Urteil bleibt die Sicherungsvereinbarung trotz des unwirksamen Verzichtes auf die Einrede des § 768 BGB unbedenklich, „soweit sie die Verpflichtung der Hauptschuldnerin enthält, eine selbstschuldnerische, unbefristete Bürgschaft einer deutschen Großbank (…) zu stellen“. Der Gläubiger verliert also trotz Teilunwirksamkeit des Grundvertrages nicht seinen Anspruch auf Stellung einer Sicherheit.

V. Auslegung von Treu und Glauben und Rechtsmissbrauch im ständigen Wandel 1. Variierende Missbrauchskriterien Ein weites Feld stellt die Prognose der Auswirkung der Generalklauseln der §§ 242, 134, 138 BGB auf geschlossene Verträge dar. Dabei ist eines der wichtigsten Verbote die Unzulässigkeit des Rechtsmissbrauchs, die aus dem übergeordneten Grundsatz von Treu und Glauben i. S. v. § 242 BGB hergeleitet wird

__________ 37 Rother, AcP 169, 1; Grigoleit, AcP 199, 379; vgl. Palandt (Fn. 11), Überbl. Vor § 104 BGB mit dem Hinweis, dass Trennungs- und Abstraktionsprinzip wohl keine Aussicht haben, sich im Prozess der europäischen Rechtsvereinheitlichung auf Dauer zu behaupten. 38 Vgl. beispielhaft Art. 4 ERA 600: „A credit by its nature is a separate transaction from the sale or other contract on which it may be based.“ 39 NJW 2002, 1664 mit folgendem Leitsatz: „Die Unwirksamkeit der Verpflichtung zum Verzicht des Bürgen auf die Einrede nach § 768 führt nicht zur Unwirksamkeit der Sicherungsvereinbarung im Übrigen.“

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und nicht nur für einfache Rechtsgeschäfte, sondern auch für alle abstrakten Zahlungsversprechen (Wechsel, Akkreditiv, Garantie, Schuldanerkenntnis i. S. v. § 780 BGB) hergeleitet und als das „wohl wichtigste Anwendungsgebiet des § 242 BGB bezeichnet wird“40. Einigkeit besteht darüber, dass der Einwand des Rechtsmissbrauchs insbesondere gegenüber der Verpflichtung aus abstrakten Zahlungsversprechen auf extreme Ausnahmefälle zu beschränken ist, weil anderenfalls die Funktion dieser Rechtsinstitute in Frage gestellt wird. Gleichwohl besteht die Problematik darin, dass es keine eindeutige bzw. allgemein anerkannte Formulierung gibt – ebenso wie im IPR für die Definition des ordre public zur Umschreibung des Rechtsmissbrauchs41. Mit allgemeinen Formulierungen wie z. B. von Canaris, der auf die „Schwere des Mangels im Valutaverhältnis“ sowie darauf abstellt, „dass ein Einwendungsdurchgriff einen besonders schwerwiegenden Fall als Rechtsmissbrauch voraussetzt“, ist nichts gewonnen42. Auch der Versuch, klare Beurteilungskriterien durch Bildung von drei Fallgruppen zu schaffen, war bisher nicht erfolgreich43. Der BGH hat versucht, den Einwand des Rechtsmissbrauchs für das Akkreditivgeschäft wie folgt zu definieren: „Der Einwand unzulässiger Rechtsausübung greift nur durch, wenn der Begünstigte aus dem Akkreditiv hervorgeht, obwohl für jedermann klar ersichtlich oder zumindest liquide beweisbar ist, dass ihm ein Zahlungsanspruch aus dem Kausalgeschäft nicht zusteht“44.

Im Gegensatz zu seiner eigenen Definition neigt der BGH jedoch dazu, einen Rechtsmissbrauch nur zu bejahen, wenn der Gläubiger/Begünstigte auch mit bedingtem Schädigungsvorsatz gehandelt hat45. Es ist jedoch mehr als problematisch, den Tatbestand des Rechtsmissbrauchs zusätzlich zu einer subjektiv vorwerfbaren Einstellung des Begünstigten abhängig zu machen. Das zeigt die Verurteilung einer Bank zur Auszahlung eines Akkreditivs, bei dem die Zahlungsverweigerung der Bank darauf beruhte, dass objektiv die Lieferung von

__________ 40 Weber in Staudinger, 11. Aufl., § 242 BGB Anm. D 766 ff. 41 Schütze, Das Dokumentenakkreditiv im Internationalen Handelsverkehr, 6. Aufl. 2008, Rz. 429 mit dem Hinweis, dass die Gerichte häufig auf Leerformeln ausweichen, wie schon das OLG Düsseldorf, JW 1927, S. 1496, wonach nur aus „schwerwiegenden Gründen in ein wohl erworbenes Recht“ eingegriffen werden darf. 42 Canaris (Fn. 28), Rz. 1139, 1016. 43 Vgl. Schütze (Fn. 41), Rz. 429: Die Forderung aus dem Grundgeschäft besteht nicht wegen Unwirksamkeit des Vertrages oder wegen Anfechtung und Rücktritt; Versuch sich den Akkreditivbetrag durch eine Straftat zu verschaffen mittels Vorlage gefälschter Dokumente (z. B. Anderslieferung Jeans statt Smoking, BGH, WM 1955, 765; 1964, 223); Sittenwidrigkeit des Grundgeschäfts, Waffenlieferung, Drogenhandel (vgl. Canaris (Fn. 28), Rz. 1015; Zahn/Ehrlich/Neumann, Zahlung und Zahlungssicherung im Außenhandel, 7. Aufl., Rz. 2/395). 44 BGH, ZIP 1996, 913 (914); s. ferner BGHZ 101, 84, 91 = ZIP 1987, 1038, dazu EWiR 1987, 1005 (Schütze); BGH, ZIP 1988, 1102 = WM 1988, 1298, 1300, dazu EWiR 88, 1081 (Schütze). 45 v. Caemmerer, Bankgarantien im Außenhandel, in: FS Riese, 1964, S. 303 Rechtsmissbrauch nur „bei offenbar willkürlicher, betrügerischer oder arglistiger Inanspruchnahme“.

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für den Akkreditivauftraggeber unbrauchbarer „Piraterieware“ feststand46. Der BGH bejaht zugunsten des Zweitbegünstigten des Akkreditivs dessen Gutgläubigkeit bezüglich der dubiosen Herkunft der Ware und gesteht ihm mit dieser Begründung einen Zahlungsanspruch zu. Das erscheint problematisch. Erhält nämlich der Verkäufer Ware, die wegen Verstoß gegen § 25 WZG nicht verwertbar ist, so erscheint nach dem hier befürworteten objektiven Missbrauchstatbestand irrelevant, ob der Begünstigte bezüglich der Herkunft der Ware gutgläubig war oder nicht. 2. Objektive Sittenwidrigkeit und sittenwidriges Bewusstsein Nicht immer voraussehbar ist, unter welchen Voraussetzungen und ab wann Gerichte ein Rechtsgeschäft wegen Sittenwidrigkeit i. S. v. § 138 BGB für nichtig erklären oder den Einwand des Rechtsmissbrauchs zulassen. Die Unsicherheit beruht darauf, dass die immer wieder verwandte Formel, wonach ein Rechtsgeschäft sittenwidrig ist, wenn es gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt47, zur Präzisierung wenig beiträgt48. Hinzu kommt, dass die „guten Sitten“ nicht identisch mit sog. „Sittlichkeit“ im gesinnungsethischen Sinne zu verwechseln sind49, gleichwohl aber auf die einer Rechtsordnung eminenten rechtsethischen Werte und Prinzipien verweist und selbst Verstöße gegen den „ordre public“ erfasst50. Problematisch ist dabei, dass die aus den guten Sitten ergebenden Anforderungen dem Wandel des Zeitgeistes unterliegen. Beispiele für einen derartigen Wandel sind u. a. die Rechtsprechung im Verkauf von Arzt- und Rechtsanwaltspraxen und ferner zum sog. geliebten Testament. Soweit die Rechtsprechung dazu einen bereits früher vollzogenen Wandel der Wertvorstellungen lediglich feststellt, gilt sie auch für früher abgeschlossene Verträge51. 3. Ausweg über die Vermutung sittenwidrigen Bewusstseins Ebenso von großer, wenn nicht noch größerer Bedeutung als die Feststellung eines Wandels der guten Sitten ist jedoch die Feststellung bzw. Unterstellung des subjektiven Tatbestandes durch die gegen § 138 BGB verstoßenden Personen. Die notwendige Feststellung des Bewusstseins der Sittenwidrigkeit bei den handelnden Personen wird – wie die nachstehenden Beispiele zeigen – entweder schlicht unterstellt oder vermutet.

__________ 46 Nielsen in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2007, § 120, Rz. 449. 47 BGHZ 10, 232, 69, 297; BGH, NJW 2004, 2668 (2670). 48 Palandt (Fn. 11), § 138 BGB Rz. 2. 49 Sack, Das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden und die Moral als Bestimmungsfaktoren der guten Sitten, NJW 1985, 761 ff. 50 BGHZ 80, 158. 51 BGH, NJW 1982, 2692; BVG, NJW 1984, 2345. Bei der Beurteilung der Wirksamkeit von Testamenten stellt die h. M. aber auf die sittlichen Maßstäbe im Zeitpunkt des Erbfalls ab; OLG Hamm, OLGZ 1979, 427; BGHZ 20, 75.

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Ist z. B. ein Kreditvertrag objektiv sittenwidrig, ist nach der Rechtsprechung auch der subjektive Tatbestand der vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Ausnutzung der schwächeren Lage des Kunden erfüllt52. Diese Vermutung wird schlicht unterstellt, gilt aber nicht, wenn der Kreditnehmer Kaufmann oder Freiberufler ist53. Es ist jedoch nicht ohne weiteres nachvollziehbar, dass bei einem objektiven Sittenverstoß bezüglich des subjektiven Unrechtsbewusstseins Unterschiede gemacht werden, je nach dem, ob der andere Vertragsbeteiligte ein schlichter Verbraucher oder ein Freiberufler oder Kaufmann ist. Soweit es um die Sittenwidrigkeit von Darlehensverträgen (Mitverpflichtung von vermögenslosen Angehörigen) geht, steht nach der Rechtsprechung des BGH die objektive Sittenwidrigkeit fest, sofern kein eigenes fachliches oder persönliches Interesse des Mitverpflichteten an der Kreditaufnahme besteht54. In diesen Fällen wird schlicht vermutet, dass die Bank aus einer verwerflichen Gesinnung heraus gehandelt hat55, was vertretbar erscheint. Auf der gleichen Linie liegen die Entscheidungen der Rechtsprechung zur Gläubigergefährdung, die bei umstrittenen Vermögensübertragungen dann sittenwidrig ist, wenn dadurch gegenwärtige oder künftige Gläubiger über die Kreditwürdigkeit des Schuldners getäuscht werden und beide Vertragspartner bei dieser Täuschung zusammengewirkt haben56. Dabei reicht es in subjektiver Hinsicht, wenn die Vertragspartner mit der Möglichkeit gerechnet haben, dass andere Gläubiger geschädigt werden könnten57. 4. Vermutung der Sittenwidrigkeit auch bei nicht voraussehbarer Änderung der Rechtsprechung Mögen Vermutungen objektiver Erfüllung des Tatbestandes der §§ 138 ff. BGB auf die subjektiv verwerfliche Gesinnung der Beteiligten vertretbar sein, so ist diese Vermutung jedoch nicht gerechtfertigt, wenn die Feststellung der Sittenwidrigkeit eines Geschäftes lediglich auf einer Änderung der Rechtsprechung des BGH beruht. Dies war z. B. der Fall bei der Behandlung von AGBmäßig vereinbarten revolvierenden Globalsicherheiten, die zu einer planmäßigen nachträglichen Übersicherung der kreditgebenden Bank führte. Völlig überraschend erklärte der BGH mit seiner im Jahre 1989 beginnenden Rechtsprechung derartige Sicherungsverträge für unwirksam, sofern sie nicht zur Verhinderung planmäßiger nachträglicher Übersicherung qualifizierte Freigabeklauseln enthielten58. Die sich aufgrund dieser Rechtsprechung ergebende

__________ 52 BGHZ 98, 178; BGH, NJW 1995, 1022. 53 BGH, NJW 1991, 1810; 1995, 1022. 54 Rotter/Placzek in Bankrecht, 2009, (Ansprüche Verfahrensstrategie) § 10, Rz. 51 m. w. N. 55 BGH, NJW 1995, 1019, 1022. 56 BGH, NJW 1995, 1668. 57 BGH, NJW 1995, 1668; Rotter/Placzek (Fn. 54), § 11, Rz. 36 m. w. N. 58 BGHZ 109, 240, 245 ff. = NJW 1990, 716; 117, 374, 377 = NJW 1992, 1626; 120, 300, 302 = NJW 1993, 533; 124, 371, 376 f. = NJW 1994, 861; 124, 380, 386 f. = NJW 1994, 864; 125, 83, 89 = NJW 1994, 1154.

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„heftige Kontroverse“59 wurde nach umfangreicher Diskussion in Rechtsprechung und Schrifttum durch den Großen Senat des BGH mit seiner Entscheidung vom 27.11.1997 beendet mit dem Ergebnis, dass es keine ausdrückliche Freigabeklausel mit zahlenmäßig bestimmter Deckungsgrenze enthalten müsse, sondern dass es ausreichend ist, wenn sich aus dem Sicherungsvertrag „ermessensunabhängige Freigabeansprüche“ für den Fall ergeben, dass der Gesamtwert der Sicherheiten die Deckungsgrenze nicht nur vorübergehend übersteigt60. Wenngleich somit der Große Senat des BGH für eine Korrektur der Rechtsprechung gesorgt hat, so blieb doch bei der Diskussion darüber weitgehend unbeachtet, dass das für die Feststellung der Sittenwidrigkeit erforderliche Merkmal des subjektiven Unrechtsbewusstseins auf Seiten der Banken schlicht unterstellt wurde, obwohl die Änderung der Rechtsprechung in keiner Weise voraussehbar gewesen war und lediglich den Insolvenzverwaltern unverhoffte Gewinne brachte. 5. Plädoyer für die Objektivierung des Tatbestandes der subjektiven Sittenwidrigkeit Wie problematisch die Feststellung der subjektiven Sittenwidrigkeit ist, zeigt sich auch in den Fällen, in denen es bei sittenwidrigem Grundgeschäft um die Unwirksamkeit der zur Ausführung vorgenommenen Verfügungsgeschäfte geht. So sind z. B. bei nichtigem Grundgeschäft die dinglichen Erfüllungsgeschäfte durch Übereignungen, Zessionen von Forderungen oder Belastungen eines Grundstücks ebenfalls nichtig, wenn die Unsittlichkeit gerade im Vollzug des sittenwidrigen Verpflichtungsgeschäftes liegt61. Das ist bei Sicherungsverträgen dann der Fall, wenn im dinglichen Rechtsverlust des Sicherungsgebers das von der Rechtsordnung missbilligte Ergebnis liegt, z. B. die Benachteiligung von Drittgläubigern oder die Übersicherung der Bank. So hat der BGH z. B. entschieden, dass eine Sicherungsübereignung als dingliches Verfügungsgeschäft wegen Gläubigerbenachteiligung ebenso aufgrund Sittenwidrigkeit unwirksam62 ist wie eine Globalzession, die den Zedenten zum Vertragsbruch gegenüber seinen Lieferanten verleitet, an die er die Forderungen im Rahmen eines verlängerten Eigentumsvorbehalts abzutreten hat63. Dies vorausgeschickt fragt sich, ob der Tatbestand der Sittenwidrigkeit nicht schlicht objektiviert werden und auf die Feststellung eines besonderen Unrechtsbewusstseins verzichtet werden sollte. Die Objektivierung könnte darin bestehen, dass es für die Feststellung der Sittenwidrigkeit lediglich auf einen Verstoß gegen eine befestigte Rechtsprechung oder gegen einen Verstoß gegen

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59 Ganter in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2007, § 90, Rz. 359. 60 BGHZ 137, 212 ff. = NJW 1998, 671 ff. = WuB IF4.-2.98 (Eckert) = EWiR 1998, 155 (Median); LM BGB § 138 (Bb) Nr. 86 (Stürmer) = JZ 1998, 462 (Roth); vgl. dazu ferner Serick, Der Beschluss des Großen Senats vom 27.11.1997 am Pranger höchstrichterlicher Rechtsfortbildungsblockade, BB 1998, 801 ff. 61 Rotter/Placzek (Fn. 54), § 11, Rz. 46 m. w. N. 62 BGH, NJW 1995, 1668. 63 BGHZ 72, 308, 310.

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die in Kreisen der Vertragsparteien allgemein anerkannten Verhaltensverbote ankommt.

VI. Zunehmende Anerkennung zwingender Vorschriften wirtschaftsund sozialpolitischer Art durch Aktualisierung des Begriffs der Sittenwidrigkeit i. S. v. § 138 BGB Die dem Zeitgeist folgende Interpretation des Begriffs der Sittenwidrigkeit i. S. v. § 138 BGB zeigt sich in der zunehmenden Anerkennung von zwingenden Vorschriften des Auslandsrechtes bei Verträgen mit Auslandsberührung zwecks Herstellung eines nicht unumstrittenen „rechtspolitischen Interessengleichklangs“ zwischen dem Forumstaat und dem ausländischen Staat betreffend der Anwendung von ihm erlassener zwingender Vorschriften. Die Berücksichtigung fremden Eingriffsrechtes kann erhebliche Auswirkungen haben, da dieses häufig „weitreichende Eingriffe in das Vertragsgefüge bis hin zur Unwirksamkeit der Vereinbarung vorsieht64. 1. Territorialitätsprinzip Die Ausgangslage ist an sich wie folgt: Ist ausländisches Recht das Rechtswahlvertragsstatut, so kommt eine Anwendung zwingender Vorschriften ausländischer Eingriffsnormen nur unter den Voraussetzungen der Art. 27 Abs. 3, 29 Abs. 1 und 30 Abs. 1 EGBGB in Betracht; bei Maßgeblichkeit deutschen Rechts nach objektiver Anknüpfung gemäß Art. 28, 29 Abs. 2 und 30 Abs. 2 EGBGB scheidet die Anwendung zwingender Vorschrift eines fremden Rechtes grundsätzlich aus65. Demgemäß war lange unter Berufung auf das Territorialitätsprinzip die Auffassung von Canaris herrschend, der bei Nichtigkeit des Grundgeschäfts wegen Verstoß gegen ausländische Gesetze gegenüber abstrakten Zahlungsversprechen (Akkreditiv, Garantie) den Einwand des Rechtsmissbrauchs bzw. der Gesetzesumgehung nicht gelten ließ66. Auch der BGH hat in früheren Jahren den Grundsatz der Nichtanwendung ausländischen öffentlichen Rechts aufgestellt und ist insoweit gleichfalls dem Territorialitätsprinzip gefolgt67. Lediglich wenn das ausländische Staat in der Lage war, eine nach dem Territorialitäts-

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64 Freitag in Reithmann/Martiny, Internationales Vertragsrecht, 6. Aufl. 2004, Rz. 466. 65 Palandt (Fn. 11), §§ 34, 35 EGBGB Rz. 4 Eine Ausnahme gilt für ausländische Devisenvorschriften nach Art. 8 VIII des Abkommens von Bretton Woods. 66 Canaris (Fn. 28), Rz. 1019 „Nichtigkeit nach § 134 BGB kommt freilich bei einem Verstoß gegen ein ausländisches Verbotsgesetz von vornherein nicht in Betracht und dürfte grundsätzlich auch bei einem Verstoß gegen ein inländisches Verbotsgesetz ausscheiden, weil sich dieses nicht gegen das Zahlungsversprechen der Bank als solches, sondern nur gegen das Warengeschäft richtet und wegen der Abstraktheit des Zahlungsversprechens wohl auch nicht ohne weiteres auf diese durchschlägt.“ 67 Freitag (Fn. 64), Rz. 477 mit dem Hinweis, dass die meisten Entscheidungen, die das Enteignungsrecht betrafen, dabei auch im Bereich des Devisen- und Außenhandelsrechtes angewendet wurden (BGHZ 9, 34; BGHZ 12, 79; BGHZ 25, 134; BGHZ 31, 367).

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prinzip an sich irrelevante Eingriffsvorschrift praktisch durchzusetzen, wurden diese nach der sog. „Datum Theorie“ materiell berücksichtigt68. 2. Interessengleichklang und Solidaritätserwägungen Im Gegensatz zur früheren Rechtsprechung gehen inländische Gerichte heute zunehmend dazu über, ausländische Verbotsgesetze auf dem Umweg über § 138 BGB anzuwenden, insbesondere wenn sie gleichzeitig wesentliche Grundgedanken des deutschen Rechtes enthalten69. Von besonderem Interesse ist dabei, nach welchen Kriterien die Gerichte bei Verträgen, in denen deutsches Recht Vertragsstatut war, den Verstoß gegen ausländische Gesetze als sittenwidrig qualifizierten. Es zeigt sich, dass bei der Bewertung durchaus auch Sympathien bzw. Antipathien als auch rein politische Motive i. S. d. Solidarität mit befreundeten Daten eine Rolle spielten. In diesem Sinne hat der BGH in der „BORAX“-Entscheidung darauf abgestellt, dass die von den Parteien verletzten amerikanischen Embargo-Vorschriften nicht nur im Interesse des Erlassstaates (USA), sondern des „gesamten freiheitlichen Westens“ und damit auch im Interesse der Bundesrepublik liegen70. Auf der gleichen Linie liegt die Entscheidung des BGH im sog. „Bohrsäure“Fall, bei dem gleichzeitig über die Auswirkungen eines Verstoßes gegen USamerikanische Embargoregelungen zu entscheiden war71. Ferner hat der BGH einen Seegüterversicherungsvertrag für unwirksam erklärt, weil das Grundgeschäft (Export nigerianischer Masken) gegen das nigerianische Ausfuhrverbot betreffend den Erhalt nigerianischen Kulturgutes verstieß, obwohl die betreffenden Verbotsgesetze auch nicht mittelbar deutsche Interessen berührten. Nach Auffassung des BGH müsse jedoch die Umgehung solcher Schutzgesetze als verwerflich betrachtet werden, da sie nach heutiger Auffassung allgemein zur Achtung der Interessen aller Völker an der Erhaltung von Kulturwerten zuwider liefen72. In einem weiteren Fall, in dem es um die Bestechung ausländischer Beamter ging, hat der BGH festgestellt, diese sei auch bei Anwendung deutschen Rechts zu missbilligen, denn die Verletzung der betreffenden ausländischen Rechtsnormen enthielten gleichzeitig auch eine Verletzung „allgemein gültiger sittlicher Grundsätze“, die deshalb nach den in Deutschland herrschenden rechtlichen und sittlichen Anschauungen anzuerkennen seien73. Wie die Entscheidungsgründe zeigen, kommt es bei der Anwendung von Generalklauseln wie § 138 BGB immer auch auf eine wertende Betrachtung an, die im Wandel der rechtlichen und sittlichen Anschauungen und möglicherweise auch politischen Zweckmäßigkeitserwägungen folgt. Das kaufmännische Risiko besteht

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68 BGHZ 31, 367, 371; Mülbert, Ausländische Eingriffsnormen als Datum, IPRax 1986, 40 f.; vgl. auch Martiny in MünchKomm.BGB, 2006, Art. 34 EGBGB Rz. 27. 69 Horn in Staudinger, 1997, Vorbem. zu § 765 BGB Rz. 189. 70 BGHZ 34, 169, 177 = NJW 1961, 822. 71 BGH, NJW 1962, 2436, 1437. 72 BGHZ 59, 82; BGH, NJW 1972, 1575; NJW 1972, 2179. 73 BGHZ 94, 268 = NJW 1985, 2405.

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darin, dass bei Vertragsschluss nicht immer voraussehbar ist, ob der Vertrag im Falle eines Rechtsstreites dem Verdikt des § 138 BGB unterfällt. So hat der BGH z. B. aus Verstößen gegen ausländische Embargobestimmungen Schadensersatzansprüche gemäß § 826 BGB wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung hergeleitet74. Es ging um thailändische Boykottbestimmungen gegenüber dem damaligen Apartheidsregime in Südafrika, die zur Folge hatten, dass südafrikanische Ware in Thailand beschlagnahmt wurde, was zu finanziellen Nachteilen für die durch die Konfiskation getroffene Vertragspartei führte. Wenngleich in den vorgenannten Fällen weder ein Interessengleichklang noch überhaupt eine Gefährdung deutscher Interessen angenommen werden konnte, so hat der BGH doch darauf abgestellt, dass durch die Embargoverstöße „sehendes Auges die Gefährdung von Vermögensinteressen Dritter herbeigeführt wurde“. Insoweit hat der BGH also keinen Verstoß gegen anerkannte Sittengrundsätze angenommen, sondern auf die faktische Auswirkungen der Verstöße für die Vertragsabwicklung abgestellt. 3. Verpflichtung zur Anwendung des Rechtes der Mitgliedsstaaten der EG Nur vorsorglich sei darauf hingewiesen, dass die Problematik von Verstößen gegen ausländisches Eingriffsrecht innerhalb der EU kaum noch eine Rolle spielt. Nach § 29a EGBGB sind die deutschen Gerichte verpflichtet, Vorschriften anderer EU-Mitgliedschaften insbesondere auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes international zwingend anzuwenden, soweit es um die Umsetzung rechtsangleichender EU-Richtlinien geht. Zwar hat die Bundesrepublik gegen Art. 7 Abs. 1 EVÜ, der einen weiteren Teilbereich der Problematik in Bezug auf die Handlung zwingender Vorschriften von Drittstaaten, die bei enger Verbindung ohne Rücksicht auf das nach internationalem Privatrecht geltende Recht anzuwenden sind, einen Vorbehalt bei der Ratifizierung gemacht (vgl. Art. 22 Abs. 1 lit. a EVÜ); dies geschah jedoch nicht zwecks Ablehnung einer Sonderanknüpfung und zwingende Rechtsvorschriften des Mitgliedsstaates mit der engsten Verbindung zum Sachverhalt, sondern um eine „gewollte offene Regelungsbrücke zu schaffen, deren Schließung durch Rechtsfortbildung erfolgen sollte“75. So erklärt sich, dass die Grundsätze für die ausländischen zwingenden Bestimmungen zwar immer noch Gegenstand eines viel diskutierten Meinungsstreites sind, dessen Umfang allerdings die praktische Bedeutung der Problematik übersteigen dürften. Das zeigt sich auch an der heute verhältnismäßig geringen Anzahl von Gerichtsentscheidungen, die sich mit ausländischem Eingriffsrecht befassen76. Regelmäßig werden nämlich die Parteien eines grenzüberschreitenden Vertrages von vornherein ausländische Ausfuhr- oder Devisenvorschriften beachten, die der betreffende Staat in der Lage ist faktisch durchzusetzen.

__________ 74 BGH, NJW 1991, 634 (thailändisches Embargo I); BGH, NJW 1993, 194 (thailändisches Embargo II); vgl. WuB IVa § 826 BGB Nr. 2.93 (Scharrenberg). 75 Freitag (Fn. 64), Rz. 467. 76 Freitag (Fn. 64), Rz. 470.

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Gleichwohl ist es reizvoll zu verfolgen, wie sich die Rechtsprechung und vor allem nach welchen Kriterien sich Verstöße gegen ausländische zwingende Bestimmungen mit Hilfe des § 138 BGB durchgesetzt haben. Bereits die Rechtsprechung des RG (Reichsgericht) hatte bei „Schmuggelverträgen“ die Nichtigkeit häufig aus den „hiermit verbundenen, im höchsten Grad demoralisierenden Wirkungen“ hergeleitet77. Der BGH hat einen Verstoß gegen die guten Sitten insbesondere auch dann angenommen, wenn die betreffende ausländische Vorschrift mittelbar auch deutsche Interessen schützt78 oder wenn es um Vorschriften geht, die Interessen schützen, die allgemein von allen Völkern geteilt werden79 oder wenn eine Verletzung allgemein gültiger, sittlicher Grundsätze vorliegt80. Wenngleich somit ein Verstoß gegen die guten Sitten i. S. v. § 138 BGB zur Voraussetzung hat, dass die der ausländischen Verbotsnorm zugrunde liegenden Wertungen einschließlich dem zugrunde liegenden Interessenschutz vom Recht des Gerichtsstandes, im Zweifel also nach deutschem Recht, erteilt werden, zeigen die Beispiele doch, dass den Entscheidungen der Gerichte auch Opportunitätsgesichtspunkte unter Berücksichtigung der freundschaftlichen Beziehungen zu fremden Staaten zugrunde liegen.

VII. Zunehmende Bedeutung von Finanzsanktionen Zusätzlich sind bei Abschluss von Verträgen mit Auslandsberührung die deutschen Bestimmungen des Außenwirtschaftsrechtes, d. h. das Außenwirtschaftsgesetz (vgl. BAnz 2003, Nr. 243, 26137), die Außenwirtschaftsverordnung (vgl. BAnz 2003, Nr. 233, 25473) sowie das Kriegswaffenkontrollgesetz zu beachten. Diese Vorschriften werden heute jedoch weitgehend durch das Außenwirtschaftsgericht der Europäischen Gemeinschaft überlagert und ergänzt, denn gemäß Art. 133 EG besitzt die Gemeinschaft heute die ausschließliche Kompetenz für Maßnahmen des Außenhandels, aufgrund deren eine Vielzahl von außenhandelspolitischen Maßnahmen, besonders der Einfuhr und Ausfuhr sowie des Zollrechts erlassen werden. Insbesondere ist die Gemeinschaft für handelspolitische Sanktionen in Form eines Embargos gemäß EG-Vertrag Art. 103 zuständig81. Wer je den Versuch gemacht hat, sich eine Übersicht über die derzeit geltenden Verbote und Beschränkungen zu machen, indem er die Internetseite der Bundesbank unter „www.bundesbank.de.finanz sanktionen“ aufruft, welche die Länder von Birma angefangen bis Korea betrifft, wird alsbald nach einer Orientierungshilfe suchen. Das liegt daran, dass die an sich nur für Beschränkungen des Kapital- und Zahlungsverkehrs gedachten Vorschriften nicht nur umfassend, sondern zum Teil auch ausgesprochen

__________ 77 78 79 80 81

RGZ 43, 295, 297. BGHZ 34, 169, 177. BGHZ 59, 82, 85 (nigerianische Masken). BGHZ 94, 268 = NJW 1985, 2404 (Bestechung). Freitag (Fn. 64), Rz. 428 mit beispielhaften Hinweisen auf die Handelsembargen gegen Liberia, Libyen, Sierra Leone, Somalia, Sudan und ferner gegen Personen und Organisationen in Simbabwe sowie gegen die Taliban von Afghanistan, Osama bin Laden und das Al-Quaida-Netzwerk.

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ungenau formuliert sind. Ein aktuelles Beispiel bieten dafür die derzeitigen und zum Teil widersprüchlichen Iran-Sanktionen, die möglicherweise bei Erscheinen der Festschrift ein weiteres Mal geändert sind. Zunächst jedenfalls setzte das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie die UNOResolutionen 1737 (2006 vom 23.12.2006) und 1747 (2007 vom 24.3.2007) zur Verhinderung des Baus einer Atombombe durch den Iran aufgrund der Ermächtigung in den §§ 2 Abs. 2, 7 Abs. 1 Nr. 2, 3 AWG mit Anordnung vom 26.3.2007 (BAnz Nr. 61 vom 28.3.2007, S. 3337) in nationales Recht um. Gemäß Ziffer 2 i. V. m. Ziffer 1 dieser Anordnung durften bestimmten iranischen Banken keine Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen mehr zur Verfügung gestellt werden. Unter dem Begriff „Gelder“ fielen gemäß Art. 1 Nr. 1 der VO (EG Nr. 881/302) auch Akkreditivdokumente. Obwohl nach Sinn und Zweck der zitierten Verordnungen klar sein musste, dass es nur darum gehen konnte, einen Kapitaltransfer oder die Weiterleitung von Warendokumenten zu unterbinden, wurden die besagten Verordnungen – bei zunächst unentschiedener Stellungnahme der Bundesbank – dahin ausgelegt, dass bei Akkreditivgeschäften auch eine fristwahrende Dokumentenvorlage bei Inlandsfilialen iranischer Banken, die als Zahlstelle fungierten, unzulässig sei. Diese Auslegung stellte nach Auffassung des Verfassers von Anfang an eine grobe Überinterpretation dar, denn keine UNO-Resolution bzw. ihre Umsetzung in Inlands-/Gemeinschaftsrecht darf oder kann die fristwahrende Vorlage von Wechseln, Schecks, Akkreditivdokumenten usw. verbieten, weil anderenfalls die Berechtigten bei nachträglicher Aufhebung der Embargomaßnahmen durch Fristablauf ihre Rechte verloren hätten. Das ist insbesondere im Akkreditivgeschäft völlig unstreitig. Selbst bei unstreitigem Rechtsmissbrauch kann ein im Wege der einstweiligen Verfügung erlassenes Verbot immer nur dahin gehen, der Akkreditivbank die Auszahlung des Akkreditivs zu verbieten, niemals aber die Annahme der ihr zwecks Fristwahrung präsentierten Dokumente82. In diesem Sinne haben dann auch der Rat und die Kommission der Europäischen Union durch gemeinsame Protokollerklärung vom 5.6.2007 (EG Nr. 423/2007) die Rechtslage klargestellt. Der Vorgang ist jedoch ein lehrreiches Beispiel dafür, mit welchen für sie nicht voraussehbaren Risiken Kaufleute bei Abschluss von Verträgen mit Auslandsberührung rechnen müssen.

VIII. Quintessenz Es zeigt sich, dass die Vorschriften über den Verbraucherschutz nur ein und keineswegs das einzige und auch nicht das bedeutendste Mittel sind, um die Vertragsautonomie von Kaufleuten/Unternehmen auf ein sozialverträgliches Maß zurückzuführen unbeschadet dessen, dass die Verbraucherschutzgesetze über die §§ 310, 307 BGB Unternehmen/Kaufleute auch selbst zugute kommen können. Weitaus gravierender ist jedoch aus Sicht des Verfassers das weite Feld, in dem die Vertragsfreiheit von Kaufleuten durch Anwendung der

__________ 82 Schütze (Fn. 41), Rz. 542; Nielsen in MünchKomm.HGB, Band 5, 2. Aufl., ZahlungsV Rz. H 227.

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Generalklauseln der §§ 138, 826 BGB eingegrenzt oder nachträglich berichtigt wird. Für Kaufleute und Unternehmen nicht immer voraussehbar bzw. kalkulierbar ist, von welchen Kriterien in- oder ausländische Gerichte ausgehen und welchen Ermessenspielraum diese für sich in Anspruch nehmen. Bislang ist es so und wird auch vermutlich für absehbare Zeit so bleiben, dass die Gerichte bei der Entscheidung, ob ein Vertrag sittenwidrig ist oder gegen den ordre public verstößt, dem jeweiligen Credo ihres Heimatlandes folgen, denn wie es beispielhaft in Art. 6 EGBGB heißt, ist die Anwendung der Rechtsnorm eines ausländischen Staates nur dann ausgeschlossen, wenn sie „mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts unvereinbar sind“. Ebenso beruft sich das Internationale Privatrecht anderer Staaten stets auf die Grundgedanken der eigenen Rechtsordnung, die von Land zu Land sehr unterschiedlich sein können. Das Gleiche gilt für die Kriterien, nach denen die Gerichte eines Staates ein Rechtsgeschäft als sittenwidrig und damit nichtig einstufen. Die Möglichkeit, hier zwecks Synchronisierung der divergierenden Auffassung zur Erhöhung der Rechtssicherheiten von Kaufleuten und Unternehmen bei der ICC oder einer anderen neutralen Stelle durch eine Kommission eine Art Gleichklang anzustreben, scheidet aus, denn die Definition von „wesentlichen Grundgedanken“ oder „Kriterien der Sittenwidrigkeit“ bestimmt jede Rechtsordnung autonom für sich; sie sind sozusagen nicht verhandelbar. Aus diesem Grunde hat die ICC auch bei Erläuterung der neuen Einheitlichen Richtlinien und Gebräuche für Dokumentenakkreditive (ERA 600, 2007) von einer Erläuterung abgesehen, unter welchen Voraussetzungen die Abstaktheit dokumentärer Zahlungsversprechen wegen sittenwidriger Inanspruchnahme durchbrochen wird. Der ICC Banking Commission blieb nichts anderes übrig, als auf die unterschiedlichen Auffassungen hinzuweisen, welche die nationalen Gerichte an den Einwand des Rechtsmissbrauchs stellen83. Mit dem Risiko, dass grenzüberschreitende Verträge nach den unterschiedlichen Kriterien der beteiligten Rechtsordnungen für wirksam oder unwirksam erklärt werden, müssen Unternehmen und Kaufleute auch in Zukunft leben.

__________ 83 ICC-Publ. Nr. 632, Vol. 202 (10): „However, there is an exception to these provisions in many jurisdictions, namely abuse of rights, or fraud. The ambit of this exception and the ensuing consequences for the beneficiary and/or the nominated bank may differ from one local jurisdiction to another.“

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Flucht ins schweizerische Recht? Zu den AGB-rechtlichen Folgen der Wahl schweizerischen Rechts

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Gründe für die Wahl des schweizerischen Rechts III. Das AGB-Recht der Schweiz 1. Unlauterkeit im Sinne des § 8 schwUWG a) AGB-Begriff b) Zum inhaltlichen Maßstab 2. Vertragsrechtliche AGB-Kontrolle a) Überblick

b) Haftungsfreizeichnungsklauseln im Besonderen IV. Internationalprivat- und verfahrensrechtliche Konsequenzen 1. Kollisionsrechtliche Wahl 2. Erfordernis einer Anpassungslösung bei der AGB-Inhaltskontrolle? 3. Anwendung schweizerischen Rechts durch deutsche Gerichte V. Fazit

I. Einleitung Als ein neuralgischer Punkt des deutschen Rechts gilt die im internationalen Vergleich weitreichende AGB-Kontrolle im Unternehmensverkehr. Ihre Effekte werden vor allem unter zwei Aspekten zum Teil kritisch betrachtet, nämlich erstens der Weite des deutschen AGB-Begriffs und zweitens wegen der geringen Unterschiede bei der AGB-Inhaltskontrolle zwischen B2B- und B2C-Verträgen. Namentlich die auch im Unternehmensverkehr recht rigide Einstellung gegenüber Haftungsfreizeichnungsklauseln wird als Nachteil empfunden. Der Jubilar hat dem freilich vor kurzem seine eigene, deutlich positivere Sicht des deutschen AGB-Rechts entgegengehalten1. Dieser Strang der Diskussion soll hier nicht weiter verfolgt werden. Ein anderer Aspekt dieser Problematik besteht demgegenüber darin, dass als Ausweichlösung die Wahl des Rechts der Schweiz empfohlen wird2. Der nachfolgende Beitrag unternimmt es, einigen für die Wahl schweizerischen Rechts beachtlichen Maßgaben nachzugehen.

__________ 1 Graf von Westphalen, Wider einen Reformbedarf beim AGB-Recht im Unternehmensverkehr, NJW 2009, 41. 2 Brachert/Dietzel, Deutsche AGB-Rechtsprechung und Flucht ins Schweizer Recht, ZGS 2005, 441; vgl auch Graf von Westphalen, Die Nutzlosigkeit von Haftungsfreizeichnungs- und Haftungsbegrenzungsklauseln im kaufmännischen Verkehr, DB 1997, 1805.

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II. Gründe für die Wahl des schweizerischen Rechts Für die Wahl des Rechts der Schweiz werden vor allem zwei Gründe mobilisiert. Einmal wird auf das Fehlen spezifisch AGB-rechtlicher Regelungen und Maßgaben im Vertragsrecht der Schweiz hingewiesen. Zum anderen sieht man die Nähe des schweizerischen Rechts zum deutschen als Vorteil. Ein Grundproblem jedweder Rechtsbeziehung, für die ein ausländisches Recht gilt, besteht allerdings bekanntlich im Informationsproblem und dem damit verbundenen Aufwand. Es ist, zumal im Streitfall, in der Regel weitaus aufwendiger, den Inhalt des fremden Rechts zu ermitteln. Der Informationsaufwand – und das heißt vor allem: die Kosten – sind höher. Die Wahl des schweizerischen Rechts minimiert indessen einen etwaigen Zusatzaufwand auf zweierlei Weise. Erstens gehört die Schweiz zum deutschen Rechtskreis. Das schweizerische Zivilrecht ist dem deutschen ähnlich. Der Verfasser dieses Beitrags konnte im Rahmen seiner Tätigkeit als gerichtlich zur Ermittlung ausländischen Rechts (§ 293 ZPO) bestellter Sachverständiger häufig eine Parallelität beider Zivilrechtsordnungen feststellen. Das intuitive Verständnis, das deutsche Wirtschaftsteilnehmer in Bezug auf die nach deutschem Recht zu erwartenden Maßgaben meist oder doch oft haben, wird häufig auch im Hinblick auf das schweizerische Recht das Richtige treffen. Zudem ist das schweizerische Recht sprachlich (zumindest im Schriftdeutsch) überwiegend ohne große Probleme zugänglich; und ob man zu einer Rechtsfrage einen Anwalt in Köln oder in Zürich befragen muss, begründet ebenfalls keinen übermäßigen Unterschied. Und dass die Schweiz über eine hochentwickelte leistungsfähige Rechtsordnung verfügt, versteht sich von selbst3. Eine gewisse Einschränkung ergibt sich aber doch aus der überschaubaren Größe der Schweiz. Die im Vergleich zu Deutschland geringere Bevölkerungszahl führt dazu, dass man in der Schweiz auf deutlich weniger Fragen als in Deutschland eine durch höchstrichterliche Rechtsprechung unterlegte Antwort finden wird. Eine verlässliche Klärung der Rechtslage in der Schweiz ist daher mitunter schlicht mangels Masse schwieriger als in Deutschland. So gilt beispielsweise die namentlich für den Unternehmensverkehr zentrale Problematik der Behandlung divergierender AGB als noch nicht abschließend geklärt4. Wiederum abgemildert wird dieser Effekt aber durch zweierlei Aspekte. Mitunter verweisen schweizerische Autoren, wenn es im eigenen Land keine anerkannte Lösung einer Frage gibt, auf die Praxis in Deutschland unter Einschluss der Rechtsprechung des BGH. Aus der Perspektive der deutschen Vertragspartei mag dies erneut als erfreulich gelten, trägt es doch zu einer noch größeren Ähnlichkeit beider Rechte bei. Zudem führt eine geringere Zahl von Streitfällen tendenziell wohl auch dazu, dass manche Frage möglicherweise erst gar nicht als Problem behandelt wird, bewirkt also möglicherweise eine

__________ 3 Für einen Überblick über das AGB-Recht der Schweiz etwa Ramstein, Allgemeine Geschäftsbedingungen in der Schweiz, RIW 1988, 440. 4 Bucher in Basler Kommentar zum Obligationenrecht, 4. Aufl. 2007, Art. 1 OR Rz. 66 ff.

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wünschenswerte Vereinfachung des Rechts. Das kann insbesondere aus der Sicht des AGB-Verwenders ein Vorteil sein, weil er sich weitaus seltener entgegenhalten lassen muss, dass sich die Unwirksamkeit einer Klausel bereits aus einer bestimmten höchstrichterlichen Rechtsprechung ergebe. Gleichwohl geht der Eindruck des Verfassers insgesamt dahin, dass der große deutsche Fundus höchstrichterlicher Rechtsprechung mitunter ein Mehr an Rechtssicherheit bewirken kann.

III. Das AGB-Recht der Schweiz Im AGB-Recht verfügt auch die Schweiz über kodifiziertes Recht. Sedes materiae ist insoweit § 8 schwUWG, der es als unlauter definiert, wenn eine Partei in irreführender Weise entweder vertragszweckwidrige oder erheblich gesetzesfremde AGB verwendet5. Daneben können einzelne Generalklauseln des schwOR als Grundlage einer richterlichen AGB-Kontrolle herangezogen werden. 1. Unlauterkeit im Sinne des § 8 schwUWG § 8 schwUWG enthält drei Voraussetzungen für eine wettbewerbsrechtliche Unlauterkeit von AGB-Klauseln. Erstens muss es sich um vorformulierte Geschäftsbedingungen handeln. Zweitens muss die Klausel missbräuchlich sein, was sich entweder aus ihrer erheblichen Abweichung vom Gesetz (§ 8 Nr. 1 schwUWG) oder aus ihrer dem Vertragszweck erheblich widersprechenden Verteilung von Rechten und Pflichten ergeben kann. Während diese Formulierungen bei ihrer Schaffung im Jahre 1988 erkennbar durch den damaligen § 9 AGBG beeinflusst waren6, ist das schließlich zu prüfende Merkmal spezifisch lauterkeitsrechtlicher Rechtsnatur: Zum Dritten ist nämlich erforderlich, dass die AGB zur Irreführung geeignet sind. a) AGB-Begriff Inwieweit dem schweizerischen Recht ein engerer AGB-Begriff – und damit ein größerer Bereich kontrollfreier Vertragsbedingungen – zugrunde liegt als dem deutschen Recht, dürfte weithin offen sein. Eine Parallele besteht jedenfalls in folgenden Aspekten, wobei zwischen dem in § 8 schwUWG zugrunde

__________

5 Art. 8 Verwendung missbräuchlicher Geschäftsbedingungen. Unlauter handelt insbesondere, wer vorformulierte allgemeine Geschäftsbedingungen verwendet, die in irreführender Weise zum Nachteil einer Vertragspartei: a. von der unmittelbar oder sinngemäß anwendbaren gesetzlichen Ordnung erheblich abweichen oder b. eine der Vertragsnatur erheblich widersprechende Verteilung von Rechten und Pflichten vorsehen. 6 Burri/Küchler, Die Behandlung missbräuchlicher AGB-Klauseln in der Schweiz und in der EU, Referat anlässlich des Blockseminars im Konsumentenrecht vom 5./6.6.1998 an der Universität Bern, http://skripte.kuechler-law.ch/pdf/referatagb.pdf, 6.10.2009, S. 8.

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gelegten AGB-Begriff einerseits und demjenigen des Vertragsrechts nicht unterschieden wird7: Entscheidendes Merkmal des AGB-Begriffs ist nach § 8 schwUWG die Vorformulierung. Es spielt keine Rolle, ob die AGB vom Verwender oder von einem Dritten stammen8. Unerheblich dürfte auch sein, ob die AGB ein gesondertes Dokument oder äußerlich einen Bestandteil der Vertragsurkunde bilden9. Soweit es allerdings um übliche notarielle Verträge oder etwa die INCOTERMS geht, wird der AGB-Charakter verneint10. Wie im deutschen Recht erschließt sich der AGB-Begriff in vollem Umfang erst aus dem Gegenstück hierzu, der Individualvereinbarung. Dabei wird die Funktion dieses Terminus offenbar darin gesehen, die Anwendung AGB-rechtlicher Kontrolle in Fällen auszuschließen, in denen AGB zunächst vorlagen, dann aber durch individuelle Vereinbarung abgeändert wurden. Hier formuliert das Schweizer Bundesgericht, es sei entscheidend, ob es ohne Verhandlungen über den Vertragsinhalt im Wesentlichen bei der vom Urheber geschaffenen Fassung geblieben sei oder ob der Urheber mit dem Vertragspartner in einer Weise verhandelt hat, dass das Verhandlungsergebnis einem individuell ausgehandelten Einzelvertrag gleichgestellt werden kann. Dies kann namentlich bei individuell ausgefüllten Formularlücken zur Verneinung der AGB-Eigenschaft führen11. Zwar wird in diesem Zusammenhang auch auf Parallelen zum deutschen Recht hingewiesen12, doch bleibt in der Akzentuierung ein Unterschied: Die deutsche Rechtsprechung betont stets, dass Aushandlung mehr sei als bloße Verhandlung, weil die Aushandlung verlange, dass der Verwender zu einer Abweichung vom gesetzesfremden Kerngehalt seiner AGB-Klausel bereit sei. Die Fallgruppe einer Verhandlung, die in einer Weise geführt wird, dass sie einer Aushandlung gleichsteht, wird freilich auch im deutschen Recht erörtert13. Und richtigerweise sollte auch das deutsche Recht anerkennen, dass es derartige Verhandlungen gibt. b) Zum inhaltlichen Maßstab Soweit es um eine Bewertung des § 3 schwUWG geht, werden drei Aspekte vorgebracht. Einmal wird auf die einschränkende Wirkung des Irreführungserfordernisses hingewiesen. Hierdurch werde der spezifisch AGB-rechtliche Maßstab der Vorschrift „verwässert“. Deshalb sei die Vorschrift auch praktisch weitgehend wirkungslos. Ferner wird auf die Schwierigkeiten bei der Konkre-

__________

7 Vgl. Ferrari Hofer/Vasella in Handkommentar zum Schweizer Privatrecht, Art. 8 UWG Rz. 1. 8 Kut/Schnyder in Handkommentar zum Schweizer Privatrecht, Art. 1 OR Rz. 47. 9 Kut/Schnyder in Handkommentar zum Schweizer Privatrecht, Art. 1 OR Rz. 47. 10 Bucher in BaslerKomm., Art. 1 OR Rz. 49 f. 11 BG, 28.11.2002, 4P.135/2002. 12 Kut/Schnyder in Handkommentar zum Schweizer Privatrecht, Art. 1 OR Rz. 47. 13 Pfeiffer in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 5. Aufl. 2009, § 305 BGB Rz. 39 a. E.; Heinrichs in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 305 BGB Rz. 21 f.

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tisierung hingewiesen, da der Gesetzgeber den Gerichten keine Klauselliste als Orientierungsmaßstab mitgegeben habe. Auch die Auslegung der Vorschrift in der Rechtsprechung bleibt, wohl notgedrungen, deutlich wertungsoffen. So werden die Maßgaben zur Abweichung vom gesetzlichen Leitbild (nur) dahin konkretisiert, dass diese eine gewisse Intensität erreichen muss14. Schließlich sei nicht klar, wie zwischen dem Unternehmensverkehr und Verbrauchergeschäften zu unterscheiden sei15. Gerade wegen des Irreführungserfordernisses gilt die praktische Bedeutung der Vorschrift somit als gering16. Die Irreführungsgefahr muss zudem nach der Vorschrift von der Klausel selbst ausgehen. Sie kann aus ihrem Wortlaut, ihrem Standort im Gesamttext oder aus ihrer graphischen Gestaltung herrühren17. 2. Vertragsrechtliche AGB-Kontrolle a) Überblick Als Ansatzpunkte für eine vertragsrechtliche AGB-Kontrolle dienen im Recht der Schweiz die Generalklauseln des Zivilrechts, wonach Vertragsklauseln namentlich im Falle der Gesetzwidrigkeit, der Sittenwidrigkeit und des ordre public-Verstoßes unwirksam sind, Artt. 19 und 20 schwOR, 27 schwZGB18. Daneben gelten richterrechtliche Regeln. Diese betreffen zuerst die Auslegung von AGB. Hierzu betont auch die schweizerische Rechtsprechung stets, dass

__________ 14 BG, 13.8.1991, BGE 117 II 332. 15 Zum Ganzen Burri/Kuechler, S. 9. 16 Ferrari Hofer/Vasella in Handkommentar zum Schweizer Privatrecht, 2007, Art. 8 UWG Rz. 1. 17 BG, 29.6.2000, 4P.52/2000. 18 Die Vorschriften lauten: Art. 19 OR – E. Inhalt des Vertrages I. Bestimmung des Inhaltes (1) Der Inhalt des Vertrages kann innerhalb der Schranken des Gesetzes beliebig festgestellt werden. (2) Von den gesetzlichen Vorschriften abweichende Vereinbarungen sind nur zulässig, wo das Gesetz nicht eine unabänderliche Vorschrift aufstellt oder die Abweichung nicht einen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung, gegen die guten Sitten oder gegen das Recht der Persönlichkeit in sich schließt. Art. 20 OR – II. Nichtigkeit (1) Ein Vertrag, der einen unmöglichen oder widerrechtlichen Inhalt hat oder gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig. (2) Betrifft aber der Mangel bloß einzelne Teile des Vertrages, so sind nur diese nichtig, sobald nicht anzunehmen ist, dass er ohne den nichtigen Teil überhaupt nicht geschlossen worden wäre. Art. 27 ZGB – B. Schutz der Persönlichkeit I. Vor übermäßiger Bindung (1) Auf die Rechts- und Handlungsfähigkeit kann niemand ganz oder zum Teil verzichten. (2) Niemand kann sich seiner Freiheit entäußern oder sich in ihrem Gebrauch in einem das Recht oder die Sittlichkeit verletzenden Grade beschränken.

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insoweit allgemeine vertragsrechtliche Grundsätze gelten, also primär der subjektiv übereinstimmende Parteiwille, hilfsweise eine objektive Auslegung nach dem in der Schweiz so genannten Vertrauensprinzip19, das der Kategorie des Empfängerhorizonts funktionell und inhaltlich weitgehend entspricht. Als Maßgabe mit besonderem Bezug zu AGB20 ist zunächst die – praktisch universell bekannte – Unklarheitenregel zu nennen21. Ferner hat die Rechtsprechung eine „Ungewöhnlichkeitsregel“ entwickelt, die funktionell § 305c Abs. 1 BGB entspricht. Danach werden gegenüber unerfahrenen Geschäftspartnern alle ungewöhnlichen Klauseln von der Zustimmung des Vertragspartners zu den AGB ausgenommen, sofern nicht die schwächere oder weniger geschäftserfahrene Partei auf deren Vorhandensein gesondert aufmerksam gemacht worden ist22. Dabei lehnt sich die Rechtsprechung an die Maßstäbe des § 8 schwUWG an. Deshalb sind zunächst Klauseln, die zu einer wesentlichen Änderung des Vertragsgefüges führen oder in erheblichem Maße von den maßgebenden Vorschriften des dispositiven Gesetzesrechts abweichen, als ungewöhnlich im Sinne dieser Rechtsprechung anzusehen. Im Einzelnen gilt ein beweglicher Maßstab. Je stärker eine Klausel die Rechtsstellung des Vertragspartners beeinträchtigt, desto eher ist sie im diesem Sinne als ungewöhnlich anzusehen23. Im Regelfall scheint mit dem Merkmal „geschäftserfahren“ eine Beschränkung auf Nichtunternehmer einherzugehen; allerdings lässt sich auch eine Anwendung auf Unternehmer nachweisen24. Eine oft im Blickpunkt des kautelarjuristischen Interesses stehende Problematik betrifft Haftungsfreizeichnungsklauseln. Deren Wirksamkeit ist im schweizerischen Recht eigenständig in Art. 100 schwOR geregelt25. Hinzu treten andere Einzelvorschriften, etwa der Ausschluss eines Ersatzanspruchs des Vermieters bei vorzeitiger Mieterkündigung im Falle des Mietvertrags über bewegliche Sachen26.

__________ 19 Etwa BG, 26.5.2004, 4C.302/2003. 20 Vgl. zu diesem Gesichtspunkt BG, 3.5.2005, 5P.8/2005. 21 BG, 7.3.1996, 122 III 118, BG, 7.10.1997, 124 III 155; BG, 2.10.2000 4C.176/2000; BG, 23.1.2006, 132 III 264. 22 Z. B. BG, 7.1.2004, 7B.249/2003; BG, 28.10.2008, 135 III 1; BG 28.1.2009, BGE 135 III 225, 227 f. 23 BG, 28.10.2008, 135 III 1; BG 28.1.2009, BGE 135 III 225, 227 f. 24 BG, 13.5.2005, 5P.115/2005. 25 Die Vorschrift lautet: Art. 100 – 2. Wegbedingung der Haftung (1) Eine zum voraus getroffene Verabredung, wonach die Haftung für rechtswidrige Absicht oder grobe Fahrlässigkeit ausgeschlossen sein würde, ist nichtig. (2) Auch ein zum voraus erklärter Verzicht auf Haftung für leichtes Verschulden kann nach Ermessen des Richters als nichtig betrachtet werden, wenn der Verzichtende zur Zeit seiner Erklärung im Dienst des anderen Teiles stand, oder wenn die Verantwortlichkeit aus dem Betriebe eines obrigkeitlich konzessionierten Gewerbes folgt. (3) Vorbehalten bleiben die besonderen Vorschriften über den Versicherungsvertrag. 26 BG, 18.12.2008, 4A 404/2008.

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Außerhalb derartiger Besonderheiten lehnt die schweizerische Rechtsprechung eine offene richterliche AGB-Inhaltskontrolle grundsätzlich ab27. Allerdings findet eine Inhaltskontrolle doch häufig verdeckt, sei es im Gewand der Auslegung, der Ungewöhnlichkeitsregel oder einer Ausübungskontrolle, statt. Das Fallmaterial in Bezug auf die betroffenen Klauseltypen erscheint aus deutscher Perspektive begrenzt. Eine Ausnahme bilden aber etwa Gerichtsstandsvereinbarungen, bei denen sich, außerhalb des Unternehmensverkehrs28, auch aufgrund des schweizerischen Gerichtsstandsgesetzes eine eher restriktive Kontrollpraxis entwickelt hat29. Im Übrigen ist zwischen einer Ausübungskontrolle und einer Inhaltskontrolle zu unterscheiden. Genehmigungsfiktionen sind z. B. im Massengeschäft zulässig, unterliegen allerdings im Missbrauchsfalle einer Ausübungskontrolle30. Eine Inhaltskontrolle hingegen setzt eine erhebliche Abweichung vom gesetzlichen Leitbild oder eine Verschiebung des Vertragsgefüges voraus. So wurde etwa eine Prämienanpassungsklausel bei einer Versicherung ohne Kündigungsrecht des Versicherungsnehmers für unwirksam gehalten31. Bemerkenswert erscheint auch eine gewisse Annäherung der Rechtsfolgenseite an eine echte AGB-rechtliche Inhaltskontrolle: Inwieweit im Falle der Treuwidrigkeit einer AGB-Klausel eine geltungserhaltende Reduktion einer Klausel möglich ist, war in der Schweiz lange umstritten. Die Rechtsprechung hat kürzlich im Rahmen einer beweglichen Handhabung eine mittlere Linie verfolgt. Grundsätzlich wird eine geltungserhaltene Reduktion für möglich gehalten; beruht aber die Unwirksamkeit einer Formularklausel auf der erheblichen Abweichung einer Formularklausel von einer Vorschrift zum Schutz einer schwächeren Vertragspartei, so wäre eine geltungserhaltende Reduktion regelmäßig mit dem betreffenden Schutzzweck nicht vereinbar32. Namentlich bei Haftungsfreizeichnungsklauseln geht das schweizerische Recht jedoch davon aus, dass eine Unwirksamkeit nur insoweit eintritt als die Klausel das erlaubte Maß der Freizeichnung übersteigt33. b) Haftungsfreizeichnungsklauseln im Besonderen Nach der gesetzlichen Ausgangslage ist die Haftungsfreizeichnung für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit stets unwirksam, ohne dass zwischen Individualvereinbarung und AGB unterschieden würde (Art. 100 Abs. 1 schwOR)34. Über die Wirksamkeit der Haftungsfreizeichnung für leichte Fahrlässigkeit ist gemäß Art. 100 Abs. 2 schwOR nach richterlichem Ermessen zu entscheiden, allerdings nur, soweit es um die Freizeichnung des Arbeitgebers im Rahmen von

__________ 27 28 29 30 31 32 33 34

BG, 7.11.2007, B 160/06. BG, 23.11.2005, 4C.292/2005. Bucher in BaslerKomm., Art. 1 OR Rz. 62. BG, 1.7.2002, 4C.81/2002. BG, 28.10.2008, 4A_299/2008. BG, 18.12.2008, 4A 404/2008. Wiegand in BaslerKomm., Art. 100 OR Rz. 4. Oben Fn. 25.

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Arbeitsverträgen und um die Haftung des Inhabers eines behördlich konzessionierten Betriebs geht. Abzuwägen sind, namentlich bei AGB, vor allem das Schutzbedürfnis des Kunden einerseits und das Bedürfnis, sich von nicht steuerbaren Risiken andererseits freizuzeichnen35. Zu lesen ist die Vorschrift zudem zusammen mit der kaufrechtlichen Vorschrift des Art. 199 schwOR. Nach Art. 199 schwOR ist die Abbedingung der kaufrechtlichen Gewährleistungspflicht im Falle der Arglist unwirksam36. Das unterscheidet sich dem Beurteilungsmaßstab nach von Art. 100 schwOR, so dass sich die Frage nach dem Verhältnis der beiden Vorschriften im Falle eines gewährleistungsrechtlichen Schadensersatzanspruchs stellt. Die Antwort hierauf ist streitig. Während zum Teil eine parallele Geltung beider Vorschriften befürwortet wird, scheint die Praxis nach wie vor eher von einer Spezialität des Art. 199 schwOR auszugehen37. Legt man dies zugrunde, so würde sich in der Tat vom Standpunkt eines Verkäufers, der zugleich Hersteller der Sache ist, und den daher im deutschen Recht im Rahmen des Konzepts der Kardinalpflichten die volle und nicht durch AGB abdingbare Wucht des Schadensersatzanspruchs aus §§ 280 ff., 437 Nr. 3 BGB trifft, eine Flucht ins schweizerische Recht lohnen. Vorsicht ist freilich geboten, denn abschließend klar ist das nicht38. Selbst wenn allerdings der Maßstab des Art. 100 schwOR auch insoweit gelten sollte, gehen allerdings die Freizeichnungsmöglichkeiten des schweizerischen Rechts weiter als diejenigen des deutschen, weil im schweizerischen Recht für den Lieferanten im Unternehmensverkehr wohl auf jeden Fall die Möglichkeit der Haftungsbegrenzung auf grobes Verschulden besteht. Eine weitere praktisch höchst bedeutsame Auflockerung bewirkt zudem Art. 101 OR, wonach für die Freizeichnung von der Haftung für Hilfspersonen ein nochmals großzügigerer Maßstab gilt39.

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35 BG, 18.11.1986, BGE 112 II 450; BG, 1.7.2002, 4C.81/2002. 36 Die Vorschrift lautet: Art. 199 – 2. Wegbedingung Eine Vereinbarung über Aufhebung oder Beschränkung der Gewährspflicht ist ungültig, wenn der Verkäufer dem Käufer die Gewährsmängel arglistig verschwiegen hat. 37 Darstellung des Meinungsstandes bei Müller-Chen, Handkommentar zum Schweizer Privatrecht, Art. 199 OR Rz. 11; Furrer/Wey, ebenda, Art. 100 Rz. 11. Das Bundesgericht hat 199 angewandt, ohne Art. 100 OR auszuschließen, BG 9.11.1965, BGE 91 II 344. 38 Wiegand in BaslerKomm., Art. 100 OR Rz. 3; offenlassend BG, 2.6.1981, BGE 107 II 161, 166. 39 Die Vorschrift lautet: Art. 101 – 3. Haftung für Hilfspersonen (1) Wer die Erfüllung einer Schuldpflicht oder die Ausübung eines Rechtes aus einem Schuldverhältnis, wenn auch befugterweise, durch eine Hilfsperson, wie Hausgenossen oder Arbeitnehmer vornehmen lässt, hat dem andern den Schaden zu ersetzen, den die Hilfsperson in Ausübung ihrer Verrichtungen verursacht. (2) Diese Haftung kann durch eine zum voraus getroffene Verabredung beschränkt oder aufgehoben werden. (3) Steht aber der Verzichtende im Dienst des andern oder folgt die Verantwortlichkeit aus dem Betriebe eines obrigkeitlich konzessionierten Gewerbes, so darf die Haftung höchstens für leichtes Verschulden wegbedungen werden.

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Anders sieht es möglicherweise bei bestimmten Vertragstypen aus. Hier kann nicht nur die Sonderregel des Art. 199 schwOR nicht greifen. Vielmehr ist die Rechtslage auch sonst nicht ganz geklärt. Inwieweit ein Verbot der Freizeichnung von nicht grober, also leichter bis mittlerer Fahrlässigkeit gilt, ist nämlich umstritten. Zum Teil wird hier Unzulässigkeit in bestimmten Fällen aufgrund der als Leistung geschuldeten Sorgfalt bejaht, was namentlich für Dienstleistungen vertreten wird40. Auf der anderen Seite wird auch hier auf den Maßstab des Art. 100 Abs. 1 schwOR abgestellt41. Diese Fragen wird man als nicht abschließend geklärt ansehen müssen. Als weiterer Fall einer unzulässigen Freizeichnung wird im schweizerischen Recht diejenige einer Verursachung von Körperschäden genannt42. Allerdings ist nicht ersichtlich, dass diese Ansicht bereits durch höchstrichterliche Rechtsprechung abgesichert wäre. Insgesamt kann man sich bei der Lektüre der bundesgerichtlichen Rechtsprechung des Eindrucks eines im Vergleich zum deutschen Recht größeren Pragmatismus nicht erwehren. Wenn die Rechtsprechung wirklichen Bedarf für eine Haftung sieht, findet sie, sei es über die Einordnung eines Verhaltens als grob fahrlässig, sei es aufgrund einer AGB-rechtlichen Wertung, einen Weg, bei insgesamt weniger scharfen dogmatischen Konturen die Haftung des Schädigers zu bejahen; ansonsten werden Freizeichnungen großzügiger als in Deutschland akzeptiert.

IV. Internationalprivat- und verfahrensrechtliche Konsequenzen 1. Kollisionsrechtliche Wahl Die kollisionsrechtliche Wahl des schweizerischen Rechts bereitet bei internationalen Sachverhalten an sich keine besonderen Schwierigkeiten. Die Rechtswahl setzt insbesondere nicht voraus, dass das gewählte Recht eine Beziehung zum Sachverhalt aufweist. Sowohl nach deutschem als auch nach zukünftigem europäischem Kollisionsrecht kann ein neutrales Recht gewählt werden. Problematisch sind zwei Fälle, nämlich die Rechtswahl durch AGB und die Aufnahme der Rechtswahl in ein kaufmännisches Bestätigungsschreiben. In der typischen Situation einer „Flucht“ ins schweizerische Recht wird dessen Wahl mit einer Prorogation der Zuständigkeit deutscher Gerichte (was zur Geltung des deutschen IPR führt) oder mit einer Schiedsvereinbarung verbunden sein (was dann zu, je nach Schiedsort und vereinbarter Institution, unterschiedlichen Rechtsanwendungsregeln führt, die hier nicht vollständig abgehandelt werden können). Beschränkt man die Perspektive auf das deutsche IPR, so ist zwischen der internationalprivatrechtlichen Zulässigkeit der Rechtswahl und ihrem Zu-

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40 Wiegand in BaslerKomm., Art. 100 OR Rz. 6. 41 Offenlassend BG, 7.10.1997, BGE 124 III 155; von Art. 100 schwOR ausgehend BG, 27.11.1962, BGE 88 II 430, 434 f. 42 Wiegand in BaslerKomm. Art. 100 OR Rz. 4.

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standekommen zu unterscheiden. Das bedeutet zunächst, dass eine echte kollisionsrechtliche Rechtswahl mit der Folge der Unanwendbarkeit des AGBRechts im Unternehmensverkehr nur bei Fällen mit Auslandsbezug in Betracht kommt (Art. 27 Abs. 3 EGBGB, Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO). Besondere kollisionsrechtliche Voraussetzungen der Rechtswahl durch AGB bestehen alsdann nach wohl überwiegender Auffassung im Grundsatz nicht43. Jedoch verlangen Art. 27 Abs. 1 EGBGB oder Art. 3 Abs. 1 Rom I-VO einen realen Parteiwillen, der zum Teil als Ansatzpunkt für eine Überraschungskontrolle herangezogen wird44. Allerdings stehen sowohl das deutsche wie das schweizerische IPR auf dem Standpunkt, dass sich das Zustandekommen der Rechtswahl im Übrigen nach dem gewählten Recht bestimmt (Artt. 27 Abs. 4, 31 Abs. 1 EGBGB; zukünftig Artt. 3 Abs. 5, 10 Abs. 1 Rom I-VO; Art. 116 Abs. 2 Satz 2 schwIPRG)45. Bei der Wahl schweizerischen Rechts wird also die Ungewöhnlichkeitsregel des schweizerischen AGB-Rechts auch für die Rechtswahlklausel selbst mitgewählt. Mithin kommt es darauf an, ob man die in AGB aufgenommene Wahl eines mit dem Vertrag in keinerlei Beziehung stehenden neutralen Rechts als ungewöhnlich im Sinne der dargestellten Grundsätze des schweizerischen Rechts ansieht46. Ferner ist, auch im Unternehmensverkehr, die mögliche Veto-Position des heimatlichen Umweltrechts des Vertragspartners nach Art. 31 Abs. 2 EGBGB (künftig Art. 10 Abs. 2 Rom I-VO) zu bedenken, weil diese Vorschriften auch für die Problematik der Zustimmung zu AGB gelten47. Aus kautelarjuristischer Perspektive ist es deshalb allemal vorzugswürdig die Rechtswahlvereinbarung individualvertraglich zu treffen.

__________ 43 Pfeiffer, Handbuch der Handelsgeschäfte, 1999, § 21, Rz. 74. 44 Vgl. Hau in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 5. Aufl. 2009, IntGV Rz. 24. 45 Diese Vorschrift lautet: Art. 116 – II. Anwendbares Recht 1. Im Allgemeinen a. Rechtswahl 1 Der Vertrag untersteht dem von den Parteien gewählten Recht. 2 Die Rechtswahl muss ausdrücklich sein oder sich eindeutig aus dem Vertrag oder aus den Umständen ergeben. Im Übrigen untersteht sie dem gewählten Recht. 3 Die Rechtswahl kann jederzeit getroffen oder geändert werden. Wird sie nach Vertragsabschluss getroffen oder geändert, so wirkt sie auf den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses zurück. Die Rechte Dritter sind vorbehalten. 46 In Deutschland jedenfalls gilt die in AGB erfolgende Wahl eines mit dem Vertrag in keiner Beziehung stehenden Rechts als überraschend im Sinne des § 305c BGB. Hierauf muss also zumindest besonders hingewiesen werden, s. dazu etwa Pfeiffer, Handbuch der Handelsgeschäfte, § 21, Rz. 81. 47 Thorn in Palandt, BGB, 68. Aufl. 2009, Art. 31 EGBGB Rz. 5; Spellenberg in MünchKomm.BGB, Band 10, 4. Aufl. 2006, Art. 31 EGBGB Rz. 24; Hau in Wolf/Lindacher/ Pfeiffer, IntGV Rz. 23. Diese Vetoposition ist im IPR der Schweiz sogar durch Art. 123 IPRG noch stärker ausgestaltet. Die Vorschrift lautet: Art. 123 – 3. Gemeinsame Bestimmungen a. Schweigen auf einen Antrag Schweigt eine Partei auf einen Antrag zum Abschluss eines Vertrages, so kann sie sich für die Wirkungen des Schweigens auf das Recht des Staates berufen, in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat.

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Ähnlich sieht die Rechtslage in Bezug auf eine Rechtswahl aus, die im Rahmen eines kaufmännischen Bestätigungsschreibens erfolgt. Maßgebend für die Wirkungen einer solchen Rechtswahl, auch in einem Bestätigungsschreiben, ist, wie gesagt, das gewählte Recht, ggf. also erneut das Recht der Schweiz. Auch das schweizerische Recht kennt nun allerdings ein kaufmännisches Bestätigungsschreiben mit konstitutiver Wirkung, die allerdings dogmatisch anders als in Deutschland konzipiert wird: Nach schweizerischem Recht beruht die konstitutive Wirkung des Bestätigungsschreibens auf der Annahme eines stillschweigenden Vertragsschlusses. Das Schweigen auf ein kaufmännisches Bestätigungsschreiben wird unter Voraussetzungen, die denjenigen der deutschen Praxis ähnlich sind, als Zustimmung zu dem nach Maßgabe des Bestätigungsschreibens geänderten Vertrag angesehen48. Die Vetoposition des Rechts des gewöhnlichen Aufenthalts nach Maßgabe des Art. 31. Abs. 2 EGBGB (Art. 10 Abs. 2 Rom I-VO) wird dadurch freilich zu einem weitaus komplexeren Problem. Im Rahmen der Abwägung nach Art. 31 Abs. 2 EGBGB (Art. 10 Abs. 2 Rom I-VO) wird regelmäßig darauf abgestellt, ob der fragliche ausländische Vertragspartner mit einer Zustimmungswirkung seines Schweigens nach der prorogierten Rechtsordnung rechnen musste: Ohne dass Art. 31 Abs. 2 EGBGB hier voll entfaltet werden müsste, kommt es (übrigens nicht nur, aber jedenfalls zunächst im Rahmen der Rechtswahl) darauf an, inwieweit vom Geschäftspartner nach Zuschnitt, Größe, Geschäftserfahrung oder aufgrund einer laufenden Geschäftsbeziehung Kenntnis der Bedeutung des Schweigens im Recht der Schweiz erwartet werden kann. Der insoweit zu erwartende Kenntnisstand kann sich durchaus unterscheiden, je nachdem ob durch Bestätigungsschreiben deutsches oder schweizerisches Recht gewählt werden soll. Auch aus diesem Grund ist eine individuelle Vereinbarung des anwendbaren Rechts gegenüber einer Einbringung durch Bestätigungsschreiben erneut vorzugswürdig. 2. Erfordernis einer Anpassungslösung bei der AGB-Inhaltskontrolle? Anlass für weitere kollisionsrechtliche Überlegungen ist der Umstand, dass die gesetzlichen Regeln des AGB-Rechts in der Schweiz Bestandteil des dortigen Wettbewerbsrechts sind. Geht man vom bloßen Gesetzeswortlaut in Deutschland und in der Schweiz aus, so ist mit Blick auf die AGB-Inhaltskontrolle die Frage nach dem Eingreifen des AGB-rechtlichen Instituts der Anpassung unter dem Gesichtspunkt des sogenannten Normenmangels zu erwägen: In Deutschland ist das AGB-Recht nach den §§ 305 ff. BGB vertragsrechtlich konzipiert, § 8 schwUWG sieht eine wettbewerbsrechtliche Lösung vor. Vereinbaren die Parteien für Transaktionen, die auf dem deutschen Markt angebahnt werden, die Geltung schweizerischen Rechts, so führt dies zur Anwendbarkeit schweizerischen Vertragsrechts bei Geltung deutschen Wettbewerbsrechts nach Art. 6 Abs. 1 Rom I-VO. Anwendbar sind dann weder die AGB-rechtlichen Vorschriften des deutschen

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48 BG, 27.10.1988, BGE 114 II 250.

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Vertragsrechts noch diejenigen des schweizerischen Wettbewerbsrechts. Nichts anderes gilt bei Anbahnung der Transaktion auf einem Markt, dessen Recht ebenfalls nicht dem schweizerischen Modell einer wettbewerbsrechtlichen Lösung folgt. Kollisionsrechtlich gesehen stellt sich die Frage, ob hier ein Normenmangel gegeben ist, der nach allgemeinen Grundsätzen des Internationalen Privatrechts eine Anpassungslösung erfordert. Eine Anpassungslösung wegen Normenmangels ist stets dann zu erwägen, wenn ein Rechtsverhältnis mit zwei (oder mehr) Rechtsordnungen verknüpft ist, die für dieses Rechtsverhältnis eine bestimmte rechtliche Regelung vorsehen, die aber nicht zum Tragen kommen, etwa weil die Lösung in den betreffenden Rechtsordnungen unterschiedlich qualifiziert wird49. Ein solcher Fall kommt hier wegen der wettbewerbsrechtlichen Qualifikation durch das schweizerische Recht einerseits und die vertragsrechtliche Qualifikation durch das deutsche Recht andererseits in Betracht. Ginge man allein hiervon aus, so wäre zur Vermeidung in der angesprochenen Konstellation eines Normenmangels infolge der Maßgeblichkeit schweizerischen Vertragsrechts bei Anwendung deutschen Wettbewerbsrechts im Rahmen einer sachrechtlichen Anpassung zu erwägen, die Wirksamkeit der AGB bei Geltung schweizerischen Rechts nach dem Maßstab des dortigen § 8 schwUWG zu beurteilen. In der vorliegenden Konstellation lässt sich ein Normenmangel indessen für das einzelne vertragliche Rechtsverhältnis nicht feststellen. Das schweizerische Vertragsrecht enthält zwar keine ausdrückliche spezifisch AGB-rechtliche Vorschrift, enthält aber mit den dargestellten Regelungen des Art. 100 schwOR und den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen sehr wohl AGB-rechtliche Regeln. Die Verweisung auf das Vertragsrecht der Schweiz geht also unter AGB-rechtlichem Blickwinkel keineswegs ins Leere. Ein Fall des Normenmangels liegt damit nicht vor. Das gilt zunächst für den vertraglichen Individualprozess. Für die Verbandsklage gelten kollisionsrechtlich von vornherein andere Maßgaben. Hier stellt sich die Frage des Normenmangels nicht in gleicher Weise, weil es ohnehin die Frage ist, inwieweit eine nach einem ausländischen Recht begründete Verbandsklagebefugnis als Grundlage einer Klage im Inland herangezogen werden kann. Dieser Sonderproblematik ist hier allerdings nicht weiter nachzugehen. 3. Anwendung schweizerischen Rechts durch deutsche Gerichte Soweit die Maßgaben des schweizerischen Rechts nach der obigen Darstellung klar sind, dürfte ihre Anwendung durch deutsche Gerichte überwiegend keine Schwierigkeiten bereiten. So erscheint insbesondere aus der Perspektive industrieller Lieferanten im Rahmen von Werklieferungs- und Kaufverträgen klar, dass – anders als im deutschen Recht – zumindest eine Beschränkung der

__________ 49 von Bar/Mankowski, Internationales Privatrecht, 2. Aufl. 2003, S. 706 ff.; Kropholler, Internationales Privatrecht, 6. Aufl. 2006, S. 234 ff.

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Haftung auf Fälle des groben Verschuldens durch AGB zulässig ist. Demgegenüber ergeben sich aus der hier nur skizzierten Rechtslage Schwierigkeiten, soweit es um die angesprochenen offenen Fragen geht, nämlich einmal die nur zum Teil durch Rechtsprechung unterlegten Maßgaben zur richterlichen Ungewöhnlichkeits- und Inhaltskontrolle, zum anderen das unklare Verhältnis zwischen Art. 100 schwOR und Art. 199 schwOR. Hier gelten die im Kollisionsrecht entwickelten Maßgaben zum Umgang mit einem in Entwicklung befindlichen Recht. Das Gericht muss versuchen, die Perspektive des ausländischen Richters bis hin zur Rechtsfortbildung einzunehmen. Das bedeutet zuerst, dass ein deutsches Gericht die Perspektive des schweizerischen Rechts einnehmen muss, wonach nur im Falle einer nach dem Kriterium des Geschäftserfahrung schutzbedürftigen Partei und nur bei ungewöhnlichen, das Vertragsgefüge spürbar verschiebenden Klauseln, ein fehlender Vertragskonsens anzunehmen ist. Gefordert ist im Vergleich zum deutschen Recht eine weniger dogmatische und detailorientierte Betrachtung von AGBKlauseln, die aber im Falle klar inakzeptabler Gestaltung doch eine richterliche Schranke setzt. Mit dieser Perspektive sind alsdann etwaige AGB-Klauseln auf ihre Ungewöhnlichkeit hin zu überprüfen. Das gilt auch für Klauseln, zu denen noch keine schweizerische Rechtsprechung vorliegt.

V. Fazit Die Flucht ins Recht der Schweiz ist nach alledem ein möglicher, aber keineswegs in allen Teilen problemfreier Weg zu einer großzügigeren AGBrechtlichen Handhabung. Sie bietet insbesondere bei Lieferverträgen immerhin eine gut abgesicherte Möglichkeit, jedenfalls die Haftung für leichte Fahrlässigkeit auszuschließen, führt jedoch auch zur Geltung einer weniger durchdrungenen Rechtsordnung. Freilich führt sie nicht dazu, dass die Bäume der AGB-rechtlichen Gestaltungsfreiheit unbegrenzt in den Himmel wachsen. So ist etwa bei den Freizeichnungsklauseln auf die Problematik von Körperschäden, aber auch an die sonst in der Schweiz anerkannten Grenzen einer zulässigen Gestaltung zu erinnern. Über das AGB-Recht hinaus, müssen jedenfalls auch andere Rechtsbereiche zuvor geprüft werden. Wie jede Rechtswahlentscheidung will auch die Wahl schweizerischen Rechts sorgfältig erwogen sein, so dass sich jede Pauschalbeurteilung oder gar -empfehlung verbietet. Auf einer anderen Seite steht der rechtspolitische Vergleich. Die rechtspolitische Diskussion wird im Zivilrecht des deutschsprachigen Rechtsraums traditionell erfreulicherweise auch, in alle Richtungen, über die Grenzen hinweg geführt. Es bleibt also abzuwarten, ob die Entwicklung eher zu einer Übernahme schweizerischer Erwägungen in Deutschland oder zum umgekehrten Effekt führen.

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Zur Einbeziehung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen in den Versicherungsvertrag Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Hinweis auf die AVB III. Möglichkeit zumutbarer Kenntnisnahme IV. Einverständnis des Versicherungsnehmers

V. Kaufmännischer Verkehr VI. Rechtsfolgen einer unterbliebenen Einbeziehung der AVB VII. Schluss

I. Einleitung Die Einbeziehung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) in den Vertrag setzt gemäß § 305 Abs. 2 BGB einen Hinweis des Verwenders auf die AGB, die Möglichkeit zumutbarer Kenntnisnahme des (späteren) Vertragspartners und dessen Einverständnis voraus. Diese Grundvoraussetzungen gelten grundsätzlich auch in Bezug auf die Einbeziehung Allgemeiner Versicherungsbedingungen (AVB), also der AGB der Versicherer, in einen Versicherungsvertrag. Allerdings gab es bis Jahresende 2007 mit § 5a eine Sonderregelung im Versicherungsvertragsgesetz (VVG), die diese allgemeine Regelung überlagerte. Seit dem 1.1.2008 besteht diese Sonderregelung nicht mehr. Zu beachten ist seitdem allerdings unter anderem die gesetzliche Regelung des § 7 VVG, die eine Mitteilung der AVB rechtzeitig vor Abgabe der Vertragserklärung des Versicherungsnehmers gebietet. Klärungsbedürftig ist, ob auch hierdurch Wertungen des BGB modifiziert werden.

II. Hinweis auf die AVB Erste Voraussetzung einer wirksamen Einbeziehung von AVB in einen Versicherungsvertrag ist der Hinweis des Versicherers auf die Bedingungen. Dieser Hinweis muss für die gesamten AVB und nicht nur für Teile von ihnen gegeben werden. Er muss so beschaffen sein, dass ein Durchschnittskunde ihn selbst bei nur flüchtiger Betrachtung und durchschnittlicher Aufmerksamkeit nicht übersehen darf1. Nicht ausreichend ist es, wenn der Hinweis in Kleindruck gegeben oder senkrecht zur Leserichtung aufgedruckt wird2. Im Internet muss der Versicherer den Hinweis auf die AVB unmittelbar auf der Bestellseite

__________ 1 BGH, NJW-RR 1987, 112, 114. 2 OLG Düsseldorf, BB 1983, 84, 85.

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anbringen3. Der Hinweis darf dabei nicht unscheinbar am unteren Rand der Bestellmaske4 oder auf der Eingangsseite versteckt werden5. Der Hinweis muss im Übrigen außerhalb der AVB gegeben werden, weil er anderenfalls völlig sinnlos wäre. Das bedeutet, dass der Hinweis regelmäßig in das – ggf. auch virtuelle – Antragsformular aufzunehmen sein dürfte. Nur dann umfasst das Angebot des Antragstellers die Erklärung, den Vertrag mit den entsprechenden AVB abschließen zu wollen6. Der Hinweis ist in der Verhandlungssprache abzufassen, ansonsten in der Sprache des (späteren) Versicherungsnehmers. Im internationalen Geschäftsverkehr zwischen Kaufleuten reicht grundsätzlich eine allgemein gebräuchliche Sprache. Wird der Vertrag schriftlich geschlossen, was im Versicherungsbereich in der weit überwiegenden Zahl der Fälle gegeben ist, ist auch der Hinweis auf die AVB schriftlich zu geben. Ausreichend ist es, wenn der Hinweis über der Datums- und Unterschriftenzeile in gut lesbarem Fettdruck gegeben wird7. Findet der Hinweis unterhalb der Unterschriftenzeile Aufnahme in das Antragsformular, so ist eine besonders auffällige und unübersehbare Form für den Text zu wählen. Der bloße Abdruck der AVB auf der Rückseite des Antragsformulars genügt nicht. Erforderlich ist stets ein ausdrücklicher und deutlich sichtbarer Hinweis auf der Vorderseite8. Werden die AVB dem Antrag als Anlage beigefügt, bedarf es ebenfalls eines zusätzlichen Hinweises im Antragsformular. Der ausdrückliche Hinweis ist zwingend erforderlich, da im Versicherungsbereich ein Aushang am Ort des Vertragsschlusses grundsätzlich nicht in Betracht kommt. Der in § 305 Abs. 2 Nr. 1 BGB enthaltene Ausnahmetatbestand des Aushangs hat im wesentlichen Bedeutung nur für Massengeschäfte des täglichen Lebens ohne besonderen wirtschaftlichen Wert. Das kann ausnahmsweise auch bei Versicherungsgeschäften gegeben sein, so beispielsweise bei der Garderobenversicherung im Theater. Hier genügt ein Aushang am Ort des Vertragsschlusses. Dieser muss so beschaffen sein, dass er den Kunden ohne weiteres erreicht. Notwendig sind insofern eine auffällige Schriftgröße und Platzierung. Neben einem entsprechend ausgestalteten Hinweis ist dabei wegen des Erfordernisses der Möglichkeit zumutbarer Kenntnisnahme der Aushang der AVB selber notwendig9. Im Einzelfall kann der Versicherer neben dem allgemeinen Hinweis auf die gesamten AVB zu einem zusätzlichen Hinweis auf einzelne wichtige Klauseln verpflichtet sein. Das ist beispielsweise bei der Verwendung von Haftungsbeschränkungsklauseln in AVB gegeben, wenn der Versicherer bzw. sein Vertreter erkennt, dass es dem Versicherungsnehmer auf die Abdeckung des ent-

__________ 3 4 5 6 7 8 9

Hoeren, WM 2004, 2461, 2465; s. auch von Westphalen, NJW 2003, 1635, 1636. Mehrings, BB 1998, 2373, 2375. Hoeren/Oberscheidt, VuR 1999, 371, 378. Präve, VW 1994, 556, 558. BGH, NJW 1986, 1608. BGH, NJW-RR 1987, 112, 114. BGH, NJW 1985, 850.

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sprechenden Risikos ankommt. Unterbleibt ein solcher Hinweis, können sich Schadensersatzansprüche des Versicherungsnehmers aus dem Rechtsgrund der culpa in contrahendo ergeben10.

III. Möglichkeit zumutbarer Kenntnisnahme Zweites Erfordernis einer wirksamen Einbeziehung von AVB ist die Möglichkeit zumutbarer Kenntnisnahme, die der Versicherer dem Versicherungsnehmer verschaffen muss. Das impliziert, dass für den Versicherungsnehmer die AVB bei und grundsätzlich auch nach Vertragsschluss verfügbar sein müssen. Die AVB müssen hierzu ausgehändigt werden11. Die Notwendigkeit einer entsprechenden Informationsverschaffung ergibt sich auch aus § 7 Abs. 1 Satz 1 VVG i. V. m. § 1 Abs. 1 Nr. 6 Buchstabe a VVG-InfoV, wonach dem Versicherungsnehmer die AVB rechtzeitig vor Abgabe von dessen Vertragserklärung zu geben sind. Die bloße Unterrichtung darüber, welche AVB gelten sollen, reicht nicht aus. Dies lässt sich bereits mit dem Wortlaut der Vorschriften nicht in Übereinstimmung bringen. Auch der Schutzzweck von § 7 VVG und § 1 VVG-InfoV, die auf eine insoweit vollständige Unterrichtung des Versicherungsnehmers abzielen, steht dem entgegen. Schließlich ist Art. 5 der Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher zu berücksichtigen, demzufolge die AVB selber übermittelt werden müssen. Der deutsche Gesetzgeber hat diese Anforderungen auf alle Vertriebswege erstrecken und zudem nicht auf Verbraucherverträge beschränken wollen. Eine Ausnahme besteht insofern nur in Bezug auf Großrisiken12. Das bedeutet, dass der Versicherer insbesondere Vorsorge zu treffen hat, damit eine Übermittlung zu dem genannten Zeitpunkt sichergestellt ist. Ein „Nachreichen“ der AVB zu einem späteren Zeitpunkt ist, auch wenn die Aushändigung zunächst nur versehentlich unterblieben ist, nicht möglich. Unzureichend ist der dem Versicherungsnehmer gegebene Hinweis, dass er die AVB auf Wunsch zugesandt erhält. Der Versicherer verletzt hiermit die ihm gesetzlich auferlegte Pflicht zur Aushändigung, die generell nicht von einem gesondert artikulierten Wunsch des Versicherungsnehmers abhängig gemacht werden darf. Allerdings darf auch die Wirksamkeit des Versicherungsvertrags nicht unter die Voraussetzung einer Übergabe der AVB gestellt werden. Unzulässig ist eine Aushändigungsklausel, wonach der Versicherungsnehmer die Aushändigung an ihn bestätigt. Eine derartige Klausel verstößt gegen § 309 Nr. 12 Buchstabe b BGB13. Keinen Bedenken begegnet ein gesondert unterschriebenes Empfangsbekenntnis, für das § 309 Nr. 12 Buchstabe b BGB nicht gilt. Ist im Antragsformular hingegen nur eine einzige Unterschriftenleistung

__________ 10 OLG Frankfurt/M., VersR 1998, 1103, 1104; OLG Frankfurt/M., NJW-RR 1986, 1410; Römer, VersR 1998, 1313, 1319 f. 11 Schirmer, DAR 1993, 321, 324; Präve, VW 1992, 596; Präve, VW 1994, 556, 558. 12 Vgl. § 7 Abs. 5 VVG. 13 BGH, NJW 1988, 2106, 2108.

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vorgesehen, besteht die Gefahr, dass der Versicherungsnehmer unbemerkt eine Tatsache bestätigt, die die Beweislast zu seinen Ungunsten abändert14. Ebenfalls nicht zulässig ist der Verweis des Versicherers auf eine Verfügbarkeit der AVB bei einem früheren Vertragsschluss. Es kommt darauf an, dass die AVB dem Versicherungsnehmer stets vor dem jeweiligen Vertragsschluss zugänglich gemacht werden15. Maßgeblicher Zeitpunkt ist insofern das Eingehen einer vertraglichen Bindung durch den Versicherungsnehmer. Nicht ausreichend ist eine entsprechende Informationsverschaffung erst nach diesem Zeitpunkt, also namentlich nach Vertragsschluss. Sinn und Zweck der zu gebenden Information gebieten eine für den Kunden verfügbare Unterlage. Eine Unterschrift oder Signatur ist hierfür nicht notwendig. Ausreichend ist vielmehr eine einfache elektronische Übermittlung16. Unerheblich ist dabei, welchen Umfang die AVB und die sonstige Versicherteninformation aufweisen. Auch wenn regelmäßig von einem größeren Umfang auszugehen ist, hindert dies nicht die Zulässigkeit einer elektronischen Übermittlung. Der Auffassung, die Menge an Information erlaube keine elektronische Übermittlung17, ist entgegenzuhalten, dass hierdurch die Hinweisfunktion nicht in Frage gestellt ist, da es Sache der Vertragsparteien bleibt, ob bzw. inwiefern von den Informationen tatsächlich Kenntnis genommen wird. Für die Erfüllung der Verpflichtung nach § 7 VVG bzw. § 305 Abs. 2 Nr. 2 BGB ist lediglich entscheidend, dass die Information in einer Weise zur Verfügung gestellt wird, die eine zumutbare Wahrnehmung gewährleistet. Der Versicherer muss dem Interessenten die AVB und die sonstige Versicherteninformation in Textform (§ 126b BGB) zur Verfügung stellen (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 1 VVG), also per Post oder Fax, auf Diskette, CD-Rom oder via E-Mail übermitteln18. Voraussetzung ist allerdings, dass der Versicherungsinteressent seinerseits durch Mitteilung seiner Fax-Nummer bzw. seiner E-Mail-Anschrift oder in sonstiger Weise sein Einverständnis zu einer entsprechenden Übermittlung gegeben hat19. Insoweit besteht Gleichklang mit den sich aus § 312e Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BGB ergebenden Anforderungen für Verträge im elektronischen Geschäftsverkehr20, auch wenn sich die Einbeziehung der AGB in den Vertrag nach § 305 Abs. 2 BGB richtet. Nicht gehindert ist der Versicherer an einer Übermittlung in Schriftform oder elektronischer Form. Ausgeschlossen ist hingegen eine mündliche oder fernmündliche Übermittlung21. Werden Versicherungsverträge auf elektronischem Wege geschlossen, ist zu beachten, dass es nicht genügt, die AVB und die übrige Versicherteninformation lediglich im Internet abrufbereit zu halten. Hat der Versicherer dem Versicherungsinteressenten etwa via E-Mail die Möglichkeit verschafft, die AVB und die sonstige

__________ 14 15 16 17 18 19 20 21

BGH, NJW 1988, 2106, 2108. BGH, NJW-RR 1987, 112, 113. Fricke, VersR 2001, 925, 926; Schimikowski, r + s 1999, 485, 489. Abram, NVersZ 2000, 551, 556. Leverenz, VersR 2002, 1318, 1323. Micklitz/Ebers, VersR 2002, 641, 646. Leverenz, VersR 2003, 698, 704. Schimikowski, r + s 1999, 485, 489.

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Versicherteninformation abzurufen und in wiedergabefähiger Form zu speichern, also kostenlos herunterzuladen und auszudrucken, reicht dies allerdings aus22. Werden Verträge auf Verlangen des Versicherungsnehmers telefonisch geschlossen, besteht die Möglichkeit des Verzichts auf eine vorherige Informationsverschaffung. Dies wird in § 7 Abs. 1 Satz 3 VVG ausdrücklich klargestellt. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind bereits erfüllt, wenn der Vertrag sofort geschlossen wird – trotz ausdrücklichen Hinweises auf die AVB, die am Telefon nicht verfügbar gemacht werden können. Die Möglichkeit zumutbarer Kenntnisnahme setzt voraus, dass der AVB-Inhalt klar und verständlich ist. An der Lesbarkeit fehlt es, wenn ein übermäßiger Kleindruck, eine ungewöhnliche Schriftart oder eine allgemein unübersichtliche Darstellung gewählt wird23. Die Verständlichkeit ist nicht gegeben bei Verwendung technischer Fachausdrücke oder juristischer Formulierungen, die nur der entsprechend Vorgebildete verstehen kann24. Das gilt aber nur für die Fälle, in denen diese nach dem Verständnis des durchschnittlichen Versicherungsnehmers den Regelungsgehalt der AVB verschleiern. Dabei ist zu berücksichtigen, dass AVB oftmals eine komplizierte Materie zum Gegenstand haben, so dass auf Fachterminologie nicht immer verzichtet werden kann. Die Grenze der mangelnden Verständlichkeit wird überschritten, wenn die AVB auf Grund einer Verweisung auf andere Klauseln oder auch Rechtsvorschriften nicht mehr aus sich heraus verständlich sind oder auf Grund des Gebrauchs einer salvatorischen Klausel wie „soweit gesetzlich zulässig“ auf eine Festlegung verzichten25. Soweit Verweise auf gesetzliche Vorschriften, namentlich solche des VVG, in AVB gewählt werden, was zulässig ist26, sind – sofern dies für das Verständnis erforderlich ist – die entsprechenden Vorschriften im Wortlaut und in unmittelbarem Zusammenhang mit den AVB abzudrucken und dem Versicherungsnehmer hierdurch die Möglichkeit der Kenntnisnahme zu verschaffen. Keine Bedenken bestehen grundsätzlich gegen Bezugnahmen auf andere, im Einzelnen bezeichnete „Erläuterungen“ des Versicherers, soweit diese ihrerseits verständlich und dem Versicherungsnehmer zur Verfügung gestellt worden sind. Die Vereinbarung von AVB in der jeweils gültigen Fassung genügt nicht. Der Versicherungsnehmer soll nämlich davor bewahrt werden, hierüber umfassende Erkundigungen einzuholen27. Die Verständlichkeit setzt grundsätzlich eine Abfassung der AVB in der jeweiligen Verhandlungssprache der Vertragsparteien voraus. Dies bedeutet die Abfassung in Deutsch oder in der Muttersprache des Versicherungsnehmers. Im

__________ 22 23 24 25

BGH, MMR 2006, 737, 738; BGH, VersR 2007, 1436, 1437. Vgl. BGH, NJW 1983, 2772, 2773. Mehrings, BB 1998, 2373, 2377. Vgl. BGH, VersR 1996, 651, 653; von Westphalen, WM 1983, 974, 984 f.; Roth, WM 1991, 2085, 2087. 26 OLG Nürnberg, VersR 2000, 713, 714. 27 Vgl. OLG Bamberg, VersR 1998, 833.

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Falle einer juristischen Person als Versicherungsnehmer können die AVB auch in einer hiervon abweichenden Verhandlungssprache wiedergegeben werden. Darüber hinausgehende Hinweispflichten im Falle ausländischer Versicherungsnehmer bestehen im Hinblick auf § 305 Abs. 2 BGB nicht. Nicht notwendig ist die tatsächliche Kenntnisnahme des Versicherungsnehmers. Ausreichend ist die Verschaffung einer entsprechenden Kenntnisnahmemöglichkeit. Diese muss der Versicherer als AVB-Verwender verschaffen. Der Versicherer wird der Anforderung bei natürlichen und juristischen Personen als Vertragspartner gerecht, wenn er die AVB aushändigt bzw. sie auf elektronischem Wege zur Verfügung stellt. Die Aushändigung bzw. elektronische Übermittlung hat vor dem Zeitpunkt zu erfolgen, in dem der Versicherungsnehmer die für ihn bindende Willenserklärung abgibt. Das ist bei Stellung eines Antrags auf Abschluss eines Versicherungsvertrags gegeben. Der bloße Verweis auf AVB etwa in einem Reisekatalog, der seinerseits nicht ausgehändigt worden ist, genügt nicht. Einzelne AVB können ausnahmsweise28 allerdings auch dadurch Bestandteil des Versicherungsvertrags werden, dass der Versicherer sie erst mit dem Versicherungsschein übersendet. Voraussetzung ist, dass der Versicherer den Versicherungsnehmer nach Maßgabe von § 5 VVG bei der Übersendung des Versicherungsscheins auf die entsprechenden AVB hinweist und belehrt und dieser nicht innerhalb eines Monats nach Empfang des Versicherungsscheins schriftlich widerspricht. Der Hinweis kann in einem dem Versicherungsschein angehefteten Beiblatt erfolgen, wenn der Versicherungsschein einen entsprechenden Verweis enthält. Wird die genannte Voraussetzung der Kenntnisnahmemöglichkeit erst nach Vertragsschluss oder gar nicht erfüllt, so werden die AVB Vertragsbestandteil, falls eine nachträgliche Änderung vereinbart wird. Der Versicherer kann im Übrigen wegen culpa in contrahendo oder positiver Forderungsverletzung verpflichtet sein, den Versicherungsnehmer so zu stellen, als ob die günstigen AVB Vertragsbestandteil geworden wären. In jedem Fall kann sich der Versicherungsnehmer trotz fehlender Einbeziehung auf für ihn günstige AVB berufen, sofern der Versicherer hiermit geworben hat, durch sein Verhalten bei Vertragsschluss aber die Einbeziehungsvoraussetzungen vereitelt hat (venire contra factum proprium). Besteht zwischen den Vertragsparteien eine Übung, etwa bei einem Fahrzeugwechsel jeweils einen Nachtrag zum Versicherungsschein zu erteilen, ist der diesbezügliche Antrag des Versicherungsnehmers als Antrag auf Fortsetzung des alten Vertrags zu verstehen, so dass es dann nicht genügt, wenn der Versicherer dem Versicherungsnehmer ohne weitere Hinweise auf einmal neue AGB zuleitet29. Besonderheiten bestehen für den Fall, dass der Versicherungsnehmer körperlich behindert ist oder eine vorläufige Deckung gewährt wird. § 305 Abs. 2 Nr. 2 BGB enthält zur ersten Fallkonstellation eine klarstellende Ergänzung,

__________ 28 Schimikowski, r + s 2007, 309, 311. 29 OLG Hamm, NVersZ 2000, 279, 280.

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wenn die andere Vertragspartei auf Grund einer derartigen Behinderung in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit beeinträchtigt ist. Das ist insbesondere für Menschen mit einer Sehbehinderung gegeben, die trotz ausdrücklichen Hinweises auf die Geltung der AGB und ihrer Aushändigung unter Umständen nicht die Möglichkeit haben, von deren Inhalt in zumutbarer Weise Kenntnis zu nehmen. Sie bedürfen dann weiterer Hilfsmittel, also der Übergabe der AGB in einer Form, die ihnen die Kenntnisnahme vor Vertragsschluss ermöglicht. Dies kann im Einzelfall etwa durch Übergabe in elektronischer oder akustischer Form oder auch in Braille-Schrift erfolgen. Der Versicherer ist allerdings nicht gehalten, AVB stets auch in Blindenschrift vorzuhalten30. Ein zusätzliches Tätigwerden des Versicherers ist im Übrigen nur notwendig, wenn die Behinderung für ihn auch erkennbar war. Darüber hinaus ist kein Raum für eine Berücksichtigung der konkreten mentalen Erkenntnismöglichkeiten des Einzelnen. Aufgrund der Regelung des § 49 VVG genügt im Falle der vorläufigen Deckung, sofern eine entsprechende Vereinbarung erfolgt, eine Übermittlung der AVB und der sonstigen Versicherteninformation mit dem Versicherungsschein. Sofern dies unterbleibt, gelten die vom Versicherer zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses üblicherweise verwendeten AVB bzw. in deren Ermangelung die für den Hauptvertrag maßgeblichen Bedingungen. Im Zweifelsfall sind die Bedingungen heranzuziehen, die für den Versicherungsnehmer am günstigsten sind. Bei Fernabsatzverträgen gelten in Folge der Vorgaben der Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher diese Sondervorschriften nicht, so dass hier zur Einbeziehung der AVB eine Übermittlung vor Abgabe der Vertragserklärung des Versicherungsnehmers notwendig ist. Die Spezialvorschriften für die vorläufige Deckung können auf andere Fallkonstellationen nicht übertragen werden31. Schließlich besteht die Möglichkeit, dass der Versicherungsnehmer auf eine vorherige Übermittlung der AVB verzichtet. Das ist nicht nur für den bereits erwähnten Fall eines telefonischen Vertragsschlusses auf Verlangen des Versicherungsnehmers möglich (§ 7 Abs. 1 Satz 3 Halbsatz 1 VVG), sondern auch darüber hinaus (§ 7 Abs. 1 Satz 3 Halbsatz 2 VVG). Diese im Gesetz ausdrücklich eingeräumte Verzichtsmöglichkeit kommt allerdings nur in Ausnahmefällen zum Zuge. Mit ihr soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass sich niemand „gegen seinen Willen … informieren lassen“ muss32. Im Ergebnis bedeutet dies, dass sich der Versicherungsnehmer diesbezüglich selber klar erklären muss. Diese Erklärung ist gesondert und schriftlich abzugeben und vom Versicherungsnehmer zu unterschreiben. Der Hinweis in der Gesetzesbegründung, der Verzicht dürfe nicht formularmäßig vereinbart werden33, zeigt, dass insofern stets auf den Einzelfall abzustellen ist. Allerdings wird eine Vorformulierung nicht völlig auszuschließen sein, da für den Fall, dass sich der

__________ 30 31 32 33

Koch, WM 2002, 2173, 2174. Schimikowski, r + s 2007, 309, 311. Vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 16/3945, S. 60 (zu § 7 Abs. 1 VVG). Vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 16/3945, S. 60 (zu § 7 Abs. 1 VVG).

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Versicherungsnehmer von sich aus entsprechend erklärt, die Formulierung entweder von ihm selber übernommen werden kann oder, wie dies der Versicherungsnehmer auch erwarten dürfte, vom Versicherer bzw. dem Vermittler. Im Falle eines Verzichts genügt eine Übermittlung der AVB unverzüglich mit Übersendung der Police und der sonstigen Versicherteninformation, um eine Einbeziehung in den Vertrag zu erreichen. Hingegen gelten auch für aufsichtsbehördlich genehmigte AVB keine Besonderheiten mehr. Nach der früheren Regelung des § 23 Abs. 3 AGBG wurden derartige Bedingungen auch dann Vertragsbestandteil, wenn kein ausdrücklicher Hinweis und keine Möglichkeit zu zumutbarer Kenntnisnahme gegeben war. Diese Ausnahme wurde für AVB mit dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz aufgehoben und findet in § 305a Nr. 1 BGB keine Verankerung34. Auch genehmigte AVB müssen daher die genannten Voraussetzungen erfüllen. Zur Begründung wird angeführt, dass die Genehmigungspflicht für AVB generell entfallen sei35, was allerdings in Bezug auf die Sterbe- und regulierten Pensionskassen unzutreffend ist36. Dessen ungeachtet verbleibt auf Grund der klaren gesetzgeberischen Entscheidung kein Raum für anderweitige Wertungen. Besonderheiten bestanden für Versicherungsverträge, die bis zum 31.12.2007 geschlossen wurden. § 5a VVG a. F. modifizierte insofern die sich aus § 305 Abs. 2 BGB ergebenden Einbeziehungsvoraussetzungen. Danach galt ein Versicherungsvertrag auf der Grundlage der AVB als abgeschlossen, wenn der Versicherungsnehmer erst mit dem Versicherungsschein die AVB und die übrige Verbraucherinformation erhalten und er nach Überlassung der Unterlagen nicht innerhalb von vierzehn Tagen schriftlich widersprochen hat. Waren ihm die entsprechenden Unterlagen nicht vollständig vorgelegt worden, erlosch sein Widerspruchsrecht jedenfalls ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie. Im Ergebnis konnte somit eine Einbeziehung der AVB auch durch Übermittlung zum Zeitpunkt der Übersendung des Versicherungsscheins erreicht werden. Hierdurch blieb § 305 Abs. 2 Nr. 1 BGB allerdings unberührt. Der Versicherer hatte somit die Voraussetzungen nicht nur von § 5a VVG a. F., sondern auch von § 305 Abs. 2 Nr. 1 BGB zu beachten. Für die Auffassung, § 5a VVG a. F. würde als die speziellere Vorschrift § 305 Abs. 2 BGB vollständig verdrängen, lässt sich hingegen weder dem Wortlaut der Vorschrift noch den Gesetzesmaterialien etwas entnehmen. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass auch im Falle von § 5a VVG a. F. der Versicherungsnehmer nicht weniger schutzbedürftig war als im Falle einer Aushändigung der gesamten Verbraucherinformation einschließlich AVB bei Antragstellung. Der Versicherer hatte folglich dem Versicherungsnehmer auch im Falle einer Vorgehensweise nach § 5a VVG a. F. den Hinweis auf die Geltung von AVB zu geben, auch wenn sich dies

__________ 34 Däubler-Gmelin, NJW 2001, 2281, 2285 f. 35 Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 14/6040, S. 151. 36 Vgl. § 5 Abs. 3 Nr. 2 Halbsatz 2, § 13 Abs. 1, § 118b Abs. 1 Satz 2 VAG.

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nicht unmittelbar aus § 5a VVG a. F. ergab. Hingegen wurde die nach § 305 Abs. 2 Nr. 2 BGB notwendige Möglichkeit zumutbarer Kenntnisnahme von § 5a VVG a. F. überlagert. Das gemäß § 305 Abs. 2 BGB zusätzlich notwendige Einverständnis des Versicherungsnehmers war hingegen als gegeben anzusehen, wenn der Versicherungsnehmer von seinem Widerspruchsrecht keinen Gebrauch gemacht hat.

IV. Einverständnis des Versicherungsnehmers Das dritte Erfordernis einer wirksamen Einbeziehung von AVB in den Versicherungsvertrag ist das Einverständnis des Versicherungsnehmers. Ausreichend ist es, wenn dieses Einverständnis global auf die AVB insgesamt ausgerichtet ist. Ein derart erklärtes Einverständnis lässt sich ohne weiteres auf die einzelnen Klauseln beziehen. Es kann ausdrücklich oder konkludent gegeben werden. Auf diese und die anderen Einbeziehungsvoraussetzungen des § 305 Abs. 2 BGB kann grundsätzlich nicht verzichtet werden. Eine entsprechende Verzichtsklausel ist gemäß § 307 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 BGB unwirksam, da § 305 Abs. 2 BGB eine im allgemeinen Interesse liegende Schutzvorschrift darstellt. Ein Verzicht ist nur in Gestalt einer Individualvereinbarung und nur ausnahmsweise bei Vorliegen eines berechtigten Grundes zulässig, beispielsweise bei telefonisch geschlossenem Vertrag. Hiervon unberührt bleibt eine Vorgehensweise nach § 7 Abs. 1 Satz 3 VVG. Unzulässig sind sogenannte Einverständnisklauseln, die den Versicherungsnehmer die AVB als Vertragsbestandteil bestätigen lassen oder deren Geltung unterstellen. Sie verstoßen als Erklärungsfiktionen gegen § 307 BGB und als Tatsachenbestätigungen gegen § 309 Nr. 12 Buchstabe b BGB37. Eine Aushändigungsklausel, wonach der Versicherungsnehmer die Aushändigung der AVB an ihn bestätigt, verstößt ebenso gegen § 309 Nr. 12 Buchstabe b BGB38. Hingegen kann ein gesondert unterschriebenes Empfangsbekenntnis eine derartige Bestätigung enthalten, da die genannte Vorschrift insoweit nicht gilt. Zulässig ist die Verwendung einer sogenannten Kenntnisnahmeklausel, wenn auf sie deutlich hingewiesen wird und die AVB eng mit ihr verbunden werden. Dies kann aber nicht die für eine wirksame Einbeziehung ansonsten notwendigen Voraussetzungen ersetzen39. Ausreichend ist es jedoch, die AVB auf der Rückseite des Antragsformulars abzudrucken, sofern auf der Vorderseite hierauf ausdrücklich hingewiesen wird40.

__________ 37 38 39 40

BGH, NJW 1990, 761, 765. BGH, NJW 1988, 2106, 2108; Rott, VuR 1998, 251, 255 f. BGH, NJW 1991, 1750, 1753. BGH, NJW 1982, 1388 f.

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V. Kaufmännischer Verkehr § 305 Abs. 2 BGB findet im Geschäftsverkehr gegenüber Unternehmern generell keine Anwendung (§ 310 Abs. 1 BGB). Auch gegenüber juristischen Personen des öffentlichen Rechts gilt diese Vorschrift nicht (§ 310 Abs. 1 BGB). Dass die Voraussetzungen von § 305 Abs. 2 BGB nicht erfüllt zu werden brauchen, erklärt sich zum einen aus dem geringeren Schutzbedürfnis dieses Personenkreises und zum anderen aus den hiermit im Zusammenhang stehenden Bedürfnissen des Geschäftsverkehrs, denen der Gesetzgeber Rechnung tragen wollte41. Soweit kein Großrisiko gegeben ist, finden allerdings die Vorschriften des § 7 VVG und der VVG-InfoV Anwendung. Danach sind die AVB mit der übrigen Versicherteninformation dem Versicherungsnehmer vor Abgabe von dessen Vertragserklärung zu geben. Für Großrisiken bedeutet dies im Einzelnen: Notwendig ist eine entsprechende ausdrückliche oder stillschweigende Vereinbarung42. Der Wille des Versicherers zur Einbeziehung der AVB muss erkennbar sein. Ausreichend kann hierfür ein konkludent gegebener Hinweis sein43. Ferner muss auch für diesen Personenkreis die Möglichkeit der zumutbaren Kenntnisnahme vom Inhalt der AVB bestehen. Dazu müssen die Bedingungen namentlich hinreichend lesbar sein44. Es genügt allerdings der Hinweis auf die AVB45. Auf die Möglichkeit der Kenntnisnahme kann verzichtet werden, etwa dadurch, dass der Versicherungsvertrag abgeschlossen wird, ohne dass die AVB angefordert werden. Die Erkennbarkeit des Einbeziehungswillens und die Möglichkeit der Kenntnisnahme müssen bei Vertragsschluss gegeben sein, d. h. zu dem Zeitpunkt, zu dem sich der Versicherungsnehmer bindet. Erforderlich ist schließlich das Einverständnis des Versicherungsnehmers mit der Einbeziehung der AVB. Wird auf die AVB in einem kaufmännischen Bestätigungsschreiben des Versicherers Bezug genommen, auch wenn zuvor von der Einbeziehung der AVB keine Rede war, gilt das Schweigen des Versicherungsnehmers als Einverständnis mit den AVB. Der Hinweis auf AGB in einem sonstigen Schreiben genügt hingegen nicht. Werden neue oder geänderte AVB zugrunde gelegt, ist von einem Einverständnis nur auszugehen, wenn diese AVB nicht wesentlich von den Bedingungen abweichen, die Gegenstand der Vertragsverhandlungen waren. An die erforderliche Konsensfähigkeit derartiger Bedingungen sind grundsätzlich strenge Anforderungen zu stellen. So kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Versicherungsnehmer mit jeder Verschlechterung seiner Rechtsposition einverstanden ist, auch wenn diese noch keine unangemessene Benachteiligung im Sinne von § 307 BGB darstellt.

__________ 41 42 43 44 45

Vgl. Gesetzesbegründung BT-Drucks. 7/3919, S. 43. BGH, NJW-RR 1991, 357; BGH, NJW 1985, 1838, 1839. BGH, NJW-RR 1991, 570 f. OLG Hamm, NJW-RR 1988, 944; Fischer, BB 1995, 2491, 2493. BGH, NJW-RR 1989, 1104.

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Liegt eine rechtsgeschäftliche Einbeziehung nicht vor, kommt eine Geltung von AVB kraft Handelsbrauchs in Betracht (§ 346 HGB). Das setzt einen entsprechenden Brauch voraus, der bisher nur sehr vereinzelt anerkannt worden ist. Ein Handelsbrauch ist gegeben, wenn eine tatsächliche, nicht nur vorübergehende Übung besteht, die von der allgemeinen Zustimmung der beteiligten Verkehrskreise getragen wird. Das ist beispielsweise bei den Allgemeinen Deutschen Seeversicherungsbedingungen (ADS) anzunehmen.

VI. Rechtsfolgen einer unterbliebenen Einbeziehung der AVB Für den Fall, dass die AVB nicht wirksam in den Vertrag einbezogen, namentlich dem Versicherungsnehmer nicht rechtzeitig übermittelt worden sind, gebietet § 306 BGB, dass die AVB nicht Bestandteil des Vertrags werden. Als zwingende Schutzvorschrift ist § 306 BGB grundsätzlich nicht abdingbar, weder formularmäßig noch durch Individualabrede. Das ergibt sich aus § 306 Abs. 3 BGB, der eine Unwirksamkeit des Vertrags nur im Fall einer unzumutbaren Härte zulässt. Insofern ist es auch unzulässig, durch Individualabreden die Vertragsgeltung davon abhängig zu machen, dass bestimmte AVB Bestand haben. Werden AVB nicht oder nicht in vollem Umfang in den genannten Fällen Vertragsbestandteil, findet gemäß § 306 Abs. 2 BGB dispositives Recht als Ersatzregelung Anwendung. Für Versicherungsverträge finden sich allerdings – auch nach der umfassenden Reform des VVG zum 1.1.2008 – nur rudimentär gesetzliche Regelungen. Abzustellen ist insofern ergänzend auf von der Rechtsprechung anerkannte Rechtsinstitute und Rechtssätze. Wo es an geeignetem dispositivem Recht fehlt, sind entstandene Lücken durch ergänzende Vertragsauslegung zu schließen46. Zu den gesetzlichen Vorschriften im Sinne von § 306 Abs. 2 BGB gehört nämlich das Institut der ergänzenden Vertragsauslegung, ohne dass dies einer ausdrücklichen Erwähnung in § 306 Abs. 2 BGB bedurft hätte. Die ergänzende Vertragsauslegung darf allerdings nicht zu einer Erweiterung des Vertragsgegenstandes führen. Sie muss sich als zwingende, selbstverständliche Folge des vertraglich Vereinbarten darstellen47. Im Verbandsprozess gemäß §§ 1, 3 UKlaG kommt eine ergänzende Vertragsauslegung von vornherein nicht in Betracht. Im Individualprozess kann eine ergänzende Vertragsauslegung an ihre Grenzen stoßen, wenn verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten bestehen, letztlich aber offen bleibt, welche Regelung die Parteien getroffen hätten. Hier dürfte regelmäßig eine Vertragsauslegung ausscheiden48. Deckt eine der sich bei einer ergänzenden Vertragsauslegung ergebenden Alternativen die streitentscheidende Rechtsfolge, wird jene mitunter für maßgeblich gehalten. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass nicht begründet werden

__________ 46 BGHZ 90, 69, 75 f. 47 BGHZ 77, 301, 304. 48 BGH, NJW 1984, 1177, 1179 m. w. N.; Römer, VersR 1994, 125 f.

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kann, weshalb andere Alternativen, die nicht weniger geeignet sind, ausscheiden sollten. Zur ergänzenden Vertragsauslegung können im Übrigen nicht die von Versichererverbänden empfohlenen unverbindlichen Musterbedingungen herangezogen werden. Diese Empfehlungen sind das Ergebnis einseitiger Interessenwahrnehmung und daher nicht geeignet, ohne weiteres eine den Interessen von Versicherern und Versicherungsnehmern gerecht werdende Regelung darzustellen. Eine Gesamtnichtigkeit des Versicherungsvertrags ist nur im Falle von § 306 Abs. 3 BGB anzunehmen. Sie ist nicht gegeben, wenn es sich bei dem Vertrag um einen Verbrauchervertrag handelt und dieser auch ohne die fraglichen Klauseln bestehen kann. Diese, dem Art. 6 Abs. 1 der EG-Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen zu entnehmende Regelung ist bei einer Anwendung von § 306 Abs. 3 BGB, der unter bestimmten Voraussetzungen eine Gesamtnichtigkeit vorsieht, zu berücksichtigen. Anzunehmen wäre hingegen eine Gesamtnichtigkeit bei einer krassen Äquivalenzstörung. Dass der Versicherer den Vertrag lieber gar nicht als zu den Bedingungen des dispositiven Rechts abgeschlossen hätte, reicht für sich genommen nicht. So sind etwa für die Deckungszusage eines (Motorsportboot)-Kaskoversicherers die Vorschriften der § 130 Abs. 2 Satz 1, 138 VVG in dem Fall heranzuziehen, in dem die AVB des Versicherers auf Grund von § 305 Abs. 2 BGB nicht Vertragsbestandteil geworden sind. Das gilt auch, wenn diese AVB einen weitergehenden Haftungsausschluss vorsehen49. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung, ob eine unzumutbare Härte im Sinne von § 306 Abs. 3 BGB vorliegt, ist derjenige der Geltendmachung von Rechten aus dem Vertrag, nicht der Zeitpunkt des Vertragsschlusses. Dies folgt bereits aus dem Gesetzeswortlaut („Festhalten“).

VII. Schluss Im Ergebnis zeigt sich, dass sich die Einbeziehung von AVB in den Versicherungsvertrag zwar nach den Vorschriften des BGB richtet. Nicht ausgeblendet können dabei allerdings die Regelungen des VVG werden, die ergänzend, auch unterstützend herangezogen werden müssen.

__________ 49 BGH, NJW 1982, 824 f.

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Ausländische Zweckgesellschaften und der Schutz inländischer Interessen Fehlen oder Falschanwendung inländischer Schutznormen, die extraterritorial zu gelten bestimmt sind

Inhaltsübersicht I. Einführung II. Völkerrechtliche Prinzipien nationaler Gesetzgebungshoheit und die Übernahme des Auswirkungsprinzips in das deutsche internationale Wirtschaftsrecht 1. Völkerrechtliche Kompetenzregeln im Allgemeinen 2. Die Übernahme des völkerrechtlichen Auswirkungsprinzips in das deutsche internationale Wirtschaftsrecht III. Deutsche nationale und europäische Vorschriften mit extraterritorialem Geltungsanspruch 1. Das deutsche internationale Strafrecht 2. Das deutsche internationale Steuerrecht 3. Das deutsche und europäische internationale Kartellrecht 4. Das deutsche Außenwirtschaftsrecht IV. Vorschriften mit extraterritorialem Geltungsanspruch im deutschen Bankund Wertpapierhandelsrecht 1. Die Zulassung zum Betreiben von Bankgeschäften (§ 32 KWG) 2. Die Einholung von Auskünften und die Vornahme von Prüfungen 3. Die Erstreckung der Bankaufsicht über ausländische Unternehmen, die im Inland tätig sind 4. Die Geltung des deutschen WpHG (§ 33 WpHG) 5. Zusammenfassung und Konsequenzen

V. Die Pflicht zur Konsolidierung von ausländischen Zweckgesellschaften 1. Konsolidierungspflicht nach § 290 HGB a) Die bis zum 28.5.2009 geltende frühere Fassung des § 290 HGB b) Die ab dem 29.5.2009 geltende neue Fassung des § 290 HGB c) Ergebnis 2. Die Konsolidierung nach SIC-12 der IAS a) Die VOen (EG) Nr. 1606/2002, Nr. 1725/2003 und Nr. 1126/2008 b) Die für Konzern- und Einzelabschlüsse maßgeblichen Standards (IAS 27) c) Die einzelnen Standards für die Konsolidierung von Zweckgesellschaften (SIC-12) d) Ergebnis 3. Schlussfolgerungen zur Konsolidierungspflicht von Zweckgesellschaften der hier untersuchten Art 4. Fazit: Der „Tunnelblick“ VI. Die Compliance-Verpflichtung nach § 25a Abs. 1 KWG und die aufsichtsrechtlichen Befugnisse nach §§ 10–11 KWG 1. Die Compliance-Verpflichtung nach § 25a Abs. 1 KWG 2. Die aufsichtsrechtlichen Befugnisse nach §§ 10, 10a KWG (Eigenmittelausstattung) 3. Die aufsichtsrechtlichen Befugnisse nach § 11 KWG (ausreichende Liquidität) VII. Ergebnisse

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Der Jubilar, dem sich der Verfasser dieser Zeilen seit vielen Jahren freundschaftlich verbunden fühlt, ist auf vielen Rechtsgebieten zu Hause, u. a. auf dem Gebiet des Bankrechts. Es erscheint daher nicht als verfehlt, ihm aus diesem Gebiet einen Beitrag zu widmen.

I. Einführung Viele Bundesbürger haben insbesondere im Jahre 2008 mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen müssen, dass deutsche Banken in europäischen Nachbarstaaten oder in einigen außereuropäischen Staaten Zweckgesellschaften1 gegründet hatten, weil diese Gesellschaften dort – so hörte man – angeblich Bankgeschäfte betreiben konnten oder durften, deren Vornahme ihnen in der Bundesrepublik Deutschland entweder nicht mit einem vergleichbaren Gewinn möglich oder nicht in dieser Form bzw. nicht in diesem Umfang gestattet gewesen wäre. Steuerliche Gründe (z. B. kein Anfall einer Gewerbesteuer!) sollen ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Angeblich erbrachte das normale „Geschäftsmodell“, das den Geschäften dieser Banken in Deutschland zugrundelag, zu wenig Ertrag. Diejenigen Erträge, die man im Inland nicht hatte erzielen können, sollten deshalb im „freieren“ Ausland zu erwirtschaften sein. Was lag also näher, als ins Ausland auszuweichen? Man wollte solche Gewinne im Interesse aller Beteiligten „mitnehmen“. Geographisch kamen für derartige Ausweichstrategien entweder andere Staaten der Europäischen Gemeinschaft, z. B. Irland, oder Drittstaaten in Betracht2.

__________ 1 Weil die Definition der Zweckgesellschaft außerhalb des Bankrechts kaum bekannt ist, sei ihre Definition hier aus § 1 Abs. 26 KWG zitiert: „Zweckgesellschaften sind Unternehmen, deren wesentlicher Zweck darin besteht, durch Emission von Finanzinstrumenten oder auf sonstige Weise Geld aufzunehmen oder andere vermögenswerte Vorteile zu erlangen, um von Refinanzierungsunternehmern oder Refinanzierungsmittlern Gegenstände aus dem Geschäftsbetrieb eines Refinanzierungsunternehmens oder Ansprüche auf deren Übertragung zu erwerben; unschädlich ist, wenn sie daneben wirtschaftliche Risiken übernehmen, ohne dass damit ein Rechtsübergang einhergeht.“ – Auch § 231 Abs. 2 der SolvabilitätsVO v. 14.12.2006 enthält eine Definition der Zweckgesellschaft, u. zw. speziell der Verbriefungszweckgesellschaft. Er lautet: (2) Eine Verbriefungszweckgesellschaft ist ein Unternehmen, dessen unbesicherte Zahlungsverpflichtungen als KSA-Position [Kredit-Standardansatz-Position i. S. des § 10c Abs. 1 KWG] nicht der KSA-Forderungsklasse Institute zuzuordnen wären und das zu dem ausschließlichen Zweck der Durchführung einer oder mehrerer Verbriefungstransaktionen mit der Absicht errichtet wurde, die Verpflichtungen der Verbriefungszweckgesellschaft von denen des Originators zu isolieren, und deren Anteilseigner das Recht haben, die mit ihrem Anteil an der Verbriefungszweckgesellschaft verbundenen Rechte uneingeschränkt zu verpfänden oder auszutauschen. Die Aktivitäten der Verbriefungsgesellschaft sind auf die Tätigkeiten begrenzt, die zur Erreichung des Zwecks erforderlich sind.“ 2 Waschbusch, Asset Backed Securities – eine moderne Form der Unternehmensfinanzierung, ZBB 1998, 408 ff. (411 li. Sp.) nennt daneben die englischen Kanalinseln und die Cayman Islands. Letzteren droht derzeit ein Staatsbankrott.

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Ausländische Zweckgesellschaften und der Schutz inländischer Interessen

In der Tat liefen die Geschäfte dieser außerdeutschen Zweckgesellschaften3 in den ersten Jahren wohl nicht nur zufriedenstellend, sondern sogar gut oder sehr gut. Beim Betreiben derselben handelte man dabei allerdings einer sog. goldenen Bankregel zuwider, die bereits aus dem 19. Jahrhundert überliefert war. Nach dieser Regel galt das Verbot des „Aus kurz mach lang“4: Langfristige Verbindlichkeiten sollten nach ihr auch langfristig – und nicht nur kurzfristig – refinanziert werden. Fristenkongruenz war also die Devise dieser goldenen Bankregel. Der vorübergehende Erfolg der genannten Zweckgesellschaften währte nicht lange. Mit der Finanzkrise brach das Modell der meisten Zweckgesellschaften dieser Art zusammen. Das Fehlen einer fristenkongruenten Refinanzierung rächte sich. Als die kurzfristigen Zinsen das Niveau der langfristigen erreichten, gingen die Zweckgesellschaften in die Insolvenz. Diejenigen deutschen Kreditinstitute, welche deren Gründung initiiert und danach zeitweilig von ihnen profitiert hatten, wurden zumindest für einen Teil der Schulden ihrer Zweckgesellschaften in Anspruch genommen5. Der deutsche Steuerzahler eilte – aus welchen Gründen auch immer – entweder unmittelbar oder mittelbar6 zu Hilfe. Er hat heute für Milliarden-Verluste aus diesen früher einträglichen ausländischen Zweckgeschäften einzustehen. Der Internationalrechtler, dem diese Ereignisse bekannt werden, ist ob dieser Entwicklungen fürbaß erstaunt. Denn der deutsche Gesetzgeber hat auf allen nur vorstellbaren Rechtsgebieten, auf denen Unheil aus dem Ausland drohen könnte, dafür gesorgt, dass diese Gefahren so weit wie möglich vom Inland her abgewendet werden können. Sollte der deutsche Gesetzgeber – obwohl rastlos legislatorisch tätig – diejenigen Gefahren, die von den erwähnten ausländischen Zweckgesellschaften drohten, übersehen haben? Oder gab es tatsächlich ausreichende inländische Schutznormen, die gegen derartige Entwicklungen hätten eingesetzt werden können, die aber von den Rechtsanwendern übersehen oder falsch interpretiert worden sind, so dass sie unangewendet blieben? Trifft also den deutschen Gesetzgeber oder den Rechtsanwender die Schuld an dem genannten Debakel? Oder war das Unheil – trotz ausreichender Gesetzgebung und richtiger Rechtsanwendung – unabwendbar? Diesen Fragen soll im Folgenden kurz nachgegangen werden. Die nachstehenden Erwägungen können allerdings nur einige grundsätzliche Fragen aufwerfen, ohne dass diese hier bereits im Einzelnen endgültig beantwortet werden könnten.

__________ 3 Vgl. zu den Zweckgesellschaften in der Bankenkrise allgemein Horn, Das Finanzmarktstabilisierungsgesetz und das Risikomanagement zu globalen Finanzkrise, BKR 2008, 452 ff. (457 f.). 4 S. dazu unten unter VI. 3. 5 Eine solche Haftung kam z. B. auf Grund von Garantien, Ausfallhaftungen oder Patronatserklärungen in Betracht. Vgl. die unten in Fn. 82 beschriebenem Beispiele der Hypo Real Estate Group A. G. und der Sachsen Landesbank. 6 Z. B. wurden einige Landesbanken über andere Landesbanken gerettet, für deren Verbindlichkeiten diese wiederum auf Grund ihrer Gewährträgerhaftung einzustehen hatten.

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II. Völkerrechtliche Prinzipien nationaler Gesetzgebungshoheit und die Übernahme des Auswirkungsprinzips in das deutsche internationale Wirtschaftsrecht Die Tätigkeit der Zweckgesellschaften, von denen im Folgenden die Rede sein soll, vollzog sich im Ausland. Dort gelten üblicherweise andere Regeln als im Inland. Die Initiatoren der Zweckgesellschaften hatten mit Bedacht ein ausländisches Territorium ausgesucht, um ihre Tätigkeiten außerhalb des Geltungsbereichs der deutschen Normen im Ausland zu entfalten. Es ergibt sich deshalb die Frage, ob deutsche Normen eine solche Tätigkeit, die sich im Ausland vollzog, überhaupt hätten erfassen können. 1. Völkerrechtliche Kompetenzregeln im Allgemeinen Völkerrechtliche Normen hinderten den deutschen Gesetzgeber nicht daran, die Geltung seiner Normen auf die aus seiner Sicht unerwünschten und gefährlichen Aktivitäten im Ausland zu erstrecken. Denn das Völkerrecht räumt allen nationalen Gesetzgebern die Befugnis ein, Sachverhalte, die sich im Ausland zutragen, durch inländische Normen zu regeln – jedenfalls dann, wenn es darum geht, inländische wirtschaftliche Interessen einschließlich inländischer Finanzmärkte gegen Gefahren zu schützen, die aus ausländischen Aktivitäten drohen. Zwar ist das Handeln aller nationalen Gesetzgeber völkerrechtlich ganz allgemein an das Territorialitätsprinzip gebunden. Nationale Gesetzgeber haben prinzipiell nur die Befugnis, Gesetze mit Wirkung für ihr Inland zu erlassen. Doch dieses Prinzip ist – heute mehr denn je – durch eine Reihe von weitläufigen Ausnahmen durchbrochen, die den nationalen Gesetzgebern in vielfältiger Weise die Befugnis einräumen, die Geltung ihrer Gesetze über ihr eigenes staatliches Hoheitsgebiet hinaus zu erstrecken. Diese völkerrechtlichen Prinzipien lassen sich wie folgt zusammenfassen7. Kraft des sog. Personalitätsprinzips steht jedem Staat steht die Personalhoheit über seine Staatsangehörigen und seine Gesellschaften zu. Er darf auch solche gesetzlichen Vorschriften erlassen, die das Verhalten seiner Staatsbürger und Gesellschaften im Ausland regeln. Er kann etwa bestimmen, dass seine Staatsangehörigen einer inländischen Militärpflicht unterworfen sind, auch wenn sie sich im Ausland aufhalten, oder er kann an das Verhalten seiner Gesellschaften im Ausland eine Steuerpflicht knüpfen. Ferner darf jeder Staat kraft des sog. Weltrechtsprinzips bestimmte Delikte, die im Ausland begangen werden,

__________ 7 Vgl. Restatement of the Foreign Relations Law of the US, 3rd ed. 1987, § 402. Dieser Paragraph lautet: „Bases of Jurisdiction to Prescribe – Subject to § 403, a state has jurisdiction to prescribe law with respect to (1) (a) conduct that, wholly or in substantial part, takes place within its territory; (b) the status of persons, or interests in things present within its territory; (c) conduct outside its territory that has or is intended to have substantial effect within its territory; and (3) certain conduct outside its territory by persons not its nationals that is directed against a limited class of the other state’s interests.“

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unter seine Strafnormen stellen, z. B. die Piraterie, den Menschenhandel oder die Vorbereitung eines Angriffskrieges. 2. Die Übernahme des völkerrechtlichen Auswirkungsprinzips in das deutsche internationale Wirtschaftsrecht Auf wirtschaftlichem Gebiet spielt das völkerrechtliche Auswirkungsprinzip eine alles überragende Rolle. Es sorgt dafür, dass jeder Staat Gefahren oder Schäden, die seiner Wirtschaft aus dem Ausland drohen, optimal abwenden kann. Nach diesem Prinzip ist jeder Staat dazu befugt, über das wirtschaftliche Handeln nicht nur seiner eigenen Staatsangehörigen, sondern auch ausländischer Staatsbürger oder ausländischer Gesellschaften zu bestimmen, selbst wenn diese im Ausland tätig sind. Entscheidend ist allein, dass die inländische Wirtschaft durch das Verhalten dieser Personen gefährdet wird. Nach diesem Prinzip kann sich also niemand darauf berufen, das Recht desjenigen Ortes, an welchem er handele, gestatte ihm die Vornahme einer Handlung. In vielen Fällen sind exterritoriale Gesetzgebungsakte dieser Art nicht nur von einem einzigen, sondern von mehreren der genannten völkerrechtlichen Prinzipien gedeckt. Z. B. können Personalitäts- und Auswirkungsprinzip in Konkurrenz zueinander treten und kartellrechtliche Vorschriften mit extraterritorialem Geltungsanspruch völkerrechtlich legitimieren. Ferner sind die meisten Regelungen dieser Art, die nach dem Willen ihrer Gesetzgeber extraterritorial wirken sollen, ihrer Natur nach nicht nur zwingender Natur, sondern – soweit es sich um zivilrechtliche Normen handelt – darüber hinaus auch mit ordre public-Wirkung ausgestattet8. Der deutsche Gesetzgeber hat von seiner völkerrechtlichen Befugnis, Vorschriften mit extraterritorialem Geltungsanspruch zu erlassen, auf wirtschaftlichem Gebiet in mannigfacher Art Gebrauch gemacht – häufig sogar im Übermaß9. Jedenfalls ist das Auswirkungsprinzip auf diese Weise als allgemeines Prinzip in das deutsche internationale Wirtschaftsrecht übernommen worden10. Dies soll im Folgenden kurz aufgezeigt werden.

III. Deutsche nationale und europäische Vorschriften mit extraterritorialem Geltungsanspruch 1. Das deutsche internationale Strafrecht Das StGB hat in seinen §§ 5–7 – allerdings für nicht-wirtschaftliche Bereiche – den Anwendungsbereich vieler seiner Normen auf Handlungen erstreckt, die im Ausland begangen werden, aber auf deutschem Territorium Schaden an-

__________ 8 Vgl. den für das internationale Schuldrecht geltenden Art. 34 EGBGB. 9 Vgl. dazu die gegen ausländische Staatsfonds gerichtete – de facto aber darüber hinausgreifende – Novelle zum AWG v. 18.4.2009 (s. unten unter III. 4.). 10 Vgl. zu dieser Problematik allgemein Basedow, Wirtschaftskollisionsrecht, RabelsZ Bd. 52 (1988), 9 ff.

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richten können. Viele dieser Normen, die fast alle umfangreichen TatbestandsKataloge umfassen, können völkerrechtlich zwar auch auf das Personalitätsund auf das Weltrechtsprinzip gestützt werden. Sie lassen sich aber auch mit dem Auswirkungsprinzip rechtfertigen, so z. B. wenn unter Strafe gestellt sind: nach § 5 Nr. 1 StGB die Vorbereitung eines Angriffskrieges; nach dessen Nr. 2 der Hochverrat; nach dessen Nr. 3 die Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats in bestimmten Fällen; nach dessen Nr. 4 der Landesverrat und die Gefährdung der äußeren Sicherheit; sowie nach dessen Nr. 5 bestimmte Straftaten gegen die Landesverteidigung. 2. Das deutsche internationale Steuerrecht Der deutsche Gesetzgeber hat ebenfalls – völkerrechtlich legitimiert – die extraterritoriale Geltung vieler seiner steuerrechtlichen Normen vorgesehen. Als Beispiel diene das Einkommensteuerrecht, das wohl die meisten Staaten nach dem sog. Welteinkommensprinzip ausgestaltet haben11. So schreibt u. a. § 1 Abs. 1 des deutschen EStG vor, dass Steuerpflichtige, die ihren Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben (sog. Steuerinländer), auch mit ihren im Ausland erwirtschafteten Einkünften der deutschen Einkommenssteuer unterliegen12. Andererseits haben Personen, die im Inland weder Wohnsitz noch gewöhnlichen Aufenthalt haben (sog. Steuerausländer), diejenigen Einkünfte (wenn auch nicht alle), die sie auf dem inländischen Territorium erzielen, im Inland zu versteuern13. 3. Das deutsche und europäische internationale Kartellrecht Man trägt ferner Eulen nach Athen, wenn man auf das im internationalen Kartellrecht weithin geltende Auswirkungsprinzip hinweist. Jahrzehnte lang14 war dieses Prinzip in § 98 Abs. 2 Satz 1 GWB normiert: „Dieses Gesetz findet Anwendung auf alle Wettbewerbsbeschränkungen, die sich im Geltungsbereich dieses Gesetzes auswirken, auch wenn sie außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes veranlasst werden.“ Dieses Prinzip war durch Justice Learned Hand im sog. Alcoa-Fall (1945)15 für das (US-amerikanische) internationale Kartellrecht entwickelt worden. Mit der 6. Novelle zum deutschen GWB vom 26.8.199816 wurde die bisher in § 98 Abs. 2 GWB normierte Bestimmung dann – unter Aufrechterhaltung ihres bisherigen Wortlauts – in die neue Vorschrift des § 130 Abs. 2 GWB übernommen.

__________

11 Vgl. Dieter Birk, Steuerrecht, 11. Aufl. 2008, § 7. 12 Dies wird mit dem Begriff der unbeschränkten Steuerpflicht bezeichnet. Doppelbesteuerungsabkommen können dem belasteten Steuerbürger zu Hilfe kommen. 13 Nach dem sog. Quellenprinzip. Wiederum können Doppelbesteuerungsabkommen zugunsten des belasteten Steuerausländers andere Regelungen vorsehen. 14 Diese Fassung der Vorschrift fand sich bereits im ursprünglichen Wortlaut des Gesetzes vom 27.7.1957 (BGBl. I 1957, 1081). 15 US v. Aluminum Co. of America, 128 F.2d 416. Nähere Einzelheiten bei Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. 2004, § 6 Rz. 13–21. 16 Sechstes Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen vom 26.8.1998 (BGBl. I 1998, 2521).

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Die Europäische Kommission hält sich ebenfalls an dieses Prinzip, wenn sie den internationalen Geltungsbereich der europäischen Kartellrechtsnormen zu bestimmen hat. Sie wandte dieses Prinzip zum ersten Mal in ihrer bekannten Farbstoff-Entscheidung von 196917 an. Wenn hingegen der EuGH über Handlungen zu urteilen hat, die außerhalb der EG vorgenommen worden sind, oder über Sachverhalte, die sich dort ereignet haben, so stützt er seine Entscheidungen in der Regel auf die Existenz einer daraus resultierenden Beschränkung innerhalb des Gemeinsamen Marktes, ohne dass er das Auswirkungsprinzip ausdrücklich erwähnen würde. Man ist sich jedoch darüber einig, dass sich der EuGH dabei dem Auswirkungsprinzip zumindest „angenähert“ habe18. Nunmehr hat auch Art. 6 Abs. 3 Buchst. a der Rom II-VO19 das Auswirkungsprinzip in seinen Text übernommen, indem er bestimmt: „Auf außervertragliche Schuldverhältnisse aus einem den Wettbewerb einschränkenden Verhalten ist das Recht des Staates anzuwenden, dessen Markt beeinträchtigt ist oder wahrscheinlich beeinträchtigt wird.“ Bei Anwendung dieser Bestimmung ist allerdings zu beachten, dass diese Norm lediglich über den Anwendungsbereich von privatrechtlichen Kartellrechtsnormen bestimmt, wenn diese z. B. einem Geschädigten Schadensersatz zusprechen. Hingegen bemisst sich der internationale Geltungsbereich von kartellrechtlichen Eingriffsnormen, die das Handeln der Kartellbehörden regeln, weiterhin nach der Rechtsprechung des EuGH20. 4. Das deutsche Außenwirtschaftsrecht Im deutschen Außenwirtschaftsrecht manifestiert sich vielleicht die intensivste Ausprägung des Auswirkungsprinzips im deutschen internationalen Wirtschaftsrecht. § 6 Abs. 1 des AWG bestimmt zunächst ganz allgemein, dass Rechtsgeschäfte und Handlungen im Außenwirtschaftsverkehr beschränkt werden können, um schädlichen Folgen für die Wirtschaft oder einzelne Wirtschaftszweige in der Bundesrepublik vorzubeugen oder entgegenzuwirken, wenn solche Folgen durch Maßnahmen in fremden Wirtschaftsgebieten drohen oder entstehen, die erstens den Wettbewerb einschränken, verfälschen oder verhindern oder zweitens zu Beschränkungen des Wirtschaftsverkehrs mit der Bundesrepublik führen. Absatz 2 des § 6 AWG fügt alsdann hinzu, dass Rechtsgeschäfte und Handlungen im Außenwirtschaftsverkehr ferner beschränkt werden können,

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17 WuW/EV 267 (Leitsatz 2); vgl. dazu Mestmäcker/Schweitzer (Fn. 15), § 6 Rz. 34–45. Vgl. auch EuGH, Urt. v. 14.7.1972 in der Rs. 52/69 (Ciba-Geigy), EWG/MUV 287 sowie Schwarze, Die extraterritoriale Anwendbarkeit des EG-Wettbewerbsrechts – Vom Durchführungsprinzip zum Prinzip der qualifizierten Auswirkung, WuW 2001, 1190 (1999 ff.). 18 Vgl. dazu im Einzelnen m. w. N. Mestmäcker/Schweitzer (Fn. 15), § 6 Rz. 34–45. 19 Vgl. dazu Peter Mankowski, Das neue Internationale Kartellrecht des Art. 6 Abs. 3 der Rom-II-VO, RIW 2008, 177; Ulrich Immenga, Das Auswirkungsprinzip des internationalen Wettbewerbsrechts als Gegenstand einer gemeinschaftsrechtlichen Verordnung, in FS Gunther Kühne, 2009, S. 725 ff. 20 Vgl. dazu insbesondere Ulrich Immenga (Fn. 19).

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um Auswirkungen von in fremden Wirtschaftsgebieten herrschenden, mit der freiheitlichen Ordnung der Bundesrepublik nicht übereinstimmenden Verhältnissen auf die Bundesrepublik vorzubeugen oder entgegenzuwirken. Damit nicht genug! Nach § 7 Abs. 1 Ziff. 4 AWG können Rechtsgeschäfte und Handlungen im Außenwirtschaftsverkehr beschränkt werden, um die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Bundesrepublik i. S. v. Art. 46 und 48 des EG-Vertrags zu gewährleisten. Da diese beiden Artikel des EG-Vertrages jene Begriffe („Ordnung“ oder „Sicherheit“) aber nicht definieren, war der EuGH zur Auslegung derselben aufgerufen. Er hat diese Begriffe im Interesse der Grundfreiheiten eng ausgelegt21. Rein wirtschaftliche Belange oder Ziele der Wirtschaftspolitik fallen nach seiner Auffassung nicht unter diese Begriffe. Anders hingegen, wenn nationale Vorschriften beispielsweise die Mindestversorgung eines Mitgliedstaates mit Energie sicherstellen sollen22. Angesichts der vermeintlichen Gefahren, die von ausländischen Investitionsfonds für die deutsche Wirtschaft ausgehen (solche Fonds könnten sich in nationale Unternehmen einkaufen und dort sodann z. B. Innovationen „stehlen“), hat der deutsche Gesetzgeber durch Gesetz vom 18.4.2009 sogar als neue Vorschrift die Ziff. 6 in Abs. 2 des § 7 AWG eingefügt. Nach dieser Ziffer dürfen Rechtsgeschäfte, die den Erwerb deutscher Unternehmen oder von Anteilen an ihnen vorsehen, „beschränkt werden“, wenn infolge des Erwerbs die öffentliche Ordnung oder Sicherheit im soeben erwähnten Sinne gefährdet ist; dies allerdings nur dann, wenn eine „tatsächliche oder hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt“. Auf Grund dieser Ermächtigung sind nähere Ausführungsvorschriften in Art. 53 der AWVO aufgenommen worden. Diese Regelungen stellen nicht nur die seltsame Blüte einer übertriebenen deutschen Angst vor gefährlichen ausländischen „Wirtschaftsmächten“ dar. Sie schränken auch das in § 1 AWG verankerte Prinzip der Außenwirtschaftsfreiheit ungebührlich ein und sind darüber hinaus völkerrechtswidrig23.

IV. Vorschriften mit extraterritorialem Geltungsanspruch im deutschen Bank- und Wertpapierhandelsrecht Auch im deutschen Bank- und Wertpapierhandelsrecht finden sich mannigfache Vorschriften mit internationalem Geltungsanspruch. An erster Stelle soll im Folgenden ein Blick auf einige Vorschriften des KWG geworfen werden, die in dieser Hinsicht von Bedeutung sind. Dann folgt ein kurzer Blick auf das WpHG.

__________ 21 Vgl. u. a. Schimanski/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, Bd. 2, 3. Aufl. 2007, § 135, IV, 3 Rz. 57 sowie das Jahresgutachten des Sachverständigenrats 2007/2008 unter IV: Beschränkungen des Beteiligungserwerbs durch ausländische Investoren?, Ziff. 612. 22 Vgl. die Entscheidung des EuGH v. 10.7.1984 in der Rs. 72/83 unter Ziff. 27-81. 23 Vgl. dazu Sandrock, Staatsfonds und deutsche bilaterale Investitionsförderung- und -schutzverträge, in FS Schwark, 2009, S. 729 ff.

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Was zunächst das KWG angeht, so sind in diesem Zusammenhang vor allem die in dem 3. Abschnitt dieses Gesetzes geregelten „Vorschriften über die Beaufsichtigung der Institute“ von Bedeutung. 1. Die Zulassung zum Betreiben von Bankgeschäften (§ 32 KWG) In diesem Abschnitt enthält das KWG zunächst in seinen §§ 32–38 Regeln über die Zulassung von Unternehmen zum Betreiben von Bankgeschäften. Nach § 32 Abs. 1 KWG bedarf derjenige einer Erlaubnis zum Geschäftsbetrieb, der „im Inland“ Bankgeschäfte betreiben oder Finanzdienstleistungen erbringen will. An die Auslegung dieses „Inlands“-Merkmals knüpft sich ein Streit, soweit es sich um die Geschäfte von Unternehmen handelt, die nicht im Inland, sondern im Ausland ansässig sind24. Die Vertreter eines sog. institutsbezogenen Ansatzes25 gehen davon aus, ein ausländisches Unternehmen habe nur dann eine Erlaubnis nach § 32 Abs. 1 KWG einzuholen, wenn es im Inland über eine irgendwie geartete physische Präsenz verfüge. Andernfalls benötige es für seine Tätigkeit im Inland keine Erlaubnis. Eine Erlaubnispflicht sei z. B. gegeben, wenn ein ausländisches Unternehmen hier im Inland über ein Tochterunternehmen oder eine Zweigstelle tätig werde. Es genüge auch, wenn eine natürliche Person als Vertreter des ausländischen Unternehmens im Inland auftrete. Fehle es indessen an einer derartigen physischen Präsenz im Inland, so könne ein ausländisches Unternehmen hier Bankgeschäfte betreiben oder Finanzdienstleistungen erbringen, ohne hierfür eine Erlaubnis i. S. d. § 32 KWG einholen zu müssen. Wäre diese Ansicht richtig, so hätte dies zur Folge, dass ausländische Unternehmen ihre Produkte im Inland z. B. telefonisch oder über das Internet erlaubnisfrei anbieten könnten. Damit gerieten die inländischen Nachfrager von Bank- und Finanzdienstleistungen in Gefahr. Unseriöse oder nicht ausreichend beaufsichtigte Unternehmen könnten den deutschen Markt vom Ausland her „bearbeiten“, ohne die Voraussetzungen für eine Geschäftstätigkeit auf dem deutschen Markt erfüllen zu müssen. Diese Ansicht überzeugt daher nicht. Vielmehr ist dem vom Auswirkungsprinzip beherrschten sog. vertriebsbezogenen Ansatz26 zuzustimmen. Nach dieser Lehre reicht es aus, dass sich die vom KWG erfassten Tätigkeiten – obwohl im Ausland vorgenommen – im Inland auswirken. Eine teleologische Auslegung des § 32 KWG führt in der Tat zu dem Ergebnis, dass in solchen Fällen das betreffende ausländische Unterneh-

__________ 24 Vgl. dazu Freiwald, Erlaubnispflicht nach § 32 Abs. 1 KWG für grenzüberschreitende Bank- und Finanzdienstleitungen, WM 2008, 1537 ff. 25 Vgl. Samm in Beck/Samm/Kokemooor (Loseblatt-Slg) (Stand: 11/06), § 32 KWG Bd. 2 Rz. 26 ff.; Marwede in Boos/Fischer/Schulte-Mattler, 2. Aufl. 2004, § 53 KWG Rz. 111; Hanten, Aufsichtsrechtliche Erlaubnispflicht bei grenzüberschreitenden Bankgeschäften und Finanzdienstleistungen, WM 2003, 1412 ff. (1414). 26 So Freiwald (Fn. 24); Ohler, Aufsichtsrechtliche Fragen des electronic banking, WM 2002, 162 ff. (168 f.); Voge, Zur Erlaubnispflicht grenzüberschreitend betriebener Bank- und Dienstleistungsgeschäfte, WM 2007, 381 ff.

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men eine Erlaubnis zum Geschäftsbetrieb einholen muss. Diese Ansicht wird auch von der Bundesstelle für Finanzdienstleistungsaufsicht vertreten. Ihr Merkblatt „Hinweise zur Erlaubnispflicht nach § 32 Abs. 1 KWG in Verbindung mit § 1 Abs. 1 und Abs. 1a KWG von grenzüberschreitend betriebenen Bankgeschäften und/oder grenzüberschreitend erbrachten Finanzdienstleistungen“27 bestimmt, dass der ausländische Erbringer einer KWG-relevanten Dienstleistung eine Erlaubnis nach § 32 KWG bereits dann benötigt, wenn er sich „zielgerichtet an den Markt wendet, um gegenüber Unternehmen und/ oder Personen, die ihren Sitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben, wiederholt und gewerbsmäßig Bankgeschäfte oder Finanzdienstleistungen anzubieten“28. Auch die Rechtsprechung der deutschen Verwaltungsgerichte steht mit dieser Auffassung im Einklang29. Das VerwG Frankfurt a. M.30 berief sich dabei sogar auf das völkerrechtliche Auswirkungsprinzip31. Schließlich hat sich dieser Auffassung auch das BVerwG in einem Urteil vom 22.4.200932 angeschlossen. Nach dieser Entscheidung umfasst das Betreiben eines Bankgeschäfts i. S. d. § 32 Abs. 1 Satz 1 KWG nicht nur rechtsgeschäftliches Handeln, sondern alle wesentlichen zum Vertragsschluss führenden Schritte. Und ein solches Bankgeschäft wird auch dann „im Inland“ betrieben, wenn ein Kreditinstitut hier bankgeschäftliche Leistungen ohne eigene physische Präsenz im Wege des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs erbringt. Nur dann, wenn inländische Interessenten den Anbieter im Ausland aufsuchten, um seine Dienste in Anspruch zu nehmen, sei das Inlandsmerkmal nicht erfüllt33. Das BVerwG hat auch überprüft, ob diese Auslegung des § 32 Abs. 1 KWG mit dem Völkerrecht vereinbar ist, insbesondere mit dem GATs. Es hat einen solchen Verstoß verneint34. Auf das völkerrechtliche Auswirkungsprinzip hat sich das BVerwG dabei nicht berufen. Offenbar hatte die Klägerin eine Verletzung dieses Prinzips nicht geltend gemacht, und es war allen Beteiligten evident, dass eine solche Verletzung nicht gegeben war. Jedenfalls kann § 32 Abs. 1 KWG extraterritoriale Geltung beanspruchen, wenn man die Extraterritorialität darauf bezieht, dass der Anbieter der dort geregelten Dienstleistungen im Ausland ansässig ist.

__________ 27 Im Internet abrufbar. Diese Praxis ist auch mit der Dienstleistungs- und Kapitalverkehrsfreiheit des EG-Vertrages vereinbar; vgl. EuGH, Urt. v. 3.10.2006 in der Rs. C-452/04, WM 2006, 1949. 28 So Abs. 1 des Merkblatts. 29 Vgl. dazu im Einzelnen Freiwald (Fn. 24), S. 1537 ff. 30 Urt. v. 5.7.2007 (BKR 2007, 341), auch im Internet abrufbar. Die Klägerin hatte ihren Firmensitz in der Schweiz und von dort aus gewerbsmäßig Kredite an in der Bundesrepublik Deutschland lebende Personen vergeben, ohne über eine Erlaubnis nach dem KWG zu verfügen. In einem Vorlageverfahren hatte der EuGH entschieden, ein in einem Drittstaat (hier: Schweiz) ansässiges Unternehmen könne sich in einem solchen Fall auf die EG-Dienstleistungsfreiheit nicht berufen. 31 A. a. O., S. 345. 32 Az. BVerwG 8 C 2.09, im Internet abrufbar. 33 Vgl. Rz. 47 der Entsch. des BVerwG. 34 Vgl. Rz. 59 der Entsch. des BVerwG.

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2. Die Einholung von Auskünften und die Vornahme von Prüfungen Durch die dritte KWG-Novelle aus dem Jahre 198535 wurde § 44a KWG in das KWG eingefügt und seither mehrfach geändert36. Diese Norm regelt in komplizierten einzelnen Bestimmungen, inwieweit inländische Kreditinstitute und Finanzdienstleistungsunternehmen37 einem übergeordneten38 ausländischen Unternehmen Daten übermitteln dürfen, die für die Aufsicht durch eine ausländische Behörde erforderlich sind, wenn die untergeordneten inländischen Unternehmen in dem ausländischen Unternehmen nicht konsolidiert sind (Abs. 1). Ferner ermächtigt § 44a KWG die BaFin, einer ausländischen Aufsichtsbehörde Amtshilfe zu leisten (Abs. 2)39. Diese Normen stellen die Ausprägung eines mittelbaren Auswirkungsprinzips dar: Die Aufsicht durch eine fremde Behörde soll erleichtert und damit auch die Aufsicht über ein untergeordnetes inländisches Unternehmen verstärkt werden. 3. Die Erstreckung der Bankaufsicht über ausländische Unternehmen, die im Inland tätig sind Das KWG enthält ferner in den §§ 53–53e seines 5. Abschnitts40 unter dem Titel „Sondervorschriften“ Regelungen für Unternehmen, die ihren Sitz zwar im Ausland haben, die aber im Inland tätig sind. In diesen Vorschriften werden auch damit verwandte Probleme geregelt. Das KWG unterscheidet in jenen Normen zwischen folgenden Unternehmen: solchen, die im Ausland oder in einem Staat des Europäischen Wirtschaftsraums ansässig sind, aber Zweigstellen oder Repräsentanzen im Inland unterhalten (§§ 53, 53b); Vorschriften, kraft derer Unternehmen mit Sitz in einem Drittstaat von bestimmten Vorschriften des KWG freigestellt werden (§ 53c); Mutterunternehmen mit Sitz in einem Drittstaat (§ 53d); und die Zusammenarbeit mit der Kommission der EG (§ 53e). Diese Normen unterwerfen die betreffenden ausländischen Unternehmen sowie deren Zweigstellen und Repräsentanzen in ganz unterschiedlichem Maße einer gewissen inländischen Aufsicht und sehen unter bestimmten Voraussetzungen auch die Befreiung hiervon vor. Auch diese Normen können als eine Ausprägung des Auswirkungsprinzips angesehen werden.

__________ 35 BGBl. I 1984, 1693; vgl. dazu Henke, Die Novelle zum KWG, WM 1985, 41 ff.; sowie ausführlich Dietz, AG 1990, 259–289; 333–359; 376–392. 36 Zu dieser Bestimmung vgl. allgemein die Kommentierung durch Braun in Boos/ Fischer/Schulte-Mattler, KWG, 3. Aufl. 2008. 37 Vgl. dazu im Einzelnen den Katalog der von § 44 Abs. 1 KWG aufgezählten Unternehmen. 38 Vgl. dazu ebenfalls im Einzelnen den Katalog der von § 44 Abs. 1 KWG aufgezählten Unternehmen. 39 Abs. 3 des § 44a KWG ist im vorliegenden Zusammenhang nicht von Bedeutung. 40 § 53a KWG ist bereits durch die 2. KWG-Novelle (1976) eingefügt worden. Die §§ 53b–53e KWG folgten mit der 4. KWG-Novelle von 1993.

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4. Die Geltung des deutschen WpHG (§ 33 WpHG) Im Rahmen des WpHG beruhen insbesondere dessen § 31 Abs. 10 und §§ 37i– 37l auf dem Auswirkungsprinzip. § 31 Abs. 10 WpHG sieht nämlich vor, dass bestimmte Regelungen dieses Gesetzes auch auf Unternehmen mit Sitz in einem Drittstaat anzuwenden sind. Es handelt sich um folgende Normen: Abs. 1 Nr. 1 des § 31 WpHG über die erforderliche Sachkenntnis, Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit bei der Erbringung von Wertpapierdienstleistungen und Wertpapierdienstnebenleistungen; Abs. 2–9 dieser Norm, welche bestimmt, dass Kunden, die solche Leistungen in Anspruch nehmen, gewisse Informationen zur Verfügung zu stellen sind sowie Normen ähnlicher Art; § 31d WpHG über bestimmte Zuwendungen, die im Zusammenhang mit der Erbringung von Leistungen, die solche Unternehmen von Dritten annehmen oder an Dritte gewähren; sowie § 31e WpHG41. Letztere Norm soll klarstellen, dass Unternehmen mit Sitz in einem Drittstaat, soweit sie im Wege des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs tätig sind, denselben Verhaltensregeln unterliegen wie inländische Institute und Zweigstellen ausländischer Unternehmen42. Ferner sehen §§ 37i–37l WpHG Folgendes vor: Märkte für Finanzinstrumente mit Sitz im Ausland, die keine organisierten Märkte oder multilateralen Handelssysteme i. S. jenes Gesetzes sind, bedürfen der schriftlichen Erlaubnis der BaFin, wenn sie Handelsteilnehmern mit Sitz im Inland einen unmittelbaren Marktzugang über ein elektronisches Handelssystem gewähren. Das Gleiche gilt für die Betreiber solcher Märkte. Dass alle diese Norm des WpHG auf dem oben analysierten Auswirkungsprinzip beruhen, ist offensichtlich. 5. Zusammenfassung und Konsequenzen Der vorstehende Überblick über einige Bestimmungen des KWG und des WpHG zeigt, dass der deutsche Gesetzgeber sich stets darum bemüht hat, dafür Sorge zu tragen, dass Gefahren, die für das deutsche Bank- und Finanzsystem aus dem Ausland drohen, möglichst früh erkannt und gebannt werden. Angesichts dieser positiv-rechtlichen Normen stellt sich umso dringender die Frage, ob derartige Schutznormen in der Vergangenheit entweder fehlten oder sich als unzulänglich erwiesen haben, wenn es darum ging, Gefahren abzuwenden oder zumindest abzuschwächen, die von ausländischen Zweckgesellschaften ausgingen. Die gleiche Frage ergibt sich für die Gegenwart.

__________ 41 Diese Bestimmung befasst sich mit der Erbringung von Wertpapierdienstleistungen und Wertpapiernebendienstleistungen über ein anderes Wertpapierdienstleistungsunternehmen. 42 So Urt. des BVerwG v. 22.4.2009 (Fn. 32), Rz. 54.

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V. Die Pflicht zur Konsolidierung von ausländischen Zweckgesellschaften Die Verluste, die ausländische Zweckgesellschaften inländischen Kreditinstituten und teilweise – in letzter Instanz – auch dem deutschen Steuerzahler eingebracht haben, wären sicherlich vermieden oder zumindest abgemildert worden, wenn die betreffenden ausländischen Zweckgesellschaften in der Bilanz der inländischen Kreditinstitute hätten konsolidiert werden müssen. De facto ist eine solche Konsolidierung aber unterblieben43. Es fragt sich, ob das Unterlassen einer solchen Konsolidierung rechtens war. Diese Frage ist alternativ nach zwei unterschiedlichen Normkomplexen zu beurteilen: sowohl nach § 290 HGB als auch nach den IFRS, genauer: nach IAS 27 i. V. m. SIC-12. Das Verhältnis dieser beiden Normkomplexe ist wie folgt zu beurteilen: Allgemein richtet sich die Frage, ob Mutternunternehmen Zweckgesellschaften zu konsolidieren haben, nach § 290 HGB. Indessen gelten für Mutterunternehmen, die dem Recht eines Mitgliedstaates der EG unterliegen und deren Wertpapiere (Aktien oder Anleihen) in einem beliebigen Mitgliedstaat zum Handel an der Börse zugelassen sind (kapitalmarktorientierte Gesellschaften), die IFRS44. § 290 HGB stellt daher die lex generalis und Art. 4 Erste EG-BilanzrechtsVO die lex specialis dar45. Demgemäß soll mit einer Untersuchung des § 290 HGB begonnen werden. 1. Konsolidierungspflicht nach § 290 HGB Die Fassung dieser Norm ist im Jahre 2009 geändert worden. a) Die bis zum 28.5.2009 geltende frühere Fassung des § 290 HGB Bis zum Inkrafttreten des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes (BilMoG)46 am 29.5.200947 richtete sich die Pflicht zur Konsolidierung von Tochtergesellschaften für solche Mutterunternehmen, die nicht nach den IFRS zu bilanzieren hatten, nach § 290 Abs. 1 und 2 HGB a. F. Diese Normen hatten ihre früher maßgebende Fassung durch das Bilanz-Richtlinien-Gesetz vom 19.12.1985 erhalten. Der bis zum 29.5.2009 geltende Abs. 1 des § 290 HGB stellte klar, dass die Pflicht zur Konsolidierung einer Zweckgesellschaft der hier untersuchten Art davon abhing, ob die Zweckgesellschaft der einheitlichen Leitung des Mutterunternehmens unterstand. Mangels einer

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43 Vgl. die beiden Beispiele der HRE und der Sachsen Landesbank (Fn. 83). 44 Vgl. § 315a Abs. 1 und 2 HGB sowie ausführlich Großfeld/Luttermann, Bilanzrecht, 4. Aufl. 2005, Rz. 146 ff. 45 Freilich können Mutterunternehmen, die an sich nach dem HGB zu bilanzieren haben, auch das ihnen von § 315a Abs. 3 HGB verliehene Wahlrecht ausüben und nach den IFRS bilanzieren. 46 BGBl. I 2009, 1109. 47 Zu den Mutterunternehmen, die nach den IFRS zu bilanzieren haben, s. im Folgenden unter V. 2.

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solchen einheitlichen Leitung war die Zweckgesellschaft nicht zu konsolidieren. Und für eine solche einheitliche Leitung kam es nach Abs. 2 des § 290 HGB a. F. allein darauf an, ob das Mutterunternehmen eine gesellschaftsrechtliche Beteiligung in Form einer der folgenden Arten an der Tochtergesellschaft hielt. Eine Zweckgesellschaft war danach in der Bilanz der Muttergesellschaft zu bilanzieren, wenn der Muttergesellschaft hinsichtlich ihrer Zweckgesellschaft die Mehrheit der Stimmrechte der Gesellschafter zustand (Nr. 1); ferner wenn der Muttergesellschaft das Recht eingeräumt war, die Mehrheit der Mitglieder des Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgans zu bestellen oder abzuberufen, und wenn sie gleichzeitig Gesellschafterin war (Nr. 2); oder schließlich wenn der Muttergesellschaft das Recht zustand, auf Grund eines mit der Zweckgesellschaft geschlossenen Beherrschungsvertrags oder auf Grund einer Satzungsbestimmung des Unternehmens auf diese einen beherrschenden Einfluss auszuüben (Nr. 3). Im Übrigen mussten gemäß § 340i HGB auch solche Kreditinstitute, die nicht in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft betrieben wurden, unabhängig von ihrer Größe einen Konzernabschluss aufstellen. Es ist fraglich, ob auf Grund dieser früheren Fassung des § 290 Abs. 1 und 2 HGB ein deutsches Mutterunternehmen verpflichtet war, eine ausländische Zweckgesellschaft von der hier untersuchten Art48 zu konsolidieren. Eine Anwendung der Nr. 1 des § 290 Abs. 2 HGB a. F. kam insoweit nicht in Betracht. Denn wenn sich deutsche Mutterunternehmen ausländischer Zweckgesellschaften bedienten, um an deren ausländischem Sitz Gewinne zu erzielen, die zu realisieren ihnen in Deutschland nicht als möglich erschien, so vermieden es diese Mutterunternehmen peinlichst, sich an jenen ausländischen Zweckgesellschaften zu beteiligen49. Eine solche Beteiligung sollte entweder gar nicht oder, wenn überhaupt, zu einem ganz geringen Anteil gesellschaftsrechtlich gegeben sein. Anderenfalls hätten die Mutterunternehmen diese Zweckgesellschaften möglicherweise konsolidieren müssen, was sie unter allen Umständen zu vermeiden suchten. Die ausländischen Zweckgesellschaften wurden deshalb von fremden, mit den deutschen Gesellschaften nicht identischen sog. Initiatoren oder Originatoren (originators) gegründet50. Diese Gesellschafter stellten auch das (meist ganz geringfügige) Gründungskapital, das ihre Gesellschaft benötigte, entweder selbst zur Verfügung, oder sie beschafften sich dieses Kapital von dritter Seite (dem sog. Sponsor)51.

__________ 48 Die rechtliche und wirtschaftliche Natur und die Funktionsweise dieser Gesellschaften ist beschrieben im Jahresgutachten 2007/08 des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (im Internet abrufbar) S. 94 f., 109, 111 ff. 49 Vgl. dazu Waschbusch (Fn. 2), S. 411 (li. Sp.); Arbeitskreis „Finanzierung“ der Schmalenbach Gesellschaft, Asset Backed Securities – ein neues Finanzierungsinstrument für deutsche Unternehmen?, Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung, Bd. 44 (1992), 495 ff. (525). 50 Vgl. Schäfer/Kuhnle, Die bilanzielle Behandlung von Zweckgesellschaften und ihre Bedeutung im Rahmen der Corporate Governance, Edition Nr. 177 der Hans-BöcklerStiftung, 2006, S. 27. 51 Vgl. Waschbusch (Fn. 2), S. 411 (li. Sp.); Schäfer/Kühnle (Fn. 50), S. 40.

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Ausländische Zweckgesellschaften und der Schutz inländischer Interessen

Eine Pflicht, die ausländische Zweckgesellschaft zu konsolidieren, ergab sich auch nicht aus Nr. 2 des § 290 Abs. 2 HGB a. F. Meist fehlte es schon daran, dass das deutsche Mutterunternehmen nicht Gesellschafterin der ausländischen Zweckgesellschaft war. Ferner war dem deutschen Mutterunternehmen keinesfalls die Befugnis verliehen, die Mehrheit der Mitglieder des Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgans zu bestellen oder abzuberufen. Denn man war sorgfältig darum bemüht, solche Leitungsbefugnisse von dem deutschen Mutterunternehmen fernzuhalten, um für dieses keine Pflicht zur Konsolidierung zu begründen52. Im Übrigen verspürte das deutsche Mutterunternehmen auch kein Bedürfnis, auf die Geschäftsführung seiner ausländischen Zweckgesellschaft Einfluss zu nehmen. Denn Zweckgesellschaften wurden bei deren Gründung einem sog. Autopilotenmechanismus unterworfen, indem ihr Geschäftszweck so formuliert wurde, dass die Verwaltung der Zweckgesellschaft keine eigenen geschäftspolitischen oder strategischen Entscheidungen mehr zu treffen hatte53. Schließlich war es auch kaum möglich, eine Pflicht zur Konsolidierung einer ausländischen Zweckgesellschaft von der hier untersuchten Art aus Nr. 3 des § 290 Abs. 2 HGB a. F. herzuleiten. Denn die Gründer und/oder Gesellschafter der Zweckgesellschaft vermieden es wiederum wohlweislich nicht nur, mit dem deutschen Unternehmen einen Beherrschungsvertrag abzuschließen. Sie hüteten sich gleichzeitig auch davor, eine Bestimmung in die Satzung der Zweckgesellschaft aufzunehmen, die dem deutschen Unternehmen die Befugnis verliehen hätte, einen beherrschenden Einfluss auf die Zweckgesellschaft auszuüben. Es ergibt sich daher, dass das deutsche Mutterunternehmen auf Grund der bis zum 28.5.2009 geltenden Fassung des § 290 Abs. 2 HGB nicht verpflichtet war, die ausländische Tochtergesellschaft zu konsolidieren54, 55. Mit dieser Aus-

__________ 52 Vgl. Waschbusch (Fn. 2), S. 411 (li. Sp.); Schäfer/Kühnle (Fn. 50), S. 27. 53 Vgl. § 231 Abs. 2 Satz 2 der SolvabilitätsVO (Fn. 2); Schäfer/Kuhnle (Fn. 50), S. 18,f., 40, 69; Schruff/Rothenburger, Zur Konsolidierung von Special Purpose Entities im Konzernabschluß nach US-GAAP, IAS und HGB, Die Wirtschaftsprüfung 2002, 755 (756, li. Sp.) (welche – in rechtspolitisch durchaus überzeugender Weise – der Auffassung waren, mit der hier vertretenen engen Auslegung werde der Zweck der Konzernbilanzierung verfehlt; s. unten Fn. 54); Holzgethan, Bilanzierung von Zweckgesellschaften unter Berücksichtigung des BilMoG, 2009, S. 21 ff., 54 f., 100 (s. auch unten in Fn. 55); Schnauß, Controlling von Zweckgesellschaften vor dem Hintergrund der Finanzkrise, 2009, S. 200; Der Begriff des „Autopiloten“ wurde auch von der für die Konsolidierung nach den IFRS maßgeblichen SIC-12 übernommen (s. unten unter V. 2.). 54 A. A. Schruff/Rothenburger (Fn. 53), S. 764, die bereits für § 290 Abs. 2 HGB a. F. die Auffassung vertraten: „Dieses Ergebnis beruht jedoch auf einer rein formalrechtlichen Betrachtungsweise der Konsolidierungskriterien und ist, im Hinblick auf die durch den Konzernabschluss zu erfüllende Informationsfunktion, unzureichend, wenn der Initiator weiterhin die wirtschaftlichen Risiken und Chancen aus der Objektgesellschaft trägt.“ Vgl. auch Holzgethan (Fn. 53), S. 54 f. 55 Die Studie von Holzgethan (Fn. 53), S. 21 ff. ist auf Grund eines Entwurfs zum BilMoG erstellt, dessen Abs. 2 noch keine Ziff. 4 enthielt. Sie ist deshalb im vorliegenden Zusammenhang nur eingeschränkt verwertbar.

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legung mag zwar der Zweck des § 290 HGB a. F., Risiken auch aus solchen ausländischen Zweckgesellschaften in der Bilanz des Mutterunternehmens offenzulegen, kaum zu vereinbaren gewesen sein. Aber angesichts des damaligen klaren Wortlauts dieser Norm wäre die Argumentation mit einer Umgehung des allgemeinen Zwecks dieser Norm wohl zu weit ausgeholt gewesen. Immerhin handelte es sich bei § 290 HGB a. F. um eine Art Eingriffsnorm. b) Die ab dem 29.5.2009 geltende neue Fassung des § 290 HGB Wie bereits erwähnt, wurde § 290 HGB durch das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz (BilMoG) neu gefasst. Durch die neue Fassung dieser Vorschrift hat sich die Rechtslage völlig geändert. Nach § 290 Abs. 1 HGB n. F. kommt es nunmehr darauf an, ob das Mutterunternehmen weniger aus rechtlicher als aus wirtschaftlicher Sicht einen „beherrschenden Einfluss“ auf die Zweckgesellschaft ausüben kann. Ebenso wie in der früheren Fassung dieser Norm wird das Merkmal des beherrschenden Einflusses wiederum durch Abs. 2 des § 290 HGB n. F. konkretisiert. Der neue Abs. 2 hat dabei zwar die bisherigen Nr. 1–3 des Abs. 2 in ihrer Substanz (wenn auch nicht in seinen einzelnen Formulierungen) in die neue Fassung übernommen. Diesem Absatz ist aber eine neue Nr. 4 angefügt worden, nach welcher eine Konsolidierungspflicht der Muttergesellschaft auch dann zu bejahen ist, wenn jenes Unternehmen „bei wirtschaftlicher Betrachtung die Mehrheit der Risiken und Chancen eines Unternehmens trägt, das zur Erreichung eines eng begrenzten und genau definierten Ziels des Mutterunternehmens dient (Zweckgesellschaft).“ Die deutschen Mutterunternehmen hatten ihre ausländischen Zweckgesellschaften nämlich derart konstruiert, dass sie aus deren Wertpapiergeschäften den wesentlichen Nutzen zogen56. Andererseits hatten sie für die Erfüllung der Schulden ihrer ausländischen Zweckgesellschaften teilweise auch Garantien oder Ausfallhaftungen übernommen oder Patronatserklärungen abgegeben57.

__________ 56 Die Zweckgesellschaft kaufte von einem Kreditinstitut Forderungen (häufig sog. subprime loans, d. h. Forderungen gegen wenig kreditwürdige US-amerikanische Hypothekenschuldner) an. Genau genommen erwarb die Zweckgesellschaft die Forderungen auf die Zahlung der vereinbarten Zinsen und auf die Rückzahlung des Kapitals. Diesen Erwerb finanzierte sie ihrerseits aus kurzlaufenden Schuldverschreibungen, die sie am Markt platzierte. Die Zweckgesellschaft verbriefte die von ihr erworbenen Forderungen alsdann und verkaufte diese an Investoren weiter. Die Investoren erwarben damit ihrerseits die Ansprüche auf Zahlung von Zinsen, die höher waren als die Zinsen, die sie am deutschen Markt hätte erzielen können. Indem die Zweckgesellschaften die verbrieften Kredite auf diese Weise an die Investoren veräußerten, wurden die aus ihnen resultierenden Zahlungsströme auf jene Investoren weitergeleitet. Somit erscheinen die Erwerber der verbrieften Forderungen als die eigentlichen Nutznießer aller dieser Transkationen. Vgl. dazu Forkel, Rechtsfragen zur Krise an den Finanzmärkten, BKR 2008, 183 ff. (184 f.). 57 Vgl. Waschbusch (Fn. 2), S. 412 f.; Arbeitskreis „Finanzierung“, Asset Backed Securities (Fn. 49), S. 49. Vgl. auch die Beispiele der Hypo Real Estate Holding A.G. und der Sachsen Landesbank (Fn. 83).

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Mit dieser essentiell wirtschaftlichen Betrachtungsweise hat der Gesetzgeber also dafür gesorgt, dass die Zweckgesellschaften der hier untersuchten Art mit dem Inkrafttreten des BilMoG in der Bilanz der deutschen Mutterunternehmen nunmehr zu konsolidieren sind. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: Mit der neuen Fassung des § 290 HGB solle „formaljuristischen Gestaltungen, die dazu dienen, Vermögensgegenstände oder Schulden aus dem Konzernabschluss fern zu halten, zumindest teilweise der Boden entzogen“ werden. c) Ergebnis Soweit die Frage, ob deutsche Mutterunternehmen ihre Zweckgesellschaften zu konsolidieren hatten, nach § 290 HGB a. F. zu beurteilen war, beruhte das finanzielle Desaster, das sich für die entsprechenden Mutterunternehmen und – im Endergebnis – auch für die deutschen Steuerzahler ergab, auf den genannten Mangel in der deutschen Gesetzgebung. Dieser gesetzgeberische Mangel ist nunmehr geheilt. Nach der neuen Fassung des § 290 HGB sind Zweckgesellschaften der hier untersuchten Art nunmehr zu konsolidieren. 2. Die Konsolidierung nach SIC-12 der IAS a) Die VOen (EG) Nr. 1606/2002, Nr. 1725/2003 und Nr. 1126/2008 Wie bereits erwähnt58, haben Mutterunternehmen, die dem Recht eines Mitgliedstaates der EG unterliegen, ihre Konzernbilanzen gemäß Art. 4 der Ersten EG-BilanzrechtsVO (1606/2002) nach den IFRS aufzustellen, wenn die Wertpapiere dieser Unternehmen (Aktien oder Anleihen) in einem beliebigen Mitgliedstaat zum Handel an der Börse zugelassen sind. Solche Unternehmen werden als sog. kapitalmarktorientierte Gesellschaften bezeichnet. Die VO (EG) Nr. 1606/2002 trat im September 2002 in Kraft59. Sie gilt für alle Geschäftsjahre, die am oder nach dem 1.1.2005 begannen60. Die EG-Kommission sollte bis zum 31.12.2002 über die Anwendbarkeit der Rechnungslegungsstandards entscheiden, die bei Inkrafttreten der VO vorliegen würden. Durch die VO (EG) Nr. 1725/200361 wurden alsdann die soeben erwähnten internationalen Rechnungslegungsstandards („International Accounting Standards“ = IAS genannt) von der EG übernommen62. Ihr Text wurde deshalb als Anhang zu dieser VO im Amtsblatt der EG abgedruckt. Die IAS werden vom „International Accounting Standards Board“ (IASB), einer privaten Organisation mit Sitz in London, aufgestellt63. Nach Erlass der soeben erwähnten VO

__________ 58 S. oben unter V. 59 Vgl. deren Art. 11. 60 Vgl. Art. 4 der VO. Vgl. aber auch die Teil-Ausnahmen, die in Art. 8 der VO vorgesehen sind. 61 Vom 29.9.2003 betreffend die Übernahme bestimmter internationaler Rechnungslegungsstandards in Übereinstimmung mit der VO (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rats. 62 Ihr Text wurde als Anhang zu dieser VO im Amtsblatt der EG abgedruckt. 63 Vgl. dazu Großfeld/Luttermann (Fn. 44), S. 30 ff.

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(EG) Nr. 1725/2003 wurden die IAS laufend überarbeitet. Dies schaffte Rechtsunsicherheit und erschwerte die Anwendung der IAS64. Aus diesem Grunde hob die neue VO (EG) Nr. 1126/200865 die frühere VO (EG) Nr. 1725/2003 im Jahre 2008 wieder auf66 und veröffentlichte die IAS in ihrer neuen, überarbeiteten Fassung. Diese Fassung der neuen VO trat zum 1.12.2008 in Kraft67. Die neu formulierten IAS in der jüngeren VO von 2008 unterscheiden sich zwar von den früheren IAS aus der älteren VO von 2003 in einigen Formulierungen. In der Substanz haben sich die neuen IAS aber absolut nicht verändert. Die jüngere VO (EG) Nr. 1126/2008 mit ihren teilweise neuen Formulierungen soll daher die Grundlage der nun folgenden Analyse bilden. Da sich in der Substanz durch die neue VO gegenüber der früheren aber nichts verändert hat, gelten die im Folgenden abgeleiteten Ergebnisse sowohl für die jüngere als auch für die ältere VO. b) Die für Konzern- und Einzelabschlüsse maßgeblichen Standards (IAS 27) Der IAS 27 befasst sich mit den Konzern- und Einzelabschlüssen. Seine Ziff. 43 bestimmt, dass der in ihm geregelte Standard erstmals in der ersten Berichtsperiode eines am 1.1.2005 oder danach beginnenden Geschäftsjahres anzuwenden ist, dass eine frühere Anwendung aber empfohlen wird. In der Sache sieht IAS 27 zunächst vor, dieser Standard sei bei der Aufstellung und Darstellung von Konzernunternehmen für eine Gruppe von Unternehmen unter der Beherrschung eines Mutterunternehmens anzuwenden. IAS 27.12 ordnet weiter an, in den Kreis der zu konsolidierenden Unternehmen seien alle Tochterunternehmen des Mutterunternehmens einzuschließen. An späterer Stelle definiert der IAS 27.4 „Beherrschung“ als „die Möglichkeit, die Finanzund Geschäftspolitik eines Unternehmens zu bestimmen, um aus dessen Tätigkeit Nutzen zu ziehen“. Dieses Merkmal der „Beherrschung“ wird später in Ziff. 13 der IAS 27 noch weiter konkretisiert. Danach soll eine „Beherrschung“ dann angenommen werden, wenn das Mutterunternehmen entweder direkt oder indirekt über Tochterunternehmen über mehr als die Hälfte der Stimmrechte eines Unternehmens verfügt, es sei denn, unter außergewöhnlichen Umständen ließe sich eindeutig nachweisen, dass ein derartiger Besitz keine Beherrschung begründe. Eine Beherrschung liege ebenfalls vor, wenn das Mutterunternehmen die Hälfte oder weniger als die Hälfte der Stimmrechte an einem Unternehmen halte, gleichzeitig aber die Möglichkeit habe, (a) kraft einer mit anderen Anlegern geschlossenen Vereinbarung über mehr als die Hälfte der Stimmrechte zu verfügen; (b) gemäß einer Satzung oder einer Vereinbarung die Finanz- und Geschäftspolitik des Unternehmens zu bestimmen; (c) die Mehrheit der Mit-

__________ 64 Vgl. Erwägungsgrund (3) der VO (EG) Nr. 1126/2008. 65 Vom 3.11.2008 zur Übernahme bestimmter internationaler Rechnungslegungsstandards gemäß der VO (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates. 66 Vgl. Art. 2 dieser VO. 67 Vgl. Art. 3 der VO.

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glieder der Geschäftsführungs- und/oder Aufsichtsorgane zu ernennen oder abzuberufen, wobei die Verfügungsgewalt über das andere Unternehmen bei diesen Organen liege; oder (d) die Mehrheit der Stimmen bei Sitzungen der Geschäftsführungs- und/oder Aufsichtsorgane oder eines gleichwertigen Leitungsgremiums zu bestimmen, wobei die Verfügungsgewalt über das andere Unternehmen bei diesen Organen liege. Im vorliegenden Zusammenhang haben diese gesellschaftsrechtlich bestimmten Kriterien für die Beherrschung der jeweiligen Zweckgesellschaften keine Bedeutung. Denn wie bereits im Zusammenhang mit § 290 Abs. 2 HGB ausgeführt68, haben es die Mutterunternehmen peinlichst vermieden, sich selbst gesellschaftsrechtliche Befugnisse der soeben erwähnten Art über ihre hier untersuchten ausländischen Zweckgesellschaften zu gewähren. Das „Standing Interpretations Committee“, das Hilfen für die Auslegung der Bilanzregeln ausarbeitet, hat deshalb in seiner Interpretations-Richtlinie SIC-12 zu Recht festgestellt, die IAS 27 gäben keine expliziten Anwendungsrichtlinien speziell für die Konsolidierung von SPVs (Special Purpose Vehicles = Zweckgesellschaften). Das SIC nahm deshalb weitere Konkretisierungen des Merkmals der „Beherrschung“ vor, die ihm als erforderlich erschienen. Diese Konkretisierungen ergeben sich bei einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise des Merkmals der „Beherrschung“. c) Die einzelnen Standards für die Konsolidierung von Zweckgesellschaften (SIC-12)69 Wie bereits ausgeführt, geht das SIC davon aus, eine SPV sei zu konsolidieren, wenn die wirtschaftliche Betrachtung des Verhältnisses zwischen einem Unternehmen und der SPV zeige, dass die SPV durch das Unternehmen beherrscht werde70. Die Beherrschung einer SPV könne entweder dadurch bewirkt werden, dass deren Geschäftstätigkeit durch einen „Autopilotismus“71 vorherbestimmt werde. Sie könne aber auch auf anderem Wege herbeigeführt werden. Der IAS 27 gebe mehrere Umstände an, die sogar in denjenigen Fällen zu einer Beherrschung führe, in denen ein Unternehmen nur die Hälfte der Stimmrechte eines anderen Unternehmens oder weniger halte. Eine Beherrschung könne selbst in solchen Fällen bestehen, in denen ein Unternehmen wenig oder gar kein Eigenkapital der SPV halte. Die Anwendung des Control-Konzeptes erfordere es deshalb in jedem einzelnen Fall, sämtliche relevanten Faktoren zu berücksichtigen72. Damit haben die SIC-12 zunächst einmal ganz allgemein klargestellt, dass es für die Verpflichtung eines Mutterunternehmens, eine Zweck-

__________ 68 Unter V. 1. a). 69 Vgl. zum Folgenden allgemein: Hoyos/Pastor in Beck’scher Bilanz-Kommentar, 6. Aufl. 2006, § 290 HGB Rz. 31–33 sowie Rz. 150–153. 70 Ziff. 8 der SIC-12. 71 S. dazu oben unter V. 1. a). 72 Ziff. 9 Buchst. (a)–(d) der SIC-12.

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gesellschaft zu konsolidieren, nicht entscheidend auf die gesellschaftsrechtliche Beteiligung derselben an ihrer Zweckgesellschaft ankommt, sondern darauf, ob die Muttergesellschaft ihre Zweckgesellschaft bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise kontrolliert. Die Kontrollmaßstäbe hat die SIC-12 in ihrer Ziff. 10 noch weiter konkretisiert. Nach dieser Ziffer können folgende Umstände auf ein Verhältnis hinweisen, bei dem ein Mutterunternehmen eine SPV zu konsolidieren hat, weil es diese SPV kontrolliert: Bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise werde die Geschäftstätigkeit der SPV zu Gunsten des Mutterunternehmens entsprechend dessen besonderen Geschäftsbedürfnissen geführt, so dass das Mutterunternehmen Nutzen aus der Geschäftstätigkeit der SPV ziehe (Buchst. a). Bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise verfüge das Mutterunternehmen über die Entscheidungsmacht, die Mehrheit des Nutzens aus der Geschäftstätigkeit der SPV zu ziehen, oder das Unternehmen habe durch die Einrichtung eines „Autopilot“-Mechanismus diese Entscheidungsmacht delegiert (Buchst. b). Bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise verfüge das Unternehmen über das Recht, die Mehrheit des Nutzens aus der SPV zu ziehen, und sei deshalb unter Umständen Risiken ausgesetzt, die mit der Geschäftstätigkeit der SPV verbunden seien (Buchst. c). Bei wirtschaftlicher Betrachtung behalte das Unternehmen die Mehrheit der mit der SPV verbundenen Residual- oder Eigentumsrisiken oder Vermögenswerte, um Nutzen aus ihrer Geschäftstätigkeit zu ziehen (Buchst. d). Für Zweckgesellschaften der hier untersuchten Art ist erstens Buchst. (a) von Bedeutung. Denn die ausländische Zweckgesellschaft wurde zu Gunsten des deutschen Mutterunternehmens entsprechend dessen besonderer Geschäftsbedürfnisse geführt, so dass das deutsche Mutterunternehmen Nutzen aus der Geschäftstätigkeit der ausländischen Zweckgesellschaft ziehen konnte. Warum auch sonst hätte sich das deutsche Unternehmen an dem wirtschaftlichen Schicksal der Zweckgesellschaft beteiligen sollen? Das deutsche Mutterunternehmen war normalerweise zwar nicht rechtlich, aber in wirtschaftlichem Sinne als Investor an der ausländischen Zweckgesellschaft beteiligt. Die Zweckgesellschaft hatte nämlich Forderungen (sog. assets) von dem sog. Originator73 oder von dritter Seite erworben. Zur Finanzierung dieser Käufe gab die Zweckgesellschaft in der Regel Schuldverschreibungen aus, die sie durch Banken an den Kapitalmärkten platzieren ließ. Die betreffenden Banken verbrieften die von der Zweckgesellschaft erworbenen Forderungen in Wertpapieren, die alsdann von den Mutterunternehmen erworben wurden. Der Sachverständigenrat sprach in seinem Jahresgutachten zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2008/2009 insoweit von einer „Alchemie der Verbriefung“74: Die Zweckgesellschaft oder ein Treuhänder verwaltete die Zweckgesellschaft und leitete die Erträge aus den Wertpapieren (den sog. assets) durch die Zweckgesellschaft als sog. conduit („Leitungsröhre“) an das

__________ 73 S. dazu oben unter V. 2. c). Der Originator konnte auch das Mutterunternehmen selbst sein. 74 Im dritten Kapitel unter II, 3 (Ziff. 151).

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Mutterunternehmen weiter. Bei dieser Gestaltung zog also das deutsche Mutterunternehmen Nutzen aus der Geschäftstätigkeit der ausländischen Zweckgesellschaft, welch letztere entsprechend den Bedürfnissen des deutschen Mutterunternehmens geführt wurde. Demnach waren die Erfordernisse des Buchst. (a) der SIC-12 erfüllt. Das Gleiche gilt für die Voraussetzungen des Buchst. (b) der SIC-12. Nach dieser Vorschrift ist, wie soeben erwähnt, ein Tochterunternehmen von dem Mutterunternehmen zu konsolidieren, wenn das Mutterunternehmen bei wirtschaftlicher Betrachtung über die Entscheidungsmacht verfügt, die Mehrheit des Nutzens aus der Tätigkeit der Zweckgesellschaft zu ziehen, oder wenn das Mutterunternehmen durch die Einrichtung eines „Autopilot“-Mechanismus diese Entscheidungsmacht delegiert hat. Es ist in der Tat davon auszugehen, dass die Zweckgesellschaften der hier untersuchten Art in der Regel mit einem solchen „Autopiloten“ ausgestattet waren. Auch die Voraussetzungen des Buchst. (b) der SIC-12 waren also erfüllt. Schließlich kommt auch eine Anwendung des Buchst. (c) der SIC-12 in Betracht. Wie soeben ausgeführt, hat ein Mutterunternehmen nach dieser Bestimmung eine Zweckgesellschaft zu konsolidieren, wenn das Mutterunternehmen bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise über das Recht verfügt, die Mehrheit des Nutzens aus der Zweckgesellschaft zu ziehen, und deshalb Risiken ausgesetzt ist, die mit der Geschäftstätigkeit der Zweckgesellschaft verbunden sind. Eine solche Übernahme von Risiken kann in einigen Fällen75 darin erblickt werden, dass das Mutterunternehmen die Einlösung der Schuldverschreibungen garantierte, welche die Zweckgesellschaft zur Finanzierung der von ihr erworbenen Forderungen auf dem Kapitalmarkt platzieren musste76. In solchen Fällen hatte das Mutterunternehmen für die Einlösung dieser Schuldverschreibungen, d. h. für die Bonität ihrer Zweckgesellschaft einzustehen. d) Ergebnis Es ergibt sich also, dass die Zweckgesellschaften der hier untersuchten Art in der Konzernbilanz des Mutterunternehmens zu konsolidieren waren77. Eine solche Konsolidierungspflicht hätte notfalls auch aus dem Prinzip des ordre

__________ 75 S. dazu oben unter V. 2. c). 76 Vgl. Waschbusch (Fn. 2), S. 411 (li. Sp.); Hartmann-Wendels/Pfingsten/Weber, Bankbetriebslehre, 4. Aufl. 2007, S. 304; Arbeitskreis „Finanzierung“ der SchmalenbachGesellschaft (Fn. 57), S. 497. Schruff/Rothenburger (Fn. 53), S. 757 li. Sp. erwähnen auch den Fall, dass der als Originator oder Initiator auftretende Forderungsverkäufer bezüglich der von ihm veräußerten Forderungen Rückkaufszusagen, Ausfallgarantien oder Patronatserklärungen abgibt. Vgl. ferner dies. (Fn. 53), S. 762 re. Sp. 77 So auch Lüdenbach/Freiberg in Lüdenbach/Hoffmann (Hrsg.), Haufe IFRS-Kommentar, 7. Aufl. 2009, § 53 Rz. 28; Hoyos/Pastor (Fn. 69), Rz. 33, 155; Schruff/Rothenburger (Fn. 53), S. 762 li. Sp. Eine Pflicht zur Konsolidierung nur unter bestimmten Voraussetzungen vertreten: Findeisen/Roß, Asset-Backed Securities-Transaktionen im Einzel- und Konzernabschluss des Veräußerers nach International Accounting Standards, DB 1999, 2224 ff. (2227) (sofern das Mutterunternehmen die verbrieften Forderungen ursprünglich verkauft hat); Schäfer/Kuhnle (Fn. 50), S. 33, 35, 40, 41.

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public hergeleitet werden können. Die IAS stellen nämlich europarechtliche Bestimmungen dar. Der ordre public fungiert als „eine Notbremse gegen übermäßigen ‚ausländischen Einfluss‘ – hier bezogen auf den privat getragenen Standardsetzer ‚IASB‘“78. In dem vorliegenden Zusammenhang könnte man also notfalls argumentieren: Bei fehlender Konsolidierungspflicht hätte die Anwendung der nicht ganz eindeutigen IAS 27 und der SIC-12 zu einem Ergebnis geführt, das „mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar“79 gewesen wäre. Das Auswirkungsprinzip könnte als ein wesentlicher Grundsatz des deutschen Rechts angesehen werden. Es führt also kein Weg daran vorbei: Sowohl nach der früheren Fassung der IFSR als auch nach deren heute geltender Fassung hätten die Zweckgesellschaften konsolidiert werden müssen. 3. Schlussfolgerungen zur Konsolidierungspflicht von Zweckgesellschaften der hier untersuchten Art Deutsche Mutterunternehmen hatten also ihre ausländischen Zweckgesellschaften der hier untersuchten Art nach § 290 HGB a. F. zwar nicht zu konsolidieren, und hierin war ein Versäumnis des deutschen Gesetzgebers zu erblicken80. Ab dem 29.5.2009 gilt aber eine Neufassung des § 290 Abs. 2 HGB, die auf das BilMoG81 zurückzuführen ist. Damit hat der Gesetzgeber diesen Fehler nunmehr ausgeräumt. Abweichend hiervon hatten unsere Untersuchungen zu den IAS 27 und SIC-12 zu dem Ergebnis geführt, dass deutsche Mutterunternehmen ihre Zweckgesellschaften der hier untersuchten Art in der Konzernbilanz des Mutterunternehmens immer und in jedem Falle zu konsolidieren hatten. Eine solche Konsolidierungspflicht begann für alle Geschäftsjahre, die am oder nach dem 1.1.2005 begannen82. Jedoch wurde eine solche Konsolidierung wohl in vielen Fällen in gesetzwidriger Weise nicht vorgenommen83.

__________ 78 79 80 81 82 83

So Großfeld/Luttermann (Fn. 44), S. 41. Vgl. die Formulierung in Art. 6 EGBGB. S. oben unter V. 1. BGBl. I 2009, 1109. S. oben unter V. 2. Als Beispiele seien die ausländischen Zweckgesellschaften der Hypo Real Estate Group A.G. und der früheren Sachsen Landesbank erwähnt. (i) Laut Geschäftsbericht 2007 der Real Estate Group A. G. (a. a. O. S. 164/165) unterhielt diese zum 31.12.2007 insgesamt 23 ausländische Zweckgesellschaften, die nicht gemäß SIC-12 konsolidiert waren. Diese Zweckgesellschaften waren in ihrer Mehrzahl in Dublin/Irland oder auf den Cayman Islands angesiedelt und verursachten später die allseits bekannten Verluste. Der IS 27 und SIC-12 waren indessen gemäß IAS 27.43 erstmals in der ersten Berichtsperiode eines am 1.1.2005 oder danach beginnenden Geschäftsjahres anzuwenden (s. oben unter V. 2. b). (ii) Laut Geschäftsbericht 2006 der Sachsen Landesbank (SLB) (a. a. O. S. 129) hatte diese Bank 51 Tochtergesellschaften in ihren Konzernabschluss nicht einbezogen. Die Gründe hierfür bleiben unklar (vgl. auch a. a. O. S. 137 über „Nicht aus der Bilanz ersichtliche Haftungsverhältnisse“). In ihrem Geschäftsbericht 2007 führt die SLB 24 direkte Beteiligungen auf (a. a. O. S. 71 f.), ohne zu sagen, ob diese konsolidiert waren oder nicht. An anderer Stelle des Berichts heißt es jedoch (S. 80), die SLB habe gegenüber den Sachsen LB Europe plc (Dublin) eine Patronatserklärung abgegeben, wobei die Höhe der daraus resultierenden eventuellen

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Diese Ergebnisse bedeuten für einen Betrachter, der – wie der Verfasser dieser Zeilen – nicht im Bilanzrecht, sondern im internationalen Recht im weitesten Sinne des Wortes beheimatet ist, eine Überraschung. Denn ein solcher Betrachter ist – vielleicht viel zu naiv – immer davon ausgegangen, eine Konzernbilanz gebe über den finanziellen Status eines Konzerns umfassend Auskunft, auch wenn Risiken vom Ausland her drohen. Wirtschaftliche AuslandsRisiken aber, so hatten wir zu Anfang der vorliegenden Analyse84 gesehen, werden im deutschen internationalen Wirtschaftsrecht von dem Auswirkungsprinzips aufgefangen, das alle ausländischen Aktivitäten eines Unternehmens und alle Sachverhalte, die sich im Ausland ereignen, als umfassendes Rechtsprinzip überwölbt. Die Geltung dieses Prinzips war für das deutsche internationale Steuerrecht, Kartellrecht und Außenwirtschaftsrecht in paradigmatischer Weise aufgezeigt worden. Unsere Analysen haben zu dem Ergebnis geführt, dass die § 290 Abs. 2 HGB und die in dem IAS 27 und dem SIC-12 niedergelegten Standards ebenfalls Ausprägungen dieses Prinzips sind und im Lichte desselben ausgelegt werden müssen. Der deutsche und der europäische Gesetzgeber sowie die deutschen und europäischen Gerichte haben dieses Auswirkungsprinzip im Allgemeinen zu Recht auch ernst genommen, wie oben85 an einigen Beispielen exemplarisch aufgezeigt worden ist. Speziell der deutsche Gesetzgeber hat dieses Prinzip mit seinem Gesetz vom 18.4.2009 sogar überstrapaziert, wenn jenes Gesetz die Aufgabe erfüllen soll, den Erwerb von inländischen Unternehmen durch ausländische Staatsfonds vorbeugend zu kontrollieren86. Es ist deshalb befremdlich zu sehen, dass die Bedeutung des Auswirkungsprinzips gerade für das Bilanzrecht offensichtlich nicht erkannt worden ist. Dabei hätte man in Deutschland im Bilanzrecht längst auf der Hut sein müssen. Der Bilanzskandal bei Enron/Andersen, der sich in 2001/2002 in den USA ereignete87 und einige andere Bilanzmanipulationen, die seit der Jahrtausendwende aufgedeckt wurden und großes öffentliches Interesse weckten88, hätten den deutschen Gesetzgeber und die Anwender der IAS 27 und des SIC-12 hellhörig machen müssen. Diese Alarmsignale wurden aber offenbar nicht ernst genommen.

__________

84 85 86 87 88

Verpflichtungen noch nicht angegeben werden könne. Die Sachsen LB Europe plc nehme eine Vielzahl von Aufgaben wahr, die ihren Schwerpunkt in der Betreuung als Agent und Vermögensverwalter der nachfolgenden „Conduits“ hätten: der Ormond Quay, der Georges Quay, der Sachsen Funding und der Castle View. Diese „Conduits“ waren nicht konsolidiert. Unter III. Unter III. 3. und 4. Unter III. 4. Vgl. Großfeld/Luttermann (Fn. 44), S. 28. Beispielsweise bei General Electric Co. oder bei Tyco International Ltd.

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4. Fazit: Der „Tunnelblick“ Der Sachverständigenrat hat in seinem Jahresgutachten zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2008/200989 davon gesprochen, bei der Finanzaufsicht sei es „zu einer Art Tunnelblick der Regulatoren gekommen, der sie offensichtlich daran gehindert habe, gravierende Fehlentwicklungen rechtzeitig zu erkennen“. Die Rüge des „Tunnelblicks“ gilt jedoch nicht nur für die Regulatoren der Finanzaufsicht, sondern auch für den deutschen Gesetzgeber, bis dieser – erst im vergangenen Jahr – mit seiner Reform des § 290 Abs. 2 HGB endlich die Konsolidierungspflicht für die hier untersuchte Art von Zweckgesellschaften positivrechtlich normierte. Einem solchen „Tunnelblick“ unterlagen aber auch zumindest die Anwender des IAS 27 und der SIC-12, wenn sie es versäumten, ausländische Zweckgesellschaften von der hier untersuchten Art in den Bilanzen ihrer Mutterunternehmen zu konsolidieren.

VI. Die Compliance-Verpflichtung nach § 25a Abs. 1 KWG und die aufsichtsrechtlichen Befugnisse nach §§ 10–11 KWG § 25a KWG verpflichtet jedes Kreditinstitut, über eine ordnungsgemäße Geschäftsorganisation zu verfügen, welche die Einhaltung der vom Institut zu beachtenden gesetzlichen Bestimmungen und der betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten gewährleistet. Und in §§ 10–11 KWG sind Aufsichtsbefugnisse normiert, die sich auf die Ausstattung derjenigen Unternehmen mit Eigenmitteln und Liquidität beziehen, welche diesen Vorschriften unterliegen. Es fragt sich, ob sich die in § 25a KWG vorgeschriebene Compliance-Organisation auch auf Zweckgesellschaften der hier untersuchten Art erstrecken muss und ob die in §§ 10–11 KWG geregelten Aufsichtsbefugnisse sich auch auf solche Zweckgesellschaften erstrecken. 1. Die Compliance-Verpflichtung nach § 25a Abs. 1 KWG § 25a KWG ist durch die Sechste KWG-Novelle vom 22.10.199790 in das KWG eingefügt worden. Die in dieser Norm geregelte Verpflichtung zur Aufrechterhaltung einer ausreichenden Compliance-Organisation soll u. a. helfen, die Stabilität des Finanzsystems zu sichern und Nachteile zu vermeiden, die für die Gesamtwirtschaft durch Missstände im Kredit- und Finanzdienstleistungssystem entstehen können91. Gefahren für die Stabilität des Finanzsystems und für die Gesamtwirtschaft können auch aus Zweckgesellschaften der hier untersuchten Art resultieren, die im Ausland angesiedelt sind. Es fragt sich

__________ 89 In dem Abschnitt „Die Finanzkrise meistern – Wachstumskräfte stärken“ unter Ziff. 264. 90 BGBl. I 1997, 2518. 91 Braun in Boos/Fischer/Schulte-Mattler, 3. Aufl. 2008, § 25a KWG Rz. 22, 37.

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deshalb, ob auch solche ausländischen Zweckgesellschaften nach § 25a KWG in das von dieser Vorschrift geregelte Compliance-System einbezogen werden müssen. Es ist klar, dass Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute mit Sitz im Inland sowie inländische Zweigstellen von Unternehmen mit Sitz in Drittstaaten (§ 53) der in § 25a KWG geregelten Verpflichtung unterworfen sind92. Ob diese Verpflichtung indessen auch für Zweckgesellschaften gilt, die im Ausland beheimatet sind, ist zweifelhaft. Zweckgesellschaften können Teil einer Institutsgruppe i. S. d. § 10a Abs. 1 und 2 KWG, einer Finanzholding-Gruppe i. S. d. § 10a Abs. 3 KWG, einer Teilgruppe i. S. v. § 10a Abs. 14 KWG oder eines Finanzkonglomerats i. S. d. § 10b KWG sein. Der Kreis der von diesen Vorschriften erfassten Unternehmen ist in jenen Vorschriften spezifiziert93. Nach dem Wortlaut des Gesetzes kommt es also nicht darauf an, welche Tochterunternehmen nach den jeweils maßgeblichen Bilanzierungsvorschriften (HGB oder IFRS) einer Gruppe zuzurechnen sind. Hielte man sich an eine wörtliche Auslegung des § 25a KWG, so würde diese zu dem Ergebnis führen, dass Zweckgesellschaften, die wirtschaftlich Gruppenmitglied und z. B. nach den IFRS-Regeln zu konsolidieren sind, nicht in das nach § 25a KWG zu errichtende Compliance-System einzubeziehen wären94. Eine solche Auslegung würde indessen Sinn und Zweck des § 25a KWG widersprechen. Auch bei der Auslegung dieser Vorschrift ist nämlich das oben95 beschriebene Auswirkungsprinzip zu beachten. Die gegenwärtige Finanzkrise zeigt, dass die Stabilität des Finanzsystems und darüber hinaus die Gesamtwirtschaft gerade von solchen Zweckgesellschaften gefährdet werden kann. Deshalb müssen im Ausland ansässige Zweckgesellschaften in das nach § 25a KWG vorzuhaltende Compliance-System einbezogen werden. Allein diese Auslegung entspricht dem Zweck dieser Vorschrift96.

__________ 92 Braun in Boos/Fischer/Schulte-Mattler (Fn. 91), § 25a Rz. 42. 93 Vgl. dazu Braun in Boos/Fischer/Schulte-Mattler (Fn. 91), § 25a Rz. 500. 94 Langen, Die zweite MaRisk Novelle in der Bankenaufsicht, BKR 2009, 309 ff. (311); Braun in Boos/Fischer/Schulte-Mattler (Fn. 91), § 25a Rz. 557; Hannemann/ Schneider/Hanenberg, MaRisk, 2. Aufl. 2008, AT 2.1 S. 79/80 [MaRisk = die von der BaFin aufgestellten „Mindestanforderungen an das Risikomanagement“]. 95 Unter III. 96 So auch Langen (Fn. 94), S. 311. Ähnlich bereits das „Principle 9: Cross-border issues“ des Basel Committee on Banking Supervision: Compliance and the compliance function in banks, April 2005, Ziff. 46–48 (im Internet abrufbar). Vgl. auch die Ausführungen von Spindler (Compliance in der multinationalen Bankengruppe, WM 2008, 905 ff. (917 f.) zur extraterritorialen Geltung des § 33 WpHG; nach dieser Vorschrift muss auch ein Wertpapierdienstleistungsunternehmen die organisatorischen Pflichten nach § 25a KWG Abs. 1 und 4 des KWG einhalten.

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2. Die aufsichtsrechtlichen Befugnisse nach §§ 10, 10a KWG (Eigenmittelausstattung) Die beiden – für „Nicht-Banker“ fast unlesbar gewordenen – Normen der §§ 10 und 10a KWG haben seit der 7. KWG-Novelle vom 17.11.200697 unterschiedliche Aufgaben zu erfüllen: § 10 KWG bestimmt nunmehr, welche Anforderungen an eine angemessene Eigenkapitalausstattung die von dieser Vorschrift erfassten Einzelinstitute, Institutsgruppen und Finanzholding-Gruppen zu erfüllen haben (früher: im sog. Grundsatz I der BaFin bestimmt). Der personelle Geltungsbereich des § 10 KWG wird andererseits von § 10a KWG spezifiziert. Letztere Norm definiert die Kriterien, mittels derer die Existenz speziell von Institutsgruppen und Finanzholding-Gruppen i. S. d. § 10a KWG zu ermitteln ist. Im vorliegenden Zusammenhang geht es darum, ob diejenigen Unternehmen, welche den Anforderungen einer angemessenen Eigenmittelausstattung i. S. d. § 10 KWG unterworfen sind, die Existenz von ausländischen Zweckgesellschaften zu berücksichtigen haben, wenn sie die Höhe ihrer Eigenmittel berechnen. Gerade hierfür ist § 10a KWG von besonderer Bedeutung. Die 7. KWG-Novelle hat in diese Vorschrift einen neuen Abs. 7 eingefügt. Nach dieser Bestimmung hat das übergeordnete Unternehmen einer Institutsgruppe, wenn es bei der Aufstellung des Konzernabschlusses seine zusammengefassten Eigenmittel ermittelt, dieser Ermittlung nach Maßgabe der Solvabilitäts-VO vom 14.12.200698 den von ihm aufzustellenden Konzernabschluss zugrunde zu legen. Voraussetzung hierfür ist, dass das übergeordnete Unternehmen entweder nach den Vorschriften des HGB einen Konzernabschluss aufzustellen hat oder dass sich aus Art. 4 der VO (EG) Nr. 1606/2002 oder nach Maßgabe des § 315a Abs. 2 HGB eine Verpflichtung ergibt, die nach den Art. 3 und 6 der genannten VO übernommenen IFRS anzuwenden. In zeitlicher Hinsicht ist spätestens fünf Jahre nach Entstehen der vorgenannten Bilanzierungspflichten der Ermittlung der Eigenmittel der Konzernabschluss nach Maßgabe der SolvabilitätsVO zugrunde zu legen. Für die Frage, ob bei der Ermittlung einer angemessenen Eigenmittelausstattung auch ausländische Zweckgesellschaften zu berücksichtigen sind, kommt es demnach auf § 290 Abs. 2 HGB und auf den IAS 27 und SIC-12 an. Die Konsolidierungspflicht von ausländischen Zweckgesellschaften unter der Herrschaft dieser Normen ist oben99 bereits untersucht worden. Auf diese Unter-

__________ 97 Gesetz zur Umsetzung der neu gefassten Bankenrichtlinie und der neu gefassten Kapitaladäquanzrichtlinie (BGBl. I 2006, 2606). Mit diesem wurde „Basel II“ in das KWG umgesetzt. Vgl. dazu Erthel, Die 7. KWG-Novelle und die Folgen: EigenkapitalKennzahlen auf Basis handelsrechtlicher Konzernabschlüsse, Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen 2006, 1337 ff. 98 BGBl. I 2006, 2926. Diese hat den früheren sog. Grundsatz I (zur Ermittlung der Eigenmittel) abgelöst (zu den Gründen für diese Ablösung vgl. Boos/Fischer/SchulteMattler (Fn. 91), § 10 Rz. 27). Sie beruht auf § 10 Abs. 1 Satz 9 KWG. Dieser Satz wurde durch die sog. 7. KWG-Novelle (Fn. 97) in das KWG eingefügt. Zu den Einzelheiten vgl. Schulte-Mattler in Boos/Fischer/Schulte-Mattler (Fn. 91) in der Vorbemerkung zu Abschnitt C, in welchem die SolvabilitätsVO kommentiert wird. 99 Unter V.

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suchung wird im vorliegenden Zusammenhang verwiesen. Es ergibt sich also, dass die dem § 10 KWG unterworfenen Institute, Institutsgruppen und Finanzholding-Gruppen ihre ausländischen Zweckgesellschaften bei der Ermittlung ihrer Eigenmittelausstattung zu berücksichtigen haben, wenn sie nach § 290 Abs. 2 HGB n. F. oder nach IAS 27 in Verbindung mit SIC-12 bilanzieren. Insoweit ist dem Auswirkungsprinzip Genüge getan. Freilich sind die genannten Institute, Institutsgruppen und FinanzholdingGruppen ihren Verpflichtungen, die für sie aus § 290 Abs. 2 HGB n. F. und aus IAS 27 i. V. m. SIC-12 resultierten, bezüglich ihrer ausländischen Zweckgesellschaften in der Vergangenheit (bis 2008; auch darüber hinaus?) wohl nicht nachgekommen100. Vor allem hat die Finanzaufsicht die Verletzung dieser Pflichten nicht gerügt (vgl. den vom Sachverständigenrat gerügten „Tunnelblick der Regulatoren“101). Welche rechtlichen Konsequenzen sich hieraus ergeben, muss im vorliegenden Zusammenhang indessen offen bleiben. 3. Die aufsichtsrechtlichen Befugnisse nach § 11 KWG (ausreichende Liquidität) Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 KWG müssen die Institute ihre Mittel so anlegen, dass ihre ausreichende Zahlungsbereitschaft jederzeit gewährleistet ist. Diese Vorschrift gilt allerdings nur für einzelne Institute, nicht hingegen für Institutsgruppen, Finanzdienstleistungsgruppen und Finanzholding-Gruppen. Im Übrigen hat Satz 2 dieser Norm das Bundesministerium der Finanzen ermächtigt, die Anforderungen an die ausreichende Liquidität durch RechtsVO näher zu bestimmen102. Von dieser Ermächtigung hat das genannte Bundesfinanzministerium Gebrauch gemacht und am 14.12.2006 die sog. LiquiditätsVO (LiqV)103 erlassen. Vor deren Inkrafttreten waren diese Regeln in den sog. Grundsätzen II und III der BaFin enthalten. Seit dem Inkrafttreten der LiqV konkretisieren deren Normen jene Grundsätze. Im Übrigen war das in ihnen zum Ausdruck kommende Prinzip bereits in einer der sog. goldenen Bankregeln enthalten, die uns schon aus dem 19. Jahrhundert überliefert sind. Seither gehören das daraus resultierende Gebot der sog. Fristenkongruenz und das Verbot einer nicht ausreichend geprüften Fristentransformation zu den grundlegenden Glaubenssätzen und Handwerksregeln eines „ordentlichen Bankers“ i. S. d. § 347 Abs. 1 HGB. Das Münemann-Debakel vom Anfang des Jahres 1970104 hätte den an den Zweckgesellschaften beteiligten Bankiers und deren

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100 Vgl. Forkel (Fn. 56), S. 185. Forkel führt dort unter Hinweis auf die IKB Deutsche Industriebank AG und Sachsen LB aus: „Als Tatsache ist festzuhalten, dass die deutsche Finanzdienstleistungsaufsicht bei den ihrer Aufsicht unterliegenden Kreditinstituten eine Unterlegung derart verbriefter Kredite mit regulatorischem Eigenkapital nicht durchgesetzt hat.“ 101 S. oben unter V. 4. 102 Früher waren diese Anforderungen in den sog. Grundsätzen II und III der Bafin enthalten. 103 Verordnung über die Liquidität der Institute (BGBl. I 2006, 3117). 104 Vgl. dazu DER SPIEGEL v. 2.2.1970, S. 72 (im Internet abrufbar).

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Regulatoren noch in der Erinnerung sein müssen. Aber es fragt sich, ob Wirtschaftsgeschichte heute überhaupt noch ernst genommen wird. In § 11 KWG ist aber nicht ausdrücklich zum Ausdruck gekommen, ob die sich aus der Fristentransformation ergebenden Gebote und Verbote auch für ausländische Zweckgesellschaften gelten. Tatsache ist lediglich, dass diese Regeln in der vergangenen Finanzkrise von vielen ausländischen Zweckgesellschaften gröblich verletzt wurden105. Der Vorstandsvorsitzende eines deutschen Mutterunternehmens, das wirtschaftlich an einer irischen Zweckgesellschaft beteiligt war, verglich die von ihm betreute Zweckgesellschaft mit dem „Spielcasino Monte Carlo“106. Als die kurzfristigen Zinsen das Niveau der langfristigen erreichten, gingen viele der hier untersuchten Zweckgesellschaften in die Insolvenz. Da die Verluste dieser ausländischen Zweckgesellschaften auf Grund von Garantien, Ausfallhaftungen, Patronatserklärungen o. Ä. von ihren deutschen Muttergesellschaften aufgefangen werden musste, ergab sich aus der Nicht-Berücksichtigung dieser „goldenen Bankregel“ eine wesentliche Störung des inländischen Finanzmarktes. Nach dem in dieser Studie vertretenen allgemeinen Auswirkungsprinzip hätte die deutsche Finanzaufsicht nach § 11 KWG hiergegen einschreiten müssen. Dem Verf. dieser Studie ist nicht bekannt, dass dies geschehen wäre.

VII. Ergebnisse Das überall im deutschen internationalen Wirtschaftsrecht zum Ausdruck kommende Auswirkungsprinzip erheischt auch im deutschen Bankrecht Geltung. Eine konsequente Anwendung dieses Prinzips ist insbesondere dann erforderlich, wenn es sich um ausländische Zweckgesellschaften handelt, die mit einem deutschen Mutterunternehmen in einer solchen Art wirtschaftlich verbunden sind, dass die deutschen Mutterunternehmen für die Verpflichtungen jener Zweckgesellschaften einzustehen haben. Aus dem Auswirkungsprinzip ergibt sich insbesondere, dass deutsche Mutterunternehmen nach § 25a KWG ihre im Ausland ansässigen Zweckgesellschaften in ihr Compliance-System einzubeziehen haben. Aus dem Auswirkungsprinzip resultiert ferner die Pflicht für deutsche Mutterunternehmen, ihre ausländischen Zweckgesellschaften gemäß § 290 Abs. 2 HGB n. F. und IAS 27 i. V. m. SIC-12 zu konsolidieren. Und für die deutsche Bankenaufsicht folgt hieraus die Verpflichtung, ihre aufsichtsrechtlichen Befugnisse auszuüben, sobald die in den §§ 10, 10a und 11 KWG sowie die in der SolvabilitätsVO und in der LiqV normierten Regeln von den betreffenden ausländischen Zweckgesellschaften oder von ihren deutschen Mutterunternehmen verletzt werden.

__________ 105 Vgl. das Beispiel der Hypo Real Estate A.G. beschrieben in FAZ v. 21.8.2009; v. 21.8.2009, S. 16; v. 31.7.2009, S. 13; v. 3.7.2009, S. 13; v. 1.7.2009, S. 12; v. 5.6.2009, S. 13; v. 18.4.2009, S. 13; v. 23.4.2009, S. 23. 106 Vgl. FAZ v. 18.4.2009, S. 19.

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Bausteine aus der Wissenschaft für die englische Vertragssprache Der Gemeinsame Referenzrahmen als Toolbox für die Vertragsgestaltung

Inhaltsübersicht I. Einführung: Funktionen des Gemeinsamen Referenzrahmens II. Beispiele für die Terminologie des DCFR 1. In writing 2. Avoidance, termination, withdrawal 3. Duty, obligation, right, claim

4. Weitere Beispiele für im DCFR definierte Begriffe 5. Modellregeln als Definitionen III. Verwendung von DCFR-Terminologie bei der Vertragsgestaltung Anhang: Beispiele für Definitionen aus dem DCFR

I. Einführung: Funktionen des Gemeinsamen Referenzrahmens Das von der Europäischen Kommission geförderte rechtsvergleichende wissenschaftliche Großprojekt des Entwurfs eines Gemeinsamen Referenzrahmens1 spielt derzeit vor allem eine Rolle auf politischer Ebene. Das Europäische Parlament hat das Projekt eines politischen Gemeinsamen Referenzrahmens mit großem Nachdruck als die derzeit wichtigste Initiative im Bereich des Zivilrechts bezeichnet2. Infolgedessen legt die lebhafte europaweite, auch kritische Diskussion ihren Fokus derzeit auf die mögliche politische Nutzbarmachung der Forschungsergebnisse insbesondere durch die Organe der Europäischen Union. Im Vordergrund steht dabei die Frage, ob aus den Arbeitsergebnissen der Wissenschaftler ein Hilfsmittel, eine sog. Toolbox, für den Europäischen Gesetzgeber, geschaffen werden kann. Ziel dieses politischen Vorhabens ist also insbesondere die Verbesserung der in der Tat manchmal erschreckenden Gesetzgebungsqualität europäischer Rechtsakte. In der letzten Zeit werden überdies von der Europäischen Kommission, nicht aber vom Rat und vielen Mitgliedstaaten weitergehende Überlegungen verfolgt, die wissenschaftlichen

__________ 1 Dazu im Überblick Schulte-Nölke, Arbeiten an einem europäischen Vertragsrecht, NJW 2009, 2161. 2 Entschließung des EP vom 23.3.2006, ABl. C 292 E v. 1.12.2006, S. 109; s. auch Entschließungen des EP vom 12.12.2007 und vom 3.9.2008.

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Ergebnisse auch für die Vorbereitung einer umfassenden europäischen Rechtssetzung im Bereich des Vertragsrechts zu nutzen3. Ziel der folgenden Zeilen ist es, die Aufmerksamkeit auf eine viel unmittelbarere mögliche praktische Nutzanwendung zu lenken: Der wissenschaftliche Entwurf des Gemeinsamen Referenzrahmens könnte als Hilfsmittel bei der Abfassung von Verträgen, vor allem in englischer Sprache, dienen. Auch wenn man es beklagen mag, ist doch Realität, dass viele Verträge selbst dann in englischer Sprache abgefasst werden, wenn sie nicht englischem oder US-amerikanischem Recht unterfallen4. Insbesondere viele deutsche Anwälte stehen vor dem nicht ganz einfach zu lösenden Problem, Verträge, auf die deutsches Recht Anwendung findet, in englischer Sprache abfassen zu müssen. Die englische Rechtssprache, gleich ob englischer oder amerikanischer Prägung, ist dazu aus mehreren Gründen nur bedingt geeignet. Zum Teil liegt es schon daran, dass wegen der fehlenden Zivilrechtskodifikation es an einem leicht auffindbaren und mit Systemanspruch verfassten Referenztext, wie dies im deutschen Recht das BGB bildet, fehlt. In der englischen Gesetzessprache werden Begriffe üblicherweise nicht übergreifend, also für weite Bereiche der Rechtsordnung ausgeprägt, sondern häufig in langen, deutschen Juristen etwas seltsam anmutenden Listen, jeweils zu Beginn eines Gesetzes definiert. Ein über den jeweiligen Gesetzgebungsakt hinausgreifender System- oder Kohärenzanspruch ist damit in aller Regel nicht verbunden. Es ist eher Normalfall denn Ausnahme, dass derselbe Begriff in verschiedenen englischen Gesetzen unterschiedlich definiert ist. Natürlich ist den englischen Juristen dieses Problem nicht entgangen. Ein Versuch einer Abhilfe ist der Interpretation Act 1978, der freilich nur wenige und überwiegend eher formale Begriffsklärungen enthält5. Ein weiterer Grund für die Schwierigkeiten mit der englischen Sprache liegt darin, dass Begriffe häufig eine schillernde und je nach Bedeutungszusammenhang stark schwankende Bedeutung haben können. Beispiele, auf die noch zurückzukommen sein wird, sind etwa agent oder termination, die als solche nicht erkennen lassen, ob etwa direkte oder mittelbare Stellvertretung bzw., im Fall von termination, Anfechtung, Rücktritt oder Kündigung gemeint sind.

__________ 3 Vgl. zuletzt das Kommissionsdokument KOM(2010) 171 – Aktionsplan zur Umsetzung des Stockholmer Programms, S. 5; zum Rat s. Draft Stockholm Programme, 16.10.2009, S. 14: „The European Council reaffirms that the common frame of reference for contract law should be a non-binding set of fundamental principles, definitions and model rules to be used by the lawmakers at Community level to ensure greater coherence and quality in the lawmaking process.“; s. auch Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP, 26.10.2009, S. 109: „Wir lehnen die Schaffung eines einheitlichen europäischen Vertragsrechts ab.“ 4 Zu den Gründen Maier-Reimer, Englische Vertragssprache bei Geltung deutschen Rechts, in Deutsches Recht im Wettbewerb – 20 Jahre transnationaler Dialog, 2009, S. 82, 82 f. 5 Überwiegend Begriffe für Institutionen der britischen Staatsorganisation wie z. B. Bank of England, Court of Appeal, England, High Court, aber auch einige Begriffe wie man, person oder writing.

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Bausteine aus der Wissenschaft für die englische Vertragssprache

In der Praxis hilft man sich damit, englischsprachige Verträge, ähnlich wie englische Gesetze, mit einer langen Liste von Definitionen zu beginnen6. Diese Definitionslisten folgen häufig amerikanischen Vorbildern oder werden von amerikanischen Kanzleien gepflegt und hier und da etwas für die deutsche Rechtsordnung fortgebildet. In aller Regel enthalten sie vieles, was vor dem Auslegungshintergrund des deutschen Rechts kaum erwähnenswert wäre. Ein bekanntes Beispiel ist: „Day includes night“. Wenn nun zwei Anwaltskanzleien mit unterschiedlichen Definitionslisten aufeinander treffen, kann es durchaus Arbeit machen und damit Kosten verursachen, die den Usancen des eigenen Hauses jeweils fremden Definitionen daraufhin zu untersuchen, welche Folgen sie für den Vertragsinhalt haben können. Überdies sind, wie schon gesagt, viele dieser Definitionen ohnehin nicht oder nur in Ansätzen geeignet, Erscheinungen des deutschen Rechts treffend zu erfassen. Auch dies erfordert dann wiederum eine aufwendige Adaption der hausüblichen Definitionslisten. Der von der Wissenschaft entwickelte und inzwischen in mehreren Ausgaben im Druck erschienene Gemeinsame Referenzrahmen7 wird in der deutschen Diskussion in aller Regel mit dem Kürzel DCFR (für: Draft Common Frame of Reference) bezeichnet. Der vollständige Titel des Werkes lautet: Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law, womit sein Inhalt etwas deutlicher beschrieben wird. Der Untertitel Draft Common Frame of Reference, also Entwurf eines Gemeinsamen Referenzrahmens bringt aber auch zum Ausdruck, was der DCFR möglicherweise für die anwaltliche Vertragsgestaltung leisten kann. Es ist nämlich denkbar und möglicherweise wünschenswert, den DCFR als „Gemeinsamen Referenzrahmen“, also als gemeinsame terminologische Basis der Vertragsgestaltung zu nutzen. Der Gemeinsame Referenzrahmen ist in englischer Sprache unter Mitwirkung von zwei früheren Mitgliedern der britischen Law Commissions, das sind Beratungsorgane für die Gesetzgebung, abgefasst worden8. Die weit überwiegende Mehrheit der Mitwirkenden waren jedoch kontinentale Juristen. Etwas verkürzt, aber doch treffend kann man sagen, dass der DCFR kontinentale Rechtsbegriffe in einem modernen, für den internationalen Gebrauch und das Verständnis von NichtMuttersprachlern und Nicht-Common-Lawyern ausgerichteten Englisch enthält. Primär gedacht als Nutzanwendung war zwar die Gesetzesvorbereitung, doch soll hier nun an einigen Bespielen gezeigt werden, was die europäischenglische Terminologie des DCFR möglicherweise auch für die Abfassung von Verträgen in englischer Sprache leisten kann.

__________ 6 Ausführlich zu den Gründen dieser Tendenz zum Detail Triebel, Anglo-amerikanischer Einfluss auf Unternehmenskaufverträge in Deutschland, RIW 1998, 1, 5. 7 Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law, Draft Common Frame of Reference (DCFR): Outline Edition, hgg. v. von Bar/Clive/Schulte-Nölke, München 2009; Full Edition, hgg. v. von Bar/Clive, 6 Bände, München 2009. 8 Hugh Beale, Mitglied der englischen Law Commission; Eric Clive, Mitglied der schottischen Law Commission.

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II. Beispiele für die Terminologie des DCFR 1. In writing Zu den Standardbausteinen der Vertragsgestaltung gehören Formvorschriften, die man natürlich einerseits bestrebt ist zu vermeiden, aber andererseits, nicht zuletzt im Zusammenhang mit „Merger-Clauses“ (ein auch im DCFR definierter Begriff)9 Rechtssicherheit schaffen sollen. Anders als in der deutschen Rechtssprache, die, jedenfalls für Deutschland, in § 127 BGB Vertragsgestaltungsbausteine für etwa die vereinbarte Schriftform enthält, hat die Wendung in writing, in englischen und in internationalen Texten unterschiedliche Bedeutungen. Ohne Bezugnahme auf eine Definition lässt diese Formulierung unklar, ob etwa eine E-Mail, ein Fax, oder nur ein Text auf Papier genügen und ob eine Unterschrift oder ein Unterschriftsäquivalent vorhanden sein muss. Der DCFR hält einen Baukasten an Definitionen bereit, mit dessen Hilfe die Parteien eines Vertrages diese Fragen in englischer Sprache präzise regeln können. Anders als im deutschen Recht werden dabei die Frage der Form als solche und das Unterschriftserfordernis getrennt. Der Baukasten für die Formerfordernisse enthält drei Bausteine steigender Formalität, nämlich, als unterste Stufe die einfache textual form, dann, als erste Steigerung die textual form on a durable medium und schließlich in writing. Der Vorteil dieser von einem Unterschrifterfordernis losgelösten Formanforderungen liegt darin, dass sie nicht nur für Willenserklärungen oder Verträge, sondern auch zum Beispiel für Anzeige- oder Informationspflichten verwendet werden können. Den Vertragsgestaltern werden überdies Bausteine für unterschiedliche Unterschriftserfordernisse an die Hand gegeben, die sich mit den Bausteinen für Formerfordernisse kombinieren lassen. Auch hier gibt es drei Stufen, nämlich die electronic signature, die advanced electronic signature sowie die handwritten signature. Der DCFR enthält zu jeder dieser Unterzeichnungsarten eine ausführliche Definition. Die Vertragsparteien könnten es sich also relativ einfach machen, indem sie diesen Baukasten verwenden und entweder die Definitionen aus dem DCFR in eine Definitionsliste innerhalb ihres Vertrages übernehmen oder schlicht auf den DCFR verweisen. 2. Avoidance, termination, withdrawal In besonderem Maße versagt die englische Sprache, wenn Rechte zur Beseitigung eines Vertrages oder zur Lösung davon zum Gegenstand der Vertragsgestaltung gemacht werden. Begriffe wie Anfechtung, Widerruf, Rücktritt oder Kündigung haben vor dem Hintergrund des BGB-Sprachgebrauchs einen relativ klaren Inhalt. Kurz in Erinnerung gerufen seien die Grundlinien. Zunächst verläuft ein Graben zwischen Anfechtung und Widerruf einerseits sowie Rücktritt und Kündigung andererseits hinsichtlich der Wirkung auf einen Vertrag. Anfechtung und Widerruf sind so konstruiert, dass sie den Vertrag bzw. die

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9 „A ‚merger clause‘ is a term in a contract document stating that the document embodies all the terms of the contract“. S. auch Art. II.–4:104 DCFR.

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vertragsschließende Willenserklärung unwirksam machen, wobei bei der Anfechtung die zeitliche Wirkung eindeutig ex tunc, beim Widerruf dies hingegen wegen des anderen Rückabwicklungsregimes etwas unklar ist. Bei Rücktritt und Kündigung ist klar, dass der davon betroffene Vertrag nicht beseitigt, sondern, für den Fall des Rücktritts, in ein Rückgewährschuldverhältnis umgewandelt, und, für den Fall der Kündigung, in seinen Wirkungen für die Zukunft beendet wird. Unterschiedlich sind überdies die Rückabwicklungsregimes. Bei der Anfechtung werden ausgetauschte Leistungen des nichtigen Vertrages nach Bereicherungsrecht rückabgewickelt. Für den Rücktritt gibt es ein eigenes Rückabwicklungsregime (§§ 346 ff. BGB). Dieses wird auch für den Widerruf in Dienst genommen, freilich etwas modifiziert (§ 357 BGB). Für die Kündigung schließlich ist im Normalfall nichts rückabzuwickeln, weil der Vertrag bis zum Wirksamwerden der Kündigung als Rechtsgrund bestehen bleibt und üblicherweise nach Eintritt der Kündigungswirkung keine Leistungen mehr ausgetauscht werden. Sollte dies doch, etwa wegen eines Irrtums über das Wirksamwerden der Kündigung eintreten, führt auch die Kündigung ins Bereicherungsrecht. Diese relativ klaren Differenzierungen in englischer Sprache zum Ausdruck zu bringen, ist ohne umfangreiche Erläuterungen kaum möglich. Aus der englischen Sprache, einschließlich der in gemeinschaftsrechtlichen oder internationalen Rechtstexten verwandten, schlägt dem Vertragsgestalter eine ganze Begriffswolke entgegen, wobei keiner dieser Begriffe auch nur annähernd trennscharf die Bedeutungen des deutschen Rechts wiederzugeben vermag10. Beispiele sind rescission, avoidance, rejection, withdrawal, termination, revocation und cancellation. Auch hier hat der DCFR eine relativ klare und einigermaßen intuitive Terminologie ausgebildet. Die wichtigsten vom DCFR verwendeten Begriffe sind avoidance, withdrawal und termination. Avoidance wird dabei im Grundsatz ähnlich wie Anfechtung verwendet, führt also zur Nichtigkeit einer Willenserklärung und eines Vertrages. Ein gewisser Unterschied liegt darin, dass nach dem DCFR etwa bei wucherischen Rechtsgeschäften nicht Nichtigkeit ipso jure eintritt, sondern nur voidability (Art. II.–7:207 DCFR). Withdrawal ist, wie der deutsche Widerruf, vor allem für den spezifischen, auf dem Richtlinienrecht beruhenden verbraucherschützenden Widerruf vorgesehen. Termination, so wie der DCFR den Begriff verwendet, umschließt von seiner Bedeutung her sowohl Rücktritt als auch Kündigung. Es hat mehrere Versuche gegeben, die Unterscheidung zwischen Rücktritt und Kündigung begrifflich im DCFR zum Ausdruck zu bringen. Sie sind aber, zum Teil weil keine intuitiven Begriffe im Englischen zu finden waren, zum Teil aber auch, weil diese Unterscheidung nicht überall in Europa geläufig ist, nicht in den DCFR eingeflossen. Ungeachtet dessen bietet der DCFR mit den Definitionen avoidance, withdrawal und termination ein erheblich präziseres Instrumentarium für die Vertragsgestaltung an, als dies ohne eine derartige Definitionshilfe möglich wäre.

__________ 10 So auch Maier-Reimer (Fn. 4), S. 90.

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Der DCFR erlaubt, über die begriffliche Scheidung der unterschiedlichen Vertragsbeseitigungs- bzw. Beendigungsmöglichkeiten hinaus, auch eine Gestaltung der Rückabwicklung. Für jeden der Begriffe enthält der DCFR Musterregeln für die Rückabwicklung. Avoidance führt in das besondere Buch zur Ungerechtfertigten Bereicherung. Für termination ist ein eigenes, vertragsnäheres Rückabwicklungsregime ausformuliert (Art. III.–3:510 ff. DCFR). Ähnlich wie im deutschen Recht verweisen die Modellregeln über withdrawal, also das verbraucherschützende Widerrufsrecht, auf das Rückabwicklungsregime für termination, modifizieren es aber in einigen Punkten zu Gunsten des Verbrauchers (Art. II.–5:105 DCFR). Dieses Beispiel zeigt, dass der Begriffsapparat des DCFR nicht nur eine relativ genaue Beschreibung des Gemeinten erlaubt, sondern, wenn die Parteien dies wünschen, auch Musterregeln anbietet, die sich in einen Vertrag integrieren lassen, wenn die Parteien etwa die Rückabwicklung für bestimmte Vertragsbeseitigungs- oder Beendigungsfälle mitregeln wollen. Ähnliches gilt für Ausübungsmodalitäten, also etwa für die Frage, in welcher Frist und in welcher Form eine Vertragspartei avoidance, withdrawal oder termination erklären muss. So sieht der DCFR für avoidance, withdrawal und termination vor, dass der Gläubiger den Vertrag durch notice – ein einseitiges Rechtsgeschäft, dessen formelle Anforderungen sich nach den Umständen des Einzelfalls richten – aufheben kann. Für withdrawal erlaubt der DCFR das schlichte Zurücksenden der bereits empfangenen Waren (Art. II.–5:102 Abs. 2). Unterschiede zeigen sich hinsichtlich der Fristen, innerhalb derer der Gläubiger notice geben muss. Strebt er die Nichtigmachung des Vertrages (avoidance) an, so muss notice in reasonable time nach Kenntnis bzw. zu verantwortender Unkenntnis der nichtigkeitsbegründenden Umstände erfolgen (Art. II.–7:210 DCFR). Termination kann der Gläubiger erreichen, wenn er die notice in reasonable time erklärt. Versäumt der Gläubiger einer nicht vertragsgemäß oder verspätet erbrachten Leistung diese Frist, so verliert er sein Rücktrittsrecht. Strikte Fristen gibt es hingegen im Fall der verbraucherschützenden Widerrufsrechte. Withdrawal muss der Gläubiger grundsätzlich innerhalb von 14 Tagen ab Vertragsschluss erklären (Besonderheiten in Art. II.–5:103 Abs. 2 DCFR); zudem gilt eine Ausschlussfrist von einem Jahr ab Vertragsschluss. Avoidance, termination und withdrawal sind somit unterschiedliche und den jeweiligen Erfordernissen des Rechtsverkehrs angepasste Rechtsregeln zugeordnet, die durch Vertragsgestaltung aktiviert werden können. Wenn also aus dem Kreise der Anhänger des UN-Kaufrechts beklagt wird, der DCFR verwende anstelle von avoidance den Begriff termination für den Rücktritt wegen Nichterfüllung, also insbesondere etwa wegen einer mangelhaften Kaufsache, so übersieht dieser Einwand, dass der Sprachgebrauch im DCFR Teil eines größeren Planes mit dem Ziel begrifflicher Präzision und besserer Verständlichkeit ist. Auch sprachlich liegt der Begriff termination, also wörtlich Beendigung, dem, was ein Rücktritt bewirkt, nämlich die Umwandlung in ein Rückgewährschuldverhältnis, viel näher als etwa der Begriff avoidance, der ja wörtlich Nichtigmachung des Vertrages bedeutet.

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3. Duty, obligation, right, claim Will man im Englischen den Unterschied einer (durchsetzbaren) Leistungspflicht und einer (nicht durchsetzbaren, aber in der Regel sanktionsbewährten) bloßen Schutz- und Sorgfaltspflicht zum Ausdruck bringen, fehlen hinreichend klar definierte Begriffe. Aus diesem Grund hat sich der DCFR für eine so bislang nicht in aller Schärfe durchgeführte terminologische Unterscheidung zwischen duty und obligation entschieden. Duty ist dabei der Oberbegriff, er umschließt sowohl Leistungspflicht also auch bloße Schutz- und Sorgfaltspflichten. Hingegen verwendet der DCFR für Leistungspflichten ausschließlich das Wort obligation (oder, bei verbalen Konstruktionen must). Dieser Sprachgebrauch erlaubt es, bei der Regelung von Pflichten deutlich zu machen, ob diese Pflichten durchsetzbar sein sollen. Eine ähnliche Klarstellung schlägt der DCFR für die sprachliche Unterscheidung der Bedeutung von right und claim vor. Right ist dabei in seiner Primärbedeutung der korrespondierende Begriff zu obligation, also ein tatsächlich bestehendes, in der Regel durchsetzbares Recht. Claim hingegen ist nach dem Sprachgebrauch des DCFR lediglich das behauptete Recht, unabhängig davon, ob es wirklich besteht. 4. Weitere Beispiele für im DCFR definierte Begriffe Die Liste der Beispiele lässt sich leicht fortsetzen. Zu nennen sind beispielsweise Begriffe aus dem Bedeutungskreis Stellvertretung und Vollmacht wie agent, representative, authority. Der DCFR versucht hier in einer ganzen Reihe von Begriffdefinitionen klare Unterscheidungen zwischen etwa direkter und mittelbarer Stellvertretung einzuführen. Weitere wichtige Beispiele sind Begriffe zu Sorgfaltsstandards, für die etwa negligence, gross negligence oder fraudulent definiert sind. Eine weitere praktisch hoch bedeutsame Begriffsgruppe bilden Ausdrücke aus dem Umfeld des Schadensersatzes wie damage, damages, compensation, reparation oder loss (wobei Letzteres economic und non-economic loss einschließt). 5. Modellregeln als Definitionen Darauf hinzuweisen ist überdies, dass Definitionen häufig nicht nur für einzelne Begriffe benötigt werden, sondern die Verwendung mancher Begriffe nur vor dem Hintergrund von diese Begriffe konkretisierenden Regeln sinnvoll ist. Ein Beispiel bilden die schon zuvor genannten Begriffe avoidance, withdrawal und termination, die, wenn insoweit im Vertrag Regelungen getroffen werden sollen, ihren Bedeutungsgehalt auch aus den im Falle ihrer Ausübung anwendbaren Recht der Rückabwicklung erhalten. Was termination bedeutet, lässt sich dann nicht mehr in einer klassischen Definition aus Oberbegriff (genus proximum) und spezifischen Artmerkmalen (differencia specifica) ausdrücken. Um die vollständige Bedeutung derartiger Begriffe anzugeben, bedarf es einer Reihe von Regeln. Ein weiteres Beispiel ist etwa die Angabe einer Frist. Eine etwa im Vertrag durch eine Zeitspanne ab einem gewissen Ereignis angegebene Frist (z. B. „binnen 14 Tagen nach Lieferung“) erhält Präzision überhaupt erst 615

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dadurch, dass Einigkeit über das Regelwerk für ihre Berechnung besteht. Auch in diesem Beispiel kann der DCFR helfen. Er enthält eine kurze, der EG-Verordnung über Fristberechnung nachgebildete Fristberechnungsregel (Art. I.–1:110 DCFR), die in einem Vertrag inkorporiert oder auf die im Vertrag verwiesen werden kann.

III. Verwendung von DCFR-Terminologie bei der Vertragsgestaltung Werden Begriffe in einem Vertrag verwendet, so wird deren Bedeutung erst durch einen Bezugsrahmen klar, wenn sie nicht ausdrücklich im Vertrag definiert sind. Insbesondere bei grenzüberschreitenden Verträgen fehlt es häufig an einem beiden Parteien zugänglichen und vertrauten derartigen Bezugsrahmen. Im Beispiel des in englischer Sprache abgefassten Vertrages, auf den deutsches Recht anwendbar ist, gibt es grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten, das Problem zu lösen. Man kann etwa ein Glossar oder durch nachgestellte Klammern mit deutschen Rechtsbegriffen für die wichtigsten verwendeten englischsprachigen Ausdrücke klarstellen, welcher Begriff der deutschen Rechtssprache eigentlich gemeint ist. Dies wird verbreitet empfohlen11. Denkbar ist, wenn auch weniger empfehlenswert, durch eine generelle Klausel im Vertrag zu regeln, dass die verwendeten Begriffe im Sinne der deutschen Rechtssprache ausgelegt werden sollen. Freilich stößt dieser Ausweg, die englischen Begriffe zu Hülsen für die Bedeutung korrespondierender deutscher Begriffe zu machen, auf Grenzen, insbesondere dann, wenn eine Seite des Vertrages des Deutschen nicht mächtig und mit der deutschen Rechtsordnung nicht vertraut ist. Für diese Vertragspartei entsteht durch diese Rechtstechnik ein erheblicher Kosten- und Zeitaufwand, mit Hilfe externer Berater, also deutscher Juristen, die Unsicherheiten über die Bedeutung des Vertragsinhalts aufzuklären. Probleme wirft dieses Vorgehen auch auf, wenn nicht sicher oder von vornherein klar ist, welche Rechtsordnung auf den Vertrag anwendbar ist. So können in einem Vertrag Gegenstände mitgeregelt sein, die nicht einer Rechtswahl unterliegen und auf verschiedene Rechtsordnungen verweisen. Denkbar ist auch, dass Parteien ihre Rechtsbeziehungen untereinander unabhängig davon regeln wollen, welche Rechtsordnung auf ihren Vertrag anwendbar ist (z. B. in einem Konsortialvertrag für die gemeinsame Teilnahme an internationalen Ausschreibungen). Ein internationaler gemeinsamer Bezugsrahmen, so wie ihn der DCFR bereitstellt, kann, jedenfalls in manchen, Fällen helfen. Das gilt insbesondere, wenn im Vertrag nicht einfach auf das anwendbare (z. B. deutsche) Recht verwiesen, sondern eigenständige Regelungen getroffen werden sollen. Die im DCFR auf rechtsvergleichender Grundlage vorbereiteten und auf ihre Verständlichkeit jedenfalls innerhalb der beteiligten internationalen Wissenschaftlergruppen getesteten Definitionen bieten sich als gemeinsamer Bezugsrahmen der Par-

__________ 11 Maier-Reimer (Fn. 4), S. 93; Triebel/Balthasar, Auslegung englischer Vertragstexte unter deutschem Vertragsstatut, NJW 2004, 2189, 2196.

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teien an. Die DCFR-Definitionen können entweder in den Vertrag inkorporiert werden oder der Vertrag kann auf sie verweisen. Zur weiteren Veranschaulichung sind an das Ende dieses Beitrags alle hier angesprochenen Definitionen aus dem DCFR in einer alphabetischen Übersicht gestellt und damit ein Auszug der im DCFR enthaltenen, mehr als 100 Definitionen wiedergegeben. Diese Definitionen sind von den Verfassern des DCFR auch in der Absicht entwickelt worden, für die Vertragsgestaltung hilfreich zu sein. Es bleibt mit Spannung abzuwarten, ob sie es sind.

Anhang: Beispiele für Definitionen aus dem DCFR Advanced electronic signature An „advanced electronic signature“ is an electronic signature which is (a) uniquely linked to the signatory (b) capable of identifying the signatory (c) created using means which can be maintained under the signatory’s sole control; and (d) linked to the data to which it relates in such a manner that any subsequent change of the data is detectable. Agent An „agent“ is a person who is authorised to act for another. Authority „Authority“, in relation to a representative acting for a principal, is the power to affect the principal’s legal position. Avoidance „Avoidance“ of a juridical act or legal relationship is the process whereby a party or, as the case may be, a court invokes a ground of invalidity so as to make the act or relationship, which has been valid until that point, retrospectively ineffective from the beginning. Claim A „claim“ is a demand for something based on the assertion of a right. Compensation „Compensation“ means reparation in money. Damage „Damage“ means any type of detrimental effect.

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Damages „Damages“ means a sum of money to which a person may be entitled, or which a person may be awarded by a court, as compensation for some specified type of damage. Durable medium A „durable medium“ means any material on which information is stored so that it is accessible for future reference for a period of time adequate to the purposes of the information, and which allows the unchanged reproduction of this information. Duty A person has a „duty“ to do something if the person is bound to do it or expected to do it according to an applicable normative standard of conduct. A duty may or may not be owed to a specific creditor. A duty is not necessarily an aspect of a legal relationship. There is not necessarily a sanction for breach of a duty. All obligations are duties, but not all duties are obligations. Electronic signature An „electronic signature“ means data in electronic form which are attached to, or logically associated with, other data and which serve as a method of authentication. Fraudulent A misrepresentation is fraudulent if it is made with knowledge or belief that it is false and is intended to induce the recipient to make a mistake to the recipient’s prejudice. A non-disclosure is fraudulent if it is intended to induce the person from whom the information is withheld to make a mistake to that person’s prejudice. Gross negligence There is „gross negligence“ if a person is guilty of a profound failure to take such care as is self-evidently required in the circumstances. Handwritten signature A „handwritten signature“ means the name of, or sign representing, a person written by that person’s own hand for the purpose of authentication. Loss „Loss“ includes economic and non-economic loss. „Economic loss“ includes loss of income or profit, burdens incurred and a reduction in the value of prop618

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erty. „Non-economic loss“ includes pain and suffering and impairment of the quality of life. Negligence There is „negligence“ if a person does not meet the standard of care which could reasonably be expected in the circumstances. Obligation An obligation is a duty to perform which one party to a legal relationship, the debtor, owes to another party, the creditor. Reparation „Reparation“ means compensation or another appropriate measure to reinstate the person suffering damage in the position that person would have been in had the damage not occurred. Representative A „representative“ is a person who has authority to affect the legal position of another person, the principal, in relation to a third party by acting in the name of the principal or otherwise in such a way as to indicate an intention to affect the principal’s legal position directly. Right „Right“, depending on the context, may mean (a) the correlative of an obligation or liability (as in „a significant imbalance in the parties’ rights and obligations arising under the contract“); (b) a proprietary right (such as the right of ownership); (c) a personality right (as in a right to respect for dignity, or a right to liberty and privacy); (d) a legally conferred power to bring about a particular result (as in „the right to avoid“ a contract); (e) an entitlement to a particular remedy (as in a right to have performance of a contractual obligation judicially ordered) or (f) an entitlement to do or not to do something affecting another person’s legal position without exposure to adverse consequences (as in a „right to withhold performance of the reciprocal obligation“). Termination „Termination“, in relation to an existing right, obligation or legal relationship, means bringing it to an end with prospective effect except in so far as otherwise provided. Textual form In „textual form“, in relation to a statement, means expressed in alphabetical or other intelligible characters by means of any support which permits reading, 619

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recording of the information contained in the statement and its reproduction in tangible form. Withdraw A right to „withdraw“ from a contract or other juridical act is a right, exercisable only within a limited period, to terminate the legal relationship arising from the contract or other juridical act, without having to give any reason for so doing and without incurring any liability for non-performance of the obligations arising from that contract or juridical act. Writing In „writing“ means in textual form, on paper or another durable medium and in directly legible characters.

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Der Verbraucher im europäischen Justizraum oder: die Zweiklassenjustiz im europäischen Zivilprozessrecht Inhaltsübersicht I. Kompetenzrechtliche Privilegien 1. Der Abschied von dem Prinzip actor sequitur forum rei durch Verbrauchergerichtsstände 2. Der Sündenfall der Verordnung über unbestrittene Forderungen 3. Der Ausschluss internationaler Gerichtsstandsvereinbarungen 4. Das Luxusgut als Gegenstand eines Verbrauchergeschäfts

5. Behinderung des freien Warenverkehrs durch Kompetenzprivilegien II. Anerkennungsrechtliche Privilegien 1. Die Nachprüfungsbefugnis der internationalen Zuständigkeit 2. Die ordre public Klausel III. Fazit

Eines der primären Ziele der Europäischen Union ist die Schaffung des europäischen Justizraums. Das schnell wachsende Justizverordnungsrecht basiert auf dem wechselseitigen Vertrauen in die Rechtssysteme und in die Justiz der anderen EU-Mitgliedstaaten. Der europäische Justizraum fingiert die Gleichwertigkeit der Ausbildung, Unabhängigkeit und Qualifikation der Richter in den EU-Staaten und die Adäquanz der Prozesssysteme. Das Postulat eines umfassenden Verbraucherschutzes1 stellt diese justizpolitischen Ziele jedoch in Frage. Das zeigt sich insbesondere an kompetenz- und anerkennungsrechtlichen Privilegien, die das Vertrauen in die Justiz der Mitgliedstaaten konterkarieren und das hehre Ziel des europäischen Justizraums gefährden. Dreher2 hat den Verbraucher – zu Recht – als das Phantom in den opera des europäischen – und des deutschen – Rechts apostrophiert. In der Tat scheint sein Siegeszug im Recht unaufhaltsam und eine Umkehr entspricht nicht dem Zeitgeist. Aber man sollte sich klar darüber werden, dass die Privi-

__________ 1 „Verbraucherschutz“ ist ein Euphemismus, der geschickt von einer starken Verbraucherlobby lanciert worden ist. Er impliziert, dass Verbraucher im Recht schlechter behandelt wird als seine Rechtsgenossen. Darum geht es aber beim „Verbraucherschutz“ nicht. Das deutsche und europäische Recht kennt keine Diskriminierung von Verbrauchern gegenüber Nichtverbrauchern. Es geht im Grunde nicht um den Schutz vor Schlechterstellung, vielmehr die Bevorzugung vor anderen Gruppen von Rechtsunterworfenen. Es ist deshalb korrekter, von „Verbraucherprivilegien“ zu sprechen. 2 Vgl. Dreher, Der Verbraucher – Das Phantom in den opera des europäischen und deutschen Rechts?, JZ 1997, 167 ff.

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legierung des Verbrauchers zu einer Zweiklassengesellschaft3 im europäischen Recht führt.

I. Kompetenzrechtliche Privilegien Der Verbraucher genießt umfassende kompetenzrechtliche Privilegien im europäischen Zivilprozess. 1. Der Abschied von dem Prinzip actor sequitur forum rei durch Verbrauchergerichtsstände Das Prinzip actor sequitur forum rei, das – jedenfalls im kontinentaleuropäischen Recht – die Basis jeglicher Kompetenzordnung4 darstellt5, ist auf dem Altar der Verbraucherprivilegien geopfert worden6. Der Verbraucher ist im europäischen Zivilprozess nicht mehr gehalten, den Beklagten an seinem Wohnsitz oder Sitz zu verklagen. Art. 16 Abs. 1 EuGVVO schafft – ebenso wie Art. 14 EuGVÜ/LugÜ – einen besonderen Klägergerichtsstand für den Verbraucher. Er kann wahlweise an seinem Wohnsitz oder am Ort des Wohnsitzes des Beklagten klagen. Umgekehrt kann der Verbraucher nur an seinem Wohnsitz verklagt werden (Art. 16 Abs. 2 EuGVVO). Der Verbraucher genießt im europäischen Zivilprozessrecht eine Art Immunität, die der von Herrscherhäusern entspricht. Kein ausländisches Gericht darf über ihn zu Gericht sitzen. Und wenn es dies dennoch tut, ist es für ihn unbeachtlich. Im Verbraucherkompetenzrecht ist der europarechtlich gemissbilligte und als exorbitant gebrandmarkte französische Gerichtsstand der Artt. 14, 15 CC7 wieder auferstanden. Danach kann – verkürzt gesagt – ein Franzose immer in Frankreich klagen und nur in Frankreich verklagt werden. Eben diese Privilegien hat der Verbraucher – nur eben extensiver, weil nicht staatsangehörigkeitsabhängig – für Streitigkeiten nach Art. 16 Abs. 1 EuGVVO. Da fragt man

__________

3 Vgl. Schütze, Die Zweiklassengesellschaft im europäischen Zivilprozessrecht, EWS, Die erste Seite, 5/2001. 4 Ulrich Huber, De foro competente, § 38, fasst treffend zusammen: „Summa regula fori est haec, quod actor forum rei sequitur … cuius ratio non tam est, quod reus sit actore favorabilor … sed quod necessitas vocandi et cogendi alium ad ius aequm, nonnisi a superiore proficisci queat, superior autem cuiusque non est alienus, sed proper rector“, zitiert nach von Bar, Theorie und Praxis des internationalen Privatrecht, 2. Aufl. 1889, S. 403, Fn. 13; vgl. auch Schröder, Internationale Zuständigkeit, 1971, S. 229 ff.; dort auch weitere Nachweise. 5 Milleker, Der negative internationale Kompetenzkonflikt, 1975, S. 21 geht von der Wohnsitzzuständigkeit als Universalprinzip aus und stellt fest: „Selbst wer den Gedanken von der Wohnsitzanknüpfung nicht als Universalprinzip gelten lässt, der wird doch zumeist geneigt sein, ihm zuzubilligen, dass er im Regelfall (von der Ebene des Rechtsstreits her gesehen) die zweckmäßigste und gerechteste Lösung abgibt“. Zur überragenden Bedeutung des Wohnsitzgerichtsstandes vgl. auch Riezler, Internationales Zivilprozessrecht, 1949, S. 183 f. 6 Vgl. auch Schütze, Internationales Zivilprozessrecht und Politik, in FS Georgiades, 2005, S. 577 ff. (580 ff.). 7 Vgl. Art. 3 Abs. 2 i. V. m. Anhang I EuGVVO.

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sich doch, warum man den Franzosen die Gerichtsstände der Artt. 14, 15 CC im europäischen Bereich genommen hat. Nun gut, über Art. 16 EuGVVO kann wenigstens der französische Verbraucher seine alten kompetenzrechtlichen Privilegien weiter in Anspruch nehmen. 2. Der Sündenfall der Verordnung über unbestrittene Forderungen Die EuVTVO (VO (EG) Nr. 805/2004) sollte einen Abschied vom Klauselerteilungsverfahren, wie es insbesondere die EuGVVO kennt, für einen wirtschaftlich wichtigen Bereich bringen. Bei unbestrittenen Forderungen sollte jede Entscheidung von einem Gericht im Geltungsbereich der EuGVVO ohne vorherige Vollstreckbarerklärung vollstreckt werden können. So wurde das Regelwerk viel bejubelt8 und – schon vor seinem Inkrafttreten – mit Lob bedacht. Leider ist das hehre Ziel an der Haltung der Verbraucherlobby gescheitert, die die Verordnung im Interesse ihrer Klientel zu einer Mogelpackung gemacht hat. Mit der Beschränkung des Europäischen Vollstreckungstitels gegen Verbraucher mit Wohnsitz im Erststaat9 ist der Europäischen Vollstreckungstitel zu einem Papiertiger geworden10. Mankowski11 sieht den Grund für die kompetenzrechtliche Privilegierung des Verbrauchers im Rahmen der EuVTVO in der prozessualen Trägheit des Verbrauchers, der sich nicht gerne vor ausländischen Gerichten verteidige und lieber dort Versäumnisurteil ergehen lasse, um dann im Verfahren der Vollstreckbarerklärung im Inland seine Einwendungen vorzubringen. Aber wer würde das nicht auch gerne tun? Die der Verordnung vorangestellte Erwägung Nr. 18, die von gegenseitigem Vertrauen in die ordnungsgemäße Rechtspflege der Mitgliedstaaten als Grund für die Prüfung der Voraussetzungen des Erlasses eines Europäischen Vollstreckungstitels allein durch die Gerichte des Erststaates spricht, stammt wohl aus einer Zeit, bevor die Verbraucherlobby in letzter Minute doch noch Privilegien ihrer Klientel, die auf dem Grundsatz „Kein Vertrauen in fremde Justiz bei Verbraucherbeteiligung“ basieren, durchgesetzt hat.

__________ 8 Vgl. noch jetzt Heringer, Der europäische Vollstreckungstitel für unbestrittene Forderungen, 2007, S. 20 f., 88. 9 Bemerkenswerterweise widmet Bittmann, Vom Exequatur zum qualifizierten Klauselverteilungsverfahren, 2008, S. 109 dem nur einen Satz, dass das Ausgangsgericht prüfen müsse, ob die Voraussetzung des Art. 6 Abs. 1 lit. d EuVTVO gegeben sei, ohne auf die Tragweite dieser Kompetenzbevorzugung von Verbrauchern einzugehen. 10 Vgl. Heringer (Fn. 8), S. 117 f., die die praktische Bedeutung der EuVTVO für Titel gegen Verbraucher wegen des Verbraucherprivilegs, des Art. 6 lit. d EuVTVO als gering ansieht. Hier aber liegt der Hase im Pfeffer. Der weitaus überwiegende Teil unbestrittener Forderungen sind solche gegen Verbraucher. 11 Vgl. Mankowski, Europäischer Vollstreckungstitel und prozessualer Verbraucherschutz, in FS Kerameus, 2009, S. 785 ff.

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3. Der Ausschluss internationaler Gerichtsstandsvereinbarungen Nach Art. 17 EuGVVO sind Gerichtsstandsvereinbarungen in Verbrauchersachen nur in sehr eingeschränktem Masse zulässig. Gerichtsstandsvereinbarungen können nur nach Entstehung der Streitigkeit abgeschlossen werden. Damit sind sie praktisch ausgeschlossen. Denn welcher Verbraucher wird auf seine kompetenzrechtlichen Privilegien verzichten, wenn bereits eine gerichtliche Auseinandersetzung ins Haus steht. Die generelle Unzulässigkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen – insbesondere in AGB – ist problematisch. Das typische Verbrauchergeschäft ist ein Massengeschäft. Für diese Art von Geschäften ist die Gerichtsstandsvereinbarung ein Kalkulationsfaktor. Das Bekleidungsgeschäft in Stuttgart muss ein erhebliches Kostenrisiko für die Prozessführung in Riga, Budapest, Paris oder London in den Endpreis einkalkulieren, wenn die Kunden keinen Wohnsitz in Stuttgart haben. Dieses Risiko, das sich letztlich im Preis niederschlägt hat den sonst in Gerichtsstandsvereinbarungen so gestrengen US-Supreme Court dazu gebracht, im ersten Carnival Cruise Fall12 zu entscheiden, dass Gerichtsstandsklauseln in AGB – es handelte sich um eine typische Verbrauchersache – nicht ipso iure unwirksam sind. In Carnival Cruise Lines, Inc. v. Shute13 und Carnival Cruise Lines, Ltd. v. Williams14 ging es um die Vereinbarung der Zuständigkeit der Gerichte Floridas, dem Sitz der Schifffahrtsgesellschaft, in Reiseverträgen mit Kreuzfahrpassagieren. Nach Art. 15 Abs. 3 EuGVVO wäre eine solche Gerichtsstandsvereinbarung mit „Kreuzfahrern“ nicht zulässig. Die Notwendigkeit besteht aber, wie uns der US-Supreme Court vor Augen geführt hat. Nun könnte man argumentieren, der Verkäufer von Bekleidung, der Veranstalter einer Pauschalreise und andere Vertragspartner von Verbrauchergeschäften könne ja das Risiko, wegen verhältnismäßig kleiner Beträge ein unverhältnismäßig hohes Kostenrisiko für die Rechtsverfolgung im Ausland zu laufen, in seine Kalkulation einstellen. Das aber ist nicht gerecht gegenüber den Kunden im Wohnsitzstaat des Verkäufers, die für die kompetenzrechtliche Privilegierung der Kunden in Riga, Budapest, Paris und London zahlen müssen. Etwas anderes ist noch zu bedenken. Durch Gerichtsstandsvereinbarungen kommt es zu einer Konzentrierung gleichgelagerter Prozesse bei einem Gericht. Das verringert die Kosten und beseitigt bei der Anwendung ausländischen Rechts Fehlerquellen. Der Verkäufer in Madrid, der gegen seine Kunden vor lettischen, rumänischen oder anderen Gerichten der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft wegen der spanischen Recht unterliegenden Geschäfte klagen muss, kann kaum eine einheitlich richtige Anwendung dieses kollisionsrechtlich berufenen Rechts erwarten.

__________ 12 Vgl. dazu kritisch Peterson, Prorogation Clauses in the United States after the Carnival Cruis Cases, IPRax 1993, 421 ff. 13 111 S.Ct. 1522 (1991). 14 234 Cal.App. 3d 1019, 2986 Cal. Rptr. 323 (2d Dist. 1991).

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4. Das Luxusgut als Gegenstand eines Verbrauchergeschäfts Auch Luxusgüter können Gegenstand von Verbrauchergeschäften sein. Der Verkauf einer Luxusyacht von einer Werft in Portugal an einen Kunden in Deutschland, der sein künftiges Leben mit seiner Geliebten in der Ägäis verbringen möchte, ist ein kompetenzrechtlich privilegiertes Verbrauchergeschäft. Kauft eben dieser Kunde bei einem Juwelier auf der Avenue de Montaigne in Paris ein Collier für seine Geliebte (damit diese ihn auf der Yacht begleitet), dann ist er auch hier Verbraucher i. S. von Art. 15 EuGVVO Es ist offensichtlich, dass der Käufer in beiden Fällen kompetenzrechtlich kaum schutzwürdig ist. Aber die Diskussion um die Begrenzung des Verbraucherbegriffs auf schutzwürdige Gruppen unter Ausschluss der Erwerber von Luxusgütern, die durch den Vorlagebeschluss des BGH v. 29.2.199615 – damals erfolglos16 – angestoßen worden ist, hat noch nicht zu einem positivem Ergebnis geführt17. 5. Behinderung des freien Warenverkehrs durch Kompetenzprivilegien Kompetenzrechtliche Privilegien erschweren die Tätigkeit von Anbietern von Waren und Dienstleistungen innerhalb der Gemeinschaft. Der Versandhändler, der seine Kataloge an Verbraucher im Gebiet der Gemeinschaft verschickt, muss – da er keine Gerichtsstandsvereinbarung abschließen kann – damit rechnen, dass er den Kaufpreis für das Sommerkleid der Hausfrau, der Bermuda Shorts des Hausherrn und die Jeans der Kinder in Riga, Bukarest oder London einklagen muss. Wenn der Verbraucher nicht zahlt, hat er damit keine wirtschaftlich vertretbare Handhabe, seine Forderung durchzusetzen. Er ist darauf angewiesen, auf die Zahlungsmoral seiner ausländischen Kunden zu vertrauen. Denn welcher Geschäftsmann wird 135 Euro für ein Kleid vor englischen Gerichten einklagen? Das Ergebnis ist, dass er seine Waren nur gegen Vorauskasse, Nachnahme oder Kreditkartenzahlung anbieten kann.

II. Anerkennungsrechtliche Privilegien Die kompetenzrechtlichen Privilegien des europäischen Verbrauchers werden ergänzt durch weitreichende anerkennungsrechtliche Privilegien. 1. Die Nachprüfungsbefugnis der internationalen Zuständigkeit Art. 35 Abs. 3 EuGVVO verbietet – wie schon Art. 28 Abs. 3 EuGVÜ und Art. 28 Abs. 4 LugÜ – die Nachprüfung der internationalen Zuständigkeit

__________ 15 Vgl. BGH, NJW 1997, 2685. 16 Vgl. EuGH, Rs. C-99/96 – Mietz v. Intership Yachting B.V. – EuGHE 1999 I, 1597 = ZIP 1999, 1323. 17 Vgl. auch Kowalke, Die Zulässigkeit von internationalen Gerichtsstands-, Schiedsgerichts- und Rechtswahlklauseln bei Börsentermingeschäften, 2002, S. 162 f.

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durch den Anerkennungsrichter Nach der Schaffung einer einheitlichen europäischen Zuständigkeitsordnung war man der Ansicht, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten diese Kompetenzregelung richtig anwenden. Das Verbot der Nachprüfung der Zuständigkeit nach europäischem Kompetenzrecht sollte ein Ausdruck des Vertrauens in die Justiz der Mitgliedstaaten sein18. So weit so gut. Aber warum traut man dem Erstrichter zu, den Gerichtsstand des Erfüllungsortes, der unerlaubten Handlung oder der Widerklage richtig anzuwenden, so dass eine Nachprüfung durch den Zweitrichter unnötig ist, nicht aber den Gerichtsstand für Verbrauchersachen? Das aber beinhaltet die Ausnahmeregelung für Versicherungs- und Verbrauchersache in Art. 35 Abs. 3 EuGVVO, die eine Nachprüfung der internationalen Zuständigkeit zulässt19. Das unbegrenzte Misstrauen der Verbraucherlobby vermutet offenbar in jedem ausländischen Richter ein verbraucherfeindliches Individuum, das die Verbraucherprivilegien missachtet. Denn wenn man den Richtern der Gemeinschaft die Qualifikation zuspricht, die Zuständigkeitsnormen der Abschnitte 1 und 2 des Kapitels II der Verordnung richtig anzuwenden, dann sollten sie doch auch qualifiziert sein, über den Zuständigkeitskatalog der Abschnitte 3 und 4 zu urteilen. Das Misstrauen in die Qualifikation der Richter und das Rechtssystem der anderen Mitgliedstaaten kann es also nicht sein, das zu der Ausnahmeregelung geführt hat. So bleibt ein Misstrauen in die Integrität der Richter bei Anwendung der Zuständigkeitsprivilegien. Das ist schlimm und stellt das Postulat eines einheitlichen europäischen Justizraums in Frage. Man wird keine rationale Erklärung dafür finden können, dass der Schuldner eines existenzbedrohenden Schadensersatzurteils eines rumänischen Gerichts über 50 Millionen Euro im Klauselerteilungsverfahren die internationale Zuständigkeit nicht nachprüfen lassen kann, wohl aber der Schuldner eines spanischen Urteils über den Restkaufpreis eines Staubsaugers. 2. Die ordre public Klausel Die Geltendmachung einer Entscheidung darf nicht gegen den zweitstaatlichen ordre public verstoßen (Art. 34 Nr. 1 EuGVVO). Die Kommission beab-

__________ 18 So heißt es schon im Jenard-Bericht zu Art. 28 EuGVÜ (ABl. 1979 C 59, 1 ff.): Wenn die sachliche Nachprüfung der Entscheidung ausgeschlossen wird, so kommt darin das volle Vertrauen in die Rechtspflege des Urteilsstaates zum Ausdruck; dieses Vertrauen in die sachliche Richtigkeit der Entscheidung muss sich, wie es sich von selbst versteht, aus darauf erstrecken, dass der Richter des Urteilsstaats die Zuständigkeitsregeln des Übereinkommens richtig angewendet hat“; abgedruckt auch bei Wieczorek/Schütze, ZPO, 3. Aufl., Bd. VI, 2006, S. 844. 19 Vgl. zur Durchbrechung des Nachprüfungsverbots der internationalen Zuständigkeit Geimer, Nachprüfung der internationalen Zuständigkeit des Urteilsgerichts in Versicherungs- und Verbrauchersachen, RIW/AWD 1980, 305 ff.; Schütze, Die Nachprüfung der internationalen Zuständigkeit nach dem EWG-Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen, AWD 1974, 428 ff.

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sichtigte zeitweise, die ordre public Klausel zu streichen20, offenbar unter dem Einfluss des Sutherland-Berichtes21, der eine angeblich hohe Quote der Ablehnung der Wirkungserstreckung im Binnenmarkt behauptet hatte. Eine solche Abschaffung des ordre public Vorbehalts wäre in Deutschland wohl verfassungswidrig gewesen Auch hätte die Verbraucherlobby sicherlich auf einer Ausnahmeregelung für Verbrauchersachen – ähnlich der bei der Nachprüfung der internationalen Zuständigkeit – bestanden. Denn Verbraucherpolitik ist eines der wesentlichen Anwendungsfelder des ordre public. Nachdem das Bundesverfassungsgericht in seiner Bürgschaftsrechtsprechung in diesem Bereich die Vertragsautonomie aus verfassungsrechtlichen Gründen teilweise außer Kraft gesetzt hat, wird man die Bürgenprivilegien, die vom BVerfG im Wege richterlicher Rechtsschöpfung geschaffen worden sind, zum ordre public rechnen müssen. Ein beredtes Beispiel findet sich in einem obiter dictum des BGH im Rahmen einer Entscheidung zu § 293 ZPO22. Das Instanzgericht hatte einen Studenten aufgrund einer Garantie auf erstes Anfordern nach luxemburgischem Recht nach Einholung eines Gutachtens eines renommierten Kenners der Materie, Welter, verurteilt. Der BGH der nach der damaligen Fassung der ZPO ausländischen Rechts nicht nachprüfen durfte, dem aber das Ergebnis nicht gefiel, erklärte Welter kurzerhand zum unfähigen Gutachter, schrieb aber dem Instanzgericht ins Stammbuch, dass in dem Fall, dass auch weitere Gutachter das Welter-Ergebnis bestätigen sollten – was wahrscheinlich war – ein Verstoß gegen den ordre public zu prüfen sei. Das also war des Pudels Kern. Der Inhalt des ordre public23 wird dem Zeitgeist folgend stets neu definiert24. Was gestern hinnehmbar war, ist es heute nicht mehr; was heute nicht hinnehmbar erscheint wird morgen als mit dem ordre public vereinbar angesehen. So ist der ordre public rechtspolitischen – und damit auch verbraucherpolitischen – Tendenzen unterworfen. Über Art. 34 Nr. 1 EuGVVO kann deshalb die Wirkungserstreckung eines ausländischen Urteils, das deutschen verbraucherpolitischen Internessen zuwiderläuft verweigert werden.

__________ 20 Vgl. Gottwald, Auf dem Weg zu einer weiteren Vereinfachung der Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Europa, Ritsumeikan Law Review, 2000, 49 ff. (50 f.); Stadler, Die Revision des Brüsseler und Lugano-Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen – Vollstreckbarerklärung und internationale Vollstreckung –, in Gottwald (Hrsg.), Revision des EuGVÜ, 2000, S. 37 ff. (41 ff.). 21 Kommissionsdokument III/21/1992, „Der Binnenmarkt nach 1992 – Die Herausforderung annehmen“. 22 Vgl. BGH, RIW 1997, 687 = DZWir 1997, 329 mit Anm. Schütze. 23 Vgl. dazu Völker, Zur Dogmatik des ordre public, 1998. 24 Vgl. Schütze, Internationales Zivilprozessrecht und Politik, in FS Georgiades, 2005, S. 577 ff.

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III. Fazit Wenn man die ständig wachsenden Privilegien für Verbraucher im europäischen Zivilprozessrecht sieht, dann erinnert das an die Hydra der griechischen Mythologie mit dem Unterschied, dass der alten Hydra die Köpfe, die Herakles ihr abschlug, doppelt nachwuchsen, während der modernen Hydra immer neue Köpfe wachsen, ohne dass die alten abgeschlagen werden. Das europäische Zivilprozessrecht braucht einen neuen Iolaos und Herakles. Die Verbraucherprivilegien im europäischen Zivilprozessrecht schaffen nicht nur eine Zweiklassenjustiz im europäischen Justizraum, sie konterkarieren auch das Bestreben, ein gegenseitiges Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit und Gleichwertigkeit der Prozessrechtsordnungen der Mitgliedstaaten zu schaffen. Wie soll man es rechtfertigen, dass der Schuldner eines unter Umständen existenzbedrohenden Millionenurteil eines rumänischen Gerichts hinsichtlich der Nachprüfung der internationalen Zuständigkeit auf das Vertrauen in die rumänische Justiz verwiesen wird, während dem Verbraucherschuldner einer Entscheidung über den Restkaufpreises eines Staubsaugers Misstrauen in die fremde Justiz und eine unbeschränkte Nachprüfung der erststaatlichen internationalen Zuständigkeit zugestanden wird. Der Verbraucher soll nicht nur als Kunde König im Kaufhaus sein, er soll europarechtlich auch eine gewisse kompetenzrechtliche königliche Immunität genießen.

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Die Verjährung der Prospekthaftung bei geschlossenen Fonds Inhaltsübersicht I. Prospekthaftung im engeren und weiteren Sinne 1. Prospekthaftung im engeren Sinne a) Begriff b) Verjährungsfrist 2. Prospekthaftung im weiteren Sinne a) Abgrenzung der Prospekthaftung im engeren und im weiteren Sinne

b) Haftung der Vertragspartner aa) Kreis der Vertragspartner bb) Zurechnung des Verschuldens von Beauftragten und Vertretern c) Verjährungsfrist II. Schwachpunkte der höchstrichterlichen Rechtsprechung III. Zusammenfassung

Prospekthaftung und kein Ende? Bereits 1998 haben der mit vorliegender Festschrift geehrte Professor Graf von Westphalen und eine der Verfasserinnen gemeinsam einen Artikel zur Prospekthaftung beim Immobilien-Leasing veröffentlicht1, Frucht gemeinsamer Vortragstätigkeit zu geschlossenen Immobilien-Leasing Fonds. Schon damals war festzustellen, dass die Prospekthaftung seit der ersten hierzu ergangenen Entscheidung des Bundesgerichtshofs2 ein anhaltend großes Interesse in Judikatur und Fachliteratur fand. Seither erfuhr dieses Thema ein ungebrochenes „Wachstum“. Die zur Prospekthaftung ergangenen Urteile sind ohne Zahl. Und auch die juristische Literatur beschäftigt sich mit ihr Jahr für Jahr unter immer wieder neuen Aspekten. Als jüngste Entscheidungen des Bundesgerichtshofs seien beispielsweise erwähnt die Beschlüsse des III. Senats vom 29.1.3, 19.3.4 und 25.6.20095 zur Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Prospekthaftung im weiteren Sinne in Frage kommt, auch wenn kein persönlicher (geschäftlicher) Kontakt zwischen Anlageberater oder -vermittler und dem klagenden Fondsanleger stattgefunden hat. Kernproblem für das Geltendmachen von Prospekthaftungsansprüchen stellt zumeist deren Verjährung dar, welche zudem in den vergangenen Jahren einigen gesetzlichen Änderungen unterlief. Erhoben werden Ansprüche von Fonds-

__________ 1 Graf von Westphalen/Seibel, Prospekthaftung beim Immobilienleasing, BB 1998, 169 ff. 2 BGH, BB 1978, 979 ff. 3 BGH, WM 2009, 400, 401 f. 4 BGH III ZR 163/08. 5 BGH III ZR 222/08 sowie BGH III ZR 223/08.

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anlegern naturgemäß erst, wenn die durch den geschlossenen Fonds getätigte Anlage (sei es ein Immobilieninvestment oder in den vergangenen Jahren vermehrt das Investment in Windparks oder Filmproduktionen) zu scheitern droht oder jedenfalls nicht wunschgemäß – wie in dem der Anlage zugrundeliegenden Fondsprospekt dargestellt – verläuft. In der Regel sind dann bereits eine Reihe von Jahren vergangen, seit der Anleger dem geschlossenen Fonds beigetreten ist.

I. Prospekthaftung im engeren und weiteren Sinne Für die Frage der Verjährung von Prospekthaftungsansprüchen ist nach der Prospekthaftung im engeren und im weiteren Sinne zu differenzieren. Nur die Prospekthaftungsansprüche im engeren Sinne sollen innerhalb einer verhältnismäßig kurzen Frist verjähren; für Prospekthaftungsansprüche im weiteren Sinne gelten dagegen die regelmäßigen Verjährungsfristen des BGB.6 1. Prospekthaftung im engeren Sinne a) Begriff Die Prospekthaftung im engeren Sinne stellt ursprünglich eine von der Rechtsprechung entwickelte Haftungsfigur dar. Sie beruht letztlich auf den Grundsätzen der culpa in contrahendo, welche seit dem 1.1.2002 in § 311 Abs. 2, Abs. 3 BGB gesetzlich geregelt ist. Die Besonderheit dieser Rechtsfigur liegt darin, dass der Bundesgerichtshof so den Kreis der Personen erweiterte, welche aus culpa in contrahendo haften. Während normalerweise neben dem (künftigen) Vertragspartner Dritte nur dann haften, wenn sie im Rahmen der Vertragsverhandlungen als Vertreter oder Sachwalter besonderes persönliches Vertrauen in Anspruch genommen haben, haften Dritte bei der speziellen Prospekthaftung im engeren Sinne auch dann, wenn ihnen lediglich typisiertes Vertrauen entgegengebracht wurde. Das bedeutet, dass diese Personen dem Beitrittsinteressenten und späteren Fondsanleger überhaupt nicht bekannt geworden sein müssen; es reicht aus, dass sie diesen Personen typischerweise ihr Vertrauen schenken. Dieses typisierte Vertrauen knüpft an die Tatsache an, dass diese Personen hinter der Fondsgesellschaft stehen, diese leiten und daher den künftigen Gesellschaftern als die Verantwortlichen erscheinen.7 Folglich ist Grundlage der engen Prospekthaftung eine Garantenstellung, die kraft Amtes oder Berufes entsteht oder auf besondere Fachkunde oder einer allgemein anerkannten und hervorgehobenen wirtschaftlichen Stellung beruht.8 Zu diesen Garanten gehören ganz allgemein die Initiatoren, Gründer und Gestalter einer Fondsgesellschaft, soweit sie das Management bilden oder beherrschen.

__________ 6 BGHZ 83, 222, 227; BGH, WM 1985, 533; BGH, NJW 1995, 130; BGH, DStR 2003, 1494. 7 BGHZ 71, 284; BGHZ 83, 222, 224; BGH, NJW 1995, 1025 und BGH, WM 2006, 427. 8 BGHZ 83, 222, 223 f.

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Die Verjährung der Prospekthaftung bei geschlossenen Fonds

Diese richterrechtlich entwickelte Prospekthaftung im engeren Sinne ist allerdings mit Inkrafttreten des Anlegerschutzverbesserungsgesetzes am 1.7.2005 für seither aufgelegte geschlossene Fonds durch die spezialgesetzlichen Haftungsregeln des Verkaufsprospektgesetzes ersetzt worden.9 Mit dem Anlegerschutzverbesserungsgesetz wurde unter anderem das Verkaufsprospektgesetz geändert und sein Geltungsbereich auf den „grauen“ Kapitalmarkt, also geschlossene Fonds erstreckt (vgl. § 8f ff. VerkaufsprospektG). § 13 VerkaufsprospektG regelt jetzt die Prospekthaftung im engeren Sinn für Prospektfehler geschlossener Fonds und § 13a VerkaufsprospektG die Folgen, sofern ein Prospekt insgesamt unterblieben ist. Ob und inwieweit dadurch der Kreis der Prospektverantwortlichen eingegrenzt wurde ist in der Literatur streitig und durch höchstrichterliche Rechtsprechung noch nicht entschieden.10 b) Verjährungsfrist Prospekthaftungsansprüche im engeren Sinne verjähren innerhalb einer verhältnismäßig kurzen Frist. Für Prospekte, welche vor dem 1.4.1998 veröffentlicht wurden, beträgt sie sechs Monate ab Kenntnis von der Unrichtigkeit des Prospektes bzw. längstens drei Jahre seit dem Beitritt des Anlegers zur Fondsgesellschaft. Der Bundesgerichtshof begründete diese kurze Verjährungsfrist über eine analoge Anwendung der § 20 Abs. 5 KAGG, § 12 Abs. 5 AuslInvestmG und § 47 BörsG (jeweils in der damals geltenden Fassung).11 Grund für die Analogie war der allgemeine Rechtsgrundsatz, der sich aus den genannten Vorschriften entnehmen ließ, dass es wegen zunehmender Beweisschwierigkeiten und aus Gründen allgemeiner Rechtssicherheit dem Anteilseigner nach einer bestimmten Anzahl von Jahren versagt sein musste, sich auf fehlerhafte Angaben im Prospekt zu berufen. Die Kürze der Verjährungsfrist hielt das Gericht für geboten, da nicht an ein dem Verhandlungspartner persönlich entgegengebrachtes Vertrauen angeknüpft wird, sondern an ein den unbekannten Initiatoren und Gründern entgegengebrachtes typisiertes Vertrauen.12 Der Prospekt ist in der Tat an eine Vielzahl von Interessenten gerichtet, die dem Garanten regelmäßig unbekannt bleiben. Er kann bei ihnen deshalb nicht erkennen, welche Überlegungen für den Beitritt bestimmend gewesen sind. Insbesondere ist offen, ob der fehlerhafte Prospekt überhaupt eine Rolle gespielt hat. Aus diesem Grunde sind eindeutige Feststellungen zur Kausalität zwischen Fehlverhalten einerseits, Beitritt und Schadensersatz andererseits

__________ 9 So auch Stumpf/Lamberti, Die Haftung des Treuhandkommanditisten in einer GmbH & Co. KG wegen der Verletzung von Aufklärungspflichten gegenüber Kapitalanlegern, BB 2008, 225, 2258 mit Verweis auf die Gesetzesbegründung zum Anlegerschutzverbesserungsgesetz (BT-Drucks. 15/3174, S. 44). A. A. z. B. Emmerich in MünchKomm.BGB, 2008, § 311 BGB Rz. 183, 189. 10 Vgl. dazu im Einzelnen Stumpf/Lamberti (Fn. 9), 2256 f.; Benecke, Haftung für Inanspruchnahme von Vertrauen – Aktuelle Fragen zum neuen Verkaufsprospektgesetz, BB 2006, 2597 ff. sowie Emmerich (Fn. 9). 11 BGHZ 83, 222, 226. 12 BGHZ 83, 222, 224.

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vielfach schon kurz nach dem Beitritt eines Anlegers zur Fondsgesellschaft nur schwer zu treffen und nach Ablauf vieler Jahre häufig ausgeschlossen. Hinzu kommt, dass in Fällen, in denen die Gesellschaft erst nach Ablauf mehrerer Jahre in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerät, in der Regel nur schwer zu klären ist, ob diese Schwierigkeiten auch auf Risiken beruhen, über die der Anleger nicht aufgeklärt wurde, oder allein auf solchen, die er bewusst eingegangen ist und deshalb nicht auf Dritte abwälzen kann. Außerdem sollen sich die für den Prospekt Verantwortlichen nach Ablauf eines bestimmten Zeitraumes darauf einrichten können, nicht mehr wegen fehlerhafter Information in Anspruch genommen zu werden.13 Aus diesen Gründen entschied der Bundesgerichtshof, dass bei der Prospekthaftung im engeren Sinne eine kürzere Verjährungsfrist gelten müsse als bei der allgemeinen Haftung aus culpa in contrahendo. Für ab dem 1.4.1998 veröffentlichte Prospekte gilt seit dem 1.7.2005 allerdings eine etwas verlängerte Verjährungsfrist, nämlich ein Jahr ab Kenntnis des Prospektsmangels, während die drei Jahres-Frist ab Beitritt zur Fondsgesellschaft unverändert Bestand hat. Am 1.7.2002 trat mit dem Vierten Finanzmarktförderungsgesetz ein weitgehend überarbeitetes Börsengesetz in Kraft und mit ihm die erläuterte Änderung der Verjährungsfrist für Prospektmängel in seinem § 46. Ebenso erfuhren § 20 Abs. 5 KAGG und § 12 Abs. 5 AuslInvestmG die dargelegte (teilweise) Änderung der Verjährungsfrist von sechs auf zwölf Monate. Aufgrund der – wohl als missglückt zu bezeichnenden – Übergangsregel des § 18 Abs. 2 VerkaufsprospektG, welche am 1.7.2005 in Kraft getreten ist, erlangte diese Verjährungsfriständerung Rückwirkung zum 1.4.1998, während sie richtigerweise erst zum 1.7.2002 hätte vorgesehen werden dürfen. Denn erst zu diesem Termin hatte der Gesetzgeber des Anlegerschutzverbesserungsgesetz’ die Verjährungsfrist für Prospektmängel (teilweise) geändert.14 Der Bundesgerichtshof hat sich bislang über diese fehlerhafte Überleitungsregelung souverän hinweggesetzt – oder sie womöglich gar nicht erst erkannt – und in den eingangs erwähnten Beschlüssen von 2009 jeweils auf die sechs Monats-Frist abgestellt.15

__________ 13 BGHZ 83, 222, 225. 14 § 18 Abs. 2 Sätze 3 und 4 VerkaufsprospektG regeln insoweit, dass auf Verkaufsprospekte, welche nicht zu den von Kreditinstituten veröffentlichten Wertpapier-Verkaufsprospekten zählen, die Vorschriften der §§ 45–47 des Börsengesetzes vom 21.6.2002 gelten, welches am 1.7.2002 in Kraft getreten ist. Gemäß § 18 Abs. 2 Satz 1 VerkaufsprospektG gelten demgegenüber für Verkaufsprospekte jedweder Art, welche vor dem 1.4.1998 veröffentlicht wurden, die Vorschriften der §§ 45–49 des Börsengesetzes 1996. Die Überleitungsregel des § 64 Abs. 2 Börsengesetz 2002 hilft hier nicht weiter, da § 18 Abs. 2 Satz 3 VerkaufsprospektG nur auf die §§ 45–47 Börsengesetz 2002 verweist. 15 Vgl. Fn. 3, 4 und 5. Auch in der seit 2005 publizierten Fachliteratur ist diese Inkongruenz des § 18 Abs. 2 VerkaufsprospektG offenbar nicht gesehen worden, vgl. z. B. Assmann in Assmann/Schütze, Handbuch des Kapitalanlagerechts, 3. Aufl. 2007, § 6 Rz. 209 und Stumpf/Lamberti (Fn. 9), 2255, 2260.

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Die Verjährung der Prospekthaftung bei geschlossenen Fonds

Für alle ab dem 1.7.2005 veröffentlichten Verkaufsprospekte geschlossener Fonds ist die Verjährungsfrist von Prospekthaftungsansprüchen im engeren Sinne jedenfalls unzweifelhaft. Sie beträgt gemäß § 13 VerkaufsprospektG i. V. m. § 46 BörsenG ein Jahr ab Kenntnis des Prospektmangels und längstens drei Jahre ab Beitritt zur Fondsgesellschaft. 2. Prospekthaftung im weiteren Sinne Eine Berufung auf die kurze Verjährungsfrist ist allerdings dann nicht möglich, wenn der betreffende Schadensersatzanspruch nicht (nur) auf den Grundsätzen der Prospekthaftung im engeren Sinne beruht, sondern (auch) nach den allgemeinen Grundsätzen der culpa in contrahendo (= Prospekthaftung im weiteren Sinne) gegeben ist.16 Dies gilt auch dann, wenn über den Beitritt unter Verwendung von (fehlerhaften) Prospekten verhandelt wurde.17 a) Abgrenzung der Prospekthaftung im engeren und im weiteren Sinne Eine allgemeine Haftung aus culpa in contrahendo (Prospekthaftung im weiteren Sinne) kommt in zwei Fällen in Betracht, und zwar zum einen bei den (auch zukünftigen) Vertragspartnern (seit dem 1.1.2002 geregelt in § 311 Abs. 2 BGB), zum anderen bei Dritten, die an den Vertragsverhandlungen beteiligt waren und denen im Rahmen der Verhandlungen ein besonderes persönliches Vertrauen entgegengebracht wurde (seit dem 1.1.2002 ausdrücklich geregelt in § 311 Abs. 3 BGB). Ausschließlich nach den Grundsätzen der Prospekthaftung im engeren Sinne wird nur dann gehaftet, wenn die betreffende Person weder die Stellung eines Vertragspartners innehatte noch (als Dritter) ein besonderes persönliches Vertrauen in Anspruch genommen hat. Folglich können sich Personen, die die Stellung eines (zukünftigen) Vertragspartners einnehmen, grundsätzlich nie auf die kurze Verjährungsfrist berufen. Dies ist nur Dritten möglich, denen kein persönliches, sondern nur ein typisiertes Vertrauen entgegengebracht wurde. b) Haftung der Vertragspartner aa) Kreis der Vertragspartner Zu den (künftigen) Vertragspartnern gehören diejenigen Personen, mit denen die Anleger zum Erwerb ihrer Beteiligung einen Vertrag abschließen. Wer dies ist, kann nicht pauschal beantwortet werden, sondern hängt von der jeweiligen Konzeption und Gestaltung des betreffenden Fonds ab, wobei üblicherweise geschlossene Fonds als Kommanditgesellschaften strukturiert sind. Werden die Anleger als echte Kommanditisten aufgenommen, so sind ihre Vertragspartner diejenigen Kommanditisten und Komplementäre, die bereits zum Zeitpunkt der Aufnahme des jeweiligen Anlegers Gesellschafter der frag-

__________

16 BGHZ 83, 222, 227; BGH, NJW 1995, 130; BGH, DStR 2003, 1494. 17 BGHZ 83, 222, 227; BGH, NJW 1995, 130; BGH, DStR 2003, 1494.

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lichen KG waren. Denn der Anleger erlangt die Kommanditistenstellung durch den Abschluss eines Aufnahmevertrages mit den übrigen Gesellschaftern.18 Bei einer solchen Fondskonzeption sind insbesondere die Gründungskommanditisten spätere Vertragspartner und haften damit nach den allgemeinen Grundsätzen der culpa in contrahendo, also aus Prospekthaftung im weiteren Sinne. Aber auch andere Kommanditisten, die – wie z. B. eine als Initiatorin oder Co-Initiatorin auftretende Bank – der Fondsgesellschaft zwar erst nach ihrer Gründung, aber noch vor Aufnahme der Anleger beigetreten sind, schließen mit den beitretenden Anlegern einen Aufnahmevertrag und sind daher Vertragspartner. Sind die Anleger dagegen nicht als direkte Gesellschafter an der Fondsgesellschaft beteiligt, so nehmen die Gründungskommanditisten (bzw. die sonstigen an der Gesellschaft schon vorher beteiligten Kommanditisten) keine Vertragspartnerstellung ein. Wird die Kommanditbeteiligung der Anleger beispielsweise von einem (echten) Treuhänder für die Anleger gehalten, so ist (nur) dieser Treuhandkommanditist Vertragspartner der Anleger. Gleiches gilt bei einer stillen Beteiligung; hier wird ein Vertrag – der stille Gesellschaftsvertrag – nicht mit den Gesellschaftern der Fondsgesellschaft, sondern mit der Fondsgesellschaft selbst geschlossen. Bei solchen Formen der indirekten Anlegerbeteiligung haften die (Gründungs-)Kommanditisten als Fondsgesellschafter nur dann nach den allgemeinen Grundsätzen der culpa in contrahendo, wenn sie (als Dritte) im Rahmen der Vertragsverhandlungen persönliches Vertrauen in Anspruch genommen haben. Ist dies nicht der Fall, so kommt nur eine Prospekthaftung im engeren Sinne in Betracht, bei der eine Berufung auf die kurze Verjährungsfrist möglich ist. Für den Treuhänder kommt eine Prospekthaftung im weiteren Sinne jedoch sehr wohl in Betracht. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs obliegt dem Treuhandkommanditisten aufgrund des Treuhandverhältnisses eine Aufklärungspflicht, er hat sich über das Anlageobjekt zu informieren, Prospektmängel von sich aus aufzuzeigen und insgesamt die Pflicht, den Anleger auf alle wesentlichen Punkte hinzuweisen, welche für dessen (mittelbare) Beteiligung an der Fondsgesellschaft entscheidungserheblich sind.19 Nur wenn der Treuhänder eine sogenannte Vertrauensverwahrung erklärt hat, also dass er das Anlageobjekt nicht geprüft habe, kann dies zur Haftungsbefreiung führen.20 Der Anleger hat dann keinen Grund auf die Objekt- und Prospektprüfung des Treuhandkommanditisten zu vertrauen. Die Vertrauensverwahrung muss allerdings unter den für allgemeine Geschäftsbedingungen geltenden Voraussetzungen wirksam erklärt bzw. vereinbart sein und hindert nicht, dass der Treuhänder ihm bekannte Defizite des Prospekts bzw. des Anlageobjekts offenlegen muss.21

__________ 18 BGHZ 71, 284, 286; BGH, NJW 1985, 380; BGH, NJW-RR 1991, 804. 19 So z. B. BGH, BB 2002, 854; BGH, BB 2006, 1933; BGH, BB 2008, 1529. Differenzierend dazu Stumpf/Lamberti (Fn. 9), 2258 ff. 20 BGHZ 84, 141; BGH, BB 2003, 1923. 21 BGH, NJW-RR 2007, 406.

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Die Verjährung der Prospekthaftung bei geschlossenen Fonds

bb) Zurechnung des Verschuldens von Beauftragten und Vertretern Im Gegensatz zu Dritten, die aus culpa in contrahendo grundsätzlich nur dann haften, wenn ihnen besonderes persönliches Vertrauen entgegengebracht wird, ist Grundlage für die Haftung des (zukünftigen) Vertragspartners allein die Tatsache, dass überhaupt Vertragsverhandlungen aufgenommen werden. Zur Aufnahme von Vertragsverhandlungen genügen bereits einseitige Maßnahmen, die den anderen zu einem Vertragsschluss veranlassen sollen. Hierzu gehört auch die Herausgabe von Prospekten.22 Dabei ist es nicht erforderlich, dass dem späteren Vertragspartner ein besonderes persönliches Vertrauen entgegengebracht wird, ja nicht einmal, dass die späteren Vertragspartner selbst in unmittelbaren persönlichen Kontakt getreten sind. Erfolgt die Kontaktaufnahme durch andere Personen, die im Auftrag oder in Vertretung der eigentlichen Vertragspartner handeln (z. B. zur Aufnahme von Anlagegesellschaftern bevollmächtigte Komplementär-GmbH), so wird deren Verschulden (z. B. die schuldhafte Aufklärungspflichtverletzung durch Verwendung unrichtiger Prospekte) dem eigentlichen Vertragspartner über § 278 BGB zugerechnet.23 Eine Einschränkung dieser Zurechnung fremden Verschuldens nimmt der Bundesgerichtshof nur insoweit vor, als Beitrittsverhandlungen zu Publikumsgesellschaften im Namen von Anlegergesellschaftern geführt werden, die der Gesellschaft schon zu einem früheren Zeitpunkt, aber erst nach Gründung beigetreten sind.24 Ihnen sei eine gesellschaftsvertragliche Regelung vorgegeben, auf die sie keinen Einfluss hätten; folglich seien alle künftigen Beitrittsverhandlungen und -abschlüsse ihrem Verantwortungsbereich entzogen.25 Für Gründungsgesellschafter gilt die Zurechnung fremden Verschuldens dagegen uneingeschränkt, da sie das Gesellschaftsverhältnis nach ihren Vorstellungen gestalten konnten und ihre Stellung daher nicht der eines später beitretenden Anlegers vergleichbar ist.26 Gleiches muss für solche Gesellschafter gelten, die zwar keine Gründungsgesellschafter sind, die der Gesellschaft aber noch vor Aufnahme der späteren Anleger beigetreten sind und die – etwa als Initiator eines Fonds – die gesellschaftsvertraglichen Regelungen maßgeblich mitgestaltet haben. Auch wenn der Bundesgerichtshof zu dieser speziellen Frage – soweit ersichtlich – noch keine Entscheidung getroffen hat, so erscheint es doch als sehr unwahrscheinlich, dass er in einem solchen Fall eine Verschuldenszurechnung ablehnen würde. Denn es besteht letztlich kein qualitativer Unterschied zwischen einem Gründungsgesellschafter und einem Gesellschafter, der zwar in eine bereits bestehende Gesellschaft eingetreten ist, im Rahmen des Beitritts aber maßgeblich an der Umgestaltung und Neukonzeption beteiligt war. Die Frage der Verschuldenszurechnung hängt nicht davon ab, ob der betreffende Gesell-

__________ 22 23 24 25 26

Grüneberg in Palandt, BGB, 68. Aufl. 2009, § 311 BGB Rz. 22. BGH, NJW 1985, 380; BGH, NJW-RR 1986, 968; BGH, NJW-RR 1991, 804. BGH, NJW-RR 1992, 542. BGH, NJW 1985, 380; BGH, NJW-RR 1991, 804. BGH, NJW-RR 1991, 804; BGH, DStR 2003, 1494.

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schafter formal an der Gründung der Gesellschaft beteiligt war, sondern davon, ob er einen so maßgeblichen Einfluss auf die Konzeption der Gesellschaft hatte, dass seine Stellung der eines bloßen Anlagegesellschafters nicht vergleichbar ist.27 Ist dies der Fall, so sind die späteren Beitrittsverhandlungen und -abschlüsse seinem Einfluss- und Verantwortungsbereich nicht entzogen und eine Verschuldenszurechnung gemäß § 278 BGB muss stattfinden. c) Verjährungsfrist Prospekthaftungsansprüche im weiteren Sinne verjähren nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gemäß den allgemeinen Verjährungsregeln des BGB.28 Durch Inkrafttreten der Schuldrechtsreform haben sich diese indessen grundlegend geändert; Unterschiede bestehen insbesondere im Hinblick auf die Dauer der Verjährungsfrist und den Beginn der Verjährung. Während die regelmäßige Verjährungsfrist vor Inkrafttreten der Schuldrechtsreform am 1.1.2002 30 Jahre betragen hat (§ 195 BGB a. F.), beträgt sie nach neuem Recht grundsätzlich drei Jahre (§ 195 BGB n. F.). Der Beginn der Verjährungsfrist richtete sich nach altem Recht nach dem Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs (§ 198 BGB a. F.), während nach neuem Recht für den Verjährungsbeginn neben der Entstehung des Anspruchs die Kenntnis des Gläubigers (bzw. grobfahrlässige Unkenntnis) von den anspruchsbegründenden Umständen erforderlich ist (§ 199 Abs. 1 BGB n. F.). Fehlt es an dieser Kenntnis, so verjähren Schadensersatzansprüche nach neuem Recht spätestens innerhalb von 10 Jahren seit Entstehung des Anspruches (§ 199 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BGB n. F.) bzw. innerhalb von 30 Jahren ab der Begehung der Handlung, der Pflichtverletzung oder dem sonstigen schadensauslösenden Ereignis (§ 199 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BGB n. F.). Dabei ist jeweils die früher endende Frist maßgeblich (§ 199 Abs. 3 Satz 2 BGB n. F.). Für Ansprüche, die vor Inkrafttreten der Schuldrechtsreform entstanden, aber noch nicht verjährt sind, gilt die Überleitungsvorschrift des Art. 229 § 6 EGBGB. Danach ist auch für solche Alt-Ansprüche grundsätzlich das neue Verjährungsrecht anwendbar, es greift also generell die dreijährige Verjährungsfrist des § 195 BGB n. F. (Art. 229 § 6 Abs. 1 Satz 1 EGBGB). Gemäß Art. 229 § 6 Abs. 4 Satz 1 BGB wird die neue (kürzere) Verjährungsfrist allerdings erst vom 1.1.2002 an berechnet, so dass die Verjährung grundsätzlich zum 31.12.2004 eintritt. Problematisch sind die Fälle, in denen der Gläubiger – d. h. der geschädigte Anleger – noch keine Kenntnis (bzw. zumindest grobfahrlässige Unkenntnis) von den anspruchsbegründenden Umständen erlangt hat. Wendet man in diesen Fällen die Überleitungsvorschrift des Art. 229 § 6 EGBGB streng ihrem Wortlaut nach an, so würde dies zu einer Benachteiligung von solchen Ansprüchen führen, die vor Inkrafttreten der Schuldrechtsreform entstanden sind.

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27 Vgl. BGH, NJW 1989, 380. 28 Vgl. BGHZ 83, 222, 227; BGH, NJW-RR 1991, 804; BGH, NJW-RR 2002, 915; BGH, DStR 2003, 1494; BGH, WM 2003, 1086; BGH, WM 2003, 1718.

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Die Verjährung der Prospekthaftung bei geschlossenen Fonds

Denn nach neuem Recht würde die regelmäßige dreijährige Verjährungsfrist bei fehlender Kenntnis des Gläubigers gar nicht zu laufen beginnen (§ 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB n. F.); vielmehr würde der Anspruch erst 10 Jahre nach seiner Entstehung verjähren (§ 199 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BGB n. F.). Nach altem Recht aber, welches nach dem Wortlaut der Überleitungsvorschrift (Art. 229 § 6 Abs. 1 Satz 2 EGBGB) für den Beginn der Verjährung maßgeblich ist, beginnt die Verjährung bereits mit der Entstehung des Anspruches, also ohne Rücksicht auf die Kenntnis des Gläubigers (§ 198 BGB a. F.). Ansprüche, die vor Inkrafttreten der Schuldrechtsreform entstanden sind, würden also auch bei fehlender Kenntnis des Gläubigers innerhalb von drei Jahren ab dem 1.1.2002 verjähren, während bei Ansprüchen, die nach Inkrafttreten der Schuldrechtsreform entstanden sind, bei fehlender Kenntnis des Gläubigers die 10-jährige Verjährungsfrist des § 199 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BGB n. F. greift. Es erscheint eher unwahrscheinlich, dass der Gesetzgeber eine solche Ungleichbehandlung bewusst vornehmen wollte. Die inzwischen herrschende Ansicht in Literatur und Rechtsprechung29 geht daher zutreffend davon aus, dass die Übergangsregelung des Art. 229 § 6 Abs. 4 Satz 1 EGBGB nur den frühest möglichen Verjährungsbeginn festlegt, einen späteren aber nicht ausschließt. Demnach beginnt die dreijährige Verjährungsfrist des § 195 BGB n. F. am 1.1.2002 nur dann zu laufen, wenn der Gläubiger zu diesem Zeitpunkt bereits Kenntnis (bzw. grob fahrlässige Unkenntnis) von den anspruchsbegründenden Tatsachen hatte. Hatte er keine Kenntnis, so tritt Verjährung erst drei Jahre nach Kenntniserlangung ein bzw. gemäß § 199 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BGB n. F. spätestens innerhalb von 10 Jahren seit dem 1.1.2002, also spätestens am 31.12.201130.

II. Schwachpunkte der höchstrichterlichen Rechtsprechung Dass die kurze Verjährungsfrist ausschließlich bei der Prospekthaftung im engeren Sinne gelten soll, begründet der Bundesgerichtshof in seiner Grundsatzentscheidung vom 22. März 198231 damit, dass die Gründe für die kurze Verjährungsfrist – nämlich Beweisschwierigkeiten und Rechtssicherheit – nur bei der Inanspruchnahme typisierten Vertrauens gegeben seien, nicht aber dann, wenn der betreffenden Person persönliches Vertrauen entgegengebracht wurde. Dies ist nachvollziehbar, da jemand, der an den Vertragsverhandlungen selbst beteiligt ist und dem persönliches Vertrauen entgegengebracht wird, grundsätzlich erkennen kann, welche Motive den betreffenden Interessenten zu seinem Beitritt veranlasst haben, und daher späteren Beweisschwierigkeiten

__________ 29 BGHZ 171, 1, 7; BGH, NJW-RR 2008, 1237; Heß, Das neue Schuldrecht – In-KraftTreten und Übergangsregelungen, NJW 2002, 253, 258; Gsell, Schuldrechtsreform: Die Übergangsregelungen für die Verjährungsfristen, NJW 2002, 1297, 1298; Karst/ Schmidt-Hieber, Vor der Schuldrechtsreform entstandene Ansprüche: Verjährung mit Ablauf des 31.12.2004?, DB 2004, 1766, 1768. 30 BGH, NJW-RR 2008, 1237; Heinrichs in Palandt (Fn. 22), Art. 229 § 6 EGBGB Rz. 6. 31 BGHZ 83, 222.

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weniger stark ausgesetzt ist. Außerdem kann ihm wegen der persönlichen Vertrauensbeziehung eine längerfristige Haftung zugemutet werden. Die Inanspruchnahme persönlichen Vertrauens ist allerdings nur für die allgemeine culpa in contrahendo – Haftung von Dritten Tatbestandsvoraussetzung. Vertragspartner haften dagegen allein aufgrund ihrer Vertragspartnerstellung, ohne dass ihnen ein besonderes persönliches Vertrauen entgegengebracht worden sein müsste. Sie haften also selbst dann, wenn sie nicht einmal in persönlichen Kontakt mit den Beitrittsinteressenten getreten sind, da Vertreterverschulden über § 278 BGB zugerechnet wird. Dass das Gericht auch bei solchen Vertragspartnern eine Berufung auf die kurze Verjährungsfrist strikt ablehnt, ist zu hinterfragen. In seiner Grundsatzentscheidung lehnte es32 die Anwendbarkeit der kurzen Verjährungsfrist ausdrücklich nur für den Dritten ab, der persönliches Vertrauen in Anspruch genommen hat und daher aus culpa in contrahendo haftet. Dazu, ob sich ein Vertragspartner auf die kurze Verjährung berufen darf, traf das Gericht in dieser Entscheidung keine ausdrückliche Feststellung. Tatsächlich aber war einer der Beklagten Gründungsgesellschafter und Vertragspartner33; trotzdem ließ der Bundesgerichtshof auch für diesen Beklagten die Berufung auf die kurze Verjährungsfrist zu. Offensichtlich hatte er übersehen, dass schon aufgrund der Vertragspartnerstellung eine Haftung nach den allgemeinen Grundsätzen der culpa in contrahendo in Betracht gekommen wäre und demnach die Anwendbarkeit der kurzen Verjährungsfrist hier besonders diskutiert hätte werden müssen. Erst in späteren Entscheidungen stellte das Gericht den Grundsatz, dass sich ein Vertragspartner grundsätzlich nicht auf die kurze Verjährung berufen könne, ausdrücklich fest.34 In diesen Entscheidungen differenzierte es aber lediglich pauschal danach, ob sich der betreffende Schadensersatzanspruch aus einer Prospekthaftung im engeren oder im weiteren Sinn ergibt. Es erörterte – soweit ersichtlich – nie weiter, ob die Gründe, mit denen es ursprünglich die Anwendbarkeit der kurzen Verjährungsfrist begründet hatte (Beweisschwierigkeiten und Rechtssicherheit), in bestimmten Konstellationen auch für den haftenden Vertragspartner zutreffen könnten. Soweit in den jeweils vorhergehenden Entscheidungen der Berufungsgerichte oder in den Revisionsbegründungen eine Anwendbarkeit der kurzen Verjährungsfrist damit begründet wurde, dass keine persönlichen Verhandlungen stattgefunden hätten und kein persönliches Vertrauen in Anspruch genommen worden sei, weist der Bundesgerichtshof solches Vorbringen mit dem Argument zurück, dass sich der Vertragspartner Verschulden von Vertretern und Verhandlungsgehilfen gemäß

__________ 32 Vgl. BGHZ 83, 222, 227. 33 Vgl. BGHZ 83, 222 und BGHZ 71, 284, 285 (in beiden Rechtsstreiten ging es um Klagen von Kommanditisten derselben KG wegen desselben Fehlverhaltens der Beklagten). 34 Vgl. z. B. BGH, NJW 1985, 380; BGH, NJW-RR 1991, 804; BGH, NJW-RR 2002, 915; BGH, DStR 2003, 1494; BGH, WM 2003, 1086; BGH, WM 2003, 1718.

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§ 278 BGB zurechnen lassen müsse und es daher auf persönliches Vertrauen nicht ankomme.35 Diese Argumentation erscheint nicht konsequent. Offenbar verkennt das Gericht, dass es gar nicht darum geht, ob ein Haftungsanspruch aus culpa in contrahendo überhaupt besteht – was in den entschiedenen Fällen ja außer Frage steht –, sondern vielmehr darum, ob sich der haftende Vertragspartner ausnahmsweise auf die kurze Verjährungsfrist berufen kann, obwohl er nach den allgemeinen Grundsätzen der culpa in contrahendo haftet. Da sich ein Vertragspartner, der keine persönlichen Verhandlungen geführt und kein persönliches Vertrauen in Anspruch genommen hat, in einer ähnlichen Situation befindet wie der Initiator, Gründer oder Gestalter einer Fondsgesellschaft, wäre angemessen, in solchen Fällen ebenfalls die kurze Verjährungsfrist heranzuziehen. Andernfalls hinge es von bloßen Zufälligkeiten der jeweiligen Fondskonzeption ab, welche Verjährungsfrist eingreift. Etwa könnte der Haftende durch Einschaltung einer Tochtergesellschaft seine Vertragspartnerstellung und damit die Geltung der langen Verjährungsfrist verhindern, da er in diesem Fall als Dritter – sofern er kein persönliches Vertrauen in Anspruch genommen hat – nur nach den Grundsätzen der Prospekthaftung im engeren Sinne haften würde. Auch wenn es aufgrund der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aktuell wenig wahrscheinlich erscheint, dass er kurzfristig seine Ansicht in Bezug auf die Verjährung von Prospekthaftungsansprüchen von Vertragspartnern ändert, erscheint dies im Hinblick auf die dargelegten Überlegungen zumindest als diskussionswürdig.

III. Zusammenfassung Die kurze Verjährungsfrist gilt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nur bei Prospekthaftungsansprüchen im engeren Sinne. Haftet ein Prospektverantwortlicher daneben aus Prospekthaftung im weiteren Sinne, d. h. nach den allgemeinen Grundsätzen der culpa in contrahendo, so kann er sich nicht auf die kurze Verjährungsfrist berufen. Es gelten dann die allgemeinen Verjährungsregeln des BGB. Dies gilt vor allem für solche Personen, die Vertragspartner der Anleger werden. Wer Vertragspartner wird, hängt von der speziellen Fondskonzeption ab und muss im Einzelfall geprüft werden. In Betracht kommen beispielsweise die Gesellschafter, die zum Zeitpunkt des Beitritts der Anleger schon Gesellschafter der Fondsgesellschaft waren, insbesondere die Gründungsgesellschafter (sofern die Anleger als direkte Gesellschafter dem Fonds beitreten) oder Treuhandkommanditisten (sofern die Anleger einen Treuhandvertrag schließen). Hat jemand die Position eines Vertragspartners inne, so ist es unerheblich, ob er selbst in persönlichen Kontakt mit den Anlegern getreten ist oder ob die

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35 Vgl. z. B. BGH, WM 1985, 533; BGH, NJW-RR 1991, 804.

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Verträge durch einen Vertreter (z. B. den Komplementär) abgeschlossen wurden. Denn im Falle einer Vertretung wird dem jeweiligen Vertragspartner das Verschulden des Vertreters über § 278 BGB zugerechnet. Ausnahmen lässt der BGH hier nur für Anlegerkommanditisten zu, die vor dem Beitritt weiterer Anleger bereits Gesellschafter waren. Neben dem Vertragspartner haftet nach den allgemeinen Grundsätzen der culpa in contrahendo auch ein Dritter, der an den Vertragsverhandlungen beteiligt war und hierbei persönliches Vertrauen der Anleger in Anspruch genommen hat. Nach den Grundsätzen der Prospekthaftung im engeren Sinne haftet ein Dritter nur dann, wenn es an einer Inanspruchnahme persönlichen Vertrauens fehlt. Letztlich können sich also nur solche Personen auf die kurze Verjährungsfrist berufen, die weder Vertragspartner sind noch persönliches Vertrauen in Anspruch genommen haben. Für die Prospekthaftung im weiteren Sinne gelten die allgemeinen Verjährungsvorschriften des BGB. Dabei gilt für Ansprüche, die vor dem 1.1.2002 entstanden sind, die Überleitungsvorschrift des Art. 229 § 6 EGBGB, nach welcher grundsätzlich das neue Verjährungsrecht anwendbar ist. Nach dem reinen Wortlaut dieser Überleitungsvorschrift würden alle Prospekthaftungsansprüche im weiteren Sinne, die vor dem 1.1.2002 entstanden sind, zum 31.12.2004 verjähren. Sie ist jedoch so zu verstehen, dass zum 31.12.2004 nur solche Ansprüche verjähren, bei denen der Anspruchsgläubiger – der geschädigte Anleger – Kenntnis (bzw. grobfahrlässige Unkenntnis) von den anspruchsbegründenden Umständen hatte. Erlangt er die Kenntnis erst später, so tritt die Verjährung drei Jahre nach dem Zeitpunkt der Kenntniserlangung ein, spätestens aber 10 Jahre nach dem 1.1.2002, also am 31.12.2011 (§ 199 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BGB n. F. i. V. m. Art. 229 § 6 Abs. 4 Satz 1 EGBGB).

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Beratungsverträge mit Aufsichtsratsmitgliedern – Grundlage und Grenzen einer analogen Anwendung von § 114 AktG Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Grundlagen für eine extensive Anwendung des § 114 AktG 1. Entstehungsgeschichte 2. Schutzzweck des § 114 AktG 3. Unabhängigkeit als generelles Telos des § 114 AktG? III. Anwendung des § 114 AktG auf Beratungsverträge mit Vorstandsmitgliedern

IV. Beratungsverträge im Konzern 1. Beratungsvertrag mit beherrschendem Aktionär 2. Beratungsverträge mit beherrschenden Aktionären im Falle der Personalunion V. Reichweite der Zustimmungspflichtigkeit: Beratungen aus der Privatsphäre? VI. Ergebnis

I. Einleitung Verträge von Aufsichtsratsmitgliedern mit ihrer AG, aber ebenso mit Vorstandsmitgliedern oder Aktionären der AG sorgen immer wieder für rechtliche Unsicherheiten. Seitdem der II. Zivilsenat des BGH die zentralen Bestimmungen der §§ 113, 114 AktG extensiv auslegt1, mehren sich gerade für die rechtsberatende Praxis die Probleme, insbesondere wenn Freiberufler wie Rechtsanwälte, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer im Aufsichtsrat einer AG vertreten sind, gleichzeitig aber ihre Sozietät oder sie selbst im Umfeld der AG beratend tätig werden. Aber auch die konzernweite Erstreckung des § 114 AktG und seine Grenzen rücken immer mehr in den Blickpunkt2, zumal gerade große Anwaltssozietäten oftmals Tochter- oder Enkelgesellschaften im Gefüge großer multinationaler Konzerne beraten. Dieses Thema dürfte daher gerade auf das Interesse des hoch geschätzten Jubilars stoßen, der wie kein anderer Theorie und Praxis der Wirtschaftsberatung in zahlreichen Rechtsfeldern verkörpert.

__________ 1 BGH, NJW-RR 2007, 1483, 1485 = ZIP 2007, 1056, 1058; BGHZ 170, 60 = NJW 2007, 298 = ZIP 2007, 22; BGHZ 168, 188, 192 ff. = ZIP 2006, 1529, 1531 f. – IFA mit zust. Anm. Spindler/Kaulich WuB II A. § 114 AktG 2.06. 2 S. jüngst Hoffmann-Becking in FS K. Schmidt, 2009, S. 657; 664 ff.; Lutter in FS Westermann, 2008, S. 1171.

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II. Grundlagen für eine extensive Anwendung des § 114 AktG Eine unmittelbare Anwendung des § 114 AktG auf die Fälle, in denen ein Aufsichtsratsmitglied nicht selbst, sondern seine Gesellschaft den Beratungsvertrag abschließt, scheidet vom Wortlaut her aus, da die Norm nur Verträge zwischen dem Aufsichtsratsmitglied und seiner AG erfasst. Damit fallen aber auch andere Konstellationen, wie der Abschluss eines Beratungsvertrages mit einer Tochtergesellschaft oder anderen Gesellschaften im Konzern, von vornherein aus dem Wortlaut des § 114 AktG heraus, ebenso wie etwa die persönliche Beratung eines Vorstandsmitglieds. Dennoch liegt in all’ diesen Fällen die Frage nach einem Schutz vor Umgehungen nahe, da die wirtschaftlichen Ergebnisse oftmals denjenigen eines direkten Vertrages entsprechen können. Eine Unwirksamkeit mangels vorheriger Zustimmung durch den Aufsichtsrat kann nur im Wege einer Analogie oder einer teleologischen Extension begründet werden. Eine Analogie setzt aber eine planwidrige Lücke voraus, so dass sowohl die Entstehungsgeschichte als auch die ratio legis einschließlich des systematischen Zusammenhangs mit anderen Vorschriften näher zu beleuchten sind3. 1. Entstehungsgeschichte § 114 AktG in seiner heutigen Form entstammt der Aktienrechtsreform 1965 und hatte keine Vorbilder im AktG 1937. Er wurde erst im Zuge der Beratungen in den Ausschüssen im Bundestag eingefügt, nachdem der Regierungsentwurf lediglich die heutigen §§ 113 und 115 AktG enthielt. Der federführende Rechtsausschuss befasste sich in seinen Beratungen allerdings fast ausschließlich mit den zu erfassenden Verträgen4. § 114 AktG geht letztlich auf eine Anregung des Ausschusses für Arbeit zurück, wobei im Wesentlichen Arbeitsverträge aus dem Anwendungsbereich ausgeschlossen werden sollten. So schlug der Ausschuss für Arbeit vor: „(1) Ein Dienst- oder Werkvertrag, durch den sich ein Aufsichtsratsmitglied außerhalb seiner Tätigkeit im Aufsichtsrat gegenüber der Gesellschaft zu einer selbständigen Arbeit höherer Art für die Gesellschaft verpflichtet, wird nur mit Zustimmung des Aufsichtsrats wirksam“5.

Der Entstehungsgeschichte des § 114 AktG allein lassen sich daher weder Anhaltspunkte für eine ausdehnende noch für eine abschließende Interpretation des § 114 AktG gewinnen. Weder sah der Gesetzgeber vor, dass § 114 AktG andere Fallgestaltungen von vornherein nicht erfassen sollte, noch kann der Entstehungsgeschichte unterstellt werden, dass Umgehungsversuche von vornherein erfasst werden sollten. Es kann daher auch nicht davon ausgegangen werden, dass eine Beschränkung auf die Tatbestandsvoraussetzungen des § 114 AktG verwunderlich wäre, da der Gesetzgeber damit auf einen Umgehungs-

__________ 3 S. auch Hoffmann-Becking in FS K. Schmidt (Fn. 2), S. 657, 659 f. 4 Begr. Ausschuß bei Kropff, AktG 1965, S. 158 f. 5 Begr. Ausschuß bei Kropff (Fn. 4), S. 158.

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schutz verzichtet hätte6; eine solche Beschränkung kann vielmehr durchaus gewollt sein, etwa aufgrund von Nachweisproblemen oder Rechtsunsicherheiten. Zwar ist es richtig, dass dem Gesetzgeber nur in Ausnahmefällen ein Absehen von einem Umgehungsschutz unterstellt werden kann7; doch kann gerade diese Frage, ob § 114 AktG abschließend ist, erst im Verhältnis zu § 115 AktG geklärt werden. Denn der Vergleich mit § 115 AktG sowie § 89 AktG zeigt, dass der Gesetzgeber sehr wohl verschiedenste Tatbestände einer möglichen Interessenverflechtung aufgenommen hat. Auch die Beratungen zu § 114 AktG zeigen, dass der Gesetzgeber zumindest auch an §§ 89, 115 AktG als Vorbild gedacht hatte8. Auf den ersten Blick wäre etwa wenig einsichtig, warum § 115 Abs. 2, 3 AktG einen recht umfassenden Schutz vor Umgehungen enthalten, § 114 AktG dagegen nicht, ohne dass Rückschlüsse auf die Reichweite des Umgehungsschutzes gezogen werden könnten. Daher ist es nachvollziehbar, dass verschiedentlich § 114 AktG für abschließend gehalten wird9. Doch kann andererseits der ausführlichen Regelungstechnik des § 115 AktG zum einen und der eher spärlichen Festlegung in § 114 AktG zum anderen nicht entnommen werden, dass § 114 AktG abschließend wäre; dies gibt der erst nachträglich eingefügte § 114 AktG nicht her, da sich den Beratungen Anhaltspunkte weder für einen abschließenden Tatbestand10 noch für einen nur exemplarischen Tatbestand entnehmen lassen. Aus der Tatsache, dass § 114 AktG erst später in das Gesetz eingefügt wurde, kann auch nicht geschlossen werden, dass es sich praktisch um einen Ausschnitt aus einem übergeordneten Komplex handele11. Zwar hat der BGH ausdrücklich eine Sperrwirkung des § 115 AktG gegenüber § 114 AktG abgelehnt12. Doch darf nicht verkannt werden, dass der Gesetzgeber keineswegs eine vollständige Unabhängigkeit des Aufsichtsratsmitglieds postuliert hat, wie es sich etwa aus den punktuellen Verboten der Unvereinbarkeit der Mitgliedschaft im Aufsichtsrat mit derjenigen im geschäftsleitenden Organ einer Tochtergesellschaft, § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AktG, oder anderen Normen zur Überkreuzverflechtung (§ 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AktG) oder Doppelmitgliedschaft (§ 105 Abs. 1 AktG) ergibt13. 2. Schutzzweck des § 114 AktG Angesichts der nicht eindeutigen Entstehungsgeschichte muss daher entscheidend für alle Überlegungen sein, welchen Schutzzweck § 114 AktG verfolgt.

__________ 6 7 8 9 10 11 12 13

In diese Richtung aber Lutter in FS Westermann (Fn. 2), S. 1171, 1179. Darauf stellt für § 114 AktG BGHZ 168, 188, 194 = ZIP 2006, 1529, 1531 – IFA ab. Begr. Ausschuß bei Kropff (Fn. 4), S. 159, dort erwähnt für die Rechtsfolgen. Mertens in KölnKomm.AktG, 2. Aufl. 1995, § 114 AktG Rz. 8 f.; ders. in FS Steindorff, 1990, S. 173, 186; s. auch Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 114 AktG Rz. 2. In diese Richtung Oppenhoff in FS Barz, 1974, S. 283, 285; Hopt/Roth in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2005, § 114 AktG Rz. 40; Kropff in Semler/v. Schenck (Hrsg.), Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 3. Aufl. 2009, § 8 Rz. 145. In diese Richtung eher Lutter in FS Westermann (Fn. 2), S. 1171, 1179. BGHZ 168, 188, 193 f. = ZIP 2006, 1529, 1531 – IFA; bestätigt in BGHZ 170, 60, 62 = ZIP 2007, 22 = NJW 2007, 298. Darauf weist zutr. Hoffmann-Becking in FS K. Schmidt (Fn. 2), S. 657, 661 f. hin.

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Dabei soll die methodische Frage, ob es sich um eine „teleologische Extension“ oder „erweiternde Anwendung“ des Wortlauts14 oder um eine echte Analogie handelt, hier nicht näher erörtert werden15. Angemerkt sei lediglich, dass die Grenzen des Wortlauts bei einem derartig extensiven Verständnis zunehmend verschwimmen und die Basis für eine Analogie zugunsten einer weit gefassten Ratio des Gesetzes und eines weit gefassten Umgehungsschutzes aus dem Blick gerät16. Letztlich ist es aber für die Entscheidung unerheblich, ob der Weg einer Analogie zu § 114 AktG oder einer teleologischen Extension des § 114 AktG gewählt wird, da es stets um die gleiche Sachfrage, nämlich der Ausdehnung des Anwendungsbereichs auf Verträge mit Vorstandsmitgliedern, geht. Der Rechtsausschuss des Bundestages sah als Zweck des § 114 AktG die Verhinderung von „sachlich ungerechtfertigten Sonderleistungen der Gesellschaft an einzelne Aufsichtsratsmitglieder und damit eine unsachliche Beeinflussung eines Aufsichtsratsmitglieds im Sinne des Vorstandes“17.

Dementsprechend interpretiert der BGH auch den Regelungszweck des § 114 AktG als flankierende Norm zu § 113 AktG, um Umgehungen zu erschweren und Beeinflussungen des Aufsichtsratsmitglieds bereits im Vorfeld zu unterbinden18. Der II. Zivilsenat betont in einer seiner ersten grundlegenden Entscheidungen zu § 114 AktG nochmals, dass Beraterbeziehungen zwischen dem Vorstand und einzelnen Aufsichtsratsmitgliedern „auch außerhalb der Gewährung rechtswidriger Sondervorteile zu engen Beziehungen und Verflechtungen (…) (führen), die Einfluss auf die Ausübung der Überwachungstätigkeit haben können“19.

Diese Sichtweise des Schutzzwecks wird in zwei weiteren Entscheidungen des BGH ausdrücklich bekräftigt, wenn es etwa heißt, „der von §§ 113, 114 AktG verfolgte Zweck (ist), die unabhängige Wahrnehmung der organschaftlichen Überwachungstätigkeit eines Aufsichtsratsmitglieds zu gewährleisten“20.

Ferner solle § 114 AktG verhindern, „dass der Vorstand – ohne Wissen von Hauptversammlung und Aufsichtsrat – auf dem Wege des Abschlusses von Beratungs- oder ähnlichen Verträgen den Aufsichtsratsmit-

__________ 14 So für § 114 AktG BGHZ 170, 60, 62 = ZIP 2007, 22 = NJW 2007, 298; OLG Frankfurt, AG 2005, 925, 926. 15 Offen gelassen explizit von BGHZ 168, 188, 194 = ZIP 2006, 1529, 1531 – IFA. 16 S. auch Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 218: große Nähe zur Analogie. 17 Begr. Ausschuss bei Kropff (Fn. 4), S. 158. 18 So explizit etwa BGHZ 168, 188, 193 = ZIP 2006, 1529, 1541 – IFA. 19 BGHZ 126, 340, 347 = NJW 1994, 2484. 20 BGHZ 170, 60 = ZIP 2007, 22 = NJW 2007, 298 Leitsatz Nr. 2; s. auch BGH, ZIP 2007, 1056, 1058 = NJW-RR 2007, 1483, 1485; zuvor BGHZ 168, 188, 192 f. = ZIP 2006, 1529, 1531 – IFA; ebenso aus der jüngsten Literatur Lutter in FS Westermann (Fn. 2), S. 1171, 1173.

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Beratungsverträge mit Aufsichtsratsmitgliedern gliedern Sondervorteile zuwendet, die zu einer Gefährdung der unabhängigen Wahrnehmung der organschaftlichen Pflichten des Empfängers führen können“21.

Selbst wenn die Leistungen durch einen Dritten erbracht werden, an dem das Aufsichtsratsmitglied noch nicht einmal maßgeblich beteiligt sein muss, soll § 114 AktG wegen der bereits ausreichenden mittelbaren Einflussnahme des Vorstandes auf die unabhängige Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats zur Anwendung gelangen22. Demgemäß kann der Schutzzweck des § 114 AktG in dreifacher Weise umrissen werden23: – Die Gewährleistung der Unabhängigkeit des Aufsichtsrats gegenüber dem Vorstand (nicht allgemein) bei Wahrnehmung seiner organschaftlichen Pflichten – Die Sicherung der Kompetenzen der Hauptversammlung hinsichtlich der Bestimmung der Vergütung für den Aufsichtsrat – Die Vermeidung von Interessenkonflikten zwischen den Organen Ob darüber hinaus die Verhinderung einer „Selbstbedienung der Aufsichtsratsmitglieder“24 oder ein „Schutz vor Korruption“25 dem § 114 AktG inne wohnt, wie es die Rechtsprechung teilweise formuliert hat, erscheint zweifelhaft; denn im Kern geht es um die Sicherung der Kompetenz der Hauptversammlung und die Abgrenzung der Organe untereinander. Der Schutz vor einer „Selbstbedienung“ der Aufsichtsratsmitglieder ist hingegen nur Ausfluss dieser Grundsätze. Keine Rolle spielt es dagegen, ob § 114 AktG auch das Vermögen der Gesellschaft schützen will26, da im Vordergrund die Sicherung der Unabhängigkeit des Aufsichtsratsmitglieds steht, die nicht von einer entsprechenden Minderung des Gesellschaftsvermögens abhängt27. Schon der Wortlaut des § 114 AktG stellt für die Frage der Genehmigungspflichtigkeit nicht darauf ab, ob der Gesellschaft ein Schaden entstanden ist oder Vergütungen gezahlt wurden. 3. Unabhängigkeit als generelles Telos des § 114 AktG? Daneben wäre denkbar, dass die Empfehlungen der EU-Kommission vom 15.2.2005 zu den Aufgaben von nicht geschäftsführenden Direktoren/Aufsichts-

__________ 21 BGHZ 170, 60, 63 f. = ZIP 2007, 22, 23 = NJW 2007, 298, 298 f. 22 BGHZ 170, 60, 64 = ZIP 2007, 22, 23 = NJW 2007, 298, 299. 23 Hoffmann-Becking in FS K. Schmidt (Fn. 2), S. 657, 662 f.; Lutter in FS Westermann (Fn. 2), S. 1171, 1172 f. m. w. N.; E. Vetter, AG 2006, 173, 174 ff.; ders., ZIP 2008, 1, 6; Semler, NZG 2007, 881, 886 f. 24 BGHZ 168, 188, 192 = ZIP 2006, 1529, 1531 – IFA. 25 OLG Frankfurt, ZIP 2005, 2322, 2323. 26 So KG, AG 1997, 42, 44 (BGH Nichtannahmebeschluss 26.9.1996 – II ZR 266/95). 27 BGHZ 126, 340, 347 f. = NJW 1994, 2484, 1486; BGHZ 168, 188, 192 f. = ZIP 2006, 1529, 1531 – IFA; OLG Frankfurt, ZIP 2005, 2322, 2323; s. ferner Hopt/Roth in Großkomm.AktG (Fn. 10), § 114 AktG Rz. 4 f.; Habersack in MünchKomm.AktG, 3. Aufl. 2008, § 114 AktG Rz. 2.

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ratsmitgliedern börsennotierter Gesellschaften sowie zu den Ausschüssen des Verwaltungs-/Aufsichtsrats28 einen weiteren Hinweis darauf geben, dass § 114 AktG in einem ausdehnenden Sinne zu verstehen ist. Nach Ziff. 13.1. ist dabei ein Mitglied unabhängig, wenn es in keiner geschäftlichen, familiären oder sonstigen Beziehung zu der Gesellschaft, ihrem Mehrheitsaktionär oder deren Geschäftsführung steht, die einen Interessenkonflikt begründet. In ähnlicher Weise verlangt Ziff. 5.4.2 des DCGK, dem Aufsichtsrat soll eine „nach … seiner Einschätzung ausreichende Zahl unabhängiger Mitglieder angehören“. Konkretisiert wird die Unabhängigkeit in Ziff. 5.4.2. Satz 2 DCGK dahingehend, dass das Aufsichtsratsmitglied nicht in einer geschäftlichen oder persönlichen Beziehung zur Gesellschaft oder deren Vorstand stehen darf, um keinen Interessenkonflikt zu begründen; damit wäre auch jede besondere Vergütung davon erfasst, Beratungsverträge würden somit die Unabhängigkeit gefährden. Eine Unabhängigkeit jedes Mitglieds des Aufsichtsrats wird jedoch keineswegs verlangt. Ebenso wenig konkretisiert die Empfehlung die Frage, wann geschäftliche und persönliche Beziehungen vorliegen, ob dies etwa auch bei Beziehungen zu Tochterunternehmen der Fall ist. Indes haben solchen Empfehlungen selbst im Hinblick auf die Umsetzung europarechtlicher Akte nur einen weitgehend unverbindlichen Charakter. Zwar misst der EuGH ihnen einen gewissen Stellenwert bei der Auslegung bei, sofern es sich um die Umsetzung von Gemeinschaftsrecht handelt29. Doch ändert dies nichts daran, dass gerade zur Unabhängigkeit der Aufsichtsratsmitglieder bislang keine konkreten Vorgaben des Europarechts zu verzeichnen sind; zudem besagt die Heranziehung der Empfehlungen noch nichts darüber, ob sie allein maßgeblich für die Auslegung einer Norm sind. Schließlich und ausschlaggebend muss jedoch sein, dass die Empfehlungen sich auf eine gewisse Zahl unabhängiger Aufsichtsratsmitglieder beziehen – keineswegs jedoch muss jedes Aufsichtsratsmitglied unabhängig sein. Zudem ist die Empfehlung auf die angelsächsischen Board-Verfassungen zugeschnitten, die gerade durch eine Dominanz der geschäftsführenden directors gekennzeichnet sind, die mit dem Mehrheitsaktionär in Personalunion stehen können; die Unabhängigkeit von outside directors bzw. audit committees steht hier gerade im Vordergrund, wesentlich mehr als beim deutschen Aufsichtsrat, der von vornherein eine unabhängigere Stellung im Corporate Governance System genießt. Schließlich wirft die EU-Empfehlung gerade im Verhältnis zu Mehrheitsaktionären und Konzernstrukturen etliche ungelöste Probleme auf30, die gerade für die hier skizzierten Fälle entscheidend sein können; denn die EU-Empfehlung (Anhang II Nr. 1 Satz 4 c)) sieht auch diejenigen Aufsichtsratsmitglieder als abhängig an, die in verbundenen Gesellschaften tätig sind, was aber die Möglichkeit der Konzernleitung erheblich einschränken würde.

__________ 28 ABl. Nr. L 52 v. 15.2.2005, S. 51 ff.; eingehend dazu Spindler, ZIP 2005, 2033 ff.; Hüffer, ZIP 2006, 637 ff. 29 EuGH, Rs. C-322/88, Slg. 1989, 4407 Rz. 18. 30 Kremer in Ringleb/Kremer/Lutter/v.Werder, DCGK Kommentar 3. Aufl. 2008, Rz. 1031; Spindler, ZIP 2005, 2033 ff.; s. auch Habersack, ZHR 168 (2004), 373, 377.

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Für das deutsche Recht ist schließlich – wie bereits dargelegt31 – darauf hinzuweisen, dass es keineswegs eine breitflächige Unabhängigkeitsnorm für Aufsichtsratsmitglieder kennt. Vielmehr akzeptiert das Gesetz gerade das Aufsichtsratsmandat als Nebenamt und bis zu einem gewissen Grad auch mögliche Interessenkollisionen32. Daher kann § 114 AktG kaum im Lichte eines solchen Unabhängigkeitspostulats interpretiert werden33, sondern nur im Verhältnis gerade zu dem zu überwachenden Organ, sprich dem Vorstand34.

III. Anwendung des § 114 AktG auf Beratungsverträge mit Vorstandsmitgliedern Zunächst ist fraglich, ob § 114 AktG über seinen Wortlaut hinaus auch Verträge eines Aufsichtsratsmitglieds mit einem einzelnen Vorstandsmitglied erfasst. § 114 AktG selbst regelt nur – wie dargelegt – Verträge mit der Gesellschaft selbst. Der Zweck des § 114 AktG aber, möglichst eine Beeinflussung des Aufsichtsratsmitglieds durch den Vorstand infolge von Zahlungen über die Vergütung nach § 113 AktG hinaus zu verhindern, legt es nahe, auch Verträge zu erfassen, die unmittelbar zwischen einem Vorstandsmitglied und einem Aufsichtsratsmitglied geschlossen werden. Die Gefahr der Interessenverflechtung ist hier nicht geringer, als wenn die AG selbst den Beratungsvertrag mit dem Aufsichtsratsmitglied schlösse35, zumal die Verträge nicht in toto untersagt würden, sondern allein der vorherigen Zustimmung durch den Aufsichtsrat unterlägen. Ferner kann allein der Umstand, dass nicht der gesamte Vorstand (bzw. die Gesellschaft) einen Vertrag mit dem Aufsichtsratsmitglied schließt, nicht zu einer anderen Bewertung führen: Zwar bezieht sich die Überwachung auf das gesamte Organ „Vorstand“, also nicht nur auf ein einzelnes Vorstandsmitglied; doch muss die unabhängige Überwachungstätigkeit im Hinblick auf jedes Vorstandsmitglied gewährleistet sein, eine auch nur selektive Interessenverflechtung ist bereits hierfür schädlich. Eine auch nur gegenüber einem Vorstandsmitglied interessengeleitete mangelhafte Überwachung führt zu einer Vernachlässigung der Überwachung des gesamten Vorstandes. Auch der II. Zivilsenat sieht im Wesentlichen in der Vorbeugung gegen die Gefahren solcher Interessenkollision den Zweck des § 114 AktG36. Da zudem die abstrakte Gefahr genügt, ohne dass konkret die Einflussnahme nachgewiesen werden muss37, kommt es vorliegend auch nicht darauf an, ob das Auf-

__________

31 S. oben S. 435, Fn. 13. 32 S. Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 5. Aufl. 2008, Rz. 394; E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 2. Aufl. 2009, § 29 Rz. 26. 33 Insoweit überzeugend Hoffmann-Becking in FS K. Schmidt (Fn. 2), S. 657, 663 ff. 34 E. Vetter, ZIP 2008, 1, 6. 35 Säcker, AG 2004, 180, 183; Habersack in MünchKomm.AktG (Fn. 27), § 114 AktG Rz. 18; anders wohl Hoffmann-Becking in FS K. Schmidt (Fn. 2), S. 657, 668 f. 36 BGHZ 126, 340, 347 = NJW 1994, 2484, 2486. 37 BGHZ 170, 60, 63 = ZIP 2007, 22 = NJW 2007, 298; BGHZ 168, 188, 193 = ZIP 2006, 1529, 1531 – IFA; s. auch schon die Ausführungen in BGHZ 126, 340, 347 f. = NJW 1994, 2484, 2486; E. Vetter, AG 2006, 173, 177, je m. w. N.

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sichtsratsmitglied tatsächlich in seiner Überwachungstätigkeit beeinflusst wurde. Damit unterfallen auch Verträge zwischen einzelnen Aufsichtsratsund Vorstandsmitgliedern der Zustimmungspflicht nach § 114 AktG.

IV. Beratungsverträge im Konzern 1. Beratungsvertrag mit beherrschendem Aktionär Häufig werden aber auch Beratungsverträge mit beherrschenden Aktionären geschlossen, etwa wenn ein Rechtsanwalt dauerhaft einen solchen Aktionär im Rahmen seiner Beteiligungsverwaltung und -steuerung berät. Ebenso findet sich die Konstellation, dass nicht der Aktionär, sondern der Geschäftsführer oder wiederum beherrschende Gesellschafter der Aktionärin (bei juristischen Personen) beraten werden. Für Beratungsverträge des Aufsichtsratsmitglieds mit beherrschenden Aktionären besteht nach h. M. kein Zustimmungserfordernis des Aufsichtsrats nach § 114 AktG38: Denn die Gefahr, dass das Aufsichtsratsmitglied durch den Vorstand beeinflusst und seine Überwachungsfunktion beeinträchtigt werde, bestehe hier gerade nicht. Diese Sichtweise ist durchaus konsequent, da der Schutzzweck des § 114 AktG – die Sicherung der unabhängigen Überwachung des Vorstands – in diesem Fall nicht mehr verfängt. Denn wenn der Aufsichtsrat bzw. das Aufsichtsratsmitglied vom Willen des beherrschenden Aktionärs abhängig ist, dieser mittelbar aber auch den Vorstand kontrolliert, bestünde kein Grund mehr, zusätzlich die Unabhängigkeit des Aufsichtsrats zu sichern. Der Vorstand der abhängigen Gesellschaft hat typischerweise keinen Einfluss auf den beherrschenden Aktionär, so dass die Gefahr der Beeinflussung des Aufsichtsrats durch den Vorstand der abhängigen Gesellschaft nicht besteht. Zudem erfassen gerade die §§ 311 ff. AktG die Einflussnahme auf die abhängige Gesellschaft durch das herrschende Unternehmen (im Sinne von § 15 AktG), so dass kein Bedarf für eine analoge Anwendung des § 114 AktG besteht39. Allerdings bestehen gegen diese Sichtweise gewisse Bedenken40: Denn jedenfalls im faktischen Konzern erfüllt der Aufsichtsrat noch eine weiter als im Vertragskonzern gehende Aufgabe der Überwachung des Vorstandsgebarens hinsichtlich des Ausgleichs der Nachteile der Konzernleitung (§ 311 AktG). Hier kann es durchaus gerechtfertigt sein, § 114 AktG auch auf Verträge

__________ 38 OLG Hamburg, ZIP 2007, 814, 818; Hüffer (Fn. 9), § 114 AktG Rz. 2b; Hopt/Roth (Fn. 10), § 114 AktG Rz. 44; Bürgers/Israel in Bürgers/Körber, 2007, § 114 AktG Rz. 12; Lutter in FS Westermann (Fn. 2), S. 1171, 1185; E. Vetter, ZIP 2008, 1, 9; Semler, NZG 2007, 881, 886, allerdings zurückhaltend; Oppenhoff in FS Barz (Fn. 10), S. 283, 289. 39 v. Bünau, Beratungsverträge mit Aufsichtsratsmitgliedern im Aktienkonzern, 2004, S. 76 ff. 40 Spindler in Spindler/Stilz, 2007, § 114 AktG Rz. 7; ähnlich Habersack in MünchKomm.AktG (Fn. 27), § 114 AktG Rz. 17.

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zwischen der herrschenden Gesellschaft und dem Aufsichtsratsmitglied der abhängigen Gesellschaft anzuwenden, wie dies § 115 Abs. 1 Satz 2 AktG in der vergleichbaren Situation der Kreditgewährung durch die herrschende Gesellschaft an das Aufsichtsratsmitglied in der abhängigen Gesellschaft deutlich zeigt. Indes steht dieser Auffassung entgegen, dass damit noch keineswegs gesagt ist, wer bzw. welches Organ einem solchen Vertrag zuzustimmen hätte41; denn für den vergleichbaren Fall der Kreditgewährung an das Aufsichtsratsmitglied der abhängigen Gesellschaft trifft § 115 Abs. 1 Satz 2 AktG eindeutig nur die Anordnung, dass nicht etwa der Aufsichtsrat der abhängigen Gesellschaft zuzustimmen hätte – wie es nach § 114 AktG bzw. bei dessen analoger Anwendung naheliegen würde –, sondern derjenige der herrschenden Gesellschaft. Selbst wenn man daher § 114 AktG auf derartige Konstellationen – Beratungsverträge mit der herrschenden Gesellschaft bzw. dem herrschenden Unternehmen, das auch eine natürliche Person sein kann – ausdehnen wollte, würde es nicht der Zustimmung des Aufsichtsrats der abhängigen AG, sondern der herrschenden Gesellschaft bedürfen, im Falle der GmbH als herrschendes Unternehmen deren Einverständnis. Gerade auf der Grundlage der Auffassung, dass der Gesetzgeber sich bei § 114 AktG an § 115 AktG orientiert hat und Umgehungen verhindern wollte, muss konsequenterweise auch die weitere Struktur des § 115 AktG beachtet werden. Eine andersartige Behandlung von Kredit- und Beratungsverträgen wäre schwerlich einzusehen, auch nicht bzw. gerade nicht unter dem Gesichtspunkt der Wahrung der Unabhängigkeit des Aufsichtsrats. Warum Darlehensvergaben ein anderes Gewicht haben sollten als Beratungsverträge, wäre im Hinblick auf die Wahrung der Unabhängigkeit eines Aufsichtsratsmitglieds kaum nachvollziehbar. § 115 Abs. 1 Satz 2 AktG trifft de lege lata aber keine Differenzierungen nach den jeweiligen Konzernarten, so dass entsprechende andersartige Abstufungen je nach Konzernart im Rahmen der analogen Anwendung der §§ 114, 115 AktG auf schwerwiegende Zweifel stoßen würden. De lege ferenda sprächen zwar viele Gründe dafür, nach der jeweiligen Konzernart zu differenzieren, doch ist die Entscheidung des Gesetzgebers in § 115 Abs. 1 Satz 2 AktG, der keinerlei Unterschied zwischen den Konzernarten trifft, hinzunehmen. Dann muss aber auch im Rahmen einer analogen Anwendung für Beratungsverträge diese Grundsatzentscheidung respektiert werden, so dass für Beratungsverträge mit einem Aufsichtsratsmitglied der abhängigen Gesellschaft mit der herrschenden Gesellschaft auch in einem faktischen Konzern der Aufsichtsrat der herrschenden Gesellschaft zuständig ist, um die Zustimmung zu erteilen. Dementsprechend wird auch für den Fall, dass das Aufsichtsratsmitglied einer herrschenden Gesellschaft einen Beratervertrag mit einer abhängigen Gesellschaft schließt, die vom Vorstand der herrschenden Gesellschaft beeinflusst

__________ 41 Insofern ist meine Auffassung in Spindler/Stilz (Fn. 40), § 114 AktG Rz. 7 zu überdenken.

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werden kann, §§ 115, 89 AktG analog angewandt – und nicht etwa § 114 AktG, der auch nicht passen würde42. 2. Beratungsverträge mit beherrschenden Aktionären im Falle der Personalunion In der Praxis verbreitet sind schließlich Personalunionen zwischen den geschäftsführenden Organen der herrschenden Unternehmen mit dem Vorstand einer abhängigen AG. Auch hier ist fraglich, ob § 114 AktG trotz der Beherrschung eingreifen kann. Denn es könnte weiterhin die Gefahr bestehen, dass das Aufsichtsratsmitglied einen Interessenkonflikt „zu Lasten einer effizienten Überwachungstätigkeit“ auflöst43. Der „wirtschaftlichen Einheit“ zwischen beherrschendem Unternehmen und Vorstandsmitglied in Personalunion könnte die Stellung des Vorstandsmitglieds zugerechnet werden, so dass jegliche Beratungsverträge eines Aufsichtsratsmitglieds mit dem beherrschenden Unternehmen trotz der an sich gegebenen Unanwendbarkeit im Konzern doch der Genehmigung durch den Aufsichtsrat unterlägen. Denn mit dem Beratungsvertrag könnte die gleiche Gefahrenlage geschaffen sein, als wenn das Vorstandsmitglied (das in Personalunion geschäftsführendes Organmitglied des herrschenden Unternehmens ist) selbst die Beratungsverträge mit dem Aufsichtsratsmitglied abgeschlossen hätte. Eine unabhängige Überwachung des Vorstands der Gesellschaft könnte durch das Aufsichtsratsmitglied in dieser Fallkonstellation nicht mehr gewährleistet sein44. Für eine solche Sichtweise könnte auch die Entscheidung des BGH zu dem „spiegelverkehrten“ Fall sprechen, bei dem der Beratungsvertrag mit einem von dem Aufsichtsratsmitglied beherrschten Unternehmen abgeschlossen wird45. Diese Auffassung betrachtet aber die Beherrschung im Falle einer Personalunion quasi nur aus der Perspektive „von unten“ bzw. vom Vorstand aus, indem in den Vordergrund gestellt wird, dass das Vorstandsmitglied der abhängigen Gesellschaft gleichzeitig Organmitglied des beherrschenden Unternehmens ist und daher dessen Geschicke lenke, so dass dieser Fall der unmittelbaren Beauftragung durch das Vorstandsmitglied gleichzustellen sei. Ausgeblendet wird dabei die umgekehrte Perspektive, bei der das beherrschende Unternehmen bzw. deren Geschäftsführer dafür sorgt, dass der Vorstand und zuvor der Aufsichtsrat weitgehend nach den Vorstellungen des beherrschenden Unternehmens besetzt werden. Maßgeblich ist letztlich, ob die Stellung als beherrschender Aktionär oder diejenige als Vorstandsmitglied bei der Anwendung der §§ 114, 115 AktG entscheidend ist. Lenkt man den Blick auf § 115 AktG, so hat der Gesetzgeber hier offensichtlich die Zustimmung durch den Aufsichtsrat der herrschenden Gesellschaft im Blick gehabt, da der Ge-

__________ 42 Hopt/Roth in Großkomm.AktG (Fn. 10), § 114 AktG Rz. 40; auch Habersack in MünchKomm.AktG (Fn. 27), § 114 AktG Rz. 17 geht von einer Analogie zu § 115 Abs. 1 Satz 2 AktG aus. 43 v. Bünau (Fn. 39), 2004, S. 113 f., 128 f. 44 E. Vetter, ZIP 2008, 1, 9 unter Verweis auf OLG Hamburg, ZIP 2007, 814, 818. 45 BGHZ 168, 188 = ZIP 2006, 1529, 1532 – IFA.

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setzgeber grundsätzlich die Situation der Darlehensvergabe im Konzern berücksichtigte. Der Umstand der Personalunion und der Doppelmandate im Konzern, die auch schon zu Zeiten des AktG 1965 bekannt waren, haben offenbar nicht dazu geführt, dass der Gesetzgeber hier Restriktionen zugunsten des Aufsichtsrats der abhängigen Gesellschaft eingeführt hätte46. Andererseits trifft § 115 Abs. 1 AktG auch keine Aussage für den Fall einer Personalunion zwischen herrschendem Unternehmen und Vorstandsmandat, insbesondere ob dann sowohl § 115 Abs. 1 Satz 1 AktG als auch § 115 Abs. 1 Satz 2 AktG anwendbar wären oder allein § 115 Abs. 1 Satz 2 AktG. Ohne Personalunion ist die Anwendung etwa bei Kreditverträgen des § 115 Abs. 1 Satz 2 AktG auf der Grundlage der h. M. weitgehend unstreitig, was auch im Fall von § 114 AktG zu beachten wäre. Die entscheidende Frage lautet demnach, ob die Personalunion eine andere Wertung rechtfertigt, mithin etwa auch bei Kreditverträgen gleichzeitig § 115 Abs. 1 Satz 1 AktG wie auch § 115 Abs. 1 Satz 2 AktG zur Anwendung gelängen, also eine zusätzliche Sicherung erforderlich wäre. Dies könnte nur dann der Fall sein, wenn die Belange von Gläubigern, Minderheitsaktionären und anderen Interessengruppen durch die Personalunion und den Beratungsvertrag intensiver gefährdet wären als ohne eine derartige Verflechtung zwischen beherrschendem Aktionär und Vorstand. Ausgeschieden werden kann zunächst die Sicherung der Kompetenz der Hauptversammlung zur Vergütungsbestimmung nach § 113 AktG: Zwar flankiert § 114 AktG die Kompetenzregelung des § 113 AktG, doch erfolgt die Sicherung der Kompetenzen der Hauptversammlung primär über die tatbestandliche Abgrenzung, da letztlich jeglicher Vertrag der Hauptversammlung vorgelegt werden müsste und nicht allein die Offenlegung im Aufsichtsrat genügen würde. Außerdem wäre wiederum nicht nachvollziehbar, warum bei einem Vertrag zwischen herrschendem Unternehmen und Aufsichtsratsmitglied die Kompetenz der Hauptversammlung zur Entscheidung über die Vergütung nicht berührt sein sollte. Schließlich darf nicht übersehen werden, dass hinsichtlich der Kompetenzwahrung auch zu berücksichtigen ist, dass die Vergütung nicht aus den Mitteln der Gesellschaft stammt, sondern denjenigen des herrschenden Unternehmens bzw. des Vorstandsmitglieds im Fall der Personalunion. Entscheidend kann daher nur der Gesichtspunkt sein, ob die Unabhängigkeit des Aufsichtsrats in der Wahrnehmung der Organaufgaben, insbesondere der Überwachung, bei einer Konstellation von herrschendem Unternehmen und Vorstandsmitglied in Personalunion im Vergleich zur „reinen“ Beherrschung ungleich größer gefährdet ist und sich somit eine gleichzeitige Zustimmung vom (Aufsichtsrat des) herrschenden Unternehmen(s) in analoger Anwendung von § 115 Abs. 1 Satz 2 AktG sowie des Aufsichtsrats der abhängigen Gesell-

__________ 46 Aus jüngerer Zeit allgemein zur Zulässigkeit der Vorstandsdoppelmandate Kort, ZIP 2008, 717, 719; Anders, Vorstandsdoppelmandate – Zulässigkeit und Pflichtenkollision, 2006, S. 82 ff.

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schaft nach §§ 114, 115 Abs. 1 Satz 1 AktG rechtfertigen lässt. Zwar ist nicht zu leugnen, dass die Beeinflussung der abhängigen Gesellschaft größer ist, wenn der beherrschende Aktionär gleichzeitig auch noch in deren Vorstand vertreten ist, gar Vorstandsvorsitzender ist. Doch nimmt das Gesetz diesen Zustand offenbar hin, auch wenn dies rechtspolitisch nach hier vertretener Auffassung nicht wünschenswert erscheint. Lässt man zu, dass das beherrschende Unternehmen den Aufsichtsrat weitgehend nach seinen Vorstellungen besetzt, was Kernelement der faktischen Beherrschung ist, fragt sich, worin der Sinn einer weiteren Sicherung der Unabhängigkeit des Aufsichtsrats bestehen sollte – jedenfalls auf dem Boden der h. M. zur Zulässigkeit von Beratungsverträgen zwischen herrschendem Unternehmen und Aufsichtsratsmitglied der abhängigen Gesellschaft. Allein die unabhängige Kontrolle, dass der Vorstand der abhängigen Gesellschaft die Grenzen der §§ 311 ff. AktG einhält, was zu den Aufgaben des Aufsichtsrats auch im faktischen Konzern unzweifelhaft gehört47, kann nicht dafür ins Feld geführt werden: Denn diese Gefahr besteht gleichermaßen dann, wenn „nur“ das herrschende Unternehmen mit dem Aufsichtsratsmitglied der abhängigen AG einen Beratungsvertrag schließt, der aber eben gerade nicht der Zustimmung nach § 114 AktG unterliegen soll – ebenso wenig der Kreditvertrag, wie § 115 Abs. 1 Satz 2 AktG zeigt. Denn auch hier wird der Aufsichtsrat der abhängigen Gesellschaft im Sinne des herrschenden Unternehmens beeinflusst, ohne dass der Gesetzgeber jedenfalls für Kreditverträge es für nötig befunden hätte, für diesen Fall zusätzliche Sicherungsmaßnahmen zur Sicherung der Unabhängigkeit des Aufsichtsrats der abhängigen Gesellschaft einzuführen – was rechtspolitisch bedauernswert ist, um Missverständnisse zu vermeiden, aber de lege lata hinzunehmen ist. Warum aber bei einem Kreditvertrag keine entsprechende Beeinflussung des Aufsichtsratsmitglieds vorliegen soll, bei einem Beratungsvertrag schon, erscheint schwer nachvollziehbar48. Interessanterweise will die – zweifelhafte49 – h. M.50 gar zulassen, dass der Vorstand der abhängigen Gesellschaft von Dritten, insbesondere beherrschenden Aktionären, unmittelbar vergütet wird. Eine der Gründe für die Zulässigkeit solcher Vergütungssysteme soll darin liegen, dass über dem Vorstand der abhängigen Gesellschaft stets das Damoklesschwert der Abberufung durch den von der herrschenden Gesellschaft dominierten Aufsichtsrat schwebe. Die Beeinflussung des Vorstands und die Ausrichtung auf die Obergesellschaft bzw. den beherrschenden Aktionär sind damit mehr als deutlich. Auf der Basis der h. M. wäre es aber schwerlich nachvollziehbar, warum eine derartige Interessenausrichtung ohne weiteres zulässig sein soll, andererseits aber die fehlende Einschränkung in § 115 Abs. 1 Satz 2 AktG zugunsten einer Perspek-

__________ 47 BGHZ 179, 71, 78 f. = NJW 2009, 850, 852 = ZIP 2009, 70, 72 – MPS. 48 Im Ergebnis wie hier Hoffmann-Becking in FS K. Schmidt (Fn. 2), S. 657, 667. 49 Abl. zu Recht jüngst OLG München, WM 2008, 1320, 1323; Spindler in FS K. Schmidt, 2009, S. 1529, 1534 f. 50 S. OLG München, NZG 2008, 631, 634 f., mit Anm. Habersack; zuvor ders. in FS Raiser, 2005, S. 111, 120 f.

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tive „von unten“ bei Seite geschoben wird51. Zwar ist sachlich und rechtspolitisch eine entsprechende Beschränkung durchaus zutreffend und legitim. Demgemäß ist es nicht von der Hand zu weisen, dass eine Lösung über §§ 89 Abs. 3, 115 AktG ineffizienter als der Genehmigungsvorbehalt zugunsten § 114 AktG ist, da nur das beherrschende Unternehmen über die Wirksamkeit des Vertrages und damit auch das Vorstandsmitglied der abhängigen Gesellschaft als gleichzeitiges Organmitglied des beherrschenden Unternehmens befinden würde. Doch ist dies gerade für Kreditverträge die Lösung des geltenden Aktienrechts. Da es zudem an einer entsprechenden Grundlage in der Systematik des geltenden Aktienrechts, insbesondere an einer allgemeinen Norm fehlt, die die Unabhängigkeit der Aufsichtsratsmitglieder fordern würde52 – abseits der allgemeinen Grundlagen einer Treuepflicht oder der Stimmrechtsverbote – ist es schwer zu begründen, dass nur für den Sonderfall einer Personalunion bzw. Doppelmandats § 115 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht analog gelten sollte. Der Gesetzgeber hat offenbar auf die Wirksamkeit der §§ 311 ff. AktG vertraut53, so dass selbst Doppelmandate im Konzern zulässig sein sollen; warum dann aber bei einem solchen Doppelmandat bzw. einer Personalunion die Gefahren derart umschlagen sollen, dass die analoge Anwendung von §§ 114, 115 Abs. 1 Satz 1 AktG geboten sein soll, ist nicht recht nachvollziehbar. Eine generelle und weitreichende Unabhängigkeitsnorm, wie sie etwa Gegenstand der EU-Empfehlungen ist, enthält das deutsche Aktienrecht bislang nicht. Im Gegenteil: die §§ 100, 105 AktG zeigen deutlich, dass der deutsche Gesetzgeber die mehrfache Mandatstätigkeit erlaubt hat. Selbst die Tätigkeit für Wettbewerber wird von der h. M. nicht für schädlich gehalten54. Folgt man der Linie der h. M., kann jedenfalls bislang nicht von einer obersten Leitlinie ausgegangen werden, dass die Unabhängigkeit der Aufsichtsratsmitglieder zu sichern wäre, etwa durch Treuepflichten zur Mandatsniederlegung oder breitflächigen Stimmrechtsverboten. Eine breitflächige Sicherung der Unabhängigkeit durch § 114 AktG kann daher nicht als Telos der Norm unterstellt werden55. Gegen die Pflicht, die Interessenkollision offenzulegen, Stimmrechtsverbote zu berücksichtigen und ggf. das Mandat niederzulegen, kann zwar insoweit zutreffend eingewandt werden, dass § 114 AktG dazu im Vergleich weitaus weniger schwerwiegend in das Aufsichtsratsmandat eingriffe. Doch besagt dies

__________ 51 Abl. daher gegenüber einer Anwendung des § 114 AktG auf die Fälle der Personalunion Deckert, WiB 1997, 561, 565; Habersack in MünchKomm.AktG (Fn. 27), § 114 AktG Rz. 17. 52 Insoweit wie hier Kort, ZIP 2008, 717, 723; Langenbucher, ZGR 2007, 571, 583 ff. 53 Der berechtigten Kritik an den §§ 311 ff. AktG ist hier nicht weiter nachzuspüren. 54 OLG Schleswig, AG 2004, 453, 454 f.; Hopt/Roth in Großkomm.AktG (Fn. 10), § 100 AktG Rz. 78; Hüffer (Fn. 9), § 103 AktG Rz. 13a f.; Mertens, AG 2003, 221, 222; dagegen aber Lutter in FS Beusch, 1993, S. 509, 515 ff.; s. auch Spindler in Spindler/ Stilz (Fn. 40), § 100 AktG Rz. 30. 55 Hoffmann-Becking in FS K. Schmidt (Fn. 2), S. 657, 663 ff.

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nichts über die Reichweite einer Analogie zu den §§ 114, 115 AktG. So werden im deutschen Aktienrecht Interessenkollisionen eher punktuell aufgegriffen, etwa nur zu einzelnen Abstimmungsfragen. Die §§ 114, 115 AktG selbst zeigen deutlich die nur vereinzelt eingreifende Sicherung der Unabhängigkeit, etwa indem nur Dienst- oder Werkverträge höherer Art sowie Kreditverträge, aber keine anderen Vertragstypen erfasst werden. Schließlich würde eine breitflächige Ausdehnung des § 114 AktG sich auch nicht damit vertragen, dass verschiedene Vorschläge, die Inkompatibilität von Beratungsverträgen generell zu verankern oder die Zuständigkeit der Hauptversammlung zu begründen56, vom Gesetzgeber bislang gerade nicht aufgegriffen wurden.

V. Reichweite der Zustimmungspflichtigkeit: Beratungen aus der Privatsphäre? Schließlich ist damit noch nicht entschieden, in welchem Umfang § 114 AktG Verträge zwischen Aufsichtsrats- und Vorstandsmitglied erfasst, insbesondere ob auch Verträge aus der Privatsphäre des Vorstandsmitglieds dem Zustimmungserfordernis des § 114 AktG unterliegen. So sollen auch Beratungsverträge, die allein auf Angelegenheiten aus der Privatsphäre des Vorstandsmitglieds gerichtet sind, etwa familienrechtliche Streitigkeiten, dem Zustimmungserfordernis des § 114 AktG unterliegen, da auch hier aufgrund der Vergütung des Aufsichtsratsmitglieds dessen nötige Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit hinsichtlich der Überwachung des Vorstandsmitglieds gefährdet sei57. Dies wird teilweise mit einem Verweis auf §§ 319 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5, 319a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 HGB, den Inkompatibilitätsvorschriften für Wirtschaftsprüfer, untermauert. Daran ist zutreffend, dass der Wirtschaftsprüfer nicht einen wesentlichen Teil aus anderweitigen Einkünften vom zu prüfenden Mandanten erhalten darf, auch nicht von verbundenen Unternehmen. Allerdings wird damit auch ausgeblendet, dass § 319 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 HGB von seinem Wortlaut her gerade nicht auf sämtliche erhaltenen Bezüge abstellt, sondern eben nur auf die aus der beruflichen Tätigkeit für das zu prüfende Unternehmen (und verbundene Unternehmen) erzielten Einnahmen58. Um die private Beauftragung etwa durch ein Vorstandsmitglied hier zu erfassen, kann § 319 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 HGB nicht ohne weiteres angewandt werden; vielmehr bedarf es des – ebenfalls einer besonderen Wer-

__________ 56 Theisen, AG 1995, 193, 195; Baums, Bericht Regierungskommission Corporate Governance, Rz. 265; Peltzer, ZIP 2007, 305, 309 (dagegen aber Weiss, BB 2007, 1853, 1855). 57 Habersack in MünchKomm.AktG (Fn. 27), § 114 AktG Rz. 18. 58 S. etwa Förschle/Schmidt in Beck’scher Bilanz-Kommentar, 6. Aufl. 2006, § 319 HGB Rz. 70 f., die entsprechende Bezüge überhaupt nicht erwähnen; ebenso Adler/Düring/ Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 6. Aufl. 2000, § 319 HGB Rz. 150 ff.

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tung unterliegenden – Rückgriffs auf die Generalklausel der Befangenheit in § 319 Abs. 2 HGB59. Maßgeblich soll jedoch der Telos des § 114 AktG sein, die Unabhängigkeit des Aufsichtsratsmitglieds gegenüber dem Vorstandsmitglied zu sichern, so dass es maßgeblich auf die Höhe des Beraterhonorars gegenüber den Vergütungen des Aufsichtsratsmitglieds ankäme, nicht aber auf den Beratungsgegenstand. Denn nur dann würde die nötige unbeeinflusste Wahrnehmung der Überwachungstätigkeit beeinträchtigt. Nur bei geringfügigen Beratungshonoraren könnte man – in Übertragung der Ansätze des BGH hinsichtlich der Zurechnung von Verträgen mit Dritten, an denen das Aufsichtsratsmitglied beteiligt ist60 – nicht mehr von einer abstrakten Gefahr für die Unabhängigkeit des Aufsichtsratsmitglieds sprechen. Demgegenüber sehen andere die Zustimmungspflichtigkeit von Beratungsverträgen nur bei unternehmensbezogenen Verträgen eröffnet, die genauso gut von der Gesellschaft mit dem Aufsichtsratsmitglied hätten abgeschlossen werden können61. Ansonsten werden eine uferlose Ausdehnung der Vorschrift und Auswüchse in der Rechtsanwendung befürchtet. Allerdings scheiden auch nach dieser Auffassung damit nur die unmittelbar auf die Privatsphäre des Vorstandsmitglieds gerichteten Beratungen aus der analogen Anwendung des § 114 AktG aus, etwa familienrechtliche Streitigkeiten, nicht aber solche Angelegenheiten mit mittelbarem Bezug zur AG. Auch hier zeigt sich deutlich die Problematik einer extensiven oder analogen Anwendung des § 114 AktG, der leicht zu einer allgemeinen Unabhängigkeitsnorm übersteigert werden kann. So sehr auf den ersten Blick das Argument einleuchtet, dass der Aufsichtsrat auch im privaten Bereich zum Vorstandsmitglied nicht durch Vergütungen beeinflusst werden soll, ergeben sich doch Bedenken, wenn man die Tragweite der Analogie bedenkt. Denn der hierfür vorgebrachte Grundgedanke ist letztlich Ausprägung einer allgemeinen Unabhängigkeitssicherung – die keineswegs auf Dienst- oder Werkverträge höherer Art beschränkt wäre. Anders aber das geltende Aktienrecht: Weder werden eine verwandtschaftliche Beziehung noch Schenkungen durch den Vorstand an das Aufsichtsratsmitglied erfasst62, selbst wenn sie größte Ausmaße erreichen sollten oder periodisch in kurzen Abständen erfolgen. Gleiches gilt für andere Austauschbeziehungen wie Kaufverträge etc. Die – insoweit zu Recht – beschworene Transparenz der Interessenverflechtungen zwischen Vor-

__________ 59 S. auch Begr. RegE BT-Drucks. 15/3419, S. 39 zum Bezug von Dienstleistungen etc. durch das zu prüfende Unternehmen sowie der Nichtberücksichtigung der weitergehenden EU-Empfehlung. 60 BGHZ 170, 60, 63 = ZIP 2007, 22 = NJW 2007, 298; BGH, ZIP 2007, 1056, 1058 = NJW-RR 2007, 1483, 1484 f.; Peltzer, ZIP 2007, 305, 306. 61 Hoffmann-Becking in Münchener Handbuch GesR AG, 3. Aufl. 2007, § 33 Rz. 29; E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer (Fn. 32), § 30 Rz. 9; Mertens in KölnKomm.AktG (Fn. 9), § 114 AktG Rz. 8. 62 So explizit Hopt/Roth in Großkomm.AktG (Fn. 10), § 114 AktG Rz. 12; auch Habersack in MünchKomm.AktG (Fn. 27), § 114 AktG Rz. 20.

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stand und Aufsichtsrat gerät hier auf der Grundlage des geltenden Aktienrechts an ihre Grenzen. Daher ist es durchaus zweifelhaft, dass nicht unternehmensbezogene bzw. private Beratungsverträge ebenfalls von § 114 AktG erfasst sein sollen – hier ist zudem zu berücksichtigen, dass § 93 Abs. 3 Nr. 7 AktG das Vorstandsmitglied der Schadensersatzpflicht unterwirft, wenn es fälschlicherweise von einem nicht zustimmungspflichtigen Beratungsvertrag ausgeht; mithin wird bereits ein entsprechendes Fehlverhalten sanktioniert. In diesem Rahmen ist auch hinsichtlich der Vergütungshöhe zu berücksichtigen, dass die Frage, ob nur eine geringfügige Vergütung geschuldet wird, gerade bei Dienstverträgen höherer Art erst ex post bestimmt werden kann – keinesfalls ex ante bei Abschluss des Vertrages –, was die Rechtsunsicherheit zudem enorm erhöht. Weitere Fragen sind vorprogrammiert, etwa ob mehrere Beratungen zusammengerechnet werden müssen, welche Zeiträume zugrunde zu legen sind etc63. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass bei einer Offenlegungspflicht von privaten Beratungsverträgen das beratende Aufsichtsratsmitglied unter Umständen seine gesetzlichen Pflichten zur Verschwiegenheit durchbrechen muss, etwa nach §§ 43a Abs. 2 BRAO, 203 StGB; von einem einfachen Weg der Offenlegung, wie es der BGH postulierte64, kann hier also nicht unbedingt die Rede sein65. Als Ausweg böte sich nur an, dass das Aufsichtsratsmitglied ohne vorherige Zustimmung des Aufsichtsrats niemals ein Vorstandsmitglied beraten dürfte. Im Ergebnis verdient daher die Auffassung den Vorzug, die nur solche Verträge erfassen will, die auch von der Gesellschaft abgeschlossen werden könnten. Allenfalls kann noch ein mittelbarer Bezug zur Gesellschaft genügen, etwa wenn sich Angelegenheiten des herrschenden Unternehmens nicht eindeutig von der Gesellschaft selbst trennen lassen, z. B. bei Beratung zur Entwicklung der zukünftigen Aktionärsstruktur.

VI. Ergebnis 1. § 114 AktG ist analog auf Beratungsverträge des Vorstandsmitglieds mit einem Aufsichtsratsmitglied anzuwenden. 2. Der Umfang der zustimmungsbedürftigen Beratungsverträge bestimmt sich grundsätzlich danach, ob die Gesellschaft selbst auch derartige Beratungsverträge abschließen könnte oder ob ein zumindest mittelbarer Bezug zur Gesellschaft besteht; Beratungsverträge aus der Privatsphäre eines Vorstandsmitglieds sind ausgenommen.

__________ 63 Kritisch auch Happ in FS Priester, 2007, S. 175, 179 ff. 64 BGHZ 170, 60, 64 = ZIP 2007, 22, 23 = NJW 2007, 298, 299. 65 Zutr. Hoffmann-Becking in FS K. Schmidt (Fn. 2), S. 657, 668 f.; Happ in FS Priester (Fn. 63), S. 175, 183.

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3. Keine Anwendung findet § 114 AktG auf Beratungsverträge zwischen herrschendem Unternehmen (i. S. v. § 15 AktG) und Aufsichtsratsmitglied der abhängigen Gesellschaft, auch wenn gewisse Zweifel im faktischen Konzern bestehen. Hier ist allein § 115 Abs. 1 Satz 2 AktG analog anzuwenden. 4. Für den besonderen Fall des Beratungsvertrags zwischen Aufsichtsratsmitgliedern der abhängigen Gesellschaft und Vorstandsmitglied, das gleichzeitig in Personalunion herrschendes Unternehmen der AG ist, ist die Grundwertung des § 115 Abs. 1 Satz 2 AktG ebenfalls zu berücksichtigen. Eine zusätzliche Genehmigung durch § 114 bzw. § 115 Abs. 1 Satz 1 AktG analog ist vom Gesetz nicht vorgesehen; vielmehr greifen die konzernrechtlichen Schutzmechanismen ein, auch wenn dies rechtspolitisch nicht sinnvoll erscheint.

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Ansgar Staudinger

Schiedsspruch und Urteil mit vereinbartem Wortlaut Inhaltsübersicht I. Einführung II. Aufnahme eines Urteils mit vereinbartem Wortlaut in die ZPO 1. Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Solo/Kleinmotoren 2. Ansatz von Mankowski 3. Ansatz von Heß 4. Ansatz von Schlosser

5. Erweiterung des Formenkanons de lege ferenda a) Urteil mit vereinbartem Wortlaut als Konkurrenzmodell zu § 1053 ZPO b) Urteil mit vereinbartem Wortlaut im System der Brüssel I VO III. Resümee

I. Einführung Gerade in grenzüberschreitenden Sachverhalten zeigt sich die Reformbedürftigkeit des deutschen Zivilverfahrensrechts. Dies gilt etwa im Hinblick auf die Titulierung eines Anspruchs in Form eines Prozessvergleichs, der angesichts seiner Doppelnatur1 besonders fehleranfällig ist2 und mangels Rechtskraft – anders als der Schiedsspruch mit vereinbartem Wortlaut in § 1053 ZPO3 – keine verlässliche Grundlage für die Zwangsvollstreckung im Ausland bietet. In Anlehnung an das Schiedsverfahrensrecht wird daher eine Erweiterung des in der ZPO festgeschriebenen Titelkanons vorgeschlagen (II.). Gewidmet ist der nachfolgende Beitrag Friedrich Graf von Westphalen, dessen Arbeiten in vielfältiger Weise die Praxis wie die Wissenschaft bereichert haben. Nicht zuletzt im Namen der Studierenden möchte ich ihm überdies für sein erfolgreiches Engagement in der Lehre bei der Schwerpunktsbereichsausbildung an der Bielefelder Fakultät danken. Auslöser für eine teilweise Gegenüberstellung der Schiedsgerichtsbarkeit sowie der Verfahrensnormen vor staatlichen Spruchkörpern war einerseits eine kritische Stellungnahme zu den angeblichen Segnungen der Schiedsgerichtsbarkeit aus der Feder des zu Ehrenden4 sowie eine gemeinsame Referententätigkeit am 14.2.2009 auf dem „II. International Arbitration Symposium“ in Istanbul.

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1 H. M. und st. Rspr.: BGH, NJW 2000, 1943; BGH, NJW 1988, 65; Stadler in Jauernig, 12. Aufl., § 779 BGB Rz. 22; Staudinger in Hk-BGB, 6. Aufl., § 779 BGB Rz. 11; zu abweichenden Ansätzen vgl. die Übersicht bei Wolfsteiner in MünchKomm.ZPO, 3. Aufl., § 794 ZPO Rz. 11 m. w. N. 2 Schlosser in FS Schumann, 2001, S. 389. 3 In der Fassung vom 5.12.2005, BGBl. I 2005, 3202. Vgl. in diesem Kontext auch BGH, NJW 2001, 373 f.; OLG München, SchiedsVZ 2009, 127 f.; BayObLG, SchiedsVZ 2004, 316 f. m. Anm. G. Wagner, 317 ff.; Bilda, DB 2004, 171 ff. 4 Friedrich Graf von Westphalen, ZIP 1986, 1159.

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Ansgar Staudinger

II. Aufnahme eines Urteils mit vereinbartem Wortlaut in die ZPO 1. Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Solo/Kleinmotoren Nach Ansicht des EuGH5 ist der deutsche Prozessvergleich nicht als Entscheidung im Sinne des Art. 25 EuGVÜ zu behandeln6. Darüber hinaus hindere der im Zweitstaat geschlossene gerichtliche Vergleich nicht die Anerkennung eines ihm widersprechenden Urteils nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ. Dem Übereinkommen liege ein einheitlicher Begriff der Entscheidung zugrunde7. Demzufolge lehne sich auch das in Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ genannte Tatbestandsmerkmal der Entscheidung an die Legaldefinition in Art. 25 EuGVÜ an8. Diese Auffassung des Gerichtshofs hat damals im Schrifttum9 einhellige Zustimmung gefunden und gilt auch unter der Brüssel I VO10 fort11. Dogmatisch lässt sich entgegnen, dass das EuGVÜ sowie die Brüssel I VO gerade nicht auf einem einheitlichen Begriff der Entscheidung basieren. So betrifft etwa Art. 16 Nr. 5 EuGVÜ bzw. Art. 22 Nr. 5 Brüssel I VO über den Wortlaut hinaus auch Zwangsvollstreckungsverfahren, deren Grundlage öffentliche Urkunden oder Prozessvergleiche bilden12. Zudem bezieht Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ bzw. Art. 34 Nr. 4 Brüssel I VO Entscheidungen aus Drittstaaten mit ein. Schließlich erstreckt die ganz herrschende Meinung den Versagungsgrund in Art. 27 Nr. 5

__________ 5 EuGH, Rs. C-414/92, Solo Kleinmotoren GmbH/Emilio Boch, Slg. I-2237 ff. = NJW 1995, 38 f. 6 Der Vorlagebeschluss des BGH ist abgedruckt in WM 1993, 574. 7 EuGH, Rs. C-414/92, Solo Kleinmotoren GmbH/Emilio Boch, Slg. I-2237, I-2254 Rz. 15, I-2256 Rz. 20 = NJW 1995, 38, 39 Rz. 15, 20. 8 S. in diesem Zusammenhang auch EuGH, EuZW 2002, 441, 443 Rz. 41. An dieser Stelle verweist der Gerichtshof erneut auf das Zusammenspiel von Art. 27 Nr. 3 und Art. 25 EuGVÜ. 9 S. etwa Hüßtege in Thomas/Putzo, 22. Aufl., Art. 25 EuGVÜ Rz. 6; Art. 27 EuGVÜ Rz. 14; Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, 6. Aufl., Art. 25 EuGVÜ Rz. 17; Art. 27 EuGVÜ Rz. 43; Lenenbach, S. 171 ff.; Linke, IZVR, 3. Aufl., Rz. 376; Marburger in Staudinger, 13. Bearbeitung, § 779 BGB Rz. 109 a. E.; Mankowski, EWS 1994, 379, 380; Schack, IZVR, 3. Aufl., Rz. 816, 859; Schlosser, JZ 1994, 1008 f.; Stürner in Breidenbach u. a. (Hrsg.), 2001, S. 5, 28 f.; Vlas, NILR 1994, 359, 361 f.; Volken, SZIER 1995, 346, 347; von Hoffmann/Hau, IPRax 1995, 217 f.; zur Entscheidung s. auch Huet, Journal du droit international 1995, 466 ff.; Palao Moreno, Revista Espaòola de Derecho Internacional 1995, 227 ff. 10 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen v. 22.12.2000, ABl. EG Nr. L 12/1 ff. Zur Legaldefinition der Entscheidung s. Art. 32 Brüssel I VO; zum Anerkennungsversagungsgrund vgl. Art. 34 Nr. 3 Brüssel I VO. 11 S. etwa Hüßtege in Thomas/Putzo, 30. Aufl., Art. 32 Brüssel I VO Rz. 6; Art. 34 Brüssel I VO Rz. 15; Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, 8. Aufl., Art. 32 Brüssel I VO Rz. 16; Art. 34 Brüssel I VO Rz. 48; Linke, IZVR, 4. Aufl., Rz. 376; Marburger in Staudinger, 15. Neubearbeitung, § 779 BGB Rz. 110 a. E. 12 Vgl. H. Roth, IPrax 2001, 323 hinsichtl. der Urkunde; Nelle, Anspruch, Titel und Vollstreckung im internationalen Rechtsverkehr, 2000, S. 384, Fn. 286, S. 391 bezügl. des Prozessvergleichs.

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Schiedsspruch und Urteil mit vereinbartem Wortlaut

EuGVÜ13 bzw. Art. 34 Nr. 4 Brüssel I VO14 sogar auf den Fall, dass die anerkennungsfähige staatliche Entscheidung mit einem Schiedsspruch15 aus einem Vertrags- bzw. Mitgliedstaat oder Drittstaat kollidiert. Dies steht an sich im Widerspruch zu Art. 1 Abs. 2 Nr. 4 EuGVÜ bzw. Art. 1 Abs. 2 lit. d) Brüssel I VO, da hiernach der Bereich der Schiedsgerichtsbarkeit gerade ausgenommen bleibt und folglich Art. 25 EuGVÜ bzw. Art. 32 Brüssel I VO im Lichte der Judikatur des EuGH allein Entscheidungen eines staatlichen Spruchkörpers16, nicht aber eines Schiedsgerichts erfassen kann. Die Judikatur des EuGH soll gleichwohl als Ausgangspunkt der nachfolgenden Untersuchung zugrunde gelegt werden. Der Standpunkt des Gerichtshofs hat im Ergebnis zur Folge, dass nach Eintritt der prozessbeendigenden Wirkung des gerichtlichen Vergleichs die Rechtshängigkeitssperre des Art. 21 EuGVÜ bzw. Art. 27 Brüssel I VO entfällt. Folglich kann ein Verfahren im Ausland begonnen oder ein zunächst unterbrochenes Parallelverfahren fortgesetzt werden. Eine Wirkungserstreckung des Prozessvergleichs scheidet aus, da dieser Titel keine anerkennungsfähigen Wirkungen, wie etwa einen res iudicataEffekt, entfaltet17. Um diesem Dilemma zu entgehen, hat die Literatur in der Vergangenheit verschiedene Lösungsmodelle vorgeschlagen. 2. Ansatz von Mankowski Mankowski18 sieht einen Ausweg darin, die Titulierung des Anspruchs im Vergleichswege durch die Aufnahme einer Prorogationsklausel abzusichern, die eine ausschließliche internationale Zuständigkeit festlegt. Eine derartige Abrede – ihre Wirksamkeit einmal unterstellt – bietet indes gerade keinen Schutz davor, dass ein Verfahren im Ausland eingeleitet oder fortgeführt wird. Sofern man in Erwägung ziehen sollte, die Gerichtsstandsklausel mit Hilfe einer Unterlassungsverfügung19 durchzusetzen20, handelt es sich um nichts

__________ 13 Hüßtege in Thomas/Putzo (Fn. 9), Art. 27 EuGVÜ Rz. 22; Kropholler (Fn. 9), Art. 27 EuGVÜ Rz. 60; Martiny in Hdb. IZVR, Band III/2, 1982, Kap. II, Rz. 146; s. auch Schlosser, Revue de l’arbitrage 1981, 371 ff. 14 Kropholler (Fn. 11), Art. 34 Brüssel I VO Rz. 59 f.; ebenso vom Grundsatz Geimer in Zöller, 27. Aufl., Art. 34 Brüssel I VO Rz. 39; ablehnend und damit in Abkehr von der 22. Aufl. Hüßtege in Thomas/Putzo (Fn. 11), Art. 34 Brüssel I VO Rz. 19 ff. 15 Hierunter fällt angesichts seiner Rechtskraftwirkung ebenso der Schiedsspruch mit vereinbartem Wortlaut nach § 1053 ZPO. 16 Geimer in Zöller (Fn. 14), Art. 32 Brüssel I VO Rz. 4; Hüßtege in Thomas/Putzo (Fn. 11), Art. 32 Brüssel I VO Rz. 7; Kropholler (Fn. 11), Art. 32 Brüssel I VO Rz. 12. 17 Heß weist auf die schwierigen kollisions- und sachrechtlichen Probleme hin, die daraus resultieren, dass der ausländische Spruchkörper zumindest die materielle Wirkung des Vergleichs beachten muss: Heß, JZ 1998, 1021, 1029 Fn. 158. 18 Mankowski, EWS 1994, 379, 383. 19 Dies setzt zunächst einmal voraus, dass der Gerichtsstandsabrede eine verpflichtende Wirkung zugesprochen wird; zu diesem Problemkreis G. Wagner, Prozeßverträge, 1998, S. 256 ff., 268 ff., 557. 20 Mankowski selbst zieht diese Möglichkeit nicht in Erwägung, sondern plädiert für die Vereinbarung einer Vertragsstrafe als Sicherungsmittel: Mankowski, EWS 1994, 379, 383.

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anderes als ein Prozessführungsverbot21 bzw. eine antisuit injunction. Letztere wird von englischen Gerichten22 erlassen, um Parteien die Einleitung eines Verfahrens in einem anderen Mitgliedstaat zu untersagen bzw. die Rücknahme einer dort bereits erhobenen Klage anzuordnen. Die nahezu einhellige Ansicht23 hält ein solches Prozessführungsverbot im Anwendungsbereich der Brüssel I VO mit beachtlichen Argumenten für nicht statthaft. Auch der EuGH24 hat sich gegen die Zulässigkeit von antisuit injunctions zunächst im Anwendungsbereich des EuGVÜ jedenfalls insofern ausgesprochen, als das Prozessführungsverbot der Abwehr einer Klage dient, welche aus gegnerischer Perspektive einen schikanösen Zweck verfolgt. Dieses Ergebnis hat der Gerichtshof jüngst auf die Brüssel I VO übertragen und gleichermaßen auf Schiedsabreden sichernde antisuit injunctions erstreckt25. Die Ausführungen des EuGH lassen sich wohl vorsichtig dahin verallgemeinern, dass der Sekundärrechtsakt generell derartigen Prozessführungsverboten entgegensteht26, etwa ebenso im Falle des Bruchs einer ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung. Der Sekundärrechtsakt basiert gerade auf der Annahme der Gleichwertigkeit der Rechtspflege in allen Mitgliedstaaten. Nach dem Erwägungsgrund Nr. 16 der Brüssel I VO rechtfertigt das „gegenseitige Vertrauen in die Justiz im Rahmen der Gemeinschaft“, dass Entscheidungen vom Grundsatz her automatisch anerkannt werden. Das modifizierte Vollstreckbarerklärungsverfahren, bei dem sogar der ordre public-Vorbehalt lediglich auf einen Rechtsbehelf des Schuld-

__________ 21 Hierzu Hau, Positive Kompetenzkonflikte im Internationalen Zivilprozessrecht, 1996, S. 191 ff. 22 S. dazu etwa die Entscheidung des englischen Court of Appeal in Turner v. Grovit 1999, 3 All E.R. 616 = I.L.R. 656 = 1999 3. W.L.R., 794; hierzu Fentiman, The Cambridge L.J. 2000, 45 ff.; Harris, The Law Quarterly Review 1999, 576 ff.; Hartley, I.C.L.Q. (International & Comparative Law Quaterly) 2000, 166 ff.; weitere Angaben bei Thiele, RIW 2002, 383, 384; dazu Ambrose, ICLQ 2003, 401 ff.; beachte auch die Entscheidung des englischen Court of Appeal (2007) 2 CLC 104; hierzu Dickinson, ICLQ 2008, 465 ff.; zu grenzüberschreitenden Insolvenzen: Chan Ho, ICLQ 2003, 697 ff. 23 S. etwa Hau, IPRax 1996, 44, 47 f.; ders. (Fn. 21), S. 216 ff.; Kropholler (Fn. 11), Art. 1 Brüssel I VO Rz. 45; Art. 23 Brüssel I VO Rz. 97; Art. 27 Brüssel I VO Rz. 20; Maack, Englische antisuit injunctions im europäischen Zivilrechtsverkehr, 1999, S. 163 ff.; Mankowski, EWIR Art. 13 HZÜ 1/96, 321, 322; Mansel, EuZW 1996, 335, 338; Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, 1995, S. 778 ff.; Schack, IZVR, 4. Aufl., Rz. 773; Schütze, Rechtsverfolgung im Ausland, 3. Aufl., Rz. 74. 24 EuGH, Rs. C-159/02, Gregory Paul Turner/Felix Fareed Ismail Grovit, EuGHE 2004 I 3656 ff. = EuZW 2004, 468 ff. m. zust. Anm. Schroeder, 470 ff.; vgl. auch Heinze/ Dutta in Bonomi/Volken, Yearbook of Private International Law 9 (2007) 415 ff.; s. zur Vorlage des House of Lords: RIW 2002, 401; hierzu Muir Watt Rev crit 92 (2003) 116 ff.; Thiele, RIW 2002, 383 ff. 25 Beachte insoweit die Entscheidung des EuGH, C-185/07 Allianz SpA, vormals Riunione Adriatica Di Sicurtà SpA, Generali Assicurazioni Generali SpA/West Tankers Inc, EuZW 2009, 215 ff. m. Anm. Schroeder, 218 f.; hierzu auch Illmer/ Naumann, IHR 2007, 64 ff.; Jayme/Kohler, IPRax 2007, 493, 501; Heinze/Dutta in Bonomi/Volken, Yearbook of Private International Law 9 (2007), 415 ff.; dies., RIW 2007, 411 ff.; Mansel/Thorn/Wagner, IPRax 2009, 1, 13; Schlosser, RIW 2006, 486 ff. 26 So auch Rauscher, IPRax 2004, 405, 408 f.; Krause, RIW 2004, 533, 540.

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ners hin als Bollwerk eingesetzt werden darf27, ist letztlich Ausdruck dieses gegenseitigen Vertrauens. Zudem vermag nach der Judikatur des Gerichtshofs28 selbst die Inanspruchnahme exorbitanter Zuständigkeiten keinen Verstoß gegen die inländische öffentliche Ordnung im Zweitstaat zu begründen. Vielmehr verbleibt es bei dem in (Art. 28 Abs. 3 EuGVÜ29) Art. 35 Abs. 3 Brüssel I VO festgeschriebenen Grundsatz, dass die vom Gericht des Ausgangsstaats in Anspruch genommene Zuständigkeit nicht ex post durch den Zweitstaat kontrolliert werden darf. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass der Erlass einer antisuit injunction mit dem Ziel, den Bruch einer Gerichtsstandsvereinbarung30 zu bekämpfen, mit dem Geist und den Buchstaben der Brüssel I VO unvereinbar ist. An dieser Stelle wird nicht verkannt, dass derartige injunctions zwar nicht gegen einen ausländischen Spruchkörper, sondern unmittelbar gegen die gegnerische Partei selbst gerichtet sind31. Nichtsdestotrotz bringen derartige Unterlassungsverfügungen mittelbar die Geringschätzung der ausländischen Rechtspflege zum Ausdruck und stellen letztlich den Grundkonsens in Frage, auf dem die Brüssel I VO aufbaut. Besondere Bedeutung erlangt der hier befürwortete Ausschluss von Prozessführungsverboten vor dem Hintergrund der Zustellungsverordnung32, die – mit Aus-

__________ 27 Dies dient dem Ziel, das Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahren zu beschleunigen, vgl. Micklitz/Rott, EuZW 2002, 15, 22. 28 EuGH, Rs. C-7/98, Krombach/Bamberski, JZ 2000, 723, 724 Rz. 37 m. Anm. von Bar, 725 = ZIP 2000, 859, 862 Nr. 37 m. Anm. Geimer, 863 = EWiR 2000, 441 m. Anm. Hau = IPRax 2000, 406 m. Anm. Piekenbrock, 364; Vorlage BGH v. 4.12.1997, IPRax 1998, 205 m. Anm. Piekenbrock, 177; die Abschlussentscheidung des BGH ist abgedruckt in ZIP 2000, 1595 = JZ 2000, 1067 m. Anm. Gross; zur Krombach-Entscheidung des EGMR (NJW 2001, 2387): Gundel, NJW 2001, 2380 ff.; zu den Urteilen des EuGH und des EGMR: Matscher, IPRax 2001, 428 ff. 29 Auf die Gefahr, dass dieser Grundsatz durch eine Unterlassungsverfügung ausgehebelt würde, verweist Dohm, Die Einrede ausländischer Rechtshängigkeit, 1996, S. 207. 30 Dies hielt für zulässig Schlosser, 1. Aufl., Art. 27–29 EuGVÜ Rz. 5. Nach der EuGHEntscheidung v. 27.4.2004, C-159/02, Turner/Grovit, RIW 2004, 541 ff., sieht nunmehr allerdings auch Schlosser, 3. Aufl., Art. 34–36 Brüssel I VO Rz. 5 eine derartige antisuit injunction mit der Brüssel I VO als unvereinbar an; vgl. hierzu ebenfalls Krause, RIW 2004, 533 ff.; Mankowski, RIW 2004, 481, 497; Rauscher, IPRax 2004, 405 ff.; Schmidt, RIW 2006, 492 ff.; Schroeder, EuZW 2004, 470 ff.; Dutta/Heinze, ZEuP 2005, 431 ff. 31 Hau (Fn. 21), S. 214 ff.; Dicey/Morris, The Conflict of Laws, 13. Aufl., S. 414, Rz. 12-057. 32 Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.11.2007 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- und Handelssachen in den Mitgliedstaaten („Zustellung von Schriftstücken“) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates, ABl. EU 2007 Nr. L 324/79 ff. Zu diesem Gemeinschaftsrechtsakt und seinen Vorarbeiten s. Rösler/Siepmann, RIW 2006, 512 ff.; Sujecki, NJW 2008, 1628 ff.; ders., EuZW 2006, 1. Die Rückwirkungen des europäischen Zustellungsrechts auf das nationale Recht besprechend Heckel, IPRax 2008, 218 ff.

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nahme Dänemarks33 – das Haager Zustellungsübereinkommen (HZÜ)34 sowie das Haager Zivilprozessübereinkommen35 verdrängt36. Die Verordnung sieht von einem rechtshilferechtlichen ordre public-Vorbehalt37 wie in Art. 13 HZÜ ab, der etwa der Zustellung einer antisuit injunction38 oder gegebenenfalls einer Klage entgegensteht, wenn mit ihr Ansprüche auf Strafschadensersatz (punitive damages)39 bzw. Ersatz sog. treble damages40 oder in Form einer class action41 geltend gemacht werden. Dies belegt einmal mehr das gegenseitige Vertrauen in die Rechtspflege der Nachbarstaaten im Binnenmarkt. Damit bleibt festzuhalten, dass die Aufnahme einer Prorogationsklausel in einen Prozessvergleich laut § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO eine ausländische Prozessführung nicht zu unterbinden vermag, da sich die Durchsetzung des ausschließlichen internationalen Gerichtsstands per Unterlassungsverfügung im Rahmen der Brüssel I VO verbietet.

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33 Mit Dänemark hat die EG ein gesondertes Zustellungsübereinkommen geschlossen: Abkommen vom 19.10.2005 zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Königreich Dänemark über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen, ABl. EU 2005 Nr. L 300/55 ff. Dieses Abkommen ist am 1.7.2007 in Kraft getreten (ABl. Nr. L 94 v. 4.4.2007, S. 70); hierzu auch Nielsen, IPRax 2007, 506 ff. 34 Haager Übereinkommen über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- und Handelssachen vom 15.11.1965, BGBl. II 1977, 1453; abgedruckt bei Jayme/Hausmann, 14. Aufl., Nr. 211, S. 655 ff. 35 Haager Übereinkommen über den Zivilprozess vom 1.3.1954, BGBl. II 1958, 577; abgedruckt bei Jayme/Hausmann (Fn. 34), Nr. 210, S. 642 ff. 36 Dies gilt ebenso für das deutsch-britische Übereinkommen über den Rechtsverkehr vom 20.3.1928, RGBl. II 1928, 623; abgedruckt bei Jayme/Hausmann (Fn. 34), Nr. 228, S. 764 ff. Dieses Abkommen fand bislang neben dem HZÜ nach dessen Art. 25 ergänzende Anwendung. 37 Hierzu R. Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 6. Aufl., Rz. 2158; G. Geimer, Neuordnung des internationalen Zustellungsrechts, 1999, S. 213; Hess, NJW 2002, 2417, 2422; Lindacher, ZZP 114 (2001), 179, 184; Krause, RIW 2004, 533, 535 Fn. 19. 38 OLG Düsseldorf, IPRax 1997, 260 ff.; hierzu G. Geimer (Fn. 37), S. 77 ff., 298; Hau, IPRax 1997, 245 ff.; Mankowski, EWiR 1996, 321 f.; Mansel, EuZW 1996, 335 ff.; kritisch Stürner, ZZP 109 (1996), 224 ff.; dem folgend G. Geimer (Fn. 37), S. 79. 39 Beachte BVerfG, NJW 2003, 2598; vgl. dazu Hess, JZ 2003, 923 ff.; Oberhammer, IPRax 2004, 40 ff.; Rothe, RIW 2003, 859 ff.; Zekoll, NJW 2003, 2885 ff. Vgl. zum Ganzen auch Stürner, JZ 2006, 60 ff. S. jüngst BVerfG, IPRax 2009, 249 f. sowie 253 ff. m. Anm. Rogler, 223 ff.; BVerfG, RIW 2007, 211 ff. m. Anm. v. Hein, 249 ff. = JZ 2007, 1046 f. m. Anm. Stadler, 1047 ff. sowie OLG Düsseldorf, NJW-RR 2007, 640 ff.; zur entsprechenden Judikatur des U.S. Supreme Court Berger/Wilske, RIW 2007, 245 ff.; Corrigan/Wilske, RIW 2007, 32 ff.; Thomas/Wilske, RIW 2008, 668 ff. 40 Hierzu OLG Düsseldorf, IPRax 2009, 250 ff. m. Anm. Rogler, 223 ff.; OLG Koblenz, IPRax 2006, 25 ff. m. Anm. Piekenbrock, 4 ff. 41 S. OLG Düsseldorf, IPRax 2009, 250 ff. m. Anm. Rogler, 223 ff.; BVerfG, NJW 2007, 3709 ff.; beachte im Zusammenhang mit dem US-amerikanischen Recht: Bellinghausen/Paheenthararajah, ZIP 2008, 492 ff.; Koch/Horlach/Thiel, RIW 2006, 356 ff.; Petersen, RIW 2005, 812 ff.; zur Sammelklage aus skandinavischem Blickwinkel: Pedersen/Nebauer, ZfV 2007, 212 ff. Die Europäische Kommission hat am 27.11. 2008 ein Grünbuch zum kollektiven Rechtsdurchsetzungsverfahren veröffentlicht, mit welchem sie die Durchsetzung von Verbraucherrechten fördern will; KOM (2008) 794 endgültig; vgl. insoweit Krümmel/Sauer, BB 2008, 2586 ff.; Mattil/ Desoutter, WM 2008, 521 ff.

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Schiedsspruch und Urteil mit vereinbartem Wortlaut

3. Ansatz von Heß Heß42 schlägt unter Bezugnahme auf das englische Modell eines judgment by consent43 vor, den Vergleich in ein Urteil aufzunehmen. Dieses Ergebnis sei durch entsprechende Anwendung der §§ 263 Alt. 1, 306 f. ZPO a. F. zu erzielen. Auf diesem Weg könne das inländische Verfahrensrecht den Erfordernissen im Binnenmarkt angepasst werden. Der von Heß im Vorfeld der Schiedsverfahrensnovelle44 sowie der ZPO-Reform45 vertretene Ansatz lässt sich methodisch aus heutigem Blickwinkel nicht mehr aufrechterhalten46. Der Gesetzgeber hat mit der Novelle zur Neuregelung des Schiedsverfahrensrechts den bisherigen Schiedsvergleich in § 1044a ZPO a. F. abgelöst. An seine Stelle ist mit § 1053 ZPO der Schiedsspruch mit vereinbartem Wortlaut getreten, der nach § 1053 Abs. 2 Satz 2 ZPO in Verbindung mit § 1055 ZPO formelle und materielle Rechtskraft entfaltet. Den Parteien blieb indes vor staatlichen Gerichten weiterhin der Weg versperrt, ihre Einigung in ein Urteil zu kleiden. An dieser Entscheidung hat der Gesetzgeber ebenso im Zuge der ZPO-Reform festgehalten. Erleichtert wurde allein der Abschluss eines Prozessvergleichs nach § 278 Abs. 6 ZPO47, indem nunmehr der Protokolltermin entbehrlich ist. Von der Möglichkeit, in Anlehnung an die Schiedsgerichtsbarkeit auch vor staatlichen Spruchkörpern die hybride Form eines Vergleichsurteils zuzulassen, hat der Gesetzgeber demnach bislang abgesehen. Angesichts dessen kann von keiner unbewussten Regelungslücke ausgegangen werden, so dass eine Analogie zu den §§ 263 Alt. 1, 306 f. ZPO ausscheidet. 4. Ansatz von Schlosser Nach Einschätzung von Schlosser48 hat der Gesetzgeber in § 278 Abs. 6 ZPO einen Prozessvergleich geschaffen, der in materielle Rechtskraft erwächst. Diese Vorschrift erweist sich damit in seinen Augen als Kristallisationspunkt für eine weitergehende Rechtsfortbildung. De lege lata sehe die ZPO bereits mit §§ 306 und 307 ZPO Titel vor, die in der Hauptsache auf dem Willen der Prozessparteien basierten. Im Lichte des § 278 Abs. 6 ZPO sei es jedenfalls

__________ 42 Heß, JZ 1998, 1021, 1029. 43 Zum judgment by consent s. die Angaben bei R. Geimer (Fn. 37), Rz. 2655 Fn. 65; Nelle (Fn. 12), S. 15, 46, 68, 72, 129, 144, 146, 156, 182, 186, 191, 269, 288; Ullrich, Das Vergleichsrecht Englands in rechtsvergleichender Betrachtung – unter Berücksichtigung der Qualifikation des Vergleichs im internationalen Privatrecht, 1998, S. 61, 71 f., 85 f., 186 ff. 44 Gesetz zur Neuregelung des Schiedsverfahrensrechts v. 22.12.1997, BGBl. I 1997, 3224 ff. 45 Gesetz zur Reform des Zivilprozesses v. 27.7.2001, BGBl. I 2001, 1887 ff. 46 Zweifelnd ebenso Nelle (Fn. 12), S. 321. 47 Die erweiterte Fassung des § 278 Abs. 6 Satz 1 geht auf das 1. JustizmodernisierungsG v. 24.8.2004 zurück, BGBl. I 2004, 2198 f.; vgl. dazu Fölsch, MDR 2004, 1029, 1031; Knauer/Wolf, NJW 2004, 2857, 2859 f. Es wird nunmehr ausdrücklich der Fall erfasst, dass der Vergleichsvorschlag nicht vom Gericht, sondern von den Parteien initiiert wird, vgl. Staudinger in Hk-BGB (Fn. 1), § 779 BGB Rz. 11. 48 Schlosser in FS Schumann (Fn. 2), S. 389, 391 ff.

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methodisch vertretbar, den § 1053 ZPO entsprechend heranzuziehen49 und damit auch innerhalb der staatlichen Gerichtsbarkeit die Verbescheidung eines Vergleichs als Urteil zu ermöglichen. Da jedoch der schriftsätzliche Prozessvergleich gerade keine Rechtskraft entfaltet, sondern hinsichtlich seiner Wirkungen lediglich ein Funktionsäquivalent zum klassischen, in der mündlichen Verhandlung protokollierten Vergleich darstellt50, kann § 278 Abs. 6 ZPO nicht als Ausgangspunkt für eine solche Rechtsfortbildung dienen. Eine Analogie zu § 1053 ZPO, der bewusst als Sonderregel für die Schiedsgerichtsbarkeit geschaffen wurde, vermag demnach methodisch nicht zu überzeugen. 5. Erweiterung des Formenkanons de lege ferenda a) Urteil mit vereinbartem Wortlaut als Konkurrenzmodell zu § 1053 ZPO Die augenblickliche Gesetzeslage bietet weder unmittelbar noch im Wege der Rechtsfortbildung eine Möglichkeit, den innerhalb eines staatlichen Gerichtsverfahrens erzielten Konsens der Parteien in die Form eines Urteils zu gießen. Nun ist ohne Zweifel ein Bedürfnis für ein derartiges Instrument auch innerhalb der staatlichen Gerichtsbarkeit anzuerkennen. Hierauf hat Schlosser51 überzeugend hingewiesen52. Dies gilt angesichts der drohenden Gefahren eines Parallelverfahrens vor allem bei internationalen Sachverhalten53. Aber auch bei einem reinen Inlandsfall bietet das Vergleichsurteil den Parteien den Vorteil, dass die Wirksamkeit der materiellrechtlichen Komponente dem Streit entzogen ist. Der Vergleich im Gewande eines Urteils bildet mithin eine tragfähige Grundlage für eine Vollstreckung, sei es innerhalb Deutschlands oder in einem Zweitstaat. In Anlehnung an die Vorschläge von Heß und Schlosser soll in wenigen Strichen skizziert werden, in welcher Weise der bisherige Kanon an Vollstreckungstiteln in der ZPO um das Modell eines Urteils mit vereinbartem Wortlaut ergänzt werden könnte. Angesichts der systematischen Nähe zum Anerkenntnisurteil54 sollte das Einverständnisurteil in § 307a ZPO aufgenommen werden. Von der Gesetzesformulierung bieten wiederum § 1053 Abs. 1 ZPO sowie § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO erste Anhaltspunkte. So könnte der Tatbestand – unter der offiziellen

__________ 49 Schlosser in FS Schumann (Fn. 2), S. 389, 399 f., 402 f. 50 Foerste, NJW 2001, 3103, 3105; Knauer/Wolf, NJW 2004, 2857, 2859; Staudinger in Rauscher, Europäisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl., Art. 58 Brüssel I VO Rz. 9; a. A. Schlosser in FS Schumann (Fn. 2), S. 389 ff.; Hartmann in Baumbach/Lauterbach/ Albers/Hartmann, 67. Aufl., § 278 ZPO Rz. 50. 51 Schlosser in FS Schumann (Fn. 2), S. 389, 400. 52 Für die Einführung eines „Kompromissurteils“ de lege ferenda in der Vergangenheit ebenso: von Hoffmann/Hau, IPRax 1995, 217, 218. 53 S. zu den Motiven des Gesetzgebers für den Erlass des § 1053 ZPO: BT-Drucks. 13/5274, S. 54 f. 54 Zur Vergleichbarkeit derartiger Urteile mit vereinbartem Wortlaut mit dem Anerkenntnisurteil: Geimer in Zöller (Fn. 14), § 328 ZPO Rz. 76.

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Schiedsspruch und Urteil mit vereinbartem Wortlaut

Gesetzesüberschrift Urteil mit vereinbartem Wortlaut55 – wie folgt gefasst werden: „Schließen die Parteien oder eine Partei und ein Dritter während des Gerichtsverfahrens einen Vergleich zur Beilegung des Rechtsstreits seinem ganzen Umfang nach oder in Betreff eines Teiles des Streitgegenstandes, hält das Gericht auf Antrag den Vergleich in der Form eines Urteils mit vereinbartem Wortlaut fest“. Diese Formulierung ermöglicht eine Verbescheidung sowohl des in der Güte- als auch mündlichen Verhandlung (schriftsätzlich) zustande gekommenen Vergleichs, sofern die Parteien dies gemeinsam beantragen56. Hierin liegt eine bewusste Abweichung von den §§ 306 und 307 Abs. 1 ZPO, wonach ein Verzichts- bzw. Anerkenntnisurteil allein in der mündlichen Verhandlung erlassen werden kann. Wie im Arbeitsgerichtsprozess57 scheidet ganz allgemein die Beendigung des Güteverfahrens nach § 278 Abs. 2 ZPO in Form eines Urteils aus, auch wenn dies im Einverständnis beider Parteien liegen sollte58. Es ist aber kein Grund ersichtlich, weshalb den Parteien nicht die Möglichkeit eingeräumt werden sollte, bereits im Gütetermin einen Vergleich schriftsätzlich zu schließen und auf diesem Wege ebenfalls übereinstimmend zu beantragen, den Vergleichsinhalt in ein Urteil einzukleiden. Hierdurch wird der Gleichlauf mit der Einigung in Beschlussform nach § 278 Abs. 6 Satz 2 ZPO erzielt. Andernfalls müsste die mündliche Verhandlung allein dafür eröffnet werden, um das Einverständnisurteil zu erlassen. Beim konventionellen Prozessvergleich können prozessfremde Angelegenheiten einbezogen und dritte Personen beteiligt werden. Die Anlehnung an den Tatbestand des § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO verdeutlicht, dass diese Erweiterungen ebenso beim Urteil mit vereinbartem Wortlaut zulässig sind59. Einer Übernahme des ordre public-Vorbehalts aus § 1053 Abs. 1 Satz 2 ZPO bedarf es nicht. Er wäre letztlich wie bei § 796a Abs. 3 ZPO ein Fremdkörper60. Denn auch ohne ausdrückliche Aufnahme dieser Schranke im Tatbestand darf der Richter etwa nach § 307 Abs. 1 ZPO kein Anerkenntnisurteil erlassen, sofern hierin ein Widerspruch gegen die inländische öffentliche Ordnung liegt61.

__________ 55 Diese Bezeichnung lehnt sich an § 1053 Abs. 1 Satz 2 ZPO an und erscheint gegenüber den Begriffen Einverständnis-, Kompromiss-, Vergleichsurteil oder Gerichtsentscheidung mit vereinbartem Wortlaut vorzugswürdig; siehe zu den verschiedenen Umschreibungen in der Literatur die Angaben bei Nelle (Fn. 12), S. 270 Fn. 193. 56 Zum Antragserfordernis in § 1053 Abs. 1 Satz 2 ZPO: Mankowski, ZZP 114 (2001), 37, 70 ff. 57 Vgl. zum Arbeitsgerichtsprozess: Germelmann/Matthes/Prütting, 3. Aufl., § 54 ArbGG Rz. 33; Grunsky, 7. Aufl., § 54 ArbGG Rz. 15 f.; abweichend van Venrooy, ZfA 1984, 337, 374 ff.; Wieser, Arbeitsgerichtsverfahren – eine systematische Darstellung aufgrund der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1994, Rz. 148. 58 S. hierzu Hartmann, NJW 2001, 2577, 2581 f. 59 Dies entspricht zwar ebenso der vorherrschenden Einschätzung zum Schiedsspruch mit vereinbartem Wortlaut; vgl. etwa Gottwald in Breidenbach u. a. (Hrsg.) (Fn. 9), S. 31, 37. Dem Tatbestand des § 1053 Abs. 1 Satz 1 ZPO sind indes keine unmittelbaren Hinweise für die Zulässigkeit zu entnehmen. Daher erscheint es vorzugswürdig, sich insofern an die Formulierung in § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO anzulehnen. 60 Wolfsteiner in MünchKomm.ZPO, 2. Aufl., § 796a ZPO Rz. 36. 61 Musielak in MünchKomm.ZPO (Fn. 1), 3. Aufl., § 307 ZPO Rz. 17; Rosenberg/ Schwab/Gottwald, 16. Aufl., § 131, Rz. 47.

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Gleichermaßen ist der Richter in einem solchen Fall gezwungen, die Protokollierung eines Prozessvergleichs abzulehnen62. Dies folgt letztlich bereits aus der Gesetzesbindung der Judikative nach Maßgabe des Art. 20 Abs. 3 GG. Im Hinblick auf die formersetzende Wirkung des Vergleichsurteils bietet sich eine entsprechende Regelung wie in § 1053 Abs. 3 ZPO an. Hierdurch wird klargestellt, dass die Aufnahme der Parteierklärungen in das Vergleichsurteil eine notarielle Beurkundung ersetzt. Das Urteil mit vereinbartem Wortlaut zählt wie diejenigen in §§ 306, 307 ZPO zum Kreis der Sach- und Endurteile. Die Qualität als Vollstreckungstitel resultiert mithin unmittelbar aus § 704 ZPO. Da die Parteien wie beim Prozessvergleich nach § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO in der Regel eine Kostenentscheidung treffen werden, erscheint eine eigenständige Kostenvorschrift wie in § 93 ZPO entbehrlich. Vielmehr sollte in § 98 ZPO, der den Prozessvergleich betrifft63, auch das Einverständnisurteil einbezogen werden. Darüber hinaus ist es sachgerecht, die für Anerkenntnis- und Verzichtsurteile geltenden Sondervorschriften, wie etwa §§ 311 Abs. 2 Satz 3, 313b und 708 Nr. 1 ZPO, auf das Vergleichsurteil zu erstrecken. Angesichts der Rechtskraftwirkung des Einverständnisurteils ist zu gewärtigen, dass die Schranke der Präklusion nach § 767 Abs. 2 ZPO – anders als beim klassischen Prozessvergleich – eingreift. Damit finden auch die Grundsätze zum Ausschluss von Gestaltungsrechten Anwendung64, wonach bei einem Einverständnisurteil ein gemeinschaftsrechtlich begründetes Gestaltungsrecht nicht unter Rückgriff auf § 767 Abs. 2 ZPO abgeschnitten werden darf. Das hier vorgeschlagene Modell eines Vergleichsurteils sollte den Parteien nicht oktroyiert werden. Vorzugswürdig erscheint es, ihnen die Wahl zwischen dem traditionellen Prozessvergleich und dem Einverständnisurteil zu lassen65. Dies entspricht letztlich auch der Rechtslage innerhalb der Schiedsgerichtsbarkeit. So hält Gottwald66 einen Vergleich ohne Anerkennung einer Rechtspflicht für zulässig. Hierdurch seien die Beteiligten in der Lage, einerseits einen Vollstreckungstitel zu schaffen, andererseits die materielle Rechtskraft nach §§ 1053 Abs. 2 Satz 2, 1055 ZPO zu vermeiden. Innerhalb der staatlichen Gerichtsbarkeit können die Parteien derzeit in der mündlichen Verhandlung oder schriftsätzlich einen Vollstreckungstitel nach § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO erwirken, dem keinerlei Rechtskraft zukommt. Alternativ hätten sie zukünftig die Möglichkeit, den erzielten Konsens in ein Vergleichsurteil zu gießen, dem nicht nur die Qualität eines Vollstreckungstitels zukommt, sondern das darüber hinaus Rechtskraftwirkung entfaltet. Diese Option ist auch für den Anwalts- und Mediationsvergleich von Bedeutung. Schlägt der Richter im Rahmen der Güteverhandlung nach § 278 Abs. 5 Satz 2 ZPO eine außergerichtliche Streitschlichtung vor, kann der erfolgreiche Abschluss etwa vor

__________ 62 63 64 65

Wolfsteiner in MünchKomm.ZPO (Fn. 1), § 794 ZPO Rz. 57. Hierzu LAG Bremen, MDR 2002, 606. Ausführlich hierzu Staudinger in FS Kollhosser, Bd. I, 2004, S. 347 ff. Die Gerichte können auf die Vor- und Nachteile der jeweiligen Modelle hinweisen und damit Einfluss auf die Präferenzbildung in der Praxis gewinnen. 66 Gottwald in Breidenbach u. a. (Hrsg.) (Fn. 9), S. 31, 39 f.

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Schiedsspruch und Urteil mit vereinbartem Wortlaut

einem Mediator auf Antrag der Parteien in ein Urteil mit vereinbartem Wortlaut überführt werden, dem Rechtskraft zukommt. b) Urteil mit vereinbartem Wortlaut im System der Brüssel I VO In Bezug auf die Brüssel I VO ist zu gewärtigen, dass sich der Aussagegehalt der Rechtssache Solo/Kleinmotoren in dem Befund erschöpft, der deutsche Prozessvergleich nach § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO sei keine Entscheidung im Sinne des Art. 25 EuGVÜ und demzufolge Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ tatbestandlich nicht einschlägig. Demgegenüber hat der EuGH gerade nicht die Frage beantwortet67, ob ein gerichtlicher Vergleich zumindest dann als Entscheidung anzusehen ist, wenn ihm nach dem Recht des Ursprungsstaats anerkennungsfähige Wirkungen – wie etwa materielle Rechtskraft – zukommen68. Im Einklang mit der herrschenden Ansicht69 zum englischen judgment by consent70, ungarischen egyezég sowie zum jugement de donné acte des französischen und belgischen Rechts wäre das Vergleichsurteil – wie auch das Anerkenntnis- und Verzichtsurteil in §§ 306, 307 ZPO – als Entscheidung71 im Sinne des Art. 32 Brüssel I VO72 und nicht als bloßer Prozessvergleich gemäß Art. 58 Abs. 1 S. 1 Brüssel I VO zu qualifizieren73. Die Gefahr eines Parallelverfahrens in einem anderen Mitgliedstaat wäre mithin infolge des Grundsatzes der Wirkungserstreckung nach Art. 33 Abs. 1 Brüssel I VO gebannt. Ebenso gelangten die Anerkennungsversagungsgründe in Art. 34 Nr. 3 sowie Art. 35 Abs. 1 Brüssel I VO zur Anwendung. Nach der zuletzt genannten Vorschrift kann die Anerkennung bei einem Zuständigkeitsmangel abgelehnt werden. Da in dem Abschluss eines Einverständnisurteils regelmäßig zumindest eine stillschweigende Prorogation im Sinne des Art. 24 Brüssel I VO liegt, käme hier allerdings allein ein Verstoß gegen eine ausschließliche internationale Zuständigkeit nach Art. 22 Brüssel I VO in Betracht. Im Rahmen der Vollstreckbarerklärung dürften die in Art. 34 Brüssel I VO genannten Anerkennungshindernisse – dies gilt ebenso für den ordre publicVorbehalt in Art. 34 Nr. 1 Brüssel I VO – nur auf einen Rechtsbehelf des Schuldners hin ex officio kontrolliert werden. Dies steht im Einklang mit dem

__________ 67 Ein Hinweis für die hier vertretene Einordnung derartiger Kompromissurteile lässt sich den Schlussanträgen des Generalanwalts Gulmann entnehmen: EuGH, Rs. C-414/92, Solo Kleinmotoren GmbH/Emilio Boch, Slg. I-2237; I-2245 Rz. 29 f. 68 In diese Richtung auch Koch in FS Schumann (Fn. 2), S. 267, 282. 69 S. etwa Geimer/Schütze, 2. Aufl., Art. 58 Brüssel I VO Rz. 2; Schlosser, JZ 1994, 1008; Nelle (Fn. 12), S. 288.; von Hoffmann/Hau, IPRax 1995, 217, 218; abweichend Stürner in Breidenbach u. a. (Hrsg.) (Fn. 9), S. 5, 28. 70 S. hierzu die Angaben bei Koch in FS Schumann (Fn. 2), S. 267, 275 f.; Schlosser in FS Schumann (Fn. 2), S. 389 f.; zum englischen Recht etwa Kaye, Civil jurisdiction and enforcement of foreign judgments, 1987, S. 1682; O’Malley/Layton, European Civil Practice, 1989, Art. 51 Rz. 30.15; hierzu Ullrich (Fn. 43), S. 186 ff. 71 S. zum Schweizer Recht: Volken, SZIER 1995, 346, 347 f. 72 Zur Anerkennung eines Versäumnisurteils als Entscheidung nach dem EuGVÜ: OLG Köln, NJW-RR 2001, 1576 f. 73 Staudinger in Rauscher (Fn. 50), Art. 58 Brüssel I VO Rz. 5.

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Grundgesetz74. Materiellrechtliche Einwendungen gegen den titulierten Anspruch wären indes nach Maßgabe des Art. 46 Abs. 1 Satz 1 Brüssel I VO im Verfahrensabschnitt der Vollstreckbarerklärung ausgeschlossen.

III. Resümee Auf den ersten Blick mag der unterbreitete Vorschlag, den Katalog von Vollstreckungstiteln um eine Mischform wie das Urteil mit vereinbartem Wortlaut zu ergänzen, gerade bei konservativen Prozessualisten auf Bedenken stoßen. Jener fügt sich jedoch insofern ins Bild, als die ZPO mit §§ 306 und 307 ZPO bereits heute Formen konsensualer rechtskraftfähiger Titel kennt. Überdies zeigt § 1053 ZPO, dass der deutschen Rechtsordnung ein Vergleich mit Rechtskraftwirkung nicht fremd ist75. Schließlich liegt die Ergänzung des Titelkanons auf der Linie des bisherigen Reformprozesses. Der Gesetzgeber versucht gerade durch § 278 Abs. 6 ZPO, einen Anreiz zur gütlichen Einigung zu schaffen. Indes sollten nicht allein die Abschlussmodalitäten erleichtert werden. Vielmehr ist den Parteien gerade bei internationalen Sachverhalten ein effektives Instrument an die Hand zu geben, mit dem sie ihre erzielte Einigung in eine Form kleiden können, die eine solide Basis für die Zwangsvollstreckung bietet76. Wie ein judgment by consent oder ein Anerkenntnis- bzw. Verzichtsurteil nach den §§ 306, 307 ZPO wäre aber das Urteil mit vereinbartem Wortlaut als Entscheidung im Sinne des Art. 32 Brüssel I VO einzustufen. Im Ergebnis ließe sich damit auch ein Stück weit mehr Wettbewerbsgleichheit zwischen privater und staatlicher Gerichtsbarkeit erzielen.

__________ 74 Das BVerfG führt in BVerfGE 63, 343, 378 aus, dass es eines ordre public-Vorbehaltes regelmäßig bedarf, wenn nicht generell gewährleistet ist, dass den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG genügt wird. Der ordre public wäre demnach verzichtbar, wenn dieses Maß an Rechtsschutz generell gegeben ist. Das GG verbietet es somit nicht, den Rechtsschutz ausländischen Gerichten zu überantworten, sofern eine Äquivalenz zum deutschen Erkenntnisverfahren besteht. 75 Kritisch gegenüber diesem „Konstrukt moderner Gesetzgebungskunst“: Gaul in FS Sandrock, 2000, S. 285, 326 f. Da der Schiedsspruch mit vereinbartem Wortlaut lediglich den Willen der Parteien verlautbare, fehle ihm das Wesen einer „Entscheidung“ und „damit die Dignität eines gerichtlichen Erkenntnisakts“. Nun ließe sich diese Kritik strenggenommen wohl ebenso auf das Anerkenntnis- oder Verzichtsurteil übertragen, da hier keine Sachentscheidung ergeht. Der Erlass durch ein staatliches Gericht im Laufe eines formalisierten Verfahrens rechtfertigt es indes, diesen konsensualen Titeln Rechtskraft zuzusprechen. 76 S. auch bereits den Vorschlag der Storme-Kommission unter 1.4.: „An agreement reached between the parties and approved by the court at a conciliation hearing may be entered and enforced as if it were a judgment by consent“.

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Handlungspflichten von Lebensmittel- und Futtermittelunternehmern nach der EU-Basisverordnung und ihr Einfluss auf die zivilrechtliche Produkthaftung Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Handlungsverpflichtungen der Basisverordnung (BasisVO) 1. Art. 17 Abs. 1 BasisVO 2. Art. 18 BasisVO 3. Art. 19 BasisVO a) Persönlicher Anwendungsbereich des Art. 19 Abs. 1 BasisVO b) Umfang der Rücknahme- und Rückrufpflicht III. Einfluss der Basisverordnung auf die zivilrechtliche Produkthaftung 1. Einfluss des Art. 17 Abs. 1 BasisVO 2. Einfluss des Art. 18 Abs. 2, 3 BasisVO a) Art. 18 Abs. 2, 3 BasisVO als Konkretisierung der Verkehrssicherungspflicht nach § 823 Abs. 1 BGB aa) Bisheriger Pflichtenumfang

bb) Anwendungsfälle einer erweiterten Haftung b) Art. 18 Abs. 2, 3 BasisVO als Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB c) Praktische Bedeutung 3. Einfluss von Art. 19 Abs. 1, 2 BasisVO a) Art. 19 Abs. 1, 2 BasisVO als Konkretisierung der Verkehrssicherungspflichten nach § 823 Abs. 1 BGB aa) Bisheriger Pflichtenumfang bb) Anwendungsfälle einer erweiterten Haftung b) Art. 19 Abs. 1, 2 BasisVO als Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB c) Praktische Bedeutung IV. Futtermittelunternehmer V. Fazit

Das Gebiet der zivilrechtlichen Produkthaftung stellt einen der zentralen Schwerpunkte des Oeuvres und der beruflichen Tätigkeit von Friedrich Graf von Westphalen dar. Über Jahre hinweg hat der Jubilar sich in zahlreichen Veröffentlichungen intensiv mit diesem Rechtsgebiet auseinandergesetzt und dabei insbesondere die Entwicklung der Gesetzeslage und der Rechtsprechung analysiert1. Geprägt worden ist das Produkthaftungsrecht zum einen durch das am 1.1.1990 in Kraft getretene Produkthaftungsgesetz; zum anderen ist es aber auch maßgeblich durch die fortschreitende, zunehmend strengere Rechtspre-

__________ 1 So beispielsweise Graf von Westphalen, Das Milupa-Urteil – eine beträchtliche Verschärfung der Produkthaftung, ZIP 1992, 18; ders., Das neue Produkthaftungsgesetz, NJW 1990, 83; ders., Warn- oder Rückrufaktionen bei nicht sicheren Produkten: §§ 8, 9 ProdSG als Schutzgesetz i. S. von § 823 Abs. 2 BGB – Rechtliche und versicherungsrechtliche Konsequenzen, DB 1999, 1369; ders., Herstellung und Vertrieb neuer Produkte – Produktsicherheit und zivilrechtliche Produzentenhaftung, ZLR 2000, 271.

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chung des Bundesgerichtshofes zu den deliktischen Verkehrssicherungspflichten von Unternehmern2 gestaltet worden. Insbesondere bei der Konkretisierung dieser Pflichten durch die Rechtsprechung ergeben sich Berührungspunkte zwischen der zivilrechtlichen Produkthaftung und öffentlich-rechtlichen Pflichten. Wie sich derartige Pflichten auf die Haftung von Lebensmittel- und Futtermittelunternehmern auswirken können, untersucht der folgende Beitrag am Beispiel der EU-Basisverordnung.

I. Einleitung Am 1.1.2005 ist die Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit3 (sog. Basisverordnung) in Kraft getreten. Unter dem unmittelbaren Eindruck der BSE-Krise und dem Dioxin-Skandal hat die EU mit der Basisverordnung das Ziel verfolgt, das europäische Lebensmittel- und Futtermittelrecht erstmals auf eine einheitliche normative Basis zu stellen und dabei die gesamte Lebens- und Futtermittelkette „vom Erzeuger zum Verbraucher“ („vom Stall zum Tisch, „from farm to fork“) zu umfassen. Der politische Handlungsdruck, der infolge der erwähnten Ereignisse auf der EU lastete, war hoch, und so vollzog sich das der Basisverordnung zugrundeliegende Gesetzgebungsverfahren in einer bemerkenswerten Geschwindigkeit. Dies wiederum trug nur bedingt zu der Qualität des Gesetzeswerkes bei. Die Verordnung weist sowohl in der Systematik als auch im Sprachgebrauch erhebliche Ungenauigkeiten auf4. Regelungen mit lediglich programmatischer Bedeutung lassen sich zum Teil nur schwer von Normen trennen, die unmittelbar anwendbare Handlungspflichten enthalten. Und auch der Umfang dieser Pflichten erschließt sich nicht ohne weiteres. Unter den betroffenen Unternehmen sorgen die Regelungen der Basisverordnung nach wie vor für große Verunsicherung. Es wird vielfach die Befürchtung geäußert, die Verordnung führe zu einer Ausuferung der von den Unternehmern zu beachtenden Handlungspflichten und damit mittelbar zu einer unübersehbaren Ausweitung der zivilrechtlichen Produkthaftung. Nachdem seit dem Inkrafttreten der Basisverordnung mehr als fünf Jahre vergangen sind, hält es der Verfasser für geboten, mit dem folgenden Beitrag zu untersuchen, inwieweit derartige Ängste berechtigt sind. Hierfür wird zunächst dargestellt, welche konkreten Handlungspflichten für Lebensmittelunternehmer sich überhaupt den in Betracht kommenden Vorschriften der Basisverordnung entnehmen lassen (II.). Sodann wird untersucht, ob und in welchem Umfang diese Pflichten einen Einfluss dieser Pflichten auf die produkt-

__________

2 So auch Graf von Westphalen (Fn. 1), ZLR 2000, 271. 3 ABl. Nr. L 31 v. 1.2.2002, S. 1. 4 Vgl. Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, Loseblatt-Kommentar, 135. Ergänzungslieferung 2009, Vorbemerkung zur BasisVO Rz. 4.

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Handlungspflichten nach der EU-BasisVO und zivilrechtliche Produkthaftung

rechtliche Haftung besitzen (III.). Dabei beschränkt sich die Darstellung aus Gründen der Übersichtlichkeit auf den Bereich der Lebensmittelunternehmer; soweit sich für die gleichfalls von der Basisverordnung erfassten Futtermittelunternehmer Besonderheiten ergeben, wird dies in einem gesonderten Abschnitt (IV.) dargestellt.

II. Handlungsverpflichtungen der Basisverordnung (BasisVO) 1. Art. 17 Abs. 1 BasisVO Art. 17 Abs. 1 BasisVO bestimmt, dass Lebensmittelunternehmer auf allen Produktions-, Verarbeitungs- und Vertriebsstufen in den ihrer Kontrolle unterstehenden Unternehmen dafür sorgen, dass die Lebensmittel die Anforderungen des Lebensmittelrechts erfüllen, die für ihre Tätigkeit gelten, und die Einhaltung dieser Anforderungen überprüfen. Die Vorschrift wird allgemein als Verankerung des sogenannten Grundsatzes der „Stufenverantwortlichkeit“ bezeichnet5. Zu dem Adressatenkreis der „Lebensmittelunternehmer“ zählen nach der Legaldefinition des Art. 3 Nr. 3 BasisVO alle natürlichen oder juristischen Personen, die dafür verantwortlich sind, dass die Anforderungen des Lebensmittelrechts in dem ihrer Kontrolle unterstehenden Lebensmittelunternehmen erfüllt werden. Ein „Lebensmittelunternehmen“ liegt nach Art. 3 Nr. 2 BasisVO im Falle eines jeden Unternehmens vor, das – gleichgültig, ob es auf Gewinnerzielung ausgerichtet ist oder nicht und ob es öffentlich oder privat ist – eine mit der Produktion, der Verarbeitung und dem Vertrieb von Lebensmitteln zusammenhängende Tätigkeit ausführt. „Lebensmittel“ im Sinne der Basisverordnung sind schließlich gemäß Art. 2 Abs. 1 BasisVO alle Stoffe oder Erzeugnisse, die dazu bestimmt sind oder von denen nach vernünftigem Ermessen erwartet werden kann, dass sie in verarbeitetem, teilweise verarbeitetem oder unverarbeitetem Zustand von Menschen aufgenommen werden. Der Anwendungsbereich des Art. 17 Abs. 1 BasisVO, der sich unter Zugrundelegung dieser Begriffsbestimmungen ergibt, ist demnach äußerst weit gefasst: Entsprechend der Konzeption der Basisverordnung, ein möglichst umfassendes System der Lebensmittelsicherheit aufzubauen, richtet sich Art. 17 Abs. 1 BasisVO an Unternehmer auf allen Stufen der Lebensmittelkette von der Produktion über den Transport bis hin zum Einzelhandel. Fraglich ist nun, ob und wenn ja welche Pflichten Art. 17 Abs. 1 BasisVO diesen Personen auferlegt. Die Vorschrift verlangt von den Lebensmittelunternehmern, für die Erfüllung „der Anforderungen des Lebensmittelrechts“ Sorge zu tragen. Gefordert wird demnach die Einhaltung aller lebensmittelrecht-

__________ 5 So beispielsweise Sosnitza, Die Folgen der BasisVO Nr. 178/2002 für Verträge, Qualitätssicherung und Produkthaftung, ZLR 2004, 123, 124; Rabe, Grundfragen der EG Lebensmittelverordnung, ZLR 2003, 151, 159; Schroeder/Kraus, Das neue Lebensmittelrecht – Europarechtliche Grundlagen und Konsequenzen für das deutsche Recht, EuZW 2005, 423, 425.

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lichen Vorschriften sowohl des europäischen Sekundärrechts als auch des daneben anwendbaren nationalen Rechts6. Dabei sollen die Unternehmer an der Einhaltung sowohl aktiv mitwirken („erfüllen“) als diese auch verifizieren („überprüfen“)7. Zu beachten ist, dass die diesbezügliche Verantwortung der Unternehmer auf diejenigen Unternehmen begrenzt ist, die „ihrer Kontrolle“ unterstehen. Die Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass das jeweilige Lebensmittel mit den gesetzlichen Bestimmungen im Einklang steht, reicht folglich nur soweit, wie der Lebensmittelunternehmer die Einhaltung der Bestimmungen überhaupt kontrollieren kann. Er muss damit zum einen dafür sorgen, dass auf seiner eigenen Stufe kein Fehlverhalten auftritt, zum anderen ist er für das Fehlverhalten vorgelagerter Stufen verantwortlich, soweit es für ihn erkennbar ist. Eine Verantwortung für nachgelagerte und damit außerhalb der „Kontrolle“ des jeweiligen Unternehmers stehende Stufen begründet Art. 17 Abs. 1 BasisVO indes nicht8. Die Abgrenzung der Verantwortungsbereiche ist damit klar umrissen. Keine Aussage trifft Art. 17 Abs. 1 BasisVO hingegen darüber, in welcher Weise die praktische Umsetzung dieser Verantwortlichkeit zu erfolgen hat. Konkrete Handlungsanweisungen finden sich erst in den nachfolgenden Artikeln 18 ff. der BasisVO. Es ist daher anzunehmen, dass der Verordnungsgeber mit der Vorschrift des Art. 17 Abs. 1 BasisVO keine unmittelbar anwendbare Handlungsverpflichtung statuieren wollte. Vielmehr ist die Norm als Verankerung eines allgemeinen, für die Auslegung der nachfolgenden Vorschriften maßgeblichen Grundsatzes zu verstehen9. In diesem Sinne lassen sich aus Art. 17 Abs. 1 BasisVO keine konkreten, von den Lebensmittelunternehmern unmittelbar zu beachtenden Pflichten ableiten. 2. Art. 18 BasisVO Art. 18 BasisVO regelt die Rückverfolgbarkeit von Lebensmitteln. Die Vorschrift ist ein besonders deutliches Beispiel für den eingangs erwähnten Einfluss, den die Erfahrungen mit der BSE- und Dioxinkrise auf die Entstehung der Basisverordnung hatte. Beide Ereignisse haben gezeigt, dass der Nachweis der Herkunft von Lebens- und Futtermitteln für einen effizienten Verbraucherschutz unverzichtbar ist10. Durch das Gebot der Rückverfolgbarkeit soll die für diesen Nachweis erforderliche Informationsbasis sichergestellt werden. Nach Art. 18 Abs. 1 BasisVO ist die Rückverfolgbarkeit von Lebensmitteln in allen Produktions-, Verarbeitungs- und Vertriebsstufen sicherzustellen. Hinsichtlich der Definition des Begriffes der „Rückverfolgbarkeit“ ist dabei auf

__________ 6 Vgl. Sosnitza (Fn. 5), ZLR 2004, 124. 7 Vgl. Meyer in Meyer/Streinz, LFBG – BasisVO, Kommentar, 1. Aufl. 2007, Art. 17 BasisVO Rz. 3. 8 Vgl. Sosnitza (Fn. 5), ZLR 2004, 125; Rabe (Fn. 5), ZLR 2003, 159; Schroeder/Kraus (Fn. 5), EuZW 2005, 425. 9 Vgl. Schroeder/Kraus (Fn. 5), EuZW 2005, 425; ebenso wohl auch Sosnitza (Fn. 5), ZLR 2004, 124 f. 10 Vgl. Meyer (Fn. 7), § 18 BasisVO Rz. 1.

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Handlungspflichten nach der EU-BasisVO und zivilrechtliche Produkthaftung

Art. 3 Nr. 15 BasisVO zurückzugreifen. Danach bezeichnet der Begriff die Möglichkeit, ein Lebensmittel durch alle Produktions-, Verarbeitungs- und Vertriebsstufen zu verfolgen. Wie die unpersönliche Formulierung „ist sicherzustellen“ unter Verzicht auf die Nennung eines Adressaten erkennen lässt, enthält Art. 18 Abs. 1 BasisVO keine unmittelbar anzuwendende Bestimmung. Ebenso wie im Falle des Art. 17 Abs. 1 BasisVO handelt es sich auch hier um eine Vorschrift mit lediglich programmatischer Bedeutung11. Konkrete Verpflichtungen für den einzelnen Lebensmittelunternehmer ergeben sich allerdings unter Hinzuziehung der Absätze 2 und 3. Gemäß Art. 18 Abs. 2 BasisVO müssen Lebensmittelunternehmer in der Lage sein, jede Person festzustellen, von der sie ein Lebensmittel erhalten haben. Hierzu haben sie Systeme und Verfahren einzurichten, mit denen diese Informationen den zuständigen Behörden auf Aufforderung mitgeteilt werden können. Weitere Systeme und Verfahren müssen die Unternehmer nach Art. 18 Abs. 3 BasisVO zur Feststellung der anderen Unternehmen aufbauen, an die ihre Erzeugnisse geliefert worden sind. Diese Informationen sind den zuständigen Behörden auf Aufforderung zur Verfügung zu stellen. Der persönliche wie sachliche Anwendungsbereich dieser Vorschriften ergibt sich wiederum durch einen Rückgriff auf die Legaldefinitionen der Art. 2, Art. 3 Nr. 2 und 3 BasisVO. In persönlicher Hinsicht sind demnach auch hier Unternehmer sämtlicher Produktions- und Vertriebsstufen der Lebensmittelkette von dem Anwendungsbereich der Norm umfasst. Fraglich ist nun, welche konkreten Verpflichtungen sich für diesen Personenkreis aus Art. 18 Abs. 2 und 3 BasisVO ableiten lassen. Soweit die Unternehmer aufgefordert werden, Systeme und Verfahren einzurichten, mit denen den Behörden die zur Rückverfolgbarkeit erforderlichen Informationen mitgeteilt werden können, wirft dies in zweifacher Hinsicht Fragen auf: Zunächst erscheint unklar, welche Art von Informationen hiermit gemeint sind. Fraglich ist also die genaue Reichweite der von Art. 18 BasisVO geforderten Rückverfolgbarkeit. Des Weiteren stellt sich die Frage nach der konkreten Ausgestaltung der geforderten Systeme und Verfahren. Die Reichweite des Rückverfolgbarkeitsgebotes des Art. 18 BasisVO stellte insbesondere in der Zeit unmittelbar nach dem Erlass der Basisverordnung ein viel diskutiertes Thema dar. Die Frage, inwieweit ein Produkt durch die verschiedenen Produktions-, Verarbeitungs- und Vertriebsstufen hinweg verfolgbar sein müsse, sorgte für große Verunsicherung innerhalb der Lebensmittelindustrie. Diese anfängliche Verwirrung scheint sich in der Zwischenzeit gelegt zu haben. Im Allgemeinen herrscht nunmehr Einigkeit über die Grenzen des Rückverfolgbarkeitsgebotes. Nach ganz herrschender Meinung folgt die Regelung des Art. 18 BasisVO dem Ansatz „ein Schritt dahinter – ein Schritt

__________ 11 Ebenso Zipfel/Rathke (Fn. 4), Art. 18 BasisVO Rz. 1 f.

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davor“ („one step up, one step down“)12. Der Lebensmittelunternehmer muss demnach sicherstellen, dass er die unmittelbar an ihn anschließenden Stufen der Lebensmittelkette benennen kann und zwar in beide Richtungen, „upstream“ und „down-stream“. Eine darüber hinausgehende Verpflichtung mit dem Inhalt, auch alle weiteren Stufen der Kette, d. h. den gesamten Weg von der Rohproduktion bis zum Endabnehmer zu verfolgen und zu dokumentieren, lässt sich Art. 18 BasisVO nicht entnehmen. Zum Teil wird vertreten, diese Begrenzung des Rückverfolgbarkeitsgebotes auf die jeweils angrenzenden Stufen der Lebensmittelkette ergebe sich bereits zweifelsfrei durch eine grammatikalische Auslegung der Vorschrift, weil der Lebensmittelunternehmer gemäß Art. 18 Abs. 2 und 3 BasisVO lediglich zur Feststellung derjenigen Personen verpflichtet sei, von denen er das Lebensmittel „erhalten“ bzw. an welche er dieses „geliefert“ habe. Ob der Wortlaut der Vorschrift tatsächlich so eindeutig ist, dass er keine andere Interpretation zulässt, kann jedoch dahin stehen. Für ein restriktives, auf die jeweils angrenzende Stufe beschränktes Verständnis des Art. 18 BasisVO spricht jedenfalls eine systematische Auslegung der Norm. So stellt der Erwägungsgrund 29 der Basisverordnung ausdrücklich klar, es müsse sichergestellt sein, dass ein Lebensmittelunternehmen „zumindest das Unternehmen feststellen kann“, welches das betroffene Produkt geliefert hat, „damit bei einer Untersuchung die Rückverfolgbarkeit in allen Stufen gewährleistet ist“. Wie die Formulierung „zumindest“ dabei zum Ausdruck bringt, hielt der Verordnungsgeber also eine Rückverfolgbarkeit über alle Stufen hinweg zwar durchaus für wünschenswert, setzte ein solches Gebot aber gerade nicht als verbindliche Anforderung fest. Stattdessen beschränkte man sich auf das Mindestmaß dessen, was zur Sicherstellung der Rückverfolgbarkeit nötig ist. Dieses Mindestmaß, der Ansatz „ein Schritt dahinter – ein Schritt davor“, ist erforderlich, aber eben auch ausreichend, um das durch Art. 18 BasisVO verfolgte Ziel einer im Ergebnis lückenlosen Nachvollziehung der Lebensmittelkette zu erreichen. Dieses Auslegungsergebnis wird nicht zuletzt durch Praktikabilitätsüberlegungen bestärkt. Im Hinblick auf den durch eine solche Verpflichtung entstehenden Verwaltungs- und Kostenaufwand dürfte es den Unternehmen schlechthin unmöglich sein, die gesamte Lebensmittelkette von der Produktion bis hin zum Verbraucher zu überwachen. Die inhaltlichen Anforderungen, die Art. 18 Abs. 2 und 3 BasisVO an die Lebensmittelunternehmer stellen, sind damit recht klar definiert. Die Unternehmer müssen in der Lage sein, jeder einzelnen Lieferung, die sie erhalten oder weitergeben, einen konkreten Lieferanten oder Empfänger zuzuordnen. Nicht gefordert – wenn auch aus praktischen Gründen empfehlenswert – ist

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12 Vgl. Meyer (Fn. 7), Art. 18 BasisVO Rz. 3, 14 f.; Sosnitza (Fn. 5), ZLR 2004, 127; Schroeder/Kraus (Fn. 5), EuZW 2005, 425; Rabe (Fn. 5), ZLR 2003, 160; Riemer, Diskussionsbeitrag zum Umfang der Rückverfolgbarkeit nach Art. 18 VO (EG) 178/2002, LMuR 2003, 121, 122; im Erg. wohl auch Gorny, Grundlagen des europäischen Lebensmittelrechts, Kommentar zur Verordnung (EG) Nr. 178/2002, 1. Aufl. 2003, Kapitel II, S. 133 f., Rz. 335 ff., der allerdings etwas unklar von einer „lückenlosen Rückverfolgbarkeit up-stream“ spricht.

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eine darüber hinaus gehende chargengenaue Rückverfolgung13. Ebenfalls nicht von der Regelung des Art. 18 BasisVO umfasst ist die betriebsinterne Rückverfolgbarkeit der Produkte. Soweit diesbezüglich zum Teil vertreten wird, Art. 18 BasisVO sehe zumindest vor, dass „ein gewisses Maß an interner Rückverfolgbarkeit“ zu gewährleisten sei beziehungsweise er wolle die Unternehmer zu einem solchen „ermutigen“14, so ist dem zu widersprechen. Dem Wortlaut des Art. 18 BasisVO lässt sich keinerlei sonst wie geartetes Erfordernis einer betriebsinternen Rückverfolgbarkeit entnehmen. Ein derartiges Erfordernis der betriebsinternen Rückverfolgung widerspräche im Übrigen auch dem der Basisverordnung zugrundeliegenden Konzept der Rückverfolgbarkeit, das auf eine lückenlose Nachverfolgung zwischen den einzelnen Produktionsstufen, nicht aber innerhalb ein und derselben Stufe abzielt. Fraglich bleibt damit, mit welchen Mitteln die auf die unmittelbar angrenzenden Stufen begrenzte Rückverfolgbarkeit realisiert werden muss. Art. 18 Abs. 2 und 3 BasisVO nennen diesbezüglich lediglich recht vage den Begriff der „Systeme und Verfahren“. Konkrete Handlungsvorgaben werden damit nicht gegeben; entscheidend ist allein, dass das Ergebnis, die Bereithaltung der oben genannten Informationen, sichergestellt wird. Erforderlich ist hierfür zumindest eine Dokumentation des Warenein- und -ausgangs durch gegliederte und geordnete schriftliche Aufzeichnungen in Papierform oder in elektronischer Form15. Als Zwischenergebnis ist demnach festzuhalten, dass Art. 18 Abs. 2 und 3 BasisVO die Lebensmittelunternehmer – unabhängig davon, auf welcher Stufe der Lebensmittelkette sie tätig sind – unmittelbar dazu verpflichtet, die direkte Herkunft und Weitergabe ihrer Produkte in geeigneter Weise zu dokumentieren und bei Bedarf belegen zu können. 3. Art. 19 BasisVO Bei nicht sicheren Lebensmitteln begründet Art. 19 BasisVO spezifische Handlungspflichten der Lebensmittelunternehmer. Die Vorschrift knüpft damit an die Regelung des Art. 14 BasisVO an, welche den Begriff des nicht sicheren Lebensmittels definiert. Nach Art. 14 Abs. 2 BasisVO gilt ein Lebensmittel dann als nicht sicher, wenn davon auszugehen ist, dass es entweder gesundheitsschädlich (lit. a) oder für den Verzehr durch den Menschen ungeeignet ist (lit. b). Die Qualifizierung als gesundheitsschädlich setzt dabei voraus, dass das betroffene Lebensmittel tatsächlich und konkret dazu geeignet ist, eine zumindest vorübergehende, jedoch nicht ganz unerhebliche Beeinträchtigung der Gesundheit hervorzurufen; eine tatsächliche Schädigung braucht nicht einzutreten16. Zum Verzehr ungeeignet ist ein Lebensmittel, das bei seiner Gewin-

__________ 13 Vgl. Meyer (Fn. 7), Art. 18 BasiVO Rz. 2; Sosnitza (Fn. 5), ZLR 2004, 128; offen gelassen von Riemer (Fn. 12), LMuR 2003, 122 f. 14 Vgl. Meyer (Fn. 7), Art. 18 BasisVO Rz. 16. 15 Vgl. Meyer (Fn. 7), Art. 18 BasisVO Rz. 18. 16 Vgl. Meyer (Fn. 7), Art. 19 BasisVO Rz. 17 f.

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nung, Herstellung oder späteren Behandlung durch natürliche oder willkürliche Einflüsse derart nachteiligen Veränderungen ihrer äußeren oder inneren Beschaffenheit, ihres Aussehens, ihres Geruchs oder Geschmacks ausgesetzt sind, dass ihr Verzehr nach allgemeiner Verkehrsauffassung ausgeschlossen ist17. Im Falle des – zumindest möglich erscheinenden – Vorliegens einer dieser beiden in Art. 14 Abs. 2 BasisVO genannten Tatbestandsalternativen sieht Art. 19 BasisVO ein abgestuftes Handlungsinstrumentarium vor, das sich an dem Grad der jeweils vorliegenden Gefahr orientiert. Die „unterste“ Gefahrenstufe wird in Absatz 1 Satz 1 der Vorschrift geregelt. Sie betrifft den Fall, dass ein möglicher Weise nicht sicheres Lebensmittel bereits auf den Markt gebracht worden ist, jedoch den Verbraucher noch nicht erreicht haben kann. In diesem Falle muss der Lebensmittelunternehmer, der die mangelnde Sicherheit des Lebensmittels erkennt oder zumindest Grund zu einer diesbezüglichen Annahme hat, das betreffende Lebensmittel vom Markt nehmen und die zuständigen Behörden darüber unterrichten, sofern das Lebensmittel nicht mehr unter der unmittelbaren Kontrolle des ursprünglichen Lebensmittelunternehmers steht. Die „zweite“ Gefahrenstufe setzt ein, wenn das betroffene Lebensmittel nicht nur auf den Markt gebracht worden ist, sondern darüber hinaus auch die konkrete Möglichkeit besteht, dass das Produkt den Verbraucher bereits erreicht hat. In diesem Fall bleibt es für den Lebensmittelunternehmer bei der in Absatz 1 Satz 1 genannten Verpflichtung zur Rücknahme vom Markt sowie zur Unterrichtung der Behörden. Zusätzlich muss der Unternehmer gemäß Art. 19 Abs. 1 Satz 2 BasisVO jedoch die Verbraucher effektiv und genau über den Grund für die Rücknahme informieren und erforderlichenfalls bereits an diese gelieferte Produkte zurückrufen. Auf der „höchsten“ Gefahrenstufe des Art. 19 Abs. 3 BasisVO besteht schließlich die Möglichkeit, dass das in Verkehr gebrachte Lebensmittel die Gesundheit des Menschen beschädigen kann. Hier muss der Lebensmittelunternehmer zusätzliche Maßnahmen ergreifen, um das Risiko für den Verbraucher zu verhindern. Er muss zum einen die Behörden gezielt unterrichten und darf zum anderen Dritte nicht an einer Zusammenarbeit mit den Behörden hindern oder sie davon abschrecken. Von den damit bestehenden diversen Handlungspflichten der Lebensmittelunternehmer kommen insbesondere die in Art. 19 Abs. 1 Satz 1 und 2 BasisVO genannten Rücknahme- bzw. Rückrufpflichten für eine mögliche Einflussnahme auf die zivilrechtliche Produkthaftung in Betracht. Daher sollen diese beiden Pflichten hier genauer betrachtet werden.

__________ 17 Meyer (Fn. 7), Art. 19 BasisVO Rz. 30.

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a) Persönlicher Anwendungsbereich des Art. 19 Abs. 1 BasisVO Hinsichtlich des persönlichen Anwendungsbereichs des Art. 19 Abs. 1 BasisVO kann grundsätzlich erneut auf die in Art. 3 Nr. 2 und 3 BasisVO enthaltenen Definitionen verwiesen werden. Demnach würden auch hier Unternehmer auf allen Stufen der Lebensmittelkette – einschließlich des Einzelhandels und des Vertriebes – umfasst werden. Über dieses auf den ersten Blick eindeutig erscheinende Ergebnis herrscht indes große Uneinigkeit. Die Ursache für diesen Streit liegt in der Vorschrift des Art. 19 Abs. 2 BasisVO, die eine Sonderregelung für Tätigkeiten im Bereich des Einzelhandels und des Vertriebs trifft. Nach dieser Vorschrift leiten Lebensmittelunternehmer, die für Tätigkeiten im Bereich des Einzelhandels oder Vertriebs verantwortlich sind, die nicht das Verpacken, das Etikettieren, die Sicherheit oder die Unversehrtheit der Lebensmittel betreffen, im Rahmen ihrer jeweiligen Tätigkeiten Verfahren zur Rücknahme von unsicheren Lebensmitteln ein und tragen zur Lebensmittelsicherheit durch die Weitergabe sachdienlicher Informationen bzw. Mitarbeit bei. Uneinigkeit herrscht nun über das Verhältnis der Absätze 1 und 2: Stellt § 19 Abs. 2 BasisVO eine privilegierende, der Regelung des § 19 Abs. 1 BasisVO im Rang vorgehende Sonderregelung für Einzelhändler und Vertriebsunternehmer dar, mit der Folge, dass diese lediglich in dem in Art. 19 Abs. 2 BasisVO genannten Umfang zu einer Rücknahme von Lebensmitteln, keinesfalls jedoch zu einem Rückruf der Lebensmittel nach § 19 Abs. 1 Satz 2 BasisVO verpflichtet wären18? Oder regeln die Absätze 1 und 2 des Art. 19 BasisVO schlichtweg unterschiedliche Sachverhalte, so dass die beiden Regelungen unabhängig nebeneinander stehen19? Im Ergebnis ist der erstgenannten Ansicht zuzustimmen. Einzelhändler und Vertriebsunternehmer sind demnach lediglich zu den in Art. 19 Abs. 2 BasisVO genannten unterstützenden Maßnahmen, insbesondere zu der Einleitung von Rücknahmeverfahren, verpflichtet. Die hierdurch geschaffene Sonderregelung trägt der Tatsache Rechnung, dass die tatsächliche körperliche Rücknahme des betreffenden Lebensmittels nur durch den Hersteller durchgeführt werden kann. Der Einzelhändler kann hierbei lediglich unterstützend tätig werden. Dass seine diesbezügliche Verpflichtung nach Art. 19 Abs. 2 BasisVO auf die Rücknahme beschränkt ist und nicht auch den Rückruf der Produkte umfasst, ist unter dem Gesichtspunkt der effektiven Gefahrenabwehr durchaus zu kritisieren. Gefahren für die Lebensmittelsicherheit können selbstverständlich nicht nur im Bereich der Produktion oder des Imports, sondern gleichermaßen im Bereich des Einzelhandels und Vertriebs, beispielweise durch falsche Lagerung, entstehen. In diesem Sinne mag es vorzugswürdig erscheinen, Einzelhändler und Vertriebsunternehmer in die Rückrufverpflichtung mit einzubeziehen. Dieses Ergebnis lässt sich jedoch einzig durch eine entsprechende Änderung des Gesetzestextes erzielen, nicht aber durch eine Hinwegsetzung über dessen eindeutigen Wortlaut.

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18 So Sosnitza, Rücknahme und Rückruf nach Art. 14, 19 Basisverordnung, ZLR 2009, 299, 305 f. 19 So Meyer (Fn. 7), Art. 19 BasisVO Rz. 4; Zipfel/Rathke (Fn. 4), Art. 19 BasisVO Rz. 6 ff.

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Der abweichenden Auffassung, der zufolge die Absätze 1 und 2 des Art. 19 BasisVO unterschiedliche Sachverhalte betreffen, kann nicht gefolgt werden. Nach dieser Ansicht betrifft Art. 19 Abs. 2 BasisVO lediglich diejenigen Fälle, in welchen der Einzelhändler das Lebensmittel nicht selbst in Verkehr gebracht hat20. Nur in diesem Fall solle ihn die Privilegierung des Absatzes 2 treffen. Ist das betreffende Lebensmittel dagegen von dem Händler selbst in Verkehr gebracht worden, so sei die Regelung des Absatzes 1 anwendbar. Ein derartiges Verständnis widerspricht indes eindeutig dem weiten Begriff des Inverkehrbringens, der in Art. 3 Nr. 8 BasisVO definiert wird. Danach ist ein Lebensmittel dann in Verkehr gebracht, wenn es für Verkaufszwecke bereit gehalten wird, einschließlich des Anbietens zum Verkauf oder jeder anderen Form der Weitergabe. Ein Einzelhändler, der in diesem Sinne keine Lebensmittel in Verkehr bringt, ist schwer vorstellbar, so dass Art. 19 Abs. 2 BasisVO praktisch ohne Anwendbarkeit bliebe. Bezüglich des von Art. 19 Abs. 1 und 2 BasisVO umfassten Adressatenkreises ist damit folgendes festzuhalten: Die in Art. 19 Abs. 1 Satz 1 und 2 BasisVO enthaltene Verpflichtung zu einer umfassenden Rücknahme sowie zu einem Rückruf betrifft lediglich Lebensmittelunternehmer im Bereich der Produktion und Verarbeitung. Unternehmer, die im Bereich des Einzelhandels oder Vertriebs tätig sind, haben dagegen nur eine eingeschränkte Pflicht zur Unterstützung von Rücknahmeaktionen nach Art. 19 Abs. 2 BasisVO. b) Umfang der Rücknahme- und Rückrufpflicht Inhaltlich ergeben sich aus der Pflicht zur Rücknahme und zum Rückruf folgende Anforderungen: Unter einer Rücknahme ist nach der Definition in der Richtlinie 2001/95/EG21 über allgemeine Produktsicherheit jede Maßnahme zu verstehen, mit der verhindert werden soll, dass ein gefährliches Produkt vertrieben, ausgestellt oder dem Verbraucher angeboten werden soll. Denkbar sind dabei Maßnahmen wie die Aufforderung an die Kunden, die Ware wieder herauszugeben sowie das Aussortieren und der Abtransport der Ware. Ist diese von dem unmittelbaren Kunden bereits weiter vertrieben worden, so muss der Lebensmittelunternehmer außerdem die Abnehmer des Kunden ermitteln und sodann von diesen – direkt oder indirekt – die Ware zurückfordern22. Unter einem Rückruf sind alle Maßnahmen zu verstehen, die die Rückkehr eines nicht sicheren Produkts vom Verbraucher zum Unternehmer zum Ziel haben23. Der Unterschied zu dem Begriff der Rücknahme liegt folglich in der Tatsache, dass das betreffende Produkt den Verbraucher bereits erreicht hat. Als Mindestmaß setzt der Rückruf die an die Verbraucher gerichtete Aufforderung zur Rückgabe der Ware voraus, wobei diese – je nach Gefahrengrad – in

__________ 20 So jedoch Zipfel/Rathke (Fn. 4), Art. 19 BasisVO Rz. 6 ff. 21 ABl. Nr. L 11 v. 15.1.2002, S. 4. 22 Vgl. Zipfel/Rathke (Fn. 4), Art. 19 BasisVO Rz. 20; Meyer (Fn. 7), Art. 19 BasisVO Rz. 9. 23 Vgl. Meyer (Fn. 7), Art. 19 BasisVO Rz. 12.

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den Medien oder durch eigene Aussendungen des Unternehmens ausgesprochen werden kann. Zu beachten ist, dass die Verpflichtung zum Rückruf – anders als diejenige zur Rücknahme – nur „erforderlichenfalls“ besteht. Während die Rücknahme also in jedem Fall des Inverkehrbringens eines unsicheren Lebensmittels durchgeführt werden muss, ist ein Rückruf nur dann verpflichtend, wenn andere Maßnahmen, namentlich solche der Behörden, nicht ausreichen, um ein hohes Gesundheitsschutzniveau zu erreichen24. Fraglich ist, ob der Begriff des Rückrufs daneben auch eine Verpflichtung des Lebensmittelunternehmers zur Erstattung des Kaufpreises mit einschließt. Dies wird zum Teil zumindest einschränkend bejaht. Danach sollen die Lebensmittelunternehmer unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit im Falle einer besonders hohen Gefahr dazu verpflichtet sein, den Verbrauchern den bereits gezahlten Kaufpreis zu erstatten25. Begründet wird dies mit dem von Art. 19 BasisVO verfolgten Ziel einer möglichst effektiven Gefahrenabwehr. Durch eine Erstattung des Kaufpreises könnten gerade Verbraucher mit geringem Einkommen eher dazu motiviert werden, der Aufforderung zur Rückgabe nachzukommen26. Dies mag wohl zutreffen; eine derartige Auslegung überschreitet indes die eindeutige Wortlautgrenze der Vorschrift und ist daher nicht vertretbar. Der Begriff des Rückrufs kann selbst unter Zugrundelegung eines extensiven Begriffsverständnisses nicht im Sinne einer Kaufpreiserstattung verstanden werden. Gegen ein solches Verständnis spricht im Übrigen auch das Erforderlichkeitskriterium des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 BasisVO, das auf eine Zurückhaltung des Verordnungsgebers im Hinblick auf den Umfang der Handlungspflichten schließen lässt. Wenn schon die Pflicht zu einem „einfachen“ Rückruf nur „erforderlichenfalls“ bestehen soll, so wollte der Verordnungsgerbers wohl kaum eine so weitgehende Pflicht wie diejenige zur Erstattung des Kaufpreises statuieren. Auch aus gesetzessystematischen Gründen ist schließlich nicht davon auszugehen, dass dieser Konflikt, bei dem es sich vorrangig um eine zivilrechtliche Haftungsfrage handelt, im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen der Basisverordnung gelöst werden sollte.

III. Einfluss der Basisverordnung auf die zivilrechtliche Produkthaftung Um einen möglichen Einfluss der Basisverordnung auf die zivilrechtliche Produkthaftung festzustellen, empfiehlt sich zunächst ein kurzer Blick auf die Struktur des deutschen Produkthaftungsrechts. Dieses ist geprägt durch seine Zweigleisigkeit. Auf der einen Seite existiert die verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung nach den Vorschriften des Produkthaftungsgesetzes. Daneben besteht eine verschuldensabhängige Haftung nach den Normen des Deliktsrechtes. Während das relativ junge Produkthaftungsgesetz dabei ein

__________

24 Vgl. Meyer (Fn. 7), Art. 19 BasisVO Rz. 13. 25 Vgl. Sosnitza (Fn. 18), ZLR 2009, 304. 26 So Sosnitza (Fn. 18), ZLR 2009, 304.

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ausformuliertes und ausdifferenziertes Haftungssystem enthält, beruht die deliktische Produkthaftung im Wesentlichen auf von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen. Den Ausgangspunkt bildet dabei der Gedanke, dass derjenige für eine Gefahrenquelle verantwortlich ist, der diese eröffnet und beherrscht27. In diesem Sinne ist der Hersteller eines fehlerhaften Produktes dafür verantwortlich, Dritte vor der von dem Produkt ausgehenden Gefahr zu schützen. Aus diesem Grundsatz hat die Rechtsprechung diverse von den Unternehmern zu beachtende Pflichtenkreise wie Planungs- und Entwicklungspflichten, Herstellungs-, Instruktions- oder Produktbeobachtungspflichten entwickelt. Sowohl hinsichtlich dieser Pflichten als auch in Bezug auf die Beweislastverteilung sind dabei die Anforderungen an die Unternehmer immer weiter verschärft worden, so dass der Jubilar bereits von einer Reduzierung der verschuldensabhängigen Deliktshaftung auf die verschuldensunabhängige Produkthaftung, wie sie in § 1 Abs. 1 ProdHaftG gesetzliche Wirklichkeit geworden ist, spricht28. Hinsichtlich des persönlichen Anwendungsbereichs der deliktischen Verkehrssicherungspflichten ist zu beachten, dass diese vorrangig den Hersteller als dem regelmäßigen Verursacher der Gefahrenquelle treffen. Händler und Vertriebsunternehmen sind dagegen grundsätzlich nicht gehalten, die von ihnen vertriebene Waren auf ihre Sicherheitseigenschaften zu überprüfen, sondern haben lediglich solche Fehler zu verantworten, die sich ohne Überprüfung erkennen lassen29. Daneben besteht freilich eine Haftung für solche Mängel, die erst im Verantwortungsbereich des Händlers entstehen, beispielsweise durch eine falsche Lagerung der Ware oder eine fehlerhafte Beratung des Kunden30. Eine Auswirkung öffentlich-rechtlicher Vorschriften wie diejenigen der Basisverordnung auf die Produkthaftung ist nur im Bereich des Deliktsrechts möglich. Hier bieten sich zwei Einfallstore für eine Beeinflussung an: Zum einen können öffentlich-rechtliche Normen der Konkretisierung der im Rahmen von § 823 Abs. 1 BGB zu beachtenden Verkehrssicherungspflichten dienen. Zwar stellen öffentlich-rechtliche Verhaltensstandards nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes keine für das Deliktsrechts verbindliche und abschließende Regelungen der Sorgfaltspflichten dar. Sie dienen jedoch durchaus als Orientierungsmaßstab31. Die deliktische Verkehrssicherungspflicht kann demzufolge zum Schutze bedrohter Rechtsgüter durchaus höhere Anforderungen stellen und mehr an Sorgfalt verlangen, als in öffentlich-recht-

__________ 27 Spindler in Bamberger/Roth, Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, Stand 1.10. 2007, § 823 BGB Rz. 478. 28 Vgl. Graf von Westphalen (Fn. 1), ZLR 2000, 280. 29 BGH, VersR 1960, 855, 856; OLG Celle, NJW-RR 1997, 1456, 1457. 30 Vgl. Wagner in Rebmann/Säcker/Rixecker, MünchKomm.BGB, Band 5, 5. Aufl. 2009, § 823 BGB Rz. 607; Foerste in Graf von Westphalen, Produkthaftungshandbuch, Bd. 1 – Vertragliche und deliktische Haftung, Strafrecht und Produkt-Haftpflichtversicherung, 2. Aufl., § 26 Rz. 7 ff. 31 Vgl. Sprau in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 823 BGB Rz. 51; Krause in Soergel, Bd. 10, 13. Aufl. 2005, Anh II § 823 BGB Rz. 47 f.; BGH, NJW 1999, 2364; BGH, NJW 1998, 2463; BGH, NJW 1985, 620; BGH, NJW 1987, 372.

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lichen Bestimmungen normiert ist32. Letztere stellen allerdings vielfach den im Rahmen der Verkehrssicherungspflicht zu beachtenden Mindeststandard dar33, so dass die Verletzung einer öffentlich-rechtlichen Pflicht eine Verkehrssicherungspflichtverletzung in der Regel indiziert. Die zweite Möglichkeit einer Einflussnahme öffentlich-rechtlicher Normen auf das Deliktsrechts besteht in ihrer Heranziehung als Schutzgesetz im Rahmen des § 823 Abs. 2 BGB. Im Folgenden wird untersucht, ob die Artt. 17 bis 19 der Basisverordnung die Deliktshaftung auf einem der beiden beschriebenen Wege beeinflussen. Dies hängt zunächst davon ab, ob die in den Normen enthaltenen Verpflichtungen überhaupt eine Veränderung im Vergleich zu den bislang angenommenen deliktischen Sorgfaltspflichten darstellen. Sollte dies der Fall sein, so stellt sich weiterhin die Frage nach der praktischen Auswirkung einer solchen Veränderung neben der ohnehin bestehenden Haftung nach dem Produkthaftungsgesetz. 1. Einfluss des Art. 17 Abs. 1 BasisVO Wie bereits dargestellt, lassen sich der Vorschrift Art. 17 Abs. 1 BasisVO keine unmittelbar anzuwendenden Handlungspflichten entnehmen, so dass hier eine unmittelbare Konkretisierung von deliktischen Verkehrssicherungspflichten ebenso wenig wie eine Heranziehung als Schutzgesetz in Betracht kommt. Eine Auswirkung auf die Deliktshaftung ist daher allenfalls mittelbar in Form einer Heranziehung des Art. 17 Abs. 1 BasisVO als einen allgemeinen Grundsatz zur Abgrenzung der Verantwortungsbereiche innerhalb der Lebensmittelkette denkbar. Ein solcher Einfluss scheitert indes daran, dass der in Art. 17 Abs. 1 BasisVO verankerte Grundsatz der Stufenverantwortlichkeit keine Veränderung gegenüber der bislang im Deliktsrecht geltenden Abgrenzung der Verantwortungsbereiche enthält34. Nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen können lediglich eigenes Fehlverhalten oder aber das erkennbare Fehlverhalten vorangegangener Stufen der Lebensmittelketten einen Anknüpfungspunkt für eine deliktische Haftung darstellen, nicht dagegen das Verhalten nachgelagerter Stufen. Diese Haftungsverteilung stimmt mit der Regelung des Art. 17 Abs. 1 BasisVO überein. Damit hat Art. 17 Abs. 1 BasisVO keinerlei Auswirkungen auf die zivilrechtliche Produkthaftung.

__________ 32 Vgl. BGH, NJW 1999, 2364; BGH, NJW 1998, 2463; BGH, NJW 1985, 620; BGH, NJW 1987, 372. 33 Vgl. Wagner (Fn. 30), § 823 BGB Rz. 625. 34 Vgl. Sosnitza (Fn. 5), ZLR 2004, 125; Rabe (Fn. 5), ZLR 2003, 159.

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2. Einfluss des Art. 18 Abs. 2, 3 BasisVO a) Art. 18 Abs. 2, 3 BasisVO als Konkretisierung der Verkehrssicherungspflicht nach § 823 Abs. 1 BGB aa) Bisheriger Pflichtenumfang Fraglich ist zunächst, ob die Lebensmittelunternehmer nach der bisherigen Rechtsprechung eine Verkehrssicherungspflicht mit dem Inhalt traf, die Rückverfolgbarkeit ihrer Ware sicherzustellen. Dies ist nicht der Fall. Zwar existierten auch bislang schon vereinzelte öffentlich-rechtliche Vorschriften, welche ein Rückverfolgbarkeitsgebot vorsahen, so beispielsweise die Verordnung (EG) Nr. 1760/2000 zur Einführung eines Systems zur Kennzeichnung und Registrierung von Rindern und über die Etikettierung von Rindfleisch und Rindfleischerzeugnissen35. Bei diesen Normen handelte es sich jedoch lediglich um branchenspezifische Vorgaben, die von der zivilgerichtlichen Rechtsprechung in der Vergangenheit nicht zu einer Konkretisierung der produkthaftungsrechtlichen Verkehrssicherungspflichten herangezogen wurden. Art. 18 BasisVO stellt damit die erste allgemeine, resortübergreifende Rechtsvorschrift dar, durch die Lebensmittelunternehmer zur Sicherstellung der Rückverfolgbarkeit ihrer Ware verpflichtet werden36. Damit ist ein Einfluss auf die deliktische Produkthaftung denkbar. bb) Anwendungsfälle einer erweiterten Haftung Voraussetzung für eine deliktische Haftung, die an der Verletzung einer solchen „Rückverfolgbarkeitspflicht“ anknüpft, ist freilich das Vorliegen der übrigen Tatbestandsmerkmale der Haftungsnorm. Erforderlich ist daher zum einen, dass der in Anspruch genommene Lebensmittelunternehmer die Pflichtverletzung verschuldet hat, was im jeweiligen Einzelfall unter Zugrundelegung der allgemeinen Maßstäbe zu prüfen ist. Eine weitere – durchaus höhere – Hürde stellt die im Rahmen von § 823 Abs. 1 BGB erforderliche Kausalität zwischen der begangenen Pflichtverletzung und dem eingetretenen Schaden dar. Der konkrete Schadenseintritt muss demnach gerade auf der mangelnden Rückverfolgbarkeit der Ware beruhen. Dies ist nur dann der Fall, wenn der in Anspruch genommene Lebensmittelunternehmer der ihm nach Art. 18 BasisVO obliegenden Dokumentationspflicht nicht nachgekommen ist und der eigentlich deliktisch verantwortliche Unternehmer infolge dieser fehlenden Dokumentation nicht ermittelt werden kann. Nur hier führt gerade die fehlende Rückverfolgbarkeit zu einem Vermögensschaden des Anspruchstellers, der sich nicht wie sonst an den eigentlich Verantwortlichen halten kann. Da sich die Dokumentationspflicht, wie oben beschrieben, in beide Richtungen der Lebensmittelkette erstreckt – sowohl „up-stream als auch „downstream“, sind folglich zwei Möglichkeiten einer kausalen Schadensverursachung denkbar.

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35 ABl. Nr. L 204 v. 11.8.2000, S. 1. 36 Vgl. Meyer (Fn. 7), Art. 18 BasisVO Rz. 2.

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Im ersten Fall ist der Lebensmittellieferant oder -einzelhändler nicht in der Lage, seinen Vorlieferanten oder Hersteller zu benennen, was dazu führt, dass der eigentlich verantwortliche Produkthersteller nicht ermittelt und damit auch nicht in Anspruch genommen werden kann. Zieht man Art. 18 BasisVO hier als Mindestmaß der zu beachtenden Verkehrssicherungspflichten heran, so ist ein solcher Verstoß künftig als Pflichtverletzung im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB zu werten37. Im Ergebnis führt dies zu einer deutlichen Ausweitung der Händlerhaftung, die nunmehr nicht mehr wie bisher lediglich für ihnen erkennbare oder eigene Fehler verantwortlich sind, sondern eben auch für die geschilderten Verstöße gegen das Rückverfolgbarkeitsverbot. Eine dem verschuldensabhängigen Deliktsrecht zuwiderlaufende Haftung für fremdes Verschulden wird hierdurch dennoch nicht begründet. Denn der Anknüpfungspunkt für die Haftung des Händlers besteht nicht etwa in dem von dem Hersteller verschuldeten Produktfehler, sondern in der selbst verschuldeten mangelnden Dokumentation der Warenherkunft. Der zweite denkbare Fall betrifft den Hersteller oder Lieferanten, der die Person, an welche er das Lebensmittel geliefert hat, nicht benennen kann. Verursacht nun dieser unbekannte Abnehmer oder ein weiterer unbekannter nachgeschalteter Teilnehmer der Lebensmittelkette einen Produktfehler, kann aber hierfür infolge seiner unbekannten Identität nicht haftbar gemacht werden, so ist die unterbliebene Dokumentation des Herstellers kausal für den Schadenseintritt. Demnach muss auch hier der Verstoß gegen den Rückverfolgbarkeitsgrundsatz zu einer Haftung führen38. Auf den ersten Blick scheint dieses Ergebnis einen Widerspruch gegen den fundamentalen Grundsatz der deliktischen Produkthaftung darzustellen, dass es keine Haftung für das Verschulden nachgeschalteter Stufen der Produktketten gibt. Betrachtet man den Fall indes genau, so zeigt sich, dass der Anknüpfungspunkt für die Haftung – ebenso wie in dem zuvor geschilderten Fall – auch hier eben nicht in einem fremden Verschulden, sondern in dem eigenen Verstoß gegen das Rückverfolgbarkeitsgebot liegt. Bei einer konsequenten Heranziehung des Art. 18 BasisVO zum Zwecke der Konkretisierung ist daher kein Grund für eine Differenzierung zwischen den beiden genannten Möglichkeiten der Pflichtverletzung zu sehen. Damit bleibt festzuhalten, dass Art. 18 BasisVO zu einer Erweiterung der im Rahmen von § 823 Abs. 1 BGB zu beachtenden Verkehrssicherungspflichten führt. Dies gilt zum einen für Unternehmer im Bereich des Handels und Vertriebs, daneben jedoch auch für die Produkthersteller, soweit diese den Produktfehler nicht ohnehin selbst verursacht haben. b) Art. 18 Abs. 2, 3 BasisVO als Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB Voraussetzung für einen möglichen Einfluss von Art. 18 BasisVO auf eine deliktische Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB ist die Schutzgesetzeigenschaft der

__________ 37 Ebenso Sosnitza (Fn. 5), ZLR 2004, 132 f. 38 A. A. offensichtlich Sosnitza (Fn. 5), ZLR 2004, 132 f., der jedenfalls nur von einer Erweiterung der Händlerhaftung spricht.

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Norm. Entscheidend ist hierfür, ob Art. 18 BasisVO dem Schutz von Individualinteressen zu dienen bestimmt ist. Dabei muss der Individualschutz nicht der ausschließliche Zweck des Gesetzes sein, sondern es reicht aus, wenn auch Individualinteressen geschützt werden sollen39. Ein solcher zumindest Teilschutzzweck ist im Falle des Art. 18 BasisVO zweifelsfrei zu bejahen. Die Verpflichtung zur Rückverfolgbarkeit dient der möglichst zielgenauen Nachverfolgung der Produktherkunft, um Maßnahmen wie Warnungen oder Rückrufe zu ermöglichen und damit letzten Endes dem Schutz der Verbraucher. Dies wird auch unter Rückgriff auf die Erwägungsgründe Nr. 8 und 28 der Basisverordnung sowie auf Art. 1 Abs. 1 BasisVO, welcher das von der Basisverordnung verfolgte Ziel eines „hohen Schutzniveaus für die Gesundheit des Menschen und die Verbraucherinteressen“ nennt, deutlich. Eine Verletzung von Art. 18 BasisVO stellt damit eine nach § 823 Abs. 2 BGB maßgebliche Schutzgesetzverletzung dar. Unter den zusätzlichen Voraussetzungen des Verschuldens sowie der Kausalität kommt folglich auch unter diesem Gesichtspunkt eine Haftung in Betracht, so dass auch eine diesbezügliche Auswirkung des Art. 18 BasisVO auf die Produkthaftung zu bejahen ist. c) Praktische Bedeutung Zu untersuchen bleibt schließlich, ob die beschriebene Haftungserweiterung neben der verschuldensunabhängigen Haftung nach dem Produkthaftungsgesetz überhaupt eine eigenständige Bedeutung hat. Hier ist zwischen dem Bereich der Hersteller und demjenigen der Händler zu differenzieren. Anders als das Deliktsrecht knüpft das Produkthaftungsgesetz nicht konsequent an den Herstellerbegriff an, so dass Händler und Vertriebsunternehmer bereits bisher als sog. „Quasi-Händler“ hafteten. Nach § 4 Abs. 3 ProdHaftG gilt jeder Lieferant eines Produktes als dessen Hersteller, soweit der tatsächliche Hersteller nicht festgestellt werden kann. Der damit begründeten Haftung kann der Lieferant nur dadurch entgehen, dass er dem Geschädigten innerhalb einer bestimmten Frist den Hersteller oder diejenige Person benennt, die ihm das Produkt geliefert hat. Für die Lebensmittelhändler bestand damit bereits vor Erlass der Basisverordnung eine Art Rückverfolgbarkeitspflicht, deren Verletzung sogar eine verschuldensunabhängige Haftung nach sich zieht. Dennoch ist der praktische Anwendungsbereich der verschuldensabhängigen Deliktshaftung hierdurch nicht völlig auf Null reduziert. Einen Rückgriff auf das Deliktsrecht bedarf es vielmehr zum einen in den Fällen einer Überschreitung der in § 10 ProdHaftG festgelegten Haftungshöchstgrenzen, zum anderen bei Sachschäden, welche gemäß § 1 Satz 2 ProdHaftG nicht von dem Anwendungsbereich des Produkthaftungsgesetzes umfasst sind. Letzteres ist der Fall, wenn entweder nur das fehlerhafte Produkt selbst beschädigt wird (dieser Fall dürfte im Bereich der Lebensmittel kaum eine Rolle spielen)

__________ 39 Ständige Rspr. des BGH, BGH, NJW 1954, 675; BGH, NJW 1959, 880, 881 f.; BGH, NJW 1964, 396; BGH, NJW 1982, 2780; BGH, NJW 1987, 1818 f.; BGH, NJW 1989, 974; BGH, NJW-RR 2005, 673; BGH, VersR 2005, 238; BGH, NJW 2005, 2923, 2924.

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oder zwar eine andere Sache beschädigt wird, die jedoch nicht ihrer Art nach gewöhnlich für den privaten Ge- und Verbrauch bestimmt ist. Im Bereich der Lebensmittelhersteller besteht die durch die Basisverordnung verursachte Haftungserweiterung, wie dargestellt, in einer Haftung für die mangelnde Dokumentation des Warenabnehmers, wenn dieser oder später hinzutretende Personen den Produktfehler verursachen. Diese Neuerung ist durchaus von praktischer Bedeutung neben der Haftung nach dem Produkthaftungsgesetz, weil dieses in dem genannten Fall nicht greift. Nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 ProdHaftG ist nämlich die Haftung des Herstellers ausgeschlossen, wenn das Produkt im Zeitpunkt seines Inverkehrbringens durch den Hersteller noch fehlerfrei war. 3. Einfluss von Art. 19 Abs. 1, 2 BasisVO a) Art. 19 Abs. 1, 2 BasisVO als Konkretisierung der Verkehrssicherungspflichten nach § 823 Abs. 1 BGB aa) Bisheriger Pflichtenumfang Ob die in Art. 19 Abs. 1, 2 BasisVO statuierten Rücknahme- bzw. Rückrufpflichten die zivilrechtliche Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB beeinflussen, ist – ebenso wie im Falle des Art. 18 Abs. 2, 3 BasisVO – zunächst von dem bislang bestehenden Pflichtenumfang abhängig. Entscheidend ist demnach, ob bereits vor Erlass der Basisverordnung eine im Rahmen von § 823 Abs. 1 BGB zu beachtende Verkehrssicherungspflicht mit dem Inhalt einer Rücknahme- bzw. Rückrufverpflichtung existierte. Hinsichtlich des Bereiches der Händler und Vertriebsunternehmer kann dies unproblematisch verneint werden. Zwar ist auch hier vereinzelt das Bestehen einer sehr eingeschränkten Pflicht der Händler zur Beteiligung an Rückrufaktionen des Herstellers40 bzw. zur Einstellung des weiteren Vertriebes bei Kenntnis von möglicherweise schwerwiegenden Gefahren41 diskutiert worden. Entsprechend der grundsätzlichen Ausrichtung der deliktischen Produkthaftung auf den Produkthersteller lehnt die ganz herrschende Meinung jedoch jegliche Formen von Rücknahme- oder Rückrufpflichten für Händler ab. Im Bereich der Herstellerhaftung herrscht dagegen große Uneinigkeit über das Bestehen derartiger Pflichten. Im Rahmen dieser Diskussion wird zwischen der Rücknahme einerseits und dem Rückruf andererseits nicht differenziert; vielmehr wird durchweg der Begriff des Rückrufs verwendet, unabhängig davon, ob das Produkt den Verbraucher bereits erreicht hat oder nicht.

__________ 40 Foerste (Fn. 30), § 26 Rz. 39 ff.; Bodewig, Der Rückruf fehlerhafter Produkte, 1. Aufl. 1999, S. 188. 41 Vgl. BGH, NJW 1994, 517, 519 f., allerdings für den Sonderfall eines alleinigen Importeurs.

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Teilweise wird das Bestehen einer deliktischen Rückrufpflicht für Produkthersteller gänzlich verneint42. Begründet wird diese Ablehnung zum einen damit, dass die im Rahmen der Verkehrssicherungspflicht erforderliche Gefahrenabwehr bereits durch Herausgabe entsprechender Produktwarnungen erreicht werde43. Zum anderen wird geltend gemacht, die Anerkennung einer deliktischen Rückrufpflicht schiebe die Wertungen des Gewährleistungsrechts beiseite44. Die diesbezügliche Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes war lange Zeit nicht eindeutig. Aussagen über eine mögliche Rückrufpflicht von Herstellern fanden sich zunächst nur in strafrechtlichen Entscheidungen und auch dort ohne nähere Begründung. So stellte der Bundesgerichtshof in der sogenannten „Mandelbienenstich“-Entscheidung lapidar fest, die Angeklagten hätten durch die Veranlassung einer Rückrufaktion alles in dem konkreten Fall Mögliche und damit Zumutbare zur Gefahrenabwendung getan45. Nur wenig deutlicher ist die sogenannte Lederspray-Entscheidung, in der der Bundesgerichtshof erklärte, gesundheitsgefährdenden Konsumgüter müssten aus strafrechtlicher Perspektive zurückgerufen werden46. In keiner der beiden Entscheidungen wurden indes Aussagen darüber getroffen, welche Maßnahmen konkret zu ergreifen seien. In der zivilrechtlichen „Apfelschorf“-Entscheidung schließlich, welche als grundlegend für den Bereich der Produkthaftung gilt, schweigen die Richter gänzlich über die Möglichkeit einer über eine Warnpflicht hinausgehende Pflicht zum Rückruf47. In einer jüngeren Entscheidung hat der Bundesgerichtshof nunmehr jedoch endgültig klargestellt, dass die Produktbeobachtungspflicht des Produktherstellers im Einzelfall auch eine Reaktionspflicht in Form einer Pflicht zum Rückruf der fehlerhaften Produkte beinhalten kann48. Damit befindet er sich in Übereinstimmung mit der wohl herrschenden Meinung in der Literatur49. Die Sicherungspflichten des Herstellers nach Inverkehrbringen seines Produkts sind danach nicht notwendig auf die Warnung vor etwaigen Gefahren beschränkt50. Weitergehende Pflichten können zum einen dann bestehen, wenn davon auszugehen ist, dass eine Warnung den Benutzern des Produkts nicht ausreichend ermöglicht, die Gefahren einzuschätzen und ihr Verhalten darauf

__________ 42 LG Frankfurt/M, BeckRS 2008, 2795 f.; Brüggemeier, Produkthaftung und Produktsicherheit, ZHR 152 (1988), 511, 525 f.; Foerste (Fn. 30), § 24 Rz. 258 ff., § 39 Rz. 5 (allerdings differenziert). 43 Vgl. LG Frankfurt (Fn. 42), S. 2795 f.; Brüggemeier (Fn. 42), ZHR 152 (1988), 525; Foerste (Fn. 30), § 24 Rz. 262 ff. 44 Vgl. LG Frankfurt (Fn. 42), S. 2795 f.; Brüggemeier (Fn. 42), ZHR 152 (1988), 525; Foerste (Fn. 30), § 24 Rz. 276, 284, § 39 Rz. 5. 45 Vgl. BGH, LMRR 1988, 29. 46 Vgl. BGH, NJW 1990, 2560, 2564. 47 Vgl. BGH, NJW 1981, 1603. 48 Vgl. BGH, NJW 2009, 1080, 1081. 49 Vgl. Graf von Westphalen (Fn. 1), DB 1999, 1369; ders., ZLR 2000, 271 283; Schwenzer, Rückruf- und Warnpflichten des Warenherstellers, JZ 1987, 1059; Wagner (Fn. 30), § 823 BGB Rz. 653 f. 50 Vgl. BGH, NJW 2009, 1080, 1081.

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einzurichten; zum anderen dann, wenn Grund zu der Annahme besteht, die Produktbenutzer würden die Warnung nicht beachten und dadurch Dritte gefährden. Im Ergebnis ist das Bestehen einer Pflicht zum Rückruf danach eine Frage der Erforderlichkeit. Soweit eine effektive Abwehr der durch den Produktfehler drohenden Gefahren nur durch einen Rückruf zu erreichen ist, ist der Hersteller zur Durchführung eines solchen verpflichtet. Der konkrete Umfang dieser Pflicht ist nach den jeweiligen Besonderheiten des Einzelfalles zu bestimmen und wird auch vom BGH nicht allgemeingültig festgelegt. Sogar die grundsätzliche Möglichkeit einer Pflicht des Herstellers, die fehlerhaften Produkte auf eigene Kosten nachzurüsten oder zu reparieren, wird nicht eindeutig ausgeschlossen, sondern ebenfalls von der Erforderlichkeit zu Gefahrenabwehr abhängig gemacht51. Allerdings wird gleichzeitig darauf hingewiesen, dass für diese Abwehr selbst in Fällen „erheblicher Gefahren“ vielfach eine Information der Abnehmer, das Anbieten von Hilfe bzw. eine Aufforderung zur Nichtbenutzung oder Stilllegung genügten, was auf einen sehr strikten Umgang mit dem Erforderlichkeitskriterium hinweist. Für den Bereich des Lebensmittelrechts besteht insoweit allerdings die Besonderheit, dass sich die durch das fehlerhafte Lebensmittel verursachte Gefahr oftmals auf die Gesundheit der Verbraucher und damit auf ein äußerst wichtiges Rechtsgut beziehen wird. Je bedeutender aber ein Rechtsgut ist, desto geringer sind die Anforderungen an die Nähe und die Intensität der Gefährdung, um Pflichten zu begründen52. Die Erforderlichkeit einer Rückrufaktion dürfte hier demnach tendenziell leichter zu bejahen sein als in anderen Bereichen des Produkthaftungsrechts. bb) Anwendungsfälle einer erweiterten Haftung Voraussetzung für eine an die Verletzung von Art. 19 Abs. 1 und 2 BasisVO anknüpfende Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB ist selbstverständlich auch hier das Vorliegen der weiteren Tatbestandsvoraussetzungen, insbesondere des Verschuldens sowie der Kausalität. Diesbezüglich sind keinerlei Besonderheiten zu beachten. Im Bereich der Händlerhaftung führt Art. 19 BasisVO damit zu einer deutlichen Verschärfung der Haftung. Während die Lebensmittelhändler bisher keinerlei Rückrufpflichten trafen, sind sie unter Zugrundelegung des hier vertretenen Verständnisses von Art. 19 Abs. 2 BasisVO nunmehr zu der Einleitung von Rücknahmeverfahren und unterstützenden Handlungen im Rahmen solcher Verfahren verpflichtet. Versteht man Art. 19 Abs. 1 Satz 2 BasisVO nicht im Sinne einer abschließenden Privilegierung der Einzelhändler und Vertriebsunternehmer, so unterliegen diese sogar einer noch weitergehenden Haftung in Form einer eigenständigen Rücknahme- bzw. Rückrufpflicht.

__________ 51 Vgl. BGH, NJW 2009, 1080, 1081. 52 Vgl. OLG Frankfurt, NJW-RR 2002, 1268, 1270.

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Geringer ist dagegen der Einfluss, den Art. 19 BasisVO auf die Herstellerhaftung besitzt. Soweit man zwischen den Begriffen der Rücknahme und dem Rückruf differenziert, so ergibt sich für die Verpflichtung zum Rückruf keinerlei Veränderung im Vergleich zu der bisherigen Rechtslage. Das Bestehen einer Rückrufpflicht ist auch nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 BasisVO nur im Falle der Erforderlichkeit zu bejahen. Auch Aussagen über die konkret vorzunehmenden Handlungen, die zu einer Klärung des umstrittenen Umfangs der Rückrufpflicht beitragen könnten, sind Art. 19 BasisVO nicht zu entnehmen. Eine gewisse Veränderung ist allerdings im Hinblick auf die Verpflichtung zur Rücknahme festzustellen. Hier sieht Art. 19 Abs. 1 Satz 1 BasisVO nicht das zusätzliche Kriterium der Erforderlichkeit vor, so dass eine Pflicht zur Rücknahme fehlerhafter Lebensmittel zukünftig nicht mehr von einer Einzelfallprüfung abhängig sein dürfte. Da die Rechtsprechung jedoch zwischen dem Begriff der Rücknahme und dem des Rückrufs nicht differenziert, ist nicht zu erwarten, dass sich diese Veränderung praktisch auswirken wird. b) Art. 19 Abs. 1, 2 BasisVO als Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB Da auch Art. 19 BasisVO, dessen wesentliches Ziel in einem Schutz der Verbraucher besteht, als Schutzzweck im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB zu werten ist, besteht auch ein diesbezüglicher Einfluss auf die Deliktshaftung. c) Praktische Bedeutung Die beschriebene Haftungserweiterung im Bereich der Lebensmittelhändler ist auch unter Berücksichtigung des Produkthaftungsgesetzes durchaus von Bedeutung. Wie bereits dargelegt, haften Händler nach dem Produkthaftungsgesetz nur im Falle der mangelnden Feststellbarkeit des Herstellers. Die nach Art. 19 Abs. 2 BasisVO bestehende eingeschränkte Rücknahmeverpflichtung begründet folglich einen für die Händler neuen produkthaftungsrechtlichen Verantwortungsbereich.

IV. Futtermittelunternehmer Hinsichtlich des Grundsatzes der Stufenverantwortung sowie des Gebotes der Rückverfolgbarkeit enthalten Artt. 17 und 18 BasisVO keinerlei abweichende Bestimmungen für Futtermittelunternehmer, so dass sich hier keine Besonderheiten zu dem Bereich der Lebensmittelunternehmer ergeben. Die Handlungspflichten von Futtermittelunternehmern im Falle des Vorliegens von unsicheren Futtermitteln sind in Art. 20 BasisVO gesondert geregelt. Die Norm entspricht dabei teilweise der Parallelvorschrift des Art. 19 BasisVO für Lebensmittelunternehmer. Als zusätzliche Verpflichtung sieht Art. 20 Abs. 1 Satz 2 BasisVO die Vernichtung des unsicheren Futtermittels vor, sofern die Bedenken der zuständigen Behörde nicht auf andere Weise ausgeräumt werden. Für die daneben bestehende Verpflichtung zur Rücknahme bzw. zum Rückruf des unsicheren Produktes bestehen grundsätzlich keine Besonder690

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heiten im Vergleich zu Art. 19 BasisVO. Zu beachten ist lediglich, dass sich der Rückruf an die „Verwender“ des Futtermittels zu richten hat; dies wird gewöhnlich nicht der Verbraucher, sondern der Landwirt sein. Im Übrigen kann auf die obigen Ausführungen zu den Lebensmittelunternehmern verwiesen werden. Auch im Bereich der Futtermittelunternehmer beeinflusst die Basisverordnung die Produkthaftung folglich in dem dargestellten Umfang.

V. Fazit Abschließend ist festzuhalten, dass die in der Basisverordnung bestimmten Pflichten sowohl der Lebensmittelunternehmer als auch der Futtermittelunternehmer in begrenztem Umfang einen Einfluss auf die zivilrechtliche Produkthaftung besitzen. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Händler, die nunmehr auch für eine mangelnde Dokumentation der Warenherkunft verantwortlich gemacht und zur Einleitung von Rücknahmeaktionen herangezogen werden können. Wesentlich geringer ist der Einfluss der Basisverordnung im Bereich der Herstellerhaftung. Auch hier ist jedoch eine an die mangelnde Rückverfolgbarkeit der Lebensmittel und Futtermittel anknüpfende Haftung zumindest denkbar. Bislang fehlt es noch an einschlägigen Gerichtsentscheidungen. Insofern bleibt abzuwarten, ob und wenn ja wie konsequent die Rechtsprechung die Pflichten der Basisverordnung im Rahmen von § 823 BGB heranziehen wird. Die eingangs erwähnten Befürchtungen der Lebensmittel- und Futtermittelunternehmer können wohl dennoch bereits jetzt als entkräftet gelten. Durch die in der Basisverordnung getroffenen Pflichten wird es allenfalls zu einer begrenzten Erweiterung, jedoch keinesfalls zu einer untragbaren Ausweitung der zivilrechtlichen Produkthaftung kommen.

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Abführung von Aufsichtsratsvergütung an gewerkschaftliche Bildungseinrichtungen Zur rechtlichen Bindung durch vertragliche oder mitgliedschaftliche Verpflichtung

Inhaltsübersicht I. Die Abführung von Aufsichtsratsvergütungen von Arbeitnehmervertretern 1. Wirtschaftliche Bedeutung 2. Rechtsgrundlage a) Satzung und Beschluss des DGB bzw. dessen Mitgliedern b) Individualvereinbarung II. Einzelvertragliche Abführungserklärung als Schenkung 1. Problemaufriss 2. Voraussetzungen einer Schenkung nach §§ 516 ff. BGB 3. Die Frage der Unentgeltlichkeit 4. Zwischenergebnis III. Wirksamkeit einer Satzungsverpflichtung 1. Inhaltskontrolle a) Inhaltskontrolle am Maßstab der §§ 242, 315 BGB b) Instanzgerichtliche Rechtsprechung und Stellungnahme der Literatur aa) Rechtsprechung

bb) Literatur c) Eine Gewichtung der Argumente aa) Zustimmung des Aufsichtsratsmitglieds bb) Langjährige Abführungspraxis cc) Fehlende Kritik in Rechtsprechung und Literatur dd) Dem Aufsichtsrat verbleibende Beträge ee) Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot ff) Das Problem der Gegnerfinanzierung gg) Verletzung der Ziele guter Corporate Governance 2. Erfordernis der Regelung in der Satzung? 3. Keine abweichende Wertung aufgrund beamtenrechtlicher Abführungspflicht IV. Summa

I. Die Abführung von Aufsichtsratsvergütungen von Arbeitnehmervertretern In Deutschland ist es täglich geübte Praxis, dass Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten mitbestimmter Gesellschaften einen Großteil ihrer Aufsichtsratsbezüge (§ 113 AktG) an ihre Gewerkschaft bzw. dieser nahe stehende Bildungseinrichtungen abführen. Die gewerkschaftlichen Bildungswerke leben davon. Diese Praxis sieht sich gerade in jüngerer Zeit immer deutlicher zu vernehmender rechtspolitischer Kritik ausgesetzt und hat bereits mehrfach die

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Gerichte beschäftigt1, ohne dass aber bislang eine abschließende Klärung der mit ihr verbundenen rechtlichen Fragen erzielt werden konnte. Bevor auf diese eingegangen wird, sollen die Rechtstatsachen einen Einblick in die Dimension und die Hintergründe der Vergütungsabführung gewähren sowie ein Blick auf mögliche Rechtsgrundlagen geworfen werden. 1. Wirtschaftliche Bedeutung Die Summe der abgeführten Bezüge ist beträchtlich. Nach dem seit dem 1.1.2006 geltenden, für die Abführung zumeist maßgeblichen Beschluss des DGB vom 19.10.2005 beträgt der abzuführende Anteil der Bruttojahresvergütung eines Arbeitnehmervertreters im Aufsichtsrat bis zu einer Jahresvergütung von 3500 Euro 10 %, für den darüber liegenden Teil der Bezüge 90 %. Für den Aufsichtsratsvorsitzenden gilt ein Schwellenwert von 7000 Euro, für dessen Stellvertreter ein Wert von 5250 Euro. Begünstigte der abgeführten Beträge ist in erster Linie die Hans-Böckler-Stiftung. Dieser kommen nach dem Beschluss des DGB sämtliche Beträge bis zur Schwelle von 3500 Euro zugute, von den Beträgen bei einer Jahresvergütung von über 3500 Euro erhält die Stiftung nach den Abführungsregeln der Mitgliedsgewerkschaften den ganz überwiegenden Teil, etwa im Fall der IG BCE 80 % des abzuführenden Betrages. Jeweils 10 % jener Summe fließen an sonstige gewerkschaftsnahe und karitative Einrichtungen. Der absolute Umfang der abgeführten Beträge erschließt sich durch einen Blick in den Jahresbericht der Hans-Böckler-Stiftung. Danach erhielt die Stiftung im Planungszeitraum 2004/05 von Arbeitnehmervertretern in Aufsichtsräten sowie sonstigen Förderern eine Summe von 27,7 Mio. Euro. Das entspricht einem Anteil am Gesamtbudget von 66,2 %2. Im Planungszeitraum 2005/06 betrug die Summe 29,8 Mio. Euro, der Anteil am Gesamtbudget stieg damit auf 69,9 %3. Im Planungszeitraum 2006/07 erhöhte sich die Summe auf 31,6 Mio. Euro, was einem Anteil von 72 % entspricht4. Im Planungszeitraum 2007/08 betrug die Summe der abgeführten Beträge schließlich 34,1 Mio. Euro, einem Anteil am Gesamtbudget von 67,3 %5. Die Hans-Böckler-Stiftung finanziert sich damit stetig zu mehr als zwei Dritteln aus den Beiträgen der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten. Mittelbar finanzieren dadurch die Arbeitgeber zu ganz wesentlichen Teilen eine gewerkschaftsnahe Einrichtung.

__________ 1 OLG Stuttgart, Urt. v. 5.2.2008 – 12 U 122/07, AuR 2008, 190, erstinstanzlich LG Stuttgart, Urt. v. 27.7.2007 – 26 O 543/06, AuR 2008, 189; LG München I, Urt. v. 17.3.2005 – 6 O 19204/04, NJW 2005, 1724; LG Ellwangen, Urt. v. 9.3.2005 – 2 O 505/04, juris; OLG Frankfurt, Urt. v. 22.8.2001 – 23 U 177/00, NZA-RR 2002, 531; aus steuerrechtlicher Sicht FG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 2.4.2009 – 10 K 1190/06 B, EFG 2009, 1286 m. zust. Anm. Rosenke. 2 Hans-Böckler-Stiftung, Jahresbericht 2005, S. 10. 3 Hans-Böckler-Stiftung, Jahresbericht 2006, S. 10. 4 Hans-Böckler-Stiftung, Jahresbericht 2007, S. 10. 5 Hans-Böckler-Stiftung, Jahresbericht 2008, S. 10.

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Abführung von Aufsichtsratsvergütung an gewerkschaftliche Bildungseinrichtungen

Es ist zu erwarten, dass die Bedeutung der Aufsichtsratsbeiträge für das Gesamtbudget der Hans-Böckler-Stiftung weiter steigen wird. Denn während die Bundesrepublik Deutschland als zweitgrößter Geldgeber der Stiftung ihr Engagement zwischen den Planungszeiträumen 2004/05 und 2005/06 um 10 % reduziert hat6, sind die Aufsichtsratsbezüge in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen7. Damit steigt auch die Summe der abgeführten Beiträge. 2. Rechtsgrundlage Zur Legitimation der so beschriebenen Abführungspraxis wird auf zweierlei Rechtsgrundlagen verwiesen, eine verbandsrechtliche und eine einzelvertragliche. a) Satzung und Beschluss des DGB bzw. dessen Mitgliedern Als Rechtsgrundlage für die Abführungspraxis wird zum einen § 3 Abs. 3 der Satzung des DGB i. d. F. vom Juni 2006 („DGB“) benannt8. Danach sind die Mitglieder des DGB verpflichtet, „die Beschlüsse der Organe des Bundes […] durchzuführen.“ Die unmittelbare Geltung dieses Beschlusses für die Gewerkschaftsmitglieder ergibt sich aus Folgendem, hier am Beispiel der IG BCE9 erörtert: Die IG BCE ist nach § 2 ihrer Satzung i. d. F. vom 14.10.2005 („IG BCE“) Mitglied des DGB und damit verpflichtet, für die Durchführung der Beschlüsse des DGB und deren Achtung auch durch ihre Mitglieder Sorge zu tragen. Das bewerkstelligt die IG BCE durch § 8 Abs. 3 IG BCE. Danach ist ihre Satzung für alle Mitglieder der Gewerkschaft verbindlich. Über §§ 8 Abs. 3, 2 IG BCE i. V. m. § 3 Abs. 3 DGB entfalten damit Beschlüsse der Organe des DGB unmittelbare Wirkung auch für die Mitglieder der IG BCE10. Diese Überleitung der Verbindlichkeit der DGB-Beschlüsse ist erforderlich, da Mitglied des DGB nur Gewerkschaften, nicht aber natürliche Personen sein können, § 3 Abs. 1 DGB.

__________

6 Zwischen den Planungszeiträumen 2006/07 und 2007/08 war allerdings ein Anstieg der staatlichen Zuwendungen zu verzeichnen, mit dem ein um 3 %-Punkte höherer Anteil am Gesamtbudget korrespondiert. 7 So das Ergebnis einer Studie von Towers Perrin, F.A.Z. v. 2.10.2007, S. 26. 8 LG Ellwangen, Urt. v. 9.3.2005 – 2 O 505/04, juris; FG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 2.4.2009 – 10 K 1190/06 B, EFG 2009, 1286. 9 Entsprechende Regelungen finden sich in §§ 2 Abs. 1, 10 Abs. 2 lit. b der Satzung von ver.di i. d. F. vom Juni 2009, in den §§ 2 Abs. 4, 4 Abs. 3 der Satzung der IG BAU i. d. F. v. Juli 2007, in den §§ 1 Abs. 2, 9 Abs. 3 der Satzung der GEW i. d. F. v. 2005, in den §§ 1, 4 Abs. 1, 11 der Satzung der NGG i. d. F. v. 1.1.2009, in den §§ 1 Abs. 2, 6 Abs. 1 lit. b der Satzung der GdP i. d. F. v. 16.11.2006 sowie in den §§ 1 Abs. 2 lit. a, 5 Abs. 2 lit. c der Satzung von TRANSNET i. d. F. v. 28.4.2009. Eine Ausnahme bildet die IG Metall, bei der nach § 3 Nr. 11 der Satzung i. d. F. v. 1.1.2008 jedes Mitglied Einkünfte aus Mitbestimmungsfunktionen entsprechend den vom Vorstand auf der Grundlage eines Gewerkschaftstagsbeschlusses ergangenen Richtlinien abzuführen hat. 10 Vgl. auch Hans-Böckler-Stiftung, Jahresbericht 2005, S. 10.

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Erstmals implementiert wurde die Abführungspflicht für Arbeitnehmervertreter in Aufsichtsräten mitbestimmter Gesellschaften durch einen Beschluss des DGB-Bundesausschusses vom 7.3.197911, geändert durch Beschluss vom 1.10.200012. Durch Beschluss vom 19.10.200513 wurden schließlich die bereits genannten Abführungsgrenzen mit Wirkung zum 1.1.2006 festgesetzt. Ob diese Regelungen wirksam sind, ist fraglich (dazu unter III.). b) Individualvereinbarung Neben der satzungsmäßigen Verpflichtung zur Abführung von Aufsichtsratsbezügen treffen der Bewerber um einen Aufsichtsratsposten und die Gewerkschaft in der Regel zusätzlich in einer Individualvereinbarung eine den verbandsrechtlichen Vorgaben entsprechende, einzelvertragliche Regelung. Diese individuelle Verpflichtung ist dabei Voraussetzung für die Unterstützung des Bewerbers durch die Gewerkschaft14.

II. Einzelvertragliche Abführungserklärung als Schenkung 1. Problemaufriss Die Problematik der grundsätzlichen Zulässigkeit der Abführung von Aufsichtsratsvergütungen von Arbeitnehmervertretern ist wenig erörtert. Ebenso wenig ist die Rechtsnatur der einzelvertraglichen Abführungserklärung gesichert. Insbesondere stellt sich die Frage, ob es sich bei der Abführungserklärung um eine Schenkung (§§ 516 ff. BGB) handelt. Diese bedarf nach § 518 Abs. 1 BGB der notariellen Beurkundung, um Verbindlichkeit zu erlangen, sofern sie nicht sofort vollzogen oder der Formmangel nach § 518 Abs. 2 BGB geheilt wird. Da das Formerfordernis des § 518 Abs. 1 BGB von den Vertragsparteien in der Praxis regelmäßig nicht eingehalten wird, wären in diesem Fall die Abführungserklärungen nach § 125 Satz 1 BGB nichtig. Bevor auf die zu dieser Frage ergangene Rechtsprechung eingegangen wird, sollen kurz die Merkmale einer Schenkung skizziert werden. 2. Voraussetzungen einer Schenkung nach §§ 516 ff. BGB Nur der Begriff der Handschenkung ist in § 516 BGB legaldefiniert – eine Schenkung liegt vor, wenn jemand einem anderen etwas aus seinem Vermögen zuwendet und beide Parteien sich darüber einig sind, dass die Zuwendung unentgeltlich erfolgt. Bei einem Schenkungsversprechen handelt es sich dagegen um einen einseitig verpflichtenden Vertrag, durch den sich der Schenker zu

__________ 11 Abgedruckt in Kittner/Fuchs/Zachert/Köstler, Aufsichtsratspraxis, 4. Aufl. 1991, Rz. 634. 12 Abgedruckt in Köstler/Kittner/Zachert/Müller, Aufsichtsratspraxis, 7. Aufl. 2003, Rz. 706. 13 Abrufbar unter http://www.boeckler.de/71.html (Stand: 14.1.2010). 14 Beschluss des DGB-Bundesausschusses v. 19.10.2005 unter II.

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Abführung von Aufsichtsratsvergütung an gewerkschaftliche Bildungseinrichtungen

einer künftigen, unentgeltlichen Leistung verpflichtet15. In beiden Fällen bedarf es erstens einer Zuwendung, zweitens der Bereicherung des Beschenkten und drittens der Einigung der Vertragsparteien über die Unentgeltlichkeit der Zuwendung. Eine Zuwendung ist die Hingabe eines Vermögensbestandteils durch eine Person zugunsten einer anderen16. Eine Bereicherung liegt vor, wenn objektiv eine Vermögensmehrung in der Person des Beschenkten eingetreten ist17. Die Zuwendung ist unentgeltlich, wenn sie unabhängig von einer Gegenleistung erfolgt18. Liegen die Voraussetzungen eines Schenkungsversprechens vor, bedarf das Angebot des Schenkers nach § 518 Abs. 1 BGB der notariellen Beurkundung, die Annahme durch den Beschenkten kann dagegen formfrei erfolgen19. 3. Die Frage der Unentgeltlichkeit Unproblematisch erfüllt die Abführungsvereinbarung das Erfordernis der Zuwendung und das der Bereicherung des Beschenkten. Zwar wird die Gewerkschaft nicht unmittelbar selbst bedacht, jedoch ist die Zuwendung an die Hans-Böckler-Stiftung Erfüllung durch Leistung an einen Dritten nach § 362 Abs. 2 BGB20. Allein bezüglich der Unentgeltlichkeit können bei der Abführung der Aufsichtsratsbezüge Zweifel erwachsen. So scheinen auf den ersten Blick die Aufsichtsratsbezüge als Gegenleistung für die Unterstützung durch die Gewerkschaft abgeführt zu werden. Von einer synallagmatischen Verknüpfung von abzuführenden Bezügen und Gewerkschaftsunterstützung ging offenbar auch das erstinstanzlich zuständige Landgericht in einem Verfahren vor dem OLG Frankfurt aus dem Jahr 2001 aus, wie sich dessen Sachverhaltsschilderung entnehmen lässt: „Im übrigen hat der [Arbeitnehmervertreter] vorgetragen, daß die von ihm unterschriebene Verpflichtungserklärung ein Schenkungsversprechen darstelle, das mangels notarieller Form unwirksam sei. […] Hinsichtlich der Widerklage hat das Landgericht die Abführungsregelung in der Satzung für wirksam erachtet und festgestellt, daß die Verpflichtungserklärung des [Arbeitnehmervertreters] keine Schenkung darstelle, da ihr als Gegenleistung die Verpflichtung der [Gewerkschaft] zu Unterstützungsleistungen im Wahlverfahren und in der Folgezeit gegenüber stünde.“21

__________ 15 Koch in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2008, § 516 BGB Rz. 1; Weidenkaff in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 518 BGB Rz. 2; Gehrlein in Bamberger/Roth, BeckOK-BGB, 15. Edition, § 518 BGB Rz. 1. 16 Weidenkaff in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 516 BGB Rz. 5. 17 Weidenkaff in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 516 BGB Rz. 6. 18 BGH, Urt. v. 11.11.1981 – IVa ZR 182/80, NJW 1982, 436, 437; Weidenkaff in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 516 BGB Rz. 7; Gehrlein in Bamberger/Roth, BeckOK-BGB, 15. Edition, § 516 BGB Rz. 7. 19 Statt aller Koch in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2008, § 518 BGB Rz. 4. 20 LG Stuttgart, Urt. v. 27.7.2007 – 26 O 543/06, AuR 2008, 189, bestätigt OLG Stuttgart, Urt. v. 5.2.2008 – 12 U 122/07, AuR 2008, 190, 191. 21 OLG Frankfurt, Urt. v. 22.8.2001 – 23 U 177/00, NZA-RR 2002, 531, 533.

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Der Senat vermochte sich dieser Auffassung nicht anzuschließen, sondern ließ die Frage, ob es sich um einen synallagmatischen Vertrag oder um eine Schenkung handele, offen: „Der [Arbeitnehmervertreter] beruft sich allerdings darauf, daß die entsprechende Satzungsregelung unwirksam sei und außerdem seine Verpflichtungserklärung als einseitige Schenkung der notariellen Form ermangele. Das Landgericht hat das Erfordernis notarieller Beurkundung unter Hinweis darauf abgelehnt, daß sich der [Arbeitnehmervertreter] mit der Verpflichtung und dem damit verbundenen Listenplatz ein Mandat im Aufsichtsrat erkauft habe. Diese Einschätzung ist von beiden Parteien vehement bestritten worden. Ob die Auffassung des Landgerichts zutrifft, kann dahinstehen. Dies gilt auch für die Frage, in welcher Intensität Mandat im Aufsichtsrat und Mitgliedschaft in der [Gewerkschaft] voneinander abhängen. Tatsächlich handelt es sich nämlich vorliegend, worauf die [Gewerkschaft] zu Recht hinweist, nicht um eine losgelöste Schenkungserklärung, die der notariellen Form bedurft hätte, sondern um die Bekräftigung der bereits aus der Satzung und den darauf ergangenen Beschlüssen folgenden Abführungspflicht. Eine neue selbständige Zahlungsverpflichtung kann darin nicht gesehen werden.“22

Der Senat lässt offen, ob die Auffassung des Landgerichtes zutreffend ist, weil dessen Verständnis der Vereinbarung in bedenkliche Nähe zum Ämterkauf gerät. Als Ämterkauf bezeichnet man die entgeltliche Verschaffung von Titeln oder Ämtern. Zwar könnte man einwenden, es handele sich bei dem Mandat eines Aufsichtsrats nicht um ein staatliches Amt, so dass eine andere Bewertung angebracht wäre. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat allerdings deutlich gemacht, dass ein unzulässiger Ämterkauf „vor allem“ bei Ämtern, mit denen hoheitliche Aufgaben oder besondere Rechte verbunden sind, nicht hinnehmbar ist23. Sie beschränkt den Anwendungsbereich des § 138 Abs. 1 BGB damit also nicht auf staatliche Ämter, sondern zieht diese nur beispielhaft heran. Für die Sittenwidrigkeit des Mandatkaufs spricht ferner, dass durch diesen die Funktionsfähigkeit des Aufsichtsrats gefährdet wird, da nicht der qualifizierteste Kandidat mandatiert wird. Außerdem erwüchsen aus einer solchen Vergabepraxis erhebliche Interessenkonflikte. Anders würde es allenfalls liegen, wenn es sich bei dem Vertrag zwischen Gewerkschaft und Arbeitnehmervertreter um einen echten Vertrag zugunsten der Hans-Böckler-Stiftung handelte (§ 328 BGB). In diesem Fall läge zwischen Aufsichtsratsmitglied und Gewerkschaft ein Gegenseitigkeitsverhältnis, zugunsten der Stiftung dagegen eine Schenkung vor24. Dann müsste die Hans-BöcklerStiftung einen eigenen, klagbaren Anspruch auf Abführung erhalten. Das entspricht aber nicht den Parteiinteressen, wie sich aus dem Beschluss des DGBBundesausschusses vom 19.10.2005 ergibt25. Danach wird der Hans-BöcklerStiftung kein eigener Anspruch eingeräumt, sondern der DGB-Bundesausschuss hat die Einhaltung der Verpflichtung zu überwachen. Selbst wenn man aber von einem echten Vertrag zugunsten Dritter ausgehen wollte, würde dies am

__________ 22 OLG Frankfurt, Urt. v. 22.8.2001 – 23 U 177/00, NZA-RR 2002, 531, 533. 23 BGH, Urt. v. 15.10.1993 – XI ZR 200/92, DB 1993, 2583. 24 Zu dieser Konstellation s. Koch in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2008, § 518 BGB Rz. 27. 25 Beschluss des DGB-Bundesausschusses v. 19.10.2005 unter Punkt III. und Punkt V.

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Vorliegen eines Ämterkaufs nichts ändern, da die Stiftung eine gewerkschaftseigene Einrichtung zur Förderung der Mitbestimmung ist26. Zudem bliebe das Gegenseitigkeitsverhältnis zwischen Gewerkschaft und Bewerber auch dann bestehen, wobei die Leistung der Gewerkschaft in jedem Fall in der Verschaffung des Amtes besteht. Soll die Abführungsvereinbarung somit nicht schon an § 138 Abs. 1 BGB scheitern, muss man sie als Schenkung, bedingt durch die Ernennung zum Aufsichtsrat, qualifizieren. Dies entspricht wohl auch der Lebenswirklichkeit. Natürlich verkauft die Gewerkschaft keine Posten27. Sie macht die Verpflichtungserklärung zur Abführung zwar zur Voraussetzung, nicht aber zur Gegenleistung ihrer Unterstützung. Sie unterstützt den Kandidaten nicht, damit er abführt, sondern unter der Bedingung, dass er abführt. So sind wohl auch die Ausführungen des OLG Stuttgart aus dem Jahr 2008 zu verstehen: „Der [Arbeitnehmervertreter] hat sich entschlossen, seine Kandidatur um den Aufsichtsratsposten aus den Reihen der [Gewerkschaft] und mit deren Unterstützung zu betreiben. Hierzu war aber die Übernahme der Verbindlichkeit erforderlich.“28

Da die Gewerkschaft den Arbeitnehmer bei seiner Bewerbung um den Aufsichtsratsposten unterstützt, kommt eine remuneratorische Schenkung in Betracht, also ein Rechtsgeschäft, durch das der Schenker dem Beschenkten für eine von diesem erbrachte Leistung eine rechtlich nicht geschuldete Belohnung gewährt. Allerdings ist fraglich, ob diese Einordnung auch dann noch Gültigkeit beanspruchen kann, wenn die vom Begünstigten vorzunehmende Handlung Bedingung für die Leistung ist. Dann nämlich ist die Leistung auch rechtlich geschuldet, weil sie – hier in einer Abführungsvereinbarung – versprochen wurde. Dazu führt der BGH in anderem Zusammenhang aus: „Wer dagegen für eine noch vorzunehmende Handlung eine Vergütung zusagt, gibt kein Schenkungsversprechen ab, sondern schließt einen entgeltlichen Vertrag. In diesem Zusammenhang ist es ohne Bedeutung, ob der andere Teil eine Verpflichtung zur Vornahme der Handlung übernimmt; Entgeltlichkeit liegt nicht nur bei gegenseitig verpflichtenden Verträgen im Sinne der §§ 320 ff. BGB vor, sondern auch dann, wenn die (nicht geschuldete) Leistung des einen Teils Bedingung für die Entstehung der Verpflichtung der anderen Seite ist […]. Ob zwischen Leistung und Gegenleistung ein angemessenes Verhältnis bestand, ist für die Frage der Entgeltlichkeit ohne Bedeutung; dies ist vielmehr unter dem Gesichtspunkt des § 138 Abs. 1 u. 2 BGB zu prüfen.“29

__________ 26 OLG Frankfurt, Urt. v. 22.8.2001 – 23 U 177/00, NZA-RR 2002, 531; LG Stuttgart, Urt. v. 27.7.2007 – 26 O 543/06, AuR 2008, 189. 27 Unglücklich deshalb die Formulierung des OLG Stuttgart, Urt. v. 5.2.2008 – 12 U 122/07, AuR 2008, 190, 191: „Die Aufwendung beruht auf der Verpflichtung, die der [Arbeitnehmervertreter] eingegangen ist, um das […] Amt zu erlangen [Hervorhebung d. Verf.].“ 28 OLG Stuttgart, Urt. v. 5.2.2008 – 12 U 122/07, AuR 2008, 190, 191. 29 BGH, Urt. v. 11.11.1981 – IVa ZR 182/80, NJW 1982, 436, 437. Ebenso BGH, Urt. v. 17.1.1990 – XII ZR 1/89, NJW-RR 1990, 386; Gehrlein in Bamberger/Roth, BeckOK-BGB, 15. Edition, § 516 BGB Rz. 7; Koch in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2008, § 516 BGB Rz. 27; Mansel in Jauernig, 13. Aufl. 2009, § 516 BGB Rz. 8 f. Zum vergleichbaren consideration-Erfordernis im common law s. Farnsworth, Contract Law, 3rd ed., S. 435 ff.

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Es bestehen Zweifel, ob der hier interessierende Fall tatsächlich so liegt. Gegen den Ansatz des BGH spricht für den Fall der Abführungsvereinbarung zwischen der Gewerkschaft und dem Arbeitnehmervertreter, dass es sich bei der Hans-Böckler-Stiftung um eine als gemeinnützig anerkannte Einrichtung handelt, so dass die abgeführten Beträge als Sonderausgaben abzugsfähig sein sollen30. Das könnte sie nach § 10b EStG steuerlich als Spende qualifizieren, welche zivilrechtlich als unentgeltliche Zuwendung, mithin als Schenkung angesehen wird31. Das Steuerecht kann hier als Auslegungshilfe für das Zivilrecht dienen. Die steuerliche Qualifikation der abgeführten Beträge ist allerdings umstritten32. Unstreitig dürfte noch sein, dass es sich bei den Aufsichtsratsbezügen um Einkünfte aus selbständiger Arbeit i. S. d. § 4 Abs. 1 i. V. m. § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG handelt33. Das OLG Stuttgart34 qualifiziert die abgeführten Beträge nun in Übereinstimmung mit der herrschenden Auffassung in der Literatur35 und der Finanzverwaltung36 als Betriebsausgaben, die in voller Höhe abzugsfähig sind. Betriebsausgaben sind gem. § 4 Abs. 4 EStG die Aufwendungen, die durch den Betrieb veranlasst sind. Das sind nach der Auffassung des BFH solche Aufwendungen, die objektiv mit dem Betrieb zusammenhängen und diesem auch subjektiv zu dienen bestimmt sind37. Das OLG Stuttgart kommt zu dem Ergebnis, dass die Abführung der Bezüge dazu dient, in die Wahlvorschlagsliste der Gewerkschaft aufgenommen zu werden, um damit Einkünfte aus selbständiger Arbeit zu generieren. Die Zahlungsverpflichtung des Anwärters führe auch zu dessen späterer Kandidatur. Damit diene der abgeführte Betrag objektiv und subjektiv dem Betrieb und sei deshalb eine Betriebsausgabe. Zugleich verneint der erkennende Senat ausdrücklich das Vorliegen einer Spende i. S. d. § 10b Abs. 1 Satz 1 EStG. Nach dieser Auffassung liegt mit Blick auf die oben zitierte Rechtsprechung des BGH ein entgeltliches Rechtsgeschäft vor, welches als Ämterkauf nach § 138 Abs. 1 BGB nichtig wäre.

__________ 30 Vgl. Beschluss des DGB-Bundesausschusses v. 19.10.2005 unter Punkt VI.; allgemein zu Stiftungen Hofmeister in Blümich, EStG, 3. Lfg. Mai 2009, § 10b EStG Rz. 82. Zur steuerrechtlichen Qualifikation der Abführung sogleich. 31 Vgl. BGH, Urt. v. 10.12.2003 – IV ZR 249/02, BGHZ 157, 178; Weidenkaff in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 516 BGB Rz. 6; Koch in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2008, § 516 BGB Rz. 99 ff. 32 In Betracht kommt einerseits eine Betriebsausgabe nach § 4 Abs. 4 EStG, andererseits eine Sonderausgabe nach § 10b EStG. Zwischen beiden besteht ein strenges Alternativitätsverhältnis, vgl. BFH, Urt. v. 9.8.1989 – I R 4/84, BFHE 158, 510 ff. 33 So auch FG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 2.4.2009 – 10 K 1190/06 B, EFG 2009, 1286, 1287. 34 OLG Stuttgart, Urt. v. 5.2.2008 – 12 U 122/07, AuR 2008, 190, 191, ebenso die Vorinstanz LG Stuttgart, Urt. v. 27.7.2007 – 26 O 543/06, AuR 2008, 189. 35 Brandt in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG – KStG, § 18 EStG Rz. 273; Semler in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2004, § 113 AktG Rz. 171; Peltzer in FS Zimmerer, 1997, S. 378, 392. 36 Verfügung der OFD Frankfurt a. M. v. 20.3.1995, DB 1995, 1310. 37 BFH, Urt. v. 21.11.1983 – GrS 2/82, BFHE 140, 50; BFH, Urt. v. 27.11.1989 – GrS 1/88, BFHE 158, 563; BFH, Urt. v. 4.7.1990 – GrS 2-3/88, BFHE 161, 290, m. w. N. zu abweichenden Bestimmungsmethoden der Literatur.

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Demgegenüber hat der BFH die Frage, ob es sich bei den abzuführenden Beträgen um Betriebsausgaben handelt, in einer älteren Entscheidung ausdrücklich offengelassen38. Vereinzelt werden die Ausgaben deshalb in der Literatur als Spende i. S. d. § 10b Abs. 1 Satz 1 EStG qualifiziert39. Dieser entspricht zivilrechtlich die Einordnung als Schenkung40, welche jedoch regelmäßig nach § 518 Abs. 1 i. V. m. § 125 Satz 1 BGB nichtig ist. Allerdings hat der BFH in einer neueren Entscheidung den Spendenbegriff konkretisiert41. Danach muss eine Spende ohne die Erwartung eines besonderen Vorteils gegeben werden. Die Unentgeltlichkeit sei für die Spende und damit für den Spendenabzug konstitutives Merkmal. Die steuerliche Entlastung der Spende sei nur gerechtfertigt, wenn sie ausschließlich fremdnützig verwendet werde. Ein Spendenabzug ist danach nicht nur ausgeschlossen, wenn die Ausgaben zur Erlangung einer Gegenleistung des Empfängers erbracht werden. Sie ist es vielmehr schon dann, wenn die Zuwendung an den Empfänger unmittelbar und ursächlich mit einem von diesem oder einem Dritten gewährten Vorteil zusammenhängt. Nach diesen Maßstäben begegnet es erheblichen Bedenken, die abgeführten Bezüge steuerlich als Spende zu qualifizieren, denn dem Arbeitnehmervertreter kommen in jedem Fall die Unterstützung der Gewerkschaft sowie der Eigenbehalt zugute. Gegen dieses Ergebnis spricht auch nicht ein Urteil des FG Berlin-Brandenburg vom 2.4.2009. Dieses qualifizierte die Zahlungen eines Arbeitnehmervertreters zwar als Spende i. S. d. § 10b EStG, kam zu diesem Ergebnis aber aufgrund der Eigenheiten des Sachverhalts. Erstens hatte das Aufsichtsratsmitglied keine Individualvereinbarung mit der Gewerkschaft geschlossen, zweitens wichen die Zahlungen erheblich von den nach dem Beschluss des DGB-Bundesausschusses geschuldeten Werten ab. Das FG BerlinBrandenburg hielt die Höhe der Zahlungen daher für „beliebig“ und sah keinen Zusammenhang zwischen der Tätigkeit als Aufsichtsrat und den Zahlungen42.

4. Zwischenergebnis Qualifiziert man die Abführungsvereinbarung nach alldem als Schenkung, dann unterliegt sie dem Formerfordernis des § 518 Abs. 1 BGB und ist bei Nichtbeachtung der Form gemäß § 125 Satz 1 BGB nichtig. Lehnt man die Einordnung als Schenkung ab, liegt ein Ämterkauf vor und die Vereinbarung ist nach § 138 Abs. 1 BGB nichtig. Aus der einzelvertraglichen Abführungserklärung allein erwächst demnach regelmäßig kein Anspruch des DGB oder dessen Mitgliedsgewerkschaften auf Abführung der Aufsichtsratsvergütung an die Hans-Böckler-Stiftung.

__________ 38 BFH, Urt. v. 9.10.1980 – IV R 81/76, BFHE 131, 506 ff. 39 Kraft in GK-BetrVG, 7. Aufl. 2002, § 76 BetrVG 1952 Rz. 130. Der Beschluss des DGB-Bundesausschusses v. 19.10.2005 lässt dies offen und hält unter Punkt VI. eine Qualifikation als Betriebsausgabe, Werbungskosten oder Sonderausgabe (i. e. Spende) für möglich. 40 Oben Fn. 31. 41 BFH, Urt. v. 2.8.2006 – XI R 6/03, DStR 2006, 1975, 1976. 42 FG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 2.4.2009 – 10 K 1190/06 B, EFG 2009, 1286, 1287.

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III. Wirksamkeit einer Satzungsverpflichtung Erweist sich eine einzelvertragliche Rechtsgrundlage für die Abführung von Aufsichtsratsvergütungen von Arbeitnehmervertretern damit als unwirksam, stellt sich in einem zweiten Schritt die Frage, ob die verbandsrechtliche Grundlage in den Satzungen von DGB und dessen Mitgliedsgewerkschaften für eine Abführungspflicht ausreicht. Hier fällt die Argumentation schwerer und die Abwägung der gegenläufigen Interessen ist weniger klar vorgezeichnet. Die verbandsrechtliche Abführungspflicht ist nur wirksam, wenn sie den Anforderungen der §§ 21 ff. BGB und der dazu ergangenen Rechtsprechung genügt. Der Ausgangspunkt ist klar: Die Satzung eines Vereins bedarf keiner besonderen Form, insbesondere nicht der notariellen Beurkundung. Eine in der Satzung enthaltene Zahlungsverpflichtung ist daher ohne notarielle Beurkundung wirksam43. Die durch die Satzung begründete Abführungsverpflichtung kann daher nicht schon nach § 125 Satz 1 BGB nichtig sein. 1. Inhaltskontrolle a) Inhaltskontrolle am Maßstab der §§ 242, 315 BGB Indes ist in der Rechtsprechung seit langem anerkannt, dass verbandsinterne, die Rechtsstellung der Mitglieder regelnde Normen einer richterlichen Inhaltskontrolle nach §§ 242, 315 BGB unterliegen44. Zwar führt der Schutz der Vereinsautonomie (Art. 9 Abs. 1 GG) dazu, dass die gerichtliche Überprüfung von Verbandsnormen grundsätzlich nur in engen Grenzen möglich ist45. Indes ist für diejenigen Verbände, die im wirtschaftlichen oder sozialen Bereich eine überragende Machtstellung innehaben, anerkannt, dass sie sich in weiterem Umfang einer Inhaltskontrolle unterziehen lassen müssen als andere Verbände46. Das gilt insbesondere für Monopolverbände, ist aber auch in Bezug auf die Gewerkschaften zu bejahen, selbst wenn sie kein Monopol innehaben. Ein Arbeitnehmer ist auf die Mitgliedschaft in einer Branchengewerkschaft angewiesen, wenn er im sozialen Bereich angemessen und schlagkräftig repräsentiert sein oder über gewerkschaftliche Listen an der Unternehmensmitbestimmung partizipieren will47. Auch aus Art. 9 Abs. 3 GG ist keine Sonderstellung

__________ 43 OLG Frankfurt, Urt. v. 22.8.2001 – 23 U 177/00, NZA-RR 2002, 531, 533. 44 Zusammenfassend BGH, Urt. v. 24.10.1988 – II ZR 311/87, BGHZ 105, 306, 316 f.; OLG Stuttgart, Urt. v. 5.2.2008 – 12 U 122/07, AuR 2008, 190, 191; Hadding in Soergel, 13. Aufl. 2000, § 25 BGB Rz. 25a; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 121 ff. m. w. N. 45 OLG Frankfurt, Urt. v. 22.8.2001 – 23 U 177/00, NZA-RR 2002, 531, 532; Ellenberger in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 25 BGB Rz. 9; ausführlich Reuter in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, Vor § 21 BGB Rz. 115 ff. 46 BGH, Urt. v. 24.10.1988 – II ZR 311/87, BGHZ 105, 306, 316; OLG Frankfurt, Urt. v. 22.8.2001 – 23 U 177/00, NZA-RR 2002, 531, 533. 47 OLG Frankfurt, Urt. v. 22.8.2001 – 23 U 177/00, NZA-RR 2002, 531, 533; für eine Inhaltskontrolle unabhängig von der Machtstellung Reuter in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, Vor § 21 BGB Rz. 129 f.; Hadding in Soergel, 13. Aufl. 2000, § 25 BGB Rz. 25a.

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der Gewerkschaften gegenüber sonstigen Verbänden abzuleiten, die zu einer (absoluten) Gewerkschaftsautonomie führen würde48. Dem widerspricht bereits das Gebot praktischer Konkordanz, welches eine Berücksichtigung auch der Rechte des Bewerbers erfordert. Gewerkschaftliche Satzungen unterliegen damit ebenfalls der Inhaltskontrolle nach §§ 242, 315 BGB. Im Verhältnis zu den Mitgliedern ist die Satzungsgewalt des Verbands danach durch Treu und Glauben begrenzt. Das Verbandsmitglied unterwirft sich der Satzungsgewalt im Vertrauen darauf, dass diese im Rahmen von Treu und Glauben ausgeübt wird49. Damit stellt sich die Frage, ob die maßgeblichen Satzungsbestimmungen von DGB und dessen Mitgliedsgewerkschaften die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat unangemessen benachteiligen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Arbeitnehmervertreter selber nicht Mitglied des DGB und damit ohne Einflussmöglichkeit auf dessen Satzung sind50. b) Instanzgerichtliche Rechtsprechung und Stellungnahme der Literatur Diese Frage hat die Instanzgerichte in den vergangenen Jahren mehrfach beschäftigt, eine höchstrichterliche Klärung der Rechtslage steht allerdings noch aus. Auch in der Literatur fehlt eine vertiefte Auseinandersetzung mit deren rechtlicher Zulässigkeit bislang. Es ergibt sich folgendes Meinungsbild: aa) Rechtsprechung Zunächst hatte sich das OLG Frankfurt in der bereits oben erwähnten Entscheidung mit der Frage der Wirksamkeit einer satzungsmäßigen Zahlungsverpflichtung auseinanderzusetzen. Der Senat führt dazu aus: „Bedenken gegen die inhaltliche Wirksamkeit dieser Regelung sind ebenfalls nicht erkennbar. Das in der Satzung vorgesehene Verfahren zur Bestimmung der konkreten Abführungshöhe ist eingehalten worden; daß die Ausgestaltung auf den Vorstand übertragen wurde, ist nicht zu beanstanden, da in der Satzung die Schaffung weitergehender Ordnungen und Richtlinien vorgesehen werden kann […]. Auch aus aktienrechtlicher Sicht ist kein Verstoß erkennbar. Wie das Aufsichtsratsmitglied über die ihm nach § 113 AktG zustehenden Vergütungen verfügt, steht ihm frei […]. Es ist nicht erkennbar, daß durch die Abführungsregelung eine ordnungsgemäße Aufsichtsratstätigkeit nicht mehr gewährleistet sein und das Unternehmen Schaden nehmen könnte. Dem [Arbeitnehmervertreter] verbleibt schließlich, wenn auch im Verhältnis zur Gesamtzahlung geringfügig, ein Entschädigungsbetrag von 10.200,- DM pro Jahr. Daß er dies für nicht ausreichend hält, um seine Arbeit mit entsprechendem Engagement zu erledigen, vermag nicht zu überzeugen. Der [Arbeitnehmervertreter] wusste, wie die Abführungsregelung lautete, und hat diese Verpflichtung nochmals bekräftigt.“51

__________

48 Ausführlich Reuter in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, Vor § 21 BGB Rz. 121. 49 LG München I, Urt. v. 17.3.2005 – 6 O 19204/04, NJW 2005, 1724, 1725; Ellenberger in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 25 BGB Rz. 9. 50 Für die erweiterte Inhaltskontrolle bei Betroffenheit von Nichtmitgliedern s. BVerfG, Urt. v. 12.10.1995 – 1 BvR 1938/93, NJW 1996, 1203; Reuter in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, Vor § 21 BGB Rz. 130; Ellenberger in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 21 BGB Rz. 9. 51 OLG Frankfurt, Urt. v. 22.8.2001 – 23 U 177/00, NZA-RR 2002, 531, 533.

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Unter Bezugnahme auf den Beschluss des DGB-Bundesausschusses aus dem Jahr 1979 begründet der Senat seine Ansicht weiter wie folgt: „Die Klausel hält auch hinsichtlich der Berechnung der Abführung im einzelnen der Billigkeitskontrolle gemäß § 242 BGB […] stand. Grundsätzlich ist lediglich ein Prozentsatz von 15 der Aufsichtsratsvergütung abzuführen. Lediglich ab einem Höchstbetrag von 6.000,- DM wird die generelle Abführungspflicht festgelegt. Wenn auch fraglich ist, ob nicht die unterschiedliche Intensität der Aufsichtsratstätigkeit in verschiedenen Unternehmen eine unterschiedliche Behandlung erfordert, so führt dies noch nicht zu einer Unbilligkeit. Diese Regelung ist grundsätzlich durch den DGB eingeführt und von den DGB Gewerkschaften übernommen worden. Sie gilt bereits seit vielen Jahren und ist ersichtlich bisher inhaltlich nicht einer gerichtlichen Überprüfung unterzogen worden. […] Angesichts dieser langen und einheitlichen Geltung für einen großen Teil der Arbeitnehmerschaft sowie der Akzeptanz durch sämtliche gewerkschaftlichen Gremien und einschlägigen Veröffentlichungen sind für den Senat keine Anhaltspunkte erkennbar, die für eine Unangemessenheit der Abführungsregelung sprechen.“52

Das Urteil ist in der Literatur ohne Resonanz geblieben. Die Instanzgerichte schlossen sich dem Judiz des OLG Frankfurt zum Teil ausdrücklich an53, zum Teil vermochten sie seiner Argumentation dagegen nicht zu folgen: „Wenn ein Mitglied [der Gewerkschaft] in eine Mitbestimmungsfunktion gewählt wird, steht ihm die Vergütung für die Mitbestimmungstätigkeit zu. Es entspricht nicht Treu und Glauben, wenn die Gewerkschaft einseitig festlegt, dass einem Mitglied speziell aus Mitbestimmungsfunktionen zustehende Einkünfte entzogen werden. Abgesehen von den allgemeinen Beitragspflichten möchte ein Gewerkschaftsmitglied der Gewerkschaft nicht bereits durch seine Mitgliedschaft erlauben, über sein Vermögen zu verfügen.“54

Die Entscheidung kommt allerdings zu dem Ergebnis, dass eine satzungsmäßige Abführungsverpflichtung jedenfalls dann wirksam sei, wenn der Bewerber um das Aufsichtsratsmandat diese in einer einzelvertraglichen Vereinbarung anerkannt habe55. Dass eine solche Vereinbarung bei Nichtbeachtung der Formvorschrift des § 518 Abs. 2 BGB allerdings unwirksam ist, wurde oben bereits dargelegt. Alternativ tritt die Nichtigkeit nach § 138 Abs. 1 BGB ein, wenn man von einem gegenseitigen Rechtsgeschäft ausgeht. bb) Literatur Anders als der Richter darf sich der Glossator des Urteils enthalten. Die Literatur nimmt zwar häufig Bezug auf die Beschlüsse des DGB und die eingangs dargelegten Rechtstatsachen, eine vertiefte Auseinandersetzung mit der rechtlichen Zulässigkeit der Abführungspraxis findet jedoch nicht statt. Überwie-

__________ 52 OLG Frankfurt, Urt. v. 22.8.2001 – 23 U 177/00, NZA-RR 2002, 531, 534. 53 OLG Stuttgart, Urt. v. 5.2.2008 – 12 U 122/07, AuR 2008, 190, 191, LG Stuttgart, Urt. v. 27.7.2007 – 26 O 543/06, AuR 2008, 189, LG Ellwangen, Urt. v. 9.3.2005 – 2 O 505/04, juris. 54 LG München I, Urt. v. 17.3.2005 – 6 O 19204/04, NJW 2005, 1724, 1725. 55 LG München I, Urt. v. 17.3.2005 – 6 O 19204/04, NJW 2005, 1724, 1725.

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gend wird die Abführungsregelung wohl für zulässig gehalten56, ebenso oft findet sich allerdings rechtspolitische Kritik57, vereinzelt werden auch Zweifel an der Zulässigkeit geäußert58. Stützende oder ablehnende Argumente finden sich meist nicht. Man arrangiert sich mit dem status quo, ohne in eine Diskussion einzusteigen. c) Eine Gewichtung der Argumente Die Sichtung der Rechtsprechung ergibt, dass im Wesentlichen vier Argumente angeführt werden, um die Zulässigkeit der satzungsmäßigen Abführungsverpflichtung zu begründen. Erstens wird geltend gemacht, der Arbeitnehmervertreter habe der Abführungsvereinbarung zugestimmt. Zweitens wird auf die langjährige Abführungspraxis verwiesen. Drittens fehle es an Kritik in Rechtsprechung und Literatur und viertens verbleibe dem Arbeitnehmervertreter auch nach der Abführung noch etwas. Diese Argumente sind auf ihre Stichhaltigkeit hin zu überprüfen. aa) Zustimmung des Aufsichtsratsmitglieds Volenti non fit iniuria. Ein tragendes Argument des Urteils des OLG Frankfurt ist der Verweis auf die Zustimmung des Aufsichtsratsmitglieds. Der Senat meint, es fehle an einem Verstoß gegen Treu und Glauben, weil „[d]er [Arbeitnehmervertreter] wusste, wie die Abführungsregelung lautete“. Er habe diese nochmals bekräftigt. Ähnlich argumentieren die anderen Gerichte – selbst das gegenüber der Wirksamkeit der Satzungsregelung kritische LG München I hält die Zustimmung für geeignet, die Wirksamkeit der Satzungsverpflichtung herzustellen. Diese Argumentation überrascht. Das OLG Frankfurt hatte sich in seinem Urteil mit der Frage auseinanderzusetzen, ob es sich bei der Zustimmung um eine Schenkung handele59. Er lässt dies dahinstehen und sieht in der Erklärung nur eine „Bekräftigung“, die keine eigene neue Zahlungsverpflichtung begründe60. Danach würde es sich um eine Erklärung ohne Rechtswirkungen han-

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56 Köstler/Zachert/Müller, Aufsichtsratspraxis, 8. Aufl. 2006, Rz. 725; Oetker in ErfK, 10. Aufl. 2010, § 113 AktG Rz. 5; Peltzer in FS Zimmerer, 1997, S. 377, 379; Raiser/ Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 4. Aufl. 2006, § 15 Rz. 94; Habersack in MünchKomm.AktG, 3. Aufl. 2008, § 113 AktG Rz. 5, alle ohne Begründung. 57 Hopt/Roth in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2006, § 113 AktG Rz. 7, 152; Mertens in KölnKomm.AktG, 2. Aufl. 1996, § 113 AktG Rz. 41; Hoffmann-Becking in FS Havermann, 1995, S. 229, 245. 58 Theisen, Überwachung der Unternehmensführung, 1987, S. 263, der unter anderem auf einen unzulässigen Eingriff in die Tarifautonomie verweist (a. a. O., Fn. 48), worauf noch zurückzukommen ist (s. unter III. 2. d) ff)). 59 Anders die Fälle OLG Stuttgart, Urt. v. 5.2.2008 – 12 U 122/07, AuR 2008, 190, 191, LG Stuttgart, Urt. v. 27.7.2007 – 26 O 543/06, AuR 2008, 189, LG Ellwangen, Urt. v. 9.3.2005 – 2 O 505/04, juris. Hier wurde von Klägerseite dieser Einwand offenbar nicht erhoben. 60 Auch das OLG Stuttgart, Urt. v. 5.2.2008 – 12 U 122/07, AuR 2008, 190, 191 spricht von einer bloßen „Bekräftigung“.

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deln, um eine bloße Wissenskundgabe. Wenn eine Erklärung aber keine Rechtswirkungen haben soll, kann sie auch nicht die Heilung einer möglicherweise unwirksamen Satzungsregelung herbeiführen. Münchhausen würde sich an seinen Haaren aus dem Sumpf ziehen. Was das eine nicht vermag und das andere ebenso nicht, das kann es auch nicht im Verbund. Ohnehin ist die Satzung nicht auf das Verhältnis zwischen Aufsichtsratsmitglied und Gewerkschaft beschränkt, sondern entfaltet normähnliche Wirkung61. Der Senat bleibt die Erklärung schuldig, wie eine Erklärung inter partes die Wirksamkeit einer Bestimmung mit Wirkung inter omnes herbeiführen soll62. Außerdem dürfte eine Auslegung der Erklärungen nach §§ 133, 157 BGB zu dem Ergebnis führen, dass ein Rechtsbindungswille bestand, so dass es sich um Willenserklärungen, nicht um eine bloße Wissenskundgabe handelte. Danach war ein Vertragsschluss intendiert, dessen Rechtsnatur bereits untersucht wurde. Das Ergebnis war, dass der Vertrag entweder nach §§ 518 Abs. 2, 125 Satz 1 BGB nichtig war oder gegen § 138 Abs. 1 BGB verstieß. Diese Wertung muss auch im hiesigen Kontext durchschlagen, so dass eine nichtige Willenserklärung nicht zur Heilung einer Satzungsbestimmung – deren Unwirksamkeit einmal unterstellt – führen kann. bb) Langjährige Abführungspraxis Protestatio facto contraria. Die Angemessenheit der Abführungsregelung kann nicht auf die Begründung gestützt werden kann, es sei geübte Praxis, so zu verfahren. Zwar ist in Teilbereichen des Rechts anerkannt, dass langjährige Übung sich verfestigen und zu einer normähnlichen Legitimationsgrundlage heranreifen kann – so etwa, wenn Gewohnheitsrecht entsteht oder ein Handelsbrauch. Langjährige Übung kann aber keinesfalls aus Unrecht Recht werden lassen. Außerdem genügt nicht, dass Menschen in einer bestimmten Weise handeln, sie müssen es vielmehr in der Überzeugung tun, dass das, was sie tun, auch Recht ist63. Davon kann schon deshalb nicht ohne weiteres ausgegangen werden, weil in der Vergangenheit die Gerichte mehrfach bestimmte Abführungspraktiken wegen Verstoßes gegen das BetrVG 1952 für unwirksam

__________ 61 So die herrschende, modifizierte Normentheorie, BGH, Urt. v. 24.10.1988 – II ZR 311/87, BGHZ 105, 306; BGH, Urt. v. 6.3.1967 – II ZR 231/64, BGHZ 47, 172, 179 f.; Ellenberger in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 25 BGB Rz. 3; für Rechtsnorm Reuter in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, § 25 BGB Rz. 18, was hier zu demselben Ergebnis führt; für Vertrag Lutter, AcP 180 (1980), 84, 95, 97. Auf Einzelheiten kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. 62 Zumal das Gericht die „Bekräftigung“ als bloße Wissenserklärung qualifiziert, OLG Frankfurt, Urt. v. 22.8.2001 – 23 U 177/00, NZA-RR 2002, 531, 533. 63 BVerfG, Urt. v. 19.12.1962 – 1 BvR 163/56, BVerfGE 15, 226, 232 f.; BVerfG, Urt. v. 28.6.1967 – 2 BvR 143/61, BVerfGE 22, 114, 121; Larenz, Methodenlehre, 6. Aufl. 1991, S. 356.

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erklärten64, was sich auch in den Beschlüssen des DGB niedergeschlagen hat65. Im vorliegenden Fall stünden der Entstehung von Gewohnheitsrecht jedenfalls die §§ 242, 315 BGB als höherrangiges Recht entgegen. cc) Fehlende Kritik in Rechtsprechung und Literatur Qui tacet consentire videtur. Die Begründung, es fehle an Kritik aus Rechtsprechung und Literatur, überzeugt ebenso aus mehreren Gründen nicht. Zunächst kann zumindest das OLG Frankfurt nicht darauf verweisen, die Rechtsprechung habe noch keine Zweifel an der Wirksamkeit der Abführungsregelung geäußert, weil es sich bei dieser Frage um eine Premiere für die deutschen Gerichte handelte. Außer dem erstinstanzlich zuständigen Landgericht konnte kein Gericht Kritik an der Abführungsregelung üben. Allein der BFH hatte sich einmal mit den steuerlichen Aspekten der Regelung zu befassen. Er hielt die Frage der Wirksamkeit aber offenbar nicht für entscheidungserheblich. Jedenfalls nahm er zu der steuerlichen Qualifikation der an die HansBöckler-Stiftung abgeführten Beträge lediglich obiter dictum Stellung und ließ diese letztlich offen66. Was die Berufung auf die Literatur betrifft, so ist diese bereits im Überblick dargestellt worden. Überwiegend findet sich überhaupt keine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Regelung, sie wird genannt – nicht mehr, nicht weniger. Wo eine vertiefte Stellungnahme erfolgt, findet sich sogleich auch Kritik. Lediglich ein einziger Kommentar bejaht die rechtliche Wirksamkeit ausdrücklich67, und dies ebenfalls unter scharfer rechtspolitischer Kritik. Zudem konnte jedenfalls das OLG Frankfurt diese Stellungnahme noch gar nicht berücksichtigen, weil sie erst später veröffentlicht wurde. dd) Dem Aufsichtsrat verbleibende Beträge Minima non curat praetor. Es bleibt die Frage, ob die dem Aufsichtsrat verbleibenden Beträge ausreichen können, die Sittenwidrigkeit der Regelung a priori zu verneinen. Einem Aufsichtsrat, der im Jahr 50000 Euro brutto für seine Tätigkeit erhält, verbleiben nach der seit dem 1.1.2006 geltenden Regelung davon 7800 Euro vor Steuern. Mit einem Teil der instanzgerichtlichen Rechtsprechung ist die Frage schon deshalb zu verneinen, weil nach ihr eine allein auf der Gewerkschaftssatzung basierende Abführungsregelung nicht geeignet ist, überhaupt einen Anspruch

__________ 64 LAG Mannheim, Beschl. v. 22.9.1959 – VI Ta 12/59 BV, AP Nr. 2 zu § 82 BetrVG 1952; ArbG Lübeck, Beschl. v. 12.7.1967 – BV 2/67, DB 1967, 1724. Die Entscheidungen lassen sich auf die hier interessierenden Fallgestaltungen allerdings nicht übertragen, insoweit zutreffend OLG Stuttgart, Urt. v. 5.2.2008 – 12 U 122/07, AuR 2008, 190, 191. 65 Vgl. Beschluss des DGB-Bundesausschusses v. 19.10.2005 unter III. Nr. 1 Abs. 2. 66 BFH, Urt. v. 9.10.1980 – IV R 81/76, BFHE 131, 506 ff. 67 Hopt/Roth in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2006, § 113 AktG Rz. 152, allerdings ohne vertiefte Auseinandersetzung und nur im Hinblick auf die Regelung des § 113 AktG.

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zu begründen68. Dagegen verweist die Mehrzahl der Gerichte darauf, dass die Regelung „an das Verantwortungsgefühl der Betroffenen appelliert und durchaus ideellen Einsatz fordert“69. Ferner diene die Regelung auch dazu, Bewerbungen aus rein finanziellem Interesse zu verhindern. Die Literatur steht diesem Argument freilich kritisch gegenüber. Sie verweist darauf, dass die Anreizfunktion der Vergütung einer guten Corporate Governance zuwider beseitigt werde70. Die Abführungsregelung stehe einer Professionalisierung des Aufsichtsrats im Wege71, teils wird auch ein „krasser Widerspruch“ zu einer leistungsgerechten Vergütung ausgemacht72. Jedenfalls sei die Abführungsregelung ein Grund dafür, weshalb die Aufsichtsratsbezüge in Deutschland generell zu niedrig bemessen seien73. Klärung kann nur das Gesetz verschaffen. Nach § 113 AktG „kann“ einem Aufsichtsrat eine Vergütung gewährt werden. Sie „soll“ in einem angemessenen Verhältnis zu seinen Aufgaben stehen. Aus § 113 AktG folgt eine Vergütungspflicht in bestimmter Höhe somit nicht74. Allerdings wird ein Hauptversammlungsbeschluss, der eine „unangemessene“ Vergütung anordnet, für anfechtbar gehalten75. Tatsächlich ist es eine Wertungsfrage, ob man eine Vergütung in der angegebenen Höhe für angemessen oder für unangemessen hält76. Die Entscheidung darüber steht primär den Aktionären zu, § 113 Abs. 1 Satz 2 AktG. Hält die

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68 LG München I, Urt. v. 17.3.2005 – 6 O 19204/04, NJW 2005, 1724, 1725. 69 OLG Frankfurt, Urt. v. 22.8.2001 – 23 U 177/00, NZA-RR 2002, 531, 534; LG Stuttgart, Urt. v. 27.7.2007 – 26 O 543/06, AuR 2008, 189; LG Ellwangen, Urt. v. 9.3.2005 – 2 O 505/04, juris Rz. 21. 70 Hopt/Roth in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2006, § 113 AktG Rz. 7; Habersack in MünchKomm.AktG, 3. Aufl. 2008, § 113 AktG Rz. 5. 71 Mertens in KölnKomm.AktG, 2. Aufl. 1996, § 113 AktG Rz. 41. Zur Diskussion um die fehlende Professionalität von Arbeitnehmervertretern s. etwa Säcker in FS Richardi, 2007, S. 711, 729. 72 Theisen, Überwachung der Unternehmensführung, 1987, S. 263. 73 Hoffmann-Becking in FS Havermann, 1995, S. 229, 245; Peltzer in FS Zimmerer, 1997, S. 377, 378 f.; s. aber jetzt die kritische Stellungnahme von Bischof, BB 2006, 2627, 2629. Säcker in FS Richardi, 2007, S. 711, 722 kritisiert, dass die Diskussion über die fachliche Qualifikation von Aufsichtsräten nicht zuerst geführt worden sei. Mit der Vergütungsdiskussion habe man „das Pferd am Schwanz aufgezäumt“. 74 Allgemeine Ansicht, statt aller Hüffer, 8. Aufl. 2008, § 113 AktG Rz. 4. Streitig ist, ob es auch zulässig wäre, gar keine Vergütung zu gewähren. Dafür Peltzer in FS Zimmerer, 1997, S. 377, 378; Habersack in MünchKomm.AktG, 3. Aufl. 2008, § 113 AktG Rz. 27, 41; dagegen Theisen, Überwachung der Unternehmensführung, 1987, S. 264. 75 Hopt/Roth in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2006, § 113 AktG Rz. 5; unangemessen hohe Vergütungsabreden sollen nichtig sein, Habersack in MünchKomm.AktG, 3. Aufl. 2008, § 113 AktG Rz. 50: Kondiktionsanspruch aus § 812 BGB. 76 Zu dem nur schwer zu konkretisierenden Begriff der Angemessenheit im Bereich der Vorstandsvergütung s. Peltzer in FS Lutter, 2000, S. 571, 575; Thüsing, ZGR 2003, 457; ders. in Fleischer, Handbuch des Vorstandsrechts, 2006, § 6 Rz. 4 ff.; Thüsing/ Veil, AG 2008, 359, 367 zur Angemessenheit bei AR-Aufwendungen. Laut BGH darf die Aufsichtsratsvergütung nicht aus Aktienoptionen bestehen, Urt. v. 16.2.2004 – II ZR 316/02, BGHZ 158, 122, 125 f.; a. A. Hüffer, 8. Aufl. 2008, § 113 AktG Rz. 10; E. Vetter, AG 2004, 234, 236 ff.

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pluralistisch besetzte Hauptversammlung eine Vergütung von z. B. 50000 Euro brutto im Jahr für angemessen, spricht dies dafür, dass es sich hierbei tatsächlich um eine „angemessene“ Vergütung handelt77. Zwar steht den Aufsichtsräten frei, wie sie mit der einmal erhaltenen Vergütung verfahren78. Wenn jedoch ein Arbeitnehmervertreter von vornherein nur dann ein Mandat erhält, wenn er der Abführung zustimmt, kann von einer freien Entscheidung nicht gesprochen werden. Vielmehr steht er wirtschaftlich so, als habe ihm die Hauptversammlung nur 7800 Euro brutto zugesprochen. Liegt die „angemessene“ Vergütung nach Auffassung der Aktionäre aber bei 50000 Euro brutto, wäre der Betrag von 7800 Euro in diesem Sinne „unangemessen“. Letztlich ist die Frage, ob die Vergütung angemessen oder unangemessen ist, aber nicht entscheidend. Denn auch wenn die Vergütung bei isolierter Betrachtung angemessen ist, kann sie die Satzungsbestimmung nicht heilen, wenn diese aus übergeordneten Gründen rechtswidrig ist. Darauf ist im Folgenden einzugehen. ee) Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot Ius respicit aequitatem. Im Raum steht zunächst ein Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot. Hier hatte das OLG Stuttgart über das Vorbringen des Arbeitnehmervertreters zu entscheiden, der eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes rügte. Zentrales Problem ist hier die Auswahl des richtigen tertium comparationis, wobei mehrere Anknüpfungspunkte zur Verfügung stehen. Zunächst nimmt der Senat eine Inhaltskontrolle der Satzung nach §§ 242, 315 BGB am Maßstab einer unzulässigen Ungleichbehandlung des zur Abführung Verpflichteten gegenüber den nicht über die Gewerkschaftsliste gewählten Aufsichtsratsmitgliedern vor und konstatiert: „Sofern der [Arbeitnehmervertreter] mit seinem Einwand darauf abstellen will, die Aufsichtsratsmitglieder würden unterschiedlich behandelt, weil die nicht über die Liste der [Gewerkschaft] gewählten Mitglieder nichts abführen müssen, so wird gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz schon deshalb nicht verstoßen, weil die [Gewerkschaft] auf die nicht bei ihr organisierten Aufsichtsratsmitglieder keinen Einfluss hat.“79

Will man hier Anleihen in der Grundrechtsdogmatik nehmen, so kann man dem in Ergebnis und Begründung uneingeschränkt zustimmen. Auch Art. 3 Abs. 1 GG gewährleistet Gleichbehandlung immer nur im Verhältnis zu demselben Hoheitsträger80. Bezüglich „fremder“ Aufsichtsräte fehlt es der Gewerkschaft schlicht an Regelungsmacht.

__________ 77 Zum Ermessen der Hauptversammlung ausführlich Gehling, ZIP 2005, 549, 552 f. 78 Mertens in KölnKomm.AktG, 2. Aufl. 1996, § 113 AktG Rz. 41, der nur insoweit keine Bedenken gegen die Verpflichtung der Aufsichtsräte hegt; Semler in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2004, § 113 AktG Rz. 25. Zum Gleichbehandlungsgrundsatz sogleich. 79 OLG Stuttgart, Urt. v. 5.2.2008 – 12 U 122/07, AuR 2008, 190, 191. 80 BVerfG, Urt. v. 21.12.1966 – 1 BvR 33/64, BVerfGE 21, 54, 68; BVerfG, Urt. v. 23.11.1988 – 2 BvR 1619/83, BVerfGE 79, 127, 158; Osterloh in Sachs, 5. Aufl. 2009, Art. 3 GG Rz. 81.

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Auch ein Verstoß gegen den aktienrechtlichen Grundsatz der individuell gleichen Berechtigung und Verantwortung aller Aufsichtsratsmitglieder liegt hierin nicht, denn dieser wendet sich nur an die Aktiengesellschaft selbst und ihre Organe, nicht aber an außenstehende Dritte81. Soweit man den Vergleich zwischen dem zur Abführung verpflichteten Aufsichtsratsmitglied und einem beliebigen anderen Gewerkschaftsmitglied zieht, fehlt es an der Vergleichbarkeit der Sachverhalte, wie das OLG Stuttgart richtig erkennt82. Dem „normalen“ Gewerkschaftsmitglied fließen bereits keine Vermögenswerte zu, die es abführen könnte. Insoweit fehlt es auch an einem Verstoß gegen den allgemeinen vereinsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz83. Schließlich besteht eine Ungleichbehandlung zwischen dem einfachen Arbeitnehmervertreter sowie solchen, die den Posten eines Aufsichtsratsvorsitzenden oder dessen Stellvertreters innehaben. Für Letztere gelten höhere Schwellenwerte, ab denen der abzuführende Anteil 90 % beträgt (oben I.). Das OLG Stuttgart meint dazu: „Dies ist sachlich gerechtfertigt, da die Aufsichtsratstätigkeit für den Vorsitzenden aufwändiger ist als für seinen Stellvertreter und dieser wiederum gewöhnlich mehr Zeit investieren muss als ein Aufsichtsratsmitglied ohne weitergehende Funktion.“84

Ob dies tatsächlich zutreffend ist, müssen die Betroffenen selber beurteilen und gegebenenfalls beweisen85. Zweifel an der Argumentation bestehen insofern, als der Senat mit der Mehrheit der Gerichte die Auffassung vertritt, die Gewerkschaft sei auf die Fremdnützigkeit des Handelns der Arbeitnehmervertreter angewiesen86. Offenbar ist dieser Altruismus kommerzialisiert. Nach der Logik des Gerichtes gibt es fleißige Altruisten und weniger fleißige Altruisten. Erstere sollen für ihren Altruismus belohnt werden, indem sie mehr behalten dürfen als Letztere. Man kann dem Senat im Ergebnis zustimmen – wenn man annimmt, dass die Aufsichtsräte mit ihrer Tätigkeit auch nach persönlichem Vorteil streben. Dann gebietet es die Anreizfunktion der Entloh-

__________ 81 Vgl. nur BGH, Urt. v. 5.6.1975 – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325, 330; BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 102/81, BGHZ 83, 144, 147; BGH, Urt. v. 28.11.1982 – II ZR 57/88, BGHZ 106, 54, 65 – Opel; BGH, Urt. v. 17.5.1993 – II ZR 89/92, BGHZ 122, 342, 355. Aus der neueren Literatur v. Frankenberg und Ludwigsdorf/Ludwigsdorf, Bedeutung und Grenzen der Gleichbehandlung der Aufsichtsratsmitglieder in der Aktiengesellschaft, 2006, S. 41 ff. 82 OLG Stuttgart, Urt. v. 5.2.2008 – 12 U 122/07, AuR 2008, 190, 191. 83 Dazu etwa BGH, Urt. v. 3.3.1971 – KZR 5/70, BGHZ 55, 381, 387 – UFA Musikverlage. 84 OLG Stuttgart, Urt. v. 5.2.2008 – 12 U 122/07, AuR 2008, 190, 191. 85 Semler in Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 3. Aufl. 2009, § 4 Rz. 1 ff., § 10 Rz. 54 ff. geht davon aus, dass das Amt des Vorsitzenden deutlich arbeitsintensiver ist als das eines einfachen Aufsichtsrates, ohne sich dazu allerdings auf Studien zu stützen. 86 Das Urteil nimmt Bezug auf die Ausführungen des erstinstanzlichen Urteils zu den Intentionen der Abführungsregelung. Das LG Stuttgart, Urt. v. 27.7.2007 – 26 O 543/06, AuR 2008, 189 betont die „uneigennützige Mithilfe“ der Gewerkschaftsmitglieder, auf die die Gewerkschaft angewiesen sei.

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nung, dem fleißigen Aufsichtsrat mehr zu belassen als dem weniger fleißigen Aufsichtsrat87. Unter den Prämissen des OLG Stuttgart ist dieses Ergebnis schwer zu begründen. Eine Verletzung des vereinsrechtlichen Gleichheitssatzes wird man allenfalls darin sehen können, dass der DGB-Beschluss keine Staffelung der Abführungsschwellen nach der Größe der Gesellschaft vorsieht88. Der Gleichheitssatz verbietet nämlich nicht nur die willkürliche Ungleichbehandlung wesentlich Gleichens, sondern auch die willkürliche Gleichbehandlung wesentlich Ungleichens. Fraglich ist damit, ob die Größe der Gesellschaft „wesentlich“ in diesem Sinne ist. Das wird man mit der Erwägung verneinen müssen, dass – neben den mit einer Staffelung verbundenen praktischen Problemen – sich das Amt des Aufsichtsrates nicht in dem Maße nach der Größe der Gesellschaft unterscheidet, wie dies bei einem Vorstand regelmäßig der Fall sein dürfte. Zwar wird bei größeren Gesellschaften regelmäßig auch die Vergütung der Aufsichtsräte höher sein, ein erhöhter persönlicher Einsatz, etwa durch häufigere Sitzungen, muss damit aber nicht zwingend verbunden sein89. Sollte hier allerdings ein symptomatischer Unterschied in Abhängigkeit von der Größe der Gesellschaft vorliegen, was – soweit ersichtlich – nicht durch aktuelle Studien belegt ist, ist ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz jedenfalls dann denkbar, wenn man davon ausgeht, dass ein intensiveres Mandat auch besser entlohnt werden muss. Nach gegenwärtiger empirischer Kenntnislage führt nach dem Gesagten weder der aktienrechtliche noch der vereinsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz zu einer Unwirksamkeit der Satzungsregelung90. Ein Verstoß hiergegen mag sich ergeben, wenn die Gewerkschaft nicht gegen alle säumigen Zahler vorgeht, was im Fall des OLG Stuttgart gerügt, aber nicht hinreichend substantiiert dargetan wurde. Dann liegt der Mangel aber nicht in der Satzungsregelung selbst, sondern im Verhalten des Vorstandes der Gewerkschaft. ff) Das Problem der Gegnerfinanzierung Nemo tenetur adversarium amare contra se. Vereinzelt wird es bereits im Schrifttum kritisiert: Die weitgehende Verpflichtung zur Abführung führt dazu, dass die Gesellschaft mittelbar ihren sozialpolitischen Gegenspieler finanziert91. Den Arbeitsrechtler erstaunt diese Großzügigkeit, denn er kennt eine sehr strenge Rechtsprechung zum Verbot der Gegnerfinanzierung bei Betriebs-

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87 Ebenso i. E. Semler in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2004, § 113 AktG Rz. 31. 88 Vgl. OLG Frankfurt, Urt. v. 22.8.2001 – 23 U 177/00, NZA-RR 2002, 531, 534, jedoch i. E. ablehnend mit dem Argument, der DGB-Bundesausschuss habe diese Regelung eingeführt. Damit soll die Regelung wirksam sein, weil sie eingeführt wurde – das ist bestenfalls eine petitio principii. 89 § 110 Abs. 3 AktG sieht vier Sitzungen im Jahr vor, durch AR-Beschluss absenkbar auf zwei Sitzungen pro Jahr bei nicht börsennotierten Gesellschaften. Der DCGK enthält keine Empfehlung zur Sitzungsfrequenz. 90 Das entspricht auch der allgemeinen Ansicht im Schrifttum, vgl. statt aller Hopt/ Roth in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2006, § 113 AktG Rz. 7. 91 Theisen, Überwachung der Unternehmensführung, 1987, S. 263.

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ratsschulungen. Die Gewerkschaft darf keinen Gewinn hieraus ziehen, denn das wäre dem Arbeitgeber unzumutbar. So argumentiert das BAG: „Beschränkungen der betriebsverfassungsrechtlichen Kostenerstattungspflicht des Arbeitgebers können sich zudem aus koalitionsrechtlichen Grundsätzen ergeben. Danach ist kein Verband zur Finanzierung des gegnerischen Verbandes verpflichtet […]. Gegen diesen Grundsatz wird nicht bereits dann verstoßen, wenn Gewerkschaften oder gewerkschaftsnahe Organisationen Schulungsveranstalter sind […]. Mit der Durchführung einer Schulungsveranstaltung nach § 37 Abs. 6 BetrVG nehmen die Gewerkschaften ihre betriebsverfassungsrechtliche Unterstützungsfunktion wahr. Sie sind nicht verpflichtet, die dafür aufzuwendenden Kosten zu tragen […]. Vielmehr können sie vom Arbeitgeber die Erstattung der ihnen entstandenen lehrgangsbezogenen Kosten verlangen. Einen Gewinn dürfen sie dabei nicht erwirtschaften. Zwar ist […] zuzugeben, daß eine Verletzung des koalitionsrechtlichen Prinzips der Gegnerunabhängigkeit in erster Linie zum Tragen kommt, wenn eine Einflußnahme auf die Selbstbestimmung der Koalition oder ihre Bereitschaft zur nachhaltigen und wirksamen Interessenvertretung ihrer Mitglieder zu befürchten ist und nicht angenommen werden kann, daß die Gewerkschaften aus Schulungsveranstaltungen, die den strengen Kriterien des § 37 Abs. 6 BetrVG genügen, Gewinne in einem Umfang erzielen, die geeignet wären, eine Abhängigkeit von der Arbeitgeberseite zu begründen. Das schließt aber die Berücksichtigung koalitionsrechtlicher Erwägungen nicht aus. Tätig werden die Gewerkschaften aufgrund ihrer betriebsverfassungsrechtlichen Unterstützungsfunktion. Dabei haben sie den in § 2 Abs. 1 BetrVG enthaltenen Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit zu beachten. Ihre betriebsverfassungsrechtliche Aufgabenstellung dürfen sie dann nicht als Einnahmequelle zur Gewinnerzielung nutzen. Der Arbeitgeber muß nicht damit rechnen, über die Erstattung von Schulungskosten zur Finanzierung seines sozialpolitischen Gegenspielers beizutragen. Das wäre ihm nicht zumutbar. Beschränkungen der Kostentragungspflicht nach koalitionsrechtlichen Grundsätzen treffen aber nicht nur gewerkschaftliche Anbieter. Sie gelten auch, wenn Gewerkschaften Schulungsveranstaltungen nach § 37 Abs. 6 BetrVG durch eine GmbH durchführen lassen, an der sie beteiligt sind und bei der sie einen bestimmenden Einfluß auf die Schulungsinhalte haben. Auch in diesen Fällen ist nach der Rechtsprechung des Senats nicht auszuschließen, daß Gewerkschaften aus den Schulungen einen Gewinn erzielen. Aufgrund ihrer gesellschaftsrechtlichen Stellung können ihnen die wirtschaftlichen Vorteile aus diesen Veranstaltungen entweder in Form erhöhter Gewinnausschüttungen, Verringerung von Verlusten aus anderen Geschäften oder durch eine Wertsteigerung ihrer Gesellschaftsanteile zugute kommen.“92

Überträgt man die Wertungen auf die hier diskutierte Problematik, so sind Gründe für eine großzügigere Wertung nicht ersichtlich. In beiden Fällen wären es nicht die Gewerkschaften unmittelbar, sondern ihre Bildungseinrichtungen, die von den Zahlungen profitieren würden und in beiden Fällen kämen diese Zahlungen nicht unmittelbar vom Arbeitgeber, sondern über den Interessenvertreter – dort der Betriebsrat, hier das Aufsichtsratsmitglied. Im einen Fall sind solche Verpflichtungen unzulässig – warum also im anderen Fall nicht?

__________ 92 BAG v. 28.6.1995 – 7 ABR 55/94, SAE 1996, 288 m. Anm. Thüsing; hierzu Thüsing in Richardi, BetrVG, 12. Aufl. 2009, § 40 Rz. 36.

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Abführung von Aufsichtsratsvergütung an gewerkschaftliche Bildungseinrichtungen

gg) Verletzung der Ziele guter Corporate Governance Cuius est commodum, eius est periculum. Neben dem Problem der Gegnerfinanzierung sprechen gegen die Zulässigkeit der Abführungsregelung in der Satzung von DGB und dessen Mitgliedsgewerkschaften auch Gesichtspunkte der Corporate Governance. So bestimmt Punkt 5.4.6 DCGK93: „Die Mitglieder des Aufsichtsrats sollen neben einer festen eine erfolgsorientierte Vergütung erhalten. Die erfolgsorientierte Vergütung sollte auch auf den langfristigen Unternehmenserfolg bezogene Bestandteile enthalten.“

Ausgangspunkt dieser Regelung ist der Prinzipal-Agenten-Konflikt – den Aktionären mag das Haus gehören, heimlicher Herr ist jedoch der Vorstand. Damit dieser die Eigner nicht übervorteilt, implementiert das deutsche Aktienrecht den Aufsichtsrat als unabhängiges Kontrollorgan, § 111 AktG. Geht man nun davon aus, dass auch der Aufsichtsrat – ähnlich dem Vorstand – Eigeninteressen verfolgt, die nicht immer mit denen der Eigner identisch sind, bedarf es eines Vergütungssystems, welches persönliche Interessen des Aufsichtsrats und Aktionärsinteressen in Einklang bringt. Dazu eignet sich – wie der Kodex zum Ausdruck bringt – eine am Unternehmenserfolg orientierte Vergütung94. Wird nun den Arbeitnehmervertretern gerade diese Vergütung durch die Abführungsregelung genommen, verlieren sie damit jeden Anreiz, im Interesse langfristigen Unternehmenserfolgs ihr Mandat auszuüben. Darüber hinaus können auch andere Anreizsysteme – wie etwa drohender Mandatsverlust durch eine Übernahme bei schlechter Wertentwicklung des Unternehmens oder der Anreiz, zusätzliche Mandate durch gute Aufsichtsratstätigkeit zu gewinnen95, keine Wirkung entfalten, da die wirtschaftlichen Auswirkungen von Mandatsverlust oder Hinzugewinn gering sind. Nicht zuletzt verlieren Arbeitnehmervertreter durch ihre geringe Vergütung auch an persönlicher Unabhängigkeit, welche immer auch finanzielle Unabhängigkeit voraussetzt96. Schließlich verhindert ein geringer finanzieller Anreiz auch eine Professionalisierung des Aufsichtsrats97, denn gute Führungskräfte erhält man nicht für ein Taschengeld.

__________ 93 Deutscher Corporate Governance Kodex i. d. F. v. 18.6.2009. Punkt 5.4.6 DCGK ist als Empfehlung formuliert und damit nicht verbindlich. Zwar richtet sich der Kodex primär an börsennotierte Gesellschaften (§ 161 AktG), seine Beachtung wird aber auch nicht börsennotierten Gesellschaften empfohlen, Präambel zum DCGK. 94 Vgl. ausführlich Bischof, BB 2006, 2627, 2630 f., der allerdings kritisch zu erfolgsabhängigen Vergütungsmodellen Position bezieht. Zu denkbaren Satzungsregelungen s. Mutter, ZIP 2002, 1230 f. 95 Zu diesen Zusammenhängen s. Bischof, BB 2006, 2627, 2631 m. w. N. 96 Hopt/Roth in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2006, § 113 AktG Rz. 7; Peltzer in FS Zimmerer, 1997, S. 377, 380 f. 97 Mertens in KölnKomm.AktG, 2. Aufl. 1996, § 113 AktG Rz. 41. Zu diesem Ziel s. Punkt 5.4.1 DCGK. Allgemein zur Professionalisierung des Aufsichtsrats Säcker in FS Richardi, 2007, S. 711 passim.

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Es stellt sich allerdings die Frage, ob der Kodex, der nach ganz herrschender Auffassung kein Gesetz darstellt98, im Rahmen der Inhaltskontrolle nach §§ 242, 315 BGB überhaupt zu berücksichtigen ist. Dafür spricht neben der Tatsache, dass der Gesetzgeber den Kodex über § 161 AktG anerkennt, auch die Tatsache, dass die Begriffe „Treu und Glauben“ sowie „billiges Ermessen“ dem Richter Wertungsspielräume eröffnen. Bei seiner Ermessensabwägung wird sich der Richter auf dieselben sachlichen Erwägungen stützen, die zur Entstehung des Kodex geführt haben. Ein Vorbild für dieses Verfahren findet sich im Recht der AGB. So ist wohl unstreitig, dass bei § 307 BGB die im Rechtsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche – auch unterhalb der Schwelle des Handelsbrauches (§ 346 HGB) – bei der Kontrolle einer AGBKlausel in Konkretisierung des Begriffes „Treu und Glauben“ zu berücksichtigen sind99. Vergleichbar damit ist die Kontrolle einer Satzungsbestimmung nach §§ 242, 315 BGB unter Beachtung des DCGK. Da dessen fehlende Gesetzesqualität nicht umgangen werden darf, bedarf es aber immer der Abwägung im Einzelfall. 2. Erfordernis der Regelung in der Satzung? Selbst wenn man demnach die verbandsrechtliche Abführungspflicht für wirksam erachten wollte, besagte dies noch nichts darüber, ob sie auch als Rechtsgrundlage ausreichend ist. Daran können Zweifel erwachsen, weil die Abführungsmodalitäten nicht in den Satzungen selbst enthalten sind, sondern sich beispielsweise100 die §§ 8 Abs. 3, 2 IG BCE i. V. m. § 3 Abs. 3 DGB damit begnügen, auf die Beschlüsse des Bundesausschusses des DGB zu verweisen. Einzige Ausnahme ist der § 3 Nr. 11 der Satzung der IG Metall i. d. F. vom 1.1.2008101. Das OLG Frankfurt ist zwar der Auffassung, „daß die Ausgestaltung auf den Vorstand übertragen wurde, [sei] nicht zu beanstanden, da in der Satzung die Schaffung weitergehender Ordnungen und Richtlinien vorgesehen werden kann.“102 Dem wird man auch im Ansatz nicht widersprechen. Allerdings ist ebenso anerkannt, dass die Satzung eines Vereins sämtliche das Vereinsleben

__________ 98 LG München I, Urt. v. 22.11.2007 – 5 HK O 10614/07, AG 2008, 90 („unzweifelhaft“); Lutter in KölnKomm.AktG, 3. Aufl. 2006, § 161 AktG Rz. 11; Kort, AG 2008, 137; Seibt, AG 2002, 249, 250; Ulmer, ZHR 166 (2002), 150, 159. 99 BGH, Urt. v. 1.7.1987 – VIII ARZ 9/86, NJW 1987, 2575, 2576 (Mietspiegel); OLG Hamburg, Urt. v. 12.7.1967 – 5 U 59/67, NJW 1968, 302, 303 (Standesrichtlinien); Coester in Staudinger, §§ 305–310 BGB, 2006, § 307 BGB Rz. 154; Kieninger in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, § 307 BGB Rz. 36; Ulmer in Ulmer/Brandner/ Hensen, AGB-Recht, 10. Aufl. 2006, § 310 BGB Rz. 26. Ähnlich wie hier Thümmel, BB 2008, 11, 13, der den DCGK zur Beurteilung, ob eine Pflichtverletzung nach den §§ 93, 116 AktG vorliegt, heranziehen will. 100 Zu den Satzungen der anderen Mitgliedsgewerkschaften des DGB s. oben Fn. 9. 101 Oben Fn. 9. 102 OLG Frankfurt, Urt. v. 22.8.2001 – 23 U 177/00, NZA-RR 2002, 531, 533.

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bestimmenden Leitprinzipien und Grundsatzregelungen, soweit sie nicht gesetzlich festgelegt sind, enthalten muss103. Zu den das Vereinsleben bestimmenden Leitprinzipien zählen etwa die Regelungen der Voraussetzungen und Folgen der Mitgliedschaft oder auch die Regelungen über die Bildung, die Bestellung und den Wirkungskreis der Organe104. Weiter bedarf es nach Auffassung des BGH z. B. bei der Einrichtung eines Garantiefonds durch einen Banken-Dachverband der Regelung der durch die Mitgliedsbanken zu erbringenden Beiträge in der Satzung selbst105: „Davon macht auch die […] getroffene Regelung keine Ausnahme. Vielmehr löst auch sie den Interessenkonflikt einseitig zugunsten des [Dachverbands (Dritten)], da den zuständigen Verbandsorganen trotz des einschränkenden Merkmals der Zumutbarkeit ein Beurteilungsspielraum zusteht, der es den Kreditinstituten nicht ermöglicht, die maximale Höhe der eventuell zu tragenden Belastung vorherzusehen.“106

Dem kann man zustimmen, weil das Vereinsmitglied absehen können muss, worauf es sich bei seinem Eintritt finanziell einlässt. § 26 GmbHG schreibt für Nachschusspflichten eine Satzungsregelung ausdrücklich vor. Bei der AG ist eine entsprechende Regelung nach ganz h. M. gemäß §§ 23 Abs. 5 Satz 1, 54 Abs. 1 AktG nicht einmal möglich107. Alternativ kommt allenfalls ein außerordentliches Austrittsrecht des Mitglieds für den Fall in Betracht, dass ein zusätzlicher Beitrag oder eine Beitragserhöhung beschlossen wird108. Jedoch sieht das Gesetz ein solches Austrittsrecht in § 39 BGB nicht vor. Auch wird eine Erhöhung der Beiträge für die Zukunft nicht als wichtiger Grund angesehen, der einen Austritt mit sofortiger Wirkung contra legem rechtfertigen könnte109. Einem Arbeitnehmervertreter wird man einen sofortigen Austritt bei Änderung der maßgeblichen Schwellenwerte deshalb nicht gestatten können.

__________ 103 BGH, Urt. v. 25.10.1983 – KZR 27/82, NJW 1984, 1355; Ellenberger in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 25 BGB Rz. 2; Reuter in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, § 25 BGB Rz. 4. 104 Reuter in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, § 25 BGB Rz. 4; Stöber, Handbuch zum Vereinsrecht, 9. Aufl. 2004, Rz. 658; zurückhaltend K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 685. 105 BGH, Urt. v. 24.10.1988 – II ZR 311/87, BGHZ 105, 306, 313, bestätigt durch Urt. v. 24.9.2007 – II ZR 91/06, ZIP 2007, 2264 f. Zustimmend Heinrichs in Palandt, 67. Aufl. 2008, § 25 BGB Rz. 2. 106 BGH, Urt. v. 24.10.1988 – II ZR 311/87, BGHZ 105, 306, 313. Zustimmend OLG München, Urt. v. 18.2.1998 – 3 U 4897/98, NJW-RR 1998, 966; Reichert, Handbuch Vereins- und Verbandsrecht, 10. Aufl. 2005, Rz. 866; ablehnend Reuter in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, § 25 BGB Rz. 5; Stöber, Handbuch zum Vereinsrecht, 9. Aufl. 2004, Rz. 213. 107 RG, Urt. v. 19.3.1926 – II 412/25, RGZ 113, 152, 156; Bungeroth in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 54 AktG Rz. 21: Lutter in KölnKomm.AktG, 2. Aufl. 1988, § 54 AktG Rz. 13; Henze in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2001, § 54 AktG Rz. 132; Hueck/Windbichler, Gesellschaftsrecht, 21. Aufl. 2008, § 30 Rz. 32. 108 So für einen Ausnahmefall BGH, Urt. v. 24.9.2007 – II ZR 91/06, ZIP 2007, 2264 f. 109 LG Aurich, Urt. v. 22.10.1986 – 1 S 279/86, Rpfleger 1987, 115; LG Hamburg, Urt. v. 29.4.1999 – 302 S 128/98, NJW-RR 1999, 1708; Ellenberger in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 39 BGB Rz. 3.

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Den skizzierten Anforderungen genügen die Satzungen des DGB und dessen Mitgliedsgewerkschaften nicht. Ähnlich wie im „Garantiefonds-Urteil“ des BGH verhält es sich im Dreiecksverhältnis zwischen Gewerkschaft, Arbeitnehmervertreter und Hans-Böckler-Stiftung. Auch die Gewerkschaft löst den zwischen ihr und den Arbeitnehmervertretern bestehenden Interessenkonflikt einseitig zugunsten des Dritten, der Hans-Böckler-Stiftung. Auch die Aufsichtsräte können nicht absehen, in welcher Höhe sie ihre Bezüge abzuführen haben, wurden die maßgeblichen Schwellenwerte doch mehrfach geändert und dies in immer kürzeren Abständen110. Überträgt man das Urteil auf den hier in Frage stehenden Fall, müssten die Mitgliedgewerkschaften des DGB die Abführungsregelungen selbst in ihre Satzungen aufnehmen. In den derzeitigen Fassungen ist dies nicht der Fall. Eine Ausnahme bildet allenfalls § 3 Nr. 11 der Satzung der IG Metall i. d. F. vom 1.1.2008111. Auch hier fehlt es aber an einer Festlegung der maximal abzuführenden Beträge in der Satzung selbst, so dass auch sie den Anforderungen des BGH nicht entsprechen dürfte112. Der BGH hat in einer neuen Entscheidung seine Rechtsprechung nämlich dahingehend konkretisiert, dass jedenfalls eine Sonderumlage grundsätzlich der satzungsförmigen Regelung nach Art und Höhe (Obergrenze) bedarf113. Auch die Regelungen über den Wirkungskreis der Organe sind eventuell nicht ausreichend. Zwar bestimmt § 2 DGB, welche Ziele der Gewerkschaftsbund verfolgt und in § 12 DGB ist geregelt, welche Organe der Bund besitzt. Nicht geregelt ist aber, in welchem Umfang die Organe des DGB die Vorgaben der Grundordnung konkretisieren können. Mit anderen Worten fehlt es an einer Begrenzung des Wirkungskreises der Organe. Darüber hinaus ist fraglich, ob die Formulierung des § 3 Abs. 3 DGB („Die Gewerkschaften des Bundes haben dessen Satzung einzuhalten …“) i. V. m. dem Bekenntnis der IG BCE zur Mitgliedschaft im DGB und seiner satzungsrechtlichen Funktion in § 2 IG BCE114 nicht als dynamische Verweisung auf die Satzung des Dachverbandes aufzufassen ist, welche nach h. M.115 jedenfalls in diesem Umfang unzulässig sein könnte. 3. Keine abweichende Wertung aufgrund beamtenrechtlicher Abführungspflicht Zum Abschluss soll noch ein Blick auf die Lage der Aufsichtsräte geworfen werden, die durch den Bund in den Aufsichtsrat entsandt werden. Sofern es

__________

110 S dazu bereits eingangs unter I. der Darstellung. 111 Oben Fn. 9. 112 A. A. OLG Stuttgart, Urt. v. 5.2.2008 – 12 U 122/07, AuR 2008, 190, erstinstanzlich LG Stuttgart, Urt. v. 27.7.2007 – 26 O 543/06, AuR 2008, 189. 113 BGH, Urt. v. 24.9.2007 – II ZR 91/06, ZIP 2007, 2264 f. 114 Entsprechendes gilt für die Satzungen der anderen Mitgliedsgewerkschaften des DGB, oben Fn. 9. 115 BGH, Urt. v. 28.11.1994 – I ZR 11/94, BGHZ 128, 93, 100; Ellenberger in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 25 BGB Rz. 2; Reuter in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, Vor § 21 BGB Rz. 125 m. w. N.; einschränkend Hadding in Soergel, 13. Aufl. 2000, Vor § 21 BGB Rz. 54.

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sich bei den Aufsichtsräten um Beamte handelt, haben diese gemäß §§ 99 Abs. 1 Nr. 3, 104 BBG i. V. m. § 6 Abs. 3, 4 BNV116 den Teil der Bezüge abzuführen, der bestimmte, in der Verordnung festgelegte Schwellenwerte übersteigt. Die Tätigkeit als Aufsichtsrat lässt sich nämlich nicht dem Hauptamt zuordnen, sondern stellt eine Nebentätigkeit dar117. Da auch das Beamtenrecht eine Abführungspflicht kennt, ließe sich die Behauptung aufstellen, dass Abweichendes für die Gewerkschaften nicht gelten könne. Indes liegen die Dinge im Beamtenrecht anders. Erstens ist die Rechtsgrundlage für die beamtenrechtliche Abführungspflicht ein Parlamentsgesetz (§§ 99 Abs. 1 Nr. 3, 104 BBG), das jedenfalls im Zusammenspiel mit § 6 Abs. 3, 4 BNV präziser gefasst ist als jede Satzung der Gewerkschaften118 und dessen Verfassungskonformität – soweit ersichtlich – bisher nicht angezweifelt wurde119. Zweitens dient die Abführungsregelung der Verhinderung einer ungerechtfertigten Bereicherung des Beamten. Dieser wird nur aufgrund der gesellschaftsrechtlichen Beteiligung des Staates an der Gesellschaft zum Aufsichtsrat bestellt. Er soll keine Vorteile aus dem Amt ziehen, da seine Tätigkeit grundsätzlich mit dem Beamtengehalt abgegolten ist120. Weil die Aufsichtsratstätigkeit allerdings eine über das Hauptamt hinausgehende Nebentätigkeit darstellt, belässt § 6 Abs. 3, 4 BNV dem Beamten einen Teil der Vergütung als Kompensation für dessen zeitlichen Einsatz121. Unter dem Gesichtspunkt der Corporate Governance mag man auch dies kritisch beurteilen, da dem Beamten im Aufsichtsrat die Anreizfunktion genommen wird. Indes ist diese gesetzgeberische Wertung aus rein rechtlicher Sicht hinzunehmen. Man kann hieran ordnungspolitische Kritik üben, wobei jedoch das Ziel, eine ungerechtfertigte Bereicherung des Beamten zu verhindern, weiterhin für eine Abführungsregelung streitet. Das Problem liegt deshalb wohl eher auf der übergeordneten Ebene, ob der Staat – die Bankenkrise einmal ausgeblendet – überhaupt an Publikumsgesellschaften beteiligt sein sollte. Zugunsten der gewerkschaftlichen Abführungsregelung lassen sich aus der beamtenrechtlichen Regelung jedoch keine Schlussfolgerungen ziehen.

__________ 116 Bundesnebentätigkeitsverordnung in der Fassung der Bekanntmachung v. 12.11. 1987 (BGBl. I 1987, 2377), die zuletzt durch Art. 15 Abs. 21 des Gesetzes v. 5.2.2009 (BGBl. I 2009, 160) geändert worden ist. 117 Obiter dictum OVG NRW, Urt. v. 8.9.2000 – 12 A 365/99, RiA 2001, 199 ff. (juris Rz. 22); für § 6 Abs. 3 BNV ebenso Plog/Wiedow/Lemhöfer/Bayer, 273. Lfg. August 2007, § 69 BBG Rz. 7. 118 Mit Ausnahme des § 3 Nr. 11 der Satzung der IG Metall i. d. F. v. 1.1.2008, s. oben Fn. 9. 119 Das BSG, Urt. v. 26.6.1996 – 8 RKn 32/95, SGb 1998, 117 hatte zu beurteilen, ob Teile der Verordnung verfassungswidrig sind. § 69 BBG a. F. (§ 104 BBG n. F.) oder § 6 BNV standen dabei aber nicht zur Disposition. 120 Plog/Wiedow/Lemhöfer/Bayer, 273. Lfg. August 2007, § 69 BBG Rz. 7. 121 BSG, Urt. v. 26.6.1996 – 8 RKn 32/95, SGb 1998, 117, 119; Plog/Wiedow/Lemhöfer/ Bayer, 273. Lfg. August 2007, § 69 BBG Rz. 5, 8, die offenbar von einer Ablieferungspflicht immer dann ausgehen, wenn eine zeitliche Kompensation erfolgt ist.

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IV. Summa Die Summa kann sich kurz fassen: Als vertragliche Verpflichtung zur Abführung von Aufsichtsratsvergütung kann die Vereinbarung nur wirksam sein, wenn sie als Schenkung zu qualifizieren ist und die notarielle Form wahrt. Als verbandsrechtliche Verpflichtung führen gerade die jüngsten Entwicklungen in der Frage guter Corporate Governance dazu, dass sich die Zweifel bezüglich solcher Vereinbarungen mehren: Die legitimen Ziele, die die Gesellschaft mit solchen Zahlungen verfolgt, werden konterkariert. Die mittelbare Gegnerfinanzierung verschärft das Problem noch. Jedenfalls müsste eine solche Verpflichtung unmittelbar in der Satzung geregelt sein. Ein bloßer Beschluss – sei es des Vorstands, sei es der Mitgliederversammlung – reicht demgegenüber wohl nicht. Das wichtige und fruchtbare gemeinnützige Wirken wird den gewerkschaftlichen Bildungseinrichtungen durch diese Einschätzung indes nicht unmöglich gemacht. Auch ohne rechtliche Verpflichtung werden die meisten Aufsichtsratsmitglieder Teile ihrer Vergütung auch zukünftig abführen, allein schon um sicherzustellen, dass die Gewerkschaft sie auch bei der nächsten Wahl unterstützt.

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Zur Compliance-Verantwortung des Vorstands und zu den Compliance-Aufgaben des Aufsichtsrats Inhaltsübersicht Vorbemerkung I. Einleitung II. Gegenstand der Compliance 1. Begriff und Zweck der Compliance a) Fehlen einer allgemeinen gesetzlichen Definition der Compliance b) Ziffer 4.1.3 Deutscher Corporate Governance Kodex c) Unternehmensinterne Richtlinien und Regelwerke d) Vertragliche Compliance-Verpflichtungen des Unternehmens e) Compliance im Konzern 2. Compliance-System als Standardlösung? III. Compliance-Verantwortung des Vorstands 1. Rechtspflicht zur Einführung von Compliance-Maßnahmen a) Meinungsstand b) Eigene Ansicht c) Ergebnis 2. Folgen der Compliance-Verantwortung des Vorstands a) Organisationsverantwortung des Vorstands

b) Begründung eines ComplianceRessorts im Vorstand als horizontale Delegation c) Einsetzung eines ComplianceBeauftragten als vertikale Delegation IV. Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats 1. Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats im Allgemeinen 2. Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats im Hinblick auf die Compliance a) Überwachung der ComplianceVerantwortung des Vorstands b) Delegation der ComplianceÜberwachung an den Prüfungsausschuss 3. Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats in eigenen Angelegenheiten a) Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats im Allgemeinen b) Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats hinsichtlich seiner Verantwortung nach § 161 AktG V. Schluss

Vorbemerkung Wer sich die Reihe von Publikationen von Friedrich Graf von Westphalen vor Augen führt, dem wird nicht nur die beeindruckende Anzahl der Beiträge des praktizierenden Anwalts und die breite Themenvielfalt auffallen. Bemerkenswert ist auch der besondere Spürsinn, mit dem der Jubilar wiederholt neue Rechtsentwicklungen frühzeitig aufgegriffen hat. Es ist nicht weiter verwun-

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derlich, dass er viele dieser Entwicklungen, die heute eigene Rechtsgebiete darstellen, bis heute publizistisch kritisch begleitet1. Der Jubilar hat sich unter anderem bereits frühzeitig mit Fragen der Produzentenhaftung befasst2. Bei diesem Thema geht es unter anderem auch um die Sicherheit betrieblicher Abläufe, die internen Strukturen und generell um die Organisation von Unternehmen. Dies gibt dem Verfasser dieser Zeilen Anlass, den Blick auf eine Thematik aus dem Bereich der Organisation und Verantwortung im Unternehmen zu werfen, die erst in den letzten Jahren ein verstärktes Interesse in der Fachöffentlichkeit erfahren hat. Mit den Überlegungen zur Compliance-Verantwortung von Vorstand und Aufsichtsrat in der Festschrift zu Ehren von Friedrich Graf von Westphalen hofft der Verfasser das Interesse des Jubilars zu finden, nicht nur, weil es sich dabei ebenfalls um eine relativ neue Rechtsentwicklung handelt, sondern auch, weil der Jubilar seine berufliche Laufbahn selbst einmal im Unternehmen begonnen hat. Unternehmensstrukturen und die Frage der Verantwortung im Unternehmen sind ihm also seit vielen Jahren bestens vertraut.

I. Einleitung Vor gut zehn Jahren war der Begriff Compliance in Deutschland noch so gut wie unbekannt. Inzwischen hat das Thema Compliance – ursprünglich aus der US-Bankenwelt stammend – im Bereich des Wirtschaftsrechts seinen festen Platz. Dies gilt nicht nur für den Bereich der Banken und Finanzdienstleistungsunternehmen, denen längst gesetzliche Vorgaben ausdrücklich die Wahrnehmung von Compliance-Funktionen abverlangen. Angesichts der stetig steigenden Normenflut, der auch die wiederholt vorgebrachte Forderung nach Deregulierung nicht Einhalt gebieten konnte, ist das Thema Compliance inzwischen längst auch in der übrigen Wirtschaft angekommen. Inzwischen hat die Compliance in nahezu jedem Unternehmen von gewisser Bedeutung ihren besonderen Stellenwert. Die Entwicklung mag auch durch verschiedene spektakuläre Vorgänge in bekannten Unternehmen, bei denen erhebliche Rechtsverstöße wie Kartellabsprachen, Mitarbeiterbespitzelung, Datenausspähung oder Korruption festgestellt wurden3, beschleunigt worden sein. Gleichwohl handelt es sich um eine noch relativ junge Entwicklung mit bemerkenswerter Durchschlagskraft, was nicht zuletzt die große Zahl der angebotenen Compliance-Veranstaltungen belegt, für die offensichtlich ein reges Interesse der Unternehmen besteht.

__________ 1 Vgl. nur Graf von Westphalen, Der Leasingvertrag, 1. Aufl. 1979; nun 6. Aufl. 2008; Löwe/Graf von Westpahlen/Trinkner, Kommentar zum Gesetz der Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, 1. Aufl. 1977; nun Graf von Westphalen (Hrsg.), Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, 24. Aufl. 2009. 2 Graf von Westphalen, Die Haftung des Warenherstellers im amerikanischen Recht und der Uniform Commercial Code, 1969. 3 Zu erwähnen sind etwa die Vorgänge bei Deutsche Bahn, Deutsche Telekom, Lidl, Siemens.

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Compliance-Verantwortung des Vorstands und Aufgaben des Aufsichtsrats

Die Bedeutung von Compliance steht für die Unternehmenspraxis inzwischen außer Streit. In einer Umfrage hatten amerikanische Unternehmensjuristen vor wenigen Jahren dem Thema Compliance oberste Priorität vor z. B. der Kostenkontrolle eingeräumt4. Compliance hat wegen der zahlreichen kapitalmarktrechtlichen Pflichten bei börsennotierten Gesellschaften zwangsläufig einen besonderen Stellenwert5. Darüber hinaus darf die Bedeutung der Compliance auch im Hinblick auf den Kapitalmarkt nicht unterschätzt werden, denn gute Corporate Governance wie auch eine effektive Compliance können schließlich bei der Aufnahme von Eigen- wie Fremdkapital eine besondere Rolle spielen. Die nachfolgenden Überlegungen beziehen sich auf die Compliance-Verantwortung der Verwaltung also Vorstand und Aufsichtsrat und wollen das Thema vorrangig mit Blick auf die börsennotierte AG beleuchten.

II. Gegenstand der Compliance 1. Begriff und Zweck der Compliance a) Fehlen einer allgemeinen gesetzlichen Definition der Compliance Sieht man einmal von bereichsspezifischen Sonderfällen ab6, so gibt es bislang weder eine gesetzliche Definition der Compliance noch liegt eine Definition vor, die auf allgemeine Akzeptanz gestoßen ist. Wird Compliance nur als die Einhaltung rechtlicher Vorgaben verstanden, von denen das Unternehmen betroffen ist, so ist dieses Verständnis zweifelsfrei zu eng, denn wie Uwe H. Schneider schon vor Jahren angemerkt hat, ist die Einhaltung der Gesetze eine Binsenwahrheit7. Bei richtigem Verständnis reicht der Begriff der Compliance deutlich weiter als die Legalitätspflicht, der die Geschäftsleitung unterworfen ist8. Es geht nicht allein um die bloße Pflicht zur Rechtmäßigkeit und Gesetzeskonformität unternehmerischen Handelns, sondern gerade auch um die Ergreifung und Aufrechterhaltung von organisatorischen Maßnahmen, die das rechtskonforme Verhalten im Unternehmen, in dem Arbeitsteilung und Delegation von Aufgaben und Verantwortung unumgänglich sind, gewährleisten sollen, um auf dem Weg der Risikoprävention die Haftung des Unternehmens

__________ 4 Umfrage der Association of Corporate Counsel (ACC), Juve Datenbank vom 6.11. 2006, im Internet zugänglich über www.juve.de; s. auch die rechtstatsächlichen Hinweise bei Hauschka, in Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (VGR), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2007, 2008, S. 51, 54. 5 Hinzuweisen ist z. B. auf die Pflichten nach WpHG, WpÜG, WpPG. 6 S. § 33 Abs. 1 Nr. 1 WpHG und dazu z. B. Casper in FS Karsten Schmidt, 2009, S. 199; Veil, WM 2008, 1093, 1097; § 64a Abs. 1 VAG und dazu z. B. Bürkle, VW 2008, 212; Dreher, WM 2008, 1765; § 25a Abs. 1 KWG und dazu z. B. Spindler, WM 2008, 905. 7 Uwe H. Schneider, ZIP 2003, 645, 646. 8 S. dazu z. B. Dreher in FS Konzen, 2006, S. 85, 92; Kort, NZG 2008, 81, 83; Uwe H. Schneider in FS 100 Jahre GmbHG, 1992, S. 473, 477.

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und der Mitglieder der Unternehmensleitung zu minimieren9. Die Risiken, die sich aus Rechtsverstößen für das Unternehmen ergeben können, sind vielgestaltig. Zu erwähnen sind nicht nur Geldbußen, Strafen, Gewinnabschöpfung und Schadensersatzansprüche, sondern es geht auch um Mehrkosten, Reputationsschäden, Produktions- oder Absatzverbote10, die durch Compliance-Maßnahmen vermieden oder deren Auswirkungen auf das Unternehmen zumindest gemindert werden sollen. Teilweise wird Compliance auch weitergehend als Bestandteil eines umfassenden Qualitätssicherungssystems verstanden11. b) Ziffer 4.1.3 Deutscher Corporate Governance Kodex Seit der Neufassung des Deutschen Corporate Governance Kodex, die am 20.7.2007 im elektronischen Bundesanzeiger bekannt gemacht worden war, steht jedoch eine Umschreibung zur Verfügung, die sich zwar primär an kapitalmarktorientierte Aktiengesellschaften richtet (§ 161 AktG), die aber gleichwohl als allgemeine Definition der Corporate Compliance angesehen werden kann12. Ziffer 4.1.3 Deutscher Corporate Governance Kodex formuliert wie folgt: „Der Vorstand hat für die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen und der unternehmensinternen Richtlinien zu sorgen und wirkt auf deren Beachtung durch die Konzernunternehmen hin (Compliance).“

Auch wenn sich der Deutsche Corporate Governance Kodex grundsätzlich nur an kapitalmarktorientierte Unternehmen im Sinne von § 264d HGB richtet, hat die Kodex-Kommission mit dem Klammerzusatz in Ziffer 4.1.3 Deutscher Corporate Governance Kodex deutlich ihr Selbstverständnis zum Ausdruck gebracht, dass sie mit dieser Regelung generell begriffsprägend wirken und Compliance als Bestandteil guter Corporate Governance verstanden wissen will. Für weitergehende Schlussfolgerungen ist die Kodex-Regelung jedoch nicht geeignet, denn die Vorgaben des Kodex bilden bekanntlich keinen Akt staatlicher Rechtssetzung, so dass die Regelungen keine Verhaltenspflichten im klassischen Sinne für Vorstand und Aufsichtsrat begründen können. Mit Blick auf Ziffer 4.1.3 Deutscher Corporate Governance Kodex ist allerdings auch klarzustellen, dass es sich dabei nicht um eine Verhaltensempfehlung handelt, deren mangelnde Beachtung von Vorstand und Aufsichtsrat in der Entsprechenserklärung nach § 161 AktG bekanntzugeben und zu begründen ist, denn es fehlt das für Empfehlungen kennzeichnende Wort „soll“13. Die

__________ 9 Bürkle, BB 2005, 565; Hauschka, NJW 2004, 257; Kiethe, GmbHR 2007, 393, 394; Kort, NZG 2008, 81; Rodewald/Unger, BB 2006, 113, 116; Uwe H. Schneider, ZIP 2003, 645, 646; Sidhu, ZCG 1/08, 13; s. auch Lösler, NZG 2005, 104 ff. 10 S. z. B. die Aufstellung bei Hauschka, NJW 2004, 257, 258. 11 So etwa Runte in Bürgers/Körber, 2008, § 161 AktG Rz. 56; vgl. auch Lösler, NZG 2005, 104, 105. 12 Vgl. z. B. Bürkle, BB 2007, 1797, 1998; E. Vetter, DB 2007, 1963. 13 Vgl. z. B. Lutter in KölnKomm.AktG, 2. Aufl. 2006, § 161 AktG Rz. 59; Spindler in K. Schmidt/Lutter, 2008, § 161 AktG Rz. 13; E. Vetter, DNotZ 2003, 748, 752.

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Kodex-Kommission geht vielmehr davon aus, dass die Formulierung von Ziffer 4.1.3 Deutscher Corporate Governance Kodex allein die gesetzliche Lage wiedergibt14, was im Schrifttum bei der Beurteilung von Ziffer 4.1.3 Deutscher Corporate Governance Kodex nicht immer ausreichend berücksichtigt wird15. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus Ziffer 3.4 Abs. 2 Satz 1 Deutscher Corporate Governance Kodex, in der auf die Berichtspflichten des Vorstands zur Compliance hingewiesen wird. c) Unternehmensinterne Richtlinien und Regelwerke Der Wortlaut von Ziffer 4.1.3 Deutscher Corporate Governance Kodex macht deutlich, dass Compliance nicht allein auf die Beachtung gesetzlicher Vorschriften beschränkt ist, sondern darüber hinaus reicht. Namentlich werden auch die unternehmensinternen Richtlinien erfasst. Compliance erstreckt sich nach dem Verständnis des Kodex damit auch auf vom Unternehmen verabschiedete Regelwerke wie z. B. ein Code of Conduct, Business Conduct Guidelines, Ethik-Richtlinien, Arbeitsanweisungen oder Konzernrundschreiben. Dieses weite Verständnis verdient Zustimmung, denn Compliance dient der Absicherung des Unternehmens gegen Risiken und Konsequenzen, die aus Rechts- und Regelverstößen resultieren können und die das Unternehmen in finanzieller, organisatorischer und reputationsmäßiger Hinsicht schädigen können. Dabei ist es grundsätzlich ohne Belang, ob der Rechtsverstoß staatliches Recht oder autonom vom Unternehmen gesetzte interne Regeln betrifft. d) Vertragliche Compliance-Verpflichtungen des Unternehmens Schließlich ergeben sich nach zutreffender Ansicht16 Compliance-Verpflichtungen nicht nur aus gesetzlichen und unternehmensinternen Regelungen. Die Pflicht zum Ergreifen von Compliance-Maßnahmen kann auch auf vertraglichen Vereinbarungen beruhen. Hierzu zählen z. B. im Bereich des Handels Vereinbarungen über die Beachtung von Sozialstandards in der Lieferkette17 sowie generell die Vereinbarung von sog. Fair-Trade oder Auditierungs-Klauseln, die im B2B-Verkehr zur Anwendung gelangen18.

__________ 14 Bachmann in Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (VGR), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2007, 2008, S. 65, 72; Hopt/Roth in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2005, § 111 AktG Rz. 247; J. Koch, WM 2009, 1013, 1020; Kort in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2006, § 91 AktG Rz. 66; Ringleb in Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, 3. Aufl. 2008, Rz. 615. 15 Unzutreffend z. B. Runte (Fn. 11), § 161 AktG Rz. 70, der von einer Kodex-Empfehlung ausgeht; ebenso auch von Schenck in Semler/von Schenck, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 3. Aufl. 2009, § 7 Rz. 120; unklar auch Spindler in MünchKomm.AktG, 3. Aufl. 2008, § 91 AktG Rz. 37; undifferenziert Krieger/Sailer in K. Schmidt/Lutter, 2008, § 93 AktG Rz. 6. 16 Bachmann (Fn. 14), S. 65, 69. 17 S. z. B. Eggert, CCZ Heft 6, 2008, S. V. 18 S. z. B. Gilch/Pelz, CCZ 2008, 131.

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e) Compliance im Konzern Compliance versteht sich nach dem Wortlaut von Ziffer 4.1.3 Deutscher Corporate Governance Kodex und in Übereinstimmung mit der h. M. als konzernweite Verantwortung des Vorstands19. Allerdings macht die Formulierung auch deutlich, dass dabei gegenüber der Compliance im Einheitsunternehmen zu differenzieren ist. Denn, um ein vielzitiertes dictum von Herbert Wiedemann aufzugreifen: „im Konzern ist alles anders“20. Während dem Vorstand im Einheitsunternehmen das Direktionsrecht gegenüber den Mitarbeitern auf den nachgeordneten Ebenen im Unternehmen zusteht und ihm breite Kontrollrechte einräumt, sind hingegen im AG-Konzern die Möglichkeiten der Konzernspitze auf die Konzernunternehmen einzuwirken ungeachtet ihrer Kontrollverantwortung eingeschränkt. Im Vertragskonzern (§§ 291 ff. AktG) vermag das herrschende Unternehmen seinen Willen auch gegenüber dem Vorstand des abhängigen Unternehmens hinsichtlich dessen Leitung nach § 308 AktG durchzusetzen, so dass der Vorstand des herrschenden Unternehmens die rechtliche Möglichkeit hat, seine Vorstellungen von einem konzernweiten Compliance-System auch auf Konzerngesellschaften auszudehnen und dessen Einrichtung und Durchführung anordnen kann21, wobei hier offenbleiben kann, ob ihn eine entsprechende Weisungspflicht trifft. Im faktischen Konzern besteht im Unterschied zum Vertragskonzern gerade keine rechtlich gesicherte Konzernleitungsmacht. Ist das abhängige Unternehmen nicht als GmbH sondern in der Rechtsform der AG organisiert, so ist der Konzernspitze eine stringente Einflussmaßnahme versagt, denn der Vorstand des abhängigen Unternehmens leitet dieses unabhängig in eigener Verantwortung (§ 76 Abs. 1 AktG). Ungeachtet des konzernrechtlichen Ausgleichssystems nach §§ 311 ff. AktG ist er insbesondere nicht verpflichtet, Vorgaben des herrschenden Unternehmens zu befolgen22. Für Fragen der Compliance lässt das Konzernrecht insoweit keine Ausnahmen zu. So mag der Vorstand der abhängigen AG z. B. dem konzernweiten Compliance-System wegen seiner durch die weltweite Dimension bedingten Komplexität kritisch gegenüberstehen und den organisatorischen Implementierungsaufwand vermeiden wollen, weil er sein eigenes Compliance-Konzept für effizienter zumindest aber für ausreichend hält23. Diesen Unterschieden der Leitungsmacht des Vorstands zwischen Einheitsunternehmen und Konzern will die Formulierung von Ziffer 4.1.3 Deutscher Corporate Governance Kodex offensichtlich hinsichtlich der Einrichtung und

__________ 19 Bürkle, BB 2007, 1797, 1799; Lösler, Compliance im Wertpapierdienstleistungskonzern, 2003, S. 294; Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider, AG 2005, 57, 58; Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider, ZIP 2007, 2061, 2063. 20 Wiedemann, Die Unternehmensgruppe im Privatrecht, 1988, S. 9. 21 Immenga in FS Schwark, 2009, S. 199, 204. 22 Vgl. nur Hüffer, 8. Aufl. 2008, § 311 AktG Rz. 8; Koppensteiner in KölnKomm.AktG, 3. Aufl. 2004, § 311 AktG Rz. 139; Kropff in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2000, § 311 AktG Rz. 281. 23 S. auch Immenga in FS Schwark, 2009, S. 199, 205.

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Durchsetzung von konzernweiten Compliance-Systemen besonders Rechnung tragen24. 2. Compliance-System als Standardlösung? Aus der Sicht der Praxis wäre es sicher wünschenswert, wenn es ein Compliance-System als Modell- oder Standardlösung gäbe, auf das Unternehmen allgemein im Sinne eines „one fits all“ zurückgreifen könnten. Aus rechtstatsächlicher Sicht ist jedoch festzustellen, dass ein Standard-ComplianceModell, das sich branchenunabhängig für jedes Unternehmen eignet, nicht zur Verfügung steht und selbst in den regulierten Wirtschaftszweigen der Kredit-, Wertpapierdienstsleistungs- und Versicherungswirtschaft sind jeweils unternehmensspezifische Lösungen erforderlich25. Dieser Befund ist keineswegs überraschend. Die Branchenzugehörigkeit der Unternehmen und die damit verbundene Vielzahl von unterschiedlichen Normen, die von ihnen zu beachten sind, aber auch die Größe, Struktur und Komplexität der einzelnen Unternehmen und die Märkte, in denen sie agieren, formen stets ein eigenes Risikoprofil, aus dem sich für die Compliance-Organisation besondere Anforderungen ergeben, für die jeweils individuelle Lösungen für das Unternehmen entwickelt werden müssen26.

III. Compliance-Verantwortung des Vorstands 1. Rechtspflicht zur Einführung von Compliance-Maßnahmen Das deutsche Recht kennt mit Ausnahme von bereichsspezifischen Sonderfällen27 keine Vorschrift, die die Geschäftsleitung generell zur Vornahme systematischer Compliance-Maßnahmen oder gar zur Einrichtung eines ganzheitlichen Compliance-Systems verpflichtet, um die Rechtstreue des Unternehmens zu gewährleisten. Deshalb ist es umstritten, ob eine Pflicht der Unternehmensleitung zur Einrichtung einer Compliance-Organisation besteht. a) Meinungsstand Rechtsprechung zu dieser speziellen Frage liegt soweit ersichtlich im deutschen Rechtskreis28 nicht vor29. Manche Autoren wollen aus den Organisa-

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24 Zur Compliance im Konzern vgl. z. B. Fleischer, CCZ 2008, 1; J. Koch, WM 2009, 1013; Ringleb (Fn. 14), Rz. 616; Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider, ZIP 2007, 2061. 25 Bachmann (Fn. 14), S. 65, 68; Bürkle, VW 2004, 830, 831; Lampert in Hauschka (Hrsg.), Corporate Compliance, 2007, § 9 Rz. 7. 26 Bachmann (Fn. 14), S. 65, 80; Bürkle, BB 2007, 1797, 1798; Fleischer, AG 2003, 291, 299; Rodewald/Unger, BB 2006, 113, 116; s. auch die praktischen Hinweise bei Hauschka (Fn. 4), S. 51, 57 ff. 27 S. dazu die Angaben oben in Fn. 6. 28 Vgl. allerdings VG Frankfurt v. 8.7.2004 – 1 E 7363/03, AG 2005, 264; s. andererseits z. B. auch BGH v. 11.3.1986, wistra 1986, 222, 223. 29 S. aber die Rechtsprechungsnachweise zum anglo-amerikanischen Rechtskreis bei Fleischer, AG 2003, 291, 295 ff.

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tionspflichten der Unternehmensleitung und verschiedenen Spezialvorschriften eine generelle unabhängig vom Wirtschaftszweig bestehende Rechtspflicht zur Einrichtung einer Compliance-Organisation annehmen30, während andere eine solche Pflicht entschieden ablehnen31. Zur zweiten Gruppe zählt auch die überwiegende Anzahl von Autoren, die demgegenüber differenzieren wollen. Sie stellen auf die konkreten Umstände, nämlich das Risikopotential und die jeweilige Unternehmenssituation ab und machen die Verpflichtung zur Einrichtung einer Compliance-Organisation vom individuellen Unternehmensprofil und den daraus resultierenden Risiken abhängig32. b) Eigene Ansicht Was die AG anbetrifft, so hat der Vorstand das von der Gesellschaft betriebene Unternehmen nach § 76 Abs. 1 AktG unter eigener Verantwortung zu leiten. Die Leitungsverantwortung schließt die Organisationsverantwortung ein33, zu der auch die generelle Compliance-Verantwortung im Sinne der Legalitätspflicht hinzugehört34. Aus Letzterer lassen sich freilich keine speziellen Pflichten des Vorstands zur Errichtung einer umfassenden Compliance-Organisation ableiten. Dazu bedarf es spezieller normativer Anordnungen. Für die nähere inhaltliche Bestimmung der Verhaltenspflichten des Vorstands soll dabei der Fokus auf die Pflichten im Innenverhältnis gerichtet werden35, geht es bei der Compliance doch vor allem um die Vermeidung und Verminderung von aus der Unternehmenstätigkeit resultierenden rechtlichen Risiken des Unternehmens und damit um die Präzisierung der Verhaltenspflichten des Vorstands, die ihm im Innenverhältnis zugewiesen sind. Fragen zu § 130 OWiG sollen hier ausgeblendet werden, da die Vorschrift entsprechende straf- oder bußgeldbewerte unternehmensbezogene Verhaltenspflichten voraussetzt36. Für eine erste Antwort bietet sich möglicherweise § 91 Abs. 2 AktG an, der für den Vorstand im Rahmen seiner Geschäftsleitungspflichten eine besondere

__________ 30 Uwe H. Schneider, ZIP 2003, 645, 648; Bürkle, BB 2005, 565, 568; Kiethe, GmbHR 2007, 393, 396; Liese, BB-Special 5. 2008, S. 17, 22; Partsch, ZRFC 2009, 24, 27; Zimmermann in Wieland (Hrsg.), Wertemanagement, 2004, S. 200, 206; wohl auch Immenga in FS Schwark, 2009, S. 199, 203. 31 Hauschka, ZIP 2004, 877, 878; Hauschka in Hauschka (Hrsg.), Corporate Compliance, 2007, § 1 Rz. 23; Lücke in Lücke (Hrsg.), Beck’sches Mandatshandbuch Vorstand der AG, § 3 Rz. 15; Ringleb (Fn. 14), Rz. 618. 32 Bachmann, ZRP 2005, 109, 111; Bachmann (Fn. 14), S. 65, 68; Fleischer in Spindler/ Stilz, 2007, § 91 AktG Rz. 43; Kort (Fn. 14), § 91 AktG Rz. 65; Kort, NZG 2008, 81, 84; Spindler (Fn. 15), § 91 AktG Rz. 18. 33 Fleischer (Fn. 32), § 76 AktG Rz. 18; Kort in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2003, § 76 AktG Rz. 36; Mertens in KölnKomm.AktG, 2. Aufl. 1987, § 76 AktG Rz. 12; Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199, 2201. 34 Bachmann (Fn. 14), S. 65, 73; Bürkle, VW 2004, 830; Lampert (Fn. 25), § 9 Rz. 9; Uwe H. Schneider, ZIP 2003, 645. 35 Ebenso J. Koch, WM 2009, 1013. 36 Ebenso Bachmann, ZRP, 2005, 109, 111; vgl. auch Lösler, Compliance im Wertpapierdienstleistungskonzern, 2003, S. 127 ff.; s. zu § 130 OWiG z. B. Spindler in Fleischer (Hrsg.), Handbuch des Vorstandsrechts, § 15 Rz. 94 ff.

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organisatorische Verantwortung begründet. Die Vorschrift will das Risikobewusstsein des Vorstands schärfen und zur Konkretisierung seiner Leitungsverantwortung beitragen, indem sie ihn verpflichtet, geeignete Maßnahmen zur Früherkennung von Risiken zu ergreifen, die den Fortbestand der Gesellschaft gefährden können. Der Gesetzgeber hat bereits im Jahre 1997 darauf hingewiesen, dass auch Verstöße gegen Rechtsvorschriften für das Unternehmen durchaus bestandsgefährdenden Charakter haben können37. Es liegt deshalb nicht allzu fern, im Rahmen des Risikofrüherkennungssystems nach § 91 Abs. 2 AktG auch das Compliance-System einzuordnen und damit eine Rechtspflicht des Vorstands zur Einrichtung eines Compliance-Systems zu begründen38. Indes ist zu berücksichtigen, dass § 91 Abs. 2 AktG entgegen verbreiteten Forderungen insbesondere der Betriebswirtschaft39 nicht die Einrichtung eines umfassenden Risikomanagementsystems verlangt, sondern nur die Einrichtung von internen Kontrollmaßnahmen, die sicherstellen, dass bestandsgefährdende Risiken frühzeitig erkannt und dem Vorstand berichtet werden40. Auf die Einrichtung eines Compliance-Systems lässt sich also die Organisationsverantwortung nach § 91 Abs. 2 AktG nicht erstrecken. Im Übrigen besteht für den Vorstand bei der Einrichtung und konkreten Ausgestaltung des nach § 91 Abs. 2 AktG einzurichtenden Frühwarnsystems nach ganz herrschender Ansicht41, die sich insoweit auch auf die Gesetzesbegründung berufen kann42, ohnehin ein weites Leitungsermessen, so dass sich deshalb die Annahme einer generellen Pflicht des Vorstands zur Einrichtung eines Compliance-Systems aus § 91 Abs. 2 AktG keinesfalls begründen lässt43. Für die Frage nach der Verpflichtung zur Implementierung eines ComplianceSystems ist dabei ergänzend auch die Vorschrift des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG in den Blick zu nehmen, der eine Doppelfunktion zukommt, indem sie nicht nur generalklauselmäßig den Verschuldensmaßstab für die Haftung des Vorstands nach § 93 Abs. 2 AktG bestimmt44, sondern mit der Statuierung des allgemeinen Sorgfaltsstandards im Rahmen der Leitungsverantwortung des Vorstands auch dessen Verhaltenspflichten präzisiert und damit zur weiteren Inhaltsbestimmung der Sorgfaltsanforderungen herangezogen werden kann, die der Vorstand im Rahmen seiner Führungs- und Leitungsverantwortung nach § 76

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37 Vgl. die Begründung des RegE zum KonTraG, BT-Drucks. 13/9712, S. 15. 38 Berg, AG 2007, 271, 276; Schwintowski, NZG 2005, 200, 201. 39 Lück, DB 1998, 8; Lück, DB 2000, 1473; Schmidbauer, DB 2000, 153; Wolf, DStR 2002, 1729, 1730; s. auch Preußner/Becker, NZG 2002, 846, 848. 40 Fleischer (Fn. 32), § 91 AktG Rz. 34; Hommelhoff/Mattheus, BB 2007, 2787, 2788; Hüffer (Fn. 22), § 91 AktG Rz. 9; Kort (Fn. 14), § 91 AktG Rz. 50; Krieger/Sailer (Fn. 15), § 91 AktG Rz. 14; vgl. auch Seibert in FS Bezzenberger, 2000, S. 427 ff. 41 Fleischer (Fn. 32), § 91 AktG Rz. 35; Fleischer, AG 2003, 291, 298; Hüffer (Fn. 22), § 91 AktG Rz. 9; Spindler (Fn. 15), § 91 AktG Rz. 27; Theusinger/Liese, NZG 2007, 289; a. A. LG München I v. 5.4.2007 – 5 HKO 15964/06, AG 2007, 417, 418. 42 S. die Begründung des RegE zum KonTraG, BT-Drucks. 13/9712, S. 15. 43 Im Ergebnis ebenso Bachmann (Fn. 14), S. 65, 73; Fleischer, AG 2003, 291, 298; Immenga in FS Schwark, 2009, S. 199, 201; Lösler (Fn. 19), S. 152; Spindler (Fn. 15), § 91 AktG Rz. 37; a. A. Bürkle, BB 2005, 565, 570; Zimmermann (Fn. 30), S. 200, 206. 44 Fleischer (Fn. 32), § 93 AktG Rz. 10; Krieger/Sailer (Fn. 15), § 93 AktG Rz. 5; Mertens (Fn. 33), § 93 AktG Rz. 7; a. A. Hüffer (Fn. 22), § 93 AktG Rz. 3.

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Abs. 1 AktG zu beachten hat. Unstreitig erfasst die Pflicht des Vorstands zur Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters als sogenannte Kardinalspflicht auch die Rechtmäßigkeit der Geschäftsführung (Legalitätsprinzip)45. Dies umfasst nicht nur die Rechtmäßigkeit der Geschäftsleitung des Vorstands, sondern erstreckt sich auch auf die Rechtmäßigkeit der Organisation. Compliance versteht sich wie eingangs ausgeführt als Präventionsmaßnahme, die dazu beitragen soll, das Risikopotential aus den rechtlichen Risiken, denen das Unternehmen ausgesetzt ist, zu reduzieren und darüber hinaus auch die Organmitglieder in haftungsrechtlicher Hinsicht zu entlasten. Damit ist zwangsläufig auch die Auseinandersetzung mit der Frage verbunden, wie die Präventionswirkung im Einzelfall erreicht werden soll, wobei erneut daran erinnert werden soll, dass es weder in der Theorie noch in der Praxis „das Compliance-System“ gibt, sondern darunter eine Vielzahl von einzelnen organisatorischen auf das jeweilige Unternehmen individuell abgestimmten Einzelmaßnahmen verstanden wird, die der Aufgabe der Risikovermeidung und Risikoverringerung dienen. Sieht man von bestimmten einzelnen Risiken unternehmerischer Tätigkeit ab, zu denen spezialgesetzliche Vorschriften bestehen, die konkrete Verhaltenspflichten anordnen (z. B. §§ 15a, 15b WpHG, § 34 AO, § 9 Abs. 2 GeldwäscheG, §§ 27, 31, 52a BImschG), die aber weder für eine entsprechende Anwendung in anderen Wirtschaftsbereichen noch als Ausprägung eines allgemeinen Rechtsgedankens herangezogen werden können46, fehlt es gerade an einer allgemeinen Norm, die dem Vorstand aus Gründen der Bekämpfung von rechtlichen Risiken zwingend vorschreibt, in Unternehmen generell ein Compliance-System zu etablieren und dazu etwa IT-Programme einzuführen, obligatorische Schulungen zu organisieren, einen Compliance-Beauftragten zu ernennen oder eine Whistleblower Hotline einzurichten. Ebenso wenig sind spezifische Compliance-Vorgaben, die in bestimmten unter staatlicher Aufsicht stehenden Wirtschaftszweigen gelten, geeignet, ein allgemeines Grundverständnis zu entfalten. Insgesamt bedeutet dies, dass aus § 93 Abs. 1 AktG keine generelle Pflicht des Vorstands zur Einrichtung eines Compliance-Systems abgeleitet werden kann47. c) Ergebnis Als Ergebnis ist damit festzuhalten, dass ungeachtet der Compliance-Verantwortung des Vorstands eine allgemeine Verpflichtung zur Einrichtung eines

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45 BGH v. 13.4.1994 – II ZR 16/93, BGHZ 125, 366, 372 (zur GmbH); BGH v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370, 377 (zur GmbH); Arnold in Marsch-Barner/Schäfer (Hrsg.), Handbuch börsennotierte AG, 2. Aufl. 2009, § 22 Rz. 12; Bachmann (Fn. 14), S. 65, 74; Fleischer (Fn. 32), § 93 AktG Rz. 14; Hopt in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 1999, § 93 AktG Rz. 98, Krieger/Sailer (Fn. 15), § 93 AktG Rz. 6; Wiesner in Hoffmann-Becking (Hrsg.), Münchener Handbuch Gesellschaftsrecht, AG, 3. Aufl. 2007, § 25 Rz. 4. 46 Ebenso Bachmann (Fn. 14), S. 65, 69; Bürkle, BB 2005, 565, 567; Hauschka (Fn. 31), § 1 Rz. 22; J. Koch, WM 2009, 1013, 1020; a. A. Uwe H. Schneider, ZIP 2003, 645, 648. 47 Im Ergebnis ebenso Bachmann (Fn. 14), S. 65, 74; Lösler (Fn. 19), S. 161; wohl auch Fleischer, AG 2003, 291, 299; a. A. Immenga in FS Schwark, 2009, S. 199, 203.

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Compliance-Systems nicht anzuerkennen ist. Der Vorstand hat als Bestandteil seiner Leitungsverantwortung gemäß §§ 76 Abs. 1, 93 Abs. 1 AktG die Compliance-Verantwortung mit Blick auf das individuelle Risikoprofil des jeweiligen Unternehmens wahrzunehmen, das sich aus vielen Faktoren zusammensetzt und nicht zuletzt auch durch die spezifische Unternehmenshistorie bestimmt ist, die möglicherweise auch Missstände und Unregelmäßigkeiten aufweist48. Im Rahmen dieser Verantwortung und seiner allgemeinen Organisationsverantwortung hat er für sein Unternehmen im Rahmen einer Gefährdungsanalyse dessen Risikoprofil49 zu ermitteln und zu prüfen, ob er eine spezielle Compliance-Organisation schaffen soll und welche organisatorischen Maßnahmen zu ergreifen sind, um das rechtmäßige Verhalten des Unternehmens sicherzustellen. Für das Legal Riskmanagement kann dabei ein Compliance-Check eine wertvolle Hilfe sein50. Bei der Entscheidung über das „ob“ und das „wie“ der Einführung und Ausgestaltung der Compliance-Organisation kann sich der Vorstand auf einen weiten Spielraum eigenen unternehmerischen Ermessens berufen51, in welchem Umfang er von der Delegationsbefugnis Gebrauch machen will; für Fragen der Corporate Compliance gelten dabei keine besonderen Maßstäbe52. Eine Verletzung von Sorgfaltspflichten lässt sich dabei erst dann bejahen, wenn sich unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Gesichtspunkte, die das spezifische Risikoprofil des Unternehmens ausmachen, auch für einen außenstehenden Dritten das Vorliegen einer fehlerhaften Entscheidung förmlich aufdrängt53. 2. Folgen der Compliance-Verantwortung des Vorstands a) Organisationsverantwortung des Vorstands Auch ohne eine generelle gesetzliche Pflicht zur Einrichtung eines Compliance-Systems stellt die Compliance-Verantwortung eine zentrale Aufgabe der Unternehmensleitung dar, die die Vorstandsmitglieder im Rahmen ihrer Leitungsaufgabe nach § 76 Abs. 1 AktG als Gesamtverantwortung trifft54 und deren sie sich weder durch Outsourcing und noch durch Delegation im Unternehmen entledigen können55. Zu Recht wird deshalb von Compliance als

__________ 48 49 50 51 52 53 54

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Fleischer, CCZ 2008, 1, 2; Fleischer, AG 2003, 291, 299; Sidhu, ZCG 2008, 13, 15. Ähnlich Bachmann (Fn. 14), S. 65, 81, der von „Risikoklasse“ spricht. Vgl. dazu z. B. Rodewald/Unger, BB 2006, 113, 116. Fleischer (Fn. 32), § 91 AktG Rz. 43; Hauschka, ZIP 2004, 877, 878; Kort, NZG 2008, 81, 84; Lösler (Fn. 19), S. 161; Spindler (Fn. 15), § 91 AktG Rz. 36; a. A. Immenga in FS Schwark, 2009, S. 199, 203. Ebenso Bürkle, BB 2007, 1797, 1798; Fleischer, AG 2003, 291, 300; Kort, NZG 2008, 81, 83; Spindler, WM 2008, 905, 909. Hüffer (Fn. 22), § 93 AktG Rz. 13a; Spindler in FS Canaris, Bd. II, 2007, S. 403, 413. Bürkle in Hauschka (Hrsg.), Corporate Compliance, 2007, § 8 Rz. 5; Fleischer in Fleischer, (Hrsg.), Handbuch des Vorstandsrechts, § 8 Rz. 43; Hauschka, NJW 2004, 257, 260; E. Vetter in Krieger/Uwe H. Schneider (Hrsg.), Handbuch Managerhaftung, 2007, § 17 Rz. 29. Bürkle, VersR 2009, 866, 870; Hauschka, NJW 2004, 257, 260; Kiethe, GmbHR 2007, 393, 394; Lösler, NZG 2005, 104, 107; Uwe H. Schneider, ZIP 2003, 645, 647; Uwe H. Schneider/Brouwer in FS Priester, 2007, S. 713, 717.

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Chefsache gesprochen56. Dies bedeutet keineswegs, dass der Vorstand als Leitungsorgan alle Compliance-Maßnahmen selbst ausführen muss. Die Grundsatzentscheidungen und strategischen Entscheidungen muss er selbst treffen. Es ist jedoch zulässig, im Rahmen der horizontalen Geschäftsverteilung besondere Aufgaben einem speziellen Vorstandsressort zuzuordnen sowie im Wege der vertikalen Aufgabenzuweisung z. B. die Vorbereitung und Einführung von Compliance-Maßnahmen wie die Durchführung eines Compliance-Programms und die Überwachung der Compliance-Vorgaben im Unternehmen an spezielle Abteilungen oder an einen Compliance-Beauftragten zu delegieren. Damit ist es aber nicht getan. Der Vorstand ist verpflichtet, sich regelmäßig zu informieren und zu überprüfen, ob die nachgeordneten Unternehmensebenen die an sie delegierten Aufgaben ordnungsgemäß wahrnehmen, sodass er im Notfall jederzeit eingreifen kann57. b) Begründung eines Compliance-Ressorts im Vorstand als horizontale Delegation Ein erster Schritt zur Wahrnehmung der Compliance-Verantwortung ist die Begründung einer herausgehobenen Verantwortung als besondere Ressortzuständigkeit innerhalb des Vorstands58. Sie erfolgt im Zuge der Geschäftsverteilung im Vorstand59, die typischerweise60 im Rahmen der Geschäftsordnung des Vorstands geregelt wird61, für deren Erlass eine subsidiäre Zuständigkeit des Vorstands nach § 77 Abs. 2 Satz 1 AktG nur besteht, wenn der Aufsichtsrat seine primäre Zuständigkeit zur Geschäftsverteilung nicht wahrnimmt62. Mit der Begründung eines Vorstandsressorts für Compliance-Fragen wird die Gesamtverantwortung der Vorstandsmitglieder für die Einhaltung der Compliance-Vorgaben nicht aufgehoben. Die Verantwortung der nicht primär zuständigen Vorstandsmitglieder wird jedoch modifiziert, indem sie insoweit grundsätzlich nur noch Überwachungspflichten wahrzunehmen haben63. c) Einsetzung eines Compliance-Beauftragten als vertikale Delegation Neben der horizontalen Geschäftsverteilung innerhalb des Vorstands kommt als weiterer Schritt auf freiwilliger Basis die vertikale Delegation der Com-

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56 Fleischer, BB 2008, 1070, 1072; Kiethe, GmbHR 2007, 393, 397; Lösler, NZG 2005, 104, 107; kritisch Spindler, WM 2008, 905, 909. 57 Hauschka, AG 2004, 461, 467;Thamm, Die rechtliche Verfassung des Vorstands der AG, 2008, S. 211; Uwe H. Schneider, DB 1993, 1909, 1914. 58 Kort, NZG 2008, 81, 83 spricht von „organisatorischer Mindestvoraussetzung“. 59 So z. B. bei Siemens mit dem Vorstandsressort Recht und Compliance. 60 Ebenso die Empfehlung in Ziffer 4.2.1 Satz 2 Deutscher Corporate Governance Kodex. 61 Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497, 499; Hüffer (Fn. 22), § 77 AktG Rz. 14; Turiaux/ Knigge, DB 2004, 2199, 2202; E. Vetter (Fn. 54), § 17 Rz. 32. 62 Fleischer (Fn. 32), § 77 AktG Rz. 63; Pentz in Fleischer (Hrsg.), Handbuch des Vorstandsrechts, § 16 Rz. 17; E. Vetter (Fn. 54), § 17 Rz. 34. 63 OLG Köln v. 31.8.2000 – 18 U 42/00, AG 2001, 363, 364; VG Frankfurt v. 8.7.2004 – 1 E 7363/03, AG 2005, 264, 265; Martens in FS Fleck, 1988, S. 191, 196; Schiessl, ZGR 1992, 64, 81; Spindler (Fn. 15), § 77 AktG Rz. 59; E. Vetter (Fn. 54), § 17 Rz. 19; vgl. auch Götz, AG 1995, 337, 338.

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pliance-Aufgabe auf nachgeordnete Ebenen in Betracht. Vorrangig geht es dabei um die Einsetzung eines Compliance-Beauftragten (Compliance-Officers). Die unternehmensinterne Delegation von Funktionen und Verantwortung ist Teil der Leitungsaufgabe des Vorstands, über die er im Rahmen seines unternehmerischen Ermessens unter Beachtung der inhaltlichen Anforderungen der Business Judgement Rule nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu entscheiden hat64. Ausgehend von den zu den §§ 831, 823 BGB entwickelten Grundsätzen setzt die Delegation von Aufgaben an Angestellte deren sorgfältige Auswahl und Einweisung sowie die fachliche Eignung und persönliche Zuverlässigkeit voraus65. Soweit die fachlichen Anforderungen nicht in ausreichendem Umfang vorhanden sind, muss für die notwendige Vermittlung der benötigten Kenntnisse und Fertigkeiten gesorgt werden66. Ebenso wie bei der horizontalen Delegation verbleiben dem Vorstand Überwachungs- und Aufsichtspflichten als Restzuständigkeit seiner nach § 76 Abs. 1 AktG bestehenden Leitungsaufgabe67. Der Compliance-Beauftragte nimmt die ihm vom Vorstand im Wege der Delegation zugewiesene Aufgabe wahr, die Einhaltung der Compliance-Vorgaben im Unternehmen zu überwachen. Ihm stehen dabei jedoch keine Autonomie in seiner Amtsführung und auch keine besonderen Rechte gegenüber der Geschäftsleitung zu. Er hat die Aufgabe vielmehr in deren Auftrag als „Hilfsorgan der Unternehmensleitung“68 zu erledigen und untersteht auch deren Weisungen69. Für den Vorstand führt dies zu einer wesentlichen Haftungsentlastung. Auf Grund der ihm unverändert obliegenden Gesamtverantwortung kommt ihm aber weiterhin die Führungs- und Kontrollverantwortung für diesen Mitarbeiter zu70.

__________ 64 Fleischer, ZIP 2003, 1, 8; Fleischer (Fn. 54), § 1 Rz. 56; Kort (Fn. 33), § 76 AktG Rz. 36; Mertens (Fn. 33), § 76 AktG Rz. 10; Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199, 2204; E. Vetter (Fn. 54), § 17 Rz. 64. 65 Fleischer, AG 2003, 291, 293 ff.; Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199, 2205; Uwe H. Schneider in FS 100 Jahre GmbHG, 1992, S. 473, 485; E. Vetter (Fn. 54), § 17 Rz. 63. 66 Vgl. KG Berlin v. 9.10.1998 – 14 U 4823/96, NZG 1999, 400, 401; Fleischer (Fn. 54), § 8 Rz. 30; Haas in Michalski (Hrsg.), 2002, § 43 GmbHG Rz. 167; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, § 43 GmbHG Rz. 22; Uwe H. Schneider in Scholz, 10. Aufl. 2007, § 43 GmbHG Rz. 41; Sina, GmbHR 1990, 65, 66; E. Vetter (Fn. 54), § 17 Rz. 63. 67 Götz, AG 1995, 337, 338; Heller, Unternehmensführung und Unternehmenskontrolle unter besonderer Berücksichtigung der Gesamtverantwortung des Vorstands, 1998, S. 35; Hopt (Fn. 45), § 93 AktG Rz. 59; E. Vetter (Fn. 54), § 17 Rz. 68. 68 Lösler (Fn. 19), S. 185. 69 Casper in FS Karsten Schmidt, 2009, S. 199, 203; Lösler, NZG 2005, 104, 107; a. A. Veil, WM 2008, 1093, 1097 jeweils zum Compliance-Beauftragten bei Finanzdienstleistungsunternehmen; weitergehende Vorschläge de lege ferenda bei Rodewald/ Unger, BB 2007, 1629, 1633. 70 Vgl. BGH v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370, 377 (zur GmbH); Casper in FS Karsten Schmidt, 2009, S. 199, 206; Hauschka, NJW 2004, 257, 260; Haouache, Unternehmensbeauftragte und Gesellschaftsrecht der AG und GmbH, 2003, S. 69 und 75; Kiethe, GmbHR 2007, 393, 398; Lösler (Fn. 19), S. 186; E. Vetter (Fn. 54), § 17 Rz. 71.

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IV. Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats 1. Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats im Allgemeinen § 111 Abs. 1 AktG weist dem Aufsichtsrat die Aufgabe der Überwachung der Geschäftsführung zu. Diese Aufgabe erstreckt sich auf die gesamte Tätigkeit des Vorstands und schließt damit auch die Aufgabe ein zu prüfen, ob der Vorstand seiner Leitungs- und Organisationsverantwortung im Allgemeinen sowie der Compliance-Verantwortung im Besonderen nachkommt71. Dabei ist daran zu erinnern, dass sich die Überwachung nicht nur auf die Ordnungsmäßigkeit und Rechtmäßigkeit sondern auch auf die Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit der Geschäftsleitung des Vorstands erstreckt72. Soweit die Compliance-Verantwortung des Vorstands in Rede steht, geht es für den Aufsichtsrat darum zu überwachen, dass sich der Vorstand im Rahmen der Rechtsordnung bewegt. 2. Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats im Hinblick auf die Compliance a) Überwachung der Compliance-Verantwortung des Vorstands Bei der Compliance-Überwachung des Aufsichtsrats ist es dessen Aufgabe, sich mit der Konzeption und Ausgestaltung der Compliance-Vorkehrungen des Vorstands auseinanderzusetzen und sie im Hinblick auf das unternehmensspezifische Risikopotential auf ihre Eignung und Angemessenheit zu prüfen. Dabei muss sich die Verantwortung des Aufsichtsrats darauf beschränken, die vorhandenen Compliance-Vorkehrungen des Vorstands unter Berücksichtigung der spezifischen Geschäftstätigkeit, Strategie, Größe und Komplexität des Unternehmens unter Plausibilitätsgesichtspunkten auf ihre Tauglichkeit und Funktionsfähigkeit kritisch zu hinterfragen73. Auf diese Gesichtspunkte wird man die Berichtspflicht des Vorstands zu Fragen der Compliance beziehen müssen, von der Ziffer 3.4 Abs. 2 Deutscher Corporate Governance Kodex gegenüber dem Aufsichtsrat ausgeht. Keinesfalls kann vom Aufsichtsrat eine Detailprüfung der Funktion des Compliance-Systems oder von bestehenden Compliance-Programmen erwartet werden74. Sofern im Unternehmen kein Compliance-System existiert, wird der Vorstand darlegen müssen, auf welche Weise sonst die Rechtstreue des Unternehmens in seinen verschiedenen Bereichen gewährleistet wird, so dass dem Aufsichtsrat ein Urteil darüber möglich

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71 Vgl. Habersack in MünchKomm.AktG, 3. Aufl. 2008, § 111 AktG Rz. 20; Hopt/Roth (Fn. 14), § 111 AktG Rz. 246; Uwe H. Schneider, ZIP 2003, 645, 647; s. auch Brooks in FS Peltzer, 2001, S. 27, 32. 72 Henze, BB 2001, 54, 59; Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 5. Aufl. 2008, Rz. 71; Spindler in Spindler/Stilz, 2007, § 111 AktG Rz. 14; E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer (Hrsg.), Handbuch börsennotierte AG, 2. Aufl. 2009, § 26 Rz. 9. 73 Bachmann (Fn. 14), S. 65, 93; Bürkle, BB 2007, 1797, 1799; E. Vetter, DB 2007, 1963, 1966. 74 Ebenso Kremer in Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, 3. Aufl. 2008, Rz. 992a; vgl. auch Huwer, Der Prüfungsausschuss des Aufsichtsrats, 2008, S. 168.

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ist, ob trotz Verzichts auf ein Compliance-System ein pflichtgemäßer Gebrauch der Leitungsverantwortung des Vorstands gemäß § 76 Abs. 1 AktG gegeben ist. Wie die Compliance-Berichterstattung des Vorstands nach Ziffer 3.4. Abs. 2 Deutscher Corporate Governance Kodex gegenüber dem Aufsichtsrat erfolgen soll, lässt der Kodex offen. Der Vorstand muss den Aufsichtsrat nicht zwingend selbst informieren, sondern kann sich dabei auch geeigneter Mitarbeiter bedienen. Vorrangig kommt der Compliance-Beauftragte in Betracht, sofern der Vorstand die Möglichkeit der internen Delegation wahrgenommen hat. Mit Ausnahme von § 33 Abs. 1 Nr. 5 WpHG, der für Wertpapierdienstleistungsunternehmen zwingend die Berichterstattung durch den Vorstand und den Compliance-Beauftragten verlangt, ist allerdings zu beachten, dass sich die Informationsrechte des Aufsichtsrats nur an den Vorstand richten und ohne besonderen Anlass keine Veranlassung besteht, das aktienrechtliche Organisationsgefüge außer Betracht zu lassen75. Dem steht nicht entgegen, dass in der Praxis auch in Unternehmen außerhalb des Anwendungsbereichs von § 33 Abs. 1 Nr. 5 WpHG der Compliance-Beauftragte wie im Übrigen auch der Leiter der Revision im Einvernehmen mit dem Vorstand meist einmal im Jahr persönlich im Aufsichtsrat über seinen Aufgabenbereich berichtet76. Ein unmittelbares Informationsrecht des Aufsichtsrats gegenüber den dem Vorstand unterstellten Mitarbeitern ist nach herrschender Ansicht nicht anzuerkennen77. Bei besonderen Vorkommnissen, schweren Missständen oder Verdachtsfällen, insbesondere solchen, die einzelne Vorstandsmitglieder direkt betreffen, kann der Aufsichtsrat den Compliance-Beauftragten jedoch auch unmittelbar befragen und auch bei Abwesenheit des Vorstands anhören78. b) Delegation der Compliance-Überwachung an den Prüfungsausschuss In zunehmendem Umfang haben vor allem börsennotierte Gesellschaften einen Prüfungs- oder Bilanzausschuss eingerichtet, der in der Praxis vielfach auch als Audit Committee bezeichnet wird79. Der Prüfungsausschuss soll die Effizienz der Aufsichtsratsarbeit steigern. Zu den typischen Aufgaben, die an

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75 Spindler, WM 2008, 905, 913; Sünner, CCZ 2008, 56, 59; s. auch Kremer/Klahold in Krieger/Uwe H. Schneider (Hrsg.), Handbuch Managerhaftung, 2007, § 18 Rz. 18, die wohl auch anlassbezogen nur von der Berichterstattung des Vorstands ausgehen; vgl. auch Bachmann (Fn. 14), S. 65, 93, zu weitgehend Huwer (Fn. 74), S. 168. 76 Fleischer in Spindler/Stilz, 2007, § 90 AktG Rz. 44; Kort (Fn. 14), § 90 AktG Rz. 100, Leyens, JZ 2007, 1061, 1066 Marsch-Barner in FS Schwark, 2009, S. 219, 228. 77 Hoffmann-Becking in Hoffmann-Becking (Hrsg.), Münchener Handbuch Gesellschaftsrecht, AG, 3. Aufl. 2007, § 29 Rz. 24; Hüffer (Fn. 22), § 90 AktG Rz. 11; Lutter, AG 2006, 517, 521; Marsch-Barner in FS Schwark, 2009, S. 219, 225; Mertens in KölnKomm.AktG, 2. Aufl. 1995, § 111 AktG Rz. 21; Spindler (Fn. 72), § 111 AktG Rz. 37; Sünner, CCZ 2008, 56, 59; E. Vetter (Fn. 72), § 26 Rz. 7; a. A. Habersack (Fn. 71), § 111 AktG Rz. 68; Leyens, Information des Aufsichtsrats, 2006, S. 175; M. Roth, AG 2004, 1, 9. 78 Für generelles Berichtsrecht Nonnenmacher/Pohle/v. Werder, DB 2007, 2412, 2415; s. auch Rodewald/Unger, BB 2007, 1629, 1632. 79 Rechtstatsächliche Angaben bei von Werder/Talaulicar, DB 2009, 889, 893.

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den Prüfungsausschuss delegiert werden, zählen im Allgemeinen die Überwachung der Rechnungslegung, die Überwachung der Arbeit des Abschlussprüfers sowie die Koordination zwischen der Abschlussprüfung und der internen Revision80. Hinzu kommt schließlich die Überwachung des Risikoüberwachungssystems81. Nicht selten wird ihm auch die Überwachung der Compliance-Verantwortung des Vorstands übertragen82. Letzteres entspricht auch den Vorgaben des Deutschen Corporate Governance Kodex. Nach der Empfehlung von Ziffer 5.3.2 Satz 1 Deutscher Corporate Governance Kodex sollen dem Prüfungsausschuss neben der Befassung mit Fragen der Rechnungslegung, des Risikomanagements, der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers sowie Fragen der Erteilung des Prüfungsauftrags ausdrücklich auch die Compliance zugewiesen werden. In der Unternehmenspraxis zeigt sich beim Aufgabenspektrum des Prüfungsausschusses jedoch kein einheitliches Bild. Der Prüfungsausschuss ist in der AG eine fakultative Einrichtung des Aufsichtsrates und bleibt dies auch, nachdem im Jahre 2009 im Zuge des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes (BilMoG)83 besondere Vorschriften über den Prüfungsausschuss in das AktG aufgenommen worden sind. Ausgehend von dessen Charakter als fakultative Einrichtung ist der Aufsichtsrat frei, welche konkreten Aufgaben er dem Prüfungsausschuss zuweist und welche im Plenum wahrgenommen werden sollen84. Die durch das BilMoG neu eingefügte Regelung in § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG nennt ausdrücklich die Überwachung des Rechnungslegungsprozesses, der Wirksamkeit des internen Kontrollsystems, des Risikomanagementsystems und des internen Revisionssystems sowie der Abschlussprüfung als Aufgaben des Prüfungsausschusses. Hierbei handelt es sich jedoch erkennbar nur um eine beispielhafte und keinesfalls abschließende Aufzählung von Aufgaben, die ohnehin kaum trennscharf voneinander abgegrenzt werden können. Nach Ansicht des Gesetzgebers hat sich der Aufsichtsrat diesen Aufgaben in seiner Gesamtheit im Rahmen seiner gesetzlichen Überwachungsaufgabe ohnehin gemäß § 111 Abs. 1 AktG zu widmen unabhängig davon, ob er einen Prüfungsausschuss eingesetzt hat oder nicht85. In der Aufzählung der Aufgaben des Prüfungsausschusses, die neuerdings in § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG genannt sind, wird das Thema Compliance nicht ausdrücklich erwähnt. Die Nähe der Compliance zum internen Kontrollsystem, dem Risikomanagementsystem und dem internen Revisionssystem spricht aber dafür, dass der Prüfungsausschuss auch nach den Vorstellungen des Gesetzgebers das sachlich und fachlich geeignete Gremium für die Über-

__________ 80 Scheffler, ZGR 2003, 236, 255. 81 Huwer (Fn. 74), S. 167; Scheffler in FS Havermann, 1995, S. 651, 674; Schäfer, ZGR 2004, 416, 429. 82 Bürkle, BB 2007, 1797, 1799; E. Vetter, DB 2007, 1963, 1966; vgl. auch Hopt/Roth (Fn. 14), § 111 AktG Rz. 246. 83 Gesetz zur Modernisierung des Bilanzrechts (Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz – BilMoG), BGBl. I 2009, 1102. 84 BT-Drucks. 16/10067, S. 102. 85 Begründung zu § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG-E in BT-Drucks. 16/10067, S. 102: „originär zukommende Aufgaben“; ebenso Hommelhoff/Mattheus, BB 2007, 2787, 2789.

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wachung der Compliance-Verantwortung des Vorstands ist86, sofern sich der Aufsichtsrat der Aufgabe nicht im Plenum annehmen will. Dies entspricht auch den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben, denn Erwägungsgrund 24 der Abschlussprüferrichtlinie vom 17.5.200687 drückt die Erwartung aus, dass der Prüfungsausschuss neben dem internen Kontrollsystem auch dem „Risiko von Vorschriftenverstößen“ entgegenwirkt88. Der Aufsichtsrat hat im Rahmen seiner Organisationsautonomie schließlich auch die Möglichkeit einen speziellen Compliance-Ausschuss einzurichten. In Einzelfällen ist davon in der Praxis Gebrauch gemacht worden89. Die Einschaltung des Prüfungsausschusses kommt vor allem auch bei konkreten Compliance-Verstößen, bekannt gewordenen Missständen im Unternehmen oder bei Verdachtsmomenten in Betracht, wenn empfindliche Strafen oder erhebliche Reputationsverluste in der Öffentlichkeit zu befürchten sind, denn meist kann der Prüfungsausschuss in diesen Situationen schneller und diskreter tätig werden, als dies dem Aufsichtsratsplenum möglich ist90. In der Sache selbst ist z. B. zu denken an Insidervergehen, Kartellrechtsverstöße, Betrugs- und Korruptionsfälle oder Verstöße im Außenwirtschaftsrecht. An erster Stelle hat der Prüfungsausschuss den Vorstand zur Berichterstattung aufzufordern. Gegebenenfalls kommt aber auch die Beauftragung von Sachverständigen nach § 111 Abs. 2 Satz 2 AktG zur weiteren Aufarbeitung der Angelegenheit in Betracht91. Dies gilt insbesondere bei Verdachtsfällen, die den Vorstand selbst betreffen. Bei seiner Berichterstattung über die Compliance im Unternehmen hat der Vorstand den Prüfungsausschuss uneingeschränkt zu informieren, denn die von Ziffer 3.4 Abs. 2 Deutscher Corporate Governance Kodex angesprochene Berichterstattung des Vorstands zu Fragen der Compliance findet typischerweise nicht (mehr) im Aufsichtsratsplenum sondern im Ausschuss statt. Was die Unterrichtung der nicht dem Ausschuss angehörenden Aufsichtsratsmitglieder anbetrifft, erlangt damit zwangsläufig die Information des Aufsichtsratsplenums durch den Prüfungsausschuss nach § 107 Abs. 3 Satz 3 AktG besonderes Gewicht.

__________ 86 Zurückhaltung aber bei Bürkle, BB 2007, 1797, 1799; Sidhu, ZCG 2008, 13, 15; Sünner, CCZ 2008, 56, 57; Weber-Rey, AG 2008, 345, 349. 87 Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.5.2006 über Abschlussprüfungen von Jahresabschlüssen und konsolidierten Abschlüssen, zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 84/253/EWG des Rates, ABl. L 157 v. 9.6.2006, S. 87. 88 Ähnlich auch Ziffer 4. 2 Abs. 1 von Anhang I der Empfehlung der Kommission vom 15. Februar 2005 zu den Aufgaben von nicht geschäftsführenden Direktoren/Aufsichtsratsmitgliedern/börsennotierter Gesellschaften sowie zu den Ausschüssen des Verwaltungs-/Aufsichtsrats, ABl. L 52 v. 25.2.2005, S. 51. 89 So etwa im Falle Siemens. 90 Kort, NZG 2008, 81, 84; Nonnenmacher/Pohle/v. Werder, DB 2007, 2412, 2415; E. Vetter, DB 2007, 1963, 1966; s. generell zum Krisenmanagement bei ComplianceVerstößen Rodewald/Unger, BB 2007, 1629 ff. 91 So etwa im Fall Deutsche Bahn.

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3. Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats in eigenen Angelegenheiten a) Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats im Allgemeinen Neben seiner Aufgabe der Überwachung der Geschäftsleitung gemäß § 111 Abs. 1 AktG hat der Aufsichtsrat auch dafür zu sorgen, dass er sich selbst rechtstreu verhält, mit anderen Worten, dass er seine eigene Compliance überwacht92. Dies bedeutet generell, dass der Aufsichtsrat nicht nur dafür zu sorgen hat, dass seine eigene Organisation den maßgeblichen rechtlichen Anforderungen entspricht, sondern auch, dass seine Arbeit gemäß den Anforderungen des AktG wie auch der Satzung ausgeführt wird. Bei beiden Aufgaben ist jedes Aufsichtsratsmitglied, vor allem aber der Vorsitzende des Aufsichtsrats gefordert93. b) Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats hinsichtlich seiner Verantwortung nach § 161 AktG Nachdem die rechtliche Bedeutung der Entsprechenserklärung nach § 161 AktG in jüngster Zeit nicht zuletzt auf Grund von verschiedenen Gerichtsentscheidungen94 deutlich gestiegen ist, soll unter Compliance-Aspekten auch die Pflicht von Vorstand und Aufsichtsrat einer börsennotierten AG erwähnt werden, nach § 161 AktG eine Erklärung zu den Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodex abzugeben. Danach kommt nach herrschender Meinung sowohl eine zusammengefasste gemeinsame Entsprechenserklärung von Vorstand und Aufsichtsrat in Betracht, als auch eine Erklärung jedes Organs in eigener Verantwortung95, wobei sich diese allerdings unabhängig von der jeweiligen Zuständigkeit auf alle Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodex zu beziehen hat96. Geben Vorstand und Aufsichtsrat wie in der Praxis üblich eine gemeinsame Erklärung ab, so trifft sie, wie der BGH jüngst im Fall Leo Kirch/Deutsche Bank festgestellt hat, grundsätzlich beide unabhängig von der Frage der Zuständigkeit für die Befolgung der einzelnen Kodex-Erklärungen die Verantwortung für die inhaltliche Richtigkeit der Entsprechenserklärung nach § 161

__________ 92 Bachmann (Fn. 14), S. 65, 93; Bürkle, BB 2007, 1797, 1800. 93 Hopt/Roth (Fn. 14), § 111 AktG Rz. 141; Spindler (Fn. 72), § 111 AktG Rz. 43. 94 S. z. B. BGH v. 16.2.2009 – II ZR 185/07, AG 2009, 285, 289; OLG München v. 19.11.2008 – 7 U 2405/08, AG 2009, 450, 452; OLG München v. 6.8.2008 – 7 U 5628/07, AG 2009, 294, 295; LG Hannover v. 12.3.2009 – 21 T 2/09, AG 2009, 341, 342. 95 Hüffer (Fn. 22), § 161 AktG Rz. 11; Krieger in FS Ulmer, 2003, S. 365, 369; E. Vetter, DNotZ 2003, 748, 755; a. A. Lutter (Fn. 13), § 161 Rz. 41; Seibt, AG 2002, 249, 253; Sester in Spindler/Stilz, 2007, § 161 AktG Rz. 7. 96 Krieger in FS Ulmer, 2003, S. 365, 368; Bertrams, Die Haftung im Zusammenhang mit dem Deutschen Corporate Governance Kodex und § 161 AktG, 2004, S. 110; Kirschbaum, Entsprechenserklärungen zum englischen Combined Code und zum Deutschen Corporate Governance Kodex, 2006, S. 185.

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AktG97. Vorstand und Aufsichtsrat sind demgemäß verpflichtet, sowohl die Beachtung der jeweils auf den eigenen Verantwortungsbereich bezogenen KodexEmpfehlungen festzulegen und über die Abgabe der Erklärung zu beschließen, als auch sich zu vergewissern, dass die vorgesehene Entsprechenserklärung hinsichtlich der von dem jeweils anderen Organ anerkannten Empfehlungen inhaltlich den Tatsachen entspricht und keine falschen Aussagen enthält98. Die Verantwortung des Aufsichtsrats erfasst damit sowohl die eigene Compliance hinsichtlich der Entsprechenserklärung als auch die Überwachung des Vorstands im Hinblick auf dessen Pflichten gemäß § 161 AktG. Die Mitglieder des Aufsichtsrats haben jeweils unabhängig von der Verantwortung des Vorstands sorgfältig zu prüfen und nach bestem Wissen und Gewissen zu erklären, ob die Empfehlungen in der Vergangenheit eingehalten wurden und darüber hinaus auch anzugeben, ob die Absicht besteht, die Kodex-Empfehlungen, soweit in der Entsprechenserklärung keine Abweichungen genannt wird, in der Zukunft einzuhalten. Was die jährliche Entsprechenserklärung anbetrifft, so hat jedes Mitglied des Aufsichtsrats vor der Beschlussfassung über die Abgabe der Erklärung die anderen Organmitglieder zu unterrichten, wenn es Kenntnisse besitzt, dass Empfehlungen in der Vergangenheit nicht beachtet wurden oder wenn die Absicht der künftigen Beachtung der Kodex-Empfehlungen gar nicht besteht, damit eine falsche Erklärung vermieden wird. Im Regelfall wird der Aufsichtsratsvorsitzende den Entwurf der Entsprechenserklärung den übrigen Aufsichtsratsmitglieder zuleiten und um Mitteilung bitten, sofern die vorgesehene Entsprechenserklärung nicht die tatsächlichen Gegebenheiten wiedergibt99. Der BGH hat unter Hinweis auf die gemeinsame Verantwortung von Vorstand und Aufsichtsrat für die inhaltliche Richtigkeit der Entsprechenserklärung auch die Notwendigkeit von eventuellen Korrekturen der abgegebenen Entsprechenserklärung betont100. Entschließen sich Vorstand oder Aufsichtsrat in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich eine von ihnen anerkannte KodexEmpfehlung nicht länger einzuhalten, so ist nicht nur das Organ verpflichtet die Entsprechenserklärung zu aktualisieren, das sich von der Beachtung der Empfehlung lösen will; die gleiche Pflicht trifft auch das jeweils andere Organ101. Denn beiden Organen fällt die Unrichtigkeit der Entsprechenserklärung zur Last und zwingt damit jedes Organ, dessen Mitglieder die Unrichtigkeit kannten oder kennen mussten, aktiv zu werden.

__________ 97 BGH v. 16.2.2009 – II ZR 185/07, AG 2009, 285, 289; s. dazu E. Vetter, NZG 2009, 561. 98 Ebenso Ihrig/Wagner, BB 2002, 2509, 2511; Krieger in FS Ulmer, 2003, S. 365, 370; Bertrams (Fn. 96), S. 137; a. A. Schüppen, ZIP 2002, 1269, 1272. 99 Ebenso Kiethe, NZG 2003, 559, 561; Lutter (Fn. 13), § 161 AktG Rz. 38; Kirschbaum (Fn. 96), S. 204; s. auch Bertrams (Fn. 96), S. 163. 100 BGH v. 16.2.2009 – II ZR 185/07, AG 2009, 285, 289. 101 Ihrig/Wagner, BB 2002, 2509, 2511; Bertrams (Fn. 96), S. 145; Kirschbaum (Fn. 96), S. 251; Radke, Entsprechenserklärung zum Deutschen Corporate Governance Kodex nach § 161 AktG, 2004, S. 113.

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Erlangt etwa ein Aufsichtsratsmitglied davon Kenntnis, dass die Absicht der künftigen Beachtung von Kodex-Empfehlungen bei Abgabe der Entsprechenserklärung gar nicht gegeben war oder später entfallen ist, hat es den Aufsichtsratsvorsitzenden darüber zu informieren. Zu aktiven Nachforschungen über die Einhaltung der anerkannten Empfehlungen ist es jedoch nicht verpflichtet102. Anders kann dies sein, wenn einem Mitglied konkrete Anhaltspunkte für eine Missachtung von Kodex-Empfehlungen vorliegen. In diesem Fall ist es verpflichtet nachzufragen, ob die Anhaltspunkte tatsächlich zutreffen oder den Vorsitzenden des Aufsichtsrats zu unterrichten. In rechtstatsächlicher Hinsicht ist zu erwähnen, dass viele DAX- und MDAXUnternehmen nicht zuletzt mit Blick auf die Notwendigkeit der laufenden Kontrolle der Einhaltung der Kodex-Empfehlungen auf freiwilliger Basis im Rahmen ihrer Compliance-Struktur bereits einen Corporate Governance Beauftragen benannt haben, der dem Aufsichtsrat als Ansprechpartner für Fragen zum Deutschen Corporate Governance Kodex zur Verfügung steht. Darüber hinaus hat er die Einhaltung der von Vorstand und Aufsichtsrat anerkannten Kodex-Empfehlungen zu überwachen und bereitet meist auch die abzugebende Entsprechenserklärung vor und unterstützt soweit notwendig auch bei der Aktualisierung der Erklärung103. Dabei steht allerdings außer Zweifel, dass dadurch nicht die Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder von ihrer Verantwortung nach § 161 AktG für die Abgabe einer wahrheitsgemäßen Entsprechenserklärung befreit werden104.

V. Schluss Die zunehmende Regelungsdichte, der unternehmerisches Handeln unterworfen ist und die für die Unternehmen wie auch für deren Management besondere Risiken durch die Verletzung von rechtlichen Vorgaben mit sich bringt, haben im letzten Jahrzehnt dazu beigetragen, dass das Thema Compliance in Unternehmen eine beachtliche Rolle einnimmt. Auf die im Schrifttum kontrovers erörterte Frage nach der Verpflichtung der Unternehmensleitung zur Einrichtung eines Compliance-Systems ist festzuhalten, dass eine generelle Rechtspflicht zur Einrichtung eines derartigen Systems und zum Aufbau einer Compliance-Organisation nicht festgestellt werden kann. Gleichwohl haben sich Vorstand und Aufsichtsrat ihrer jeweiligen ComplianceVerantwortung zu stellen und unter Berücksichtigung des individuellen

__________ 102 Ebenso wohl Krieger in FS Ulmer, 2003, S. 365, 372; Hanfland, Haftungsrisiken im Zusammenhang mit § 161 AktG und dem Deutschen Corporate Governance Kodex, 2007, S. 194. 103 Ebenso Lutter (Fn. 13), § 161 AktG Rz. 77; Ringleb (Fn. 14), Rz. 1606; weitergehend z. B. Kiethe, NZG 2003, 559, 561; Peltzer, DB 2002, 2580; Seibt, AG 2003, 465, 469. 104 Radke (Fn. 101), S. 154; E. Vetter, NZG 2009, 561, 564; anders wohl Bertrams (Fn. 96), S. 167; Seibt, AG 2003, 465, 469.

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Compliance-Verantwortung des Vorstands und Aufgaben des Aufsichtsrats

Risikoprofils des jeweiligen Unternehmens die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um Rechtsverstöße im Unternehmen zu verhindern. Für allgemeingültige Patentlösungen zur Compliance ist dabei kein Platz, vielmehr ist die Unternehmensleitung aufgefordert, im Rahmen ihres unternehmerischen Ermessens die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen. Ungeachtet ihrer Letztverantwortung für die Compliance im Unternehmen kommt für den Vorstand wie für den Aufsichtsrat die Delegation von Compliance-Aufgaben in Betracht, nämlich einerseits durch Einsetzung eines Compliance-Beauftragten und andererseits durch Übertragung von Überwachungsaufgaben an den Prüfungsausschuss.

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Wie viel Information braucht der Durchschnitt? Inhaltsübersicht I. Einführung II. Begriff des Verbrauchers III. Verbraucherleitbild 1. Allgemeines 2. Die beiden wesentlichsten Verbraucherleitbilder a) Sozialmodell als Verbraucherleitbild b) Informationsmodell als Verbraucherleitbild c) Kritik

3. Verbraucherleitbilder in der Rechtsprechung a) Frühere nationale Rechtsprechung b) Rechtsprechung des EuGH c) Neuere nationale Rechtsprechung IV. Verbraucherschutzkonzept V. Verbraucherschutz – aber richtig. Ein Fazit

I. Einführung Jegliche Überlegung zu der Frage über Umfang und Qualität von Informationen, die der am Markt teilnehmende Verbraucher für seine autonome Entscheidung benötigt, führt zwangsläufig zur näheren Befassung mit dem Begriff des Verbrauchers und zur Auseinandersetzung mit dem vorherrschenden Verbraucherleitbild. Da der Begriff des Verbrauchers zutreffend rollen-1 und nicht statusspezifisch zu verstehen ist, ist dem Begriff selbst für die Beurteilung des Erwartungshorizontes eines Verbrauchers nichts zu entnehmen. Aus diesem Grund ist der Verbraucherbegriff auf eine normativ-typisierende Modell- oder Zielgröße, dem sog. Verbraucherleitbild zu beziehen2. Dieses wird maßgeblich durch die jeweiligen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Vorstellungen und nicht zuletzt durch das Gemeinschaftsrecht geprägt und ist Grundlage für Verbraucherschutzkonzepte, mit denen der für notwendig erachtete Verbraucherschutz umgesetzt wird. Bei dem Begriff des Verbraucherschutzes geht es grundlegend um die Auseinandersetzung, in welchem Maße in die Freiheit und Selbstverantwortung eines mündigen Verbrauchers, privatrechtliche Entscheidungen zu treffen, eingegriffen wird, werden kann oder werden sollte3. Es stellt sich die Frage, wer vor wem

__________ 1 Micklitz in MünchKomm.BGB, 5. Aufl., § 13 BGB Rz. 44. 2 Micklitz in MünchKomm.BGB, 5. Aufl., Vor §§ 13, 14 BGB Rz. 7. 3 Anm. Dauner-Lieb zu: Bettina Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts – insbesondere zur Reichweite europäischer Auslegung (München: Sellier. European Law Publishers 2004. ISBN 3-935808-27-5.), GPR 2005, 121.

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geschützt werden soll oder muss und damit zunächst die Frage nach dem Begriff des Verbrauchers.

II. Begriff des Verbrauchers Der Begriff des Verbrauchers fand sich zunächst in Art. 29 EGBGB (1986), einer Regelung zu Verbraucherverträgen. 1996 wurde mit Art. 24a AGBG eine Sondervorschrift für Verbraucher in das AGBG eingeführt. Schließlich findet sich der Begriff des Verbrauchers in verschiedenen Sondergesetzen, wie dem VerbrKrG, dem HaustWrG, dem TzWrG und dem FernabsG. Im Zuge der Umsetzung der Klauselrichtlinie (93/13/EWG) durch das Gesetz über Fernabsatzverträge und andere Fragen des Verbraucherrechts sowie zur Umstellung von Vorschriften auf Euro-Basis vom 27.6.2000 (BGBl. I 2000, 897) ist der Verbraucherbegriff erstmals in das BGB eingefügt worden und erfuhr mit § 13 BGB eine Legaldefinition. Nach § 13 BGB ist Verbraucher jede natürliche Person, die ein Rechtsgeschäft zu einem Zweck abschließt, der weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann. Die Definition ist unpräzise, weil sie u. a. den Abschluss von Verträgen voraussetzt und damit die Situation vor Vertragsschluss nicht beachtet4. Diese ist aber gerade im Wettbewerbsrecht von Bedeutung5; aber auch im BGB selbst, wie § 241a, § 312c, § 482, § 661a BGB zeigen. Ausgehend von der Legaldefinition in § 13 BGB ist nicht auf das handelnde Rechtssubjekt abzustellen, sondern auf das Handeln an sich. Denn die Einordnung eines Rechtssubjekts als Verbraucher erfolgt nach dem objektiv zu bestimmenden Zweck des vom Verbraucher jeweils zu schließenden Rechtsgeschäfts6. Es handelt sich somit nicht um einen Statusbegriff, wie etwa den, der natürlichen oder juristischen Person. Dieses Rollenverständnis vom Begriff des Verbrauchers zeigt, dass das Rechtssubjekt Verbraucher nicht kategorisiert werden kann und bei der Klassifizierung vorhandene intellektuelle Fähigkeiten oder der ökonomische Status der Person ohne Relevanz sind7. Entscheidend ist, ob die Person das Rechtsgeschäft zu privaten Zwecken vornimmt, die nicht einer gewerblichen oder selbständig beruflichen Tätigkeit zugeordnet werden kann8, wobei mit der selbständigen beruflichen Tätigkeit die selbständige, planmäßige, entgeltliche Angebotstätigkeit am Markt gemeint ist9. Danach kann sich ein Rechtsanwalt, der einen Computer für seinen Sohn kauft auf Verbraucherschutzregelungen berufen; im Falle des zeitgleich für sein Büro angeschafften Computers dagegen nicht. Die Differenzierung in dem Beispielsfall mag verwundern, weil offen-

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4 5 6 7

Ellenberger in Palandt, 68. Aufl., § 13 BGB Rz. 6; K. Schmidt, JuS 2006, 1, 3. Köhler in Hefermehl/Köhler/Bornkamm, 27. Aufl. 2009, § 3 UWG Rz. 134. BGH, NJW 2008, 435; Herresthal, JZ 2006, 695, 697; K. Schmidt, JuS 2006, 1. Duve, Jura 2002, 793, 794 f.; Drexel, JZ 1998, 1046, 1050; K. Schmidt, JuS 2006, 1 f.; K. Schmidt in FS Konzen, 2004, S. 863, 871; BGH, NJW 2006, 431 Rz. 16. 8 Ellenberger in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 13 BGB Rz. 3. 9 Micklitz in MünchKomm.BGB, 5. Aufl., § 14 BGB Rz. 14 ff.; zu den Streitfällen: Verbrauchergeschäfte einer AGB-Außengesellschaft, Existenzgründer oder Arbeitnehmer als Verbraucher, Agenturgeschäfte als Umgehungsgeschäfte, s. K. Schmidt, JuS 2006, 1, 3.

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sichtlich ein und demselben Marktteilnehmer beim Abschluss ein und desselben Rechtsgeschäfts unterschiedlicher Schutz zu Teil wird. Wenn in dem Beispielsfall die erworbenen Waren identisch sein mögen, unterscheiden sich die Rechtsgeschäfte – wie es Reichardt treffend beschreibt10 – gleichwohl. Der Handelnde – so Reichardt – verfüge natürlich grundsätzlich über ein identisches geschäftliches Wissen und könne dies womöglich auch im privaten Rechtsbereich zum Ausdruck zu bringen. Maßgeblich müssten jedoch die Anforderungen sein, die dem Einzelnen bei privaten bzw. unternehmerischen Rechtsgeschäften entgegengebracht werden könnten. Daher ist der Verbraucherbegriff streng von einem bestimmten Verbraucherleitbild zu trennen11. Zu Recht weist Micklitz12 darauf hin, dass Verbraucherbegriff und Verbraucherleitbild in einem Wechselverhältnis stehen, unterschiedliche Funktionen erfüllten und daher unterschiedliche Bewertungen erfahren würden. Der Verbraucherbegriff bestimme den Anwendungsbereich, während das Verbraucherleitbild die Auslegung verbraucherrechtlicher Normen bestimme. Im Gemeinschaftsrecht existiert kein einheitlicher Verbraucherbegriff13. Er wird in verschiedenen Richtlinien unterschiedlich beschrieben. § 13 BGB weicht von den darin enthaltenen Definitionen insoweit ab, als der Verbraucherbegriff erweitert wird. Denn nach § 13 BGB sind nur Rechtsgeschäfte für selbständige berufliche Zwecke vom Verbraucherschutz ausgeschlossen14. Das Gemeinschaftsrecht spricht dagegen in der Haustürgeschäfts-Richtlinie von 1987, der Fernabsatz-Richtlinie von 1997 und der Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie von 1999 nur von der beruflichen Tätigkeit, so dass jeglicher Bezug zu einer beruflichen Tätigkeit die Verbrauchereigenschaft derjenigen Rechtssubjekte aufhebt.

III. Verbraucherleitbild 1. Allgemeines Mit dem bereits angesprochenen rollenspezifischen Verständnis des Verbraucherbegriffs ist die scheinbare Ungleichbehandlung von gleichen Sachverhalten, wie in dem zuvor dargestellten Beispiel des Rechtsanwaltes als Verbraucher und Unternehmer, zu erklären. Allerdings hilft der Verbraucherbegriff bei der Suche nach dem richtigen Schutz des Verbrauchers nicht weiter, weil er sich zu einer spezifischen Schutzbedürftigkeit oder Unterlegenheit neutral verhält15. Das Maß an Schutzbedürftigkeit ist vielmehr durch die jeweils vorherrschende Verbraucherpolitik in sog. Verbraucherleitbildern festgelegt.

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10 Reichardt, Der Verbraucher und seine variable Rolle im Wirtschaftsverkehr, 2008, S. 224. 11 Weick in Staudinger, 2004, § 13 BGB Rz. 8; Micklitz in MünchKomm.BGB, 5. Aufl., Vor §§ 13, 14 BGB Rz. 7. 12 Micklitz in MünchKomm.BGB, 5. Aufl., Vor §§ 13, 14 BGB Rz. 7. 13 S. Zusammenstellung bei Weick in Staudinger, 2004, Vorbem. zu §§ 13, 14 BGB Rz. 14–18. 14 Ellenberger in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 13 BGB Rz. 3. 15 Weick in Staudinger, 2004, § 13 BGB Rz. 8.

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2. Die beiden wesentlichsten Verbraucherleitbilder Es sollen hier nur die beiden konträrsten Leitbilder und auch nur in ihren Grundüberlegungen angesprochen werden, da die vertretenen Ansichten hierzu sehr differenziert und im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes nicht in jeder Hinsicht vollständig und übersichtlich darstellbar sind. Vom Grundsatz her stehen sich die Privatautonomie und die Schutzbedürftigkeit des Einzelnen als Ursache und marktkomplementäre bzw. marktkompensatorische Maßnahmen als Lösung gegenüber. a) Sozialmodell als Verbraucherleitbild Das sog. Sozialmodell16 basiert auf der Vorstellung des strukturell unterlegenen Verbrauchers, der sich dem strukturell überlegenden und damit souveränen Anbieter gegenübersieht. Dieses strukturelle Ungleichgewicht wird vor allem von Reich17 mit dem Tausch- und Gebrauchswert von Waren und Dienstleistungen erklärt. Im Gegensatz zum „Endverbraucher“, der die Waren und Dienstleistungen wegen ihres Gebrauchswerts als solchem erwerbe, benötige der Unternehmer die angebotene Leistung damit er seinerseits einen Tauschwert erhalte, den er am Markt wieder einsetzen könne. Der Anbieter sei daher in der Lage, für ihn nachteilige Konditionen dadurch auszugleichen, dass er sie an den Endverbraucher weiterleiten könne, was Letzterem, ob seiner ungeeigneten Marktstellung, nicht möglich sei. Dieses „strukturelle“ Ungleichgewicht zu beseitigen ist Ziel des sozialen Verbraucherschutzes und durch ausreichenden Wettbewerb bzw. einem marktkomplementären Verbraucherschutz alleine nicht zu erreichen. b) Informationsmodell als Verbraucherleitbild Während das Sozialmodell auf einer Produzentensouveränität basiert, geht das Informationsmodell von der Konsumentensouveränität aus. Es wird geprägt von liberalen marktwirtschaftlichen Vorstellungen. Der Staat soll möglichst wenig in die Wirtschaftsabläufe eingreifen, weil alleine ein ausreichender Wettbewerb die stets verfolgte Parität der Marktteilnehmer zu erreichen in der Lage sei. Denn der Verbraucher habe ja die Wahl und könne sich frei entscheiden, ob er zu den Marktbedingungen kontrahiere, wodurch er zugleich das Marktgeschehen mitbestimme. Die bisherige Darlegung der Vorstellungen dieses Modells lässt erahnen, dass es keinesfalls einen unterlegenen Verbraucher vor Augen hat, sondern sogar einen, der durch seine Entscheidungen das Marktgeschehen wesentlich mitbestimmt. Der Wettbewerb und die Privatfreiheit regelten den Markt genügend und die Verträge regelten die Interessen der Verbraucher optimal. Der Wettbewerb verhindere dabei das Entstehen von Ungleichgewichten. Nur dann, wenn ein Informationsgefälle die Parität emp-

__________ 16 Ausführlich: Dick, Das Verbraucherleitbild der Rechtsprechung, 1995, Ziffer 6.3 S. 34-42. 17 Reich in Reich/Tonner/Wegener, Verbraucher und Recht 1976, S. 18.

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findlich störe, müsse der Verbraucher die Information erhalten, die er zu eigenverantwortlichen autonomen Entscheidung benötige18. c) Kritik Gegen das Sozialmodell ist in erster Linie vorzubringen, dass eine weitgehende Ersetzung des Marktes durch staatliche vorgegebene Entscheidungsmechanismen oder der Versuch einer weitgehend detaillierten und zielgerichteten Steuerung des Marktes keine Vorteile versprechen; denn die Vorteile des Marktes als dezentrales sich selbst regulierendes Entscheidungssystem liegen dagegen auf der Hand19. Zudem sind die Verbraucherinteressen so vielfältig, dass sie mit dem Gebrauchswert/Tauschwert-Antagonismus nicht angemessen erfasst werden können20. Dagegen darf das Informationsmodell nicht darüber hinwegtäuschen, dass der theoretische Ansatz, ausreichende Informationen bringe den Verbraucher erst in die Lage, autonom zu entscheiden, und die Wirklichkeit weit auseinanderklaffen. Aus diesem Grund haben Verbraucherschutzkonzepte, die von dem Informationsmodell ausgehen, teilweise zu Recht Kritik erfahren21. Das vom mündigen Bürger ausgehende Informationsmodell, lässt die verhaltenspsychologische Seite der Verbraucher unberücksichtigt. Die mit dem Modell vorausgesetzte Konsumentensouveränität und daraus resultierende rationale Entscheidungen des Verbrauchers stellen sich oft als Fiktion dar, weil der Verbraucher durchaus völlig irrational entscheidet. Daher wird von verhaltenswissenschaftlicher Seite eingewandt, man neige dazu, das Handeln auf den Märkten als Ergebnis eines Informationsverarbeitungsprozesses zu sehen und dem Handelnden vernünftige Gründe zuzuordnen. Vom Standpunkt der Verbraucherpolitik sollten die Konsumenten souveräner und intelligenter gemacht werden. Dabei werde weitgehend ausgeblendet, dass das Verhalten der Verbraucher durch Reiz-Reaktions-Beziehungen gesteuert werde, die zwar mit kognitiven Vorgängen verbunden seien, die jedoch oft nicht bewusst seien und nicht mit einer kognitiven Kontrolle des Verhaltens gleichgesetzt werden dürften22. Es müsse bedacht werden, dass emotionale Vorgänge die Aufmerksamkeit und Informationsaufnahme lenken würden und kognitive Konflikte zu Verdrängung von Informationen oder zur Vermeidung von Informationsaufnahme führen könnten23. Mit den laienhaften eigenen Erfahrungen im Zusammenhang mit der Art und Weise von Konsumenteneinscheidungen leuchte jedem ein, dass unter Berücksichtigung der angerissenen verhaltenswissenschaftliche

__________ 18 19 20 21

Grunsky, BB 1971, 1113, 1116 f.; Dreher, JZ 1997, 167 ff. Dick (Fn. 16), Ziff. 6.3.3.2., S. 41. Dick (Fn. 16), Ziff. 6.6., S. 54. Koller in FS Huber, 2006, Die Abdingbarkeit des Anlegerschutzes durch Information im europäischen Kapitalmarktrecht, S. 821, 825; Breidenbach, Die Voraussetzungen von Informationspflichten beim Vertragsschluss, 1989, S. 26 f. 22 Koller in FS Huber, 2006, S. 821, 825 mit Hinweis auf Kroeber-Riel/Weinberg, Konsumentenverhalten, 8. Aufl. 2003, S. 694. 23 Koller in FS Huber, 2006, S. 821, 825.

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Erkenntnissen, die Informationspflichten nicht zum Maß des Verbraucherschutz gemacht werden könnten. Sie sind aber auch nicht gänzlich zu vernachlässigen. Denn es ist nicht im Sinne des Verbraucherschutzes im Lichte der liberalen Marktwirtschaft, von den Anbietern Erläuterungen zu jeglichen Produkten bzw. Dienstleistungen zu verlangen. Dies dürfte in vielen Fällen die Grenze desjenigen überschreiten, was mit vertretbaren Mittel machbar ist. Dagegen kann vom Verbraucher ein gewisses Maß an Eigenverantwortung erwartet werden. 3. Verbraucherleitbilder in der Rechtsprechung Einige wettbewerbsrechtliche Entscheidungen sollen aufzeigen, inwieweit die Rechtsprechung zur Falllösung von den dargestellten Leitbildern Gebrauch macht. a) Frühere nationale Rechtsprechung Die nationale Rechtsprechung hatte in der Vergangenheit vor allem im Wettbewerbsrecht den flüchtigen oder unkritischen Verbraucher vor Augen24, wobei in den Entscheidungen letztlich offen bleibt, von welchem Leitbild ausgegangen und welcher Schutz im Einzelfall für notwendig erachtet wird. Es ist allerdings zu vermuten, dass der BGH anders als die Berufungsgerichte in den genannten Rechtstreitigkeiten wohl eher den schwachen unterlegenen Verbraucher vor Augen hatte, der jeglichen Schutz erwarten kann. So führt der BGH in der als „Elsässer Nudeln“ bezeichneten Entscheidung aus dem Jahre 198225 aus, unrichtige Angaben stellten nicht in jedem Fall einen Verstoß gegen das in § 3 UWG verankerte Irreführungsgebot dar, sondern nur dann, wenn sie auch geeignet seien, die angesprochenen Verkehrskreise in ihren wirtschaftlichen Entschlüssen zu beeinflussen. Für die genannte Eignung komme es nicht auf besondere Qualitätserwartungen an, vielmehr genüge es, wenn die Angabe in dem Punkt und in dem Umfang, in dem sie von der Wahrheit abwiche, die Kauflust des Publikums irgendwie beeinflussen könne. Beim Kauf alltäglicher Verbrauchsgüter – wie Nudeln – urteile der Verkehr häufig alleine aufgrund des ersten flüchtigen Eindrucks und ohne Nachdenken über die mögliche Bedeutung eines Firmenzusatzes. Der BGH meint jedenfalls beim Alltagskauf müsse der Verbraucher die Packungsbeschreibungen nicht genauer lesen. Eine Irreführung aufgrund eines flüchtigen Blicks reiche als Wettbewerbsverstoß aus, selbst wenn ein etwas genauerer Blick die flüchtige Vorstellung zerschlagen hätte. Der BGH geht sogar noch weiter und meint, das gelte selbst für weniger flüchtige Käufer. Bei weniger flüchtigen Käufern müsse aber davon ausgegangen werden, dass sie das Aufgedruckte genauer lesen dürften. Bei einer deutschsprachigen Firmenbezeichnung könne die Herkunft des Produkts aus dem Elsass nicht ausgeschlossen werden, zumal im Zuge der

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24 BGH, GRUR 1982, 564; BGH, GRUR 1984, 741; BGH, GRUR 1990, 604; BGH, GRUR 1992, 450. 25 BGH, GRUR 1982, 564, 566.

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europäischen Wirtschaftsgemeinschaft durchaus auch deutsche Firmen im Ausland Produktionsstätten unterhielten. In einer weiteren Entscheidung26 meint der BGH schließlich wiederum ohne ein Wort über das Maß der Schutzbedürftigkeit zu verlieren, dass die Möglichkeit bestünde, die Aufschrift „Patented“ könne von den Verkehrskreisen auch als Hinweis auf ein deutsches Patent und nicht nur auf ausländische Patente beschränkt verstanden werden und sei daher irreführend. Die Begründung, dem allgemeinen Publikum sei die Vorstellung territorialer Begrenzung von Patenten unbekannt, was auch Fachkreise so sehen könnten, überzeugt nicht. So sich der angesprochene Fachkreis im weitesten Sinne mit Patenten befasst, wovon allein aufgrund der Bezeichnung Fachkreise ausgegangen werden kann, müsste ihm bekannt sein, dass es die Begrenzung gibt. Hinzu kommt, dass der BGH nicht auf das Verständnis eben dieser Fachkreise abstellt, sondern auf die Vorstellung des allgemeinen Publikums. Es bleibt offen, ob der Fachkundige oder der Verbraucher beeinflusst worden und ob dies zu missbilligen ist. Die Entscheidung ist nicht ohne Kritik27 geblieben, weil sie nichts zur Schutzbedürftigkeit eines durch Irrtum des durch die Werbung Angesprochenen sagt. In einer weiteren Entscheidung28 führt der BGH aus, für die Ermittlung der Verkehrsauffassung sei von der Erfahrung auszugehen, dass das Durchschnittspublikum geschäftliche Angaben – wie in dem entschiedenen Fall Bestandteile eines Firmennamens – nur selten aufmerksam lese und vielmehr oberflächlich nach dem Gesamteindruck urteile. Damit attestiert der BGH den Verbrauchern oberflächliches Verhalten. b) Rechtsprechung des EuGH Dagegen stellte der EuGH bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts auf den durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher ab29. In anderen Entscheidungen ist die Rede von dem normal informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher30 oder vom normal informierten und angemessen aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher31. Den Begründungen ist zu entnehmen, dass der EuGH seinen Entscheidungen das Informationsmodell zugrunde legt. Er verinnerlicht wesentlich mehr eine liberale Marktwirtschaft als das die nationale Rechtsprechung jedenfalls in der Vergangenheit getan hat. Offensichtlich meint der EuGH die europäischen Verbraucher seien weitaus mehr in der Lage ihre Entscheidungen als Marktteilnehmer souverän zu gestalten, als dass die nationale Rechtssprechung meint. Der Durchschnittsverbraucher soll hierbei, dem Inhalt der Entscheidungen folgend, nicht den Durchschnitt der Bevölke-

__________ 26 27 28 29

BGH, GRUR 1984, 741, 742. Hans Georg Lambsdorff/Axel Hamm, Entscheidungsbesprechung GRUR 1985, 244 ff. BGH, MDR 1990, 796, 797. EuGH, GRUR Int 1998, 795; EuGH, GRUR Int 1999, 345; EuGH, GRUR 1999, 723; EuGH, GRUR Int 1999, 734; EuGH, GRUR Int 2000, 354; EuGH, GRUR 2002, 354; EuGH, GRUR 2003, 533. 30 EuGH, GRUR 2003, 135. 31 EuGH, GRUR Int 2005, 44.

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rung repräsentieren, vielmehr komme es entscheidend darauf an, ob das Angebot an jedermann oder an eine bestimmte Zielgruppe gerichtet sei32. Zudem seien die Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, wozu soziale, kulturelle und sprachliche Besonderheiten und die Situation, in der der Verbraucher mit der Werbung konfrontiert werde, zählten. Der soziale Status oder intellektuelle Fähigkeiten der betreffenden Person bleiben allerdings wiederum – angesichts des gemeinschaftsrechtlichen Verbraucherbegriffs – außer Betracht. Die Informiertheit des Verbrauchers fragt nach dem Informationsstand, den der Anbieter auf der Gegenseite voraussetzen darf; die Aufmerksamkeit, inwieweit der Anbieter erwarten darf, der andere Teil nehme die ihm angebotenen Informationen wahr und schließlich die Verständigkeit, wie kritisch der Verbraucher mit den Informationen umgeht33. c) Neuere nationale Rechtsprechung Für den Bereich des Wettbewerbsrechts sind mit dem UWG die Regelungen geschaffen worden, die das mit diesem Gesetz – wie im gesamten Verbraucherschutzrecht – verfolgte Ziel nach geschäftlicher Entscheidungsfreiheit ermöglichen. Dass das UWG daneben auch die Interessen des Mitbewerbers berücksichtigt, ist für die Frage des Verbraucherschutzes nicht von Belang. Bereits vor Umsetzung vieler Verbraucherschützender Richtlinien änderte die nationale Rechtsprechung die an einen Verbraucher zu stellenden Anforderungen und orientiert sich vor allem im Wettbewerbsrecht fortan an dem zuvor dargestellten gemeinschaftlichen Verbraucherleitbild. Eine der ersten Entscheidungen ist die sog. Orient-Teppichmusterentscheidung des BGH vom 20.10.199934. Sie befasst sich zwar nur mit dem Irreführungsverbot des § 3 UWG; die Gedanken hat der BGH allerdings in der Folgezeit auf das gesamte Lauterkeitsrecht35 und andere Bereiche ausgedehnt. Das KG Berlin hat in der Ausgangsentscheidung bei der Frage, ob von einer irreführenden Werbung auszugehen sei, noch auf den flüchtigen Verbraucher abgestellt. Dem konnte der BGH nicht folgen. Der Grad der Aufmerksamkeit des durchschnittlich informierten und verständigen Verbrauchers, auf dessen Verständnis es ankomme, sei abhängig von der jeweiligen Situation. Er werde vor allem von der Bedeutung der beworbenen Waren oder Dienstleistungen für den angesprochenen Verbraucher abhängen und werde beispielsweise dort eher gering, d. h. flüchtig sein, wo es um den Erwerb geringwertiger Gegenstände des täglichen Bedarfs gehe. Auch das erste Durchblättern von Werbebeilagen oder Zeitungsanzeigen werde regelmäßig flüchtig erfolgen, wobei sich die Begriffe flüchtig und verständig nicht gegenseitig ausschlössen. Erst im Falle eines am Angebot einer bestimmten – nicht völlig geringwertigen – Ware oder Dienstleistung entweder von vornherein bestehenden oder bei flüchtiger Durchsicht geweckten

__________ 32 33 34 35

Vgl. EuGH, GRUR 2003, 604, 607. Vgl. Köhler in Hefermehl/Köhler/Bornkamm, 27. Aufl. 2009, § 4 UWG Rz. 26–28. BGH, GRUR 2000, 619; so auch: BGH, GRUR 2001, 1061. S. hierzu Nachweise der Rechtsprechung bei: Köhler in Hefermehl/Köhler/Bornkamm, 27. Aufl. 2009, § 4 UWG Rz. 29.

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Interesses, werde die Werbung mit größerer Aufmerksamkeit wahrgenommen. Diese situationsadäquate Aufmerksamkeit des Durchschnittsverbrauchers sei für die Ermittlung des Verkehrsverständnisses maßgebend. Missverständnisse flüchtiger oder uninteressierter Leser hätten dabei zurückzutreten. Dieser Entscheidung kann für die Festlegung eines Verbraucherleitbildes und hieraus folgendem Schutz wenig Abstraktes entnommen werden, außer der – zutreffenden – Feststellung, dass es für die Schutzbedürftigkeit auf die konkret eingenommene Rolle in einer bestimmten Situation ankommt. Für den Bereich des Fernabsatzes hat der Gesetzgeber mit den Informationsund Transparenzpflichten, Widerrufs- und Rückgaberechten den gesetzlichen Rahmen geschaffen, in dem der Verbraucher – wie in dem Informationsmodell beschrieben – in die Lage versetzt wird, seine Entscheidungen eigenverantwortlich zu treffen. Die Rechtsprechung hat dann nur die Einhaltung der für den oben beschriebenen funktionierenden Wettbewerb geschaffenen gesetzlichen Rahmen durch die Anbieter festzustellen. Ist dieser ausreichend erfüllt, kommt die Rechtsprechung nicht zum Wettbewerbsverstoß. Es wird nämlich davon ausgegangen, dass der Verbraucher die angebotenen Informationen nutzt. Tut er dies nicht, ist dass seine Entscheidung, und er hat die sich hieraus ergebenden Konsequenzen zu tragen. Auch in den Entscheidungen zu unzureichenden Informationen im Fernabsatzgeschäft des Internethandels orientiert sich der BGH bei den an den Verbraucher zu stellenden Anforderungen am europäischen Verbraucherbegriff36. In der Entscheidung vom 5.10.200537 meinte der BGH bzgl. einer von einem Versandhaus verwendeten AGB-Klausel zu Versandkosten, nach der die Versandkostenbeteiligung eines Einzelbestellers 5 Euro betrage und bei einer Sammelbestellung bei einem Einkaufswert ab 180 Euro keine Versandkosten anfallen würden, dass diese hinreichend transparent sei. Versandkosten seien keine Bestandteile des Gesamtpreises, sondern davon zu unterscheidende zusätzliche Kosten, was sich aus § 1 Abs. 1 Nr. 7 der nach § 312c BGB anzuwendenden BGB-InfoV über die Informationen im Fernabsatz ergebe. Vor Absenden der Bestellung erscheine eine Liste über die bestellten Waren, in der die Einzelpreise und der Gesamtpreis ausgewiesen seien mit dem Hinweis, dass dieser Bestellwert sich ohne Versandkosten verstehe und mit Hinweis auf eine Bestimmung zu Versandkosten in den AGB, zu denen ein Link führe. Außerdem rechne der durchschnittliche Käufer im Versandhandel mit zusätzlich anfallenden Liefer- und Versandkosten, so dass dem Gebot der Klarheit und Verständlichkeit bereits dadurch Genüge getan sei, dass die notwendigen Informationen auf einer gesonderten Seite niedergelegt seien. In dem, der Entscheidung des BGH vom 4.10.200738 zugrunde liegenden Sachverhalts ging das Berufungsgericht noch davon aus, dass neben dem Preis selbst, die Umsatzsteuer und eventuelle Versandkosten neben der Abbildung der Ware für die Verbraucher gut erkennbar abgebildet sein müssten, um den Anforderungen

__________ 36 BGH, NJW 2006, 211 ff.; BGH, NJW 2008, 1384 ff. 37 BGH, NJW 2006, 211 ff. 38 BGH, NJW 2008, 1384 ff.

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von § 1 Abs. 2 PAngV zu genügen, was dafür spricht, dass das Berufungsgericht von einem Verbrauchertypus ausgegangen ist, der nur die aufgeschlagene Seite zu lesen braucht. Jedenfalls dieser Argumentation ist der BGH nicht gefolgt. Die in § 1 Abs. 2 PAngV geforderten Angaben bezögen sich nur auf den Preis selbst. Von Preisbestandteilen und der zu zahlenden Umsatzsteuer verlange die PAngV nur, dass die geforderten Angaben jedenfalls alsbald sowie leicht erkennbar und gut wahrnehmbar auf einer gesonderten Internetseite gemacht würden, die vor Einleitung des Bestellvorgangs aufgemacht werden müsste. Zum einen geht der BGH davon aus, dass der Verbraucher hier über das reine Lesen und Verstehen auch erkennen muss, wenn weitere Angaben erst unter einem gesonderten Link abgerufen werden können, den er dann aufrufen werde, um die Information zu erhalten, die für die Berechnung des zu zahlenden Preis insgesamt notwendig seien. Denn der BGH führt in der Entscheidung aus, die Angaben müssten in jedem Fall der Verkehrsauffassung entsprechen. Zur Erläuterung stellt er darauf ab, dass, wenn – wie hier – Waren des täglichen Gebrauchs beworben und angeboten würden, sei auf den durchschnittliche Nutzer des Internets abzustellen39. Dieser sei mit den Besonderheiten des Internets vertraut; er wisse, dass Informationen zu angebotenen Waren auf mehreren Seiten verteilt sein können, die untereinander durch elektronische Verweise („Links“) verbunden seien. Allerdings suche ein Kaufinteressent die Angaben nicht unter dem Link „Service“ oder „Allgemeine Geschäftsbedingungen“, sondern werde vielmehr die Seiten aufrufen, die er zur Information über die Ware benötigt oder zu denen er durch einfache Links oder durch klare und unmissverständliche Hinweise auf den Weg zum Vertragsschluss geführt werde40. Außerdem sei den Verbrauchern allgemein bekannt, dass im Versandhandel neben dem Endpreis üblicherweise Liefer- und Versandkosten anfielen. Der BGH hat auch hier nicht den flüchtigen oder uninteressierten Verbraucher im Blick, sondern denjenigen, der sich im Internet auskennt und dementsprechend handelt, also den informierten, verständigen und aufmerksamen Verbraucher. Ob der weiteren Feststellung, die Angabe müsse aber zwingend vor der Kaufentscheidung, die der BGH in dem entschiedenen Fall mit Einlegen in den Warenkorb gleichsetzt, beizutreten ist, kann offen bleiben. Es sei an dieser Stelle nur angemerkt, dass der Erhalt der Informationen über die zu zahlende Umsatzsteuer oder der zu zahlenden Versandkosten vor einer verbindlichen Bestellung ausreichend sein dürfte. So diese nicht mit dem Einlegen in den Warenkorb gleichzusetzen ist, sondern erst später erfolgt, wofür mangels Gegenteiliger Sachverhaltsangaben vieles sprechen dürfte, hätte der Kunde nach Kenntnis der zu zahlenden Umsatzsteuer und weiterer Versandkosten jederzeit vom Kauf Abstand nehmen können41. Worin eine wettbewerbswidrige Handlung liegen soll, ist dann fraglich.

__________ 39 BGH, NJW 2008, 1384. 40 BGH, NJW 2008, 1384. 41 Vgl. hierzu die Anmerkung von Träger zu der Entscheidung des BGH v. 5.10.2005 in jurisPR-ITR 3/2006 Anm. 5.

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IV. Verbraucherschutzkonzept Das nationale, auf dem Leitbild des Informationsmodells aufbauende, Verbraucherschutzkonzept geht davon aus, dass der Verbraucher in erster Linie durch funktionierenden Wettbewerb ausreichend geschützt ist und, so sich Ungleichgewichtslagen ergeben, diese auf eine strukturelle Unterlegenheit des Verbrauchers im Verhältnis zum Anbieter als Folge eines Informationsdefizits zurückzuführen sind und folgerichtig durch Bereitstellung fehlender Information ausgeglichen werden können. Deshalb hat der Gesetzgeber mit einer Fülle von Regelungen den Inhalt von Informationen für die Fälle festgelegt, in denen er es aus Gründen des Verbraucherschutzes für erforderlich erachtete bzw. durch Umsetzung von EU-Recht hierzu angehalten war. Im Wettbewerbsrecht sind das z. B. die § 4 Nr. 1.5, § 5, § 5a und 6 und für das Fernabsatzgeschäft z. B. die InfoV-BGB und die PAngV. Das gemeinschaftsrechtliche Verbraucherschutzkonzept – so überhaupt ein solches erkennbar ist – verfolgt hingegen in erster Linie nicht den Schutz des Verbrauchers sondern das Ziel, den Verbrauchern eine rechtliche Grundlage zu bereiten, auf der sie sicher als Akteure am Binnenmarkt teilnehmen können42. Dieses Ziel wird durch das Gemeinschaftsrecht insoweit vorangetrieben, als durch zwingendes Recht bei den Gemeinschaftsbürgern eine Vertrauensbasis geschaffen werden soll, die den grenzüberschreitenden Konsum erleichtere. Daher versucht der EuGH seit dem Beginn der 80-iger Jahre über die Warenverkehrsfreiheit Einfluss auf den nationalen Verbraucherschutz und das nationale Unlauterkeitsrecht zu nehmen43. Mittlerweile wird das bislang favorisierte Optionsmodell der Mindestharmonisierung eher als beachtliches Hindernis auf dem Weg zu einem harmonisierten Binnenmarkt gesehen44 und es scheint, als favorisiere die Europäische Kommission ein Konzept der vollständigen Harmonisierung, welches als Aushöhlung des nationalen Verbraucherrechts verstanden wird45.

V. Verbraucherschutz – aber richtig. Ein Fazit Die dargestellte Entwicklung in der nationalen Rechtsprechung ist durchaus begrüßenswert weil sie die Selbstverantwortung des Verbrauchers für dessen Entscheidungen und damit die Notwendigkeit, sich die für seine Entscheidungen erforderlichen Informationen zu besorgen, wieder in den Vordergrund rückt. Hierbei drängt sich dann die Frage auf, wer den Umfang und den Inhalt der erforderlichen Informationen festlegt. Es wird jedem einleuchten, dass der Anbieter auf Bedenken oder Nachteile seines Produkts von sich aus nicht hinweisen wird, mögen diese Angaben noch so wesentlich für die Kaufentschei-

__________ 42 Anm. Dauner-Lieb, GPR 2005, 121; Artz, Die „vollständige Harmonisierung“ des Europäischen Verbraucherprivatrechts, GRP 2009, 171. 43 Vgl. Drexel, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1995, S. 3. 44 Artz, GPR 2009, 171. 45 Vgl. Artz, GPR 2009, 171.

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dung des Verbrauchers sein. Die für den Anbieter werbewirksamen Angaben müssen sich dagegen nicht zwingend mit denjenigen decken, die den Verbraucher interessieren. Damit steht fest, dass der Staat nicht auf jeglichen ordnungspolitischen Rahmen verzichten darf. Der Gesetzgeber hat – wie zuvor angesprochen – den gesetzlichen Rahmen dafür geschaffen, dass der Verbraucher ein eventuelles Informationsdefizit beseitigen kann. Dass die Regelungen zwingend sind, enthebt den Verbraucher nicht von seiner Selbstverantwortung und steht auch nicht in Widerspruch hierzu. Denn es bleibt am Verbraucher, ob er die Informationen zur Kenntnis nimmt oder nicht. Aus diesem Grund kann der Ansicht von Dick46, das auf mangelnde Information zurückzuführendes Marktversagen nur dann durch Ausgleich dieses Informationsdefizits herzustellen sei, wenn die Information den Verbraucher auch tatsächlich erreiche, von ihm verarbeitet und genutzt werde, nicht gefolgt werden. Denn auch die Entscheidung, angebotene Information nicht zur Kenntnis zu nehmen, kann eine durchaus zu respektierende autonome Konsumentenentscheidung darstellen. Der Anbieter hat nur Sorge dafür zu tragen, dass die Informationen richtig und vollständig, verständlich, auf die spezifische Entscheidungssituation und die individuellen Bedürfnisse zugeschnitten und demgemäß angemessen dosiert sind47. Denn zu viel Information kann dazu führen, dass sie gar nicht mehr zur Kenntnis genommen oder das Wesentliche überlesen wird. Martinek48 spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Verbraucher geradezu mit Informationen ertränkt würden, was dem Idealbild des souveränen, vollständig informierten, Verbraucher in Bezug auf dessen intellektuelle Verarbeitungskapazität nicht hinreichend Rechnung trage49. Eine wesentliche Information stellt nach wie vor der Preis einer Ware dar. Bei ungewöhnlich preiswerten Waren, wird der Verbraucher keine besondere Qualität erwarten dürfen, was nicht ausschließt, dass er sie gleichwohl erhält. Dagegen spricht ein besonders hoher Preis nicht zwingend für gute Qualität. Daher geht der BGH in der zitierten Orient-Teppichmuster-Entscheidung50 auch zutreffend davon aus, dass der Preis den Verbraucher zu einer genaueren Prüfung des Angebots nötigen sollte. Mit der PAngV ist der gesetzliche Rahmen gewahrt und schließt den sich gerade über den Preis regelnde Wettbewerb nicht aus. Nicht außer Acht gelassen werden dürfen die Verbraucher, die erstmals als Teilnehmer eines bestimmten Marktsegments auftreten. Sie bedürfen keines besonderen Schutzes, sondern müssen sich aufgrund ihrer Eigenverantwortung so sie bspw. das bis zu diesem Zeitpunkt für sie unbekannte Medium Internet für ihre Zwecke nutzen wollen, auch mit diesem vertraut machen. Dem Bei-

__________ 46 Dick (Fn. 16), Ziff. 6.2.4.2., S. 31. 47 Buchner/Rehberg, Wann ist der Verbraucher ein „mündiger“ Verbraucher? Zur Diskussion um die Nutrition & Health Claims-Verordnung der EU, GRUR Int 2007, 394, 396 mit Hinweis auf Rehberg in Ott/Schäfer. 48 Martinek, Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, 2000, S. 511 ff. 49 Martinek (Fn. 48), S. 527. 50 S. Fn. 33.

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spiel des Internetversandhandels ist zu entnehmen, dass die Rechtsprechung51 zutreffend auf den durchschnittlichen Nutzer des Internets und nicht auf den „Einsteiger“ abstellt. Eine Verpflichtung des Anbieters, den erstmaligen Benutzer mit den Besonderheiten des Internetversandhandels vertraut zu machen, berücksichtigte die Interessen des Anbieters nicht ausreichend. Hierbei sei der Vollständigkeit halber erwähnt, dass als Werbeadressaten nicht nur bereits vorhandene Kunden in Betracht zu ziehen sind, sondern gerade potentielle Kunden52. Der Einblick in die nationale Rechtsprechung hat zudem gezeigt, dass die angestrebte Vertragsparität mit hinreichender Information bewerkstelligt werden kann, wenn eine differenzierte Betrachtungsweise in Bezug auf Umfang und Inhalt der Informationen angestellt wird. Aus diesem Grund ist – trotz der erhobenen Kritik53 – an dem, auf hinreichende Information aufbauenden Verbraucherleitbild des Informationsmodells und dem hieraus resultierenden, nationalen Verbraucherschutzkonzept, festzuhalten. Selbst wenn verhaltenspsychologische Untersuchungen, die durchaus zutreffende Irrationalität von Verbraucherentscheidungen herausgearbeitet haben, sollten diese Ergebnisse bei der Festlegung von Verbraucherschutzkonzepten keine wesentliche Rolle spielen, weil sie eine Abkehr von der Selbstverantwortung darstellen. Vollkommen zu Recht stellen Buchner und Rehberg54 heraus, dass es den Juristen weniger um eine möglichst zutreffende Beschreibung der Wirklichkeit geht, sondern vorrangig um Handlungsanweisungen, die auf normativen Erwägungen beruhen. Der Gesetzgeber dürfe durchaus ein solches Verhalten verlangen, das nicht immer dem tatsächlichen, durchschnittlichen Verbraucherverhalten entspreche55. Stellte er alleine auf diese ab, läge darin eine Abkehr vom mündigen Verbraucher. Eine dahingehende Entwicklung ginge deutlich zu Lasten der Anbieter und führte gerade nicht zu der gewünschten Vertragsparität. Daher kann durchaus ein vom tatsächlichen Befund abweichendes Verbraucherkonzept verfolgt werden, wie dies der Gesetzgeber und die Rechtsprechung mit dem Leitbild des mündigen und eigenverantwortliche handelnden Verbraucher tun56. Buchner/Rehberg werfen in ihrer Abhandlung zur Diskussion über die Nutrition & Health Claims-Verordnung der EU57 der EU die Frage auf, ob die EU mit dieser Verordnung Tendenzen zur Abkehr von Freiheit und Eigenverantwortung zeige. Sie gelangen zu dem zutreffenden Ergebnis, dass die Verordnung bei genauer Sicht an dem Gedanken von Fortschritt und Eigenverantwortung, der dem auf Basis des Informationsmodells aufbauenden Verbraucherschutzprinzips im Bereich der nährwert- und gesundheitsbezogenen Angaben

__________ 51 52 53 54 55 56 57

S. Fn. 32. BGH, GRUR 1997, 925. Vgl. oben 3. c). Buchner/Rehberg (Fn. 47), GRUR Int 2007, 394, 401. Buchner/Rehberg (Fn. 47), GRUR Int 2007, 394, 401. Buchner/Rehberg (Fn. 47), GRUR Int 2007, 394, 401. Buchner/Rehberg (Fn. 47), GRUR Int 2007, 394–402.

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über Lebensmittel – entgegen vieler anderer Stimmen58 – festhält und auch festzuhalten ist. Das Leitbild des mündigen Verbrauchers ist auch im Bereich des Lebensmittelmarktes richtig. Dass das Nahrungsmittelangebot vielfältiger geworden ist, ist aus Sicht des Endverbrauchers sicher zu begrüßen. Einhergegangen ist damit aber die Schwierigkeit für ihn zu kontrollieren, wie viel und was er im Einzelnen konsumiert. Die Verordnung setzt hier an und ebnet den Weg dafür, dass der Verbraucher eine überschaubare und vor allem sinnvolle Informationsgrundlage erhält, damit er trotz einer zunehmend komplexen Lebensmittelproduktion eine ernährungs- und gesundheitsbewusste Auswahl treffen kann. Der Einzelne soll überhaupt erst in die Lage versetzt werden, als informierter Verbraucher eine Entscheidung zu treffen. Mit einem Verbot der Verwendung von gesundheitsbezogenen Angaben auf Lebensmitteln beugt der Verordnungsgeber gerade einer Irreführung der Angaben vor. Es ist durchaus am Leitbild des mündigen und eigenverantwortlich handelnden Verbrauchers festzuhalten, auch wenn die Wirklichkeit hiervon abweicht. Der Gesetzgeber hat dabei den Rahmen zu schaffen, der dem Verbraucher eine einfache und unkomplizierte Bedürfnisbefriedigung ermöglicht. Er hat nur insoweit in den – bei funktionierendem Wettbewerb – grundsätzlich sich selbst regulierenden Markt einzugreifen, als er den Anbieter zur Angabe der notwendigen Informationen anhält und es dem Verbraucher überlässt, sich mit diesen auseinanderzusetzen. Dessen Eigenverantwortung sollte im Vordergrund stehen.

__________ 58 S. die Zitate bei: Buchner/Rehberg (Fn. 47), GRUR Int 2007, 394, 395.

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Insolvenzrechtliche Haftung der Vorstände von Idealvereinen Inhaltsübersicht I. Fragestellung II. Die positiv-rechtliche Ausgangslage und die Möglichkeiten zu ihrer Fortbildung 1. Geltendes Vereinsrecht 2. Die Neuregelung im GmbH-Recht 3. Zur Rechtslage beim eingetragenen Idealverein

III. Verantwortlichkeit auf der Grundlage des geltenden Vereinsrechts 1. Voraussetzungen einer Vorstandshaftung 2. Forensische Probleme 3. Schlussbetrachtung

I. Fragestellung Die Kernfrage des folgenden Beitrags bildet die Erweiterung der Verantwortlichkeit eines Vereinsvorstandes über § 42 Abs. 2 Satz 2 BGB hinaus durch eine analoge Anwendung des § 64 GmbHG; sie war aufgrund zweier OLGUrteile dem BGH vorgelegt; dieser hat kurz vor Drucklegung entschieden1. Ich selber hatte die Analogie in dem auch den Jubilar beschäftigenden ErmanKommentar „angesichts der zweifelhaften ratio der Norm“ (des § 64 GmbHG) als „nicht angezeigt“ betrachtet2. Auch die genannten Urteile haben die Analogie abgelehnt und dies methodisch mustergültig mit dem Fehlen der Voraussetzungen einer Füllung von Gesetzeslücken begründet; wie nicht verwundern kann, war dieser Punkt in dem bei der Abfassung der Urteile vorliegenden wissenschaftlichen und praktischen Schrifttum kontrovers3, es kann aber nicht zweifelhaft sein, dass die Entscheidung auch weitgreifende rechts- und vielleicht auch gesellschaftspolitische Aspekte betrifft. Zum einen geht es um das zuletzt in der Diskussion um das MoMiG zum Insolvenzrecht der GmbH z. T. stark hervorgetretene Bestreben nach einer Verstärkung des Gläubigerschutzes u. a. durch Vorverlegung des für die Insolvenzantragspflicht maßgebenden Zeitpunkts4. Auf der anderen Seite sollte man sehen, dass die schon

__________ 1 OLG Hamburg v. 5.2.2009, NZG 2009, 1036; OLG Karlsruhe v. 19.6.2009, NZG 2009, 995. So jetzt auch BGH v. 8.2.2010, ZIP 2010, 985. 2 In Erman, 12. Aufl. 2008, § 42 BGB Rz. 6. 3 Für eine Analogie Passarge, ZInsO 2005, 176; im Ergebnis auch Wischemeyer, DZWiR 2005, 230; Reuter in MünchKomm.BGB, § 42 BGB Rz. 17; dagegen Koza, DZWiR 2008, 98; nur referierend Schwarz/Schöpflin in Bamberger/Roth, § 42 BGB Rz. 9. 4 Zu den Überlegungen, die zur Reform des § 64 GmbHG und zu der Regelung in der InsO geführt haben, s. die Begründung zum RegE des MoMiG, zusammengestellt bei Seibert (Hrsg.), RWS-Dokumentation 22, 2009, S. 325, 345 ff., 358 ff.

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für den juristisch nicht vorgebildeten GmbH-Geschäftsführer schwer zumutbare weitgehende Haftung nach § 64 GmbHG und den daraus abgeleiteten Anspruchsgrundlagen bei den Vorständen eines Idealvereins zumindest in manchen Fällen noch weniger realitätsnah erscheint, was besonders die Haftungsdrohung für jede nach Beginn der Krise geleistete Zahlung betrifft. Und schließlich könnte es sein, dass das Gläubigerrisiko bei den Verbindlichkeiten eines nicht wirtschaftlichen Vereins typischerweise andere Personen und Unternehmer trifft als bei einer voll gewerblich tätigen Kapitalgesellschaft oder OHG (zum letzteren s. § 130a HGB). Die folgenden Überlegungen blicken also auf die zwar vielgestaltige, aber durchweg ziemlich graue Zone, die sich durch die wirtschaftliche Betätigung bis hin zum groß-kapitalistischen Wirtschaften von „Idealvereinen“ aufgrund des Nebenzweckprivilegs5 entwickelt hat, und die im Bereich des professionellen Hochleistungssports eigenartige Mischgebilde durch den Einsatz von Kapitalgesellschaften hat entstehen lassen, die ihrerseits wirtschaftlich „ein großes Rad“ drehen, während der Verein als hauptsächlicher Anteilseigner zwar das Sagen haben, aber möglichst nicht haften soll6. Überlegungen zur Angemessenheit der eingangs erwähnten Analogie müssen sich daher besonders mit den Rechtsfolgen der Anwendung der verschiedenen Haftungsinstrumente auseinandersetzen. Das hierbei vermutlich entstehende höchst differenzierte Gesamtbild der Rechtstatsachen und Interessenlagen macht freilich eine eingehende Studie der positiv-rechtlichen Ausgangslage und ihrer Entstehung nicht entbehrlich (dazu also unter II.), es muss aber auch geprüft werden, welche Rechtsfolgen sich aufgrund der Ausgestaltung der Anspruchsgrundlagen gerade bei den kleineren und größeren „Idealvereinen“ ergeben könnten.

II. Die positiv-rechtliche Ausgangslage und die Möglichkeiten zu ihrer Fortbildung 1. Geltendes Vereinsrecht § 42 Abs. 2 BGB verpflichtet den Vorstand, im Fall von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu beantragen, und verpflichtet in Satz 2 bei Verzögerung des Antrags die Vorstandsmitglieder, denen ein Verschulden zur Last fällt, gegenüber den Gläubigern zu Schadensersatz. Ihre jetzige Gestalt hat die Vorschrift durch Art. 33 Nr. 1 EGInsO vom 5.10.19947 erhalten. Hierdurch sollte sie an die für die GmbH, AG und Genos-

__________

5 Dazu BGHZ 95, 84, 89, 93; Hemmerich, BB 1983, 26 ff.; Heermann, ZIP 1998, 1249; H. P. Westermann in Erman, § 21 BGB Rz. 3, 6. 6 Zur Tragfähigkeit des Nebenzweckprivilegs bei den Sportvereinen Heckelmann, AcP 179, 1, 55; K. Schmidt, AcP 182, 1, 29; Hirte, SpuRT 2001, 42 ff.; Schad, Rpfleger 1998, 185; Reuter in MünchKomm.BGB, § 21 BGB Rz. 43; zur Beteiligung des e.V. an der Sport-Kapitalgesellschaft H. P. Westermann in Sport und Recht, herausgegeben vom Justizministerium Baden-Württemberg, 2001, S. 42 ff. 7 BGBl. I 1994, 2911.

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senschaft geltenden Bestimmungen angeglichen werden, wobei für den hier interessierenden Fragenkreis festzuhalten ist, dass die Insolvenzantragspflicht um den Eröffnungsgrund der Zahlungsunfähigkeit erweitert wurde. Daneben wurde noch klargestellt, dass der Verein bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufgelöst wird, was ihn also zum Liquidationsverein umgestaltet8. Die Antragspflicht bei Zahlungsunfähigkeit konnte angesichts der allgemeinen Regelung der für den Antrag vorgesehenen Tatbestände schon vor der Reform bejaht werden, was im Schrifttum mit verschiedenen Begründungen auch geschah9, der Gesetzgeber wollte insoweit wie auch im Hinblick auf die Auflösung des Vereins durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nur einiges klarstellen. Immerhin muss man sich, bevor einer sicher für die betroffenen Vorstände recht empfindlichen Erweiterung ihrer Haftung nähergetreten wird, vor Augen führen, welche Erfordernisse bei Anwendung des § 42 Abs. 2 BGB schon jetzt zu beachten sind. a) Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung sind nach Maßgabe der allgemeinen insolvenzrechtlichen Regeln festzustellen; das gilt auch für den nicht rechtsfähigen Verein10. Maßgebend sind also § 17 Abs. 2 Satz 1 InsO mit dem Hinweis auf den Umstand der Zahlungseinstellung, die einen Anhaltspunkt für die hier maßgebliche wesentliche und nicht nur vorübergehende Unterdeckung gibt, sowie § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO (Überschuldung)11. Die Feststellung von Überschuldung erfordert einen Vergleich des Zeitwerts des Aktivvermögens mit der Höhe der Verbindlichkeiten, das ist also im Ansatz eine bilanzielle Operation. Im Allgemeinen sind die Gegenstände des Aktivvermögens zu Liquidationswerten anzusetzen12. Nicht richtig geklärt ist, ob die Bewertung der Gegenstände des Aktivvermögens, was § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO im Allgemeinen gestattet, auch beim Verein auf der Grundlage einer Prognose über die Fortführung der Aktivitäten des Vereins geschehen kann13. Das führt zu der zweistufigen Überschuldungsprüfung, die zunächst eine Prognose über die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit abzugeben und dann – je nach Ergebnis der „ersten Stufe“ – das Aktivvermögen zu Fortführungs- oder

__________ 8 Im Einzelnen dazu Reuter in MünchKomm.BGB, § 42 BGB Rz. 6, 8. 9 Reichert/van Look, Handbuch des Vereins- und Verbandsrechts, 5. Aufl. 1995, Rz. 1548; Stöber, Handbuch des Vereinsrechts, 17. Aufl. 1997, Rz. 293; Weick in Staudinger, § 42 BGB Rz. 10. 10 Haas, SpuRT 1999, 1; Reuter in MünchKomm.BGB, § 42 BGB Rz. 15. 11 Die Unterschiede zwischen den bis zum 31.12.2010 i. d. F. des FMStG und den nach § 19 Abs. 2 InsO 1999 geltenden Regeln (Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 64 GmbHG Rz. 15 ff.; Altmeppen in Roth/Altmeppen, vor § 64 GmbHG Rz. 1) können hier, da auf die GmbH bezogen, einstweilen beiseite bleiben. 12 Zum früheren Recht OLG Köln, NJW-RR 1998, 686; dem auch für das geltende Recht folgend Reuter in MünchKomm.BGB, § 42 BGB Rz. 8. 13 Nach Reuter in MünchKomm.BGB, § 42 BGB Rz. 9 kommt dies allenfalls bei Vereinen in Betracht, die aufgrund des Nebenzweckprivilegs eine wirtschaftliche Tätigkeit entfalten; gegen die Anwendung des § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO in diesem Zusammenhang H. P. Westermann in Erman, § 42 BGB Rz. 5.

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Liquidationswerten anzusetzen hat14. Die zweistufige Überschuldungsprüfung soll ab 1.1.2014 wieder durch die einstufige ersetzt werden15, was allerdings – angesichts der zuletzt ziemlich verschlungenen Wege des Gesetzgebers – noch abzuwarten bleibt. Das bedeutet insgesamt, dass bei Vereinen wie den großen im Profisport tätigen Clubs in der Tat die Fortführungsprognose eine zentrale Rolle bei der Feststellung der Überschuldung spielt. Hier tritt ein Problem auf, das möglicherweise nicht allenthalben bewusst ist. Der Schuldenstand dieser Vereine ist z. T. geradezu erschreckend, er kann sich auf viele Mio. Euro belaufen16. Dem steht an Aktivposten oft kein nennenswertes Anlagevermögen gegenüber, jedenfalls dann nicht, wenn die großen und aufwendigen Stadien, in denen der Sportbetrieb stattfindet, nicht vereinseigen sind und die – oftmals großen und durchaus kostspieligen – Trainingsgelände wegen der sehr speziellen Art ihrer Nutzung nur einen geringen Beleihungswert17 haben. Wenn ein solcher Verein liquide Mittel benötigt oder Vermögenswerte vorweisen muss, um Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung abzuwenden, kann er auch nicht ohne weiteres auf den „Wert“ seiner im Angestelltenverhältnis tätigen Spieler verweisen, der sich ja nur in Gestalt der praktisch wohl erreichbaren, wenn auch in ihrer allgemein-menschlichen, sprich humanitären Einschätzung anfechtbaren sogenannten Ablösesummen beim „Verkauf“ des Spielers realisieren lässt. Abseits jeder Bewertung nach übergeordneten Maßstäben ist darauf hinzuweisen, dass eine Ablösesumme beim Vereinswechsel eines Spielers nur verlangt werden kann, wenn sein Anstellungsvertrag noch nicht ausgelaufen ist, der Spieler, der nicht „aus einem laufenden Vertrag herausgekauft“ werden muss, ist „ablösefrei“. Schwerer wiegt noch, dass die Erreichung einer hohen Ablösesumme, von der dann in der Presse respektvoll die Rede ist, eine Prognose über die sportliche, nicht zuletzt gesundheitlich überdurchschnittliche Leistungsfähigkeit des Spielers voraussetzt, die sich leicht – und erfahrungsgemäß ist dies nicht selten – als falsch erweisen kann. Ein Verein, dem ein solcher – sit venia verbo – Fehleinkauf unterlaufen ist, wird sich schwer tun, die für diesen Spieler investierte Ablösesumme in seinem „Wert“ als Aktivposten auszudrücken, abgesehen davon, dass auch ein hoher und durch die Leistung des Spielers an sich gerechtfertigter Wertansatz mit dem Nahen seines Vertragsendes sinken müsste. Schon diese Umstände erschweren eine Fortführungsprognose, bei der sich in diesen Fällen namentlich die Richtigkeit der Voraussage18 erweist, dass die Bewertung einzelner Vermögensstücke nicht scharf von der Einschätzung der

__________ 14 Haas, SpuRT 1999, 1, 2; im Einzelnen Crezelius in FS Röhricht, 2005, S. 787, 892 ff.; Uhlenbruck, § 19 InsO Rz. 13 und das Schrifttum zu § 64 GmbHG; gegen die Trennung der beiden Stufen aber K. Schmidt in Scholz, vor § 64 GmbHG Rz. 17. 15 Altmeppen in Roth/Altmeppen, vor § 64 GmbHG Rz. 28 unter Hinweis auf Art. 6 III, 7 II des FinanzmarktstabilisierungsG. 16 Kürzlich war der Tagespresse zu entnehmen, dass der Gelsenkirchener Verein FC Schalke 04 mit 127 Mio. Euro verschuldet ist. 17 Zur Bedeutung und Berechnung der „Beleihungsgrenze“ Ganter in Schimansky/ Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, Band II, 2. Aufl. 2001, § 90 Rz. 43 ff. 18 Crezelius in FS Röhricht, 2005, S. 787, 793.

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Überlebensfähigkeit des ganzen getrennt werden kann; denn die Unmöglichkeit einer Fortsetzung des Vereins kann, so erstaunlich es klingen kann, auch zur Folge haben, dass Spieler bereit sind, den Verein zu verlassen und auf vertragliche Ansprüche zu verzichten, wobei u. U. sogar noch eine Ablösesumme erreichbar ist. Fast unmöglich wird eine Fortführungsprognose, wenn die vom Verein in den Wettbewerben eingesetzte Mannschaft Gefahr läuft, die „Klasse“, der sie derzeit zugeteilt ist, nicht zu halten, also „abzusteigen“, was die Finanzierung katastrophal beeinträchtigt, weil das Zuschaueraufkommen bei den Spielen sowie Sponsorenleistungen und vor allem die für alle unentbehrlichen „Fernsehgelder“ stark zurückgehen oder ganz ausfallen19. Aktuell bestehende Verbindlichkeiten abzudecken und den durch die gewöhnlich sehr namhaften Gehälter von Spielern und Trainern teuren Spielbetrieb aufrechterhalten zu können, kommt in einer solchen Krisensituation oft einem Glücksspiel gleich, um nicht drastischere Vergleiche zu ziehen. Dass bisher so selten Vereine dieser Art ins Insolvenzverfahren gegangen sind, verwundert und lässt sich wahrscheinlich nur durch eine oftmals auch kommunalpolitisch begründete Hilfsbereitschaft institutioneller Kreditgeber und fördernder stark opferbereiter Freunde (unter ihnen auch der Organpersonen) erklären. Die Insolvenzreife wird dann offenbar, wenn erhebliche Fehlbewertungen im Aktivvermögen deutlich werden oder nicht mehr zu verbergen sind20. Dem Vernehmen nach sind, was die Zahlungsfähigkeit anbelangt, nicht selten die Spieler, die ja nicht ohne weiteres einen vergleichbaren Arbeitsplatz erhoffen können, bereit, auf erhebliche Teile ihrer Bezüge für eine gewisse Zeit, meist bis zum Saisonende, zu verzichten, was aber die Überschuldung des arbeitgebenden Vereins verschärft und natürlich bei der Fortbestehensprognose zu berücksichtigen ist. Man muss sagen, das unter diesen Umständen die Feststellung, dass Insolvenzreife nicht bestehe, häufig sehr gewagt sein wird. Auf der anderen Seite stehen die Vereinsvorstände bei dieser Entscheidung unter erheblichem Druck, nicht nur (oder wahrscheinlich am wenigsten) von Seiten der Mitglieder, sondern vor allem der örtlichen Öffentlichkeit. Dies kann den Vorstand eines Idealvereins, auch eines solchen, der erhebliche wirtschaftliche Aktivitäten entfaltet, an rationalen und sein eigenes Haftungsrisiko21 genügend berücksichtigenden Entscheidungen hindern. Bei einer den eigentlichen Sportbetrieb führenden Kapitalgesellschaft gilt dies für die Geschäftsführer oder Vorstände, freilich

__________ 19 Klar ersichtlich ist diese Notlage aus den kürzlich (FAZ v. 15.10.2009, S. 33) bekanntgewordenen „roten Zahlen“ des Vereins 1. FC Nürnberg nach seinem Abstieg aus der ersten Bundesliga. 20 So hatte in dem vom OLG Karlsruhe (Fn. 1) entschiedenen Fall der aufgrund eines Eigenantrags ins Insolvenzverfahren eingetretene Tennisclub ein 50jähriges Erbbaurecht in seinen Jahresabschlüssen mit 2,875 Mio. Euro angesetzt und auf diese Weise jeweils einen erheblichen „Jahresüberschuss“ ausgewiesen, das Erbbaurecht wurde ausweislich der Entscheidungsgründe in der Zwangsversteigerung für 550 000 Euro zugeschlagen. 21 Dazu ausführlich Haas, SpuRT 1999, 1 ff.

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mit der Modifikation, dass vermutlich von dem Mehrheitsgesellschafter, eben dem Idealverein, ein ähnlicher Druck ausgeübt werden wird. b) Die dogmatische Grundlage der Haftung gegenüber den Gläubigern des Vereins, wie sie § 42 Abs. 2 BGB anordnet, ist streitig, ohne dass sich dies nach verbreiteter Ansicht praktisch stark auswirkt: Entweder ist die vereinsrechtliche Norm selbständige Anspruchsgrundlage22, oder es bedarf einer Heranziehung des § 823 Abs. 2 BGB23; in jedem Fall ist Verschulden bezüglich des Erkennens der Insolvenzreife erforderlich. Das kann im Einzelfall auf die Wertung eines Rechtsirrtums hinauslaufen, der für einen ehrenamtlich tätigen Vorstand eines in kleinem Rahmen am Wirtschaftsverkehr teilnehmenden Vereins vielleicht einmal entschuldbar sein kann; aber bei den großen Sportvereinen wird i. d. R. kein Anlass zu einer Haftungsminderung und bei der Frage nach der Insolvenzreife auch nicht zu einer Delegation dieses Risikos auf einen Finanzchef oder außenstehenden Berater bestehen24. Einen Unterschied in der Anwendung der Anspruchsgrundlagen könnte es freilich u. U. bei der Verantwortlichkeit solcher Personen geben, die zwar nicht Vorstände sind, aber – etwa als Mitglieder oder Organe eines die betriebsführende Kapitalgesellschaft „beherrschenden“ Idealvereins – Einfluss ausüben; darauf ist zurückzukommen. Die Haftung verpflichtet zum Ersatz des Schadens, den die Gläubiger durch die Insolvenzverschleppung erlitten haben. Im GmbH-Recht hat es hier bekanntlich den Unterschied zwischen den Alt- und den Neugläubigern gegeben, deren Ansprüche vor der Neufassung des § 64 GmbHG so ausgestaltet waren, dass Altgläubiger im Zuge einer Gesamtschadensliquidation nach § 92 InsO Ansprüche nur in Höhe des Verlusts haben, der zwischen dem Zeitpunkt der tatsächlichen Insolvenzreife und dem der Verfahrenseröffnung eingetreten ist25. Demgegenüber sollen Neugläubiger, also solche, deren Forderungen nach dem Zeitpunkt der Insolvenzreife begründet wurden, so gestellt werden, als sei es zu dem Geschäft mit dem Schuldner nicht gekommen26. Zu § 42 BGB geht man bisher von der Übertragbarkeit dieser Lösung auf den Verein aus27, es wird aber zu prüfen sein, ob die Streitfrage nicht in der Entscheidung über die analoge Anwendung des durch das MoMiG tiefgreifend reformierten § 64 GmbHG aufgeht. Dazu sollte aber, ohne dass hier eine Würdigung des Konzepts der Geschäftsführerhaftung wegen Masseschmälerung stattfinden muss,

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22 Weick in Staudinger, § 42 BGB Rz. 10; Schwarz/Schöpflin in Bamberger/Roth, § 42 BGB Rz. 13; Eckardt in AnwK, § 42 BGB Rz. 46; H. P. Westermann in Erman, § 42 BGB Rz. 5. 23 Haas, SpuRT 1999, 1, 4; Wischemeyer, DZWiR 2005, 230, 232. 24 So auch Haas, SpuRt 1999, 1, 3 unter Ablehnung eines generellen Haftungsprivilegs ehrenamtlicher Vorstände. 25 Sogenannter Quotenschaden, für die GmbH früher BGHZ 29, 100, 102 f.; BGH, ZIP 1993, 763, 766; BGHZ 138, 211 = NJW 1998, 2667. 26 Für die GmbH BGH, NJW 1993, 2931 f.; BGH, NJW-RR 1995, 289 f. 27 OLG Köln, NJW-RR 1998, 686; Haas, SpuRT 1999, 1, 4 f.; Reichert/van Look (Fn. 9), Rz. 1943; Schwarz/Schöpflin in Bamberger/Roth, § 42 BGB Rz. 10; für Beschränkung auch der Neugläubiger auf den Quotenschaden aber Reuter in MünchKomm.BGB, § 42 BGB Rz. 14.

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Insolvenzrechtliche Haftung der Vorstände von Idealvereinen

ein kurzer Überblick über das neue GmbH-Recht gegeben werden, dessen Anwendung auf den e.V. die genannten Gerichtsurteile abgelehnt haben. 2. Die Neuregelung im GmbH-Recht a) Die Unterscheidung von Alt- und Neugläubigern mit der Befugnis des Insolvenzverwalters zur Gesamtschadensliquidation hatte trotz der verhältnismäßig klaren Linie der Judikatur eine schlechte Presse. Da der Vollzug dieses Unterschieds für die Insolvenzverwalter praktisch unzumutbar sei, seien – so heißt es – die Ansprüche aus § 92 Abs. 2 InsO „totes Recht“28. An ihre Stelle seien die Ansprüche aus der Verletzung des in § 64 Abs. 2 GmbHG (damals schon) enthaltenen Zahlungsverbots mit Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung getreten, durch die sich die Insolvenzverwalter „auf das Prächtigste schadlos“ gehalten hätten. Die Ergebnisse (so heißt es weiter) seien „unverhältnismäßige, weil jedes Verhältnis zum Verschleppungsschaden entbehrende Haftungsurteile“. Die Insolvenzverschleppungshaftung auf der Grundlage des neuen § 15a InsO (vielleicht nach wie vor i. V. mit § 823 Abs. 2 BGB), also mit der Zubilligung des Quotenschadens an die Altgläubiger und des Vertrauensschadens an die Neugläubiger, ist damit aber keineswegs erledigt29, ihr würde auch im Vereinsrecht, das bisher die Masseschmälerungshaftung nicht übernommen hat, weiter Bedeutung zukommen. Die Neuregelung in § 64 GmbHG n. F. differenziert zwischen „Zahlungen, die nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft oder nach Feststellung ihrer Überschuldung geleistet werden“, und Zahlungen an Gesellschafter, „soweit diese zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führen mussten“ (Satz 3) – eine Bestimmung, der vorhergesagt wird, sie habe keinen sinnvollen Anwendungsbereich30. Es liegt auf der Hand, dass namentlich ihr Verhältnis zur sogenannten Existenzvernichtungshaftung zu beachten sein wird31. Dieser Fragenkreis dürfte allerdings aus tatsächlichen Gründen für den Idealverein keine allzu große Bedeutung entfalten, da (und solange) die Vorstände, die sonstigen Organwalter und die Mitglieder eher selten in persönliche vermögensmäßige Interessenkonflikte mit den Aktivitäten des Vereins geraten, abgesehen davon, dass die Aktiva, die etwa die Vereine des professionellen Leistungssports haben, nicht gut ins Privatvermögen einer Organperson oder

__________ 28 K. Schmidt in Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (Hrsg.), Die GmbH-Reform in der Diskussion, 2006, S. 143, 153 unter Bezugnahme auf K. Schmidt in Scholz, § 64 GmbHG Rz. 40, 43; ders., ZHR 168 (2004), 637 ff.; ders., ZIP 2005, 2177 ff. Gegen die Praktikabilität der Regelung auch Passarge, ZInsO 2005, 176, 178; Wischemeyer, DZWIR 2005, 230, 231; Altmeppen in Roth/Altmeppen, vor § 64 GmbHG Rz. 126, § 64 GmbHG Rz. 26. 29 Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 64 GmbHG Rz. 15 ff., 72 ff.; der Rechtsprechung zustimmend etwa Lutter, DB 1994, 129, 135; Medicus, DStR 1995, 505, 512. 30 Altmeppen in Roth/Altmeppen, § 64 GmbHG Rz. 1; näher schon Altmeppen/ Wilhelm, NJW 1999, 673 ff. 31 Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 64 GmbHG Rz. 20 ff.; Seibert, Einführung zum MoMiG, in Seibert (Hrsg.), RWS-Dokumentation 23, 2009, S. 1, 87.

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eines Mitglieds überführt werden können. Wohl muss man sich auch für den Verein die (einstweilen noch hypothetische) Frage stellen, ob die Verantwortlichkeit für geleistete „Zahlungen“ die durch das reine Versäumen des Insolvenzantrags verursachten Gläubigerschäden abdecken kann, was insbesondere wegen gewisser terminologischer Schwankungen zweifelhaft sein kann. So fragt man sich etwa, ob es Unterschiede zwischen „Ersatz der Zahlungen“ (§ 64 GmbHG) und „Ersatz des daraus entstehenden Schadens“ (§ 130a HGB) oder einfach nur „Ersatz“ (§ 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG) gibt, und wenn ja, welche Lösung dann für eine Übernahme ins Vereinsrecht in Betracht kommt. Auch was alles unter „Zahlung“ zu verstehen ist, wird im GmbH-Recht kontrovers diskutiert32; es sieht danach aus, dass von „Zahlungen und anderen Masseschmälerungen“ auszugehen sein wird33. Das ganze ist dann auch eine Frage nach der dogmatischen Grundlage der Ansprüche, da es sich kaum anbietet, die Erstattungspflicht nach § 64 Satz 1 GmbHG in die (deliktische oder eigenständig normierte) Insolvenzverschleppungshaftung zu integrieren34. Insgesamt tut man sich nicht ganz leicht, die Neuregelung in § 64 GmbHG nur als Haftungserweiterung oder -verschärfung zu charakterisieren; eine deutliche Erweiterung enthält lediglich die Nennung auch der Zahlungsunfähigkeit als Eröffnungs- und damit Antragsgrund. Man kann aber feststellen, dass sowohl die „Masseschmälerungshaftung“ als auch ihr Verhältnis zur Verschleppungshaftung Anwendungsprobleme aufwerfen, die es zweifelhaft erscheinen lassen, ob für die Verantwortlichkeit von Vereinsvorständen eine derartige Entwicklung der Anspruchsgrundlagen unter Gesichtspunkten der Gleichbehandlung erforderlich35 und angesichts der tatsächlichen Verhältnisse interessengerecht und durchhaltbar ist. b) Zur Klärung der Rechtsnatur der Haftung aus § 64 GmbHG n. F. hat der Gesetzgeber nicht viel beigetragen. Immerhin ist klar, dass der gegen das Zahlungsverbot verstoßende Geschäftsführer den hierdurch der Masse entgangenen Betrag ungekürzt zu erstatten hat36, so dass die Befriedigungsaussichten für die Gläubiger, deren Verschlechterung durch Verzögerung des Antrags die Ursache für die Maßgeblichkeit nur des Quotenschadens für die Altgläubiger bildet, keine Rolle spielen. Das ist etwas anderes als eine Schadensersatzhaftung. Allgemein war von einem Ersatzanspruch „eigener Art“ der Gesellschaft gegen den Geschäftsführer die Rede, der einen Schaden gar nicht voraussetze37.

__________

32 S. etwa Altmeppen in Roth/Altmeppen, § 64 GmbHG Rz. 9 ff.; Kleindiek in Lutter/ Hommelhoff, § 64 GmbHG Rz. 7 ff. 33 Zur „teleologischen Korrektur“ des Begriffs „Zahlungen“ K. Schmidt, ZHR 168 (2004), 637, 640, 660; Altmeppen in Roth/Altmeppen, § 64 GmbHG Rz. 27. 34 Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 64 GmbHG Rz. 4; zu diesem seit langem streitigen Einordnungsproblem Goette, ZInsO 2005, 1 ff.; Haas, NZG 2004, 737; Kleindiek in FS K. Schmidt, 2009, S. 839 ff. 35 Dafür Wischemeyer, DZWIR 2005, 230, 234; ihm folgend Reuter in MünchKomm. BGB, § 42 BGB Rz. 17. 36 BGH, ZIP 2001, 235, 238 = DZWIR 2001, 202, 205 m. Anm. H. P. Westermann. 37 BGH, NJW 1974, 1088 ff.; BGHZ 146, 264, 278; OLG Celle, GmbHR 1995, 54 f.; Röhricht, ZIP 2005, 505, 509; Casper in Ulmer/Habersack/Winter, § 64 GmbHG Rz. 77; Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, § 64 GmbHG Rz. 78.

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Das macht einen Unterschied zu § 130a Abs. 2 HGB aus, der der Gesellschaft einen Schadensersatzanspruch zubilligt; eine einheitliche Systematik der Zahlungsverbote gibt es also nicht einmal unter den neueren Vorschriften. Versucht man, die ratio der Regelung zu ermitteln, so gehen die Sichtweisen nicht allzu weit auseinander (obwohl ihre Vertreter dies anders verstehen mögen): Entweder geht es darum, die Gläubigergesamtheit vor Schmälerungen der Insolvenzmasse nach Eintritt der Insolvenzreife zu schützen38, oder es geht um die Sicherung einer gleichmäßigen Befriedigung der Gläubiger39 – was eben durch die Wiederauffüllung der Insolvenzmasse erreicht werden kann40. Eine Drittschadensliquidation41 kommt dagegen nicht in Betracht, wenn man nur von einer Schmälerung der Insolvenzmasse und nicht von einem Schaden der Gesellschafter ausgeht. Die Deutung als Verlustdeckungspflicht während der Phase der Insolvenzverschleppung versteht sich hauptsächlich aus der Gegenüberstellung zu § 64 Abs. 1 GmbHG a. F., also dem Insolvenzverschleppungsverbot, dem dann die Qualität als Schutzgesetz abgesprochen wird42, das scheint sich aber nicht durchzusetzen, weil § 64 Abs. 2 GmbHG a. F. so wenig wie der jetzige § 64 GmbHG das Verhältnis zu den Gläubigern regeln, sondern dies der Insolvenzverschleppungshaftung überlassen will43. Man kommt also am Ende – mit Blick auf die mögliche Übertragung auf den Idealverein – trotz der Überschneidung in Tatbeständen und Rechtsfolgen nicht um die Eigenständigkeit der beiden Anspruchsgrundlagen herum. Auch mit der Unsicherheit bezüglich der dogmatischen Einordnung wird man einstweilen leben müssen, und deutlich ist auch, dass das positive Gesetzesrecht nicht unbedingt in dem Sinne verstanden werden kann, dass es eine einheitliche rechtsformunabhängige Konzeption der Insolvenzverschleppungs- und Masseschmälerungshaftung bei juristischen Personen habe schaffen wollen. Es kann aber durchaus sein, dass die theoretische Grundlegung dieser Formen der Vorstandsverantwortlichkeit bei einigen Folgefragen wie besonders bei der persönlichen Ausdehnung der Haftung relevant wird.

__________ 38 Schmidt-Leithoff in Rowedder/Schmitt-Leithoff, § 64 GmbHG Rz. 26; K. Schmidt in Scholz, § 64 GmbHG Rz. 10; anders Altmeppen in Roth/Altmeppen, § 64 GmbHG Rz. 32. 39 Schulze-Osterloh in FS Bezzenberger, 2000, S. 415, 419 ff.; auch BGHZ 146, 264, 275, 278; BGH, GmbHR 2007, 596, 598. 40 In diesem Sinne auch Casper in Ulmer/Habersack/Winter, § 64 GmbHG Rz. 77; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 64 GmbHG Rz. 4; Goette, ZInsO 2005, 1, 3; Röhricht, ZIP 2005, 505, 509. 41 K. Schmidt, JZ 1978, 661; dagegen Casper in Ulmer/Habersack/Winter, § 64 GmbHG Rz. 78; Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, § 64 GmbHG Rz. 78. 42 Dazu Altmeppen, ZIP 2001, 2201, 2205; Altmeppen in Roth/Altmeppen, § 64 GmbHG Rz. 122; anders aber die ganz h. M., s. BGHZ 75, 96, 106; 138, 211, 214; 171, 46; Wagner in FS K. Schmidt, 2009, S. 1665, 1671 ff.; K. Schmidt in Scholz, § 64 GmbHG Rz. 37; Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, § 64 GmbHG Rz. 90; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 64 GmbHG Rz. 64. 43 Casper in Ulmer/Habersack/Winter, § 64 GmbHG Rz. 117, der in Rz. 118 zu Recht darauf hinweist, dass die Schutzgesetzeigenschaft der Insolvenzantragspflicht auch in den Vorarbeiten zu § 15a Abs. 1 InsO nicht in Zweifel gezogen wurde.

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c) Das leitet über zu der Kritik an der hier erfolgten Entwicklung der Haftungsverfassung, hauptsächlich der GmbH, aber auf dieser Grundlage dann u. U. auch des e.V. Merkwürdig berührt das Erfordernis einer „Zahlung“ nach Eintritt der Insolvenzreife, die ja auch auf Zahlungsunfähigkeit beruhen kann. Dieses Bedenken lässt sich auflösen, wenn man alle Arten von Leistungen der Gesellschaft, etwa auch reine Dienstleistungen, hierunter fasst44; ähnlich und wohl gesichert ist der Fall des Scheckeinzuges auf einem debitorisch geführten Konto der Gesellschaft45. In dem einen der mit der analogen Anwendung des § 64 GmbHG n. F. auf den Verein befassten Urteile ging es um eine „Zahlung“ des Vereins, die darin bestand, dass ein Scheck, den eine GmbH ausgestellt hatte, die die Vermarktungsrechte für die vom Verein unterhaltene Footballmannschaft innehatte, einer – im Tatbestand nicht näher bezeichneten – KG gegeben und offensichtlich gutgeschrieben worden war46. Dies hätte bei Anwendung des Zahlungsverbots in der heute wohl anerkannten weiten Fassung zur Verurteilung des beklagten Vorstands geführt, während auf der Basis des § 42 Abs. 2 BGB, so wie er geschrieben steht, der Senat die Kausalität der hier wohl vorliegenden Verwendung von Sponsorengeldern für den geltend gemachten Schaden verneinte. Keine leichte Entscheidung wird regelmäßig auch die Berufung eines Beklagten auf § 64 Satz 2 GmbHG erfordern, wenn nämlich geltend gemacht wird, die Zahlung habe trotz des Eintritts von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung der „Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns“ bzw. Vereinsvorstandes entsprochen. Bekanntlich47 geht es hier auch um Sanierungsversuche, die gerade im Bereich der Großvereine häufiger unternommen werden und unter dem Druck der Öffentlichkeit, um nicht zu sagen: der Straße, auch unternommen werden müssen. Schließlich ist schon bei der Diskussion um die Reform des GmbH-Insolvenzrechts die drakonische Haftung wegen Verstoßes gegen das Zahlungsverbot48 mit den sonstigen vielleicht fortschrittlichen, aber auch kaum mehr erfüllbaren weiteren Anforderungen an den Geschäftsführer in Verbindung gebracht worden, die die Geschäftsführung in einer gefährdeten Gesellschaft zu einem Himmelfahrtskommando zu machen drohen49. In der Tat ist nicht mehr von der Hand zu weisen, dass diese Ansprüche gegen die Organe, die eine bewegte Vergangenheit haben, auch bewegte Zeiten vor sich haben.

__________ 44 OLG Düsseldorf, GmbHR 1996, 616; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 64 GmbHG Rz. 7. 45 BGH, GmbHR 2007, 596, 598; OLG Oldenburg, GmbHR 2004, 1315; Schulze-Osterloh in FS Bezzenberger, 2000, S. 415, 423 f.; Casper in Ulmer/Habersack/Winter, § 64 GmbHG Rz. 83. 46 OLG Hamburg v. 5.2.2009, NZG 2009, 1036. 47 K. Schmidt, ZHR 168 (2004), 637, 668; Altmeppen in Roth/Altmeppen, § 64 GmbHG Rz. 20; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 64 GmbHG Rz. 12; hier auch Haas, SpuRT 1999, 1, 3; aus der Praxis der GmbH OLG Düsseldorf, NZG 1999, 1066, 1068. 48 K. Schmidt, Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (Fn. 28), S. 159: „Werft das Scheusal in die Wolfsschlucht“; zur drakonischen Haftung ders., ebenda, S. 160. 49 S. dazu H. P. Westermann in FS Priester, 2007, S. 835, 852 f.: „Den letzten beißen die Hunde“; auch dazu K. Schmidt (Fn. 48), S. 161.

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Das könnte sich auch für die Verbreiterung des Kreises möglicher Anspruchsschuldner einstellen. Nimmt man auch hier wieder die beiden denkbaren Anspruchsgrundlagen in den Blick, so liegt auf der Hand, dass nur ein dazu befugtes Organ die Pflicht haben kann, einen Insolvenzantrag zu stellen, während „Zahlungen“ auch von einer aus anderen Gründen einflussreichen Person ausgehen können. Allerdings wird inzwischen die Verschleppungshaftung auf „faktische“ Geschäftsführer erstreckt50, was für alle aus § 64 GmbHG folgenden Ansprüche angenommen wird51. Dabei muss freilich klar sein, dass den Betreffenden eine Rechtspflicht zu einem bestimmten Tätigwerden im Verantwortungsbereich des Organs trifft. oder dass er einen als „Zahlung“ zu qualifizierenden Vorgang veranlasst hat52. Ein etwas einfacherer Weg zur Einbeziehung eines Nicht-Geschäftsführers in die Haftung wäre eine Anwendung des § 830 BGB, die aber voraussetzen würde, dass die Pflichtverletzung als Delikt zu subsumieren ist53, was jedenfalls für den Verstoß gegen das Zahlungsverbot nicht zutrifft. Gesellschafter können sich wegen § 64 Satz 4 i. V. mit § 43 Abs. 3 Satz 3 GmbHG auch dann nicht haftbar machen, wenn der Geschäftsführer auf ihre Weisung hin den Insolvenzantrag versäumt, für Zahlungen nach Eintreten der Insolvenzreife gilt das soeben Gesagte. Unabhängig davon können Gesellschafter, die in dieser Lage Zuwendungen aus dem Gesellschaftsvermögen erhalten haben, was den Geschäftsführer nach § 64 Satz 3 GmbHG haftbar machen kann, Rückgewähransprüchen aus §§ 30, 31 GmbHG oder einer Insolvenzanfechtung ausgesetzt sein. d) Das Gesamtbild der gläubigerschützenden Instrumente ist im Recht der Handelsgesellschaften eindrucksvoll, es besteht aber auch eine gewisse Gefahr überzogener Verantwortlichkeit, die nicht nur durch den Haftungsinhalt, sondern vor allem durch die für einen nicht Rechtskundigen ex ante z. T. schwer zu beurteilenden wertungsabhängigen Tatbestandsmerkmale begründet wird, so bei der Fortbestehensprognose, der Zahlungsberechtigung eines „ordentlichen Geschäftsmanns“ oder auch der Zuordnung von Vorgängen und Tatbestandsteilen zu einem Nicht-Geschäftsführer. Dies sollte bei der Frage der Übertragbarkeit dieser Anspruchsgrundlagen auf den e.V. berücksichtigt werden. 3. Zur Rechtslage beim eingetragenen Idealverein a) Ob die Verantwortlichkeit für im Stadium der Insolvenzreife geleistete Zahlungen über den Wortlaut des § 42 Abs. 2 BGB hinaus auf den Idealverein – auch den nicht eingetragenen – übertragen werden kann, hängt davon ab, ob das Gesetz hier eine planwidrige Lücke aufweist, die wegen der Gleichheit der Interessenlage durch entsprechende Anwendung des § 64 GmbHG n. F. geschlossen werden kann und muss. Bezüglich der Voraussetzungen der Feststellung einer Lücke und ihrer Planwidrigkeit sind sich alle, die sich in jüngerer

__________ 50 51 52 53

BGHZ 104, 44 = NJW 1988, 1789. BGH, ZIP 2005, 1550; BGH, GmbHR 2008, 702 f. Für § 130a BGB in diesem Sinne BGH, ZIP 2009, 956. BGH, GmbHR 2008, 702 f.; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 64 GmbHG Rz. 6.

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Zeit mit dem Problem befasst haben, einig in einer Bezugnahme auf die vom BGH54 genannten Kriterien: Das Fehlen der positiven Regelung einer Frage oder auch: das Schweigen des Gesetzgebers wird zu einer „Lücke“ nur dann, wenn die Regelung, so wie sie getroffen ist, „planwidrig“ ist, indem angesichts des aus der Entstehungsgeschichte einer Norm zu erschließenden Regelungsziel das Offenlassen der betreffenden Frage ungewollt erscheint. Ist dies der Fall, so ist nach anderen positiven Regeln aus einem möglichst vergleichbaren Bereich zu suchen und nach einer so großen Ähnlichkeit der vom Gesetzgeber an dieser Stelle bewerteten Interessen zu fragen, dass eine analoge Anwendung geboten erscheint. Die beiden hiermit befassten Gerichte verneinten die Planwidrigkeit der Unvollständigkeit, die durch das Fehlen einer Haftung für nach Insolvenzreife geleistete Zahlungen entstanden sein mag55. Beide beziehen sich auf die im Zuge der Insolvenzrechtsreform zum 1.1.1999 vollzogene Änderung des § 42 Abs. 2 BGB, die darin bestand, die Auflösung des insolvent gewordenen Vereins und die Ausweitung der Insolvenzantragspflicht auf den Fall der Zahlungsunfähigkeit zu verfügen, sowie – für unseren Bereich weniger wichtig – der Gesellschafterversammlung zu gestatten, nach Bestätigung eines Insolvenzplans die Fortsetzung des Vereins zu beschließen. Gerade auch mit der Erweiterung der Insolvenzantragspflicht habe nur eine bis dahin bestehende Unsicherheit beseitigt werden sollen – das ist, wie oben unter 1. a) ausgeführt, auch zutreffend. Das OLG erwähnt zur Bekräftigung den in der Tat bezeichnenden Umstand, dass die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Große Anfrage56 geäußert habe, die Ausdehnung der Antragspflicht auf den Fall der Zahlungsunfähigkeit habe sich schon nach bisherigem Recht – aus der organschaftlichen Stellung des Vorstandes – ergeben. Das ist zwar nicht ganz sicher, zeigt aber in der Tat, dass man für § 42 Abs. 2 BGB eine Erhöhung der persönlichen Haftungsrisiken, nach der gefragt worden war, nicht wollte. Das OLG Karlsruhe erklärt dies noch damit, das Fehlen einer Pflicht zum Ersatz von Zahlungen sei neben der tradierten Haftung für die Unterlassung des Insolvenzantrags bis zum Jahre 2005 niemandem aufgefallen57. Der Senat fügte noch hinzu, der BGH habe sich für eine auch dogmatisch eigenständige Insolvenzverschleppungshaftung entschieden, deren Abweichung vom Konzept des § 42 Abs. 2 BGB der Gesetzgeber, wenn seine Entscheidung als planwidrig qualifiziert werden sollte, stillschweigend hätte beipflichten müssen, ohne dabei die so entstandene Lückenhaftigkeit der BGB-Regelung zu erkennen. Daran ist soviel richtig, dass der Gesetzgeber die von ihm beibehaltene Normierung des

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54 BGHZ 167, 178; BGH, NJW 2007, 992; Koza, DZWiR 2008, 98 ff.; Passarge, ZInsO 2005, 176, 177; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 196. 55 Die Argumentation des OLG Hamburg lag dem OLG Karlsruhe bereits vor, das sich auf die einzelnen Gedankenschritte des früheren Urteils bezog und eine zusätzliche Überlegung hinzufügte. 56 BT-Drucks. 14/5445, S. 7; diese Argumentation fand sich schon früher bei Koza, DZWIR 2008, 99. 57 OLG Karlsruhe v. 19.6.2009, NZG 2009, 996 unter Hinweis auf K. Schmidt, ZIP 2005, 2177, der allerdings schon immer die in § 42 Abs. 2 BGB fehlende Anspruchsgrundlage als unangebracht empfunden habe.

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§ 42 Abs. 2 BGB als Sonderregelung gegenüber der neugeschaffenen, allgemein für juristische Personen geltenden Regelung des § 15a InsO angesehen hat58. Wer eine Planwidrigkeit einer Gesetzesregelung feststellen will, muss mit dem Ergebnis rechnen, dass es einen konsequent durchzusetzenden „Plan“ nicht gegeben hat. Hier scheint jedenfalls deutlich, dass der Gesetzgeber nicht alle durch die beschränkte Haftung der Gesellschafter-Mitglieder gekennzeichneten Verbandsformen unter ein einheitliches Konzept des Gläubigerschutzes in insolvenznahen Situationen bringen wollte. Eine darin etwa liegende rechtspolitische Inkonsequenz ist dann vielleicht ein Fehler, aber keine Planwidrigkeit. Vielmehr kann es durchaus so gewesen sein, dass der Gesetzgeber eine Notwendigkeit zur Erweiterung der Verantwortlichkeit des Vorstandes eine Idealvereins nicht gesehen hat. Er schuldet dafür keine Begründung, auch wenn jemand meinen könnte, eine andere Entscheidung sei in den positiv getroffenen Regeln „angelegt“59. Bevor man aber einen Fehler des Gesetzes durch eine unterschiedliche Bewertung der Situation beim eingetragenen Idealverein und bei den Handelsgesellschaften annimmt, der dann, weil eine Lückenfüllung nicht in Betracht kommt, durch Rechtsfortbildung contra legem zu beheben wäre, muss noch überlegt werden, ob vielleicht der „Plan“ des Gesetzgebers, die Vorstände eines e.V, von der Haftung für während der Insolvenz geleistete „Zahlungen“ freizustellen, sich aus der Sache heraus begründen lässt60. b) Zunächst führt das zu der Frage, ob im Vereinsrecht die Haftungsverschärfung, die im neuen § 64 GmbHG für den Geschäftsführer liegt, für das Verhalten von Vereinsvorständen wirklich passend ist. Wenn der Verein einen wirtschaftlichen Nebenzweck verfolgt, müssen die hierbei aufgewendeten Kosten und die daraus entstehenden Verbindlichkeiten aus dem Aufkommen der „Nebengeschäfte“ gedeckt werden, da sonstiges liquides Vermögen meist nicht vorhanden sein wird. Der Vorstand hat dann – wie übrigens auch ein GmbHGeschäftsführer – eine gute Chance, eine durch seine „Zahlungen“ verursachte Masseschmälerung mit der Berufung auf masseerhöhende Gegenleistungen zu entkräften61. Was sich im GmbH-Recht in diesem Zusammenhang an Differenzierungen etwa bezüglich der Zahlungen von einem oder auf ein debitorisches Konto entwickelt hat (Aktiv-Aktivtausch, Passiv-Passivtausch, AktivPassiv-Kürzung)62, wird in aller Regel den bilanztechnischen Kenntnisstand eines ehrenamtlichen Vorstandsmitglieds überfordern. Da im GmbH-Recht bezüglich der Verkennung der Insolvenzreife nach verbreiteter Ansicht leichte

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58 Begründung zum RegE BT-Drucks. 16/6140, abgedr. Beil. Heft 23 ZIP 2002, S. 23. 59 So Passarge, ZInsO 2005, 176; dagegen OLG Karlsruhe v. 19.6.2009, NZG 2009, 996 l. Sp. 60 Dies war der Hintergedanke meiner vom OLG Karlsruhe (v. 19.6.2009, NZG 2009, 996) zitierten Äußerung, eine Analogie zu (dem damaligen) § 64 Abs. 2 GmbHG sei angesichts der zweifelhaften ratio der Norm nicht „angezeigt“. 61 Dazu Casper in Ulmer/Habersack/Winter, § 64 GmbHG Rz. 85; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 64 GmbHG Rz. 8; näher dazu Werres, ZInsO 2008, 1001 ff. 62 Eingehend und eindrucksvoll Casper in Ulmer/Habersack/Winter, § 64 GmbHG Rz. 85–87 in Auseinandersetzung mit BGHZ 143, 184, 186 = NJW 2000, 668; BGH, GmbHR 2007, 596, 598; schon vorher Schulze-Osterloh in FS Bezzenberger, 2000, S. 415, 424.

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Fahrlässigkeit mit Beweislastumkehr zu Lasten des Geschäftsführers als Grundlage genügt63, müsste man sich, wenn § 64 GmbHG n. F. ins Vereinsrecht übertragen wird, oftmals fragen, ob man die Haftungsmaßstäbe modifizieren, die Analogie also auf einen Teil der Norm beschränken müsste. Denn für einen ursprünglich (und vielleicht noch immer) einen nicht-wirtschaftlichen Zweck verfolgenden Vereinsvorstand wird es auch in einer Krise des Nebengeschäfts gewöhnlich am wichtigsten sein, den Betrieb mit dem Ziel einer Sanierung durch frische Mittel oder ein Moratorium einstweilen aufrecht zu erhalten; für die Zahlung von Löhnen und Gehältern, Sozialabgaben und sogar Steuern (deren Bezahlung verbreitet offenbar als sanierungsfördernd angesehen wird) ist dem GmbH-Geschäftsführer die Berufung auf die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns (§ 64 Abs. 2 Satz 2 GmbHG a. F.) zugestanden worden64. Das könnte sich beim Verein dahin weiterentwickeln, dass generell die Verpflichtungen, die mit der Aufrechterhaltung des Nebenzwecks verbunden sind, weiterhin erfüllt werden können. Allerdings wird hier der Gedanke, dem Geschäftsführer die Aufrechterhaltung des Betriebs mit dem Ziel einer Sanierung durch Veräußerung zuzubilligen, ihn dazu vielleicht dazu sogar zu verpflichten65, nicht in Betracht kommen. Durch derartige Einschränkungen würde sich der Anwendungsbereich der Norm auf einzelne, aus dem Alltagsgeschäft herausgehobene Geschäfte beschränken66. Das wäre für die Verhältnisse in einem Idealverein vielleicht eine brauchbare Lösung, die allerdings, wie der Fall des OLG Hamburg nahe legt, den Vereinsvorstand zwänge, möglicherweise die Verpflichtungen gegenüber einem Sponsor zu verletzen, wozu er sich häufig nicht ohne schwere Folgen für die Aufrechterhaltung des Betriebs wird entschließen können. Ob unter solchen Umständen der Gläubigergesamtheit eher mit dem Quotenschaden bzw. dem Vertrauensinteresse nach Maßgabe der derzeitigen Form der Verschleppungshaftung67 gedient ist als mit einem nicht leicht durchsetzbaren Anspruch auf Auffüllung der Masse durch den Ersatz für geleistete „Zahlungen“, ist eine rechtspolitische Entscheidung, die im Wege eines Analogieschlusses aus einer in manchem fragwürdigen Norm kaum getroffen werden kann.

__________ 63 BGHZ 75, 97, 111, OLG Düsseldorf, GmbHR 1993, 159; OLG Celle, GmbHR 2008, 1034; schon vorher OLG Hamm, NJW-RR 1993, 1447; im Ergebnis dazu auch Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 64 GmbHG Rz. 14; Casper in Ulmer/Habersack/ Winter, § 64 GmbHG Rz. 93; abweichend Schulze-Osterloh in FS Bezzenberger, 2000, S. 415, 424. 64 S. etwa BGH, ZIP 2008, 726; OLG Celle, ZIP 2004, 1210. 65 Dazu die Überlegungen bei Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 64 GmbHG Rz. 12. 66 Demgegenüber geht Wischemeyer, DZWiR 2005, 230, 233, davon aus, dass der Vorstand „sämtliche Zahlungen“, die nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit und/oder Überschuldung erfolgt sind, zu erstatten habe. 67 Es wird nicht verkannt, dass die Insolvenzverschleppungshaftung ebenfalls von Kennern, etwa K. Schmidt in Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (Fn. 28), S. 143, 150 ff., für reform- und präzisierungsbedürftig gehalten wird; das gilt besonders für die Berechnung des Quotenschadens, sehr zugespitzt, dazu Altmeppen in Roth/Altmeppen, vor § 64 GmbHG Rz. 127.

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c) Da am Eingang dieses Beitrags auf die Verhältnisse in den Vereinen des professionellen Leistungssports hingewiesen wurde, kann nunmehr noch auf einige denkbare Folgen einer Ausweitung und Verschärfung des § 42 Abs. 2 BGB gerade für solche Vereine eingegangen werden. Zunächst ist daran zu erinnern, dass die Feststellung der Überschuldung, die angesichts des Verhältnisses von Verbindlichkeiten und Aktivvermögen unter den Insolvenzgründen vorn stehen dürfte, auf einem sehr schmalen Grat zwischen Durchhaltevermögen und va-banque-Spiel stattfinden muss. Nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch, den es in der Praxis durchaus gegeben hat und weiterhin geben kann68, und der u. U. mit einem sportlichen „Abstieg“ einhergeht oder durch ihn verursacht ist, werden die Vorstände und ihre „Manager“, die gewöhnlich keine Finanzfachleute sind, versuchen, durch „Verkauf“ einiger noch vertraglich an den Verein gebundener Spieler69 so viel Geld zu erlösen, dass der Spielbetrieb – auf deutlich niedrigerer Basis – vielleicht aufrechterhalten bleiben kann. Das kann jeweils nur am Ende einer „Saison“ geschehen, für einen Zusammenbruch während einer laufenden Spielzeit versuchen die Verbände Vorsorge, etwa in Gestalt von Bürgschaften, zu schaffen. Wie die hier vom Vorstand getätigten und unter Druck der Öffentlichkeit eilig abzuschließenden Transaktionen vor dem Hintergrund des Zahlungsverbots zu beurteilen sind, insbesondere wenn dies ex post geschieht, stellt für die Entscheidungsträger ein hohes Risiko dar. Sie können sich, wenn sie auf die Erstattung von verbotenen Zahlungen und nicht auf Schadensersatz in Anspruch genommen werden, auch nicht darauf berufen, dass typischerweise die Hauptgläubiger, in deren Interesse der Anspruch später vom Insolvenzverwalter geltend gemacht wird, über die schwierige Situation des Vereins gut – manchmal sogar als einzige – informiert waren, was einem Schadensersatz über § 254 BGB entgegengehalten werden könnte70. Auf die Kausalität einer „Zahlung“ für die Insolvenz käme es nicht an. Auch hier würde trotz der viel höheren Ansprüche, die an die Kenntnisse, die Entschlusskraft und das Verantwortungsbewusstsein der Organe derartiger Vereine gestellt werden müssen, am Ende wieder die Frage nach der Interessengerechtigkeit der Maßstäbe auftreten. Dass im Hinblick auf die mögliche Einbeziehung besonders einflussreicher Mitglieder, Sponsoren und gegebenenfalls des eine SportKapitalgesellschaft beherrschenden Idealvereins in den Kreis der Anspruchsschuldner die Hilfsbereitschaft solcher Förderer nachlassen wird, ist zwar insolvenzrechtlich gesehen allenfalls unter dem oben erwähnten Aspekt der Sanierungsfähigkeit von Belang, muss aber bei der Überlegung, welche Verhal-

__________ 68 Passarge, ZInsO 2005, 176 erwähnt in Fn. 1, dass beim Insolvenzgericht Hamburg seit 1999 rund 60 Insolvenzverfahren über das Vermögen von Vereinen eröffnet worden seien. Es wäre interessant zu wissen, wie viele dieser Verfahren durchgeführt worden sind. 69 Einschränkend ist darauf hinzuweisen, dass manche Spieler-Verträge mit dem Abstieg der Mannschaft in eine niedrigere Spielklasse enden oder dem Spieler „den Ausstieg“ ermöglichen. 70 OLG Hamm, OLGR 2001, 265; Sommer/Maser, BB 1996, 65, 70; Haas, SpuRT 1999, 1, 5; H. P. Westermann in Erman, § 42 BGB Rz. 6.

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tensimpulse von einer Haftungsnorm ausgehen sollen71, ebenfalls berücksichtigt werden. d) Insgesamt mag man die Dinge mit dem OLG Hamburg72 so sehen, dass die Interessenlagen der Vertragspartner einer insolvenzreifen GmbH, AG oder e.G. und eines insolvenzreifen Vereins einander in manchem ähneln. Die Unterschiede sind aber erheblich, und das nicht nur dann, wenn der Verein „am Markt nicht unternehmerisch tätig ist“. Obwohl es sich vielleicht nicht um das stärkste Argument handelt, kann man abschließend auch mit dem OLG Hamburg darauf hinweisen, dass infolge des Inkrafttretens der auch den § 42 Abs. 2 BGB erfassenden Reform vor 10 Jahren die Vereinsvorstände einen gewissen Vertrauensschutz dahin verdienen, nicht der sehr scharfen Haftung wegen Verstoßes gegen ein Zahlungsverbot zu unterliegen73; in der Tat mag dies für den Entschluss, sich zum Vorstand eines Idealvereins wählen zu lassen, eine Rolle spielen, während der GmbH-Geschäftsführer sich schon lange mit ständig steigenden Anforderungen vertraut machen muss. Ich sehe daher im Ergebnis auch keine Rechtfertigung für eine Rechtsfortbildung contra legem.

III. Verantwortlichkeit auf der Grundlage des geltenden Vereinsrechts 1. Voraussetzungen einer Vorstandshaftung Der Leser eines Festschriftbeitrags wird hier keinen Kommentar zu einer seit über 10 Jahren bestehenden keineswegs unbekannten BGB-Norm erwarten. Wenn aber die Ansicht vertreten wird, es könne beim positiven geltenden Recht bleiben, ist möglicherweise ein kurzer Blick auf die aus Gläubigersicht bleibenden Probleme von Nutzen. Was zunächst die Voraussetzungen der Insolvenzverschleppungshaftung betrifft, ist mit Blick auf die wohl am meisten verbreitete Art der Ressortverteilung im Vorstand wichtig, dass eine Delegation der hier erörterten Fragen auf einen „Finanzvorstand“ oder auch einfach nur „Kassenwart“ die anderen Vorstandsmitglieder nicht jeder Verantwortung enthebt, sondern ihnen die Pflicht auferlegt, auf Anzeichen einer krisenhaften Entwicklung zu achten und gegebenenfalls die Einschaltung des Gesamtvorstandes zu bewirken74. Ein Einverständnis der Mitgliederversammlung entbindet den Vorstand von seinen diesbezüglichen Pflichten nicht75. In großen wirtschaftlich tätigen Vereinen wird heute vielleicht sogar ein Verfahren zur Krisenfrüherkennung zu erwägen sein, dessen es allerdings in den hier im Mittelpunkt stehenden Vereinen des professionellen Leistungssports schon angesichts der Indizwirkung des für alle leicht erkennbaren sportlichen Erfolgs- oder Misserfolgs nicht bedürfen würde.

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71 Die Gewichtverteilung zwischen Kompensation und Prävention als Ziel des Haftungsrechts kann hier nicht diskutiert werden. 72 OLG Hamburg v. 5.2.2009, NZG 2009, 1037 r. Sp. 73 OLG Hamburg v. 5.2.2009, NZG 2009, 1038 l. Sp. 74 So auch Haas, SpuRT 1999, 1,3; H. P. Westermann in Erman, § 42 BGB Rz. 6. 75 Reichert/van Look, Handbuch des Vereins- und Verbandsrechts, Rz. 1943.

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Insolvenzrechtliche Haftung der Vorstände von Idealvereinen

Dass die Überschuldungsprüfung unter Einschluss der Fortbestehensprognose wie der Beweis des Verschuldens des betreffenden Organs trotz möglicher Beweislastumkehr für die Durchsetzung von Gläubigeransprüchen ein Hindernis bilden kann, wurde schon gesagt. Nicht ohne Probleme – aber auch das wurde schon angedeutet – ist bei Vereinen, die auf der Grundlage des Nebenzweckprivilegs eine gewisse – u. U. auch erhebliche – wirtschaftliche Aktivität entfalten, die Unterscheidung von Altund Neugläubigern76, die mit der noch verhältnismäßig einfachen Prüfung, wann eine Verbindlichkeit begründet worden ist, nicht immer erledigt ist. Gerade die wichtigsten Verbindlichkeiten des Vereins aus Spieler-, Trainerund Mietverträgen beruhen auf Dauerschuldverhältnissen, die wie die ebenfalls hierher gehörenden Kreditverträge und -zusagen mit Eintritt der Insolvenzreife gekündigt werden können, so dass sich fragt, ob die nach diesem Zeitpunkt entstehenden Forderungen Altschulden bleiben oder Neuschulden werden. Wahrscheinlich wird man hier die Rechtsprechung zur GmbH übernehmen können, die auf das Entstehen der jeweils aus dem Dauerschuldverhältnis hervorgehenden Einzelforderung abstellt77, was aber zunächst nur für Zins- und Tilgungsraten gelten müsste. Wird ein Kredit fällig gestellt, passt die Rechtsfolge, dass jetzt nur – wie bei Neu-Verbindlichkeiten – das negative Interesse geschuldet sein sollte, kaum. Aber auch bei der Berechnung des Quotenschadens werden die Banken oder Förderer eines Idealvereins, wie schon gesagt, von ihren Erwartungen einige Abstriche machen müssen. Die Probleme, die sich etwa bei Arbeitnehmern durch eine Reduzierung ihrer Ansprüche auf den Quotenschaden einstellen würden, werden in der Praxis allenfalls selten auftreten, weil die Vorstände sich schon um des Überlebens des Vereins willen bemühen und für berechtigt halten werden, durch Zahlung von Löhnen und Gehältern – soweit die benötigten Mittel vorhanden sind – den endgültigen Zusammenbruch abzuwenden. Ob man bei den Vereinen des professionellen Leistungssport auch den Wertverlust des Aktivvermögens des Vereins nach Eintreten der Insolvenzreife in den Quotenschaden einrechnen soll78, ist bei so unsicheren Wertungskriterien, wie sie hier angewendet werden müssen, eher zu bezweifeln. 2. Forensische Probleme Das berührt sich mit der Frage nach dem Erfordernis der Kausalität der verzögerten Stellung des Insolvenzantrags für einen Rückgang des Aktivvermögens des Schuldners nach Eintritt der Insolvenzreife. Während es bei der

__________ 76 Zur Übertragung dieser im GmbH-Recht entwickelten Unterscheidung auf den Verein s. OLG Köln, NJW-RR 1998, 686; Schwarz/Schöpflin in Bamberger/Roth, § 42 BGB Rz. 10. 77 BGHZ 171, 46, 52 (anders für nach Eintritt der Insolvenzreife entstehende weitere Forderungen); Casper in Ulmer/Habersack/Winter, § 64 GmbHG Rz. 121; anders aber OLG Hamburg, ZIP 2007, 2318 f.; Altmeppen in Roth/Altmeppen, vor § 64 GmbHG Rz. 123. 78 Dafür wohl Haas, SpuRT 1999, 1, 4.

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Haftung für einen Verstoß gegen das Zahlungsverbot auf einen Schaden der Gläubiger nicht ankommt, muss der Wortlaut des § 42 Abs. 2 BGB wie der des § 64 GmbHG a. F. so verstanden werden, dass die verspätete Antragstellung für eine Verminderung des Vermögens und damit der Quote ursächlich gewesen sein muss. Dies wird im Schrifttum kaum diskutiert, vom OLG Hamburg aber selbstverständlich gefordert79. Der Senat hielt es in diesem Zusammenhang für erheblich, ob die durch eine Zahlung seitens des Vorstandes erfüllte Forderung zu diesem Zeitpunkt fällig war; wäre dies nicht der Fall gewesen, wären die betreffenden Gelder auch bei rechtzeitiger Antragstellung nicht zur Masse gelangt. Die Argumentation ist nicht leicht durchschaubar, richtig ist aber, dass es bei der Relevanz einer Vermögensminderung für die Berechnung des Quotenschadens auf einen Vergleich zwischen der Situation bei einem früheren und dem tatsächlichen Zeitpunkt der Stellung des Insolvenzantrags ankommt. Den Befürwortern einer Analogie zur Haftung wegen Verstoßes gegen ein Zahlungsverbot ist zuzugeben, dass dieses Problem in dem dabei geschaffenen Rahmen nicht auftreten würde. Dem kann – unter dem Gesichtspunkt der forensischen Durchsetzung von Haftungsansprüchen – aber entgegengehalten werden, dass die Einbeziehung anderer als der Organpersonen in die Verantwortlichkeit bei einem deliktischen Verständnis der Verschleppungshaftung etwas besser zu begründen sein wird als bei der in ihrer dogmatischen Grundlage noch nicht ganz geklärten Regelung des § 64 GmbHG n. F. 3. Schlussbetrachtung Festschriftbeiträge haben einen bestimmten, nur von sehr prominenten Autoren zu missachtenden Redaktionsschluss. Wer sich daran gehalten hat, muss gewärtigen, seine Überlegungen schon bei ihrer Veröffentlichung überholt zu sehen, was hier durch eine Revisionsentscheidung des BGH kurz vor Drucklegung geschehen ist. Der Jubilar ist aber bekannt dafür, ein Problem nicht schon auf der Grundlage einer höchstrichterlichen Entscheidung „abzuhaken“. Vor diesem Hintergrund ist es das legitime Ziel des Verfassers eines Festschriftbeitrages, mit dem Jubilar und der sonstigen Fachöffentlichkeit im Gespräch zu sein und zu bleiben. Dabei könnte es sein, dass die hier (ein wenig pars pro toto) angesprochenen Probleme der großen Sportvereine am Ende so beurteilt und entschieden werden, dass der im deutschen Verbandsrecht allgemein sehr hoch gehaltene Gesichtspunkt des Gläubigerschutzes80 am Ende zu einem Ausgleich mit der Interessenlage vorwiegend nicht professionell tätiger Vereinsvorstände gebracht wird.

__________ 79 OLG Hamburg v. 5.2.2009, NZG 2009, 1038 l. Sp. 80 Es mag gestattet sein, hier auf die mancherorts als ketzerisch empfundenen Betrachtungen des Verfassers in ZIP 2005, 1849 ff. hinzuweisen.

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Das Leistungsversprechen des Leasinggebers beim Projektleasing Ein Beitrag zu Ratio und Dogmatik des § 278 BGB

Inhaltsübersicht I. Die Pflicht des Leasinggebers zur Gebrauchsüberlassung als Schuldnerverbindlichkeit im Sinn des § 278 BGB

VI. Die Identifizierung der Verbindlichkeit des Schuldners im Sinn des § 278 BGB

II. Die Verbindlichkeiten des Leasinggebers in der Rechtsprechung des BGH zu § 278 BGB 1. Haftung des Leasinggebers für vorvertragliches Handeln des Lieferanten 2. Haftung des Leasinggebers für Handeln des Lieferanten bei Übergabe des Leasingobjekts nach Vertragsschluss 3. Haftung des Leasinggebers für Handeln des Lieferanten während der Laufzeit des Leasingvertrags und nach deren Ende

VII. Haftung des Leasinggebers nach § 278 BGB wegen Verletzung der Gebrauchsüberlassungspflicht durch ein vom Lieferanten verschuldetes Scheitern der Herstellung oder der fristgerechten Fertigstellung des EDV-Projekts? 1. Die Auslegung des Leasingvertrags 2. Das Leistungsversprechen des Leasinggebers beim StandardLeasingvertrag 3. Das Leistungsversprechen des Leasinggebers im Ausgangsfall, einem Finanzierungsleasingvertrag über Projektleasing a) Bedingungen des Projektleasing b) Das Softwareprojekt als Gegenstand eines Leasingvertrags c) Das Leistungsversprechen des Leasinggebers im vom BGH entschiedenen Fall des Projektleasing

III. Aspekte der Rechtsprechung des RG zu § 278 BGB IV. Entstehungsgeschichte des § 278 BGB V. Haftungsgrund und Dogmatik des § 278 BGB

VIII. Zusammenfassung

I. Die Pflicht des Leasinggebers zur Gebrauchsüberlassung als Schuldnerverbindlichkeit im Sinn des § 278 BGB In einer Entscheidung vom 29.10.20081 hat der BGH die Haftungsregelung eines Leasingvertrags über eine vom Lieferanten noch zu erstellende, die Überlassung, Anpassung und Implementierung einer Branchensoftware umfassende „Systemlösung“ für unwirksam erklärt. Die vereinbarte Haftungsregelung hatte der BGH unter Zugrundelegung der im AGB-Recht gebotenen kundenfeind-

__________ 1 VIII ZR 258/07, NJW 2009, 575.

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lichen Auslegung2 so interpretiert, dass der Leasinggeber bei einer verspäteten Fertigstellung oder einem zuvor eingetretenen Scheitern der intendierten EDVLösung, unabhängig vom Grund des Scheiterns, u. a. vom Leasingvertrag sollte zurücktreten und vom Leasingnehmer Erstattung der im Rahmen der Vorfinanzierung an den Lieferanten gezahlten Beträge verlangen können. Nach dieser Auslegung des Vertrags hätte dem Leasinggeber das Rücktrittsrecht selbst dann zugestanden, wenn er das Scheitern selbst zu vertreten gehabt hätte3. Darin sah der BGH zu Recht eine unangemessene Benachteiligung des Leasingnehmers im Sinn der §§ 307 Abs. 1 Satz 1, 310 Abs. 1 BGB4. Die weit gefasste Haftungsfreistellung ersparte dem BGH die Auseinandersetzung mit einer Reihe von Rechtsfragen, welche der vielschichtige Fall aufwarf5. Das Rücktrittsrecht sollte u. a. durch ein Scheitern der Herstellung oder eine nicht fristgerechte Fertigstellung des Leasingobjekts ausgelöst werden. Gegenstand der folgenden Ausführungen ist nur das Recht zum Rücktritt6 aus diesen Gründen, und auch dieses nur insoweit, als der BGH7 in ihm im unternehmerischen Rechtsverkehr eine unangemessene Benachteiligung des Leasingnehmers im Sinn der §§ 307 Abs. 1, 310 Abs. 1 BGB deswegen gesehen hat, weil das Rücktrittsrecht dem Leasinggeber auch in Fällen zustehen sollte, in denen „der im Rahmen der Erfüllung der ihm obliegenden Gebrauchsüberlassungspflicht als sein Erfüllungsgehilfe (§ 278 BGB) tätige Lieferant … die verzögerte Erstellung der Leasingsache zu vertreten hat“8. Die rechtliche Bewertung des BGH9, die Rücktrittsklausel setze sich damit über die Haftungsregelung des § 278 BGB hinweg, soll untersucht werden. Eine Verletzung der leasinggeberischen Gebrauchsüberlassungspflicht sieht der BGH in dieser Entscheidung – jedenfalls ausdrücklich – nur in einem der beiden genannten Rücktrittsgründe: Im Ausbleiben der fristgerechten Fertig-

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2 Vgl. etwa BGH, NJW 2003, 1237, 1238; grundlegend BGH, NJW 1983, 1320 ff.; krit. zur Anwendung dieses Auslegungsgrundsatzes durch die Vorinstanz – OLG Hamm, CR 2008, 8 – Habersack, WM 2008, 809, 813. 3 BGH, NJW 2009, 575, 576 f.; a. A. Habersack, WM 2008, 809, 812 f., der in seiner Kritik am Urteil der Vorinstanz- OLG Hamm, CR 2008, 8 ff. – die auch vom BGH vorgenommene Auslegung des Leasingvertrags – die Rechte hätten dem Leasinggeber selbst bei eigenem Verschulden zugestanden – als so fernliegend ansieht, dass sie einer Bewertung nach dem Maßstab der kundenfeindlichen Auslegung nicht zugrunde gelegt werden könne. 4 BGH, NJW 2009, 575, 576 f.; zustimmend Koch, Lindenmaier – Möhring 2009, 273510, S. 2 f., auch zu weiteren Aspekten des Urteils; Graf von Westphalen, BB 2009, 239 f., der insbesondere auf die Unzulässigkeit einer Abbedingung des Insolvenzrisikos des Lieferanten abhebt; Söbbing, K & R 2009, 170, 171; zum Urteil der Vorinstanz – OLG Hamm, CR 2008, 8 ff. –, welchem der BGH gefolgt ist, zust. Martinek/ Omlor, WuB I J 2 – 1.08; abl. Habersack, WM 2008, 809, 812 f. 5 Vgl. dazu Habersack, WM 2008, 809 ff.; Koch, LMK 2009, 273510. 6 Nicht erörtert wird der vom BGH, NJW 2009, 575, 577, grundsätzlich abgelehnte Anspruch des Leasinggebers auf Erstattung der Kosten der Vorfinanzierung. 7 BGH, NJW 2009, 575, 576. 8 Mit Hinweis auf die umfassende Freizeichnungsklausel, die der entschiedene Fall enthielt, zust. Koch (Fn. 4), S. 3., da der Lieferant „zumindest in einzelnen Leistungsbereichen“ als Erfüllungsgehilfe des LG auftrete. 9 BGH, NJW 2009, 575, 576 f.

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stellung10. Nicht erwähnt wird in diesem Zusammenhang der vorgesehene Rücktrittsgrund, dass die Herstellung der Systemlösung bereits zuvor gescheitert sein sollte. Die Vorinstanz, das OLG Hamm11, sah demgegenüber auch in dieser Rücktrittsvoraussetzung einen Verstoß gegen die Gebrauchsüberlassungspflicht des Leasinggebers. Nach der Auffassung des OLG wird der Lieferant, der durch ein von ihm zu vertretendes Verhalten bewirkt, dass der Leasinggeber seiner Pflicht zur Gebrauchsüberlassung nicht nachkommen kann, damit zwingend als dessen Erfüllungsgehilfe im Sinn des § 278 BGB tätig12. Das bedeutet: Jedes Verhalten des herstellenden Lieferanten, das zur Folge hat, dass der Leasinggeber nicht in der Lage ist, dem Leasingnehmer das Leasingobjekt in abnahmefähigem Zustand13 zur Verfügung zu stellen, wird zur Verletzung einer dem Leasinggeber obliegenden Verbindlichkeit im Sinn des § 278 BGB und ist daher – ein schuldhaftes Handeln des Lieferanten vorausgesetzt14 – dem Leasinggeber zuzurechnen15. Anders gewendet: Bezogen auf die Pflichtenlage wäre der Leasinggeber insoweit zugleich Lieferant, im entschiedenen Fall auch Hersteller. Die Problematik verlangt ebenso die Befassung mit dem Verständnis der leasinggeberischen Pflicht zur Gebrauchsüberlassung wie mit der Auslegung des § 278 BGB. Anhand der Rechtsprechung des BGH zur Anwendung des § 278 BGB und zur Abgrenzung der Pflichtenkreise im Leasingverhältnis, einiger Urteile des RG zu § 278 BGB und der in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassungen zu Haftungsgrund und Dogmatik des § 278 BGB soll zunächst der Praxis und der vom Gesetz gebotenen Auslegung dieser Norm nachgegangen werden. Sodann soll – ausgehend von den vertraglichen Pflichten des Leasinggebers – eine Antwort auf die Frage gesucht werden, ob in dem eingangs skizzierten, vom BGH16 entschiedenen Fall der herstellende Lieferant bezüglich der Herstellung und der fristgerechten Fertigstellung des EDV-Projekts als Erfüllungsgehilfe des Leasinggebers im Sinn des § 278 BGB angesehen werden muss.

__________ 10 Vgl. dazu Koch (Fn. 4), S. 2, der den BGH so versteht, er habe die Frage offen gelassen, ob Fehlleistungen des Lieferanten bei Erstellung des EDV-Projekts über § 278 BGB dem Leasinggeber zuzurechnen seien. 11 OLG Hamm, CR 2008, 8, 11: Der Lieferant, der das Scheitern der Projektlösung zu vertreten habe, sei damit Erfüllungsgehilfe des Leasinggebers, da er dessen „Hauptpflicht zur abnahmefähigen Überlassung der Leasinggegenstände nicht erbringt.“ 12 CR 2008, 8, 11 f. 13 Das OLG Hamm, CR 2008, 8, 12, sieht den Beschaffungsvertrag, der die Lieferung der Systemlösung zum Gegenstand hat, zu Recht als Werkvertrag an. 14 Da der Gehilfe eine Pflicht des Schuldners und keine eigene wahrnimmt, kann er – bezogen auf diese Pflicht – weder pflichtwidrig noch schuldhaft handeln. Es muss daher darauf abgestellt werden, ob der Schuldner haften würde, wenn er die Handlung seines Gehilfen selbst vorgenommen hätte; so E. Schmidt, Zur Dogmatik des § 278 BGB, AcP 170 (1970), 502 ff., 511; vgl. auch Westermann, JuS 1961, 382, 384. 15 So offenbar Koch (Fn. 4), S. 3 f.; ebenso Graf von Westphalen, BB 2009, 239, 240, der das mit dem mietrechtlichen Charakter des Leasingvertrags begründet. 16 NJW 2009, 575.

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II. Die Verbindlichkeiten des Leasinggebers in der Rechtsprechung des BGH zu § 278 BGB Die Qualifizierung des Lieferanten als Erfüllungsgehilfe des Leasinggebers im Sinn des § 278 BGB ist einer der Grundpfeiler der Leasingrechtsprechung des BGH17. Die Kasuistik der entschiedenen Fälle erstreckt sich über den Zeitstrahl des Leasingvertrags, von der Auswahl des Objekts bis zur Abwicklung des Vertrags nach Ende der vereinbarten Laufzeit. Die Entscheidungen und die ihnen zugrunde gelegte, weitgehend übereinstimmende Argumentation des BGH haben weit überwiegend Zustimmung gefunden18. Für den Finanzierungsleasingvertrag hat der BGH erstmals im Urteil vom 3.7.198519 – ausgehend von der Stellung des Verkäufers gegenüber der Bank beim finanzierten Abzahlungskauf – den Lieferanten als Erfüllungsgehilfen des Leasinggebers im Sinn des § 278 BGB behandelt. Mit der Übertragung der vorbereitenden Klärung der Vertragsbedingungen – der Leasinggeber hatte dem Lieferanten zur Vorbereitung des Antrags des Leasingnehmers die Vertragsvordrucke zur Verfügung gestellt – habe sich der Leasinggeber „eigenes Handeln erspart“20. Denn ohne die Einschaltung des Lieferanten wäre es seine Pflicht gewesen, die bei der Vertragsanbahnung anfallenden Aufklärungs- und Hinweispflichten selbst zu erfüllen21. Sie gehörten daher zum „Pflichtenkreis“ des Leasinggebers22. 1. Haftung des Leasinggebers für vorvertragliches Handeln des Lieferanten In einem Fall, der Beratungsfehler bei der Auswahl des späteren Leasingobjekts zum Gegenstand hatte – vergleichbar der Ausgangsentscheidung23 war Leasingobjekt eine aus Hard- und Software bestehende „Problemlösung“ –, hat der BGH24 den Leasinggeber nicht nach § 278 BGB haften lassen. Der Fall zeigt jedoch eine auf den Einzelfall bezogene Abgrenzung der Pflichten von Lieferant und Leasinggeber. In dem Beratungsfehler sah der BGH25 die Verletzung vorvertraglicher Nebenpflichten des Lieferanten und Herstellers aus einem zunächst vom Leasingnehmer mit dem Lieferanten abgeschlossenen Beschaffungsvertrag. Er gab dem Leasingnehmer daher einen Schadenersatzanspruch gegen den Lieferanten26. Zwar war im Beschaffungsvertrag bereits vorgesehen,

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17 Grundl. BGHZ 95, 170, 175 ff., 178 f.; Überblick über die Rechtsprechung zu § 278 BGB im Leasingverhältnis bei Wolf/Eckert/Ball, Handbuch des gewerblichen Miet-, Pacht- und Leasingrechts, 10. Aufl. 2009, Rz. 1768 ff., 1781 ff., 1791. 18 Zur grundsätzlich zustimmenden Würdigung dieser Rechtsprechung vgl.: Koch in MünchKomm.BGB, Bd. 3, 5. Aufl. 2008, Leasing Rz. 47 ff.; Graf von Westphalen in Graf von Westphalen (Hrsg.), Der Leasingvertrag, 6. Aufl. 2008, Kap. C Rz. 98 ff., 115 ff., 142 ff., Kap. E Rz. 2 ff. 19 BGHZ 95, 170, 177 ff. 20 BGHZ 95, 170, 181. 21 BGHZ 95, 170, 179. 22 Etwa BGH, NJW-RR 1988, 241, 242 m. w. N. 23 BGH, NJW 2009, 575. 24 BGH, ZIP 1984, 962. 25 BGH, ZIP 1984, 962, 964 f. 26 BGH, ZIP 1984, 962, 964.

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dass der Kaufpreis „auf Mietbasis“ gezahlt werden sollte, der Leasingvertrag kam aber erst später zustande. Der BGH ging also nicht davon aus, dass der Lieferant mit der fehlerhaften Beratung eine Vertragspflicht des Leasinggebers verletzt hatte und sah den Lieferanten daher nicht als dessen Erfüllungsgehilfen an. Standardfälle des vorvertraglichen Handelns eines Lieferanten, das der BGH über § 278 BGB dem Leasinggeber zurechnet, betreffen unzutreffende Angaben über den Inhalt des Vertrags, etwa zum Bestehen eines Rechts auf Erwerb des Leasingobjekts27. Es handelt sich dabei um Informationen über den Vertragsinhalt und damit um die Erfüllung einer Pflicht, die der Leasinggeber bei eigenem Handeln selbst hätte wahrnehmen müssen28. Mit der unzutreffenden Information über die Vertragsbedingungen verletzt der Lieferant daher eine dem Leasinggeber obliegende Aufklärungspflicht. Daraus folgt zugleich, dass Zusagen, die der Lieferant nicht bezogen auf den Inhalt des Leasingvertrags, sondern – für den Leasingnehmer erkennbar – im eigenen Namen abgibt, dem Leasinggeber nicht nach § 278 BGB zugerechnet werden können. Einem Leasingnehmer, dem der Lieferant – ohne Kenntnis des Leasinggebers – das Recht eingeräumt hatte, nach Vertragsende das Leasingfahrzeug von ihm selbst zu kaufen, hat der BGH29 daher die Inanspruchnahme des Leasinggebers aus dieser Zusage verwehrt. Erfüllungsgehilfe des Leasinggebers bei der Erfüllung von Auskunfts- und Sorgfaltspflichten ist der Lieferant „regelmäßig“ nur während der Phase des Zustandekommens des Vertrags30. Mit Abschluss des Vertrags hat sich der vom Leasinggeber erteilte Verhandlungsauftrag erledigt31. Hat der Leasinggeber den Antrag des Leasingnehmers auf Abschluss des Leasingvertrags angenommen, ist allein er Ansprechpartner für Fragen des Leasingnehmers zum Inhalt des Vertrags oder zu einer vom Vertrag abweichenden Vereinbarung. Die Hinzuziehung des Lieferanten bei der Erledigung leasinggeberischer Pflichten und damit dessen Rechtsstellung als Erfüllungsgehilfe des Leasinggebers endet daher generell mit dem Abschluss des Leasingvertrages32. 2. Haftung des Leasinggebers für Handeln des Lieferanten bei Übergabe des Leasingobjekts nach Vertragsschluss Es entspricht der Argumentation des BGH33 zum Normgehalt des § 278 BGB – wer eigene Vertragspflichten von Dritten wahrnehmen lässt, haftet für deren schuldhafte Verletzung dieser Pflichten –, dass er die Rechtsstellung des Lieferanten als Erfüllungsgehilfe dann nicht mit dem Abschluss des Leasingvertrags enden lässt, wenn der Leasinggeber über diesen Zeitpunkt hinaus vom Lieferanten Pflichten wahrnehmen lässt, die solche des Leasinggebers sind.

__________ 27 28 29 30 31 32 33

Etwa in den Entscheidungen BGHZ 95, 170 und BGH, NJW-RR 1988, 241. BGHZ 95, 170, 179, im Anschluss an die ständige Rechtsprechung des RG. BGH, NJW-RR 2005, 1421, 1422. BGH, NJW-RR 1989, 1140, 1142. BGH, NJW-RR 1989, 1140, 1142. BGH, NJW 1988, 198, 199; BGH, NJW-RR 1989, 1140, 1142. Grundl. BGHZ 95, 170, 177 ff.

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Das gilt zunächst immer dann, wenn der Leasingnehmer das Leasingobjekt erst nach Abschluss des Leasingvertrags erhält34, und es Sache des Lieferanten ist, das Leasingobjekt zu übergeben. Die Vertragspflicht, dem Leasingnehmer den Besitz am Leasingobjekt zu verschaffen, hat der Leasinggeber erst mit der Übergabe an den Leasingnehmer erfüllt35. Der Lieferant, der das Leasingobjekt übergibt, nimmt damit – außer der eigenen Lieferverpflichtung aus dem Beschaffungsvertrag36 – eine Pflicht des Leasinggebers wahr. Unterlässt er die Übergabe oder liefert er dem Leasingnehmer nur einen Teil des Leasingobjekts, verletzt er eine dem Leasinggeber obliegende Pflicht, so dass dieser nach § 278 BGB haftet37. Der BGH38 hatte den Fall zu entscheiden, dass der Lieferant zwar nicht geliefert, den Leasingnehmer jedoch veranlasst hatte, gegenüber dem Leasinggeber die erfolgte Übernahme bereits vorab zu bestätigen. Zu der Übergabe, die der Lieferant kurzfristig in Aussicht gestellt hatte, kam es wegen dessen Insolvenz nicht mehr. Wie üblich hatte der Leasinggeber jedoch den Kaufpreis an den Lieferanten bezahlt, nachdem ihm die vom Leasingnehmer unterschriebene Übernahmebestätigung vorgelegt worden war. Aus der Verantwortlichkeit des Leasinggebers für die dem Lieferanten übertragene Übergabe und aus der Kenntnis des Lieferanten von der Unrichtigkeit der Übernahmebestätigung des Leasingnehmers folgerte der BGH jedoch nicht, dass sich der Leasinggeber die Mitwirkung des Lieferanten nach § 278 BGB zurechnen lassen müsse39. Der BGH sah nicht eine Verbindlichkeit des Leasinggebers verletzt, sondern die des Leasingnehmers zur Abgabe einer wahrheitsgemäßen Übernahmebestätigung. Er begründete das zum einen damit, dass der Leasingnehmer die Übernahmebestätigung im eigenen Interesse abgebe, zum anderen damit, dass er dem Leasinggeber gegenüber verpflichtet sei, sie wahrheitsgemäß abzugeben, da sie für den Leasinggeber die Voraussetzung für die Zahlung des Kaufpreises sei40. Nimmt der Leasingnehmer eine Pflicht des Leasinggebers gegenüber dem Lieferanten wahr, wird auch er zum Erfüllungsgehilfen des Leasinggebers, jedoch bezogen auf dessen Pflichten aus dem Beschaffungsvertrag. Der BGH41 hat das für den Leasingnehmer angenommen, der das vom Lieferanten angelieferte Objekt abnimmt. Denn die Entgegennahme oder – je nach Rechtsnatur des Beschaffungsvertrags – die Abnahme des Leasingobjekts ist eine Pflicht des Leasinggebers aus dem Beschaffungsvertrag.

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34 Im Leasing-Massengeschäft wird häufig das Leasingobjekt dem Leasingnehmer bereits ausgehändigt, wenn er den Antrag auf Abschluss des Leasingvertrags – sein Vertragsangebot im Sinn des § 145 BGB – unterzeichnet hat. Der Leasinggeber hat auf eine Voranfrage seine Bereitschaft zum Abschluss des Leasingvertrags erklärt und nimmt das Angebot des Leasingnehmers, an das dieser sich im Regelfall vier Wochen gebunden hält, nachträglich an. 35 BGH, NJW 1988, 198, 199. 36 BGH, NJW 1988, 198, 199. 37 BGH, NJW 1988, 198, 199. 38 BGH, NJW 2005, 365, 366 f. 39 BGH, NJW 2005, 365, 366 f. 40 BGH, NJW 2005, 365, 366 f. 41 BGH, NJW 2005, 365, 366 f.; vgl. dazu Wolf/Eckert/Ball (Fn. 17), Rz. 1824 f.

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3. Haftung des Leasinggebers für Handeln des Lieferanten während der Laufzeit des Leasingvertrags und nach deren Ende Nach der Übergabe des Leasingobjekts, also während der Laufzeit des Leasingvertrags, trifft den Leasinggeber die Pflicht, dem Leasingnehmer das Leasingobjekt zu belassen, insbesondere ihn nicht an der Nutzung zu hindern42. In diesem Stadium des Vertrags ist im Regelfall kein Platz mehr für die Wahrnehmung von Leasinggeberpflichten durch den Lieferanten43. Wendet sich der Leasingnehmer wegen eines Mangels des Leasingobjekts an den Lieferanten, wird dieser im Rahmen seiner eigenen Verpflichtungen aus dem Beschaffungsvertrag mit dem Leasinggeber tätig44. Im Leasingvertrag hat der Leasinggeber – das ist Gegenstand der leasingtypischen Abtretungskonstruktion45 – seine Mängelrechte aus dem Beschaffungsvertrag an den Leasingnehmer abgetreten. Greift der Lieferant dennoch in die Vertragsbeziehung zwischen Leasingnehmer und Leasinggeber ein, indem er etwa – ohne Wissen des Leasinggebers – dem vielleicht unzufriedenen Leasingnehmer eine vorzeitige Beendigung des Leasingvertrags zusagt, nimmt er keine Verbindlichkeit des Leasinggebers wahr, so dass diese Zusage keine Konsequenzen für die Rechtsstellung des Leasinggebers hat46. Im Einzelfall kann dies jedoch anders sein. So etwa, wenn sich während der Laufzeit des Vertrags ein Dritter bereit erklärt, den Leasingvertrag an Stelle des in Schwierigkeiten geratenen Leasingnehmers zu übernehmen, und der Leasinggeber die Verhandlungen mit dem Dritten – anders als in dem vom BGH entschiedenen Fall47 – dem Lieferanten überlässt, der damit die vorvertraglichen Pflichten des Leasinggebers gegenüber dem Dritten wahrnimmt. Ist der Lieferant gar auf dem Leasingvertrag als „Ihr Ansprechpartner“ bezeichnet – so in einem vom OLG Dresden48 entschiedenen Fall – wird dem Leasingnehmer damit mitgeteilt, dass der Lieferant bei der Durchführung des Leasingvertrags an Stelle des Leasinggebers tätig wird. Dieser muss sich – sieht man im Lieferanten unter diesen Umständen nicht wie das OLG Dresden sogar den Vertreter des Leasinggebers im Sinn des § 164 BGB – das Handeln des Lieferanten jedenfalls nach § 278 BGB zurechnen lassen, soweit es Verbindlichkeiten betrifft, die dem Leasinggeber im Zusammenhang mit der Abwicklung und Beendigung des Vertrags obliegen. Selbst in der Endphase und sogar nach Beendigung des Leasingvertrags schaltet der Leasinggeber häufig den Lieferanten ein. Diese Praxis findet weniger Aufmerksamkeit, weil die Rolle des Lieferanten hier weniger konfliktträchtig ist,

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42 BGH, NJW 1988, 198; zu Inhalt und Werthaltigkeit dieser Pflicht vgl. Zahn, DB 1998, 1701, 1704 ff. m. w. N. 43 Vgl. dazu oben II.1. mit Fn. 29–31. 44 BGH, NJW 1988, 198, 199. 45 Etwa BGHZ 114, 57, 61; Wolf/Eckert/Ball (Fn. 17), Rz. 1865 ff.; Überblick bei Graf von Westphalen (Fn. 18), Kap. E Rz. 40 ff., Kap. H Rz. 1 ff.; Koch (Fn. 18), Leasing Rz. 91 ff. 46 Vgl. BGH, NJW-RR 1989, 1140. 47 BGH, NJW-RR 1989, 1140, 1142. 48 OLGR Dresden 2003, 184, 185.

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als wenn es um das Zustandekommen und den Inhalt des Leasingvertrags geht. Sieht der Leasingvertrag etwa vor, dass das Leasingfahrzeug über das Autohaus zurückzugeben ist, welches das Fahrzeug ausgeliefert hatte, so nimmt das Autohaus im Zusammenhang mit der Rücknahme Vertragspflichten, in der Regel Sorgfalts- und Aufklärungspflichten, des Leasinggebers wahr. In einem vom LG Dortmund49 entschiedenen Fall unterließ es der mit der Rücknahme betraute Lieferant, den am Erwerb des Fahrzeugs interessierten Leasingnehmer darauf hinzuweisen, dass ihn die Bereitschaft zum Ankauf nicht von der Verpflichtung zur Rückgabe befreie. Der Leasinggeber, der den Leasingnehmer wegen der verspäteten Rückgabe auf die für diesen Fall vereinbarte Nutzungsentschädigung in Anspruch nahm, musste sich die vom Lieferanten unterlassene Aufklärung nach § 278 BGB entgegen halten lassen. Diese Aufklärung schuldete er nach Auffassung des Gerichts selbst50.

III. Aspekte der Rechtsprechung des RG zu § 278 BGB Mit dieser Rechtsprechung zur Anwendung des § 278 BGB im Leasingverhältnis hat der BGH die generelle Rechtsprechung des RG zu § 278 BGB fortgesetzt. Die Entscheidungen des BGH haben weitgehend Zustimmung gefunden51. Auch das RG sah etwa Handlungen, die den Vertragsschluss vorbereiteten, in ständiger Rechtsprechung als Erfüllungshandlungen im Sinn des § 278 BGB an52, ebenso solche, die ihn vorbereiten sollten, in Fällen, in denen der Vertrag nicht zustande kam53. Bei der Abgrenzung von Handlungen des Gehilfen, die in Ausübung der ihm übertragenen Tätigkeit oder nur bei Gelegenheit derselben begangen worden sind, stellte bereits das RG54 auf den „unmittelbar inneren Zusammenhang“ mit der dem Gehilfen übertragenen Tätigkeit ab. In einer Entscheidung aus dem Jahr 1921 hatte das RG55 den Lieferanten, der an den Schuldner das Chassis für einen von diesem geschuldeten Omnibus liefern sollte, nicht als Erfüllungsgehilfen des Schuldners angesehen, da der Lieferant nur an den Schuldner zu liefern verpflichtet war, nicht an den Gläubiger. Wenig später stellte das RG56 klar, die Feststellung, dass der Lieferant „im allgemeinen“ nur Vertragspflichten gegenüber dem Verkäufer erfülle, könne nicht zur Begründung für die Auffassung genommen werden, der Lieferant sei grundsätzlich nicht Erfüllungsgehilfe des Verkäufers. Es folgte die grundlegende Feststellung57: Es „kann überhaupt nicht allgemein, sondern nur

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49 NJW-RR 1998, 707 f. 50 LG Dortmund, NJW-RR 1998, 707, 708. 51 Überblick bei Graf von Westphalen (Fn. 18), Der Leasingvertrag, Kap. C Rz. 98 ff., 115 ff., 142 ff. 52 RGZ 132, 76, 79 f. m. w. N. 53 RGZ 114, 155, 159 f.; RGZ 120, 126, 130. 54 RGZ 104, 141, 145; vgl. auch RGZ 106, 293; zur Rechtsprechung des BGH vgl. unten VI. 55 RGZ 101, 157, 158 m. w. N.; so hat auch der BGH entschieden: BGHZ 48, 118, 121 m. w. N.; BGH, NJW-RR 1989, 1189, 1190; BGH, NJW 1978, 1157. 56 RGZ 108, 221, 223 f. 57 RGZ 108, 221, 223 f.

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nach der Gestaltung des Einzelfalls entschieden werden,“ ob jemand Erfüllungsgehilfe eines Dritten ist. Der Auffassung des RG entsprechend gingen zahlreiche Entscheidungen des Gerichts differenziert der Frage nach, was genau im jeweiligen Fall Inhalt der schuldnerischen Pflicht war, und ob gerade sie durch das Verhalten des hinzugezogenen Dritten verletzt wurde58. So hat das RG59 im Fall des „ungetreuen Postangestellten“ gefordert, sich bei der Anwendung des § 278 BGB „streng an den in der reichsgerichtlichen Rechtsprechung anerkannten Grundsätzen festzuhalten“60, und die Auffassung zurückgewiesen, der Postangestellte habe – ohne Rücksicht auf die ihm übertragene Tätigkeit – jedenfalls eine dem Postfiskus obliegende Vertragspflicht gegenüber dem Kunden verletzt. Da der Postangestellte nicht mit dem Konto der Geschädigten dienstlich befasst war, konnte es dem Postfiskus nicht nach § 278 BGB zugerechnet werden, dass der Angestellte unter Verletzung der dem Postfiskus obliegenden Vertragspflicht zur Geheimhaltung des Kundenkontos einem Betrüger Informationen über das Kundenkonto zur Verfügung gestellt hatte. In einem anderen Fall – eine „Reinmachefrau“ hatte beim Hantieren mit einem Fenster eine beim selben Arbeitgeber beschäftigte Kollegin verletzt – bejahte das RG61 zwar die Pflicht des Arbeitgebers auch seinen Mitarbeiterinnen gegenüber, seine Räume in gefahrlosem Zustand zu unterhalten. Da das Berufungsgericht aber festgestellt hatte, dass der Arbeitgeber dieser Pflicht nachgekommen war, sie also erfüllt hatte, handelte die Schädigerin nicht in der Erfüllung einer dem Arbeitgeber obliegenden Vertragspflicht. Die Schädigung sei daher nur bei Gelegenheit der übertragenen Arbeit erfolgt. Der Dienstberechtigte war zum Schutz seiner „Arbeitsleute nur soweit verpflichtet, als die Natur der Dienstleistung es gestattete.“ Mit dieser Rechtsprechung übereinstimmend hat in jüngerer Zeit Lorenz62 darauf hingewiesen, dass der für die Zurechnung nach § 278 BGB entscheidende Schritt die Auslegung des jeweiligen Schuldverhältnisses sein müsse, die nach Maßgabe der §§ 133, 157 BGB zu erfolgen habe. Bezogen auf den hier verfolgten Zusammenhang wird damit die Frage aufgeworfen, inwieweit für die Anwendbarkeit des § 278 BGB im Leasingverhältnis das generelle, von der bisherigen Rechtsprechung des BGH geprägte Vorverständnis von der Pflichtenverteilung im leasingtypischen Dreiecksverhältnis63 maßgebend sein muss bzw. welches Gewicht der Konstellation der Interessen und der Vertragsgestaltung im Einzelfall zukommt.

__________ 58 Vgl. etwa RGZ 102, 231, 234 f.; RGZ 104, 141, 145 f.; RGZ 114, 155, 159 f.; RGZ 120, 126, 130, m. w. N. 59 RGZ 104, 141. 60 RGZ 104, 141, 145. 61 RGZ 106, 293, 294. 62 Egon Lorenz in Canaris/Heldrich (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Band 1. Bürgerliches Recht, 2000, S. 329, 345. 63 Ausführlich dazu Graf von Westphalen (Fn. 18), Kap. C Rz. 138 ff., 177 f.; vgl. dazu Zahn in Redeker (Hrsg.), Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 11 ff.

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IV. Entstehungsgeschichte des § 278 BGB Dass sich bereits die Erste Kommission zur Vorbereitung des BGB im Jahr 1882 auf die dem heutigen § 278 BGB entsprechende Regelung einigte64, die eine Haftung für fremdes Verschulden in das Vertragsrecht einführte, ist – aus heutiger Sicht – eher erstaunlich. Die großen deutschsprachigen Kodifikationen der Aufklärung – das preußische ALR von 1794 und das österreichische ABGB von 1811 – kannten dem römischen Recht folgend bei Verbindlichkeiten eine Haftung nur für eigene Schuld65. Im Grundsatz galt das auch für das praktizierte gemeine Recht66. Der Geschäftsherr haftete für einen Gehilfen nur bei eigenem Verschulden, wenn er also einen untauglichen Gehilfen ausgewählt oder den Gehilfen nicht überwacht bzw. nicht instruiert hatte, oder wenn er die Leistung höchstpersönlich hätte erbringen müssen67. Traf den Geschäftsherrn kein Verschulden, hatte der Gläubiger Ansprüche nur gegen den Gehilfen, bei dem häufig nichts zu holen war. Da die wirtschaftliche und technische Entwicklung der Produktion und der Dienstleistungen immer mehr zu größeren Betrieben und zu arbeitsteiligen Abläufen führte, wurde das zunehmend als inakzeptabel empfunden. Dies und eine Reihe von Stimmen in der Literatur, die sich – mit unterschiedlichen Begründungen – der gemeinrechtlichen Tradition entgegenstellten68, führten zu dem erwähnten Vorschlag der Ersten Kommission69, dem sich auch der folgende 17. Juristentag von 1884 anschloss70. In der Literatur wurde auf die Haftung des conductor operis (des Werkunternehmers) für ein Verschulden seiner Gehilfen verwiesen, die selbst in der gemeinrechtlichen Rechtsprechung anerkannt wurde71.

__________ 64 Jakobs/Schubert (Hrsg.), Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen, Recht der Schuldverhältnisse, Teil I, §§ 241–432 BGB, 1978, S. 242 ff. 65 Schermaier in Schmoeckel/Rückert/Zimmermann, Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd. II, Schuldrecht: Allgemeiner Teil, 2007, §§ 276–278 BGB Rz. 53 ff., 57. 66 Bereits im klassischen römischen Recht gab es jedoch neben dem Deliktsrecht auch im Zivilrecht Fälle, in denen – den Bedürfnissen des Rechtsverkehrs folgend – der Geschäftsherr ohne eigenes Verschulden für ein schädigendes Verhalten Dritter einzustehen hatte; vgl. dazu Schermaier (Fn. 65), §§ 276–278 BGB Rz. 23 ff.; Fundel, Die Haftung für Gehilfenverhalten im bürgerlichen Recht, 1999, S. 31 f. 67 Schermaier (Fn. 65), §§ 276–278 BGB Rz. 25, 39; K. Schmidt, Gehilfenhaftung – Leutehaftung – Unternehmenshaftung – Handelsrechtsgeschichte als Aufruf zu modernem und rechtsschöpferischem Umgang mit Zivilrechtsproblemen, in FS Raisch, 1995, S. 189 ff., 194 ff. 68 Vgl. Schermaier (Fn. 65), §§ 276–278 BGB Rz. 71 ff., 82. 69 Jakobs/Schubert (Fn. 64), S. 242 ff., insb. S. 243. 70 Verhandlungen des 17. deutschen Juristentages (1884) I. (Gutachten), S. 46 ff., 337 ff.; II. (Stenographische Berichte), S. 80 ff., 137. 71 Vgl. etwa die Entscheidung des ROHG zum conductor operis, ROHGE 13, 76 ff. = Seuffert, Bd. 30, Nr. 139; Mugdan, Die gesamten Materialien zum BGB, Bd. II, 1899, S. 16, bezeichnet diese Auffassung als „legislativ im höchsten Grade beachtenswerth.“ Sie gehörte bereits im klassischen römischen Recht zu den in Fn. 66 erwähnten Ausnahmen; vgl. den berühmten Fall der bestellten Säule, die Gehilfen des Transportunternehmers bei der Anlieferung beschädigt haben, Schermaier (Fn. 65), §§ 276–278 BGB Rz. 24 m. w. N.; dabei war umstritten, ob Gehilfe und Geschäftsherr

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Vor diesem Hintergrund sollte § 278 BGB bewirken, dass der Gläubiger seine Rechte nicht dadurch verliert, dass der Schuldner bei der Erbringung der geschuldeten Leistung einen Dritten einschaltet, der diese Leistung schuldhaft72 nicht vertragsgemäß bewirkt. In der höchst kontrovers geführten Diskussion73 um die künftige Haftung für Gehilfen, die dem Vorschlag der Ersten Kommission vorausging, hatte etwa Puchta74 die dogmatische Begründung dieser Haftung für das Verschulden von Gehilfen darin gesehen, dass jemand, der Gehilfen zur Erfüllung einer Verbindlichkeit einsetze, damit stillschweigend die Haftung für von diesen verschuldete Ereignisse übernehme, weil er sonst durch diese Ereignisse von der Leistung frei werde. Dem entspricht – unter den Aspekten des Normzwecks und der Rechtsfolgen –, was in den Motiven75 als Auffassung des „heutigen Verkehrs“, des modernen Rechtsbewusstseins und als Gebot der Rechtssicherheit bezeichnet wird: Ein zur Leistung Verpflichteter dürfe sich der Verantwortung – „nach Maßgabe der von ihm in dem betreffenden Schuldverhältnisse zu beobachtenden Diligenz“ – für diejenigen nicht entziehen können, die er bei den ihm dem Gläubiger gegenüber obliegenden Handlungen hinzuzieht76. Habe der Schuldner eine Leistung versprochen, liege in dem Versprechen daher „auch die Übernahme einer Garantie für das ordnungsgemäße Verhalten derjenigen, deren Mitwirkung bei der Leistung sich zu bedienen dem Schuldner … gestattet ist.“ Zusätzlich zu diesen, insbesondere die Rechtssicherheit im Geschäftsverkehr betreffenden Aspekten bezeichnen es die Motive77 als im „heutigen Verkehr“ geltende Auffassung, dass ein Schuldner, der sich der Hilfe Dritter bei der Bewirkung seiner Leistung bediene, im eigenen Interesse handle und damit auf eigene Gefahr. Dieses „Utilitätsargument“78 stammt aus den Digesten79; es bezieht sich daher nicht auf eine Haftung für fremdes Verschulden, wie sie Gegenstand des § 278 BGB ist80. Das Argument kann daher nicht die ganze Ratio des § 278 BGB erfassen81.

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kumulativ oder alternativ schuldhaft handeln mussten; zur letzteren Ansicht K. Schmidt (Fn. 67), FS Raisch, S. 189, 194 f. Der Gehilfe nimmt keine eigene Pflicht wahr, kann also selbst weder pflichtwidrig noch schuldhaft handeln. Es muss daher darauf abgestellt werden, ob der Schuldner haften würde, wenn er die Handlung seines Gehilfen selbst vorgenommen hätte; so E. Schmidt, Zur Dogmatik des § 278 BGB, AcP 170 (1970), 502 ff., 511; zum Merkmal des schuldhaften Handelns des Gehilfen vgl. auch Westermann, JuS 1961, 382, 384. Mugdan (Fn. 71), S. 16; dazu auch Egon Lorenz (Fn. 62), S. 329 ff. Vorlesungen über das heutige römische Recht, herausgegeben von Rudorff, 2. Aufl. 1849, Bd. II., S. 146 f.; vgl. dazu Schermaier (Fn. 65), §§ 276–278 BGB Rz. 74. Mugdan (Fn. 71), S. 16. Mugdan (Fn. 71), S. 16. Mugdan (Fn. 71), S. 16. Seiler, JZ 1967, 525, 527. Dig. 50.17.149; dazu Seiler, JZ 1967, 525, 527. Das Argument wurde daher auch in der Diskussion über die deliktische Gehilfenhaftung verwandt; vgl. Seiler, JZ 1967, 525, 528. Gernhuber, Handbuch des Schuldrechts, Bd. 3., Die Erfüllung und ihre Surrogate, 2. Aufl. 1994, S. 446; Seiler, JZ 1967, 525, 527.

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V. Haftungsgrund und Dogmatik des § 278 BGB Die unter IV. dargestellten Aussagen der Motive zu Haftungsgrund und Dogmatik des § 278 BGB82 lassen sich so zusammenfassen: Aus dem Wesen des Leistungsversprechens folge die Garantie des Schuldners, für das korrekte Verhalten eines Gehilfen einzustehen83, den er zur Erfüllung seiner Leistungsverbindlichkeit einsetze, und die Legitimation dieser Haftung liege in dem Schutz des Gläubigers vor dem Verlust seiner Rechte auf diese Leistung. Das ist auch der gemeinsame Kern der zahlreichen Auffassungen zum Haftungsgrund des § 278 BGB84, auch der im neueren Schrifttum vorherrschenden85. Ob man die an das Leistungsversprechen anknüpfende Haftung für dessen verbindlichkeitsgerechte Erfüllung als Garantie86 im Sinn der Motive87 oder als stillschweigende Übernahme fremder Schuld88 ansieht, für die Auslegung des § 278 BGB in der hier untersuchten Frage macht das keinen Unterschied89. Das gleiche gilt für die Auffassung, dass jede Verbindlichkeit die in den Verschuldenstatbeständen vorgesehene Haftung für schuldhafte Verletzung einschließe, die der Schuldner nicht durch Hinzuziehung eines Gehilfen sprengen könne90. Die Verbindlichkeit, die im Einzelfall die Haftung nach sich ziehen soll, muss eben die sein, die der Gehilfe schuldhaft verletzt hat. Nichts anderes gilt für Auffassungen, die besonders auf die „Einschaltung“ eines Dritten in die Leistungserbringung abstellen91 oder einen weiteren Zurechnungsgrund mit der „Beherrschung der Gefahren- und Beweislage“ beto-

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82 Mugdan (Fn. 71), S. 16. 83 Nur darauf bezieht sich die „Garantie“, von der die Motive – Mugdan (Fn. 71), S. 16 – sprechen; vgl. Esser/Schmidt, Schuldrecht Bd. 1, Allgemeiner Teil, Teilband. 2, 8. Aufl. 2000, S. 95. Es geht also nicht um eine Garantiehaftung im Sinn des § 276 Abs. 1 BGB – dazu Heinrichs in Palandt, BGB, 68. Aufl. 2009, § 276 BGB Rz. 30 – also nicht um eine Haftung ohne Verschulden, was hier auch für den Gehilfen gelten müsste. 84 Überblick bei Gernhuber (Fn. 81), S. 444 ff.; Egon Lorenz (Fn. 62), S. 329, 330 ff.; Lüderitz, NJW 1975, 1, 4. 85 Grundmann in MünchKomm.BGB, Bd. 2, 5. Aufl. 2007, § 278 BGB Rz. 3; Heinrichs in Palandt, BGB, 68. Aufl., 2009, § 278 BGB Rz. 1; etwa Schmidt-Kessel in Prütting/ Wegen/Weinreich, BGB, 4. Aufl. 2009, § 278 BGB Rz. 1; Medicus/Lorenz, Schuldrecht I., Allgemeiner Teil, 18. Aufl. 2008, Rz. 378; Gernhuber (Fn. 81), S. 446 f.; von Caemmerer in FS Hauß, 1978, S. 31, 39 f.; vgl. auch Egon Lorenz (Fn. 62), S. 329, 330 ff., 336 ff. 86 Grundmann (Fn. 85), § 278 BGB Rz. 3; Löwisch in Staudinger, BGB, 14. Aufl. 2004, § 278 BGB Rz. 1; Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd.1: Allgemeiner Teil, 14. Aufl. 1987, § 20 VIII; Medicus, Bürgerliches Recht, 21. Aufl. 2009, Rz. 803 f.; Schlechtriem, Schuldrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2003, Rz. 335; Schmidt-Kessel in Schlechtriem/Schmidt-Kessel, Schuldrecht Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2005, Rz. 605; von Caemmerer in FS 100 Jahre DJT, 1960, Bd. II, S. 49 ff., S. 118 (Fn. 300); ders. in FS Hauß, S. 31, 36. 87 Mugdan (Fn. 71), S. 16; dazu oben IV. 88 So etwa Puchta (Fn. 74), S. 146 f. 89 Egon Lorenz (Fn. 62), S. 329, 339. 90 Egon Lorenz (Fn. 62), S. 329, 333 ff.; Schmidt-Kessel (Fn. 85), § 278 BGB Rz. 1. 91 So z. B. BGHZ 62, 119, 124 f.; Harry Westermann, JUS 1961, 333, 334 f.; kritisch dazu Egon Lorenz (Fn. 62), S. 329, 331 f.

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nen92 oder die mit dem Begriff der „Zurechnungseinheit“ die Zuordnung von Fehlverhalten des Gehilfen und spezieller Schuldnerverbindlichkeit erfassen93. Das gilt auch für das in den Motiven erwähnte „Utilitätsargument“94: Wer sich der Hilfe Dritter bei einer geschuldeten Leistungshandlung bediene, handle im eigenen Interesse und damit auf eigene Gefahr. Auch hier wird vorausgesetzt, dass das schädigende Verhalten des Gehilfen eine schuldnerische Leistungsverpflichtung betrifft95. In der hier im Vordergrund stehenden Frage führen diese Auffassungen zum selben Ergebnis96: Im Einzelfall muss festgestellt werden, ob das beanstandete Handeln oder Unterlassen97 des hinzugezogenen Dritten ein vom Schuldner abgegebenes Leistungsversprechen betrifft.

VI. Die Identifizierung der Verbindlichkeit des Schuldners im Sinn des § 278 BGB Wie die Ausführungen zu IV. und V. ergeben haben, setzt eine Haftung nach § 278 BGB voraus, dass das Schaden stiftende Gehilfenverhalten ein Verhalten war, das – in verbindlichkeitsgerechter Ausführung – vom Geschäftsherrn geschuldet war98. Das folgt zwingend aus dem primären Haftungsgrund des § 278 BGB: Der Schuldner soll sich nicht dadurch einer Verbindlichkeit entziehen können, dass er geschuldetes Handeln von einem Gehilfen ausführen lässt. Nach § 278 BGB zugerechnet werden kann danach nur das Verhalten eines Gehilfen, das bei verbindlichkeitsgerechter Ausführung die geschuldete Leistungshandlung des Geschäftsherrn darstellen würde. Nur unter dieser Voraussetzung bewirkt die im Leistungsversprechen des Schuldners liegende „Garantie“99 oder wie auch immer verstandene Haftungszusage100, dass der Schuldner nach § 278 BGB für den Schaden haftet, der dem Gläubiger durch das schuldhafte Fehlverhalten des Gehilfen entstanden ist. Dieses Verständnis des § 278 BGB liegt grundsätzlich auch der dargestellten Rechtsprechung des RG101 und des BGH102 zu Grunde. Der Identifizierung genau der Verbindlichkeit, welche dem Fehlverhalten des Gehilfen zugeordnet werden kann, kommt danach für die Anwendung des § 278 BGB entscheidende Bedeutung zu. Zu Recht hat das RG103 ausdrücklich festgestellt, dass die geschuldete Verbindlichkeit nur in strikter Bezogenheit

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92 So von Caemmerer in FS 100 Jahre DJT, 1960, Bd. II, S. 49 ff., 118 Fn. 300. 93 Gernhuber (Fn. 81), S. 446; dazu Egon Lorenz (Fn. 62), S. 329, 332 f. 94 Egon Lorenz (Fn. 62), S. 329, 332; auf diesen Aspekt bezieht sich der BGH etwa in BGHZ 95, 128, 132. 95 Zur Kritik an diesem Argument s. oben IV. mit Fn. 81. 96 So auch Egon Lorenz (Fn. 62), S. 329, 339. 97 Vgl. etwa RGZ 114, 155, 160; RGZ 160, 310, 313 f. 98 Grundmann (Fn. 85), § 278 BGB Rz. 25 f.; Egon Lorenz (Fn. 62), S. 329, 338 ff. 99 Zum Gegenstand dieser Garantie vgl. oben V. mit Fn. 83. 100 Vgl. den Überblick oben V. 101 Oben zu III. 102 Oben zu II. 103 RGZ 108, 221, 223 f.; vgl. auch oben zu III.

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auf die Umstände des Einzelfalls identifiziert werden kann. Das heißt: Einer Anwendung des § 278 BGB muss die Auslegung des Vertrags dahin vorangehen, ob der Dritte mit dem beanstandeten Verhalten ein Handeln oder Unterlassen vorgenommen hat, das – bei vertragsgemäßer Ausführung – nach dem Vertrag dem Schuldner oblag104. Das jeweilige Schuldverhältnis, aus dem sich die fragliche Verbindlichkeit ergeben kann, ist nach Maßgabe der §§ 133, 157 BGB auszulegen¸ die Auslegung des konkreten Vertrags entscheidet über die Zurechnung nach § 278 BGB105. Die Rechtsprechung106 zeigt, dass es im Einzelfall schwierig sein kann festzustellen, ob dem Schaden stiftenden Verhalten des „eingeschalteten“ Dritten eine Verbindlichkeit des Schuldners zugeordnet werden kann. Fragen nach einem „inneren“107 oder einem „unmittelbaren sachlichen (inneren) Zusammenhang“108, wie sie die Gerichte zur Abgrenzung von Gehilfenhandeln „in Erfüllung“ oder „bei Gelegenheit der Erfüllung“ verwenden, dienen der Beschreibung und Abgrenzung der schuldnerischen Verbindlichkeit im Sinn des § 278 BGB109. Wird eine Zurechnung nach § 278 BGB geprüft, kann daher die pauschale Argumentation mit Schuldnerpflichten, die für eine Vertragsart typisch sind, den Blick auf die Erklärungsinhalte der konkreten Vereinbarung nicht ersetzen. Die einzelne Verbindlichkeit, die zur Grundlage der Zurechnung nach § 278 BGB gemacht werden soll, ist zu identifizieren. Am Beispiel des Leasingvertrages: Für eine Zurechnung nach § 278 BGB genügt es nicht, aus der leasingvertraglichen Pflicht zur Gebrauchsüberlassung zu folgern, dass jeder Leasinggeber mit dem Abschluss des Vertrags dieselben, eben „leasingtypischen“ Pflichten übernehme, unabhängig davon, was die Parteien im Einzelfall vom Standard-Vertrag abweichend oder ihn ergänzend vereinbart haben. Dass Risikosphären und Interessenlagen der Leasingvertragsparteien und damit deren Schutzbedürfnis erhebliche Unterschiede aufweisen, kann durch unterschiedliche Leasingobjekte bedingt sein: Etwa der Kopierer, den sich der Leasingnehmer beim Händler ausgesucht und gleich mitgenommen hat, oder der PKW mit Standard-Ausstattung, den die Leasinggesellschaft eines AutoHerstellers zur Verfügung zu stellen hat, aber auch – wie im Ausgangsfall – ein sogenanntes „Projektleasing“, bei dem eine den Bedürfnissen des Leasingnehmers entsprechende „Systemlösung“ erst noch – und dies in Zusammenarbeit mit dem Leasingnehmer – vom herstellenden Lieferanten erarbeitet werden muss. Kommt eine Haftung des Leasinggebers für das Verhalten eines Erfüllungsgehilfen in Betracht, muss nach dem spezifischen Inhalt des Leistungsversprechens gefragt werden, das der Leasinggeber mit dem Abschluss gerade dieses Vertrags abgegeben hat.

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Egon Lorenz (Fn. 62), S. 329, 338 ff. Egon Lorenz (Fn. 62), S. 329, 345 ff. Etwa RGZ 104, 141; BGH, NJW 1993, 1704. BGH, NJW-RR 1989, 723, 725; ebenso bereits RGZ 104, 141, 145 f.: „in unmittelbar innerem Zusammenhange.“ 108 BGH, NJW 1993, 1704, 1705; vgl. auch BGHZ 114, 263, 270. 109 Vgl. jedoch die Kritik von Egon Lorenz (Fn. 62), S. 329, 358 f., an der Entscheidung des BGH, NJW-RR 1989, 723.

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Hilfestellung bei der Frage, ob dem Fehlverhalten des Gehilfen eine Verbindlichkeit des Schuldners zugeordnet werden kann, gibt die erwähnte Auffassung von Gernhuber110, Haftungsgrund bei § 278 BGB sei die „Zurechnungseinheit“ von Fehlverhalten und verbindlichkeitsgerechtem Verhalten des Gehilfen. Die Anwendung der Bestimmung setze voraus, dass dem Schuldner das Verhalten des Gehilfen als Erfüllung seiner Verbindlichkeit – seines Leistungsversprechens – zugerechnet würde, wenn sich der Gehilfe – statt verbindlichkeitswidrig – verbindlichkeitsgerecht verhalten hätte111. Damit orientiert sich Gernhuber112 am hypothetischen Fall eines verbindlichkeitsgerechten Verhaltens des Gehilfen. Einen ähnlichen Ansatz verfolgen die Überlegungen von Egon Lorenz113. Er sieht die Haftung nach § 278 BGB darin begründet, dass jede Verbindlichkeit per se die Verpflichtung des Schuldners einschließe, bei Verletzung der Verbindlichkeit nach den Verschuldenstatbeständen zu haften. Diese Haftung könne der Schuldner nicht dadurch verhindern, dass er seine Verbindlichkeit von einem Gehilfen wahrnehmen lasse.

VII. Haftung des Leasinggebers nach § 278 BGB wegen Verletzung der Gebrauchsüberlassungspflicht durch ein vom Lieferanten verschuldetes Scheitern der Herstellung oder der fristgerechten Fertigstellung des EDV-Projekts? Vorbemerkung Wie zu I. ausgeführt, wurde in dem Leasingvertrag, welcher der Entscheidung des BGH vom 29.10.2008114 zu Grunde lag, dem Leasinggeber ein Rücktrittsrecht u. a. für die Fälle eingeräumt, dass – aus vom herstellenden Lieferanten zu vertretenden Gründen – die Systemlösung nicht fristgerecht fertig gestellt wird oder dass ihre Herstellung bereits zu einem früheren Zeitpunkt scheitert. Die Regelungen des Vertrags im Übrigen – nach der Auslegung durch den BGH115 sollte dem Leasinggeber das Rücktrittsrecht auch dann zustehen, wenn er selbst diese Umstände zu vertreten gehabt hätte – sollen hier nicht behandelt werden. Die Ausführungen beschränken sich daher auf die Fragestellung, ob es – wie der BGH116 bzw. das OLG Hamm117 meint – auf der Grundlage dieses Leasingvertrags dem Leasinggeber nach § 278 BGB zuzurechnen ist, wenn die Herstellung oder die fristgerechte Fertigstellung der Systemlösung aus einem vom herstellenden Lieferanten zu vertretenden Grund scheitert118.

__________ 110 111 112 113 114 115 116 117 118

Gernhuber (Fn. 81), S. 446. Vgl. dazu jedoch Egon Lorenz (Fn. 62), S. 329, 333. Gernhuber (Fn. 81), S. 446. Egon Lorenz (Fn. 62), S. 329, 333 ff., 338. NJW 2009, 575. NJW 2009, 575, 576 f. NJW 2009, 575, 576 f.; vgl. dazu oben I. CR 2008, 8, 11; vgl. dazu oben I. Zu Unterschieden der Argumentation in beiden Urteilen vgl. oben I.

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1. Die Auslegung des Leasingvertrags Bei der Prüfung, ob im Einzelfall für ein schuldhaftes Gehilfenhandeln nach § 278 BGB gehaftet werden muss, ist – das hat sich zu VI. ergeben – wie folgt vorzugehen: Das jeweilige Schuldverhältnis ist nach §§ 133, 157 BGB auszulegen, um die Frage zu beantworten, ob das Schaden stiftende Verhalten des Gehilfen ein bestimmtes Leistungsversprechen des Schuldners betraf, hier also – es ging um die rechtliche Bewertung einer Vertragsklausel – ob mit einem vom Lieferanten verschuldeten Fehlschlagen der Herstellung oder der fristgerechten Fertigstellung der Systemlösung eine Verbindlichkeit im Sinn des § 278 BGB verletzt worden wäre, die dem Leasinggeber gegenüber dem Leasingnehmer oblag. Oder anders gewendet, mit Gernhuber119: Hätte der Schuldner mit dem fraglichen Gehilfenhandeln ein von ihm abgegebenes Leistungsversprechen erfüllt, wenn der Gehilfe verbindlichkeitsgerecht gehandelt – hier: die Systemlösung hergestellt und fristgerecht fertig gestellt – hätte. Im Zusammenhang etwa mit vorvertraglichen Informationspflichten entspricht diese Fragestellung der ständigen Rechtsprechung des BGH120: Weil es Vertragspflicht des Leasinggebers ist, den Leasingnehmer korrekt über die rechtlichen und finanziellen Bedingungen des Leasingvertrags aufzuklären, muss er es sich über § 278 BGB zurechnen lassen, wenn er das vom Lieferanten erledigen lässt und dieser dem Leasingnehmer unzutreffende Auskünfte erteilt. Gibt der Lieferant zutreffende Informationen zum Leasingvertrag, erfüllt der Leasinggeber mit diesem Handeln des Lieferanten seine eigene Verbindlichkeit. 2. Das Leistungsversprechen des Leasinggebers beim Standard-Leasingvertrag Primäres Leistungsversprechen des Leasinggebers ist es unbestritten, das Leasingobjekt zu übergeben, also dem Leasingnehmer den Besitz zu verschaffen, bzw. – wenn es sich um ein Werk handelt – ihm das Leasingobjekt in abnahmefähigem Zustand zur Verfügung zu stellen und es während der Laufzeit des Vertrags zur Nutzung zu überlassen121. Das gilt für alle Leasingverträge, unabhängig von der Art des einzelnen Leasingobjekts122. Voraussetzung dieser Leistungshandlungen ist, dass das Leasingobjekt beschafft bzw. hergestellt werden kann. Ob das Leistungsversprechen des Leasinggebers im Ausgangsfall auch die Herbeiführung dieser Voraussetzungen umfasst123, ist die zentrale Frage, die hier zu beantworten ist124.

__________ 119 Gernhuber (Fn. 81), S. 446; vgl. dazu oben VI. 120 Etwa BGHZ 95, 170, 177 ff.; BGH, NJW-RR 1988, 241, 242 f. 121 BGH, NJW 1982, 105, 106 f.; BGH, NJW 1995, 1019, 1021; vgl. statt aller Graf von Westphalen (Fn. 18), Kap. E Rz. 1, 5, Kap. G Rz. 1. 122 St. Rechtsprechung des BGH, etwa BGHZ 68, 118, 123; BGHZ 128, 255, 261 f.; zum Ausgangsfall (oben I.) insoweit Habersack, WM 2008, 809, 810. 123 Vgl. dazu Habersack, WM 2008, 809, 811 m. w. N. 124 Vgl. dazu unten VII.3.3.

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Das Leistungsversprechen des Leasinggebers beim Projektleasing

Der BGH125 ging – wie die Vorinstanz, das OLG Hamm126 – in der Entscheidung zu dem Ausgangsfall davon aus, die dem Lieferanten obliegende Aufgabe, die Systemlösung herzustellen und sie fristgerecht fertig zu stellen, sei zugleich eine Verbindlichkeit des Leasinggebers gegenüber dem Leasingnehmer. Wie ausgeführt ging es im Ausgangsfall nicht darum, einen Leasingvertrag über ein marktgängiges Wirtschaftsgut oder eine Gattungssache auszulegen, bei dem das von den Parteien Vereinbarte und deren Interessenlage der leasingvertraglichen Standardkonstellation entsprechen, welche die Rechtsprechung des BGH reflektiert127. Ist im Leasingvertrag über einen PKW für die Übergabe des Fahrzeugs ein bestimmter Zeitpunkt vorgesehen, schuldet der Leasinggeber die vereinbarte Übergabe und haftet nach § 278 BGB, wenn der mit der Übergabe beauftragte Lieferant diese nicht (fristgerecht) vornimmt und – jedenfalls wenn dieser das zu vertreten hat128 – unabhängig davon, welche „Leistungsvoraussetzung“ fehlte. Die Auslegung des Leasingvertrags über eine Gattungssache im Sinn des § 243 Abs. 1 BGB ergibt im Regelfall, dass das Risiko der Verfügbarkeit des Leasingobjekts insoweit vom Leasinggeber zu tragen ist, als nicht Beschränkungen dieses Risikos Vertragsinhalt geworden sind129. Beim Leasingvertrag geschieht dies in der Regel durch die üblichen Vorgaben des Leasingnehmers hinsichtlich des Lieferanten130. Ob und inwieweit der Leasinggeber ein Beschaffungsrisiko im Sinn des § 276 Abs. 1 Satz 1 BGB – es begründet eine schuldunabhängige Haftung131 – übernommen hat, muss daher im Einzelfall festgestellt werden132. Unter Geltung des § 279 BGB, nach dem der Schuldner bei Gattungsschulden sein Unvermögen zur Leistung verschuldensunabhängig zu vertreten hatte133, hat der BGH134 ausgesprochen, dass die Haftung des Verkäufers für nachträgliches Unvermögen auch bei einer Gattungsschuld – durch eine eindeutige Regelung, die dem Grundsatz von Treu und Glauben gerecht werde – ausgeschlossen werden könne. Auch wenn es sich um einen Standard-Leasingvertrag handelt, sind bei der Ermittlung des Parteiwillens nach §§ 133, 157 BGB die Konsequenzen im Auge

__________ 125 BGH, NJW 2009, 575; vgl. dazu oben I. 126 CR 2008, 8. 127 Ausführlich zu den Abweichungen des Ausgangsfalls vom Standard-Leasinggeschäft Habersack, WM 2008, 809 ff. 128 Zu Übernahme eines Beschaffungsrisikos im Sinn des § 276 Abs. 1 Satz 1 BGB vgl. unten. 129 Koch (Fn. 18), Leasing Rz. 76. 130 So etwa Habersack, WM 2008, 809, 811; in diesen Fällen handelt es sich nicht mehr um eine „marktbezogene Gattungsschuld“; vgl. dazu Heinrichs in Palandt, § 276 BGB Rz. 31. 131 Heinrichs in Palandt, § 276 BGB Rz. 31. 132 Beim Leasingvertrag dürfte das regelmäßig nicht der Fall sein; vgl. etwa Koch (Fn. 18), Leasing Rz. 74, 76; Wolf/Eckert/Ball (Fn. 17), Rz. 1847; für den Mietvertrag gehen Wolf/Eckert/Ball (Fn. 17), Rz. 229, demgegenüber davon aus, dass der Vermieter regelmäßig das Beschaffungsrisiko nach § 276 Abs. 1 Satz 1 BGB übernimmt. 133 Inhaltlich ist diese Regelung jetzt insoweit in § 276 Abs. 1 Satz 1 BGB enthalten, als die Übernahme eines Beschaffungsrisikos eine schuldunabhängige Haftung begründen kann; vgl. Heinrichs in Palandt, § 276 BGB Rz. 30. 134 NJW 1994, 515 f.

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zu behalten, welche die Übernahme einer verschuldensunabhängigen Haftung für die Zurechnung des Lieferantenhandelns nach § 278 BGB hat: Für das Handeln des Gehilfen gilt im Rahmen dieser Bestimmung derselbe Verschuldensmaßstab wie für den Schuldner selbst135. Der selbst ohne eigenes Verschulden haftende Leasinggeber haftet daher nach § 278 BGB auch für ein unverschuldetes schädigendes Verhalten des Lieferanten, soweit dieser als sein Erfüllungsgehilfe tätig wird. Diese Zurechnung betrifft Leistungshandlungen, die vom Leasinggeber geschuldet werden, nach dem vorgesehenen Geschäftsablauf aber vom Lieferanten ausgeführt werden sollen. Berücksichtigt man, dass – leasingtypisch – dieser Lieferant dem Leasinggeber vom Leasingnehmer vorgegeben wird, ist eher nicht anzunehmen, dass der Leasinggeber für diese Verbindlichkeiten eine verschuldensunabhängige Haftung übernehmen will. Ohne besondere Indizien kann daher auch bei einem Leasingvertrag über eine im Sinn des § 243 Abs. 1 BGB nur der Gattung nach bestimmte Sache nicht davon ausgegangen werden, dass der Leasinggeber ein Beschaffungsrisiko im Sinn des § 276 Abs. 1 Satz 1 BGB übernimmt. Generell beschränkt sich das Leistungsversprechen des Leasinggebers beim Standard-Leasingvertrag – soweit nichts Abweichendes vereinbart ist – nicht auf die Besitzverschaffung bzw. die abnahmefähige Überlassung des Leasingobjekts sowie – natürlich – auf die Gebrauchsüberlassung für die vereinbarte Laufzeit. Geschuldet ist auch die der Überlassung voraus gehende Beschaffung des Leasingobjekts136, regelmäßig allerdings beschränkt auf den im Leasingvertrag vorgegebenen Lieferanten137. Scheitert diese – und ist das nicht vom Leasingnehmer zu vertreten –, entfällt nach § 326 Abs. 1 Satz 1 BGB die Leistungspflicht des Leasingnehmers, dem überdies nach § 326 Abs. 5 BGB ein Rücktrittsrecht zusteht138. Dem Leasinggeber werden für das Scheitern ursächliche Fehlleistungen des Lieferanten nach § 278 BGB zugerechnet, jedenfalls soweit sie von diesem zu vertreten sind. Aus der in diesem Fall bestehenden Beschaffungspflicht folgt, dass das auch für Fehlleistungen gilt, die nicht den Vorgang der Überlassung selbst betreffen, sondern deren Voraussetzungen139, wie etwa die fristgerechte Fertigstellung des Leasingobjekts, aber auch etwa dessen sichere Aufbewahrung, die Gegenstand einer begleitenden Sorgfaltspflicht sein kann.

__________ 135 Vgl. Egon Lorenz (Fn. 62), S. 329, 338. 136 Koch (Fn. 18), Leasing Rz. 32 m. w. N. 137 H. Beckmann in Martinek/Stoffels/Wimmer-Leonhardt, Leasinghandbuch, 2. Aufl. 2008, § 26 Rz. 15. 138 Dazu und zu weiteren Rechten des Leasingnehmers bei Scheitern der Gebrauchsverschaffung vgl. Wolf/Eckert/Ball (Fn. 17), Rz. 1835. 139 Stoffels in Staudinger, BGB, 2004, Buch II, Leasing Rz. 83 m. w. N., sieht darin die Konsequenz der – von ihm abgelehnten – mietrechtlichen Sichtweise der Rechtsprechung und der h. M. – etwa BGHZ 96, 103, 107; BGH, NJW 1988, 204, 205; Graf von Westphalen in Graf von Westphalen (Hrsg.), Der Leasingvertrag, Kap. E Rz. 1, Kap. B Rz. 2 ff. – nach welcher der Leasinggeber den durch die Übergabe herbeizuführenden Erfolg schulde.

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Das Leistungsversprechen des Leasinggebers beim Projektleasing

Davon gehen im entschiedenen Fall auch der BGH140 und die Vorinstanz, das OLG Hamm141, aus. Wie zu I. ausgeführt, schuldet nach ihrer Auffassung der Leasinggeber auch die Herstellung bzw. die fristgerechte Fertigstellung des Leasingobjekts. Zur Entscheidung stand allerdings nicht ein Leasingvertrag über ein bereits vorhandenes oder als Gattungssache zu produzierendes Wirtschaftsgut, sondern ein Vertrag über eine Systemlösung, die der herstellende Lieferant unter Mitwirkung des Leasingnehmers erst noch zu erarbeiten und die der Leasinggeber vorzufinanzieren hatte. Die mit dieser Vertragsgestaltung verbundenen Risiken – insbesondere das Projekt- und das Finanzierungsrisiko – und das zusätzliche Potential an Leistungsstörungen weichen grundlegend von der Konstellation und der Interessenlage der Vertragsparteien beim überkommenen Leasingvertrag ab. Anders als im entschiedenen Fall142 steht – wie ausgeführt – beim StandardLeasingvertrag das Leasingobjekt meistens bei Vertragsschluss bereits fertig gestellt zur Verfügung oder es wird als Gattungssache noch produziert. Ein dem Projektrisiko vergleichbares Risiko besteht also nicht. Das Gleiche gilt für das Finanzierungsrisiko, also das Risiko, für das Beschaffungsentgelt nicht die vereinbarte Gegenleistung zu erhalten: Das Vertragsrisiko des Leasinggebers, das mit der Haftung für das Lieferantenhandeln verbunden ist, wird in der Praxis dadurch eingegrenzt, dass der Leasinggeber das Beschaffungsentgelt erst dann an den Lieferanten zahlt, wenn das Leasingobjekt dem Leasingnehmer übergeben bzw. von diesem abgenommen wurde. Im Regelfall ist damit die Voraussetzung dafür geschaffen, dass das Eigentum am Leasingobjekt auf den Leasinggeber übergeht und dass der Leasingnehmer das Leasingobjekt nutzen kann und daher die Leasingraten zu zahlen hat. Zusätzlich geben die vom Leasingnehmer bestätigte Übernahme oder die Abnahme dem Leasinggeber auch eine gewisse Sicherheit hinsichtlich des Zustands und damit der Werthaltigkeit des Leasingobjekts. 3. Das Leistungsversprechen des Leasinggebers im Ausgangsfall, einem Finanzierungsleasingvertrag über Projektleasing a) Bedingungen des Projektleasing Gegenstand des Leasingvertrags im Ausgangsfall war sog. Projektleasing143. Bei Abschluss des Vertrags existierte das Leasingobjekt noch nicht, weder als einzelnes Exemplar, noch war es im Sinn des § 243 Abs. 1 BGB eine der Gattung nach bestimmte Sache, wie etwa ein Leasingfahrzeug, das noch produziert werden muss. Die Systemlösung, die der Leasingnehmer nutzen wollte, musste vielmehr erst noch – unter Orientierung an den Vorstellungen, Bedürfnissen und Vorgaben des Leasingnehmers und unter dessen Mitwirkung – durch

__________ 140 141 142 143

BGH, NJW 2009, 575, 577. OLG Hamm, CR 2008, 8, 11. Vgl. oben I. Zu Begriff und typischem Ablauf des Projektleasing vgl. Habersack, WM 2008, 809 f.; Koch, LMK 2009, 273510, S. 1.

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Anpassung einer Branchensoftware von einem Softwarehaus erarbeitet und implementiert werden. Dem entsprechend war der Leasinggeber nicht nur verpflichtet, das fertige Leasingobjekt bei einem vom Leasingnehmer ausgewählten Lieferanten – das ist beim Leasing üblich – zu beziehen. Er hatte vielmehr auf Veranlassung des Leasingnehmers mit dem Leasingvertrag auch die Verpflichtung übernommen, den vom Leasingnehmer benannten Lieferanten zunächst mit der Herstellung des Leasingobjekts zu beauftragen144 und bereits während der Herstellung vorab Zahlungen auf den Werklohn zu leisten. Vom Inhalt des Leistungsversprechens, das der Leasinggeber mit dem Abschluss dieses Leasingvertrags abgab, hängt die Beantwortung der hier erörterten Frage ab: Beschränkte sich die vom Leasinggeber übernommene Verbindlichkeit auf die Überlassung und Nutzungsbelassung der Systemlösung sowie auf die Verpflichtung, mit dem vorgegebenen Softwarehaus den Beschaffungs-Werkvertrag abzuschließen? Oder war die Herstellung der als Leasingobjekt vorgesehenen Systemlösung selbst Verbindlichkeit des Leasinggebers und damit Gegenstand seines Leistungsversprechens gegenüber dem Leasingnehmer. Die Frage wird im Folgenden zu klären sein. Wie ausgeführt werden auch Standard-Leasingverträge häufig zu einem Zeitpunkt abgeschlossen, zu dem das Leasingobjekt erst noch produziert werden muss. Anders als dort kann der Leasinggeber aber beim Projektleasing nicht mit ausreichender Sicherheit davon ausgehen, dass das Leasingobjekt tatsächlich zustande gebracht wird145. Zu den fachlichen Anforderungen an den Lieferanten kommt als Unsicherheitsfaktor vor allem die Mitwirkung des Leasingnehmers bei der Erarbeitung der Systemlösung hinzu146, aber auch das Risiko wirtschaftlicher Veränderungen beim Leasingnehmer oder beim Lieferanten während der Dauer des Herstellungsprozesses. Vor allem aber zahlt der Leasinggeber – wie zu VII.2 ausgeführt – beim typischen Finanzierungsleasingvertrag das Beschaffungsentgelt regelmäßig erst nach der Übernahme bzw. Abnahme des Leasingobjekts durch den Leasingnehmer bzw. Zug um Zug mit dieser147 – ein Vorgehen, mit dem sich der Leasinggeber davor schützt, das Entgelt zu entrichten, ohne dass der Leasingnehmer das Leasingobjekt erhält. Nach dem Leasingvertrag im Ausgangsfall hatte der Leasinggeber jedoch die Herstellung des EDV-Projekts vorzufinanzieren, wie das beim Projektleasing regelmäßig der Fall ist148. Das heißt: Er musste Teilzahlungen leisten, ohne hinreichend sicher sein zu können, dass das Leasingobjekt dem Leasingnehmer überhaupt zur Verfügung gestellt würde. Scheiterte das EDV-Projekt, so dass dem Leasingnehmer das Leasingobjekt nicht überlassen werden konnte, war der Leasingnehmer nicht verpflichtet, die

__________

144 Dass der Leasinggeber aus dem Leasingvertrag verpflichtet ist, den Beschaffungsvertrag mit dem vom Leasingnehmer vorgegebenen Lieferanten abzuschließen, wird allgemein angenommen; vgl. Stoffels in Staudinger (Fn. 139), Leasing Rz. 84; Beckmann, Finanzierungsleasingvertrag, 3. Aufl. 2006, § 2 Rz. 177. 145 So auch Martinek/Omlor, WuB I J 2. – 1.08; Koch, LMK 2009, 273510. 146 Vgl. Habersack, WM 2008, 809, 811. 147 Vgl. Graf von Westphalen (Fn. 18), Kap. E Rz. 19. 148 Habersack, WM 2008, 809 f.; Koch, LMK 2009, 273510.

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Das Leistungsversprechen des Leasinggebers beim Projektleasing

leasingvertragliche Gegenleistung zu erbringen149, während der Leasinggeber im Rahmen der Vorfinanzierung bereits an den Lieferanten geleistet hatte. Hätten der herstellende Lieferant oder der zur Mitwirkung an der Herstellung verpflichtete Leasingnehmer das Scheitern zu vertreten, stünden dem Leasinggeber zwar Ersatzansprüche zu. Deren Durchsetzung hinge aber davon ab, dass er diese Voraussetzung beweisen könnte. Während Leasingnehmer und das Softwarehaus zusammenwirken müssen, ist der Leasinggeber, der üblicherweise nicht über IT-spezifisches Know-How bezüglich des EDV-Projekts verfügt, in diesem Stadium in der Position eines fachlich und bezüglich des Arbeitsablaufs Außenstehenden, der aber finanziell in die Pflicht genommenen wird. Diese Position erschwert für den Leasinggeber den zur Beweisführung erforderlichen Einblick erheblich. Und schließlich das Insolvenzrisiko: Eine Insolvenz sowohl des Leasingnehmers als auch des herstellenden Lieferanten würde zum Scheitern des Projekts und wohl auch zur Uneinbringlichkeit von Ersatzansprüchen führen. b) Das Softwareprojekt als Gegenstand eines Leasingvertrags Überträgt man die Rechtslage beim Standard-Leasingvertrag150 auf diesen Fall des Projektleasings, schuldet der Leasinggeber nicht nur die Überlassung des fertigen Werks, sondern dessen Beschaffung insgesamt. Er schuldet damit nicht nur den Abschluss des Beschaffungsvertrags, also des Werkvertrags über die Herstellung, sondern auch die Herstellung selbst. Der Lieferant wäre dann nicht nur Erfüllungsgehilfe des Leasinggebers im Sinn des § 278 BGB hinsichtlich der Überlassung des EDV-Projekts in abnahmefähigem Zustand151, sondern auch hinsichtlich des Herstellungsprozesses. Schuldet der Leasinggeber aber auch die Herstellung des Leasingobjekts, bedeutet das unter den Bedingungen des Projektleasing, dass er – verglichen mit dem Standard-Leasingvertrag – ein ungewöhnlich breites Risiko. übernimmt. Zum einen das generelle Risiko einer Vorfinanzierung: Wie zu VII.2 ausgeführt leisten Leasinggeber typischerweise an den Lieferanten erst, nachdem der Leasingnehmer die Übernahme des Leasingobjekts bestätigt hat; das trägt der Gefahr einer Schädigung des Leasinggebers Rechnung, die vor allem daraus resultiert, dass der Lieferant das Leasingobjekt nicht ihm, sondern unmittelbar dem Leasingnehmer zur Verfügung stellt. Zum anderen potenziert sich beim Projektleasing – verglichen mit dem Leasingvertrag über eine Gattungssache – das mit der Vorfinanzierung verbundene Risiko durch das Risiko, dass die Herstellung aus beim herstellenden Lieferanten liegenden Gründen nicht gelingt, und ein weiteres Mal durch das zusätzliche Risiko, das sich aus der Rolle des Leasingnehmers im Konzeptions- und Implementierungsprozess ergibt152.

__________ 149 150 151 152

Vgl. Graf von Westphalen (Fn. 18), Kap. G Rz. 4 m. w. N. Dazu oben VII. 2. Davon geht Habersack, WM 2008, 809, 811, beim Projektleasing aus. Vgl. die anschauliche Beschreibung dieses Risikos bei Habersack, WM 2008, 809, 811.

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Diese Risiko- und Interessenlage ist ein Fremdkörper in dem Finanzierungsleasingvertrag über Standard-Wirtschaftsgüter, wie ihn die Rechtsprechung rechtlich erfasst und ausgerüstet hat. Das Leasingvertragsrecht ist Richterrecht; es hat sich aus der Kasuistik entwickelt. Grundlage der Leasing-Rechtsprechung des BGH153 ist die mietrechtliche Sichtweise, die – trotz erheblicher Kritik154 – weitgehend zu sachgerechten Ergebnissen und zu Rechtssicherheit für die Praxis geführt hat155. Mit dem bisherigen Stand der höchstrichterlichen Konstruktion des Leasingvertrags und dem gesetzlichen Leitbild des Mietvertrags, auf das der BGH in der Ausgangsentscheidung rekurriert156, lassen sich die Vorfinanzierung und die geschilderte Interessenlage jedoch nicht erfassen. Dieser Befund und die Diskrepanz zur Verteilung der Vertragsrisiken und zur Wahrung der Parteiinteressen bei einem Standard-Leasingvertrag157 könnten verschiedene Konsequenzen nahelegen: Das OLG Hamm158 ist der Auffassung, die Rechtsform des Leasingvertrags eigne sich nicht für ein Projektleasing, wenn dessen spezifische Risiko- und Interessenlage berücksichtigt werden solle. Es empfiehlt daher, den Leasingvertrag nicht bereits in der Vorfinanzierungsphase abzuschließen, sondern die Vorfinanzierung in einem gesonderten Finanzierungsvertrag zu regeln. Eine andere Konsequenz könnte sein, in den Schwierigkeiten, welche die Praxis des Projektleasing für das mietrechtlich orientierte Leasingvertragsrecht der Rechtsprechung und der h. M. mit sich bringt, eine Bestätigung der Auffassung zu sehen, dass der Leasingvertrag nicht „in erster Linie“ Mietvertrag159, sondern ein „Vertrag sui generis“ sei160. Demgegenüber sieht der BGH161 auch im Leasingvertrag des Ausgangsfalls – trotz der mit dem Projektleasing verbundenen besonderen Risiken des Leasinggebers, die in der Entscheidung erwähnt werden – einen Finanzierungsleasingvertrag im Sinn der gefestigten Rechtsprechung des BGH, der daher „in erster Linie nach Mietrecht zu beurteilen“ sei162. Dafür, diesen Vertrag – ungeachtet der für den Leasingvertrag untypischen Interessenlage in der Zeit vor der Überlassung des Leasingobjekts – als Finanzierungsleasingvertrag zu qualifizieren, sprechen die Zwecke, welche die Parteien mit diesem Vertrag verfolgen: Der Leasingnehmer möchte über eine begrenzte Zeit, die vom Leasinggeber zur Verfügung zu stellende, seinen Bedürfnissen entsprechende Systemlösung nutzen und das Entgelt für diese Leistung in Raten zahlen, während der Leasinggeber das Leasingobjekt erwerben und dessen Beschaffung finanzieren soll und will.

__________

153 Vgl. etwa BGHZ 112, 65, 71; BGH, NJW 1988, 198, 199 f.; Überblick bei Wolf/ Eckert/Ball (Fn. 17), Rz. 1749 ff. 154 Vgl. statt aller Stoffels in Staudinger (Fn. 139), Leasing Rz. 75 f. m. w. N. 155 Vgl. Graf von Westphalen (Fn. 18), Kap. B Rz. 2 ff. 9 ff.; Koch (Fn. 18), Leasing Rz. 25. 156 BGH, NJW 2009, 575, 577. 157 Vgl. oben VII. 2. 158 CR 2008, 8, 12, die Vorinstanz zu der erörterten Entscheidung des BGH. 159 So der BGH in st. Rechtsprechung; vgl. etwa BGHZ 96, 103, 106 m. w. N. 160 So etwa Stoffels in Staudinger (Fn. 139), Leasing Rz. 76 m. w. N.; auch Koch (Fn. 18), Leasing Rz. 31, hält diese Einordnung für „vorzugswürdig“. 161 BGH, NJW 2009, 575, 577; zust. Graf von Westphalen, BB 2009, 239 f. 162 NJW 2009, 575, 577.

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Das Leistungsversprechen des Leasinggebers beim Projektleasing

Das legt es zwar nahe, der grundsätzlichen Position des BGH zu folgen und auch bei diesem Leasingvertrag den grundsätzlich mietvertraglichen Charakter in den Vordergrund zu stellen163. Die gesetzlichen Vorgaben für die Auslegung eines Vertrags in den §§ 133, 157 BGB stellen jedoch normative Maßstäbe dar, die sicherstellen sollen, dass der übereinstimmende Wille der Parteien und damit der Vertragsinhalt ermittelt wird164, in dem der von den Vertragsparteien angestrebte Interessenausgleich zum Ausdruck kommt165. Grundsätzlich genügt es der Ratio der §§ 133, 157 BGB daher nicht, wenn man im entschiedenen Fall166 die vom Standard-Leasingvertrag gravierend abweichende Risikound Interessenlage der Parteien und deren Versuch, ihr im Leasingvertrag Rechnung zu tragen, nur an der bisherigen rechtlichen Konstruktion dieses gemischten Vertrags167 misst und sie dort ignoriert, wo sie nicht zum Leitbild des Mietvertrags passen und wo sie sich mit der bisherigen Rechtsprechung zum Leasingvertragsrecht nicht erfassen lassen168. Die Rechtsprechung des BGH hat in der Vergangenheit keinen Zweifel daran gelassen, dass Finanzierungsleasingverträge zwar „in erster Linie“ nach Mietrecht zu beurteilen sind – aber eben nur in erster Linie169. Da Vertragsgegenstand ist, dass der Leasinggeber die Nutzung des Leasingobjekts finanzieren muss, hat der Leasingvertrag auch darlehensrechtliche Züge170. Hinzu kommen kaufrechtliche Elemente, die sich in der Gefahrtragung und der Gewährleistung niederschlagen171. Mit der Entwicklung des rechtlichen Gerüsts für diesen gemischten Vertragstyp hat der BGH dem von den Parteien eines Leasingvertrags verfolgten Vertragszweck und deren Interessenlage beim bisher typischen Leasingvertrag Rechnung getragen. Leasingverträge über Projektleasing stellen offenbar eine Weiterentwicklung dieses Vertragstyps dar, die, wie dargestellt, verglichen mit dem Standard-Leasingvertrag eine gravierende Verschiebung der beiderseitigen Risikosphären mit sich bringt. Für die Anwendung des Leasingvertragsrechts als Richterrecht gilt dasselbe wie für die Anwendung gesetzlicher Normen: Die Diskrepanz zwischen den rechtlichen Regelungen, mit denen die Wirklichkeit des Standard-Leasingvertrags erfasst werden sollte, und der „Veränderlichkeit dieser Wirklichkeit“ ist unvermeidlich172. Eine grundlegend andere Interessenlage kann nicht unberücksichtigt bleiben, wenn bei der AGB-Kontrolle vertraglicher, mit einem Kaufmann als Leasingnehmer vereinbarter Regelungen zu prüfen ist, ob eine unangemessene Benachteiligung im Sinn des § 307 BGB vorliegt. Diese Bestimmung soll ein erheb-

__________ 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172

So – pointiert – auch Graf von Westphalen, BB 2009, 239 f. BGHZ 71, 75, 77 f.; BGHZ 20, 109, 110. Busche in MünchKomm.BGB, Bd 1.1, 5. Aufl. 2006, § 157 BGB Rz. 1 m. w. N. Vgl. oben I. Wolf/Eckert/Ball (Fn. 17), Rz. 1751. Zu dieser Problematik speziell beim Leasingvertrag vgl. Koch (Fn. 18), Leasing, Rz. 31. BGHZ 96, 103, 106; BGHZ 112, 75, 71; Wolf/Eckert/Ball (Fn. 17), Rz. 1750. Statt aller Wolf/Eckert/Ball (Fn. 17), Rz. 1749 f. Statt aller Wolf/Eckert/Ball (Fn. 17), Rz. 1751. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 271.

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liches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der Rechte und Pflichten zu Lasten des Kunden vermeiden173, wobei der gesamte Vertragsinhalt heranzuziehen ist174. Angesichts des Charakters des Leasingvertrags als gemischter Vertrag auf der einen und der vom Standard-Leasingvertrag grundlegend abweichenden Risikoverteilung im Ausgangsfall auf der anderen Seite kann dieser Vertrag weder allein am gesetzlichen Leitbild des Mietvertrags (§ 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB), noch allein an den Maßstäben gemessen werden, welche die Rechtsprechung für den Standard-Leasingvertrag entwickelt hat (§ 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB). Beide Vorgehensweisen würden von vornherein verhindern, dass aus der dargestellten Risikoverlagerung zu Lasten des Leasinggebers rechtliche Folgerungen gezogen werden, die von denen abweichen, die als für den Standard-Leasingvertrag angemessen angesehen werden175. Bei der Anwendung des § 278 BGB im Leasingverhältnis hat sich die Gefahr gezeigt, dass die schuldnerische Verbindlichkeit im Sinn dieser Bestimmung durch den Rückgriff auf eine allgemein formulierte typische Pflicht dieses Vertragstyps definiert wird, hier durch die Berufung auf die Pflicht zur Gebrauchsüberlassung. Diese Pflicht obliegt natürlich ebenso dem Vermieter wie dem Leasinggeber. Damit allein ist jedoch beispielsweise nicht die Frage beantwortet, welche der Verhaltensweisen, die der tatsächlichen Überlassung vorausgehen, sie mit erfasst176. Die Verwendung einer pauschalen Pflichtenbeschreibung als Vorgabe für den Inhalt des konkreten Vertrags stünde auch im Widerspruch zu den gesetzlichen Maßstäben der Auslegung nach §§ 133, 157 BGB, weil sie Gefahr läuft, den Gestaltungsplan der Parteien des Einzelfalls außer Acht zu lassen177. c) Das Leistungsversprechen des Leasinggebers im vom BGH178 entschiedenen Fall des Projektleasing Gegenstand dieser Ausführungen ist die Frage, ob in dem vom BGH179 entschiedenen Fall der Leasinggeber die Herstellung bzw. die fristgerechte Fertigstellung der Systemlösung schuldete, so dass der herstellende Lieferant – wie der BGH180 bzw. das OLG Hamm181 annahm – insoweit als sein Erfüllungsgehilfe im Sinn des § 278 BGB tätig geworden wäre. Wie weit das Leistungsversprechen des Schuldners – hier des Leasinggebers – im Einzelfall reicht, ist wie stets durch Auslegung des konkreten Leasingver-

__________ 173 Vgl. Kieninger in MünchKomm.BGB, Bd. 2, 5. Aufl. 2007, § 307 BGB Rz. 31 ff.; Grüneberg in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 307 BGB Rz. 6. 174 BGHZ 116, 1, 4; BGHZ 106, 259, 263; Kieninger (Fn. 173), § 307 BGB Rz. 34. 175 Zur Berücksichtigung der beiderseitigen Risikosphären und der Parteiinteressen bei der AGB-Inhaltskontrolle vgl. Koch (Fn. 18), Leasing Rz. 33. 176 Vgl. dazu unten VII. 3. c). 177 BGHZ 71, 75, 77 f.; BGHZ 20, 109, 110. 178 NJW 2009, 575; vgl. oben I. 179 NJW 2009, 575; vgl. oben I. 180 NJW 2009, 575, 577; vgl. oben I. 181 CR 2008, 8, 11 f.; vgl. oben I.

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trags festzustellen182. Wie sich ergeben hat183, genügt die Orientierung an einer vertragstypischen, pauschalen Leistungsverpflichtung – hier der Gebrauchsverschaffungspflicht – nicht den Anforderungen, die § 278 BGB an eine Zurechnung stellt. Die Auslegung muss vielmehr ausgehend von dem im konkreten Vertrag geregelten Lebenssachverhalt nach dem Leistungsversprechen fragen, das der Schuldner in diesem speziellen Vertrag abgegeben hat. In dem vom BGH entschiedenen Fall184 machen die Gründe des vorgesehenen Rücktrittsrechts des Leasinggebers deutlich, dass der Leasinggeber von der Pflicht zur Überlassung des Leasingobjekts frei werden sollte (§ 275 Abs. 1 BGB), wenn es dem Lieferanten und dem Leasingnehmer nicht gelingen würde, die Systemlösung zustande zu bringen bzw. sie fristgerecht fertig zu stellen. Da der Leasinggeber folglich nach dem Parteiwillen – dessen Beachtlichkeit zunächst unterstellt185 – Herstellung bzw. Fertigstellung nicht schuldete, konnte er deren Scheitern auch nicht zu vertreten haben. Aus demselben Grund wurde der herstellende Lieferant insoweit nicht als sein Erfüllungsgehilfe nach § 278 BGB tätig. Rechtstechnisch wäre mit dem Scheitern der Herstellung oder der fristgerechten Fertigstellung bzw. mit der Ausübung des Rücktrittsrechts die miet- und leasingvertragliche „Hauptpflicht“ entfallen, dem Leasingnehmer die Systemlösung in abnahmefähigem Zustand zur Verfügung zu stellen. Für die Zeit bis zum Scheitern oder bis zur fristgerechten Fertigstellung der Systemlösung umfasste die Verbindlichkeit des Leasinggebers die Pflicht, die vereinbarte Vorfinanzierung zu leisten und darüber hinaus die allgemeine Sorgfaltspflicht, soweit möglich und zumutbar durch Handeln oder Unterlassen dazu beizutragen, das Leasingobjekt zu beschaffen. Anders gewendet: Der Leasinggeber wollte den abgeschlossenen Leasingvertrag durchführen und dem Leasingnehmer die Systemlösung zur Nutzung überlassen. Da jedoch nicht sicher war, ob der Lieferant im Zusammenwirken mit dem Leasingnehmer das Leasingobjekt tatsächlich zu Stande bringen und dieses damit zur Überlassung zur Verfügung stehen würde, sollte der Leasinggeber dann nicht für die Nichterfüllung der Gebrauchsüberlassungspflicht einstehen müssen, wenn diese ihren Grund darin hatte, dass Lieferant und/oder Leasingnehmer mit der Herstellung bzw. der fristgerechten Fertigstellung des Leasingobjekts scheiterten. Die Auslegung des Vertrags nach §§ 133, 157 BGB führt zu diesem Parteiwillen. Dies unabhängig davon, ob man an das Scheitern des EDV-Projekts das ausdrücklich geregelte Rücktrittsrecht knüpft. Auch für sich allein genommen, also ohne ein formelles Rücktrittsrecht, führte die vom Leasingnehmer akzeptierte Distanzierung des Leasinggebers von den Risiken der Herstellung bzw. der fristgerechten Fertigstellung zu diesem eingeschränkten Leistungsversprechen. Der Leasinggeber hätte nicht dafür einzustehen, wenn die Gebrauchsverschaffung dadurch unmöglich würde, dass die Herstellung bzw. die

__________ 182 183 184 185

Dazu oben VII. 1. Vgl. oben. VII. 2. BGH, NJW 2009, 575; vgl. dazu oben I. Vgl. die nachfolgenden Ausführungen zur AGB-Kontrolle.

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fristgerechte Fertigstellung gescheitert sind. Da er beides nicht schuldete, hätte der Leasinggeber die Unmöglichkeit oder das Unvermögen der Gebrauchsüberlassung, die auf dem Scheitern der Herstellung oder der fristgerechten Fertigstellung beruhte, nicht zu vertreten und würde nach § 275 Abs. 1 BGB von der Pflicht der Gebrauchsüberlassung frei. Der Leasinggeber haftete auch nicht nach § 278 BGB für das Fehlverhalten des Lieferanten, das zu diesem Scheitern führte. Da er im Leasingvertrag Herstellung und Fertigstellung nicht als eigene Verbindlichkeit übernommen hatte, konnte auch der Lieferant bei der Ausführung dieser Tätigkeiten keine Verbindlichkeit des Leasinggebers im Sinn des § 278 BGB wahrnehmen. Das Ergebnis steht in Einklang mit der Ratio des § 278 BGB, wie sie unter V. dargestellt wurde. § 278 BGB soll vermeiden, dass der Gläubiger Ansprüche gegen den Schuldner dadurch verliert, dass dieser seine Verbindlichkeit von einem Dritten ausführen lässt, der sie nicht korrekt erledigt. Wie gezeigt wurde, erstreckte sich das Leistungsversprechen des Leasinggebers nicht auf Herstellung bzw. Fertigstellung, so dass dem Gläubiger – dem Leasingnehmer – insoweit keine Ansprüche gegen den Leasinggeber zustanden. Mangels einer eigenen Verbindlichkeit hat sich der Leasinggeber auch nicht „eigenes Handeln erspart“ – ein in der Rechtsprechung des BGH186 verwandtes Kriterium, das Graf von Westphalen187 als Testfrage für die Zurechnung nach § 278 BGB empfiehlt. Diese Argumentation setzt voraus, dass die als Ergebnis der Auslegung des Leasingvertrags festgestellte Freistellung des Leasinggebers von den Pflichten und Risiken der Herstellung und der fristgerechten Fertigstellung einer AGBrechtlichen Inhaltskontrolle Stand hält. Jedenfalls für sich genommen188 dürfte in dieser Vereinbarung keine unangemessene Benachteiligung des Leasingnehmers liegen. Angesichts der dargestellten vertragsrechtlichen und wirtschaftlichen Risiken für den Leasinggeber und des für ihn nur begrenzt durchschaubaren Zusammenwirkens von Lieferant und Leasingnehmer beim Zustandekommen des EDV-Projekts wäre es eher eine Zumutung für den Leasinggeber, von ihm zu verlangen, die Verpflichtung zu übernehmen, dass der Lieferant und der Leasingnehmer das vereinbarte Leasingobjekt zustande bringen bzw. es fristgerecht fertigstellen. Ein Leasinggeber, der trotz der zu VII. 3. a) und b) aufgezeigten Risiken, die er unter der Konstellation des Projektleasing nicht vermeiden kann, die Pflicht zur Herstellung bzw. zur fristgerechten Fertigstellung der Systemlösung als eigene Verbindlichkeit übernähme, stellte sich – aus der Sicht eines Kaufmanns – eher als überraschend wenig kaufmännisch handelnd, wenn nicht als

__________ 186 Vgl. BGHZ 95, 170, 181. 187 Graf von Westphalen (Fn. 18), Kap. C Rz. 101. 188 Wie oben zu I. und zu VII. (Vorbemerkung) ausgeführt, beschränken sich diese Ausführungen auf die Auffassung des BGH, NJW 2009, 575, 577, bzw. des OLG Hamm, CR 2008, 8, 11 f., mit diesen Rücktrittsgründen entziehe sich der Leasinggeber der Haftung nach § 278 BGB.

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blauäugig dar. Derartige Verträge dürften auch nicht ohne Weiteres zu refinanzieren sein. Dass der Leasinggeber unter den dargestellten Umständen nicht die Beschaffung der Systemlösung verbindlich verspricht, kann daher für einen kaufmännischen Leasingnehmer, der selbst mit dem Verlustrisiko bei abzuschließenden Geschäften umzugehen hat, nicht überraschend sein (§ 305c BGB). Auch eine unangemessene Benachteiligung des Leasingnehmers im Sinn des § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB189 durch diese beiden Rücktrittsgründe bzw. eine Freistellung für den Fall, dass die Herstellung oder Fertigstellung der Systemlösung scheitern sollte – nur darum geht es hier – ist unter diesen Umständen nicht zu sehen. Gründe, die den erklärten Parteiwillen, der oben festgestellt wurde, unbeachtlich werden ließen, lassen sich daher nicht feststellen. Der BGH190 hat im Ausgangsfall zwar eingeräumt, dass der vorfinanzierende Leasinggeber unter den Umständen dieses Falls ein berechtigtes Interesse an einem Rücktrittsrecht haben kann, wenn das Leasingobjekt nicht fristgerecht fertig gestellt wird. Das soll jedoch nicht für den Fall gelten, dass der Lieferant diese Verzögerung zu vertreten hat. Denn dieser werde „im Rahmen der Erfüllung der ihm obliegenden Gebrauchsüberlassungspflicht als sein Erfüllungsgehilfe … tätig(e)“191. Wie sich ergeben hat, kann dieser Begründung des BGH bzw. des OLG Hamm192 nicht gefolgt werden193.

VIII. Zusammenfassung Primärer Haftungsgrund des § 278 BGB ist, dass der Gläubiger sein Recht auf die versprochene Leistung nicht dadurch verlieren soll, dass der Schuldner die Leistungshandlung einem Dritten überträgt, der sie verbindlichkeitswidrig ausführt. Das Risiko des untauglichen Gehilfen soll der Schuldner tragen. Das Recht des Gläubigers kann jedoch nicht weiter gehen, als das Leistungsversprechen des Schuldners. Der erste Schritt der Anwendung des § 278 BGB ist daher die präzise Ermittlung des schuldnerischen Leistungsversprechens nach den §§ 133, 157 BGB. Wie der Ausgangsfall – ein Leasingvertrag über Projektleasing – zeigt, reicht die pauschale Berufung auf die leasingvertragliche Gebrauchsverschaffungspflicht nicht aus, um die Verbindlichkeit des Leasinggebers im Sinn des § 278 BGB zu identifizieren. Die Auslegung des Vertrages ergibt, dass das Leistungsversprechen des Leasinggebers zwar die Besitzverschaffung und die Gebrauchsüberlassung, nicht jedoch die Herstellung und die fristgerechte Fertigstellung umfasste.

__________ 189 190 191 192 193

Zu den Tatbeständen des § 307 Abs. 2 BGB vgl. oben VII. 3. b). NJW 2009, 575, 576. NJW 2009, 575, 576. CR 2008, 8, 11 f.; vgl. oben I. Wie mehrfach erwähnt (etwa zu I.), bezieht sich die Kritik nicht auf die sonstige Beanstandung der sehr weit gehenden Freizeichnung, auf die der BGH seine Entscheidung gestützt hat.

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Dieser als Vertragsinhalt festgestellte Parteiwille ist im kaufmännischen Verkehr nicht deswegen AGB-rechtlich unbeachtlich, weil er zu einer unangemessenen Benachteiligung des Leasingnehmers führte. In der Herstellung des EDVProjekts, dessen Gelingen – dazu mussten der herstellende Lieferant und der Leasingnehmer zusammenwirken – unsicher war, das der Leasinggeber jedoch vorzufinanzieren hatte, lag für diesen ein betriebswirtschaftliches Risiko, das – für den kaufmännischen Leasingnehmer erkennbar – ohne sichernde Kautelen nicht zumutbar war. Mit der zu erarbeitenden und zu implementierenden Systemlösung hatte der erörterte Leasingvertrag ein Leasingobjekt zum Gegenstand, das eine gegenüber dem Standardvertrag grundlegend abweichende Zuweisung der Projektrisiken und eine abweichende Interessenlage der Parteien zur Folge hat. Die bisherige Rechtsprechung – Leasingvertragsrecht ist Richterrecht – reflektiert den überkommenden Standard-Leasingvertrag. Das für diesen entwickelte rechtliche Gerüst kann die Fortentwicklung der Leasingpraxis, die im Projektleasing zum Ausdruck kommt, nicht erfassen. Von der grundsätzlich mietrechtlichen Ausrichtung des Leasingvertragsrechts abzurücken, besteht jedoch kein Anlass. Die Rechtsnatur des Leasingvertrages als gemischter Vertrag ermöglicht es, auch unterschiedlichen Gestaltungen des Finanzierungselements gerecht zu werden. Den in einer anderen – hier nicht behandelten – Vertragsklausel vorgesehenen Anspruch des Leasinggebers auf Erstattung der Vorfinanzierungskosten, falls die Herstellung des Leasingobjekts scheitern sollte, hat der BGH194 nicht nur auf der Grundlage seiner zu I. dargestellten Auslegung des Vertrags, sondern grundsätzlich verworfen195. Aufgrund des Ergebnisses, dass bei dem vom BGH entschiedenen Fall des Projektleasing der Herstellungsprozess nicht vom Leistungsversprechen des Leasinggebers umfasst wird, wäre das neu zu bedenken. Wenn der Leasinggeber die Herstellung des EDV-Projekts nicht schuldet, kann es jedenfalls nicht von vorneherein gegen seine Pflicht zur Gebrauchsüberlassung verstoßen, das Vorfinanzierungsrisiko vom Leasingnehmer tragen zu lassen.

__________ 194 NJW 2009, 575, 577 f. 195 Zustimmend Graf von Westphalen (Fn. 17), Kap. H Rz. 256 m. w. N.; ders., BB 2009, 239 f.; Koch, LMK 2009, 273510; a. A. Habersack, WM 2008, 809, 812.

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I. II. III. IV. V. VI.

Kommentare, Handbücher und weitere Schriften . . . . . . . . . . . . . . . Skripte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mitherausgeberschaft von Festschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beiträge in Festschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufsätze in Zeitschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Urteilsanmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Kommentare, Handbücher und weitere Schriften 1. Gefahren des Anarchismus, Köln 1971 2. Wird die Justiz unterwandert? Der Ruf nach dem politischen Richter, Zürich 1975 3. Gründe und Hintergründe wachsender Staatsverdrossenheit, Würzburg 1977 4. Eurokommunisten – Wölfe im Schafspelz?, Köln 1978 5. Diskussion um die Grundwerte: Krisensymptom oder Trendwende, Köln 1979 6. Löwe/Graf von Westphalen/Trinkner, AGB-Gesetz, Großkommentar; Bd. 2, 2. Auflage, Heidelberg 1983; Bd. 3, Heidelberg 1985 7. Gemeinwohl in der freiheitlichen Demokratie, Bonn 1986 8. Rechtsprobleme der Exportfinanzierung, 3. Auflage, Heidelberg 1987 9. Graf von Westphalen (Hrsg.), Handbuch des Kaufvertragsrechts in den EGStaaten, einschl. Österreich, Schweiz und UN-Kaufrecht, Köln 1992 10. Müller-Hengstenberg/Graf von Westphalen, DV-Projektrecht, Berlin 1994 11. Graf von Westphalen (Hrsg.), Handbuch des Handelsvertreterrechts in EUStaaten und der Schweiz, Köln 1995 12. Bauer/Graf von Westphalen, Das Recht zur Qualität, Berlin 1996 13. Graf von Westphalen/Emmerich/von Rottenburg, Kommentar zum Verbraucherkreditgesetz, 2. Auflage, Köln 1996 14. Graf von Westphalen (Hrsg.), Produkthaftungshandbuch, 2. Auflage, München 1997 und 1999 15. Graf von Westphalen/Langheid/Streitz, Der Jahr 2000-Fehler, Köln 1999

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16. Graf von Westphalen/Grote/Pohle, Der Telefondienstvertrag, Heidelberg 2001 17. Henssler/Graf von Westphalen (Hrsg.), Praxis der Schuldrechtsreform, 2. Auflage, Recklinghausen 2003 18. Henssler/Streck (Hrsg.), Handbuch Sozietätsrecht, Köln 2004, Bearbeitung: Internationale Sozietäten 19. Graf von Westphalen/Meier-Göring, Neues Schuldrecht – Streit- und Zweifelsfragen – Lösungsvorschläge, Köln 2004 20. Graf von Westphalen/Jud, Die Bankgarantie im internationalen Handelsverkehr, 3. Auflage, Frankfurt 2005 21. Meilicke/Graf von Westphalen/Hoffmann/Wolf, Partnerschaftsgesellschaftsgesetz, 2. Auflage, München 2006 22. Schneider/Graf von Westphalen (Hrsg.), Software-Erstellungsverträge, Köln 2006 23. Muster für Leasingverträge, 2. Auflage, Frankfurt 2006 24. Wurm/Wagner/Zartmann, Das Rechtsformularbuch, 15. Auflage., Köln 2007, Bearbeitung: Leasing, Factoring, Forfaitierung, Software-Überlassungsverträge 25. Allgemeine Verkaufsbedingungen nach neuem Recht, 6. Auflage, München 2007 26. Hopt (Hrsg.), Vertrags- und Formularbuch zum Handels- Gesellschafts- und Bankrecht, 3. Auflage, München 2007, Bearbeitung: Handelsstand, (Handelskauf – mit Anlagengeschäft und Patentlizenzvertrag/Kommissionsgeschäft) 27. Röhricht/Graf von Westphalen (Hrsg.), Kommentar zum HGB, 3. Auflage, Köln 2008 28. Graf von Westphalen (Hrsg.), Der Leasingvertrag, 6. Auflage, Köln 2008 29. Erman, BGB, 12. Auflage, Köln 2008, Bearbeitung: Leihe, Gastwirtshaftung und Überweisungsvertrag 30. Münchener Vertragshandbuch, Band 2 Wirtschaftsrecht I, 6. Auflage, München 2008, Bearbeitung: Kreditsicherungen – Bankrecht (Formulare 1–13) 31. Münchener Vertragshandbuch, Band 3 Wirtschaftsrecht II, 6. Auflage, München 2009, Bearbeitung: Qualitätssicherungsvereinbarungen 32. Allgemeine Einkaufsbedingungen, 5. Auflage, München 2009 33. Kauf- und Werkvertrag, Sondervertriebsformen, 3. Auflage, Berlin 2009 34. Graf von Westphalen, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, 26. Auflage, München 2010

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II. Skripte 1. Ausgewählte Fragen zum Leasing-Vertrag, RWS-Skript 116, 2. Auflage, Köln 1983 2. AGB für Rechtsanwälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer, RWS-Skript 147, Köln 1984 3. H.-J. Lwowski/Graf von Westphalen, Leasing – insbesondere Fragen der regresslosen Finanzierung, WM-Skript, Frankfurt 1985 4. Recht und Praxis der Einkaufs- und Verkaufsbedingungen, RWS-Skript 145, Köln 1985 5. J. Schröter/Graf von Westphalen, Sicherheiten-Poolverträge der Banken und Warenlieferanten, WM-Skript, Frankfurt 1986 6. Graf von Westphalen/UlrichSeidel, Aktuelle Rechtsfragen der Software-Vertrags- und Rechtspraxis, RWS-Skript 185, 2. Auflage, Köln 1989 7. Graf von Westphalen/Carl Otto Bauer, Just-in-Time-Lieferungen und Qualitätssicherungen, RWS-Skript 264, Köln 1993 8. Arbeitsgemeinschaft Internationaler Rechtsverkehr (DAV), Deutsches Recht im Wettbewerb, 20 Jahre transnationaler Dialog, Schutz des Schwächeren im CFR und AGB-Recht, Wiesbaden 2009, S. 127

III. Mitherausgeberschaft von Festschriften 1. Festschrift für Reinhold Trinkner – Lebendiges Recht – von den Sumerern bis zur Gegenwart, herausgegeben von Graf von Westphalen und Otto Sandrock, Heidelberg 1995 2. Festschrift für Gerhart Kreft – Verschuldung – Haftung – Vollstreckung – Insolvenz, herausgegeben von Haarmeyer/Hirte/Kirchhof/Graf von Westphalen, Recklinghausen 2004 3. Festschrift für Jürgen Gündisch – Beiträge zum deutschen und europäischen Recht, herausgegeben von Lenz/Thieme/Graf von Westphalen, Köln 1999

IV. Beiträge in Festschriften 1. FS 40 Der Betrieb – Qualitätssicherungsvereinbarungen: Rechtsprobleme des „Just-in-Time-Delivery“, Stuttgart 1988, S. 223 2. FS für Felix – Betriebsaufspaltung und Produzentenhaftung, Köln 1989, S. 559 3. FS für Locher – Subunternehmerverträge bei internationalen Bauverträgen – Unangemessenheitskriterium nach § 9 AGB-Gesetz, Düsseldorf 1990, S. 375 4. FS für Trinkner – Der abhandengekommene Nutzen von AGB-Klauseln, Heidelberg 1995, S. 441 803

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5. FS für Gündisch – Vertragshändlerverträge außerhalb der EG-VO 1475/95 und das Instrumentarium der richterlichen Inhaltskontrolle von AGBKlauseln, Köln 1999, S. 71 6. FS für Sandrock – Die international-rechtliche Dimension der „Weiterfresser“-Schäden, Heidelberg 2000, S. 1031 7. FS für Geimer – Einige international-rechtliche Aspekte bei grenzüberschreitender Tätigkeit von Anwälten, München 2002, S. 1485 8. FS für Kreft – Kollision von Einkaufs- und Verkaufs-AGB – Ein Irrweg des BGH, Recklinghausen 2004, S. 97 9. FS für Schlosser – Dauerschuldverhältnisse – Wirksamkeit von Änderungsklauseln zugunsten des AGB-Verwenders, Tübingen 2005, S. 1103 10. FS für Röhricht – Unternehmenskauf-Garantie gemäß § 444 BSB – Kein Ende der Diskussion?, Köln 2005, S. 675 11. FS für Horn – Einkaufs AGB – Eine kritische Analyse der BGH-Judikatur, Berlin 2006, S. 159 12. FS für Thume – Änderungsvorbehalte und Freizeichnungsklauseln in Vertragshändlerverträgen – Eine Bestandsaufnahme, Frankfurt 2008, S. 57 13. FS für Westermann – Preisänderungsklauseln gegenüber Verbrauchern – grenzenlose Aporie in der Praxis, Köln 2008, S. 707 14. FS für Krämer – Renaissance der Religion im Fadenkreuz der Säkularisierung, Berlin 2009, S. 737 15. FS 20 Jahre ZAP – Wirksamkeitsgrenzen von Haftungsfreizeichnungs- und Haftungsbegrenzungsklauseln, Münster 2009, S. 86

V. Aufsätze in Zeitschriften 1. Zur Produzentenhaftung im amerikanischen Recht, BB 1968, 1020 2. Das Fragwürdige der Strafrechtsreform (I), Die neue Ordnung 1969, 418 3. Zur „Reform“ des Eherechts?, Die neue Ordnung 1969, 472 4. Das Fragwürdige der Strafrechtsreform (II), Die neue Ordnung 1970, 21 5. Zur Reform des Ehescheidungsrechts, Die neue Ordnung 1970, 161 6. Soll Abtreibung straffrei sein?, Die neue Ordnung 1970, 435 7. Neue Gesichtspunkte für die Produzentenhaftung, BB 1971, 152 8. Rechtsprobleme des Anlagenvertrages, BB 1971, 1126 9. Drohende Politisierung des Rechts, Die neue Ordnung 1971, 161 10. Welcher Weg für die Reform des 218?, Die neue Ordnung 1971, 443 11. Zur Frage der Haftung des Verkäufers beim Fehlen einer stillschweigend zugesicherten Eigenschaft, BB 1972, 1069

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12. Achtung bei Überlassung gefährlicher Chemikalien, BB 1973, 446 13. Beweislast bei der Produzentenhaftung, BB 1973, 1372 14. Die Produkthaftpflichtversicherung des HUK-Modells, BB 1974, 625 15. Haftung aus culpa in contrahendo nach Rücktritt von Werkvertrag, BB 1975, 1316 16. Anwendung der Grundsätze über die Beweislastumkehr auf verantwortliche Geschäftsleiter, BB 1975, 1031 17. Beweislastumkehr bei der Produzentenhaftung, BB 1976, 313 18. Abgrenzung von Individualvertrag und Vertrag aufgrund Allgemeiner Geschäftsbedingungen, BB 1976, 1287 19. Verjährung bei Zusammentreffen von Sachmängel- und Deliktsanspruch, BB 1976, 1097 20. Kollision von Einkaufs- und Verkaufsbedingungen beim Vertragsabschluss, DB 1976, 1317 21. Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen für Anzeigen in Zeitungen und Zeitschriften im Lichte des Neuen AGB-Gesetzes, BB 1977, 423 22. Grenzziehung zwischen Allgemeinen Geschäftsbedingungen und Individualvereinbarungen, DB 1977, 943 23. Eigentumsvorbehaltsklauseln unter dem Blickwinkel des AGB-Gesetzes, DB 1977, 1637 1685 24. Eigentumsvorbehalt und AGB-Gesetz, BB 1978, 281 25. Kollision zwischen verlängertem Eigentumsvorbehalt und Bankenglobalzession – Lösungsversuche aufgrund des AGB-Gesetzes, DB 1978, 68 26. Eigenschaftszusicherungen, Haftungsbegrenzungen und Haftungsfreizeichnungen in Kaufmännischen AGB-Klauseln, DB 1978, 2061 27. International-Privatrechtliche Probleme und AGB-Gesetz, WM 1978, 1310 28. US-amerikanische Produzentenhaftung – Ein Risikofaktor für den deutschen Exporteur, WM 1979, 542 29. Garantie- und Gewährleistungsvergütungen im Verhältnis zwischen Hersteller-Handel-Endkunde, NJW 1980, 2227 30. Die Einheitlichen Richtlinien und Gebräuche für Dokumenten-Akkreditive (1974) und die Einheitlichen Richtlinien für Inkassi im Licht des AGBGesetzes, WM 1980, 178 31. Das Insolvenzrisiko des Lieferanten beim Finanzierungs-Leasing, WM 1980, 942 32. Die AGB der Privatbanken im Lichte der jüngsten Judikatur und Literatur, WM 1980, 1406 33. Schattenseiten des Verbraucherschutzes, DB 1981, 61

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34. Die Analoge Anwendbarkeit des § 89b HGB auf Vertragshändlerverträge der Kfz-Branche, DB Beilage Nr. 12/1981 35. Neue Tendenzen bei Bankgarantien im Außenhandel?, WM 1981, 294 36. Rückstellungen wegen gestiegener Risiken aus der Produzentenhaftung, WM 1981, 1154 37. Allgemeine Deutsche Spediteurbedingungen und AGB-Gesetze, ZIP 1981, 119 38. Bilanzrechtliche Bewertung von HERMES – gesicherte Auslandsforderungen, BB 1982, 711 39. Leitlinien und Tendenzen der BGH-Judikatur zum Leasingvertrag, DB Beilage Nr. 6/1982 40. Einkaufsbedingungen der Automobil-Hersteller und das AGB-Gesetz, DB 1982, 1655 41. Das Dispositionsrecht des Prinzips im Vertragshändlervertrag, NJW 1982, 2465 42. Die Abschichtungsbilanz beim Ausscheiden des Gesellschafters aus einer BGB-Gesellschaft, BB 1983, 1894 43. Richterliche Inhaltskontrolle von Standardklauseln bei einer PublikumsKG und der Prospekthaftung, DB 1983, 2745 44. Auf dem Weg zum gläsernen Bürger? Das Volkszählungsgesetz 1982, Die neue Ordnung 1983, 136 45. Die Wirksamkeitsgrenzen von Haftungsfreizeichnungs- und Haftungsbegrenzungsklauseln bei leichter Fahrlässigkeit gemäß § 9 AGB-Gesetz, WM 1983, 974 46. Finanzierter Abzahlungskauf von § 9 AGBG, WM 1983, 1230 47. Die Neue BGH-Judikatur zum Teilamortisations-Leasing-Vertrag: Ergebnisse – Schlussfolgerungen, ZIP 1983, 1021 48. Die Rechtliche Qualifikation des Lieferanten des Leasingguts beim Finanzierungsleasing, BB 1984, 2093 49. Leasing-AGB markengebundener Kfz-Unternehmen. Erörterung der Zulässigkeit einzelner Klauseln, DAR 1984, 337 50. Wohnraummiete und AGB-Gesetz, DB Beilage Nr. 8/1984 51. Handelsvertreterrecht und AGB-Gesetz, DB 1984, 2335; 2392 52. Die analoge Anwendbarkeit von § 89b HGB auf Vertragshändler unter besonderer Berücksichtigung spezifischer Gestaltung der Kfz-Branche, DB Beilage Nr. 24/1984 53. Gute Sitten und schlechte Beispiele. Die Meinungsfreiheit der Dritten Gewalt – Die neue Ordnung 1984, 66 54. Die Banken-AGB in Rechtsprechung und Literatur – Eine Übersicht, WM 1984, 2 806

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55. Bürgschaftsformular im Licht des AGB-Gesetzes, WM 1984, 1589 56. Grundschulddarlehen – Kontrollkriterien des AGBG, ZIP 1984, 1 57. Einkaufsbedingungen und AGB-Gesetz, ZIP 1984, 529 58. Klauseln des verlängerten und erweiterten Eigentumsvorbehalts – § 9 AGBGesetz: Inhalt und Grenzen, DB 1985, 425; 475 59. Finanzierungsleasing als Umgehungsgeschäft gemäß § 6 AbzG, DB 1985, 584 60. Lebensunwertes Leben? Der Staat hat keine Legitimation zum Töten, Die neue Ordnung 1985, 129 61. VOB – Vertrag und AGB-Gesetz, ZfBR 1985, 252 62. Die Last der Fiktion – § 1 § 3 Abs. 1 BRAO, ZIP 1985, 195 63. Die Neuesten BGH-Entscheidungen zum Finanzierungsleasing – Konsequenzen für die Praxis, ZIP 1985, 1033 64. Der „Rechtlich nicht Vorgebildete“ Durchschnittskunde, ZIP 1985, 1103 65. Leistungsfähigkeit und Leistungswilligkeit des Lieferanten – Risiko des Leasinggebers, ZIP 1985, 1436 66. Gewährleistung beim Finanzierungs-Leasing – Geklärte und offene Fragen, BB Beilage Nr. 3/1986 67. Die Produkthaftung oder Produzentenhaftung?, ZIP 1986, 139 68. The victis – Der Schrecken der Schiedsgerichtsbarkeit, ZIP 1986, 1159 69. Die Neufassung der HERMES-Bedingungen, ZIP 1986, 1497 70. Notwendiges Umdenken bei Poolverträgen, BB 1987, 1186 71. Die Allgemeine Verkehrssicherungspflicht und die Beleuchtungspflicht auf öffentlichen Straßen, DB Beilage Nr. 11/1987 72. Gespaltenes Bewusstsein. Der Bericht der Enquete-Kommission zur Gentechnologie, Die neue Ordnung 1987, 215 73. Der Mandant als Feind des Anwalts, ZIP 1987, 275 74. Wirksamkeit des einfachen Eignungsvorbehalts bei Kollision von Abwehrklauseln in Einkaufs-AGB und Verkaufs-AGB?, ZIP 1987, 1361 75. Leasing und Konkurs, BB 1988, 218 76. Rechtliche Qualifizierung des Leasing: Steuer- und Kreditrichtlinie, Kreditrechtliche Fußnoten, BB 1988, 1829 77. PKW-Leasing – Kaskoversicherung: Ein Beitrag zu einem kontroversen Thema, DAR 1988, 37 78. Der Ausgleichsanspruch des Vertragshändlers in der Kfz-Branche gemäß § 89b HGB unter Berücksichtigung der Neuesten BGH-Judikatur, DB Beilage Nr. 8/1988 79. Zur Verfassungswidrigkeit des anwaltlichen Werbeverbots, ZIP 1988, 1 807

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80. Einsatz von optischen Speicherplatten in der Buchführung, DB 1989, 742 81. Rechtsprobleme des „Just-in-Time-Delivery“, CR 1990, 567 82. UN-Kaufrecht – Haftungsfreizeichnung im kaufmännischen Verkehr: Wertungskriterien gemäß § 9 AGBG, EWS 1990, 105 83. Embargo und die Inanspruchnahme von Bankgarantien, EWS 1990, 205 84. Das neue Produkthaftungsgesetz, NJW 1990, 83 85. Die Haftung des Leasinggebers beim sale-and-lease-back, BB 1991, 149 86. Leasing und Produkthaftung, BB Beilage Nr. 11/1991, 6 87. Die Rechtsprechung des BGH zum Leasingvertrag als Umgehungsgeschäft gemäß § 6 AbzG, WM 1991, 529 88. Leasing als „sonstige Finanzierungshilfe“ gemäß § 1 Abs. 2 VerbrKrG, ZIP 1991, 639 89. Die neuen einheitlichen Richtlinien für „Demand Guarantees“, DB 1992, 2017 90. Grenzüberschreitendes Finanzierungsleasing, RiW 1992, 257 91. Ausgewählte Fragen zur Interpretation der Einheitlichen Richtlinien für auf Anfordern zahlbare Garantien, RiW 1992, 961 92. Das Milupa-Urteil – eine beträchtliche Verschärfung der Produkthaftung, ZIP 1992, 18 93. Das Kondensator-Urteil des BGH – Mangelbeseitigungsaufwendungen und Versicherungsschutz, ZIP 1992, 532 94. Die neuen Sparkassen-AGB unter der Lupe des AGB-Gesetzes, BB 1993, 8 95. Qualitätssicherungsvereinbarungen, CR 1993, 65 96. Leasing: Die vernachlässigte Bedeutung des Einkaufsvertrages, DB 1993, 921 97. Die Handlungsvollmacht – Erteilung, Umfang, Missbrauch und Erlöschen, DStR 1993, 1562 98. Die Prokura – Erteilung, Umfang, Missbrauch und Erlöschen, DStR 1993, 1186 99. Das Haward-Verhandlungsskript für erfolgreiche Juristen, MDR 1993, 946 100. Finanzierungsleasing – Der richtlinienwidrige Ausnahmetatbestand von § 3 II Nr. 1, NJW 1993, 3225 101. Verbraucherkreditgesetz und Gemeinschaftsrecht, ZIP 1993, 93 102. Zusammenhang zwischen der Prospekthaftung und der Haftung aus der individuellen Anlageberatung, BB 1994, 85 103. Inkasso-AGB – einige Erwägungen zum AGB-Gesetz und zum VerbrKrG, BB 1994, 1721 104. Wandelung – Wegfall der Geschäftsgrundlage, BB Beilage Nr. 6/1994, 11 808

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105. Bankbürgschaft: Das Recht des Stärkeren und seine grundgesetzliche Beschränkung, MDR 1994, 5 106. Taschenkontrolle im Supermarkt und Hausverbot, NJW 1994, 367 107. Fallstricke bei Verträgen und Prozessen mit Auslandsberührung, NJW 1994, 2113 108. AGB-rechtliche Erwägungen zu den neuen Einheitlichen Richtlinien und Gebräuchen für Dokumenten – Akkreditive – Revision 1993, RiW 1994, 453 109. Der Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters gem. § 89b HGB, DStR 1995, 1554 110. Rechtmäßigkeit der Entgelte im Privatkundengeschäft der Banken, WM 1995, 1209 111. Anwaltliche Haftungsbeschränkung im Widerstreit mit der Verbraucherschutzrichtlinie, ZIP 1995, 546 112. 50 Jahre „Betriebs-Berater“ – 50 Jahre Recht im Umbruch, BB 1996, 1 113. Entwicklungen und Perspektiven im Wirtschaftsrecht, BB 1996, Heft 35 (Beilage Nr. 13, 7) 114. Die Novelle zum AGB-Gesetz, BB 1996, 2101 115. Die Nutzlosigkeit von Haftungsfreizeichnungs- und Haftungsbegrenzungsklauseln im kaufmännischen Verkehr, DB 1997, 1805 116. Verbraucherkreditverträge und die Beteiligung Dritter, MDR 1997, 307 117. Leitlinien zur Haftungsbeschränkung in Mandats-AGB, MDR 1997, 989 118. Die Übernahme des notleidenden Leasingvertrags, NJW 1997, 2905 119. Möglichkeiten der Beschränkung und Konzentration der Haftung für Rechtsanwälte, WiB 1997, 1217 120. Seibel/Graf von Westphalen, Prospekthaftung beim Immobilien-Leasing, BB 1998, 169 121. Bürgschaft und Verbraucherkreditgesetz, DB 1998, 295 122. Neue Aspekte in der Produzentenhaftung MDR 1998, 805 123. Kfz-Mietvertrag als Leasing mit Kilometerabrechnung VerbrKrG (operating leasing), NZM 1998, 607 124. Leasing und der Jahr-2000-Fehler, BB 1999, 429 125. Der Jahr-2000-Fehler und die Verteilung der Beweislast, BB Beilage Nr. 10/1999, 9 126. Schadensmanagement durch Versicherer – Rechtliche Grenzen, DAR 1999, 295 127. Warn- und Rückrufaktion bei nicht sicheren Produkten: §§ 8, 9 ProdSG als Schutzgesetz i. S. von § 823 Abs. 2 BGB – Rechtliche und versicherungsrechtliche Konsequenzen, DB 1999, 1369 809

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128. Die Umsetzung der Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie im Blick auf den Regress zwischen Händler und Hersteller, DB 1999, 2553 129. Ausgewählte arbeits- und datenschutzrechtliche Fragen beim „Outsourcing“ im Rahmen von § 25 a II KWG, WM 1999, 1810 130. Scheinselbständigkeiten nach § 2 Nr. 9 SGB VI und der Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters, ZIP 1999, 1083 131. Verspätete Überweisungen – Einige Bemerkungen zur neuen Rechtslage, BB 2000, 157 132. Partnerschaftliche Lieferbeziehungen – Ein Beispielsfall, BB 2000, 1529 133. Der Software-Entwicklungsvertrag – Vertragstyp – Risikobegrenzung, CR 2000, 73 134. Wirtschaftsprüfung – Serienschaden – Haftungsbegrenzung, DB 2000, 861 135. Ausgleichsanspruch des Versicherungsvertreters und Nichtanrechnung einer Alters- und Hinterbliebenenversorgungszusage, DB 2000, 2255 136. Der Fluch der Technik, NJW 2000, 1161 137. Herstellung und Vertrieb neuer Produkte – Produktsicherheit und zivilrechtliche Produzentenhaftung, ZLR 2000, 271 138. Funktionelle Verwandtschaft zwischen Altersversorgung und Ausgleichsanspruch des Versicherungsvertreters? – BGH-Rechtsprechung auf dem Prüfstand, BB 2001, 1593 139. Die Neuregelungen des Entwurfs eines Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes für das Kauf- und Werkvertragsrecht, DB 2001, 799 140. Das Schuldrechtmodernisierungsgesetz und Leasing, DB 2001, 1291 141. Forfaitierungsverträge unter dem Gesichtswinkel des SchuldrechtsModernisierungsgesetzes, WM 2001, 1837 142. Die Auswirkungen der Schuldrechtsreform auf die „Abtretungskonstruktion“ bei Leasing, ZIP 2001, 2258 143. Nach der Schuldrechtsreform: Neue Grenzen für Haftungsfreizeichnungsund Haftungsbegrenzungsklauseln, BB 2002, 209 144. AGB – Recht ins BGB – Eine erste Bestandsaufnahme, NJW 2002, 12 145. Die Entwicklung des AGB-Rechts im Jahr 2001, NJW 2002, 1688 146. Änderungsbedarf in der Haftpflichtversicherung (AHB) auf Grund des Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts?, NVersZ 2002, 241 147. Mietrecht und Schuldrechtsreform, NZM 2002, 368 148. Kettengarantie und kein Ende?, ZGS 2002, 19 149. Schuldrechtsreform und die Verwendung „alter“ Lieferanten-AGB bei Leasingverträgen, ZGS 2002, 64 150. Options- und Andienungsrechte in Leasingverträgen mit Verbrauchern, ZGS 2002, 89 810

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151. Beschaffungsrisiko – Vertretenmüssen – Haftung des Verkäufers auf Schadensersatz, ZGS 2002, 154 152. Einige Anmerkungen zu den AGB für den Verkauf von fabrikneuen und gebrauchten Kraftfahrzeugen, ZGS 2002, 214 153. Einige Überlegungen zum Gesetzesentwurf zur Verhinderung von Diskriminierungen im Zivilrecht, ZGS 2002, 283 154. Freizeichnungsverbote in AGB-Klauseln – Altes und Neues, ZGS 2002, 392 155. Neues Recht für Dauerschuldverhältnisse ab 1. Januar 2003, ZGS 2002, 431 156. Garantien bei Lieferung von Maschinen und Anlagen – Todesstoß für Haftungsbegrenzungen durch §§ 444, 639 BGB, ZIP 2002, 545 157. Fragmentarisches zur Ethik anwaltlichen Handelns, AnwBl 2003, 125 158. Vom Bild des Menschen im Recht, AnwBl 2003, 665 159. Ist das rechtliche Schicksal der auf „erstes Anfordern“ zahlbar gestellten Bankgarantie besiegelt?, BB 2003, 116 160. Die Provisionsverzichtsklausel im Spannungsverhältnis zum Ausgleichsanspruch des Versicherungsvertreters, DB 2003, 2319 161. AGB-Recht im Jahr 2002 – Allgemeiner Teil, Transparenzangebot, Generalklausel, NJW 2003, 1635 162. AGB-Recht im Jahr 2002 – Besonderer Teil: Einzelne Vertragstypen, NJW 2003, 1981 163. Vertragliche Risikobegrenzung – Fehlanzeige?, ZGS 2003, 107 164. Die Grenzen des Wortgebrauchs, die Wahrhaftigkeit und das Recht, AnwBl 2004, 665 165. Rechtsprechungsübersicht zum Leasingrecht 2002 – 2004, BB 2004, 2025 166. AGB-Recht im Jahr 2004, NJW 2004, 1993 167. Das Verbot von Nr. 1b des Anhangs zur EG-Klausel-Richtlinie 93/13/ EWG, ZGS 2004, 467 168. Unwirksamkeit der Bürgschaft auf erstes Anfordern – Wirksamkeit der Bankgarantie?, ZIP 2004, 1433 169. Wieviel Einheitlichkeit braucht das Recht?, AnwBl 2005, 21 170. Einige Bemerkungen zu Akquisitionserfolgen und Manieren, AnwBl 2005, 306 171. Drei Jahre Schuldrechtsreform – Versuch einer (vorläufigen) Bilanz, BB 2005, 1 172. D&O – Versicherung und Direktanspruch der Gesellschaft gegenüber der Versicherung?, DB 2005, 431 173. AGB-Recht im Jahr 2004, NJW 2005, 1987 174. Der Holzweg des Gesetzgebers, ZGS 2005, 173 811

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175. Ein spät entdeckter Irrtum des Gesetzgebers?, ZIP 2005, 51 176. Recht und Macht – ein Zwischenruf, AnwBl 2006, 257 177. Leistungsstörungen beim Autoleasing, DAR 2006, 620 178. AGB-Recht im Jahr 2005, NJW 2006, 2228 179. Ausgewählte neuere Entwicklungen in der D&O-Versicherung, VersR 2006, 17 180. Zwingendes Recht v. Vertragsfreiheit, ZGS 2006, 81 181. Auswirkungen der Schuldrechtsreform auf das Leasingrecht, ZIP 2006, 1653 182. AGB-Recht im Jahr 2006, NJW 2007, 2228 183. Ersatzlieferung im Rahmen eines Leasingvertrages, ZGS 2007, 219 184. Die angemessene Vergütung nach § 32 II S. 2 UrhG und die richterliche Inhaltskontrolle, AfP 2008, 21 185. Auslegung von Gesetzen: Vom nationalen zum europäischen Privatrecht, AnwBl 2008, 1 186. Gratwanderung zwischen Sicherheit und Freiheit, AnwBl 2008, 801 187. Das „neue“ Kaufrecht – Bilanz gelöster und teilweise ungelöster Fragen, BB 2008, 2 188. Die besondere Bedeutung dieses Urteils liegt in seiner dogmatischen Begründung, BB 2008, BB-Kommentar, 1589 189. AGB-Recht im Jahr 2007, NJW 2008, 2234 190. Einige Überlegungen zu neuralgischen AGB-Klauseln in Pferdekaufverträgen, ZGS 2008, 135 191. Preisanpassungsklauseln in Energielieferungsverträgen mit Normsonderkunden, ZIP 2008, 669 192. Unwirksame Rücktrittsklausel in AGB-Leasingvertrag über Branchensoftware, Anm. zu BGH Urteil v. 29.11.2208, BB 2009, 236 193. Unternehmerbegriff bei Verbraucherdarlehen, Anm. zu BGH Urteil v. 9.12.2008, BB 2009, 738 194. Unwirksame Entgelt- und Zinsanpassungsklausel, Anm. zu BGH Urteil v. 21.4.2009, BB 2009, 1436 195. AGB-Recht im Jahr 2008, NJW 2009, 2355 196. Wider einen Reformbedarf beim AGB-Recht im Unternehmerverkehr, NJW 2009, 2977 197. Zur Unwirksamkeit von (leasingtypischen) Rückkaufverpflichtungen unter besonderer Berücksichtigung der Kfz-Branche, BB 2009, 2378 198. Wirksamkeitsgrenzen von Haftungsfreizeichnungs- und Haftungsbegrenzungsklauseln, AD LEGENDUM 2010, 77 812

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VI. Urteilsanmerkungen 1. Anm. zu BGH v. 11.10.1984 – VII ZR 248/83, EWiR § 11 Nr. 2a AGBG 1/85, S. 13 2. Anm. zu BGH v. 16.10.1984 – VI ZR 304/02, EWiR § 675 BGB 1/85, S. 79 3. Anm. zu BGH v. 26.11.1984 – VIII ZR 188/83, EWiR § 321 BGB 1/85, S. 57 4. Anm. zu BGH v. 26.11.1984 – VIII ZR 214/83, EWiR § 9 II Nr. 2 AGBG 1/85, S. 11 5. Anm. zu BGH v. 26.11.1984 – VIII ZR 214/83, EWiR § 315 BGB 1/85, S. 55 6. Anm. zu BGH v. 5.12.1984 – VIII ZR 87/83, EWiR § 537 BGB 2/85, S. 73 7. Anm. zu BGH v. 5.12.1984 – VIII ZR 277/83, EWiR § 537 BGB 1/85, S. 71 8. Anm. zu BGH v. 20.12.1984 – VII ZR 340/83, EWiR § 633 BGB 1/85, S. 77 9. Anm. zu BGH v. 15.1.1985 – VI ZR 65/83, EWiR § 675 BGB 5/85, S. 759 10. Anm. zu BGH v. 6.2.1985 – I ZR 175/82, EWiR § 89b HGB 2/85, S. 491 11. Anm. zu BGH v. 27.2.1985 – VIII ZR 328/83, EWiR § 537 BGB 3/85, S. 273 12. Anm. zu BGH v. 12.3.1985 – VI ZR 182/83, EWiR § 11 Nr. 7 AGBG 1/85, S. 237 13. Anm. zu BGH v. 20.3.1985 – IVa ZR 223/83, EWiR § 652 BGB 3/85, S. 383 14. Anm. zu BGH v. 20.3.1985 – VIII ZR 342/83, EWiR § 9 AGBG 8/85, S. 523 15. Anm. zu BGH v. 27.3.1985 – VIII ZR 75/84, EWiR § 377 HGB 1/85, S. 497 16. Anm. zu BGH v. 24.4.1985 – VIII ZR 31/84, EWiR § 6 AbzG 4/85, S. 421 17. Anm. zu BGH v. 24.4.1985 – VIII ZR 73/84, EWiR § 6 ABzG 3/85, S. 321 18. Anm. zu BGH v. 24.4.1985 – VIII ZR 95/84, EWiR § 6 AbzG 2/85, S. 221 19. Anm. zu BGH v. 12.6.1985 – IVa ZR 261/83, EWiR § 133 BGB 1/85, S. 639 20. Anm. zu BGH v. 12.6.1985 – VIII ZR 184/84, EWiR § 535 BGB 6/85, S. 553 21. Anm. zu BGH v. 12.6.1985 – VIII ZR 176/84, EWiR § 459 BGB 3/85, S. 653 22. Anm. zu BGH v. 3.7.1985 – VIII ZR 128/84, EWiR § 536 BGB 1/85, S. 657 23. Anm. zu BGH v. 4.7.1985 – IX ZR 135/84, EWiR § 765 BGB 3/85, S. 667 24. Anm. zu BGH v. 11.7.1985 – IX ZR 11/85, EWiR § 305 BGB 1/85, S. 645 25. Anm. zu BGH v. 9.10.1985 – VIII ZR 217/84, EWiR § 9 AGBG 14/85, S. 923 26. Anm. zu OLG KG v. 3.12.1984 – 12 U 1397/84, EWiR § 134 BGB 4/85, S. 451 27. Anm. zu OLG Düsseldorf v. 20.6.1985 – 18 U 29/85, EWiR § 675 BGB 7/85, S. 865 28. Anm. zu OLG Frankfurt v. 22.1.1985 – 5 U 86/84, EWiR § 542 BGB 1/85, S. 465

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29. Anm. zu OLG Frankfurt v. 21.5.1985 – 5 U 206/84, EWiR § 9 II AGBG 2/85, S. 625 30. Anm. zu OLG Hamburg v. 24.1.1985 – 4 U 384/83, EWiR § 535 BGB, 1/85, S. 143 31. Anm. zu OLG Hamburg v. 21.2.1985 – 4 U 157/94, EWiR § 535 BGB 2/85, S. 145 32. Anm. zu OLG Stuttgart v. 12.6.1985 – 4 U 25/85, EWiR § 459 BGB 4/85, S. 847 33. Anm. zu LG Frankfurt v. 28.1.1985 – 2/24 S 103/84, EWiR § 123 II BGB 1/85, S. 249 34. Anm. zu LG Frankfurt v. 6.5.1985 – 2/24 S 319/84, EWiR § 535 BGB 7/85, S. 749 35. Anm. zu LG Köln v. 19.6.1985 – 26 O 409/84, EWiR § 13 AGBG 1/85, S. 723 36. Anm. zu AG Marbach v. 31.1.1985 – 1 C 614/84, EWiR § 558 BGB 2/85, S. 557 37. Anm. zu BGH v. 6.11.1985 – IVa ZR 96/84, EWiR § 9 AGBG 2/86, S. 3 38. Anm. zu BGH v. 14.11.1985 – III ZR 80/84, EWiR § 305 BGB 1/86, S. 129 39. Anm. zu BGH v. 27.11.1985 – VIII ZR 316/84, EWiR § 123 BGB 1/86, S. 237 40. Anm. zu BGH v. 8.1.1986 – VIII ZR 313/84, EWiR § 558 BGB 1/86, S. 349 41. Anm. zu BGH v. 29.1.1986 – VIII ZR 49/85, EWiR § 6 AbzG 1/86, S. 315 42. Anm. zu BGH v. 19.2.1986 – VIII ZR 91/85, EWiR § 537 BGB 2/86, S. 559 43. Anm. zu BGH v. 19.3.1986 – VIII ZR 81/85, EWiR § 535 BGB 1/86, S. 459 44. Anm. zu BGH v. 16.4.1986 – VIII ZR 79/85, EWiR § 1c AbzG 2/86, S. 529 45. Anm. zu BGH v. 26.5.1986 – VIII ZR 218/85, EWiR § 9 AGBG 16/86, S. 745 46. Anm. zu BGH v. 18.6.1986 – VIII ZR 137/85, EWiR § 2 AGBG 2/86, S. 743 47. Anm. zu BGH v. 24.6.1986 – VI ZR 302/85, EWiR § 1a AbzG 1/86, S. 945 48. Anm. zu BGH v. 10.7.1986 – III ZR 19/85, EWiR § 9 AGBG 17/86, S. 843 49. Anm. zu BGH v. 18.9.1986 – IX ZR 204/85, EWiR § 51 BRAO 1/86, S. 1103 50. Anm. zu BGH v. 15.10.1986 – VIII ZR 319/85, EWiR § 9 AGBG 22/86, S. 1159 51. Anm. zu OLG Frankfurt v. 14.5.1985 – 5 U 210/84, EWiR § 9 AGBG 7/86, S. 321 52. Anm. zu OLG Frankfurt v. 19.12.1985 – 16 U 134/84, EWiR § 19 BNotO 1/86, S. 149 53. Anm. zu OLG Frankfurt v. 22.9.1986 – 17 U 163/84, EWiR § 535 BGB 4/86, S. 1177 814

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54. Anm. zu OLG Hamburg v. 2.7.1986 – 5 U 27/87, EWiR § 11 Nr. 12 AGBG 1/86, S. 953 55. Anm. zu OLG Hamm v. 22.10.1985 – 7 U 52/85, EWiR § 9 AGBG 4/86, S. 215 56. Anm. zu OLG Hamm v. 25.4.1986 – 20 U 265/85, EWiR § 10 Nr. 4 AGBG 1/86, S. 639 57. Anm. zu OLG Karlsruhe v. 24.10.1985 – 9 U 73/95, EWiR § 249 BGB 1/86, S. 29 58. Anm. zu OLG Karlsruhe v. 23.4.1986 – 6 U 139/84, EWiR § 3 AGBG 1/86, S. 637 59. Anm. zu OLG Koblenz v. 24.7.1986 – 6 U 677/85, EWiR § 24 AGBG 1/86, S. 849 60. Anm. zu LG Gießen v. 11.4.1986 – 2 O 498/85, EWiR § 569 BGB 1/86, S. 1087 61. Anm. zu BGH v. 26.11.1986 – VIII ZR 354/85, EWiR § 6 AbzG 1/87, S. 1 62. Anm. zu BGH v. 4.12.1986 – III ZR 51/85, EWiR § 177 BRAO 1/87, S. 783 63. Anm. zu BGH v. 11.12.1986 – III ZR 268/85 –, EWiR § 286 BGB 1/87, S. 351 64. Anm. zu BGH v. 17.12.1986 – VIII ZR 279/85, EWiR § 537 BGB 3/87, S. 555 65. Anm. zu BGH v. 11.2.1987 – VIII ZR 27/86, EWiR § 1 UStG 1/87, S. 397 66. Anm. zu BGH v. 11.3.1987 – VIII ZR 215/86, EWiR § 6 AbzG 2/87, S. 413 67. Anm. zu BGH v. 25.3.1987 – VIII ZR 43/86, EWiR § 139 BGB 1/87, S. 653 68. Anm. zu BGH v. 1.7.1987 – VIII ZR 117/86, EWiR § 542 BGB 1/87, S. 1075 69. Anm. zu BGH v. 1.7.1987 – X ZR 38/86, EWiR § 9 AGBG 14/87, S. 943 70. Anm. zu BGH v. 30.9.1987 – VIII ZR 226/86, EWiR § 9 AGBG 18/87, S. 1151 71. Anm. zu OLG Frankfurt v. 14.10.1986 – 5 U 10/86, EWiR § 4 AGBG 1/87, S. 3 72. Anm. zu OLG Hamburg v. 23.12.1986 – 5 U 50/86, EWiR § 68 StBerG 1/87, S. 285 73. Anm. zu OLG Hamm v. 22.5.1987 – 4 U 190/84, EWiR § 542 BGB 2/87, S. 1077 74. Anm. zu LG Düsseldorf v. 24.9.1987 – 31 O 61/87, EWiR § 455 HGB 1/87, 1071 75. Anm. zu BGH v. 4.11.1987 – VIII ZR 313/86, EWiR § 278 BGB 1/88, S. 1333 76. Anm. zu BGH v. 19.11.1987 – VII ZR 39/87, EWiR § 51 a WPO 1/88, S. 305 77. Anm. zu BGH v. 27.4.1988 – VIII ZR 84/87, EWiR § 11 Nr. 14 AGBG 2/88, S. 633 78. Anm. zu BGH v. 19.5.1988 – III ZR 38/87, EWiR § 4 AGBG, 1/88, S. 939 815

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79. Anm. zu BGH v. 15.6.1988 – VIII ZR 316/87, EWiR § 6 AbzG 2/88, S. 1041 80. Anm. zu OLG Düsseldorf v. 17.12.1987 – 10 U 100/87, EWiR § 6 AbzG 1/88, S. 313 81. Anm. zu OLG Frankfurt v. 6.10.1987 – 5 U 258/86, EWiR § 498 BGB 1/88, S. 33 82. Anm. zu LG Frankfurt v. 25.7.1988 – 2/24 S 354/86, EWiR § 535 BGB 2/88, S. 875 83. Anm. zu LG Frankfurt v. 25.7.1988 – 2/24 S 102/87, EWiR § 9 AGBG 16/88, S. 843 84. Anm. zu LG Frankfurt v. 25.7.1988 – 2/24 S 158/87, EWiR § 535 BGB 3/88, S. 877 85. Anm. zu BGH v. 2.11.1988 – VIII ZR 121/88, EWiR § 56 GewO 1/89, S. 361 86. Anm. zu BGH v. 25.1.1989 – VIII ZR 302/87, EWiR § 537 BGB 1/89, S. 461 87. Anm. zu BGH v. 15.3.1989 – VIII ZR 303/87, EWiR § 130 BGB 2/89, S. 1067 88. Anm. zu BGH v. 22.3.1989 – VIII ZR 269/87, EWiR § 6 AbzG 1/89, S. 521 89. Anm. zu BGH v. 22.3.1989 – VIII ZR 155/88, EWiR § 537 BGB 2/89, S. 549 90. Anm. zu BGH v. 20.9.1989 – VIII ZR 239/88, EWiR § 564 BGB 1/89, S. 1185 91. Anm. zu OLG Koblenz v. 25.10.1988 – 3 U 686/87, EWiR § 6 AbzG 2/89, S. 625 92. Anm. zu BGH v. 13.12.1989 – VIII ZR 168/88, EWiR § 535 BGB 2/90, S. 345 93. Anm. zu BGH v. 24.1.1990 – VIII ZR 22/89, EWiR § 377 HGB, 1/90, S. 487 94. Anm. zu BGH v. 31.1.1990 – VIII ZR 280/88, EWiR § 498 BGB 1/90, S. 759 95. Anm. zu BGH v. 16.5.1990 – VIII ZR 108/89, EWiR § 535 BGB 4/90, S. 761 96. Anm. zu BGH v. 8.10.1990 – VIII ZR 247/89, EWiR § 9 AGBG 16/90, S. 1149 97. Anm. zu OLG Düsseldorf v. 26.1.1989 – 10 U 110/88, EWiR § 249 BGB 2/90, S. 23 98. Anm. zu BGH v. 23.10.1990 – VI ZR 310/89, EWiR § 249 BGB 1/91, S. 25 99. Anm. zu BGH v. 27.11.1990 – X ZR 26/90, EWiR § 9 AGBG 8/91, S. 417 100. Anm. zu BGH v. 13.3.1991 – VIII ZR 34/90, EWiR § 9 AGBG 9/91, S. 419 101. Anm. zu OLG Hamburg v. 11.9.1991 – 4 U 89/91, EWiR § 9 AGBG 25/91, S. 1041 102. Anm. zu BGH v. 19.11.1991 – X ZR 28/90, EWiR § 9 AGBG 9/92, S. 627 103. Anm. zu BGH v. 11.12.1991 – VIII ZR 31/91, EWiR § 324 BGB 1/92, S. 143 104. Anm. zu BGH v. 3.6.1992 – VIII ZR 138/91, EWiR § 419 BGB 2/92, S. 759 105. Anm. zu OLG Karlsruhe v. 27.7.1992 – 18 a U 39/92, EWiR § 249 BGB 7/92, S. 849 816

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106. Anm. zu LG Heilbronn v. 24.3.1992 – 27 O 276/91, EWiR § 455 BGB 1/92, S. 553 107. Anm. zu BGH v. 14.7.1993 – IV ZR 181/92, EWiR § 13 AKB 1/93, S. 1041 108. Anm. zu BGH v. 12.10.1993 – XI ZR 21/93, EWiR Art. 17 WG/93 109. Anm. zu OLG Frankfurt v. 15.12.1992 – 9 U 77/91, EWiR § 823 BGB 4/93, S. 367 110. Anm. zu OLG München v. 23.6.1993 – 7 U 3294/92, EWiR § 9 AGBG 23/93, S 841 111. Anm. zu LG Siegen v. 25.11.1992 – 5 O 71/92, EWiR § 9 AGBGB 14/93, S. 629 112. Anm. zu BGH v. 12.10.1993 – XI ZR 21/93, EWiR Art. 17 WEG 1/94, S. 201 113. Anm. zu BGH v. 10.11.1993 – VIII ZR 119/92, EWiR § 145 KO 1/94, S. 81 114. Anm. zu BGH v. 27.9.1994 – VI ZR 150/93, EWiR § 823 BGB 1/95, S. 43 115. Anm. zu BGH v. 28.11.1994 – VIII ZR 315/93, EWiR § 6 AbzG 1/95, S. 209 116. Anm. zu BGH v. 31.1.1995 – VI ZR 27/94, EWiR § 823 BGB 4/95, S. 765 117. Anm. zu BGH v. 8.3.1995 – VIII ZR 313/93, EWiR § 249 BGB 4/95, S. 541 118. Anm. zu OLG Düsseldorf v. 19.1.1995 – 6 U 14/94, EWiR § 4 VerbrKrG 3/95, S. 713 119. Anm. zu OLG Köln v. 5.12.1994 – 12 U 68/94, EWiR § 1 VerbrKrG 2/95, S. 403 120. Anm. zu BGH v. 22.11.1995 – VIII ZR 57/95, EWiR § 9 AGBG 3/96, S. 49 121. Anm. zu BGH v. 6.3.1996 – VIII ZR 98/95, EWiR § 9 AGBG 14/96, S. 625 122. Anm. zu BGH v. 213.6.1996 – IX ZR 172/95, EWiR § 305 BGB 1/96, S. 923 123. Anm. zu OLG Celle v. 26.6.1996 – 2 U 188/95, EWiR § 9 AGBG 17/96, S. 865 124. Anm. zu OLG Dresden v. 26.7.1995 – 8 U 195/95, EWiR § 9 AGBG 12/96, S. 531 125. Anm. zu OLG Köln v. 18.7.1996 – 18 U 30/96, EWiR § 249 BGB 3/96, S. 969 126. Anm. zu OLG München v. 5.7.1995 – 7 U 2486/95, EWiR § 812 BGB 1/96, S. 109 127. Anm. zu BGH v. 30.7.1997 – VIII ZR 157/96, EWiR § 535 BGB 2/98, S. 159 128. Anm. zu BGH v. 15.7.1998 – VIII ZR 348/97, EWiR § 9 AGBG 9/98, S. 913 129. Anm. zu OLG KG v. 20.8.1997 – 23 U 731/97, EWiR § 2 UrhG 1/98, S. 279 130. Anm. zu OLG Düsseldorf v. 24.4.1997 – 10 U 123/95, EWiR § 535 BGB 1/98, S. 107 131. Anm. zu BGH v. 26.5.1999 – VIII ZR 141/98, EWiR § 4 VerbrKrG 5/99, S. 761 817

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132. Anm. zu BGH v. 3.11.1999 – VIII ZR 269/98, EWiR § 9 AGBG 9/2000, S. 461 133. Anm. zu OLG Köln v. 1.10.1999 – 19 U 14/99, EWiR § 7 VerbrKrG 1/2000, S. 409 134. Anm. zu OLG Dresden v. 18.4.2000 – 24 U 184/99, EWiR § 1 VerbrKrG 2/01, S. 187 135. Anm. zu BGH v. 14.11.2003 – V ZR 144/03, EWiR § 307 BGB 2/04, S. 693 136. Anm. zu OLG Koblenz v. 3.7.2003 – 5 U 1599/02, EWiR § 9 VerbrKrG 1/04, S. 33

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