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German Pages 652 [664] Year 2011
Gesundheitsökonomie und Wirtschaftspolitik Herausgegeben von Georg Rüter, Patrick Da-Cruz, Philipp Schwegel
Gesundheitsökonomie und Wirtschaftspolitik Festschrift zum 70. Geburtstag von Prof. Dr. Dr. h. c. Peter Oberender
Herausgegeben von Georg Riiter, Patrick Da-Cruz, Philipp Schwegel
Lucius & Lucius • Stuttgart
Anschriften der Herausgeber: Dr. Georg Rüter Geschäftsführung, Katholische Hospitalvereinigung Ostwestfalen gem. GmbH Kiskerstraße 14 33615 Bielefeld Dr. Patrick Da-Cruz Bereichsleiter, Oberender & Partner - Unternehmensberatung im Gesundheitswesen/EconoMedic AG Nürnberger Straße 38 95448 Bayreuth Dr. Philipp Schwegel Wüstenstein 53 91346 Wiesenttal
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar
ISBN 978-3-8282-0543-7
© Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH Stuttgart 2011 Gerokstraße 51 • D-70184 Stuttgart • www.luciusverlag.com
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Druck und Bindung: Druckhaus Thomas Müntzer, Bad Langensalza
Inhaltsverzeichnis Vorwort
X
Georg Rüter Oberender's Volkswirtschaftslehre - trocken-theoretisch oder praktisch relevant?
1
Ulrich Fehl Theorie und Praxis: Zur Aufgabe der universitären Ausbildung im Bereich der Wirtschaftswissenschaften
16
Wirtschaftspolitik Manfred E. Streit Rechtsstaat und Sozialstaat - ein ordnungspolitischer Gegensatz
27
Nobert Eickhof Wettbewerbspolitik versus „neue" Industriepolitik
34
Jörg Dötsch und Stefan Okruch Die Entgrenzung der Ordnung in Hayeks Systemtheorie
44
Volker Emmerich Überlegungen zur Marktabgrenzung
61
Walter Hamm Ausnahmebereiche — ein wettbewerbspolitisches Trauerspiel
67
Friedrich Schneider Schattenwirtschaft und Korruption in Deutschland: Was kann dagegen getan werden?
79
Martin Leschke Freiwillige Kooperation im nicht-iterierten Gefangenendilemma: Die Rolle moralischer Dispositionen
92
VI Bernd Noll Zur Regulierung von Managergehältern in Deutschland eine institutionen-ökonomische Analyse
106
Stefan Sambol Kulturelle Institutionenökonomik: Die Bedeutung kultureller Einflussfaktoren im Transformationsprozess: Fallstudie VR China
125
Hartmut Voss und Marcus Diwo Indien als strategischer Absatzmarkt der deutschen mittelständischen Industrie
139
Frank Daumann und Markus Breuer Finanzinvestoren und ihr Einfluss auf den Sport: Zur Notwendigkeit der Regulierung professioneller Ligen
174
Alice Weidel Der Euro ist kein Integrationsvehikel für Europa
188
Hilko Holzkämper Wettbewerb auf dem Ratingmarkt
201
Bernd Wolfrum Open Innovation — Erfolgsrezept für Innovationsprozesse?
218
Gesundheitsökonomie Eugen Münch Gesundheitswirtschaft als Wachstumsmotor?
239
Nikolaus Knoepjfler und Reyk Albrecht Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen
256
Jürgen Zerth Zweiseitige Märkte und Gesundheitswirtschaft: Übertragbarkeit der Theorie und potenzielle Implikationen für Wettbewerb und Regulierung
265
VII Hanno Beck Zur Psychologie des Gesundheitswesens: Können die Erkenntnisse der Behavioral Economics die Effizienz des Gesundheitssystems verbessern?
277
Herbert Woratschek und Chris Horbel Relationship Management im Gesundheitswesen — ein theoretischer Rahmen zur Analyse der Beziehungen
289
Claudia Linke Die Wertschöpfungskonfiguration der integrierten medizinischen Leistungserstellung
304
Uta Maria Feser und Victoria Wilhelm Best-Practice-Ansatz als Motor für die Europäisierung des Gesundheitswesens
335
Herbert Rebscher Perspektivenwechsel Bewertungskategorien selektiven Vertragshandelns
348
Norbert Klüsen Solidarisch finanzierte GKV - ein Auslaufmodell?
363
Ulrich Hemel Basisversicherung mit Zusatzmodulen - Eine philosophische Betrachtung zur Reform des Gesundheitswesens
374
Günter Neubauer Durch Vorsteuerabzug zu mehr Effizienz in der Gesundheitsversorgung
385
Jochem Müller Flourishing - Positive Psychologie als gesundheitsökonomische Handlungsoption für die Unternehmensfuhrung
395
J.-Matthias Graf von der Schulenburg und Kathrin Damm Ökonomisches Handeln ist ethisches Handeln: Werturteile als Rahmen gesundheitsökonomischer Forschung
416
VIII Hermann Schoenauer und Markus Horneber Ethisch vertretbarer Technikeinsatz in der Sozialund Gesundheitswirtschaft
431
Wolfgang Gitter Das Pflegefallrisiko - ein Thema bei der Gründung der Forschungsstelle für Sozialrecht und Gesundheitsökonomie und heute
445
Hans-Peter Klös, Susanne Seyda Bildungspolitik und präventive Gesundheitsförderung
452
Krankenhausmarkt Uta Meurer Beobachtung der Krankenhausszene in den vergangenen 30 Jahren
465
Christoph Rasche und Andrea Braun von Reinersdorf^ Krankenhäuser im Spannungsfeld von Markt- und Versorgungsauftrag: Von der Medizinmanufaktur zur Hochleistungsorganisation
473
Markus Möstl Krankenhausrecht als Regulierungsrecht?
503
Volker Ulrich und Andreas Schmid Dynamik und Ordnung - Strukturen der medizinischen Leistungserbringung am Beispiel des stationären Sektors
516
Jan Hacker und Rainer Schommer Alternativen zur Krankenhausplanung
529
Daniel P. Wichelhaus Strategiefindung und Umsetzung im Krankenhaus
537
Klaus Hekking Lean Hospital - Mehr Produktivität im Krankenhaus
557
Jörg Schlüchtermann Die Aufbauorganisation im Krankenhaus — Analyse des Status Quo und Weiterentwicklungsperspektiven
566
IX Pharma- und Medizinprodukteindustrie Jochen Fleischmann Zur institutionellen Gestaltung der Arzneimittelversorgung
585
Jürgen Schneider Neuere Entwicklung im Apothekenwesen
599
Frank-Ulrich Fricke Grundprobleme der Kosten-Nutzen-Bewertung von Medizinprodukten
618
Hartwig Bauer Kooperation zwischen Ärzten und Industrie: Der Umgang mit Interessenkonflikten
633
Autorenverzeichnis
647
Vorwort Wirtschaftspolitik und Gesundheitsökonomie sind zwei bedeutende Betätigungsfelder für Ökonomen. Prof. Dr. Dr. h. c. Peter Oberender hat als Hochschullehrer, Dozent für Praktiker, Autor, Unternehmer, Berater und Gutachter die Wirtschaftspolitik und Gesundheitsökonomie in Deutschland nachhaltig geprägt. Deshalb lag es nahe, angesichts seines runden Geburtstages im Juni 2011, Ideen und Gedanken seiner Weggefährten zu Schwerpunktthemen dieser wichtigen Betätigungsfelder für Ökonomen aufzugreifen und in dem vorliegenden Sammelband einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Peter Oberender gehörte zweifellos zu den ersten Ökonomen, die sich mit dem Gesundheitswesen und seinen Steuerungsproblemen beschäftigten. Sehr früh hat er sich zu den umfassenden Fehlanreizen in diesem, mittlerweile volkswirtschaftlich sehr bedeutenden Sektor geäußert. Er scheute sich nie, unbequeme Wahrheiten auszusprechen, die manchmal erst Jahrzehnte später auch von den Interessengruppen sowie politisch Aktiven in dieser Wachstumsbranche konzediert wurden. Peter Oberender's Mahnungen wurden häufig erst nach zahllosen Reformversuchen akzeptiert; die Geschichte der Gesundheitsreformen in den vergangenen 30 Jahren spricht Bände für die häufig anzutreffende Hilf- und Konzeptlosigkeit der handelnden Akteure. Peter Oberender's Schaffen wird nicht nur durch den gesundheitsökonomischen Klassiker „Wachstumsmarkt Gesundheit" belegt, sondern auch durch eine Vielzahl an wissenschaftlichen Veröffentlichungen und sein Mitwirken in unterschiedlichsten Ausschüssen und Verbänden. Der vorliegende Band greift die Vielfältigkeit der Wirtschaftspolitik und der Gesundheitsökonomie auf und lässt renommierte Weggefährten zu Wort kommen. Die Autoren waren, ganz im liberalen Sinne, bei der Themenwahl frei. Hieraus ist eine spannende Sammlung entstanden, die für eine breite Leserschaft von Interesse sein dürfte. Ausgehend von der „Oberenderschen MikroÖkonomie" werden ausgewählte Aufsätze zur Wirtschaftspolitik vorgestellt. Der Hauptteil des Buches konzentriert sich auf die Gesundheitsökonomie. Neben allgemeinen Aufsätzen zur Gesundheitsökonomie wird im Speziellen auf den Krankenhausmarkt und die Pharma- und Medizinprodukteindustrie eingegangen. Das umfangreiche Werk konnte nur durch das Engagement der mitwirkenden Autoren realisiert werden. Ihnen gilt unser Dank. Auch danken wir dem Lucius & Lucius Verlag für eine unkomplizierte Veröffentlichung. Wir richten einen ganz besonderen Dank an unsere Sponsoren, die mit ihrer großzügigen Unterstützung die Festschrift erst ermöglichten. Herzlichen Dank.
XI Schließlich möchten wir Ihnen, lieber Professor Oberender, sehr herzlich für die Ausbildung danken, die wir bei Ihnen erfahren durften und dürfen. Zu Ihrem runden Geburtstag wünschen wir Ihnen alles Gute, vor allem Gesundheit und etwas mehr gemeinsame Zeit mit Ihrer Familie. Wir hoffen, dass diesem Herausgeberband noch viele folgen werden. Die Herausgeber Georg Rüter, Patrick Da-Cruz, Philipp Schwegel
Georg Rüter
Oberender's Volkswirtschaftslehre trocken-theoretisch oder praktisch relevant? 1
Die Marke Oberender
Wer Studenten in mittlerweile mehreren Generationen aus den zurückliegenden fast 50 Jahren nach Markenzeichen von Peter Oberender fragt, der wird eine vielschichtige Antwort erhalten: 1. Da sind der Bart, die Brille, der gedeckte Anzug und die dunkelblaue Krawatte; seit Jahrzehnten Markenzeichen, sodass es bisweilen zu Verwechslungen mit Fotos von 2010 mit denen von 1980 kommen kann. 2. Da ist die Strenge theoretischer Analytik in ihrer Zeitlosigkeit: Hundertschaften von Studenten fürchteten die Mikroklausur, die ausgerechnet in den heißen Sommertagen geschrieben werden musste, sodass Schwimmbadbesuche nur mit dem berühmten blauen Fehl-Oberender-Buch ohne Gewissensbisse möglich waren. Die Disziplin in der Lehre und Ausbildung von Studenten wurde auch bei den Assistenten von Oberender schnell zum Markenzeichen; denn diese konnte man ob ihrer Blässe im Universitätsgebäude immer gut erkennen, weil sie in Sommermonaten kaum ans Tageslicht kamen. Belastbarkeit, Ausdauer und unendlicher Fleiß wurden von Prof. Dr. Dr. Peter Oberender vorgelebt, mit der Folge, dass sogar konservative Ökonomen Anhänger der 35-Stunden-Woche wurden, da sie sich hiervon die Einrichtung und das Gehalt einer zweiten Planstelle erhofften. 3. Wissenschaftlich steht Oberender in der Generationsfolge von Walter Eucken, einem der wohl bedeutendsten deutschen Nationalökonomen, bei dem Oberender's Lehrer Ernst Heuß wiederum seine wissenschaftliche Ausbildung erhalten hatte. In Zeiten turbulenter Veränderungen an deutschen Universitäten — mittlerweile sind auch die 68-er 68 geworden - blieben die Marburger Ökonomen um Heuß, Hensel und Hamm standhaft und liefen nicht makroökonomischen Modewellen von Plisch und Plum nach, als Mitarbeiter des Bundesministeriums für Wirtschaft ihr VW-Zeichen unter dem Revers tragen mussten, das Geheimsignet für „Volkswirt bleiben". Oberender lehrte uns die strenge Theorie von Friedrich August von Hayek, einem der ersten Nobelpreisträger fiir Wirtschaftswissenschaften, dessen wohl wichtigste Mahnung nicht nur durch Wirtschaftswissenschaftler beherzigt werden sollte,
2 sondern auch durch Ärzte und Naturwissenschaftler, nämlich seine Warnung vor der „Anmaßung von Wissen". Diese Skepsis gegenüber quantitativen Prognosen kann wohl auch heute noch zu einem der Qualitätskennzeichen ordoliberaler Ökonomen gerechnet werden, zu denen sich Peter Oberender immer zählte. 4. Peter Oberender wäre nicht Vollblut-Ökonom, wenn er nicht auch die unverzichtbare Pflicht eines Mitglieds der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät wahrnehmen würde, nämlich die Beratung der Wirtschafts- und Staatspolitik. Von vielen Institutionen wurde er im Laufe seiner beruflichen Tätigkeit gefragt; von einigen nur einmal, da sie mit seiner Antwort unzufrieden waren. Für den Autor dieser Zeilen, der die Ehre hatte, mehr als drei Jahrzehnte für und mit Prof. Dr. Dr. Peter Oberender arbeiten zu dürfen, stellt sich im Rückblick die Frage: Hat Peter Oberender seine Aufgabe erfüllt? Hat seine ökonomische Lehre Nutzen gestiftet? Weiter: Taugt die Oberender sehe Theorie zur Lösung ökonomischer Probleme, also der Grundprobleme menschlichen Daseins? Dies soll in der gebotenen Kürze nachfolgend holzschnittartig beleuchtet werden:
2
MikroÖkonomie mit Oberender
In der Volkswirtschaftslehre kann die MikroÖkonomie sicherlich als grundlegende, wenn nicht sogar Königsdisziplin bezeichnet werden. Diese bildete von Anfang an die Grundlage jedes solide ausgebildeten Ökonomen in der Schule von Peter Oberender, egal ob in Marburg, Bayreuth, Chemnitz oder Jena. Dabei war sie immer eingebettet in die oben bereits erwähnte ordoliberale Freiburger Schule rund um Walter Eucken, Wilhelm Röpke, Karl Paul Hensel, Walter Hamm, Helmut Gröner, die allesamt zu den Gründungsvätern gehörten oder bei diesen ihre Ausbildung erhalten hatten. Diese Spezies von Ökonomen hatte es bis zur Finanzkrise 2008 nicht nur in der Finanzwelt schwer, sondern auch in der Politik, leider zunehmend bei allen Parteien (Friedrich August von Hayek widmete in prophetischer Weitsicht bereits 1946 sein Buch „Den Sozialisten in allen Parteien"). Auch in der Wissenschaft stießen liberale MikroÖkonomen häufig nicht auf Gegenliebe; weder in der eigenen volkswirtschaftlichen Fakultät und schon gar nicht in von Betriebswirten zumindest quantitativ dominierten Fachbereichen. Diese wähnten den Mainstream auf ihrer Seite, zumal der weitaus überwiegende Teil der Studierenden sich für die Betriebswirtschaftslehre entschied, die doch so viel näher war an der Praxis eines späteren Berufes, der üblicherweise auch noch dem Gelderwerb dienen soll. Diese Studierenden saßen oftmals - in der Regel ausgerüstet mit blitzenden Aluminiumkoffern, von denen mindestens einer pro Vorlesung krachend zu Boden
3 fiel - angestrengt in den großen Hörsälen der Bayreuther Fakultät, um Theorien mit zu kritzeln, die - wie man gehört hatte - klausurrelevant werden könnten, in der bei allen Studenten des Grundstudiums am meisten gefurchteten Klausur, nämlich der für MikroÖkonomie bei Prof. Dr. Dr. Peter Oberender. Fluchs wurde dann das Fach Volkswirtschaftslehre abgewählt und nur die Pechvögel gerieten dann noch einmal in die mündliche Prüfung bei Professor Oberender. Nicht wenige waren sich sicher in der Einschätzung, dass das was Oberender und seine Knechte dort mit PowerPoint, Overhead-Folien oder großen Tafeln vermittelten, doch die „reine Lehre" sei, welche mit der Praxis geschweige denn der eigenen Berufstätigkeit niemals etwas zu tun haben würde. Dass die Vorlesungen und Übungen von Oberender und seiner Mannschaft immer die bestbesuchten waren, lag im Regelfall nicht an der prickelnden Erotik des Faches MikroÖkonomie, sondern an dem hohen menschlichen Engagement, das Peter Oberender in geradezu väterlich zu nennender Fürsorge für alle Studierenden aufbrachte, auch und gerade in Zeiten der völligen Überlastung von Räumen und Lehrkörpern. Da MikroÖkonomie-Vorlesungen bekanntlich überwiegend im Sommersemester liefen, fanden auch noch zur späten Stunde Studentinnen in die Büros der Assistenten, um Fragen zu Übungsaufgaben zu stellen und hoffentlich beantwortet zu bekommen. Dass es bei diesen spätabendlichen Besuchen dann trotz der MikroÖkonomie schon mal zu prickelnder Erotik kommen konnte, kann allenfalls unter der Kategorie Externe Effekte subsumiert werden. Aber nicht nur die externen Effekte spätabendlicher Konsultationsbesuche bei Oberender-Assistenten haben positive Auswirkungen auf den Kompetenzstand der Studierenden in der oberfränkischen Weltmetropole verursacht. Wer Berufslaufbahnen der großen Zahl Bayreuther Absolventen etwas genauer studiert, wird feststellen, dass der weitaus überwiegende Teil anspruchsvolle Herausforderungen angenommen hat, die sich einem Ökonomen nun einmal stellen und bei denen er sich nutzbringend in einem Unternehmen oder in anderen Institutionen einbringen konnte. Fakt ist, dass gerade in einer schnelllebigen Zeit zeitloses Wissen mehr Nutzen stiftet, als die kurzlebigen Faktensammlungen, die Oberender immer etwas beiseite schob, vermitteln können. So mussten beispielsweise jene Spezialfächer in der wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildung, die sich massiv die Vermittlung von EDV-Kenntnissen auf die Fahnen geschrieben hatten, zusehen, wie manchmal noch vor Beendigung des Studiums die Halbwertzeit des Spezialwissens abgelaufen war. MikroÖkonomie ist nicht nur zeitlos, sondern auch anwendungsgebietsneutral: Bei Oberender lernte man die Notwendigkeit des Baus einer Startbahn am Frankfurter Flughafen zu beurteilen, Exportstärken der deutschen Automobilindustrie
4 zu eruieren, die Konzentrationsprozesse im deutschen Lebensmitteleinzelhandel zu diskutieren und last but not least das deutsche Gesundheitswesen kritisch zu hinterfragen.
3
Gesundheitsökonomie mit Oberender
MikroÖkonomie bildete die Basis Oberender'scher Tätigkeit und Mission für ganze Generationen. Bekannt, berühmt, ja auch temporär sowie regional berüchtigt wurde Oberender aber in der Gesundheitsökonomie: Nach Lehr- und Forschungsaufenthalten in den USA erkannte Peter Oberender bereits in den 70-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, dass das Gesundheitswesen in Deutschland wohl kaum noch ohne ökonomische Betrachtung auskommen würde. Vielleicht wird die Frage der Ressourcenbereitstellung für und im Gesundheitswesen sogar die am meisten drückende oder bedrückende der kommenden Jahrzehnte; dieser Aspekt ist mittlerweile durch den Politik- und Wirtschaftsteil der FAZ auch auf die ersten Seiten des Feuilletons gelangt, beispielsweise unter der Überschrift „Der Aufstand der Jungen im Jahr 2030". Im Gesundheitswesen hatte Peter Oberender es noch schwerer als mit der MikroÖkonomie. Hier wurden anfangs seine Thesen nicht nur als überflüssige reine Lehre und knochentrockene Modelltischlerei, sondern vielmehr als Ketzerei und Phantasmagorien abgetan. In Zeiten, in denen die Gesichter der Führungskräfte des Gesundheitswesens, das insbesondere durch Pharmazeuten und Mediziner dominiert wurde, mehr durch Mensurnarben denn durch Sorgenfalten gekennzeichnet waren, begegnete man Peter Oberender mit dem bräsigen Dünkel einer seit Jahrzehnten die Meinungsfuhrerschaft im Gesundheitswesen inne habenden Zunft, die es verstand eine so schnöde Berufsgruppe wie die der Ökonomen in populistischer Raffinesse mit allen Negativinsignien der Kapitalismuskritik zu überziehen. Nicht wenige der Zeitgenossen machen bis heute nicht die irdischen Verhältnisse knapper Ressourcen, sondern die Tätigkeit von Ökonomen für die ach so beklagenswerte Ökonomisierung des Gesundheitswesens verantwortlich; der Anlass hierfür wechselt bisweilen, von der Investitionsklemme der Bundesländer über das DRG-Fallpauschalensystem bis hin sogar zur Ärzteverknappung. Getreu Oberender'scher Analytikstrenge darf man diese Einschätzung aber nicht als etwaige sündhafte Charakterschwäche von exponierten Angehörigen des Gesundheitswesens einstufen, sondern hat diese in die Ordnungs- und Markttheorie und vor allem in die Analyse der Rahmenbedingungen einzuordnen. Ende der 70-er Jahre fand Peter Oberender ein Gesundheitswesen vor, das fast alle ökonomischen Grundprinzipien ausgeschaltet hatte und das bis heute nur
5 begrenzt bereit oder in der Lage ist zur Selbstdiagnose eigener Probleme. Die Folge sind ein immer währender Pessimismus und die ebenso wenig aufhörenden Klagen über die ach so schlechten und vor allem stetig schlechter werdenden Verhältnisse. Dieses Jammerlied wird häufig eingebettet in biographische Strukturen, die seit Jahrzehnten in strenger Erbfolge berufsgruppenspezifische Lebensläufe hervorbringen, die den Blick über den Tellerrand der Wärmehalle Gesundheitswesen kaum erlauben. Das hohe Ansehen, das das Gesundheitswesen und seine Angehörige in der Bevölkerung genießen, befördert diesen Blick auf den eigenen Bauch und exkulpiert von der begrenzten oder nicht vorhandenen Kompetenz zur Beurteilung von Vergleichsmaßstäben mit anderen Branchen. Nun, Ökonomen können ähnlich wie bornierte Vertreter der Urologie, sagen „Wir können warten". Selten wurden in der Geschichte der Menschheit Ökonomen gerufen, weil die Betroffenen eine Eingabe durch den Heiligen Geist oder eine Wahrsagerin erhalten hatten. In der Regel zwangen ökonomische Gesetzmäßigkeiten zum Innehalten und auch zur Konsultation von Fachleuten dieser wenig beliebten Berufsgruppe. „Ökonomen verändern die Welt", so der Buchtitel von Paul-Heinz Koesters; dies gilt auch für das Gesundheitswesen, wenngleich mit sehr schleppender Umsetzungsgeschwindigkeit. Hat die Oberender'sche Theorie hierbei geholfen? Einige exemplarische Problemfelder im Gesundheitswesen sind in pointierender Abstraktion (Walter Eucken) auszuarbeiten, in denen - zumindest von Oberender's Schülern - Oberender-Diagnosen angewendet wurden. Dabei ist zu fragen, ob diese Schule helfen konnte, Probleme zu diagnostizieren und sogar vielleicht zu lösen:
3.1 Krankenhausfinanzierung Als klassische Kinder ihrer Zeit können Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) auf Bundes- und Landesebene von 1972, Bundespflegesatzverordnung mit Selbstkostendeckungsprinzip sowie Krankenhausplanung angesehen werden: Nachdem Commander McLane mit seiner Orion 7 und Orion 8 in der Intergalaktik unterwegs gewesen war, der schnelle Brüter kurz vor der Bereitstellung des kostenlosen elektrischen Stroms stand und der Deutschen Rentenversicherung ein hundertmilliardenschwerer Uberschuss drohte, wurde für das deutsche Gesundheitswesen das Fass unbegrenzter Ressourcenbereitstellung aufgemacht. Dies führte zwar innerhalb weniger Jahre zur Anhebung der Krankenkassenbeiträge von 6 auf 12 %, stellte aber nicht wirklich ein Problem dar bei Vollbeschäftigung und 2 Millionen Gastarbeitern. Lohnnebenkosten spielten bei hohem Lohndrift zunächst einmal keine praktisch relevante Rolle.
6 Mit dieser Euphorie verbunden war in erster Linie die Erstattung von Selbstkosten fiir die Krankenhäuser. Hier reichte eine relativ schlichte Analyse mit gesundem Menschenverstand um vorauszusehen, dass findige Unternehmer oder faule Verwalter alsbald die Kurve heraus hatten, um die Notwendigkeit von Kosten des Krankenhauses zu belegen. Warnungen von Ökonomen vor Ausgabenexplosion wurden beiseite gewischt und mit dem Hinweis auf die unbedingte Priorität der Gesundheit eines einzelnen Menschen gar in das Reich bösartiger Absichten verbannt. Es brauchte dann mehr als 20 Jahre, bis im Jahr 1993 mit dem Gesundheitsstrukturgesetz die Abschaffung des Selbstkostendeckungsprinzips auch juristisch vollzogen wurde. Auf der Ebene der Budgetvereinbarungen fanden sich noch bis zum Jahr 2003, ja in Sondergesetzen für 2008 und 2009, fossile Restgrößen eines Anspruchsdenkens insbesondere einflussreicher Berufsgruppen des Gesundheitswesens; konkret: Tarifverträge fanden zu einem Teil bis in die jüngste Zeit Berücksichtigung bei der Festsetzung von Krankenhauspreisen. Dies war insoweit fatal, als eine ganze Branche systematisch nicht lernte, eigene respektive selbst verursachte Probleme auch eigenständig zu lösen. Gerade der vorgenannte Grundpessimismus hat sicherlich eine ganze Menge mit dieser Anspruchshaltung zu tun, die aufgrund der Ressourcenbegrenzung nun einmal nicht aufgehoben werden kann. Zusammenfassend kann somit festgestellt werden, dass eine der Grundannahmen der MikroÖkonomie, nämlich die Gewinnmaximierung, im deutschen Krankenhauswesen durchaus verifiziert wurde. Wenn jedoch die Nebenbedingung Selbstkostendeckungsprinzip erfüllt werden muss, so kann natürlich nicht der buchhalterische Gewinn maximiert werden, sondern vielmehr der Nutzen der Beteiligten. Denn bekanntlich ist ein ruhiges, hektikfreies Leben mehr wert als ein hoher Gewinn. Genau dieses konnte das Gesundheitswesen über Jahrzehnte mit dem Selbstkostendeckungsprinzip auf Kosten der übrigen Volkswirtschaft realisieren. Schön ist zu sehen, dass die Verantwortlichen diese Fehlkonstruktion erkannt haben, und mit einer Übergangszeit von knapp 20 Jahren dann auch die kommoden Zustände im Gesundheitswesen beendet haben. Das Paradies offenbart sich aber bekanntlich erst dann, wenn es verlassen werden muss. Genau dieses Problem haben viele Angehörige des Gesundheitswesens jetzt. Besonders bemerkenswert ist dabei die Tatsache, dass viele Angehörige des Gesundheitswesens ernsthaft glauben, dass ein Ressourcenentzug stattfinden würde, obwohl dies trotz unzähliger Kostendämpfungsgesetze nie der Fall war. Der aktuelle Beitragssatz von 1 5 , 5 % für GKV-Versicherte ist Beleg für den anhaltenden Kostenanstieg. Es wäre also durchaus sinnvoll gewesen, auch schon einmal früher Oberender anzuhören und nicht mit Polemik zu überziehen.
7
3.2 Investitionsfinanzierung Auf beißende Kritik von Ökonomen, nicht nur Oberender'scher Prägung, stieß die ebenfalls 1972 eingeführte dualistische Finanzierung von Krankenhäusern, also die Trennung von Investitions- und Betriebskosten. Dieses vielleicht von tagespolitisch pragmatisch handelnden Verwaltungsbeamten oder juristischen Sachbearbeitern zu vollziehende Konstrukt war in der theoretischen Volkswirtschaftslehre nie begründbar und fand deshalb von Anfang an keine Freunde. Erschütternd war festzustellen, dass sogar mutmaßlich gut ausgebildete Kaufleute im Gesundheitswesen mehrheitlich Anhänger dieser Trennung waren, mit dem Verweis auf vorgebliche Besonderheiten einer Branche. Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass die duale Finanzierung extreme Fehlallokationen in den deutschen Krankenhäusern verursacht hat. Return-onInvestment-Denken, strenge ökonomische Analyse von Investitionsalternativen und Opportunitätskosten wurden ebenso so wenig gelernt wie die ganzheitliche Betrachtung von Investitionen und deren Folgekosten. Erst mit Einfuhrung des DRG-Systems dämmerte es den Verantwortlichen, dass eine solche Trennung dauerhaft nicht von Bestand sein könnte. Befördert wurden diese Überlegungen aber in erster Linie durch die Haushaltsknappheit der Bundesländer. Als Gutachter wurde Peter Oberender in den Düsseldorfer Landtag für die Beratungen des Krankenhausgestaltungsgesetzes Nordrhein-Westfalen hinzugezogen, die schlussendlich zu dem Ergebnis führten, dass zumindest eine Adaption an ein monistisches Finanzierungsmodell vollzogen wurde; konkret mit der Baupauschale NRW, die bundesweit Schule machen sollte. Die Beharrungskräfte in etatistisch-feudal regierten Bundesländern sowie bei den Lobbyistengruppen von Landeskrankenhausgesellschaften leisten allerdings nach wie vor erbitterten Widerstand. Die volkswirtschaftliche Fehlallokation, die das duale Finanzierungssystem und vor allem die diskretionäre Finanzierung durch die Bundesländer bewirkt haben, ist in ihrer Tragweite allenfalls in Umrissen erkennbar. Vor allem bei einer Fortsetzung des alten Finanzierungssystems, wie sie in fast allen Bundesländern noch praktiziert wird, können Markttests gar nicht erfolgen, da die Performance einzelner Krankenhäuser gar nicht seriös evaluiert werden kann, aufgrund der gigantischen Verzerrungen, die im Übrigen mit ebenso gigantischen volkswirtschaftlichen Vergeudungen von Steuermitteln verbunden sind. Aber es ist absehbar, dass das NRW-Pauschalmodell in der Praxis so erfolgreich sein wird, dass andere Bundesländer nachfolgen müssen; nicht zuletzt wegen der öffentlichen Haushaltsmisere. Die strikte ökonomische Analyse vermeintlicher Besonderheiten von Krankenhausinvestitionen hat sich somit als richtig und vor allem langfristig tragfähig erwiesen.
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3.3 Krankenhausplanung Bereits Anfang der 90-er Jahre machte Peter Oberender sich unbeliebt bei einer nordrhein-westfälischen Krankenhausveranstaltung, als er im Angesicht des anwesenden Ministers für Arbeit, Gesundheit und Soziales die Landeskrankenhausplanung als .Anmaßung von Wissen" bezeichnete. Die Vorstellung, auf zentrale Vorgaben durch die weise Ministerialbürokratie in Düsseldorf, Hannover oder gar Stuttgart und München verzichten zu können, konnte nun wirklich als Ausgeburt der Ketzerei gebrandmarkt werden. Auch die Lobbyisten der eigenen Branche, nämlich Krankenhausträger, hatten sich wohlig eingerichtet im Schutzsystem staatlicher Krankenhausplanung, das bekanntlich den Eintritt unangenehmer und wohlmöglich innovativer Konkurrenten wirksam verhinderte. Hier wurde die ganze Klaviatur zentralverwaltungswirtschaftlicher Mechanismen mit der Grenzmoral von politischen Einflussgruppen durchgespielt. Erst als ein hohes Maß an plumper Willkür in nahezu dreister Manier praktiziert wurde, schaffte es ein kirchlicher Krankenhausträger aus Nordrhein-Westfalen, vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe der Willkür zentralverwaltungswirtschaftlicher Apparate Grenzen zu setzen. Das höchste deutsche Gericht stellte am 14. Januar 2004 fest, dass die staatliche Krankenhausplanung in das Grundrecht der Berufsfreiheit eingreift und deshalb die Rechte anderer Marktteilnehmer beachten muss. Seither hat im größten deutschen Bundesland der Planungsehrgeiz der Landesregierung deutlich nachgelassen; auch befördert durch Gerichtsentscheidungen, die im Lichte der Karlsruher Entscheidung viele Planungsdekrete als rechtswidrig einstuften. Ohne die ehrgeizige Ambition Oberender scher Lehrsätze von der Unmöglichkeit zentraler Planung ökonomischer Allokation wäre dieser mutige und folgenreiche Schritt eines kleinen Unternehmens wohl nicht möglich gewesen. Die Eigendynamik des ökonomisch begründeten DRG-Systems tut mittlerweile ihr Übriges, die staatliche Planung von medizinischen Angeboten zurückzudrängen, ad absurdum zu fuhren oder redundant zu machen. Vor allem aber sind es Marktprozesse im Sinne der Heuß'schen Markt- und Unternehmertheorie, die dafür sorgen, dass immer kompetenter werdende Kunden in internetgestützter Mobilität ihre Entscheidung über wichtige, weniger wichtige oder überflüssige medizinische Angebote treffen. Der Begriff des „Versorgungsauftrages" staatlicher Krankenhausplanung beginnt sich selbst ad absurdum zu fuhren; nicht nur der Begriff mutet putzig an, sondern auch die Diskrepanz zwischen Feststellungsbescheiden und aktueller medizinisch-technischer Realität.
9 Somit darf festgehalten werden, dass letztendlich nur das Konstrukt von Selbstkostendeckungsverpflichtung in Verbindung mit staatlicher Strukturpolitik und haftungsfreier Vergeudung von Steuermitteln das jahrzehntelang stabile System der Krankenhausfinanzierung am Leben erhalten haben. Sobald der „normale" Wind wettbewerblicher Überprüfung und betriebswirtschaftlichem Rationalisierungsdruck auszuhalten ist, brechen die vermeintlichen Besonderheiten der Krankenhausstrukturen und deren umfängliche Fehlallokationen in sich zusammen. Dann greifen ökonomische Gesetzmäßigkeiten, denen viele Beteiligte nach wie vor mit großer Hilflosigkeit entgegen sehen.
3.4 Krankenhausmarktentwicklung Private Krankenhausunternehmen waren abgesehen von niedlichen Privatvillen in feinen Gegenden insbesondere des Voralpengebietes, am Beginn Oberender'scher Gesundheitsökonomielehre nicht existent. Als erste Unternehmen aufkamen, kippte die Krankenhausbranche Wut und Spott über dieselben; meist mit dem Hinweis auf Rosinenpickerei oder noch schlimmer: Profitgier. In seltsam anmutender Einigkeit zogen Chefarztverbände und Gewerkschaftsführer auf die Straße, um gegen die Privatisierung kommunaler Krankenhäuser zu demonstrieren. Für den Marktökonomen Oberender'scher Prägung war vielmehr die tradierte Form des volkseigenen kommunalen Betriebes ein Kuriosum, das interessanterweise mehr als 6 0 % des Marktes in Deutschland beherrschte. Diese Marktbeherrschung war allerdings nur möglich gewesen aufgrund der oben genannten fast vollständigen Ausschaltung ökonomischer Gesetzmäßigkeiten, die sich das Gesundheitswesen zulasten der Gesamtwirtschaft, also von Arbeitnehmern und Unternehmern, gegönnt hatte. Als diese an ihre Grenzen stieß, begannen wettbewerbliche Angebots- und Nachfrageprozesse in freiheidicherem Umfeld zu gären, sodass sich Märkte, zunächst durch Pionierunternehmer (Schumpeter) dann durch findige Unternehmer (Kirzner) und nicht zuletzt auch durch Nachahmerprozesse, entwickelten. Anders gewendet: Der „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren" (von Hayek) nahm seinen Lauf; zunächst zum Ärgernis, dann zur Verwunderung und schlussendlich durchaus auch mal zur Freude der Beteiligten. Die heutige Stellungnahme von ver.di, der Nachfolgeorganisation der ehedem noch sehr robust brachial auftretenden OTV, fallt schon erheblich freundlicher aus als die ersten Kommentare vor 15 oder 20 Jahren. Diese eindrucksvolle und die Selbstheilungskraft der Krankenhausbranche bestätigende Entwicklung stellt heute ein interessantes Objekt für Oberender'sche Marktanalysen dar, sowohl im Rückblick der vergangenen 20 Jahre, als auch in Bezug auf die Einschätzung möglicher zukünftiger Entwicklungen.
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3.5 Arzneimittelmarkt Die Arzneimittelversorgung stand ganz zu Anfang im Fokus Oberender'scher Analytik. Seine studentischen Hilfskräfte schickte er in Marburg in traditionsreiche Apotheken, um dort in gediegener Palisander-Atmosphäre die Mikrofiches mit der Lower-Tax, also der Preisregulierungstabelle, zu studieren. Oberender's Analyse war relativ klar: Hier handelte es sich um einen oligopolistischen Markt, der im Schutze staatlicher Preisbindung ein Maximum von Konsumentenrente abschöpfen konnte, die dann einvernehmlich zwischen Produzenten, Zwischenhändlern und Apothekern aufgeteilt werden konnte. Gerade diese gediegene Branche tat sich und tut sich bis heute schwer mit den Vorschlägen von Peter Oberender, die auf eine an die Ludwig Erhard'sche Währungsreform angelehnte Abschaffung sämtlicher Regulierungen hinauslaufen. Wahrscheinlich wird es weiterer Kostenexplosionen bedürfen oder gar Rationierungen zulasten der Patienten, bis sich die Erkenntnis durchsetzen wird, dass noch so filigrane Verhandlungsmodelle von Gesundheitsministern, Apothekenverbänden und GKV-Spitzenorganisationen nicht in der Lage sein werden, Marktprozesse in ihrer Effektivität zu imitieren. Hier muss nach wie vor mit dem Instrument des Berufsverbotes für Filialisten gearbeitet werden, damit unbequeme Veränderungsprozesse zugunsten des Verbrauchers, für den die Wirtschaft eigentlich da ist, verhindert werden. Gleichwohl kann diese noch unbefriedigende Situation mit Gelassenheit betrachtet werden, zeigen doch Internet-gestützte Einkaufsplattformen und grenzüberschreitende Logistikbewegungen die Grenzen hoheidicher oder zunftmäßiger Organisationen auf. Letztendlich wird aber vor allem der ökonomische Druck bezüglich der Finanzierbarkeit des unverändert interessanten pharmakologischen Fortschritts für breite Bevölkerungsschichten Veränderungsprozesse, auch in zünftigen Apothekenorganisationen, bewirken. Etwas Geduld muss Oberender hier noch haben.
3.6 Arzteorganisationen Wer aktuellen Populärmedienberichten folgt, muss den Eindruck haben, dass die Tätigkeit als Arzt in Deutschland derart heroische Eigenschaften erfordert, die nur von einer ganz robusten Kampfgruppe hochbelastbarer Helden und Heilige geschafft werden können. Ganze Schiffe mit auswanderungswilligen Angehörigen dieser Berufsgruppe scheinen wöchentlich am Kai von Bremerhaven abzulegen. Die wenigen Hinterbliebenen arbeiten offenbar zu einem Stundenlohn, der mit Leiharbeitskolonnen einer Drogeriemarktkette vereinbart worden ist. Längst vergessen ist die (>Arzteschwemme", die in den 90-er Jahren ausgerufen wurde, als die Zahl der in Deutschland tätigen Ärzte deutlich niedriger war als heute.
11 Die Wirklichkeit sieht anders aus: Die Zahl der in Deutschland tätigen Ärzte steigt ununterbrochen seit Beginn der Aufzeichnungen, Einwanderungen sind häufiger als Auswanderungen, das Tarifgehalt von Ärzten ist im zweistelligen Prozentbereich höher als das anderer Akademiker, es beträgt derzeit das Mehrfache eines durchschnittlichen AOK-Beitragszahlers. Dabei darf nicht übersenden werden, dass der weitaus überwiegende Teil dieser engagierten Berufsgruppe einen sehr ordendichen, ethisch hoch motivierten, verantwortungsvollen und auch belastenden Job erfüllt. Zu beklagen sind Fehlentwicklungen, die aber nicht auf die allseits beklagte zu geringe Ressourcenausstattung — vulgo zu wenig Knete — zurückzufuhren sind, sondern auf ganz präzise analysierbare Fehlentwicklungen, ftir die das mikroökonomische Handwerkszeug ausreichende Grundlagen bietet: Der Zugang zum Studium wird seit vielen Jahren nur etwa einem Fünftel der Bewerber gewährt; insbesondere weil man sich vor gut zehn Jahren darauf verständigt hatte, dass der drohenden grässlichen Ärzteschwemme Einhalt geboten werden müsse. Die Eintrittsschwellen sind kaum ökonomisch begründbar; mal durch Numerus Clausus, mal durch Auswahlgespräche oder andere Substitute der Selektion. Die hohe Nachfrage nach diesen Studienplätzen lässt zumindest den Ökonomen vermuten, dass eine schöne privatwirtschaftliche Rendite dieser Humankapitalinvestition erwartet wird. Die Kosten fiir diese Investition, nämlich die exorbitant hohen Aufwendungen für ein Studium der Humanmedizin, werden dem Steuerzahler angelastet, der die fein situierten medizinischen Fakultäten zu finanzieren hat. Versuchen die Absolventen des Medizinstudiengangs dann ihr Humankapital volkswirtschaftlich nutzbringend einzubringen, werden sie durch rigide Arbeitszeitgesetzgebungen, fiir die ärztliche Standesvertreter und Gewerkschaftsfunktionäre stolze Siege vor Arbeitsgerichten erstritten haben, gehindert: Mehr als regelhaft 48 Stunden respektive 60 Stunden bei sogenanntem Opt-Out darf kein abhängig beschäftigter Arzt wöchentlich erbringen; einschließlich der Bereitschaftsdienstzeiten, die bekanntlich zu mindestens 50% aus Ruhe zu bestehen haben. Dies heißt nichts anderes, als dass ein Return-on-Investment für die Volkswirtschaft verschlechtert wird durch erzwungene Freizeit. Diese volkswirtschaftliche Misere kann der einzelne Arzt dadurch umgehen, dass er als freier Unternehmer auf dem Markt der sogenannten Freelancer seine Dienste anbietet. Dies ist nachweislich in stark wachsendem Umfang der Fall bei aktuell steigenden Spot-Markt-Preisen. Dem Ökonomen muss eine solche findige Umgehung bürokratischer Fesseln nicht verwundern; aus volkswirtschaftlicher Sicht sogar vielmehr erfreuen, steigt doch der Nutzen für die Gesamtwirtschaft.
12 Bringt der Arzt seine Dienste im Ausland zum Einsatz, ist dies aus weltwirtschaftlicher Sicht gar nicht schlimm, vielleicht sogar vorteilhaft, weil der Grenznutzen jenseits der deutschen Grenzen vielleicht sogar deutlich höher ist, wenn man einmal den tendenziell höheren Leidensdruck, beispielsweise in England oder sogar im außereuropäischen Ausland, betrachtet. Anders gewendet: Wenn ein deutscher Patient nur noch 16 statt bisher 18 Arztbesuche pro Jahr erhalten kann, dürfte dessen entgehender Grenznutzen relativ gering sein, wohingegen der Patient in einer am Wochenende häufig durch deutsche Ärzte besetzten britischen Notfallambulanz einen mutmaßlich sehr hohen Grenznutzen realisieren kann. Lediglich für den deutschen Steuerzahler ist die Situation misslich, bringt er doch mit seinen Zwangsabgaben Nutzen zugunsten ausländischer Volkswirtschaften auf. Das System der Kontingentierung ärztlicher Arbeitsleistung ist aber keineswegs auf den Krankenhausbereich beschränkt; im Gegenteil: Das System der Kassenärztlichen Vereinigung, das in einer wenig rühmlichen Zeit Deutschlands entstand, erwirtschaftet in einem strengen Kartell, genauer gesagt in einer Syndikatsorganisation (Syndikat = Einheitliche Verkaufsorganisation), den Verkauf ärztlicher Dienstleistungen. Die hiermit verbundenen massiven Fehlallokationen wurden von Ökonomen recht früh vorhergesehen, gab es doch bereits ausreichend viele Beispiele in ähnlich regulierten Branchen, wie beispielsweise im Güterkraftverkehr in Deutschland bzw. in Griechenland noch bis vor Kurzem. Die strenge Niederlassungssperre, die vom KV-System in Absprache mit dem damaligen Gesundheitsminister Seehofer rigoros eingeführt wurde, führte alsbald zu einer Verengung der Berufsmöglichkeit, sodass ein grauer bis schwarzer Markt entstand, auf dem KV-Mitgliedschaften - etwas feiner vertragsärztlicher Sitz genannt — zu ordentlich sechsstelligen Summen gehandelt wurden. Für die Besitzenden entstanden Rentenerträge, für Newcomer wurden die Eintrittsschwellen hoch gelegt; mit wahrscheinlich enttäuschenden psychologischen Wirkungen vor allem für Jungmediziner aus wenig betuchten Familien. Dass eine derartige Kartellorganisation ihren gesetzlich verbrieften Sicherstellungsauftrag eigentlich nur in Bezug auf das Einkommen ihrer Mitglieder erfüllt, verwundert aus ökonomischer Sicht kaum. Umso erstaunlicher ist, dass erst bei massiven Unterversorgungssituationen, beispielsweise in einigen Gebieten Ostdeutschlands, beklagt wird, dass eben diese Kassenärztliche Vereinigung offenkundig überhaupt nicht in der Lage ist, mittels Entgeltsteuerung ausreichend viele Arzte zur Sicherstellung der Patientenversorgung zu bewegen. Gleichwohl kann mit einer gewissen Gelassenheit und Zuversicht erwartet werden, dass der ökonomische Druck auf dieses System ausreichend stark wachsen wird, um die längst überfälligen Veränderungsprozesse einzuleiten; wahrschein-
13 lieh wie immer unter erbittertem Widerstand der betroffenen Institutionen. Dass Oberender bei diesen Institutionen selten als gern gesehener Festredner eingeladen wurde, verwundert wohl kaum.
4
Conclusio
Diese kleine Zahl von Beispielen zeigt wohl ausreichend deutlich, dass die strenge mikroökonomisch-ordnungstheoretische Analytik von Peter Oberender durchaus in der Lage war, Probleme und Schieflagen im Gesundheitswesen zu diagnostizieren und richtige, zielflihrende sowie vor allem nachhaltig wirksame Therapien herbei zu fuhren. Es brauchte nicht Jahre, sondern Jahrzehnte, bis sich schmerzliche Erkenntnisse in den Köpfen und dann auch in den Strukturen und Gesetzen durchsetzten. Mit Genugtuung darf Peter Oberender deshalb mit Vollendung seines 7. Lebensjahrzehnts zurück blicken auf diese von ihm ganz wesentlich mit initiierten Veränderungsprozesse, ohne die der heutige Stand der Gesundheitsversorgung in Deutschland mit ihrer international gesehen hohen Qualität und binnenwirtschaftlich finanzierten Bezahlbarkeit nicht möglich geworden wäre. Der Erfolg hat im Nachhinein immer viele Väter. Aber Peter Oberender kann ganz sicherlich zu den wissenschaftlichen und politischen Säulen eines nach wie vor funktionierenden und sozial ausgewogenen Gesundheitswesens in Deutschland gezählt werden. Wichtiger aber ist die Mission, die gute Ökonomie ausmacht. Hier sind zu nennen: •
Große Geduld ist erforderlich, oft über Jahrzehnte.
•
In Grundsatzfragen hat die Ökonomie hart und theoretisch stringent zu sein.
•
Sie muss unabhängig sein von Lobbyisten und materiellen Anreizen.
•
Sie muss bereit sein, Verantwortung zu tragen für die Belange eines Gemeinwesens, was man nach wie vor als Nation, also freiwilligen Zusammenschluss der Menschen in Freiheit, bezeichnen darf. Der Begriff Nationalökonom ist somit keineswegs überholt.
•
Sie muss ihre Mission verstehen und auch missionieren. Langfristig ist dies wahrscheinlich die wichtigste und vornehmste Aufgabe eines Ökonomen.
Walter Eucken hat in seinen Grundlagen der Nationalökonomie die Anforderungen so formuliert: „Die Wissenschaft soll die wirkliche Wirtschaft von heute und von früher hier und dort durchleuchten. Aber sie darf dem Moment nicht ausgeliefert sein."
14 Noch pointierter: „Wirtschaftswissenschaft hat die unbestechliche Logik der Dinge sprechen zu lassen, die unbequemen Tatsachen und Zusammenhänge ans Licht zu ziehen, Seifenblasen aufzustechen, Illusionen und Konfusionen zu entlarven und gegen alle Welt die Wahrheit zu verfechten, dass zwei mal zwei gleich vier ist. Sie ist dazu geschaffen, die antiideologische, antiutopische desillusionierende Wissenschaft par excellence zu sein." Dieser Aussage des von den Nazis schon im Jahr 1933 aus Marburg vertriebenen Ökonomen Wilhelm Röpke ist für den Marburg/Bayreuther Ökonomen Peter Oberender im Jahr 2011 nichts hinzuzufügen. Er hat diese Aufgabe erfüllt, unser aller Dank ist ihm dafür gewiss.
Literatur Peter Oberender/Ulrich Fehl MikroÖkonomie, diverse Auflagen, München, 1976ff. Peter Oberender (Hrsg.) Marktstruktur und Wettbewerb, München, 1984 Peter Oberender (Hrsg.) Marktökonomie, München, 1989 Peter Oberender (Hrsg.) Gesundheitswesen im Umbruch?, Bayreuth, 1987 Wolfgang Gitter, Peter Oberender, Georg Wannagat Ärzteschwemme, Spardorf, 1985 Gerard Gäfgen, Peter Oberender (Hrsg.) Technologischer Wandel im Gesundheitswesen, Baden-Baden, 1988 Walter Eucken Grundlagen der Nationalökonomie, 8. Auflage, Berlin, Heidelberg, New York, 1965 Joachim Starbatty (Hrsg.) Klassiker des ökonomischen Denkens, München, 1989 Peter Koslowski Prinzipien der ethischen Ökonomie, Tübingen, 1988 Ludwig von Mises Nationalökonomie, München, 1980 Benjamin Ward The ideal worlds of economics, New York, 1979 Paul-Heinz Koesters Ökonomen verändern die Welt, Frankfurt, 1982 Wilhelm Röpke Jenseits von Angebot und Nachfrage, 5. Auflage, Bern, 1979 Hans Jörg Hennecke (Hrsg.) Wilhelm Röpke: Marktwirtschaft ist nicht genug, Leipzig 2009 Joachim Fest Die schwierige Freiheit, Berlin, 1993
15 Friedrich August von Hayek Die Verfassung der Freiheit, Tübingen, 1983 Friedrich August von Hayek Freiburger Studien, Tübingen, 1969 Friedrich August von Hayek Der Weg zur Knechtschaft, Bern, 1946 Wolfgang Greiner, Johannes Matthias Graf von der Schulenburg, Christoph Vauth (Hrsg.) Gesundheitsbetriebslehre, Bern, 2008 Georg Rüter Die Krankenhausplanung aus ordnungspolitischer Sicht in Peter Oberender (Hrsg.), Neuorientierung im Gesundheitswesen, Bayreuth, 1988 Thomas Hönscheid Schwester Helga — Der Arztroman zur MikroÖkonomie, Frankfurt 2009
Ulrich Fehl
Theorie und Praxis: Zur Aufgabe der universitären Ausbildung im Bereich der Wirtschaftswissenschaften 1. In der einen oder anderen Form ist das Wissen schon immer von zentraler Bedeutung für die Gesellschaft gewesen. Dennoch ist es nicht unberechtigt, wenn in Bezug auf die gegenwärtige Situation von einer Wissensgesellschaft geredet wird, denn unsere Gesellschaft ist wie nie zuvor gekennzeichnet durch das systematische Streben nach neuem Wissen, dessen Umsetzung und Nutzung. Es liegt auf der Hand, dass die Universität in dieser Wissensgesellschaft eine wichtige Rolle spielt. Hier ist nicht nur an die Ausweitung des Wissens durch die universitäre Grundlagenforschung zu denken. Zu berücksichtigen ist ferner, dass das Wissen in der Gesellschaft nicht nur tradiert werden muss, es muss die nachfolgende Generation auch in den Stand versetzt werden, in kreativer Weise den Prozess der Wissensschaffung und Wissensnutzung fortzusetzen. Damit ist aber bereits das Problem der universitären Ausbildung angesprochen. 2. Es ist die permanente Änderung des Wissens, die in spezifischer Weise auch das Verhältnis von Theorie und Praxis prägt. Dieser Aspekt der Wissensänderung wird oft nicht beachtet, und gerade hiermit hängt es zusammen, dass es zu manch schiefem Urteil bezüglich des Verhältnisses von Theorie und Praxis kommt. Gäbe es nämlich die Dynamik des Wissens nicht, bliebe das Wissen konstant, so würde sich das Handeln des Menschen in der Welt lediglich wiederholen. Man befände sich in der Welt der Iterationen, die im Prinzip ausschließlich durch Routinen zu meistern wäre. Damit befände man sich in einer Situation, in der es so etwas wie eine reine Praxis geben könnte, nämlich die Wiederholung des immer Gleichen. Gleichzeitig gäbe es so etwas wie reine Theorie, die sich damit zu befassen hätte, wie diese immer gleiche Welt geordnet ist und welche Prozesse in ihr nach immer gleichem Muster ablaufen. Doch wäre die theoretische Reflexion gleichsam selbstgenügsam, weil man ihrer flir die Praxis nicht wirklich bedürfte. Praxis ereignete sich schlicht durch Anschauung und Nachahmung, also ohne theoretische Durchdringung, oder könnte es wenigstens, ohne auf Theorie zu rekurrieren. Es liegt auf der Hand, dass dann ein Konflikt zwischen Theorie und Praxis im eigendichen Sinne nicht auftreten kann. Die Dinge ändern sich schlagartig, wenn neues Wissen auftritt, die Welt sich verändert, so dass Handeln auf jeweils neuer Wissensgrundlage entwickelt werden muss. Die Zweck-Mittel-Zusammenhänge, an denen sich das Handeln orientiert, ergeben sich dann nicht mehr von selbst, das Handeln kann also nicht mehr nur auf Rou-
17 tinen basieren. Die Konstitutioni von Zweck-Mittel-Zusammenhängen und die Entscheidung zum Handeln bedürfen nun der gedanklichen Rechtfertigung, was aber wiederum nichts anderes bedeutet, als dass die Handelnden in der einen oder anderen Form auf Theorie zurückgreifen müssen. So gesehen verbirgt sich hinter dem oft behaupteten Gegensatz von Theorie und Praxis zunächst der Gegensatz zwischen alter und neuer Theorie als Grundlage des Handelns, wobei hier vorderhand offen bleiben kann, welche der Theorien zutreffend ist, das heißt, sich an der Realität besser bewährt. Dieser Zusammenhang zwischen Theorie und Handeln ist freilich keine neue Einsicht, denn bereits Keynes hat darauf aufmerksam gemacht, dass die heutige Praxis oft die Theorien der Vergangenheit reflektiert. 3. Bisher ist lediglich darauf abgestellt worden, dass sich das Wissen in der Zeit ändert und damit die Handlungsgrundlagen des Menschen. Gleichzeitig hat sich das Wissen aber auch vermehrt. Hand in Hand mit der enormen Wissensvermehrung hat sich die Arbeitsteilung in der Gesellschaft immer mehr entfaltet, und zwar sowohl bezüglich der Wissenserzeugung als auch der Wissensnutzung. Ständige Änderung und Zunahme des Wissens haben dazu geführt, dass die Welt undurchsichtig komplex geworden ist. Um handeln zu können, muss das Individuum oder eine Gesamtheit von Individuen diese Komplexität aber wieder reduzieren. Dies geschieht teilweise mit Hilfe der Institutionen. Hier genügen die Stichworte Recht, Moral, Geld. Sie kanalisieren in der Marktwirtschaft das Handeln. Aber innerhalb dieser Restriktionen müssen die Handelnden sich auch Rechenschaft ablegen darüber, was die relevanten Faktoren ihres durch Institutionen strukturierten, aber dennoch mit Freiheitsgraden versehenen Handlungsfeldes sind und wie diese Faktoren ineinandergreifen. Dabei handelt es sich jedoch um nichts Anderes als um die Anwendung von Theorie. Kurz, jeder Handelnde benötigt ein Modell seines Handlungsfeldes, gleichsam eine Skizze der wirklich wichtigen Faktoren, die seine Handlung beeinflussen. Eine Skizze, die aber zugleich auch die relevanten Wirkungszusammenhänge zwischen diesen ausgewählten Faktoren erfasst. Ein solches Modell beeinflusst die Handlungen entscheidend. Damit wird deutlich, in welchem Maße Theorie das Handeln tatsächlich steuert, ob dies nun dem Handelnden voll bewusst wird oder nicht. Theorie wird damit zu einer Hilfe für den Handelnden. Es ist dieser Zusammenhang, der in der alten Weisheit „Nichts ist so praktisch wie eine (gute) Theorie" zum Ausdruck kommt. 4. Die enorme Zunahme des Wissens, und zwar sowohl hinsichtlich Breite als auch Tiefe, schafft ein Selektionsproblem, und zwar in zweifacher Hinsicht. Theorien stellen Hypothesen oder Hypothesensysteme dar, die an der Realität scheitern können. Einige davon bewähren sich. Beim Fortschritt des Wissens stellt sich zugleich heraus, dass es andere Hypothesen gibt, die sich nicht bewähre, die also ausgesondert werden müssen. Zum Zweiten gibt es solches Wissen, das zwar nicht
18 direkt falsifiziert wird, aber weniger relevant wird, weil beispielsweise die Produktions-, Verteilungs- und Konsumtionsprozesse einen anderen Weg einschlagen, die dieses Wissen, das man in der Vergangenheit benutzt hat, als weniger wichtig oder obsolet erscheinen lassen. In Bezug auf beides, in Bezug auf die Zunahme und die Änderung des Wissens, aber auch in Bezug auf das Ausmustern bestimmter Wissenstatbestände werden in der Öffentlichkeit dezidierte Meinungen vertreten. Da werden Zeitspannen angegeben, in denen sich das Wissen angeblich verdoppelt, oder man bestimmt sogenannte Halbwertzeiten von Wissen. Das ist nicht unproblematisch, weil die Ausweitung des Wissens ein kumulativer Prozess ist, den man schwerlich durch ein quantitatives Maß bestimmen kann. Zum Anderen kann das Ausmustern von obsolet gewordenen Wissenstatbeständen immer nur vorläufig geschehen, weil man nie sicher sein kann, dass man auf dieses Wissen später nicht doch wieder wird zurückgreifen müssen. Dies stellt einen wichtigen Sachverhalt dar, den man bei der Weitergabe von Wissen auch im Bereich der Hochschule beachten muss. Der frühere Bundespräsident Roman Herzog hat vor einiger Zeit in diesem Zusammenhang eine sehr optimistische Ansicht vertreten, wir müssten nämlich gegenwärtig oder auch in der Zukunft nicht unbedingt mehr lernen, wenn wir nur das Richtige lernten. Das Problem besteht nun aber gerade darin herauszufinden, was das Richtige ist. Doch zu dieser Frage später mehr. 5. Damit ist klargelegt, dass der Praktiker der Theorie nicht entkommen kann, zumindest dann nicht, wenn er reflektiert handeln, also nicht im Vordergründigen verharren will. Dies bedeutet nun aber keineswegs, dass die dem Handeln zugrunde liegende theoretische Vorstellung aus dem Bereich des Wissenschaft oder der Universität stammen müsste. Sie kann durchaus auch als Kuppelprodukt eines learning by doing-Prozesses entstanden, also von dem Praktiker gleichsam selbst entdeckt worden sein. Wenn von dem Gegensatz zwischen Theorie und Praxis die Rede ist, denkt man freilich meistens nicht an diesen Fall, sondern meint den Unterschied zwischen dem Wissen der Praktiker auf der einen Seite und demjenigen Wissen, das an der Institution Universität oder Hochschule gelehrt wird, auf der anderen Seite. Damit setzt man aber eine institutionell verankerte Arbeitsteilung zwischen Wissenserzeugung einerseits und Wissensverwertung andererseits voraus. Mit zunehmender Entfaltung der Wissensgesellschaft kommt es in der Tat zu einer Professionalisierung in dem Sinne, dass wissenschaftliche Erkenntnis immer weniger an dem Ort entsteht, an dem sie angewendet wird. Kurz, es entfaltet sich eine zunehmende Arbeitsteilung zwischen dem System der Produktion (im weitesten Sinne) auf der einen Seite und dem System der Wissenschaft auf der anderen Seite. Ist die Verselbständigung der beiden Sphären aber so weit vorangetrieben, bedarf es offenbar der Vermittlung. Sollen im Produktionsprozess wissenschaftliche Erkenntnisse verwendet werden, so müssen die an der Universi-
19 tät gewonnen Erkenntnisse transferiert werden. Dies wiederum gelingt nur dann, wenn es entsprechend ausgebildete Arbeitskräfte gibt, die einen solchen Transfer auch tatsächlich vornehmen können. Damit aber ist man beim Problem der Ausbildung von Wissenschaftlern angelangt. 6. Entsprechend ihrer Zielsetzung, das überkommene Wissen immer wieder in Frage zu stellen und gerade dadurch neues Wissen zu gewinnen, weist die Universität eine Arbeitsform auf, die den Bedürfnissen der praktischen Anwendung von wissenschaftlichen Erkenntnissen auf den ersten Blick entgegengesetzt erscheint. Jedenfalls liegt hier eine Quelle, aus der sich Missverständnisse bezüglich des Verhältnisses von Theorie und Praxis speisen mögen. Was mit diesen Arbeitsprinzipien der Universität gemeint ist, lässt sich an den Humboldtschen Prinzipien der Universität veranschaulichen: Ergebnisoffenheit der Forschung oder Nichtabschließbarkeit des Systems Wissenschaft; Einheit von Forschung und Lehre; Wissenschaft als Universum der Disziplinen (Interdisziplinarität). Der Idee nach bedeutet das nichts Anderes, als dass jeder, gleichgültig ob als Lehrender oder als Studierender, am universitären Vermitdungszusammenhang von Wissen und gleichzeitig auch der Forschung prinzipiell gleichberechtigt beteiligt ist. Das bedeutet, dass die Lehre nicht von der Forschung abgetrennt sein sollte, weil es einen feststehenden Kanon des Lehrbaren in diesem Sinne nicht geben kann, gleichzeitig sollte aber auch die Forschung nicht von der Lehre abgeschnitten sein, weil Letztere ständig auch Impulse fiir die Forschung gibt. Schließlich bedeutet universitas die Gesamtheit der Disziplinen in der Universität soll der notwendigen Arbeitsteilung und Spezialisierung grundsätzlich entgegengewirkt werden, wovon man sich eine Förderung des weiteren wissenschaftlichen Fortgangs erhofft. Auf der Grundlage einer professionalisierten Ausbildung soll das Gespräch mit anderen Disziplinen gesucht werden. Wegen der Professionalisierung auf mindestens einer Seite besteht eine wechselseitige „Kontrolle", sodass es bei der interdisziplinären Zusammenarbeit nicht etwa um ein Dilettieren geht. Die enorme Entfaltung der Wissenschaft hat dazu gefuhrt, dass das Ideal von Humboldt in Bezug auf Lehre und Forschung nicht voll durchgehalten werden kann. Dies gilt vor allem zu Beginn des Studiums. 7. Geht man von der Idee der Humboldtschen Universität aus, so scheint die universitäre Ausbildung zunächst ganz im Dienste der Wissenschaft selbst zu stehen, weil auf diese Weise ja der wissenschaftliche Nachwuchs rekrutiert werden soll oder, um es negativer zu formulieren, scheinen die Bedürfnisse der (wirtschaftlichen) Praxis nicht berücksichtigt zu werden. Von Praktikern wird dies jedenfalls nicht selten behauptet. Nun ist sicherlich richtig, dass die universitäre Ausbildung auch der Rekrutierung des Eigenen dient und dienen muss, denn woher sollte dieser Nachwuchs sonst kommen? Dabei müssen die für die wissenschaftliche Lauf-
20 bahn Geeigneten selektiert werden können, was natürlich eine bestimmte Zahl von Auszubildenden insgesamt voraussetzt. Wer geeignet ist, das zeigt sich erst im Laufe des Studiums. Die von der Universität nicht beanspruchten Ausgebildeten - und dies ist bei weitem die Mehrheit - stehen für die Praxis bereit. Es wäre nun aber völlig falsch anzunehmen, die so wissenschaftlich Ausgebildeten seien für die Belange der wirtschaftlichen Praxis nicht geeignet. Mit der ständigen Erweiterung und Änderung des Wissens stellt sich nämlich - wie gezeigt - auch in der unternehmerischen Praxis stets die Frage der Uberprüfung bzw. Rechtfertigung. Wie will aber ein Praktiker entscheiden, welches Wissen für seine Zwecke passend oder eben nicht mehr passend bzw. überholt ist, wenn er es nicht gelernt hat, Kriterien für eine solche Beurteilung anzuwenden. Das für die Einheit von Lehre und Forschung spezifische Procedere des learning by doing existiert in der Praxis gleichermaßen. Auch die Idee der universitas ist der Praxis nicht ganz fremd, denn in aller Regel müssen bei der Lösung praktischer Probleme verschiedene Wissensstränge kombiniert werden, muss das Wissen verschiedener Disziplinen zusammengefügt werden. Eine adäquat durchgeführte wissenschaftliche Ausbildung an der Universität befähigt mithin auch und gerade zu den Aufgaben einer wirtschaftlichen Praxis, wie sie sich bei einer ständigen Veränderung der Wissenslandschaft im Produktionsbereich präsentiert. So gesehen bildet die Universität durch ihre Ausbildungsmethode eben nicht nur für die Zwecke des eigenen Nachwuchses aus, sondern arbeitet auch den Belangen der Praxis vor, das heißt, die Ausbildung befähigt gerade auch zu dem dort erforderlichen Problemlösungsverhalten. Dies liegt in letzter Instanz darin begründet, dass die Struktur der Problemlösung, wie sie an der Universität einerseits oder in der Praxis andererseits gefordert wird, prinzipiell dieselbe ist. 8. Dennoch existieren hier mögliche Konflikte. Die Einheit von Forschung und Lehre impliziert ein System, in dem es so etwas wie akademische Prüfungen eigentlich nicht geben dürfte, weil sie prima vista der gleichberechtigten Teilnahme am Forschungsprozess widersprechen. Auf der anderen Seite erwartet aber die Gesellschaft, dass bestimmte Qualifikationen seitens der Universität attestiert werden. Deshalb ist die gelegentlich vorgetragene Polemik gegen die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen durch die Bildungsinstitutionen - weil hierdurch nämlich eine Kreativitätsbremse entstehe - verfehlt. Es kommt eben auf beides an, auf die Gewährleistung von Schlüsselqualifikationen und Methodenkompetenz und auf die Kreativität, die nach Möglichkeit natürlich nicht unterdrückt werden sollte. Viel wichtiger ist aber der zeitliche Gesichtspunkt, denn die von der Gesellschaft erwartete Qualifikation in den verschiedenen Disziplinen soll innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne von acht bis zehn Semestern erreicht werden. Dies zwingt zur Konzentration auf das Wesentliche. Was aber ist das Wesentliche?
21 9. Zunächst ist festzuhalten, dass auch diesbezüglich in der öffentlichen Diskussion durchaus zweifelhafte Vorschläge gemacht werden. Da ist von der Straffung des Studiums die Rede oder es wird gar von der Entrümpelung der Studiengänge gesprochen. Beides mit dem Ziel, die Zeit des Studiums deutlich zu verkürzen. Dabei wird jedoch nicht hinreichend beachtet, dass der geschilderte Prozess der permanenten Wissensgewinnung ohnehin einen Prozess der permanenten Selektion von Lehrinhalten impliziert. Deshalb ist - jedenfalls im Grundsatz - die Rede von der notwendigen Entrümpelung nur schwer verständlich. Darüber hinaus beachtet man nicht genügend, dass der Wissensumfang enorm zugenommen hat. In einer solchen Situation nun gerade eine Verkürzung der Studienzeiten zu fordern oder zu realisieren, setzt jenen Herzogschen Optimismus voraus, den ich bereits angeführt habe. An sich müsste man eher zu dem Schluss kommen, die Zeit des Studiums zu verlängern. Da dies aber auf praktische und finanzielle Grenzen stößt, scheint als Ausweg nur die weitere Spezialisierung übrig zu bleiben. Während dieser Weg in der Forschung ohne weiteres beschritten werden kann, gibt es in der Ausbildung für die Praxis gewisse Grenzen, denn der Wirtschaftswissenschaftler braucht für die wirtschaftliche Praxis einen gewissen „Blick für das Ganze". Daher sollte der Akzent in der ersten Stufe der universitären Ausbildung auf dem eher Grundsätzlichen liegen, und eben gerade nicht auf der häufig geforderten Spezialisierung. Dem Aspekt der Spezialisierung sollte erst später Rechnung getragen werden. Hier kommt das Konzept des lebenslangen Lernens ins Spiel. Es stellt angesichts der Zunahme und der Änderung des Wissens den gesuchten Ausweg dar. Zugleich verweist dieses Konzept auf die Notwendigkeit der Selbstdisziplin im Lernen. Mit anderen Worten, es kommt darauf an, sich dazu zu erziehen, beim Lernen einen langen Atem zu haben. Lernbereitschaft ist grundsätzlich auch dann aufzubringen, wenn es einem nicht leicht gemacht wird. Befriedigung entsteht nämlich beim Lernen oft erst dann, wenn man sich durch die Sache „hindurchgebissen" hat. Das will trainiert sein. Eine Erkenntnis im Übrigen, die von der modernen Pädagogik, welche die Lust und den Unterhaltungswert bei der Wissensvermittlung allzu einseitig in den Vordergrund rückt, oft verdrängt wird. 10. Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Forderung nach Begrenzung der Studienzeit einerseits und der Notwendigkeit lebenslangen Lernens andererseits? Nun, die erste Schlussfolgerung, die man daraus ziehen sollte, ist die, dass es eine Arbeitsteilung zwischen Universität und der späteren wirtschaftlichen Praxis gibt, was das Lernen betrifft. Dies hebt das zuvor Gesagte keineswegs auf, dass es nämlich sowohl in der Theorie, somit auch an der Universität, als auch in der Praxis immer um das Gleiche geht, nämlich um Problemlösung auf der Basis von Theorie. Der Unterschied zwischen der universitären und der praktischen Ausbildung, welche — von Praktika abgesehen — in der Regel der universitären erst nachfolgt, liegt woanders. Die universitäre Ausbildung hat die generellen Lösungskonzepte
22 vorzustellen, zu diskutieren, zu vermitteln. In der Praxis kommen dann die besonderen Umstände von Ort und Zeit hinzu, um eine Metapher F. A. von Hayeks aufzugreifen, das heißt, es kommen dort die spezifischen Gegebenheit und institutionellen Vorkehrungen in den einzelnen Branchen, die Besonderheiten in den Unternehmungen, deren informelle Abläufe usw. hinzu. Diese Spezialitäten werden durch learning by doing-Prozesse vermittelt. Die mangelnde Kenntnis der Gegebenheit vor Ort ist mit ein Grund für das Auftreten des so genannten Praxisschocks. Diesen Unterschied zwischen Theorie und Praxis kann und soll die Universität nicht aufheben. Mit anderen Worten, in diesem Sinne kann die Ausbildung an der Universität nicht einfach Abbild der Praxis sein. 11. Es kommt ein weiterer wichtiger Unterschied hinzu. Idealiter sollte das Studium den Absolventen in die Lage versetzen, Theorien und Modelle nutzen zu können. Er sollte gelernt haben, wie man eine bestimmte Fragestellung adäquat angeht, die relevanten Faktoren herausarbeitet und deren Verknüpfung analysiert. Er sollte sich während des Studiums ein solches Arsenal an Denktechniken erarbeitet haben, dass er gegenüber den in der Praxis zu bewältigenden Problemen über die größere Varietät verfugt, also über ein möglichst großes Arsenal an Handlungsvarianten. Unschätzbare Vorteile der universitären Ausbildung, die dem Studenten oft nicht bewusst werden, liegen darin, dass er während des Studiums über die nötige Zeit verfugt, die Dinge zu Ende denken zu können und damit auch in den Kern der Dinge, sprich der Theorien und Modelle, vordringen zu können. In der späteren Praxis muss dies alles unter Zeitdruck geschehen. Auch hierin besteht ein Teil des Praxisschocks. 12. Auch sind in der unternehmerischen Praxis die Dinge nicht mehr vorstrukturiert wie bei der theoretischen Problemstellung, sondern es müssen die ZweckMittel-Zusammenhänge als Grundlage der Handlung erst konstituiert werden und dies oft unter einem erheblichen Zeitdruck. Hierzu ist Begabung, ist Kreativität gefordert, die nur bedingt gelehrt werden kann. Mit anderen Worten, man kann unter Wettbewerbsdruck und damit aus Zeitnot die Dinge in der Praxis nicht immer zu Ende denken. Es ist aber gerade deshalb wichtig, über eine fundierte theoretische Ausbildung zu verfügen und eine gute Übung darin zu haben, theoretische Modelle anzuwenden, um so den Kern von Zusammenhängen schneller erfassen zu können. Man erinnere sich des Satzes, dass nichts so praktisch ist wie eine gute Theorie. 13. Ein weiterer Unterschied ist zu beachten: In der theoretischen Ausbildung werden die Daten und Informationen, die man benötigt, um ein bestimmtes Problem zu lösen, in aller Regel als bereits bekannt vorausgesetzt. Dies ist legitim, weil es in der theoretischen Ausbildung primär um die Erarbeitung der Lösungstechniken als solche, die zudem oft eher formaler Natur sind, geht. In der Praxis sehen
23 die Dinge in dieser Hinsicht gänzlich anders aus, denn hier sind, selbst wenn das Problem an sich scharf umrissen ist, die Daten und Informationen keineswegs sofort zur Stelle, sondern müssen unter Kostenaufwand erst erarbeitet werden. Diese Kostenträchtigkeit bei der Beschaffung von Informationen aber ist es, die dann wiederrum zu geschickten Näherungslösungen zwingt. Hier kommt es oft auf Fingerspitzengefühl und Erfahrung an, die man nicht abstrakt, sondern eben nur durch wiederholte praktische Problemlösungen erwerben kann, das heißt aus der konkreten Praxis heraus begreifen lernen oder gegebenenfalls erst „entdecken" muss. Auch das ist wiederum ein Teil des sogenannten Praxisschocks, der aber unvermeidbar ist. 14. Ein weiterer wichtiger Faktor kommt hinzu, nämlich die Psychologie. In der Praxis hat es der Handelnde immer mit einzelnen Menschen oder mit Gruppen zu tun, sodass eine gewisse psychologische Erfahrung von großer Bedeutung ist. Wenn es darum geht, die Vertrauenswürdigkeit von Geschäftspartnern oder das Verhalten von Vertragspartnern oder Mitarbeitern abzuschätzen, bedarf es der Erfahrung vor Ort und der Kenntnis des Geflechts formaler und informaler Regelungen in einer Brache und in einem Unternehmen und der daraus entspringenden Verhaltensweisen, um hier nicht ganz falsch zu liegen. Diese psychologische Erfahrung kann man letztlich aber nur in der Praxis und durch die Praxis erlangen. Auch hier wäre es ein fundamentaler Fehler, ein solches Rüstzeug primär von der universitären Ausbildung zu erwarten, wenngleich durch die Diskussion institutioneller Arrangements, von Anreizsystemen und verhaltenswissenschaftlichen Aspekten gewisse Grundlagen geschaffen werden können. 15. Damit lässt sich folgendes Fazit ziehen. Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Theorie und Praxis, wie er landläufig und vor allem in der gegenwärtigen hochschulpolitischen Diskussion behauptet wird, besteht nicht. Vielmehr existiert eine Strukturgleichheit in beiden Bereichen, weil es nämlich in beiden Fällen um die Lösung von Problemen geht, und Probleme kann man hier wie dort ohne die Anwendung von Theorien und Modellen nicht lösen. Insofern ist auch der Vorwurf, den man gelegentlich aus Kreisen der Wirtschaft vernehmen kann, das Universitätsstudium gehe an den Bedürfnissen der Praxis vorbei, unzutreffend. Für eine qualifizierte Tätigkeit im mittleren und höheren Management der Unternehmen und Institutionen ist eine fundierte theoretische Ausbildung unerlässlich. Zum Zweiten ist festzuhalten, dass es eine Arbeitsteilung zwischen der universitären Ausbildung und der späteren praktischen Ausbildung geben muss, und zwar in dem Sinne, dass die universitäre Ausbildung für das Generelle, für das Formale, fiir das Wissenschaftliche zuständig ist, während die Implementation der Randbedingungen - Stichwort: Umstände von Ort und Zeit im Sinne von Hayeks — erst vor Ort geschehen kann und soll. In beiden Fälle geht es um Erfahrung, aber eben
24 um unterschiedliche Varianten von Erfahrung. Diese Unterscheidung sollte man als notwendig erkennen und akzeptieren und seinen individuellen Ausbildungsgang danach gestalten. Nur wenn man dies tut, wird man aus beiden Kreisen der Erfahrung den höchsten Nutzen ziehen können, in gewissem Sinne durchaus nach dem Motto „Getrennt marschieren, aber vereint schlagen". Versuche — etwas durch Praktika und Diskussionsveranstaltungen mit Praktikern-, die Studenten bereits während des Studiums mit dem bekannt zu machen, was man an der Universität nicht lernen kann, sondern nur in der Praxis, sind zu begrüßen. Dies steht durchaus mit dem Gesagten in Einklang. Es geht nämlich darum, den Studenten bewusst zu machen, dass man an der Universität sehr viele nützliche Dinge erfahren, aber eben nicht alles lernen kann. Anders gesagt, bei der Anwendung des an der Universität Gelernten werden einige Erfahrungen zusätzlich benötigt, wenn das Gelernte fruchtbar gemacht werden soll.
Wirtschaftspolitik
Manfred E. Streit
Rechtsstaat und Sozialstaat ein ordnungspolitischer Gegensatz 1
Vorbemerkung
Im Folgenden sollen zwei Konzeptionen demokratischer Verfassung untersucht werden, die von politisch Verantwortlichen in Deutschland in Sonntagsreden und in der verfassungsrechdichen Diskussion sowie von den Medien ständig betont werden, der Rechtsstaat und der Sozialstaat. Manchmal wird auch mit dem sozialen Rechtsstaat eine wohlklingende und eher beschönigend gemeinte Verknüpfung beider Konzeptionen vorgenommen. Deshalb soll hier versucht werden, beide Konzeptionen inhaltlich zu klären, woraus sich auch ihre (normative) Gegensätzlichkeit aus einer ordnungspolitischen Sicht ergeben wird. Daraus folgt zugleich der Gang dieser Untersuchung. Zunächst (in Teil 1) wird der Rechtsstaat inhaltlich vorgestellt. Danach (in Teil 2) folgt der Sozialstaat und schließlich (in Teil 3) wird auf die Gegensätzlichkeit beider Konzeptionen eingegangen, die sich aus Verstößen gegen eine metagesetzliche Doktrin ergibt, die aus der Rechtsstaatlichkeit entwickelt wurde. In Teil 4 wurden die Darlegungen zusammengefasst.
2
Der Rechtsstaat1 (Teil 1)
Das Ideal des Rechtsstaates entstand als Reaktion auf die absolutistische Willkürherrschaft in England im 18. Jahrhundert. Dabei stand die Freiheit von der Willkür Dritter im Vordergrund.2 Das machte es erforderlich, für das Individuum eine geschützte Sphäre zu definieren, in der es seine Handlungen vornehmen kann, ohne andere in ihrer Sphäre zu behelligen. John Locke (1690) definiert diese Sphäre einfach: „I call by the general name property."3 Der nächste Schritt war, der Willkür des Herrschers oder der Herrschenden Grenzen zu setzen. Es war mit David Hume (1875) ein Schritt vom „government ofwill" zum „government of law". 4 Es ist ein Gesetz oder ein Recht, das er sich entweder selbst vorgibt oder ein überpositives Recht, das durch einen positiven Akt der Rechtsetzung weder 1
2 3 4
Er war Gegenstand von vier Vorträgen, die F. A. Hayek 1955 auf Einladung der Nationalbank von Ägypten in Kairo gehalten hat. Zum Rechtsstaat vgl. auch meinen erläuternden Aufsatz im Anhang zu Hayek 1955/2010. Zum Grundwert der Freiheit vgl. Streit 2005, S. 2 3 8 ff. zit. n. F. A. Hayek, 1955/2010, S. 33. zit. n. F. A. Hayek, ebenda.
28 geschaffen, noch außer Kraft gesetzt werden kann. Damit ist, rechtsphilosophisch betrachtet, der Weg frei fiir eine naturrechtliche Begründung eines freiheitsgewährenden Rechts, ganz im Sinne der Aufklärung. Dann ist Handlungsfreiheit „der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz vereinigt werden kann. 5 Ordnungsökonomisch betrachtet hat die Handlungsfreiheit drei rechtliche Ausprägungen: das Privat- oder Sondereigentum als Institutionalisierung der genannten privaten Sphäre, die Vertragsfreiheit und die Haftung. Sie entsprechen dem, was David Hume 6 in seinem Buch „Über Moral" bezeichnete als „Sicherheit des Besitzes, die Übertragung durch Zustimmung und die Erfüllung von Versprechen". Im Grunde bewirken diese privatrechtlichen Kategorien einen gesellschaftlichen Kosmos, zu dem sich „ein Nebeneinander freier, gleichberechtigter und autonom planender Individuen zusammenfugt" 7 . Nach dem vorherrschenden Rechtstyp kann der Kosmos mit Franz Böhm (op. cit.) „Privatrechtsgesellschaft" genannt werden. Die genannten Ausprägungen sind nichts anderes als konstitutiv für ein marktwirtschaftliches System. Dessen Gefährdungen ergeben sich, wie nachstehend dargelegt wird, aus wirtschaftspolitischen Praktiken im Namen des Sozialstaates mit dem Ziel der sozialen Gerechtigkeit.
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Der Sozialstaat (Teil 2)
Als Sozialstaat gilt ein Staat, „der den wirtschaftlichen und wirtschaftlich bedingten Verhältnissen... wertend, sichernd und verändernd mit dem Ziel gegenüber steht, jedermann ein menschenwürdiges Dasein zu gewährleisten, Wohlstandsunterschiede zu verringern und Abhängigkeitsverhältnisse zu beseitigen oder zu kontrollieren" 8 . Die Definition verdeutlicht, dass die wirtschaftlich bedingten Verhältnisse einer Beurteilung durch den Staat und damit seiner politischen Repräsentanten unterworfen sein sollen. Je nach deren Urteil sind sozioökonomische Positionen von Personen und Gruppen i.S.v. jedermann abzusichern oder mit dem Ziel einer Angleichung zu verändern. Zur Beurteilung wird eine Norm oder ein Grundwert benötigt. Von den politisch Verantwortlichen wird hierzu ständig die Norm der sozialen Gerechtigkeit verwendet. Ihr ephemerer Gebrauch wird in Deutschland daran erkennbar, dass Gesetzesvorgaben erst mit einer so genannten „sozialen Komponente" zustimmungsfähig gemacht werden. Vom Gesetzgeber angestrebte Veränderungen der individuellen Lebensumstände haben aus dem
5 6 7 8
I. Kant (1790/1960), S. 3 9 0 f. Vgl. Hume (1739/1987), S. 274. Vgl. F. Böhm (1966), S. 80. Vgl. H. F. Zacher (1977), S. 154.
29 gleichen Grund „sozialverträglich" zu sein. Aktuell und inhaltlich ebenso schwer fassbar, aber politisch vielsagend dürfte das neue Adjektiv „sozialökologisch" sein. Der zu Beginn angeführte Auftrag an den Gesetzgeber wurde von Walter Eucken9 nach einer Analyse von Einkommensunterschieden in einer Markt- oder Verkehrswirtschaft mit einer Definition von sozialer Gerechtigkeit ordnungspolitisch klar formuliert: „Soziale Gerechtigkeit sollte man also durch Schaffung einer funktionsfähigen Gesamtordnung und insbesondere dadurch herzustellen suchen, dass man die Einkommensbildung den strengen Regeln des Wettbewerbs, des Risikos und der Haftung unterwirft." Die breite Zustimmung, welche diese „Gerechtigkeitsanmaßung des Sozialstaats"10 immer wieder erfährt, ist nicht nur begründbar mit negativen Erfahrungen, die in der Zeit der industriellen Revolution gemacht werden mussten und die zu Arbeiterschutzgesetzen und zur Regelung von Kinderarbeit in Preußen 1829 und in Frankreich 1841 führten, von der später entdeckten „sozialen Frage" und den Bismarckschen Sozialgesetzen ganz abgesehen.11 Tiefer liegend ist leider, wie F. A. Hayek 12 bemerkt, „dass die Gefühle, die zur Forderung nach sozialer Gerechtigkeit fuhren und die gewiss viele der edelsten Menschen unserer Zeit beherrschen, in der modernen Großgesellschaft weder Sinn noch Anwendbarkeit haben." Hayeks Erklärung dafür ist, dass dies „auf einem Atavismus beruht, das heißt auf der Anwendung von Gefühlen auf die moderne Großgesellschaft, die wir in Hunderten und Tausenden von Jahren des Lebens in der kleinen Gruppe oder Horde entwickelt haben, weil sie zur Erhaltung der in solch kleinen Gruppen lebenden Menschen beigetragen haben, aber mit den Ordnungsprinzipien, die das friedliche Zusammenspiel von Hunderttausenden und Millionen von Menschen ermöglichen, unvereinbar sind." 13 In der vorindustriellen Zeit konnten diese atavistischen Gefühle in der ständischkorporativen Gesellschaft: und durch Anstalten der staatlichen, kommunalen und kirchlichen Armenpflege14 durchaus befriedigt werden. Zu vermuten ist, dass beim Ubergang von der ständisch-korporativen zur gesellschaftlich anonymen, industriellen Großgesellschaft ein emotionales Defizit entstand, das den Zuspruch begünstigte, den die Norm der sozialen Gerechtigkeit fand und immer noch findet.
9 10 11 12 13 14
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Eucken (1990), S. 317. Hayek (1976/2004), S. 188. hierzu D. Grimm (1983), S. 4 7 ff. Hayek (1976/2004), S. 187. Hayek, op.cit., S. 158. D. Grimm (1983), S. 42.
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Die Gegensätzlichkeit beider Konzeptionen (Teil 3)
Die erwähnten Gefährdungen der rechtsstaadich begründeten Freiheit durch sozialstaatliche Praktiken mit dem Ziel der sozialen Gerechtigkeit entstehen aus ständigen, wenn auch unreflektierten Verstößen gegen ein ordnungsrelevantes Prinzip, welches schon im alten Griechenland entwickelt wurde, die Isonomie. 15 Es ist ein meta-gesetzlicher Grundsatz oder eine Doktrin, 16 wie ein Gesetz beschaffen sein sollte. In England am Ende des 18. Jahrhunderts bedeutete sie im Kern „equalitie of lawes to all manner of Persons". 17 Im deutschen Sprachgebrauch entsprach dem später die Forderung „gleiches Recht fiir alle". Der Doktrin der Isonomie folgend sollten Gesetze oder Rechtsregeln: •
allgemein gültig sein, also ausnahmslos und unbefristet auf alle Akteure anwendbar sein;
•
offen sein, also nur spezifische Handlungen untersagen und damit eine unbekannte Zahl von Handlungsmöglichkeiten zulassen;
•
bestimmt sein, also nur solche Handlungen untersagen, die zu kennen oder festzustellen von den Betroffenen erwartet werden kann.
Die Bedeutung von Rechtsregeln, die der Isonomie genügen und für das Zusammenwirken zahlreicher Akteure in modernen Marktwirtschaften gelten, ergibt sich aus ihrer erwartungsstabilisierenden Wirkung, die als Rechtssicherheit bezeichnet werden kann; denn solche Regeln erlauben dem einzelnen Akteur, verlässliche Erwartungen über das Verhalten anderer zu bilden, indem er für sich ausschließen kann, mit welchem Verhalten anderer aufgrund der Rechtsregeln nicht zu rechnen ist; denn er kann davon ausgehen, dass regelwidriges Verhalten anderer entweder mit Sanktionen belegt wird oder ihm rechtswirksame Einwände liefert. Angewandt auf privatrechtlich begründete Markttransaktionen bedeutet das, dass das Privatrecht, soweit es der Isonomie genügt, eine koordinationsfördernde, das Verhalten kanalisierende und damit erwartungsstabilisierende Wirkung hat. Viele der sozialstaatlich begründeten Regeln werden aus dem Bemühen zu geltendem Recht gemacht, um Rechtssubjekte ungleich zu behandeln, damit mehr Gleichheit i.S.v. mehr Gerechtigkeit für sie entsteht. Das verstößt gegen den Isonomiegrundsatz der Allgemeingültigkeit von Rechtsregeln und beinhaltet eine Diskriminierung. Gleiches gilt, wenn einzelnen Personen oder Gruppen das Recht eingeräumt wird, Ausnahmen von einem Gesetz oder einer Regel für sich geltend zu machen. Vor allem das deutsche Einkommenssteuerrecht beinhaltet 15 16 17
Vgl. dazu F. A. Hayek, op.cit. S. 19 ff. und S 47 ff F. A. Hayek, ebenda. zit. n. F. A. Hayek, ebenda.
31 zahlreiche solcher Ausnahmen, d. h. Steuerprivilegien. Wenn diese bei einer Steuervereinfachung abgeschafft werden sollen, wird am Protest von Interessenverbänden erkennbar, wer mit dem Argument, Steuergerechtigkeit zu gewähren, durch Diskriminierung begünstigt werden sollte. Wenn Klagen über die Kompliziertheit des Steuerrechts und eine einträgliche Expansion des Beratungswesens bei Steuern und Abgaben laut werden, so signalisiert das lediglich einen Verstoß gegen den Isonomiegrundsatz der Bestimmtheit von Rechtsregeln. Noch problematischer wird es, wenn gegen die Allgemeingültigkeit und Bestimmtheit zugleich verstoßen wird, wie die genannten Beispiele verdeutlichen. Die Folge davon ist eine durch den sozialstaatlichen Gesetzgeber verursachte Rechtsunsicherheit. Viele bei obersten Gerichten anhängige Klagen zum Arbeits-, Miet- und Recht der sozialen Sicherung verdeutlichen die verbreitete Rechtsunsicherheit. Mit der problematischen Begründung, es diene der sozialen Gerechtigkeit, wird das Formalrecht im Interesse von als schütz- und fursorgebedürftig beurteilten Personen und Gruppen materialisiert oder „sozial gebunden", indem Handlungsrechte eingeschränkt (reguliert) und generell die Vertragsfreiheit (im Miet-, Arbeitsund Gewerberecht) zugunsten von Personen und Gruppen korrigiert wird. Das fuhrt zu einer „Reethisierung des Privatrechts" 18 sowie zu einer Änderung der Rechtsauffassung. Die Gleichbehandlung durch das Recht ist der mit „sozial" begründeten Diskriminierung gewichen. Die durch dieses Recht Begünstigten haben die ökonomischen Folgen der Diskriminierung selbst zu tragen, wie der gesetzliche Kündigungsschutz lehrt. Die so Geschützten, z. B. ältere Arbeitnehmer, stellen bei ihrer Einstellung für den Arbeitgeber ein Risiko dar, womit sich ihre Chancen bei einem Wechsel der Beschäftigung verringern, ohne dass dies von den politisch Verantwortlichen so gesehen wird, die den fraglichen Schutz im Namen der sozialen Gerechtigkeit und mit dem Blick auf anstehende Wahlen verursacht haben. Der politische Missbrauch dieser Gerechtigkeitsnorm zu Wahlkampfzwecken ist für Deutschland empirisch belegbar. 19 Die sogenannten sozialen Errungenschaften, die in den vergangenen Jahren Gegenständen von Reformbemühungen, da nicht finanzierbar, waren, lassen sich, beginnend mit dem Betriebsverfassungsgesetz von 1953 und endend mit der gesetzlichen Pflegeversicherung von 1995 als Wahlgeschenke der jeweils regierenden Partei oder Koalition identifizieren. Beide Formen mussten, politisch riskant, wieder eingesammelt, zumindest aber in ihrem Wert gemindert werden, ohne dass dies weitere Wahlgeschenke durch bessere Einsicht der vormals Schenkenden verhindert hätte.
18 19
D. Reuter (1994), S. 352 ff Vgl. dazu R.Vaubel (1991).
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Zusammenfassung (Teil 4)
Normativ belegen die bisherigen Ausfuhrungen einen Gegensatz zwischen freiheitsichernder Gesetzgebung im Rechtsstaat und gerechtigkeitsorientierten gesetzgeberischen Praktiken im Sozialstaat. Der Gegensatz entsteht, wenn die sozialstaatliche Gesetzgebung gegen einen meta-gesetzlichen Grundsatz oder eine Doktrin verstößt, die fiir den Rechtsstaat entwickelt wurde, die Isonomie. Charakteristisch für sozialstaatliche Gesetzgebung ist der Verstoß gegen den Grundsatz der Allgemeingültigkeit durch Diskriminierung mit Mitteln des Rechts, um ungleich zu behandeln mit dem Ziel, Gleichheit zu bewirken. Hinzu kommt, dass im politischen Prozess und unter dem Druck organisierter Interessen die Gleichbehandlung durch Ausnahmeregelungen durchbrochen wird. Folge davon ist eine wachsende Rechtsunsicherheit, die auf vielen Rechtsgebieten eine kostenträchtige Nachfrage nach Rechtsberatung entstehen lässt. Ordnungspolitisch betrachtet fuhren sozialstaatliche Praktiken nicht nur zu einem Gegensatz zum Rechtsstaat, sondern beinträchtigen auch die rechtsstaatlichen Grundlagen einer freiheitsorientierten marktwirtschaftlichen Ordnung. 20
Literatur Benda, E. (1984): Der soziale Rechtsstaat, in ders. u.a. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Studienausgabe Teil 1, Berlin, New York, S. 477—553, 2. neubearbeitete Auflage. Böhm, F. (1966): Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, ORDO, Bd. 17, S. 75-151. Grimm, D. (1983): Die sozialgeschichtliche und verfassungsrechtliche Entwicklung zum Sozialstaat; in: P. Koslowski, P. Kranzer, R. Low (Hrsg.): Chancen und Grenzen des Sozialstaats, Tübingen, Mohr Siebeck, S. 41-65. Hayek, F. A. (1955/2010): Das politische Ideal der Herrschaft des Gesetzes, übers, u. hrsgg. Von M. E. Streit, Jenaer Beiträge zur Ökonomik, Bd. 12, Baden-Baden, Nomos. Hayek, F. A. (1976/2004): Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit, in: ders. Wissenschaft und Sozialismus - Aufsätze zur Sozialismuskritik, gesammelte Schriften in deutscher Sprache, 17, hrsgg. von M. E. Streit, Tübingen, Mohr Siebeck, S. 186-196.
20
Vgl. dazu Streit (2001), S. 77 ff.
33 Hume, D. (1739/1978): Ein Traktat über die menschliche Natur, Bd. 2, Hamburg. Kant, I. (1790/1960): Die drei Kritiken in ihrem Zusammenhang mit dem Gesamtwerk, mit verbindendem Text zusammengefasst von R. Schmidt, 8. Aufl., Stuttgart: Kröner. Streit, M. E. (1988): Freiheit und Gerechtigkeit - ordnungspolitische Aspekte zweier gesellschaftlicher Grundwerte, ORDO, Bd. 39, S. 33-53. Streit, M. E. (2005): Theorie der Wirtschaftspolitik, Stuttgart: Lucius & Lucius, UTB 8298. Vaubel, R. (1991): Der Missbrauch der Sozialpolitik in Deutschland: Historischer Uberblick und politisch-ökonomische Erklärung, in: G. Radnitzky, H. Bouillon (Hrsg.): Ordnungstheorie und Ordnungspolitik, Berlin, New York, u.a.: Springer, S. 173-202. Zacher, H. F. (1977): Das Sozialstaatprinzip; Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Bd. 7, Stuttgart, New York, S. 152-160.
Nobert Eickhof
Wettbewerbspolitik versus „neue" Industriepolitik21 1
Einführung
In allen marktwirtschaftlichen Systemen wird sowohl Wettbewerbs- als auch Industriepolitik durchgeführt. Beide Politikbereiche verfolgen unterschiedliche Ziele und greifen auf unterschiedliche Maßnahmen zurück. In gewisser Weise stellen sie Gegensätze dar. Während die Wettbewerbspolitik relativ unumstritten ist, gilt das nicht fiir die Industriepolitik. In jüngerer Zeit sind allerdings neue Konzepte und Begründungen der Industriepolitik vorgestellt worden. Damit ergibt sich die Frage, ob diese zu einer anderen Bewertung der Industriepolitik bzw. des Verhältnisses von Wettbewerbs- und Industriepolitik fuhren. Betrachten wir daher beide Politikbereiche der Reihe nach und beginnen mit der Wettbewerbspolitik.
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Wettbewerbspolitik
Wettbewerbspolitik zielt auf die Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfreiheit. Mit dieser Politik soll der Staat Beschränkungen der Wettbewerbsfreiheit, das heißt: Wettbewerbsbeschränkungen, bekämpfen. (a) Ein freier, unbeschränkter Wettbewerb wird angestrebt, weil mit ihm in der Regel bestimmte Ergebnisse, oder anders formuliert: Funktionen, verbunden sind. Im Einzelnen werden gesellschaftspolitische und ökonomische Wettbewerbsfunktionen unterschieden (Eickhof 2009). Zu den gesellschaftspolitischen Funktionen des Wettbewerbs gehören die Existenz von relativ großen individuellen Freiheitsspielräumen und ein Schutz vor übermäßiger, ungerechtfertigter Macht. Verglichen mit einem Monopol haben Unternehmen, Haushalte und Arbeitnehmer bei Wettbewerb verhältnismäßig große Handlungs- und Wahlfreiheiten. Darüber hinaus begrenzt Wettbewerb die Macht des einzelnen Marktteilnehmers und koppelt diese an seine Marktleistung. Zu den ökonomischen Wettbewerbsfunktionen gehört eine relativ gute Marktversorgung. Hier lassen sich wiederum fünf einzelne Funktionen unterscheiden, und zwar die Effizienz-, die Bedürfnisbefriedigungs-, die Anpassungs-, die Fortschritts- und die Verteilungsfunktion. Jeweils verglichen 21
Peter Oberender hat sich jahrzehntelang mit Fragen der Wettbewerbs- wie auch der Industriepolitik beschäftigt (z. B. 1975, 1976 oder etwa -/Daumann 1995). Ihm ist der folgende Beitrag anlässlich seines 70. Geburtstags am 14.06.2011 gewidmet.
35 mit einem Monopol müssen die Unternehmen bei Wettbewerb sowohl die produktive als auch die allokative Effizienz anstreben, wenn sie im Markt bestehen wollen. Zweitens müssen sie ihr laufendes Angebot an den Bedürfnissen der Kunden ausrichten, um „Ladenhüter" oder auch Engpässe zu vermeiden. Drittens müssen sie ihre Kapazitäten an die Entwicklung der Nachfrage sowie der Technik anpassen, wollen sie Überkapazitäten bzw. Kapazitätsengpässe oder aber veraltete Kapazitäten vermeiden. Viertens müssen sie permanent Forschung und Entwicklung betreiben sowie Prozess- und Produktinnovationen durchfuhren, um von den anderen Unternehmen nicht technologisch abgehängt zu werden. Und fünftens entspricht die funktionelle Einkommensverteilung bei Wettbewerb annähernd der Marktleistung, da nun keine Monopolgewinne anfallen. - Insbesondere wegen dieser Funktionen wird der Wettbewerb, konkret: der freie, unbeschränkte Wettbewerb, allgemein positiv bewertet und vor Beschränkungen geschützt. (b) Wettbewerbsbeschränkungen wiederum sind vielfältig (Kerber 2007). Sie können vom Staat oder von den Privaten ausgehen. Zu den staatlichen Wettbewerbsbeschränkungen gehören beispielsweise Importrestriktionen, die den internationalen Handel beschränken, oder Mindestpreise, durch die der Preiswettbewerb beschränkt wird. Auf staatliche Wettbewerbsbeschränkungen kommen wir im Rahmen der Industriepolitik noch zurück. Private Wettbewerbsbeschränkungen können kollektiv oder einseitig erfolgen. Im Einzelnen sind wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen, Zusammenschlüsse von Unternehmen sowie Missbrauch von marktbeherrschenden Stellungen zu unterscheiden. Wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen können sich auf ein und dieselbe Marktstufe oder auf vor- und nachgelagerte Marktstufen erstrecken. Im erstgenannten Fall spricht man von Kollusion bzw. horizontalen, im zweitgenannten von vertikalen Vereinbarungen. Bekannte und unstrittige Beispiel für Kollusion stellen Kartelle und Verhaltensabstimmungen dar. Unter einem Kartell versteht man eine vertragliche Wettbewerbsbeschränkung von Unternehmen derselben Marktstufe, wobei die Selbständigkeit der beteiligten Unternehmen in rechtlicher Hinsicht vollständig und in ökonomischer Hinsicht je nach dem Umfang der gegenseitigen Bindung eingeschränkt erhalten bleibt. Im Einzelnen lassen sich zahlreiche, verschiedenartige Kartelltypen unterscheiden, angefangen bei Preiskartellen über Konditionen-, Mengen-, Rationalisierungs- und Spezialisierungskartelle bis hin zu Export- und Importkartellen. Es liegt auf der Hand, dass die wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen der einzelnen Kartelltypen höchst unterschiedlich sind. Hinzu kommt, dass der Wettbewerbsbeschränkung häufig auch Effizienzgewinne gegenüberstehen. Kartelle sind daher wirtschaftspolitisch differenziert zu behandeln. Verhaltensabstimmungen unterscheiden sich von Kartellen darin, dass keine vertragliche, sondern nur eine faktische Bindung der beteiligten Unternehmen
36 besteht. Verhaltensabstimmungen werden somit interessant, wenn vertragliche Bindungen ausgeschlossen sind. Von den horizontalen wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen sind die vertikalen zu unterscheiden. Das bekannteste Beispiel stellt die sog. Preisbindung dar. Hierbei handelt es sich um einen vertikalen Vertrag, mit dem sich der Wiederverkäufer eines Gutes dessen Hersteller gegenüber verpflichtet, einen bestimmten Absatzpreis zu setzen. Einerseits wird dadurch der (Preis-)Wettbewerb auf der Handelsstufe beschränkt. Andererseits fuhrt die Preisbindung aber auch dazu, dass die Markttransparenz erhöht und die Informationskosten der Nachfrager gesenkt werden. Bleibt die Selbständigkeit der beteiligten Unternehmen bei Kartell- und Preisbindungsverträgen mehr oder weniger erhalten, so geht sie bei Zusammenschlüssen von Unternehmen total oder zumindest partiell verloren. Auch Unternehmenszusammenschlüsse bzw. Fusionen können sich auf ein und dieselbe Marktseite oder auf vor- und nachgelagerte Marktstufen erstrecken. Im ersten Fall spricht man von horizontalen, im zweiten dagegen von vertikalen Zusammenschlüssen bzw. von vertikaler Integration. Alle sonstigen Fälle werden schließlich als konglomerate Zusammenschlüsse bezeichnet. Zusammenschlüsse stellen "Wettbewerbsbeschränkungen mit den bekannten Folgen dar. Auf der anderen Seite können sie auch unterschiedlich Effizienzsteigerungen bewirken. So geht man bei horizontalen Fusionen gern von Skalenvorteilen, bei der vertikalen Integration von Transaktionskosten-Ersparnissen und bei konglomeraten Zusammenschlüssen von Verbundvorteilen sowie Synergieeffekten aus. Wie Kartelle und Preisbindungen sind also auch Fusionen volkswirtschaftlich ambivalent zu betrachten. Ahnliches gilt für den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung. Unter Marktmacht verstehen wir die Fähigkeit von Marktteilnehmern, die Marktsituation im eigenen Interesse zu verändern. Ein besonderes Ausmaß wird erreicht, wenn es Marktteilnehmer vermögen, die Handlungsspielräume ihrer Marktkonkurrenten oder Marktkontrahenten einzuengen. Jetzt droht die Gefahr des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung. Davon sprechen wir, wenn die Marktmacht eines Marktteilnehmers relativ groß ist und in einer Weise genutzt wird, die als nicht leistungsorientiert zu bezeichnen ist. Im Einzelnen kann eine marktbeherrschende Stellung dazu missbraucht werden, andere Unternehmen zu behindern und/oder Marktkontrahenten auszubeuten. Im ersten Fall spricht man von Behinderungs-, im zweiten von Ausbeutungsmissbrauch. Typische Beispiele für Behinderungsmissbrauch sind Kampfpreisstrategien, Netzzugangsverweigerungen sowie das Durchsetzen von Kopplungs- und Gegenseitigkeitsgeschäften. Ausbeutungsmissbrauch liegt dagegen vor, wenn ein marktbeherrschendes Unternehmen bei seinen Lieferanten und/oder Abnehmern Preise sowie Konditionen durchsetzt, die sich bei wirksamem Wettbewerb nicht ergeben würden. Es liegt auf der Hand, dass der Behinderungsmissbrauch
37 wettbewerbsbeschränkend wirkt. Auf der anderen Seite können die Konsumenten beispielsweise von Kampfpreisen oder von einer Ausbeutung der Produzenten durch die Händler eventuell auch profitieren. Ähnlich wie wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen und Zusammenschlüsse ist also auch der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung volkswirtschaftlich nicht eindeutig zu klassifizieren. — Nur so viel zu den wichtigsten Arten privater Wettbewerbsbeschränkungen. Wie werden diese Restriktionen jedoch wettbewerbspolitisch behandelt? (c) Die deutsche Wettbewerbspolitik basiert in erster Linie auf dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) von 1957 (Schmidt 2005). Dieses Gesetz enthielt von Anfang an ein Verbot von Kartellen und Preisbindungen sowie eine Missbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen. 1973 kam die Fusionskontrolle hinzu. Nach § 1 GWB sind alle horizontalen und vertikalen wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen verboten. Wie bereits ausgeführt, zählen hierzu insbesondere Kartelle, Verhaltensabstimmungen und Preisbindungen. Von diesem Verbot sind allerdings solche Vereinbarungen ausgenommen, die die Verbraucher an dem entstehenden Gewinn angemessen beteiligen, zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -Verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen und keine vermeidbaren, gravierenden Wettbewerbsbeschränkungen implizieren. Ausgenommen sind ferner Mittelstandskartelle sowie bestimmte Vereinbarungen in bestimmten Branchen. Im Rahmen der Fusionskontrolle gemäß §§ 35 ff. GWB besteht eine Anzeigepflicht für größere Zusammenschlussvorhaben. Das Bundeskartellamt prüft sodann, ob durch den Zusammenschluss eine marktbeherrschende Stellung entstehen oder verstärkt würde. Eine marktbeherrschende Stellung liegt wiederum vor, wenn ein Unternehmen ohne Wettbewerber ist, keinem wesentlichen Wettbewerb ausgesetzt ist oder eine überragende Marktstellung hat. Zwei oder mehr Unternehmen sind indessen marktbeherrschend, wenn zwischen ihnen kein wesentlicher Wettbewerb besteht und sie zusammen die im letzten Satz genannten Kriterien erfüllen. Neben dieser gesetzlichen Definition gibt es noch quantitative Vermutungstatbestände für eine marktbeherrschende Stellung. Würde nun durch einen Zusammenschluss eine marktbeherrschende Stellung entstehen oder verstärkt, so untersagt das Bundeskartellamt diese Fusion, es sei denn, die Unternehmen weisen nach, dass durch den Zusammenschluss auch Verbesserungen der Wettbewerbsbedingungen (auf einem anderen Markt) eintreten und dass diese Verbesserungen die Nachteile der Marktbeherrschung überwiegen. Untersagt das Bundeskartellamt jedoch eine Fusion, so kann der Bundeswirtschaftsminister diesen Zusammenschluss erlauben, wenn die Wettbewerbsbeschränkung von gesamtwirtschaftlichen Vorteilen der Fusion aufgewogen wird oder wenn ein überragendes Interesse der Allgemeinheit an dem Zusammenschluss besteht.
38 Die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung ist gemäß § 19 GWB verboten. Das gilt sowohl bezüglich des Behinderungs- als auch des Ausbeutungsmissbrauchs. Ersterer liegt insbesondere dann vor, wenn ein marktbeherrschendes Unternehmen die Wettbewerbsmöglichkeiten anderer Unternehmen in erheblicher Weise ohne sachlich gerechtfertigten Grund beeinträchtigt. Von Ausbeutungsmissbrauch ist dagegen auszugehen, wenn ein marktbeherrschendes Unternehmen Preise oder Konditionen fordert, die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit bei wirksamem Wettbewerb nicht ergeben würden. (d) Vergleichbare Regelungen enthält auch die europäische Wettbewerbspolitik (Schmidt/Schmidt 2006). So sind nach Art. 101 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) horizontale und vertikale wettbewerbsbeschränkende Verträge einschließlich Verhaltensabstimmungen verboten, wenn sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen können. Art. 102 AEUV verbietet die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt oder auf einem wesentlichen Teil desselben, wenn dadurch der Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigt werden kann. Die europäische Fusionskontrollverordnung regelt die Kontrolle über Zusammenschlüsse von gemeinschaftsweiter Bedeutung. Ähnliche Regelungen enthalten auch die US-amerikanische und sogar die russische Wettbewerbspolitik. Für die USA finden sie sich vor allem im Sherman Act sowie im Clayton Act (Areeda/Turner 1978 ff.), für Russland im Gesetz über den Schutz des Wettbewerbs (Grusevaja 2010). — Insgesamt zeigt sich, dass Wettbewerbspolitik in (nahezu) allen marktwirtschaftlichen Systemen durchgeführt wird, ferner dass sich die einzelnen Regelungen einander angepasst haben und relativ problemorientiert, umfangreich sowie unumstritten angewandt werden. Gerade der letztgenannte Punkt gilt jedoch nicht mehr für die Industriepolitik.
3
Industriepolitik
Erinnern wir uns: Bei der Wettbewerbspolitik geht es um die Aufrechterhaltung der Wettbewerbs^-«/'«?. Industriepolitik zielt dagegen auf die Gewährleistung der W e t t b e w e r b s / « / ; D e r Staat soll nun dafür sorgen, dass die Unternehmen ihre Position im Markt erhalten bzw. verbessern können. Industriepolitik wird (ebenfalls) in allen Ländern praktiziert. (a) In der Europäischen Union legt Art. 173 AEUV die Ziele und Maßnahmen der Industriepolitik fest (Eickhof 1997). Nach Absatz 1 Satz 1 dieses Artikels haben die Union und die Mitgliedstaaten dafür zu sorgen, dass die notwendigen Voraussetzungen für die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie der Union gewährleistet sind. Im Einzelnen werden hierfür folgende Maßnahmen genannt: Erleichterung
39 der Anpassung der Industrie an strukturelle Veränderungen, Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen, Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen, Konsultation der Mitgliedstaaten und Koordination ihrer Maßnahmen, Förderung dieser Koordination durch die EU-Kommission, spezifische gemeinschaftliche Maßnahmen zur Unterstützung der nationalen Maßnahmen, aber: keine Wettbewerbsverzerrungen. Bereits die beiden letztgenannten Punkte zeigen das grundsätzliche Dilemma der Industriepolitik: „Spezifische" Maßnahmen sind nicht-allgemeine Maßnahmen. Sie kommen lediglich einzelnen Unternehmen, Märkten oder Branchen zugute. Sie begünstigen damit nur partiell und verschlechtern somit zumindest relativ die Marktposition der anderen, nicht geforderten Unternehmen, Märkte oder Branchen. Damit wird natürlich der Wettbewerb im jeweiligen Wirtschaftsbereich verzerrt. Spezifische Maßnahmen sind insofern immer wettbewerbsverzerrend, obwohl Art. 173 AEUV genau das eigentlich verhindern möchte. Die Industriepolitik der EU basiert somit auf einer widersprüchlichen Grundlage. (b) Besondere Bedeutung in Theorie und Praxis hat die so genannte „neue" Industriepolitik erlangt (Dunn 1995). Sie setzt an der weltweit zu beobachtenden Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft an und warnt vor der damit einhergehenden De-Industrialisierung und den hiermit verbundenen Arbeitsplatzverlusten. Ihre Ziele sind die Rückeroberung traditioneller inländischer Märkte (beispielsweise für Stahl, Schiffe und Autos) sowie die Eroberung neuer ausländischer Märkte (beispielsweise für Biochemie, Gentechnologie und Umwelttechnologie). Diese Ziele sollen zum einen durch Protektionismus und zum anderen durch Förderung von Forschung und Entwicklung erreicht werden. Im erstgenannten Fall spricht man auch von „turning loosers into winners", im zweitgenannten von „picking the winners". Ansatzpunkte sind einerseits die Außenhandelspolitik und andererseits die Forschungs- und Technologiepolitik (FuT-Politik). Bei der Außenhandelspolitik ist insbesondere an Importrestriktionen, bei der FuT-Politik vor allem an nicht-allgemeine, spezifische bzw. selektive Fördermaßnahmen zu denken. Konkret sollen somit durch Importsubstitution und Exportdiversifizierung das Wirtschaftswachstum beschleunigt und die Beschäftigung verbessert werden. Wie ist die „neue" Industriepolitik volkswirtschafilich zu würdigen? Kurz formuliert, ist sie weder „neu" noch effektiv. Im Grunde genommen geht es um die alte, merkantilistische „Beggar-my-neighbour"-Politik. Die Wirtschaft wird als ein Nullsummen-Spiel aufgefasst. In diesem Rahmen möchte man inländische Vorteile auf Kosten des Auslands erringen. Komparative Kostenvorteile bzw. moderner ausgedrückt: Win-win-Situationen werden ignoriert. Das gilt insbesondere für den erstgenannten Maßnahmenbereich: Protektionismus fordert heimische Ineffizienzen. Gerade die Schwellen- und Entwicklungsländer bekommen keine Ab-
40 satzchancen. Dann können sie aber auch keine Devisen erwirtschaften und neue Produkte importieren, so dass die Exporte der traditionellen Industrienationen darunter leiden. Ferner droht eine Interventionsspirale: Die protektionistischen Maßnahmen des einen Staates werden mit ähnlichen Maßnahmen der anderen Staaten beantwortet. Die internationale Arbeitsteilung geht zurück. Die damit verbundenen Vorteile schwinden, die Wohlfahrt sinkt. Sympathischer erscheint zunächst der zweitgenannte Maßnahmenbereich: Die Förderung von Forschung und Entwicklung (FuE) wird grundsätzlich positiver beurteilt. Das geschieht zu Recht bezüglich der allgemeinen, nicht-selektiven Fördermaßnahmen. Man denke etwa an Sonderabschreibungen für FuE-Investitionen oder an Lohnkostenzuschüsse für FuE-Personal. Derartige Maßnahmen haben eine relativ geringe Eingriffsintensität und sollen lediglich das technologische Niveau einer Volkswirtschaft heben. Die „neue" Industriepolitik zielt allerdings nicht auf allgemeine, sondern vielmehr auf spezifische bzw. selektive Fördermaßnahmen. Jetzt geht es um die Förderung ganz bestimmter Produkte bzw. Technologien. Typische Beispiele sind die deutsche Solarenergieförderung, das französische Uberschallflugzeug Concorde oder das europäische Galileo-Projekt. Die Eingriffsintensität ist nun relativ groß. Im Fokus steht nicht mehr das technologische Niveau, sondern die Struktur der Volkswirtschaft. Damit ist eine Reihe von Fragen und Problemen verbunden: Woher weiß der Staat, was morgen und übermorgen nachgefragt wird? Wer haftet bei Fehlentscheidungen? Die Fortschrittsfunktion des Wettbewerbs wird ausgeschaltet. Nicht geförderte Unternehmen, Märkte und Branchen werden diskriminiert, der Wettbewerb verzerrt. Da es Großunternehmen leichter fällt, gefördert zu werden, wird die Konzentration beschleunigt. Mitnahmeeffekte und Rent-Seeking nehmen zu. Es kommt zu internationalen Förderungs-Wettläufen. Es drohen Fehlinvestitionen, Überkapazitäten und Branchenkrisen.—Letztlich führt die „neue" Industriepolitik nicht zu den gewünschten Verbesserungen, sondern zu einer kollektiven Schädigung. Sie ist also mehr als kritisch zu betrachten. Gleichwohl hat sie in zweifacher Hinsicht von der modernen Wirtschaftstheorie Unterstützung erfahren, und zwar sowohl von der „neuen" Außenhandelstheorie als auch von der „neuen" Wachstumstheorie. (c) Die „neue" Außenhandelstheorie stellt eine Weiterentwicklung der traditionellen, neoklassischen Außenhandelstheorie dar. Erinnern wir uns: Die neoklassische Außenhandelstheorie geht von vollkommener Konkurrenz auf den Märkten sowie abnehmenden Skalenerträgen, das bedeutet: steigenden Grenz- und Durchschnittskosten, aus. Zwischen den einzelnen Ländern bestehen komparative Kostenunterschiede. Freihandel fuhrt dann zur optimalen weltwirtschaftlichen Faktorallokation sowie zur maximalen Wohlfahrt aller Länder. Für Industriepolitik gibt es keinen Ansatzpunkt. Etwas anderes ergibt sich nach der „neuen" Außenhandelstheorie, die insbesondere von Krugman (1987) formuliert worden
41 ist. In der „neuen" Außenhandelstheorie geht man von Oligopolen und Größenvorteilen aus. Die Skalenerträge steigen, und die Durchschnittskosten sinken mit zunehmender Produktion wie auch infolge von Lernprozessen. Zwischen den einzelnen Ländern gibt es zwar „natürliche" Unterschiede, diese sind aber relativ gering. Wichtig ist, dass sie einen intrasektoralen Handel zulassen. Beispielsweise kann Italien danach deutsche Autos kaufen, Deutschland gleichzeitig aber auch Autos aus Italien importieren. Unteilbarkeiten, hohe Fixkosten, sinkende Durchschnittskosten und Lernkurveneffekte fuhren schließlich zu First-MoverVorteilen: Wer als erster die Produktion eines Gutes aufnimmt, hat Vorteile bei der Eroberung des Gesamtmarktes. Der First-Mover-Position kommt damit eine strategische Bedeutung zu. Daraus ergeben sich industriepolitische Implikationen: Eine nationale Wohlfahrtssteigerung wird jetzt möglich durch die systematische Schwächung ausländischer Konkurrenten. Im Einzelnen lassen sich nun durch geeignete Maßnahmen Gewinne sowohl auf inländische Unternehmen umlenken (Rent Shifting) als auch bei heimischen Industrien schaffen (Rent Creation). Zu diesen Maßnahmen zählen die Behinderung von Importen sowie die Förderung von Exporten. Eine zentrale Rolle kommt damit Importrestriktionen sowie Exportsubventionen zu. Eine strategische Handels- bzw. Industriepolitik lohnt sich demnach. Sie fuhrt zu einer höheren nationalen Wohlfahrt als Freihandel. Wie ist dieser Ansatz volkswirtschaftlich zu beurteilen? Eine strategische Handels- bzw. Industriepolitik lohnt sich allenfalls, solange sie nur von einem Land praktiziert wird. Ist dagegen mit Retorsionsmaßnahmen der anderen Länder zu rechnen, schwinden die Vorteile. Darüber hinaus gilt: Importrestriktionen und Exportsubventionen implizieren volkswirtschaftliche Kosten und bedeuten nationale Wohlfahrtsverluste. Verfolgen also mehr oder weniger alle Länder eine strategische Handels- bzw. Industriepolitik, ist mit einer kollektiven Schädigung zu rechnen. Die nationale Wohlfahrt wird jetzt bei allen geringer als bei Freihandel. Auch unter Berücksichtigung der Ergebnisse der „neuen" Außenhandelstheorie erweist sich eine strategische Handelspolitik bzw. Industriepolitik als ausgesprochen problematisch. Günstiger erscheint daher ein genereller Verzicht auf eine solche Politik durch internationale Selbstbindung, wie das beispielsweise im Rahmen der W T O geschieht. (d) Damit kommen wir zur Bedeutung der „neuen" Wachstumstheorie für die Industriepolitik. In der traditionellen, neoklassischen Wachstumstheorie wird der technische Fortschritt als exogen unterstellt. Daher ist er wirtschaftspolitisch und somit auch industriepolitisch unbeeinflussbar. Das ändert sich mit dem Übergang von der neoklassischen zur „neuen " Wachstumstheorie, wie sie insbesondere von Romer (1990) und Lucas (1988) formuliert worden ist. Die „neue" Wachstumstheorie bemüht sich um eine endogene Erklärung des technischen Fortschritts
42 wie auch des Wirtschaftswachstums. Große Bedeutung kommt dem Forschungssektor zu, in dem Forschung und Entwicklung durchgeführt werden. Hier kann es — anders als nach der neoklassischen Wachstumstheorie—vorübergehend zu Monopolsituationen mit Monopolgewinnen und zunehmenden Grenzerträgen des Kapitals kommen. Dabei geht die „neue" Wachstumstheorie von einem weiten Kapitalbegriff aus. Er umfasst sowohl Sach- als auch Humankapital. Gerade im Bereich des Humankapitals ergibt sich jedoch folgendes Problem: Anders als beim Sachkapital fallen die Vergrößerung sowie die Erträge des Humankapitals nur unvollständig dem jeweiligen Investor zu. Vielmehr kommt es bei der Entwicklung produktivitätssteigernder Ideen bzw. neuen Wissens zu Spill-over-Effekten oder anders formuliert: zu positiven Externalitäten. Bekanntlich versagt der Markt im Bereich externer Effekte. Konkret ist davon auszugehen, dass das neue Wissen bzw. der technische Fortschritt aufgrund des Marktversagens nur in einem volkswirtschaftlich suboptimalen Umfang hervorgebracht wird. Daraus ergibt sich eine weitere Begründung für industriepolitische Maßnahmen, konkret: für eine Subventionierung der Produktion neuen Wissens. Auf diese Weise kann gemäß der „neuen" Wachstumstheorie ein volkswirtschaftlich optimales Niveau des technischen Fortschritts erreicht werden. Wie ist dieser Ansatz volkswirtschaftlich zu beurteilen? Auch gegen ihn sind gravierende Einwände zu erheben. Nur zwei Problemkreise seien angesprochen. Zum einen ergibt sich ein unlösbares Informationsproblem: Welche externen Effekte sind zu berücksichtigen und wie sind diese zu bewerten? Ohne verlässliche Antworten auf diese Fragen drohen bei einer verfehlten Subventionierung neue Fehlallokationen. Zum anderen sind positive (Wissens-)Externalitäten nicht allein als dringend zu korrigierendes Marktversagen, sondern auch als evolutionäre Chance zu verstehen. Werden sie genutzt, ergeben sich positive Auswirkungen auf den technischen Fortschritt und das Wirtschaftswachstum. Besser als eine Subventionierung der Produktion neuen Wissens erscheinen indes Maßnahmen zur Privatisierung der (Wissens-)Externalitäten, sei es über die Erteilung von Patenten, die Möglichkeit der Vergabe von Lizenzen oder die Erleichterung der Kooperation von Unternehmen aus dem Forschungssektor. Auf diese Weise können Externalitäten internalisiert und das angesprochene Marktversagen bekämpft werden.—Nicht nur die „neue" Außenhandelstheorie, sondern auch die „neue" Wachstumstheorie vermag es also nicht, überzeugende Argumente fiir industriepolitische Aktivitäten zu liefern.
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Fazit
Wettbewerbspolitik wird in allen marktwirtschaftlichen Systemen durchgeführt. Sie basiert auf zahlreichen Regelungen, die sich international angeglichen haben. Je nachdem, wie konsequent diese angewandt werden, werden Wettbewerbsbeschränkungen bekämpft und die angestrebten Wettbewerbsfunktionen verwirklicht. Industriepolitik ist ebenfalls stark verbreitet. Allerdings basiert sie auf einer widersprüchlichen Basis, krankt an Informationsproblemen und impliziert letztlich Wettbewerbsverzerrungen, Handelsbeschränkungen und Wohlfahrtsverluste. Auch die theoriegeleiteten, neueren Konzepte der Industriepolitik können sie nicht von ihren grundlegenden Problemen und Schwächen befreien. Während sich also eine konsequente Wettbewerbspolitik als unverzichtbar erweist, ist die Industriepolitik ausgesprochen kritisch zu betrachten.
Literatur Areeda, P./Turner, D. F. (1978 ff.): Antitrust Law: An Analysis of Antitrust Principles and their Application, 10 Bde., Boston/Toronto. Dunn, M. H. (1995): Neue Industriepolitik oder Stärkung der Marktkräfte?, in: Ordo, Bd. 46, S. 165 ff. Eickhof, N. (1997): Die Industriepolitik der Europäischen Union, in: Behrends, S. (Hrsg.): Ordnungskonforme Wirtschaftspolitik in der Marktwirtschaft, Berlin, S. 425 ff. Eickhof, N. (2009): Die Hoppmann-Kantzenbach-Kontroverse aus heutiger Sicht, in: Vanberg, V. J. (Hrsg.): Evolution und freiheitlicher Wettbewerb, Tübingen, S. 35 ff. Grusevaja, M. (2010): Institutionelle Transplantation und ihre Effektivität: Wettbewerbsrecht in Russland, Baden-Baden. Kerber, W. (2007): Wettbewerbspolitik, in: Apolte, T., et al. (Hrsg): Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Bd. 2, 9. Aufl., München, S. 371 ff. Krugman, P.R. (1987): Is Free Trade Passe?, in: Economic Perspectives, Vol. 1, S. 131 ff.
Jörg Dötsch und Stefan Okruch
Die Entgrenzung der Ordnung in Hayeks Systemtheorie 1
Einleitung
Die letzte der unzähligen Methodenkontroversen in der Ökonomie liegt unmittelbar hinter uns. Wie nicht anders zu erwarten bei letztlich unbeantwortbaren Fragen, ist das Fazit uneinheitlich und ambivalent — nicht mehr als der Ausgangspunkt für die den nächsten Methodenstreit, spätestens wieder nach der nächsten mehr oder weniger schweren wirtschaftlichen Krise. Die Koinzidenz von realer und theoretischer Krise ist kein Zufall. Der jüngste Methodenstreit wurde von dem entwaffnenden Argument befeuert, die Ökonomik in ihrer derzeit vorherrschenden Ausprägung könne mit den negativen, sogar katastrophalen Nebenefifekten wirtschaftlicher Dynamik nicht theoretisch umgehen. Und dies, weil Dynamik, Innovation und Neuerung störend wirken für eine Ökonomik, die „Schönheit für Wahrheit nimmt" (Krugman) und es folglich mit der Erfahrungswissenschaftlichkeit nicht so genau nehmen kann. Vor diesem Hintergrund wurde in der Debatte auch die bleibende Aktualität ordnungsökonomischer Fragestellungen erkennbar - ohne dass gesagt wurde oder behauptet werden könnte, die Ordnungstheorie und -politik biete die Lösung: „Wir haben keine Patentrezepte" (Oberender)! Denn auch zwischen Ordnung und Evolution, zwischen Marktdynamik und institutioneller Stabilität besteht eine beständige Spannung, die aber nicht ausgeblendet wird, sondern gerade den Startpunkt aller Ordnungstheorie markiert. Der Anspruch Friedrich A. v. Hayeks ist es an diesem Punkt aber gerade, „eine sich selbst bildende Ordnung für die Gesellschaft"22 zu erklären. Der damit erhobene Anspruch an Erklärungspotenzial ist umfassend. Nicht zuletzt darin liegt die Ursache für die anhaltend breite wie vielfältige Rezeption.23 Freilich ist es aktuell geboten und auch ordnungspolitisch sinnvoll, den ordnungstheoretischen Klassiker nicht (primär) nach seinen Antworten zu befragen, sondern die gegebenen Antworten daraufhin zu beleuchten, ob nicht auch dabei Gefahren lauern — etwa „Geschlossenheit" oder „Universalität" für Wahrheit zu nehmen. Die vorliegende 22 23
Hayek (1996a), S. 262. Vgl. beispielsweise die Synopse zu Hayeks Theorie der kulturellen Evolution bei Feldmann (2002).
45 Untersuchung widmet sich dementsprechend der Frage nach den Grenzen des Hayek'schen systemtheoretischen Konzepts und schließt daran die Frage nach einer Option für Weiterentwicklungen an, die auf dem Prinzip der Selbstorganisation beruhen.
2
Grundlagen der Hayek'schen Ordnungs- und Systemtheorie
2.1 Die Geburt der Ordnung aus dem Zwang zur Anpassung Ordnung unterscheidet sich grundsätzlich vom Chaos dadurch, dass Elemente regelhaft in Beziehung zu einander stehen.24 Für sein Konzept der spontanen Ordnung definiert Hayek menschliche Individuen als Elemente.25 Grundsätzlich alle Gesellschaft konstituiert sich dadurch, dass Individuen sich nicht chaotisch verhalten, sondern „(...) ihre Handlungen wechselseitig aufeinander abgestimmt sind (...), ihre Beziehungen (...) eine gewisse Ordnung (zeigen)."26 Indem die Relationen nur bis zu einem bestimmten Grad geordnet sind, besteht kein vorgegebener Idealzustand, sondern Ordnung entwickelt sich innerhalb eines gewissen Rahmens frei: 27 „Zweck" jener Ordnung ist ihr Selbsterhalt, sie entsteht spontan. Entsprechend stellen Regeln solche Funktionen der Ordnung dar, die auf den Gesamtzweck bezogen sind. 28 Dadurch beschreibt Hayek das Phänomen der Emergenz.29 Die Art und Weise der Relationierung bestimmt Eigenart und Identität der Ordnung und bedeutet daher nicht nur den Unterschied zum Chaos, sondern auch zu allen anderen Formen von Ordnung. Unterschiedliche Prinzipien der Relationierung stellen jeweils für einander eine Umwelt dar und konkurrieren miteinander. Durch die Beschränkung der Verhaltensmöglichkeiten gewährleistet Ordnung relative Sicherheit bei der Planung von Sozialhandlungen.30 Das so entstehende Kooperationspotenzial bietet für den Einzelnen mehr Möglichkeiten zur Nutzung verteilten Wissens und zu strategischem Handeln als bei völliger Unordnung. 31
24 25 26 27 28 29 30 31
Vgl. Hayek (2003b), S. 79. Vgl. Hayek (2003a), S. 22. Vgl. Hayek (1969a), S. 32. Vgl. Küppers (1997), S. 122. Vgl. Hayek (1996b), S. 45 f. Vgl. dazu Fiori (2009, 2006), Schenk (2006) sowie Schwartz (2006). Vgl. Hayek (1969c) S. 164; Vaughn (1999), S. 132. Mit diesem Konzept knüpft Hayek implizit an Wilhelm von Humboldt an, der das Phänomen der Entstehung individueller Freiheit durch generelle Beschränkung im Rahmen
46 Ordnungen streben jeweils nach Durchsetzung. 32 Dies ist jedoch allein möglich, indem sie umweltliche Anforderungen lösen, m.a.W., indem sie sich bestmöglich anpassen. Ordnungen sind daher Problemlösungsverfahren. Charakteristische Regeln oder Institutionen von Ordnungen werden von Hayek daher jeweils als Ergebnis eines kulturellen Siebungsprozesses verstanden: 33 Solche Regeln setzen sich durch, welche die „(...) Koordination der Handlungen in dem von ihnen gesicherten Bereich wirksamer (...)" 3 4 machten und dadurch die Vermehrung derjenigen Gruppe, die sich diesen Regeln unterwirft, begünstigt und beschleunigt. 35 Regelevolution wird stets in Hinblick auf Gruppenselektion interpretiert.36 Problemlösen bedeutet grundsätzlich Anpassung. Die Regeln einer Ordnung legen die Anpassungskapazität an sich wandelnde Umwelten fest. 37 In dieser Kapazität kann dann ein evolutorischer Vorteil liegen. Hayek stellt Ordnung als einen ununterbrochen prozessierten und selbstorganisierten Lösungsversuch dar, um mit dem Problem der Anpassung an sich wandelnde Umwelten fertig zu werden. Je höher der Grad an Komplexität einer Ordnung, desto größer die Anpassungsfähigkeit. 38 Je mehr Umweltinformationen verarbeitet werden, desto höher der Komplexitätsgrad der Ordnung. Die „Güte" eines Systems oder einer Ordnung liegt dann in dieser seiner Anpassungsfähigkeit, 39 von der dann die Individuen profitieren, die Regeln als kulturelle Bindung perzipieren und handelnd umsetzen.
2.2 Wettbewerb als Problemlösung Mit Wettbewerb als Organisationsprinzip, d.h. Ordnung stiftendes Verfahren kann ein höchstmöglicher Grad an Komplexität erreicht werden. Dies, indem er jene Form der Arbeitsteilung ermöglicht, durch die die Teilnehmer auf ihnen unbekannte Ereignisse reagieren können. 40 Dadurch wird Anpassung an eine äußerst
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36 37 38
39
seiner Sprachphilosophie entwickelte. Humboldts Herangehensweise fand später Eingang in die Biologie. Vgl. dazu auch die Reflektionen in Hayek (1996c), S. 104. Vgl. Hayek (2003c), S. 183 f.; (2003e), S. 96. Vgl. Hayek (1996b), S.45; vgl. dazu auch Hinterberger (1996), S. 256. Vgl. Hayek (2003c), S. 183. Vgl. ebd. Zur Vermehrung der „Teilnehmer" einer Ordnung vgl. auch Hayek (1996c), S. 96. Vgl. Hayek (2003b), S. 76. Vgl. Hayek (1996b) S. 43, 45 f. Diese Annahme fußt auf Hayeks Theorie der kulturellen Evolution und ist für seine Bewertung der wettbewerblichen Ordnung entscheidend, kann an dieser Stelle nicht entwickelt werden. Vgl. Külp/Berthold (1992), S. 241. Vgl. Hayek (2003a), S. 20; dazu in Bezug auf die Koordination durch Preise Streissler (2000), S. 76 ff.
47 große Zahl an Umständen oder Umwelten möglich, die nur „einzelne Glieder" 41 der Ordnung kennen, andere Teilnehmer aber nicht kennen müssen. Wettbewerb ist das effizienteste „Entdeckungsverfahren" 42 zur Findung von Lösungen. Hayek arbeitet also mit einer Doppelperspektive: Durch allgemeine und abstrakte Regeln ermöglicht das Wettbewerbsverfahren, dass die Teilnehmer einer Ordnung eigene Ziele verfolgen können, indem Privatsphäre und Eigentum geschützt sind. Dies eröffnet Individuen mehr Möglichkeiten zur Befriedigung persönlicher Bedarfe als in allen bekannten Ordnungen. Daher scheint eine möglichst große Motivation der einzelnen, innerhalb dieses Regelrahmens zu handeln, plausibel. Indem dieses Verfahren umgesetzt wird, findet die Anpassung der Ordnung insgesamt statt. Das Verfahren stellt überdies Frieden unter denjenigen her, die sich seinen Regeln unterwerfen: 43 „Marktwirtschaftliche Ordnung beruht auf Reziprozität, d. h. auf Ausgleich der Interessen zu wechselseitigem Vorteil". 44 Wettbewerb erfüllt also eine Doppelfiinktion: er gewährleistet einesteils durch größtmögliche Komplexität die größtmögliche Anpassungsfähigkeit der Ordnung. Andernteils schützt er die in der Privatsphäre gegründete Freiheit der einzelnen Teilnehmer und ermöglicht ihnen größtmögliche Deckung eigener Bedarfe. 45
3
Grenzen der Ordnung
3.1 Normative Schranken Hayeks Konzeption hat ein fundamentales Problem normativer Unsicherheit: Sind bestimmte Regeln das Ergebnis eines evolutionären Siebungsvorgangs, können sie von effizienteren Institutionen verdrängt werden. Offen bleibt, in Hinsicht auf welche Probleme oder für wen Problemlösungen effizient sind. 46 Hayek rechtfertigt das Institutionenset einer liberalen Gesellschaftsordnung, indem er einen förderlichen Wirkungszusammenhang zwischen individuellen Akten und dem Gesamten der Ordnung unterstellt. Spielraum für insgesamt „förderliche Abweichungen" von Regeln lässt sich jedoch nicht trennscharf angeben.
41 42 43
44 45 46
Vgl. Hayek (2003a)., S. 21. Vgl. Hayek (2003d). Diese Konsequenz findet im Ausdruck der „Katallaxie", dessen Etymologie die Handlung des Tauschs u. a. mit dem Akt „jemandem in die Gemeinschaft aufnehmen" erklärt. Vgl. Hayek (1969b), S.l 12. Vgl. Hayek (1969b), S.l 11. Vgl. Hayek (1996b), S. 53. Vgl. Khalil (1996), S. 183 ff., sowie Sandefur (2009).
48 Hayek gerät daher in eine sozialphilosophische Aporie. Indem er immer wieder tugendethische Vorschriften als Voraussetzung für den Erfolg der Ordnung nennt, 47 muss er Devianz verurteilen.48 Aus evolutorischer Perspektive sieht er sich gleichzeitig gezwungen, von geltenden Normen abweichendes Verhalten zu begrüßen.49 Diese Problematik wurzelt in seiner Theorie der kulturellen Evolution, die vor allem durch eine heterogene Anwendung des Selektionskonzepts zu einer mehrdeutigen Einschätzung von Wandel zwingt.50 Hayek changiert daher in der Beschreibung und Beurteilung normativen Wandels zwischen zwei verschiedenen Argumentationsmustern, einem institutionenoptimistischen und einem evolutionsoptimistischen. Im institutionenoptimistischen Argumentationsmuster geht Hayek von der Annahme aus, konstitutive Regeln der Ordnung identifizieren zu können. Dieser Ansatz ist epistemisch schwach restriktiv und deutet die Möglichkeit treffender pattern predictions recht weitgehend.51 Indem Werte abendländischer Kultur die wettbewerbliche Ordnung hervorbringen,52 sind gleichzeitig auch die Institutionen dieser Ordnung gerechtfertigt.53 Dieser Institutionenoptimismus wird durch Hayeks Verweis auf die historisch bedingte Heterogenität von Verhaltensregeln immerhin relativiert. Institutionen sind jedoch auch dann gerechtfertigt, wenn sie für den Einzelnen mit Unannehmlichkeiten einhergehen und so motivationale Defizite erzeugen.54 Die Unterscheidung von konstitutiven und abträglichen „atavistischen" Regeln55 wird durch den Verweis auf den Mechanismus der Gruppenselektion begründet. Hayek entwickelt so eine Rechtfertigungslehre, die die Selektion von Regeln und selektiven Druck unter Ordnungen argumentativ amalgamiert.56 Die Frage nach Art, Umfang und Motiv wünschenswerter Abwei47 48
49
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Vgl. etwa Hayek (1996b), S. 55 ff., Hayek (1996d), S. 22, S. 26 f. Siehe dazu Hayeks schillernde Rhetorik gegen Freud oder Vertreter des „Konstruktivismus". Mit Bezug auf den Kollektivismus wartet auch Wilhelm Röpke mit ähnlichem Vokabular auf: „Ihr schließliches Massenprodukt (gemeint sind hier „Inhumanismus, Materialismus, Kollektivismus und Nihilismus", J. D.) ist der zivilisierte Barbar, der geistig spliternackte Wilde, aber einer mit Radio und Maschinengewehr, vielleicht morgen mit Atomzertrümmerungsapparaten, und daher doppelt und dreifach furchtbar." Röpke (1979), S. 140. Vgl. Hayek (1996b), S. 50, 56. Hayeks Konzept der Gruppenselektion ist vieldeutig. Zwar findet sich über seine Arbeiten verstreut eine Reihe von Andeutungen, die auf unterschiedliche Vorstellungen schließen lassen, wie Gruppenselektion wirkt, jedoch gar kein ausgearbeitetes Konzept. Für unsere Zwecke muss diese Problematik jedoch nicht eingehend behandelt werden. Eine eingehende Studie zu diesem Komplex bietet Sugden (1993). Vgl. dazu etwa die klassischen Passus bei Hayek (1980), S. 57 sowie, ausfuhrlich, ders. (1996e). Vgl. dazu etwa Hayek (1996d),S. 27. Vgl. Hayek (1996b), S. 54 f. Vgl. auch Angner (2004). Vgl. Hayek (1969b), S. 120 ff. sowie ders. (1996b), S. 60 f. Vgl. Hayek (1996b), S. 55. Vgl. dazu Sugden (1989, 1993).
49 chungen bleibt völlig offen. 57 Im Gegenteil entwickelt Hayek in der Perspektive einer conjectural history eine kryptoteleologische Argumentation im Sinne wettbewerblicher Ordnung. 58 Die evolutionsoptimistische Argumentation setzt weitergehende epistemische Restriktionen voraus. Das bestehende Institutionenset wird hier als relativ erfolgreich gedeutet. Bestimmte Umstände können Abweichungen vom Bestehenden allerdings notwendig machen. Hayek betont in diesem Argumentationsmuster weniger, dass zu Erfolg von Ordnungen fuhrende Institutionen mit Unannehmlichkeiten für jene verbunden sind, die sie befolgen. Vielmehr betont er das Motiv des Eigennutzes als entscheidend für die erfolgreiche Entwicklung einer Ordnung, indem die Individuen neue, erfolgreichere Verhaltensformen entdecken:59 d. h. solche Verhaltensformen, die von den Individuen als für sich selbst vorteilhaft beurteilt werden.60 Diese Verhaltensänderungen werden als dann als Anpassungsvorgänge im Sinne der Gesamtordnung gewertet. Wie bei der institutionenoptimistischen Argumentation besteht auch hier hinsichtlich unterschiedlicher Selektionsmechanismen, die auf der Ebene der Gruppen oder auf der der Individuen wirken, eine unklare Gemengelage.61 Darum handelt es sich auch um verschiedene Argumentationsmuster, nicht unterschiedliche theoretische Zugänge. Für die Beurteilung normativer Fragen in Hinsicht auf die Gesamtordnung sind beide Argumentationsweisen aporetisch.
3.2 Homöostatische Kontrolle Hayek supponiert der Ordnung eine „homöostatische Kontrolle".62 Es muss also eine Art funktionaler „Soll-Zustand" bestehen: wird die Ordnung durch äußere Einflüsse gestört, stellt sie sich selbst wieder her.63 Demgemäß unterliegen auch ihre Strukturen der Tendenz, sich selbst zu reproduzieren, da sie auf das Ganze bezogen sind.64 57
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In diesem Zusammenhang konkreter, nämlich wirtschaftspolitisch pragmatisch die Argumentation Röpkes, der einer liberalen Wirtschaftsverfassung in Friedenszeiten die Kriegswirtschaft gegenüberstellt (vgl. W. Röpke 1979, S. 65 f.). Dieser Unterschied ist nur auf den ersten Blick theoretisch oberflächlich. Seine Konsequenz gelingt Röpke nämlich nicht zuletzt daher, da seine Argumentation auf ein explizites normatives Programm „menschenwürdiger" Ordnung im Sinne Euckens abstellt (vgl. dazu ebd., S. 82 f)- Eben dieser Schritt wird Hayek durch die Betonung der evolutiven Perspektive auf der Makroebene und dem daraus folgerichtig abgeleiteten Zugeständnis großer Kosten für den Einzelnen - auch in Friedenszeiten - verstellt. Vgl. Hayek: (1996b). S. 43. Vgl. Hayek (2003c), S. 183 f. Vgl. Hayek (1996b), S. 50. Vgl. Sugden (1993), S. 399 ff. Vgl. Hayek (2003b), S. 79. Vgl. Hayek (1996b), S. 45f. Vgl. ebd.
50 Hayek spiegelt diesen Anpassungsvorgang auf die elementare Ebene. Komplexe Strukturen erhalten sich dadurch, dass sie ihren „(•••) inneren Zustand ständig an Änderungen in der Umwelt anpassen (...)". 65 Dieser Prozess wird durch die Individuen ausgeführt, da die Anpassung an eine „(...) Vielheit von Umständen (...)" erfolgt, die nur jeweils Individuen bekannt sind.66 Die Regeln stellen dann jeweils sicher, dass das Ergebnis individuellen Verhaltens wieder die nämliche Ordnung sein wird. 67 Anpassungserfordernisse werden von den Teilnehmern also regelgemäß ausgeführt, um die typische Regelstruktur zu erhalten. Die Selbstregulation der Ordnung beruht also zunächst auf individuellen Entscheidungen und entsprechenden Handlungen. Im Rahmen spezifischer struktureller Grenzen können dann unterschiedliche Ergebnisse verwirklicht werden.68 Der Zwang zur Anpassung der Gesamtordnung muss also solches Individualverhalten motivieren, das durch die Ausführung des Anpassungsvorgangs den „richtigen" emergenten Effekt aufweist. In einer wettbewerblichen Ordnung müssen Regeln folglich Erwartungen so stabilisieren, dass Markthandlungen begünstigt werden und Wettbewerb stattfindet.69 Mit anderen Worten: der „Zweck" der Ordnung ist es, den „(...) Wettbewerb wirksam (zu) machen (. ,.)". 70 Regeln können sich also sehr wohl als Antwort auf Umweltveränderungen ändern, der Impuls dazu geht jedoch von innovativ handelnden Individuen aus.71 In diesem Sinne kann eine Änderung der Regeln individuellen Verhaltens unter Umständen notwendig sein, um dem Erhalt der Gruppe als Ganzes zu dienen.72 In diesem Fall kann man in Hinsicht auf die Gesamtordnung von einer Veränderung in einer ihrer Teilstrukturen sprechen, sie verändert nicht ihren grundlegenden Charakter.73 65 66 67 68 69
70 71 72 73
Vgl. Hayek (1996b), S. 46. Vgl. Hayek (2003a), S. 22. Vgl. Hayek (1996b), S. 46. Vgl. Wentzel (2003), S. 107. Vgl. Streit (1999), S. 96. Damit formuliert Hayek ein Bedingungsfeld, das als paradoxal beschrieben werden kann. Vgl. dazu etwa Vanberg (2008). Vgl. Hayek (1947), S. 124. Vgl. Hayek (1996b), S. 50. Vgl. Hayek (2003b), S. 79. Vorausgesetzt, dass die von Hayek gedachte Ordnung auch tatsächlich homöostatisch ist. Die Definition dessen, wie weit der der Rahmen möglicher struktureller Veränderungen ist, bildet spätestens seit Euckens Dualismus ein fundamentales Problem der Ökonomie (Vgl. dazu Clapham 1995, S. 47). Eingedenk einer vielleicht nicht unwichtigen Nebenbemerkung Hayeks (Hayek 1996e, S. 296; ähnlich 2003b, S. 81) sei hier darüber hinaus erwähnt, dass die Linguistik auch heute noch vor den nämlichen Problemen steht. Dass auch die Institution der Sprache selbst ein überaus heterogenes Normenkonvolut darstellt, wurde in Deutschland im Rahmen der Debatte um eine Vereinheitlichung der Rechtschreibregeln zu einem prominenten Problem. Im Kern bildete auch hier der Dissens um die methodische Begründung „konstruktivistischer" Reformschritte den Stein des Anstoßes.
51 Die Frage nach der homöostatischen Kontrolle in Hayeks Ordnung schließt die nach den normativen Widersprüchlichkeiten mit ein, indem keine Elementaraussagen hinsichtlich konstitutiver Regeln der Ordnung getroffen werden können. Zwischen genetischen und funktionalen Aspekten lässt sich nicht unterscheiden, 74 und nur fallweise verifizieren, ob eine Handlung der Ordnung zugehörig ist. Hayek behilft sich mit dem Argument, dass elementare Regelbereiche offenbar durch entsprechende Funktionsbereiche wie Religion, allgemeine Moralvorstellungen oder durch das geltende Recht geschützt werden. Dadurch weist er dem in Hinsicht auf seine spezifischen Funktionen in der Gesamtordnung nicht weiter segmentierbarem ethischem Substrat der Ordnung eine Kontrollfunktion zu. Damit ist jedoch nicht der Frage nach den Rückkoppelungsprozessen beantwortet und die nach der Umwelt der Ordnung verkompliziert.
3.3 Umweltproblem Für den im engeren Sinne systemtheoretischen Gehalt des Konzeptes gilt, dass das angewandte theoretische Set heterogen ist. 75 Die grundsätzlichen Annahmen ändern sich über Jahre und Perspektiven jedoch erstaunlich wenig. 76 Problematisch scheint eher, dass Hayek die Grundannahmen anhand verschiedener Ebenen von Ordnung zu verifizieren sucht und dies mit Referenzen auf unterschiedliche Systemkonzepte untermauert. Dies zeigt sich auch an der Heterogenität des Begriffsinventars. Die entscheidende Frage bleibt, wie weit systemtheoretische Grundannahmen angewendet werden können, ohne dass der sozialphilosophische Gehalt Schaden nimmt. Hayek trifft keine klare Unterscheidung zwischen System und Umwelt. Zumindest zwei Ebenen lassen sich unterscheiden: Einerseits wird Ordnung in einem extensiven Sinn als „Offene Gesellschaft" im Sinne Poppers verstanden. 77 Die Umwelt bedeutet hier vor allem andere Ordnungen mit entsprechend andersartigem Set an Institutionen. Die Grenze zwischen System und Umwelt würde durch unterschiedliche Regeln definiert. Es wird in diesem Zusammenhang allerdings keineswegs klar, was dann in diesem Zusammenhang mit Individuen gemeint ist. 74 75
76 77
Vgl. Hayek (2003a), S. 19. Dies scheint für die vorliegende Fragestellung jedoch nur ein vordergründiges Problem. Die Systemtheorie verstand sich von Anfang als interdisziplinär und universell. Luhmanns Diktum behält bis heute seine Gültigkeit, dass die allgemeine Systemtheorie „(...) nicht als eine konsolidierte Gesamtheit von Grundbegriffen, Axiomen und abgeleiteten Aussagen" besteht. Vgl. Luhmann (1984), S. 34. Vgl. auch Krieger (1998), S. 7 sowie Kilpatrick (2001). Vgl. Sugden (1993), S. 395. Vgl. auch Hayek (1969b), S. 111.
52 Anpassung findet auf der individuellen Ebene durch Wettbewerb statt, Ort des Wettbewerbs ist der Markt und dessen Regeln. Dadurch werden die individuellen Ziele in einer Art und Weise koordiniert, dass sich die Gesamtordnung an ihre Umwelt anpasst. Eine klare, „systemische" Grenze der Ordnung wird auf diese Weise schlicht wegargumentiert, indem das Marktsystem offenbar ein Subsystem darstellt, das eine Form der offenen Gesellschaft kohäriert. In dieser Argumentation wird die Kernaufgabe der Sozialtheorie eine ökonomische: die Erklärung von Entstehung und Stabilität des Marktsystems als selbstorganisierendem System, oder allgemeiner, der spontanen Ordnung menschlicher Tätigkeiten. 78 Offenbar beschreibt Hayek unterschiedliche Ebenen von Ordnung/System und Anpassungsvorgängen, also eigentlich verschiedene Systeme, deren strukturelle Koppelung nicht definiert wird. 79 Die anvisierte Ordnung erscheint nicht mehr als ein emergentes Phänomen sui generis. Es bleibt der Eindruck, dass Hayek an ein Set von emergenten Phänomenen dachte, die die unter Umständen in einer den Individuen zuträglichen — und damit mittelbar Selbstorganisation initiierenden — Konstellation vorkommen können. Der entscheidende Umstand, dass Hayek an der These eines emergenten Gesamtphänomens festhält, ist daher eine Form von mittelbarer Normativität.
4
Perspektiven
Die Bedingungszusammenhänge von Hayeks Konzept zeigen, dass der Umfang des Erklärungsanspruchs je nach explanandum reduziert werden muss, das Konzept also weniger „plastisch" ist, als es zunächst scheint. Der konzeptuelle Kern, nämlich die Verbindung der Theorie der Selbstorganisation sozialphilosophischer Provenienz mit einer extensiven Auffassung des Marktes, wird durch die Vermengung normativer und positiver Aspekte verzerrt. Eine klare Differenzierung muss jedoch nicht unbedingt Einbußen an Erklärungskapazität bedeuten. Im Folgenden sollen daher mögliche Konsequenzen aus zwei basalen Annahmen des Konzeptes aufgewiesen werden: aus Selbstorganisation und der daraus abzuleitenden System/ Umwelt-Differenz.
4.1 Selbstorganisation Wenn auch bereits zu Hayeks Zeiten interdisziplinär diskutiert, 80 gehört Hayeks Arbeit zur Pionierphase des Paradigmas in den Sozialwissenschaften. Es ist die enge Verbundenheit zur ökonomischen Klassik und der schottischen Moralphi78 79 80
Vgl. Hayek (1969a), S. 32. Vgl. Loy (1988), S. 123. Vgl. Hayek (1988), S. 9.
53 losophie, die ihn an einer Applikation des Selbstorganisationsprinzips strictu sensu hindert. Denn gerade das Wirken der Smith'schen „unsichtbaren Hand" in einer anonymen Großgesellschaft beschreibt nicht Selbstorganisation, sondern eine „optimale (Fremd-)Organisation".81 Entfällt die von Smith stillschweigend vorausgesetzte metaphysische Basis, dann entfällt auch die Möglichkeit, die „Ergebnisse menschlichen Handelns, nicht menschlichen Entwurfs" anhand normativer Erklärungskriterien zu beschreiben. Durch die bewusste Einordnung in die klassische Tradition erhält Hayeks evolutorische Argumentation eine normative Pointe und unterlässt es dadurch, die Mechanismen zu benennen, die zur kontinuierlichen Reproduktion der Ordnung notwendig sind. 82 Dazu müssen die entsprechenden Rückkopplungsprozesse zwischen Mikro- und Makroebene benannt und ihre wechselseitigen Bedingungszusammenhänge beschrieben werden. 83 Die theoretische Herausforderung lautet dementsprechend, den wohl zutreffenden Befund selbstorganisierter Phänomene in einer wirtschaftenden Gesellschaft von normativen Aspekten zu trennen und durch diese Reduktion auch den Erklärungsbereich des Konzepts konstruktiv zu verschieben. Einer Erweiterung bedarf Hayeks Auffassung zunächst um den zentralen Aspekt der Rückkoppelung. Phänomene der Selbstorganisation liegen vor, wenn deren charakteristische Prozesse füreinander gleichzeitig Ursache und Wirkung sind. 84 Sie werden durch das Zusammenspiel der Eigenschaften ihrer Bestandteile erzeugt, und zwar in einer Art und Weise, die diese Eigenschaften determiniert. Damit sind diese Phänomene operational geschlossen,85 Umweltereignisse können sich immer nur systemspezifisch auswirken. 86 Zunächst muss auf elementarer Ebene geklärt werden, wo eine Rückkopplung stattfinden kann. Außerhalb des synergetischen Ansatzes ist das Prinzip der Selbstorganisation antiindividualistisch bzw. blendet Individuen methodisch aus, da die in Prozessen verwirklichten Beziehungen unter den Elementen das Grundprinzip bedeuten. Humberto Maturana hat - mit dem Notbehelf eines traditionellen philosophischen Konzepts87 — implizit eine Kompromisslösung angestrebt, indem er wie 81 82 83 84 85 86 87
Vgl. Weise (2004), S. 257. Vgl. KÜpatrick (2001), S.18. Vgl. Weise (2004), S. 257. Vgl. Küppers (1994), S. 1 1 9 . Vgl. ebd. Vgl. ebd. Maturana versucht die Liebe als Basis aller Sozialität in sein Konzept zu integrieren. Das ist freilich kein neues Unterfangen. In der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts bot die Vorstellung der „Chain of love" oder „Chain of being" im Sinne einer Weiterentwicklung der mittelalterlichen „scala naturae" die Möglichkeit, die Gravitations- und Attraktionslehre Newtons auf soziale Verhältnisse zu übertragen. Im englischen Sprachraum durch John Milton zu weitreichender Bekanntheit gelangt, schlug sich das Konzept im deutschen
54 Hayek von menschlichen Individuen als Elemente sozialer Systeme ausging, eine funktionale Differenzierung unter verschiedenen Systemen jedoch zugestand, indem er diese durch von Individuen jeweils verwirklichte, systemspezifische „Identitäten" umgesetzt sieht. Dementsprechend können Individuen gleichzeitig Teil unterschiedlicher sozialer Systeme sein. 88 Ahnlich wie sich ein System durch seine spezifischen Regeln von seiner Umwelt unterscheidet, 89 ist auch das System für seine Teilnehmer Umwelt oder „Medium". Ein soziales System wird durch ein Netzwerk von Interaktionen gebildet, das seinerseits wie ein Medium zurückwirkt, in dem sich die Individuen im Sinne von Identitäten verwirklichen.90 Da soziale Systeme sich selbst reproduzieren und ihrem Wesen nach konservativ sind, d. h. nach Erhalt gegebener Zustände streben, 91 fuhrt Maturana ein weiteres Phänomen ein, das beide Ebenen relativiert. So fuhrt das Streben nach Stabilität „(...) zur Stabilisierung des sozialen Bewußtseins (...)" 9 2 und zur „(...) Stabilisierung der Verhaltensnormen (...) durch Beschränkung der Reflexionsmöglichkeiten, indem Erfahrungen außerhalb des Sozialsystems begrenzt, freie Meinungsäußerung und Kritik reglementiert werden, andererseits durch die Zerstörung der Liebe, indem Ethik (die Anerkennung des anderen) durch Moral (die Durchsetzung von Verhaltensnormen) und Hierarchisierung ersetzt wird, so daß die bestehenden Abhängigkeitsverhältnisse und sozialen Rangordnungen institutionalisiert werden." 93 Damit liegt eine nicht unbeachtliche Parallele zur Konzeption Hayeks vor. Ein soziales System stabilisiert sich selbst und entwickelt aus dieser Tendenz ein typisches, abstraktes Set von Institutionen. Jedes derartige System ist ein Netzwerk aus Interaktionen, das in ständiger Rückkopplung durch spezifische „Identitäten" erhalten wird. Durch Prozesse der Stabilisierung kann gleichzeitig Disnutzen für Individuen entstehen. So entfielen bei der Erklärung von Friktionen unter Verhaltensregeln Hayeks teleologische Avancen. Die Individuen sind, auch wenn
88 89 90 91
92 93
Sprachraum am wirkmächtigsten in der Philosophie Schillers nieder, in der die körperlichen und geistigen Elemente durch das Band der Liebe zusammengehalten werden. Während Maturana die alte „Dualität" (Maturana 1987, S. 287) zwischen Individuum und Gesellschaft in einem Systempluralismus auflöst, ist er doch gezwungen, ihn zur Erklärung der erforderlichen Rekkurenz wieder einzuführen. Vgl. Maturana (1987), S. 295. Vgl. ebd., S. 293. Vgl. Ebd., S. 292. Vgl. ebd., S. 294 f. Maturana entwickelt darüber hinaus, wenn auch sonst normativ gewiss auf einer völlig anderen Position als Hayek, auf das Phänomen der Verhaltensinnovation im Prozess sozialer (oder kultureller) Evolution eine ähnliche Sichtweise. Vgl. Maturana (1987), S. 299. Vgl. Maturana (1987), S. 298. Vgl. Ebd.
55 Maturana dies mit dem Konzept von „Identitäten" begrifflich zu abzugrenzen versucht, Umwelt für ein soziales System. Sowohl die Art der Komponenten - hier also zunächst: „Identitäten" - als auch die Art der unter ihnen bestehenden Beziehungen bildet die Klassenidentität eines selbstorganisierten Phänomens.94 Insofern als der ökonomische Kern von Hayeks Konzept das Organisationsprinzip des Wettbewerbs akzeptiert wird, könnte als Einheit in einem solchen System (etwa im Sinne von Maturanas „Identität") ein Konzept von Aktoren als kognitiv organisierte, nutzenorientierte Handlungseinheiten vorgeschlagen werden.95 Vor einem polykontexturellen Hintergrund, d. h. im Rahmen der Teilnahme an unterschiedlichen Systemen entstandene individuelle Vorstellungen von Nutzen würden dann durch die Teilnahme am Marktsystem in solche Handlungsweisen übersetzt, die an Preisen orientiert anderen Aktoren Anlass zur Teilnahme böten. Dies würde auch eine Integration der Einheit von Unternehmungen als „derivative Aktoren"96 in das Konzept erlauben. Indem in diesem Modell das immanente Konfliktpotenzial einer Vielzahl von Systemen immer durch Individuen entsteht, die qua jeweiliger Teilnahme an Systemen als „Aktoren" handeln, bleibt das Konzept dergestalt nah an Hayeks Idee und verpflichtet nicht zu einer vollständigen „Übersetzung" in die Theorie Luhmanns.
4.2 Noch einmal System und Umwelt: Die Zwillingsidee von Markt und freiheitlicher Ordnung Jeder Vorschlag einer Definition der Selbstorganisation zwingt zur Grenzziehung zwischen System und Umwelt.97 Aber auch wenn man Hayeks moralphilosophisch inspirierte Annahme einer selbstorganisierten Ordnung durch das Modell einer Vielheit von selbstorganisierten Systemen ersetzt, muss sein klassischer Anspruch nicht verloren gehen. Statt „eine selbstorganisierende Ordnung für die Gesellschaft" wäre — provokativ gewendet - richtiger zu fordern „ein sich selbst organisierender Wettbewerb für die Ordnung". Die Gesamtordnung bildet dann dessen Umwelt, „Medium" 98 , „Rahmen" 99 oder „Embededness"100. Aspekte der fraglichen „Gesamtordnung" lassen sich nur unter bestimmten Prämissen oder in gewissen Hinsichten als Funktionen des Marktsystems verstehen: aus wettbe-
94 95 96 97 98 99 100
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
ebd., S. 290. dazu Herrmann-Pillath (2002), S. 51 f. Herrmann-Pillath (2002), S. 52. Luhmann (1987), S. 35. Maturana (1987), S. 292. W. Röpke (1979), S. 82. Granovetter (2005), S. 35.
56 werbstheoretischen Einsichten lassen sich nur bedingt Rückschlüsse auf den Phänomenbereich einer Gesamtordnung ziehen und v.v. Wettbewerb hat aber sehr wohl eine bestimmte Umwelt zur Voraussetzung und seine Dynamik hat Wirkungen auf dieselbe. Die auch fiir diese Betrachtungsweise gültige These Röpkes, dass der Markt „(...) nur einen engeren Bezirk des gesellschaftlichen Lebens (ausmacht), der von einem weiteren umrahmt und gehalten wird", 101 fuhrt zum Kern der klassischen Frage zurück. Auch wenn von einem Marktsystem nur dann gesprochen werden kann, wenn Aktoren an Preisen orientierte wechselseitig bedingte Interaktionen ausfuhren, bedeuten alle anderen systemischen Zusammenhänge, an denen Individuen als Aktoren partizipieren die Umwelt dieses Systems. Dies ist daher entscheidend, da die Teilnahme an unterschiedlichen sozialen Systemen die Teilnehmer in ihrer Art und Weise, ein jeweiliges System zu integrieren, verändern kann. 102 In diesem Sinne stellen Problemlösungsvorgänge des Marktes Anpassungsvorgänge an nicht-marktliche Gegebenheiten dar. Genau wie ein ,Aktor" sich nur in einem Marktsystem verwirklichen kann, kann auch das Marktsystem nur unter bestimmten umweltlichen Voraussetzungen zustande kommen. Um jenseits von Euckens Dualismus und Hayeks Häme gegenüber „konstruktivistischen"103 Tendenzen beschreiben zu können, welchen Fragilitätspotenzialen ein operational geschlossenes Marktsystem im Rahmen des grundlegenden Erfordernisses struktureller Kopplung ausgesetzt ist, gälte es, diese in einem Konzept der Selbstorganisation differenziert zu erfassen. Auch dem Marktsystem lässt sich ein homöostatischer Charakter zuschreiben. Dies kann jedoch fiir dessen Umwelt - die „Ordnung" — keine Geltung beanspruchen. Hayeks Konzept von „Evolution und spontaner Ordnung" würde damit in eine Zwillingsidee von Markt und seiner Umwelt oder causa prima, der freiheitlichen Ordnung überfuhrt und ließe sich systemtheoretisch als multiples koevolutives Phänomen darstellen. Darin ließe sich der ursprüngliche Anspruch, nämlich die koordinative Reichweite wettbewerblicher Prozesse abzubilden, ohne teleologischen Zwang umsetzen.
101 102 103
Vgl. Röpke (1979), S. 82. Vgl. Maturana (1987), S. 294. Vgl. Hayek (1996d).
57
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Volker Emmerich
Überlegungen zur Marktabgrenzung 1
Einleitung
Die ständig wachsenden Kosten für Bargeldabhebungen bei so genannten Fremdbanken erregen zunehmend die Gemüter. 104 Das Bundeskartellamt beschäftigt sich schon seit geraumer Zeit mit dem Fragenkreis, ohne freilich bisher aktiv geworden zu sein. Die Gerichte hat die Problematik gleichfalls inzwischen bereits erreicht. Ihre Stellungnahmen fielen, wie nicht anders zu erwarten, unterschiedlich aus. 1 0 5 Daran wird sich vermutlich auch nichts ändern, bis der B G H Gelegenheit zur Stellungnahme hatte. Worum geht es? Die Zusammenarbeit der verschiedenen Bankengruppen bei Geldautomaten beruht auf einer Vereinbarung der Bankengruppen vom 6. Oktober 2003. 1 0 6 Diese Vereinbarung sieht vor, dass die Geldautomaten betreibenden Institute von den die Girokarten ausgebenden Instituten für Geldabhebungen an ihren Automaten ein Entgelt verlangen können, dessen Höhe - aus kartellrechtlichen Gründen - in der Vereinbarung nicht mehr geregelt ist, seitdem der Sparkassen- und Giroverbands die frühere Höchstentgeltvereinbarung im Jahre 1997 gekündigt hat. Seitdem steigen die so genannten Interbankenentgelte für Abhebungen bei Fremdbanken auf breiter Front. Die Entgelte werden dem Kunden meistens zusammen mit dem abgehobenen Betrag von ihren Banken auf ihrem Konto belastet. Im Interesse einer verbesserten Transparenz der Gebühren wird das (den Kunden nachträglich belastete) Interbankenentgelt vom Jahr 2011 ab durch eine direktes Kundenentgelt abgelöst, so dass der Kunde vor der Abhebung bei einer Fremdbank entscheiden kann, ob er trotz des Entgelts an der Abhebung festhalten will oder nicht. Zusätzliche Probleme ergeben sich daraus, dass die Zahl der von den einzelnen Banken aufgestellten Geldautomaten sehr unterschiedlich ist. Vor allem die so genannten Direktbanken verzichten weit gehend auf diesen Service, um Kosten zu sparen, stellen jedoch ihren Kunden Girokarten zur Verfugung, mit denen sie bei Fremdbanken Geld abheben können. Dagegen wehren sich zunehmend insbesondere die Sparkassen, die bisher die meisten Geldautomaten aufgestellt haben, 104 105
106
S. Hess WM 2010, 1971; Immenga/Körber BB 1999, Beilage 12 zu H 40. OLG München WM 2010, 1598 = WuW/E DER 2978 (Vorinstanz: LG München I WM 2010, 1123); LG Halle WM 2009, 655; LG Verden WM 2009, 656. Abgedruckt bei Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb Bd I, 3. Aufl. (2007), S. 1286 ff.
62 durch die Sperrung ihrer Automaten für die Kunden der Direktbanken, da sie die Öffnung ihrer Automaten für die Kunden der Direktbank als eine unzumutbare Subventionierung ihrer Konkurrenten ansehen. Genau um diesen Fragenkreis ging es in dem Urteil des OLG München vom 17. Juni 2010, das eine Auseinandersetzung zwischen der Sparkasse Ingolstadt und verschiedenen Direktbanken betrifft, die durch die Sperrung der Automaten der Sparkasse für die von den Banken ausgegebenen VISA-Karten ausgelöst wurde. Die Direktbanken sehen in der Sperrung der Sparkassenautomaten für ihre Kunden einen Missbrauch und verlangen deshalb, gestützt auf die § § 1 9 und 33 GWB, Rücknahme der Sperre. Während das LG München I die Klage noch abgewiesen hatte, insbesondere, weil es die Sparkasse Ingolstadt nicht als marktbeherrschend ansah, 107 gab das OLG München mit Urteil vom 17. Juni 2010 der Klage statt, einmal, weil es aufgrund einer anderen Marktabgrenzung als das LG zur Bejahung der Marktbeherrschung der Sparkasse kam, zum anderen, weil es die selektive Sperre der Automaten der Sparkasse nur für einzelne (nicht für alle) Direktbanken als grundlose Diskriminierung der betroffenen Banken qualifizierte (§ 20 Abs. 1 GWB). 1 0 8 Ob der BGH in diesem Fall im Jahr 2011 eine Entscheidung fallen wird, ist noch offen, weil das OLG die Revision (erstaunlicherweise) nicht zugelassen hat. Wie der Rechtsstreit endgültig ausgehen wird, ist derzeit noch nicht abzusehen. Aber eines wird doch jetzt schon — wieder einmal - sehr deutlich: In kartellrechtlichen Streitigkeiten hängt (fast) alles von der Marktabgrenzung ab. Denn die Marktabgrenzung entscheidet über die Marktbeherrschung und damit über die Anwendbarkeit des Missbrauchs- und des Diskriminierungsverbots sowie der Vorschriften über die Fusionskontrolle (§§ 19, 20 und 36 GWB; Art 102 AEUV, Art. 2 FKVO) sowie auch weit gehend-wegen des Erfordernisses der Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung—über die Anwendbarkeit des Kartellverbots (§ 1 GWB, Art. 101 AEUV). Folgerichtig stehen auch im Mittelpunkt der erwähnten Urteile des LG München I und des OLG München sowie der literarischen Stellungnahmen zu der Auseinandersetzung 109 Fragen der Marktabgrenzung. Zu einzelnen Aspekten dieser offenbar unerschöpflichen Problematik, die immer auch das Interesse des Jubilars gefunden hat, dem diese Zeilen in alter Freundschaft gewidmet sind, soll im folgenden in der gebotenen Kürze Stellung genommen werden.
107 108 109
Urteil vom 8.12.2009 -9 HKO 9435/09, W M 2010, 1125. U. (K) 1607/10, W M 2010, 1598 = WuW/E DER 2978 „Sparkasse Ingolstadt/VISA". B. Hess W M 2010, 1971.
63
2
Ein Blick auf den Stand der Praxis
In der deutschen Praxis beherrscht nach wie vor das so genannte modifizierte Bedarfsmarktkonzept das Feld, modifiziert deshalb, weil ergänzend die Angebotsumstellungsflexibilität der Anbieter sowie der Sortimentsgedanke berücksichtigt werden. Der Schwerpunkt liegt danach auf der Eignung der fraglichen Produkte zur Erfüllung desselben Verwendungszwecks des so genannten verständigen Durchschnittsverbrauchers, während Preisunterschiede demgegenüber an Bedeutung zurücktreten. 110 Aber das Bild ist nicht so einheitlich, wie es auf den ersten Blick vielleicht den Anschein haben mag, da feststeht, dass das Bedarfsmarktkonzept auf zahlreichen Märkten mit erheblichen Problemen zu kämpfen hat, weshalb die Suche nach Alternativen allgemein ist. Der Blick fallt dabei mit Notwendigkeit zunächst auf die Praxis der Europäischen Kommission, die zwar auch von dem Bedarfsmarktkonzept ausgeht, dieses aber wo immer möglich durch ökonometrische Partialanalysen ergänzt, wobei der so genannte SSNIP-Test oder hypothetische Monopolistentest, die Ermitdung der Kreuzpreiselastizitäten und die Preiskorrelationsanalyse ganz im Vordergrund stehen. Was hat es damit auf sich? 111 Ausgangspunkt aller Überlegungen zur Marktabgrenzung auf europäischer Ebene muss die Bekanntmachung vom 9. Dezember 1997 über die Definition des relevanten Marktes sein, 112 die nach wie vor auf dem Bedarfsmarktkonzept beruht, wobei jedoch die Kommission heute die Nachfragesubstituierbarkeit oder Austauschbarkeit von Produkten in erster Linie mittels des erwähnten SSNIP-Tests ermitteln will, indem sie prüft, ob bei einer Preiserhöhung um 5 bis 10% so viele Abnehmer auf andere Produkte ausweichen, dass sich die Preiserhöhung für das betreffende Unternehmen nicht mehr lohnt (Bekanntmachung Tz. 5-19); ergänzend kommen jedoch auch andere Verfahren einschließlich ökonometrischer Partialanalysen zum Einsatz (Bekanntmachung Tz. 35—43). Der SSNIP-Test stammt aus dem amerikanischen Antitrustrecht. Sein Zweck besteht darin, gegebenenfalls in einer schrittweisen (iterativen) Vorgehensweise die engsten Substitute eines Produktes zu ermitteln, wobei - anders als nach dem Bedarfsmarktkonzept - nicht mehr auf den verständigen Durchschnittsverbraucher als Referenzperson abgestellt wird, sondern auf den Grenznachfrager, bei dessen Ausscheiden aus dem Markt infolge seines Ausweichens auf andere Produkte, 110 111
112
S. zuletzt z.B. Emmerich A G 2 0 1 0 , 517, 5 1 8 mit Nachweisen. Vgl zum folgenden (demnächst) ausfuhrlich Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht der EU Bd. I, 5. Aufl. (2011), Art. 101 Abs. 1 Rn. 1 5 3 - 1 7 0 mit Nachweisen. Abl.EG 1 9 9 7 Nr C 372/5 = W u W 1998, 2 6 1 .
64 d. h. eben auf Substitute, sich eine Preiserhöhung für das betreffende Unternehmen nicht mehr lohnt. 1 1 3 Als Vorteile des SSNIP-Tests werden seine Rationalität (durch den Rückgriff auf überprüfbare Daten) sowie die Vermeidung der bei dem Bedarfsmarktkonzept stets drohenden Atomisierung der Märkte genannt. Demgegenüber dürfen jedoch die großen Probleme nicht übersehen werden, mit denen der SSNIP-Test zu kämpfen hat, und die bisher seine Übernahme jedenfalls in der deutschen Rechtsprechung verhindert haben. 1 1 4 Die wichtigsten Punkte sind die folgenden: Der SSNIP-Test kann von vornherein nur funktionieren, wenn der Ausgangspreis ein Wettbewerbspreis ist. Liegt der Ausgangspreis über dem Wettbewerbsniveau, so fuhrt der Test notwendigerweise zu falschen Ergebnissen (so genannte „cellophane fallacy", so genannt nach dem Zellophanfall, in dem dieses Problem erstmals deutlich zu Tage trat). Außerdem ist bei der Abgrenzung der ins Auge gefassten Substitute nicht ohne Wertungen auszukommen. Ganz unklar ist ferner, wie groß die Gruppe der allein relevanten Grenznachfrager sein soll, deren Reaktionen auf eine Preiserhöhung von 5 bis 10 % letztlich über die Marktabgrenzung entscheiden. Genannt wird gelegentlich eine Größenordnung von ungefähr 10 % der Nachfrager, 115 - womit zugleich das nächste und wohl entscheidende Problem benannt ist, nämlich, dass die danach für die Durchführung des Tests erforderlichen Daten mit zumutbaren Aufwand eigentlich niemals zur Verfügung stehen dürften, weshalb auch die Kommission nur von einem „Gedankenexperiment" spricht (Bekanntmachung Tz. 15 S. 1). Die Suche nach Alternativen bleibt deshalb akut, wobei neuerdings (wieder) mit zunehmendem Gewicht subjektivistische Ansätze, die die Orientierung an den Wirtschaftsplänen der betroffenen Unternehmen in den Vordergrund rücken an Gewicht gewinnen, dies deshalb, weil es letztlich allein darauf ankomme, welche anderen Unternehmen ein Unternehmen als seine Konkurrenten ansieht, so dass es auf diese gegebenenfalls Rücksicht nehme. 1 1 6 Vor allem, wenn es um die Frage der Marktbeherrschung eines Unternehmens geht, haben subjektivistische Ansätze einen unübersehbaren Charme. Versteht man nämlich unter Marktbeherrschung den vom Wettbewerb nicht mehr hinreichend kontrollierten Verhaltensspielraum eines Unternehmens, so liegt - eigent113
S. im einzelnen Ewald ZWeR 2 0 0 4 , 512, 5 2 4 ff: Th. Klein W u W 2 0 1 0 , 169; Lademann/ Kn. W. Lange W u W 2 0 1 0 , 3 8 7 ; Kerber/Schwalbe, in: MünchKomm/Kartellrecht Bd I, 2 0 0 7 , Einleitung Rdnr. 1148; Schwalbe/Zimmer, Kartellrecht und Ökonomie, 2 0 0 6 , S. 6 9 ff.; Roth/Ackermann, Frankfurter Kommentar Kartellrecht, 2 0 0 9 , Art 81 Abs 1 E G V Rdnr. 3 7 3 ff, 3 8 7 f.; Zimmer J Z 2 0 0 8 , 611, 6 1 4 ; ders., in: FS U. Huber, 2 0 0 6 , S. 1173, 1175 ff.
114
Scharf ablehnend B G H Z 176, 1, 8 Tz. 19 = N J W - R R 2008, 9 9 6 „Soda II". Zimmer, in: FS U. Huber, S. 1173, 1177. S. Emmerich AG 2 0 0 4 , 529, 631 ff; Engel, in: FS Immenga, 2 0 0 4 , S. 127; T. Golz, Der sachlich relevante Markt; Säcker ZWeR 2 0 0 4 , 1.
115 116
65 lieh - nichts näher als die Prüfung, welche Unternehmen das Unternehmen (um dessen Marktbeherrschung es geht) überhaupt als seine Konkurrenten ansieht, so dass es auf diese — mehr oder weniger - bei dem Einsatz seiner Parameter am Markt Rücksicht nehmen muss. Sieht es keine oder nur wenige unbedeutende Konkurrenten, so befindet es sich eben in der komfortablen Position eines Monopolisten, der (fast) keine Rücksicht auf irgendjemanden nehmen muss, - während die Situation naturgemäß völlig andere ist, wenn sich das Unternehmen einer Phalanx mächtiger Konkurrenten gegenübersieht. 117 Besonders einleuchtend erscheint dieser Ansatz bei der räumlichen Marktabgrenzung, bei der es doch der Sache nach nur darum gehen kann zu ermitteln, welche Unternehmen dasjenige Unternehmen, dessen Marktposition infrage steht, überhaupt als seine Konkurrenten wahrnimmt. Denn nur auf diese kann es bei seinen marktstrategischen Planungen überhaupt Rücksicht nehmen. Das alles ist natürlich nichts Neues. 1 1 8 Und es gibt (ebenso natürlich) auch gegen derartige subjektivistische Ansätze fundierte Einwände, deren Berechtigung keineswegs von der Hand zu weisen ist. 1 1 9 Erhebliche Schwierigkeiten bereitet insbesondere die zutreffende Ermittlung der Sicht des fraglichen Unternehmens, um dessen Marktbeherrschung es geht. Aber manchmal hilft dieser Ansatz doch weiter, wie der zum Ausgangspunkt genommene Fall der Sparkasse Ingolstadt vielleicht zu verdeutlichen mag.
3
Folgerungen fiir den Interbankenmarkt
Das O L G München ist in dem Rechtsstreit zwischen der Sparkasse Ingolstadt und den verschiedenen ebenfalls der VISA-Organisation angehörenden Direktbanken davon ausgegangen, der sachlich relevante Markt sei der Markt fiir die Vorhaltung von Geldautomaten für andere Banken, also der Interbankenmarkt, während der räumlich relevante Markt durch das Gebiet gebildet werde, in dem die klagenden Direktbanken für ihre Kunden Leistungen von Bankautomaten nachfragen, d. h. hier das Gebiet der Sparkasse Ingolstadt. 120 Dagegen wird eingewandt, die eigentlichen Nachfrager seien nicht die anderen Banken, sondern deren Kunden, die die fraglichen Leistungen bundesweit nachgefragten, 121 - womit sich die Frage nach der Marktbeherrschung der Sparkasse Ingolstadt erledige. 117 118
119 120 121
S. im einzelnen Emmerich AG 2004, 529, 631 ff. So schon Mestmäcker, Das marktbeherrschende Unternehmen im Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, 1959; Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches WettbewerbsR, 2. Aufl. (2004), § 16 (S. 392 ff). S. insbes. Ewald ZWeR 2004, 512, 539 ff; Roth/Ackermann Art. 81 Rdnr. 372. WuW/E D E R 2978, 2980 ff. = W M 2010, 1598, 1599 f. Hess W M 2010, 1971, 1972 f.
66 Beides lässt sich hören. Aber wie sieht die Sache eigentlich aus der Sicht der Sparkasse Ingolstadt aus, um deren Marktstellung ist doch letztlich allein geht? (Stichwort: subjektivistischer Ansatz). Ein Vorstandsmitglied der Sparkasse Ingolstadt hatte in dem Rechtsstreit ausdrücklich erklärt, man habe diejenigen Direktbanken „herausgearbeitet", die „die Hauptkonkurrenten mit der aggressivsten Werbung" seien. 122 Aus der Sicht der Sparkasse Ingolstadt gibt es also im Raum Ingolstadt lediglich einige wenige Direktbanken, deren Wettbewerb ihr wehtut, so dass die Sparkasse auf diese Banken Rücksicht nehmen muss, freilich im Ergebnis doch nur so wenig, dass sie in der Lage ist, diese Banken zu isolieren und gezielt zu diskriminieren. Hier stellt sich unmittelbar die Frage, was das anderes als Marktbeherrschung ist. Sie kann im Grunde nur bejaht werden. Vielleicht fuhrt der subjektivistische Ansatz doch in geeigneten Fällen weiter. Die Diskussion über den relevanten Markt wird gleichwohl sobald kein Ende nehmen. Hoffen wir, dass der Jubilar noch lange erfolgreich an dieser Diskussion teilnehmen möge.
122
WuW/E DER 2978, 2986 (2. Abs.) = WM 2010, 1598, 1603 (1. Sp. 2. Abs.).
Walter Hamm
Ausnahmebereiche - ein wettbewerbspolitisches Trauerspiel 1
Arten und Wirkungen von Wettbewerbsbeschränkungen
Was muss geschehen, damit die Schuldenregeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts in naher Zukunft eingehalten werden? In der Diskussion über diese Frage wird viel über zusätzliche Staatsausgaben, aber leider viel zu wenig über mögliche Ausgabenkürzungen und fast nie über ein Maßnahmenbündel gestritten, das ohne Belastung der öffentlichen Haushalte sowohl die Neuverschuldung zu bremsen vermöchte als auch die Schuldenquote (Gesamtverschuldung in Prozent des Bruttoinlandsprodukts) verminderte. Es handelt sich um die Beseitigung hausgemachter Wettbewerbsbeschränkungen vielfältiger Art. Diesem Thema, dem sich Peter Oberender in zahlreichen gewichtigen und überzeugenden wissenschaftlichen Arbeiten in verdienstvoller Weise angenommen hat, ist der folgende Beitrag gewidmet. Er geht nicht nur auf die herkömmliche Definition des wettbewerbspolitischen Ausnahmebereichs ein, die auf große Wirtschaftsbereiche zielte (Gesundheitsökonomie, Energieversorgung, Verkehr, Wohnungswirtschafit). Es werden auch verschiedene Wettbewerbsbeschränkungen auf einzelnen (Elementar-) Märkten in das Blickfeld gerückt. Stets geht es darum, die Folgen von Wettbewerbsbeschränkungen für die Beschäftigung, für das Wirtschaftswachstum, für die finanzielle Lage der Sozialversicherung, für die Steuereinnahmen und für die aus öffentlichen Haushalten finanzierten Sozialausgaben zu verdeutlichen. Erste Erfolge der Deregulierung, in der Regel durch europäisches Gemeinschaftsrecht erzwungen, haben insbesondere im Güterverkehr, in der Telekommunikation und auf Energiemärkten nicht nur deutliche Vorteile fiir die Kunden, sondern auch beträchtliche Arbeitsplatzgewinne erzeugt. Es ist kein Zufall, dass die Deregulierungsfortschritte bisher weithin von Brüssel initiiert und durchgesetzt worden sind. Die nationalen Regierungen tun sich schwer, fiir mehr Wettbewerb - gegen den Widerstand der Interessenten, die mit dem Entzug von Wählerstimmen drohen - einzutreten und zu sorgen. Die Brüsseler EU — Kommission ist nur sehr indirekt von Wählervoten abhängig.
68 In den folgenden Abschnitten werden verschiedene Arten von Wettbewerbsbeschränkungen abgehandelt. Rechtliche Monopole - meist in der Hand öffentlicher Unternehmen - sind eine besonders erfolgreiche Form der Abwehr privater Konkurrenten. Marktzugangsbeschränkungen sind oft ein weniger rigoroses Verfahren der Wettbewerbsbeschränkung. Weiterhin gibt es vielfältige Formen von Behinderungen des Einsatzes privatwirtschaftlicher Aktionsparameter (etwas Preis-, Mengen- und Qualitätspolitik). Die selektive Gewährung von Subventionen und Steuervergünstigungen ist ein weiteres trauriges Kapitel staatlicher Wettbewerbspolitik. Wegen der kaum überschaubaren Vielfalt staatlicher Wettbewerbsbeschränkungen ist weder eine vollständige Auflistung möglich, noch kann im Einzelfall den Motiven und Wirkungen staatlicher Eingriffe in den Wettbewerb nachgegangen werden. Allen Formen der Wettbewerbsbeschränkung ist gemeinsam - das sei nur am Rande erwähnt - , dass sie die vom Wettbewerb zu erwartenden segensreichen Wirkungen mehr oder weniger stark beeinträchtigen. Die individuelle Freiheit der Marktteilnehmer und damit die Entfaltung individueller Fähigkeiten leidet. Das Interesse der Kunden an einem guten und preiswerten Güterangebot wird verletzt. Dynamischer Wettbewerb kann sich schlecht entfalten und wird meist nicht belohnt, weil die Marktstellung auch ohne stets risikobehaftete Vorstöße in ökonomisches Neuland (Produkt- und Verfahrensinnovationen) gesichert erscheint. Nicht durch Wettbewerb kontrollierte und eingegrenzte Produzentenrenten bewirken eine zur Systemkritik herausfordernde einseitige Einkommensverteilung. Durch staatliche Maßnahmen geschaffene Wettbewerbshindernisse und die dadurch entstehenden wirtschaftlichen Machtstellungen verführen zu Machtmissbrauch und zur demokratisch nicht kontrollierten Einflussnahme auf politische Entscheidungen. So offenkundig die bedenklichen Folgen staatlich bewirkter Beschränkungen des Wettbewerbs sind, so schwer tun sich gewählte Regierungen (besonders bei knappen Mehrheiten), solchen Missständen energisch entgegenzutreten.
2
Rechtliche Monopole
Es ist stets bedenklich, wenn Gesetzgebung sowie wirtschaftliche Verfugungsmacht und Kontrolle der auf Märkten Agierenden in einer Hand liegen. Interessenkonflikte sind dann programmiert. Nachteile für die Kunden und für die Anbieter privater Substitutionsgüter sind die Folge. Gleichwohl gibt es zahlreiche Beispiele für eine derartige unheilvolle Verquickung von Befugnissen.
69 Ein für breite Bevölkerungsschichten nachteiliges Beispiel ist das Briefmonopol der Deutschen Bundespost, eines zu hundert Prozent bundeseigenen Unternehmens. Nur unter hinhaltendem Widerstand und in kleinen Schritten hat sich die Bundesregierung (auch wegen des finanziellen Interesses an den Monopolgewinnen) bisher bereit gefunden, das Briefmonopol zu lockern und das Umsatzsteuerprivileg einzuschränken. Privaten Anbietern, die trotz ihrer Umsatzsteuerpflicht in Briefbeförderungsmärkte der Deutschen Bundespost einzudringen versuchten, ist - durch gewerkschaftliche Aktivitäten (Mindestlöhne in Höhe der von der Deutschen Bundespost bezahlten großzügigen Bezüge im öffentlichen Dienst), unterstützt vom bisherigen Monopolisten und der Bundesregierung - die Betätigungsmöglichkeit weitgehend beschnitten worden. Das hohe Briefporto (das der Deutschen Bundespost eine aggressive Preispolitik im Wettbewerb um Großkunden zum Schaden privater Konkurrenten und die Quersubventionierung anderer im Wettbewerb angebotener und nicht kostendecken arbeitender Leistungsbereiche ermöglicht) hat freilich eine Konkurrenztechnik stark gefördert: den elektronischen Brief. Private Haushalte, soweit sie auf den herkömmlichen Brief angewiesen sind, haben das Nachsehen. Im Briefverkehr wiederholt sich, was schon in der Telekommunikation vor sich gegangen ist: das Unterlaufen eines (Netz-) Monopols durch das Entstehen eines (nicht netzgebundenen, drahtlosen) neuen technischen Konkurrenzangebots, angeheizt auch von überhöhten Monopolpreisen. Ahnlich verhält es sich mit dem Rundfunkmarkt, auf dem sich die Länder lange Zeit mit Erfolg gegen private Anbieter gewehrt haben, aber dann durch Sendeanstalten mit Standorten jenseits der deutschen Grenzen gezwungen worden sind einzulenken. Das Zwangsgebührenmonopol verhilft den öffentlich rechtlichen Rundfunkanstalten gleichwohl zu einer Ausnahmestellung im Wettbewerb (siehe hierzu die eingehende Analyse von Beck, S. 244 ff.). Künftig muss jeder Haushalt - unabhängig davon, ob er überhaupt ein Fernsehgerät besitzt oder ob er das Angebot öffendich rechtlicher Fernsehanstalten nutzt - „Gebühren" bezahlen. Die „Gebühr" ist auf Grund staatlichen Zwangs in Wirklichkeit eine Art Steuer. Durch Ausweitung des Angebots auf das Internet machen die öffentlich rechtlichen Anstalten auch den Tageszeitungen - finanziert mit Zwangsabgaben - das Leben schwer. Ein Wettbewerb unter gleichartigen Voraussetzungen ist auch auf diesem Gebiet nicht gegeben (vgl. hierzu ebenfalls Beck, S. 250 ff.). Gegen die Beseitigung des überaus einträglichen öffentlich rechtlichen Wettmonopols stemmen sich die Landesregierungen ebenfalls mit allen verfugbaren Mitteln. Das staatliche Wettmonopol wird seit Jahrzehnten damit begründet, dass private Wettanbieter mit exzessiver Werbung die Spielsucht breiter Bevölkerungsschichten in bedenklicher Wiese anheizen könnten. Dieses Argument ist faden-
70 scheinig. Die staatlichen Lotto- und Totoveranstalter bedienen sich ausgiebig aller Werbemittel, über sich also keineswegs in vornehmer Zurückhaltung. Begründet wird dieses Verhalten damit, dass die hohen Milliardenüberschüsse auch für gemeinnützige Zwecke verwendet werden. Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom September 2 0 1 0 zwingt die Länder zwar zu Korrekturen am geltenden Glücksspiel-Staatsvertrag. Ein Einfallstor für private Konkurrenten soll es aber nicht geben. Ziel der geplanten Reform bleibt es, das Lotto- und Sportwettenmonopol „weiterzuentwickeln", eine euphemistische Umschreibung für den möglichst vollständigen und dauerhaften Ausschluss privater Konkurrenten. Ob sich damit die verfassungs- und europarechtlich fragwürdigen Monopolregeln retten lassen, bleibt abzuwarten. Die Deutsche Bahn AG (ebenfalls zu hundert Prozent dem Bund gehörend) setzt alle Hebel in Bewegung, ihre weitgehende Monopolstellung im SchienenpersonenNahverkehr vor Konkurrenz zu schützen. Dank langfristiger Bedienungsverträge und eines subtilen Netzes verschiedenartiger Wettbewerbsbeschränkungen (Behinderung von Konkurrenten, auch durch überhöhte Preise für die Nutzung des Gleisnetzes der Bahn) kassiert die Deutsche Bahn AG jährlich rund 900 Million Euro Gewinn. Offensichtlich ist die Subventionierung des Regionalverkehrs aus dem Bundeshaushalt viel zu üppig. Laufen befristete Verträge aus, setzt die Deutsche Bahn AG die Länder mit der Androhung von Nachteilen unter Druck, die Bedienungsverträge zu verlängern (hierzu besonders informativ Ilgmann, S. 59 ff.). Die Länder gehen meist darauf ein; sie wollen sogar auf Druck der Bahn das Allgemeine Eisenbahngesetz dahingehend ändern, dass auslaufende Verträge ohne Ausschreibung verlängert werden. Der Goldesel der Deutschen Bahn AG soll so vor Konkurrenz geschützt werden. Die nachteiligen finanziellen Folgen für die Steuerzahler und die Fahrgäste bleiben unbeachtet. Die technische Überwachung von Kraftfahrzeugen und Industrieanlagen war jahrzehntelang eine öffentlich rechtliche Domäne, die mit dem Schutz der Allgemeinheit vor gefährlicher Vernachlässigung technischer Aggregate und dem wahrscheinlichen Versagen privater Uberwachungsunternehmen (kundenfreundliche Kontrollen) begründet wurde. Wie sich nach der Zulassung privater Anbieter gezeigt hat, waren diese Argumente zum Schutz öffentlich rechtlicher Anbieter unzutreffend. Für das Schornsteinfegermonopol werden die gleichen Gründe genannt, aller Voraussicht nach ebenfalls unzutreffenderweise. Ausgebildete Handwerker, die ohnehin Heizungsanlagen installieren, warten und die Emissionen kontrollieren, sind durchaus in der Lage, die Anlagen sorgfaltig zu prüfen und, wenn nötig, unverzüglich Mängel abzustellen. Der Gesetzgeber kann sich offensichtlich nicht dazu aufraffen, gegen den Widerstand der Betroffenen ein lukratives rechtliches Monopol abzuschaffen.
71 Das Wegemonopol der Gemeinden wird zu Lasten der Kunden in exzessiver Weise finanziell ausgebeutet. Private Grundstückseigentümer, über (oder durch) deren Areal Versorgungsleitungen gelegt werden, erhalten einmalig nur einen winzigen Bruchteil dessen, was die Gemeinden in Form von Konzessionsabgaben jährlich verlangen. Selbst wenn ein Industriebetrieb mit Eigenerzeugungsanlagen Strom von den Produktionsstätten auf einer Straßenseite zu eigenen Anlagen auf der anderen Straßenseite leitet und dabei den Luftraum über einer kommunalen Straße benutzt, sind saftige Konzessionsabgaben an die Kommune fällig. Dass durch solche Abgaben der Strompreis zu Lasten der Verbraucher steigt und dass Diskriminierungen einzelner Stromverbraucher entstehen, stört die Organe der Wettbewerbsaufsicht nicht.
3
Marktzugangsbeschränkungen
Eine beliebte Methode, den Wettbewerb zu beschränken, besteht in der Verhinderung des Marktzutritts für neue Anbieter durch rechdiche Regelungen. Unternehmer werden nur dann in einen etablierten Markt eintreten, wenn sie beispielsweise mittels Verfahrensinnovationen oder Produktvarianten einen finanziellen Erfolg erzielen können. In der Regel wird der Markteintritt von Newcomern zu Absatzverlusten und Gewinneinbußen alteingesessener Anbieter fuhren. Die Lockerung staatlicher Marktzugangsbeschränkungen treffen daher regelmäßig auf erbitterten Widerstand. Für den vorstoßenden Wettbewerb offene Märkte sind für die Kunden deswegen bedeutsam, weil sie mit einem für sie günstigeren, preiswerteren und vielseitigeren Angebot rechnen können. Meist sind damit auch positive Wirkungen auf den Arbeitsmärkten verbunden: Preissenkungen fuhren je nach der Preiselastizität der Nachfrage zu steigendem Gesamtabsatz und höherem Arbeitskräfteeinsatz, auch dann, wenn bei bisherigen Grenzanbietern vergleichsweise ineffiziente Arbeitsplätze verloren gehen. Auf einigen Märkten, etwa im gewerblichen Güterfernverkehr mit Lastkraftwagen, sind jahrzehntelange Marktzugangsbeschränkungen in Form zahlenmäßig begrenzter Fahrzeuggenehmigungen durch Machtworte aus Brüssel (Diskriminierung ausländischer Anbieter) beseitigt worden. Auch hier haben sich die warnenden Behauptungen der Interessenten (Gefährdung der öffentlichen Sicherheit wegen mangelhafter Instandhaltung der Fahrzeuge, Entstehen eines unternehmerischen Proletariats sowie Unterlegenheit gegenüber ausländischen Konkurrenten) als unzutreffende Schutzbehauptungen erwiesen. Zwar sind etliche kleine Unternehmen dem Wettbewerb nicht gewachsen gewesen. Dafür haben sich zahlreiche gut geführte Unternehmen - auch durch Diversifizierung (Logistik) - erfolgreich
72 behauptet. Die vor allem zum Schutz der Deutschen Bundesbahn dienende Angebotsbeschränkung im Straßengüterfernverkehr hat sich für viele Kunden als nachteilig erwiesen. Nach Aufhebung der Fahrzeugkontingentierung haben sich die verstärkten Anstrengungen der Unternehmer vorteilhaft für die Kunden ausgewirkt — auch im Schienenverkehr. Noch nicht beseitigt sind die im Personenbefbrderungsgesetz verankerten Schutzvorschriften zugunsten der Deutschen Bahn AG im Omnibuslinien-Fernverkehr. Wahlmöglichkeiten zwischen teuren Eisenbahnfahrten und — potenziell — wesentlich billigeren Omnibusfahrten sind im Fernverkehr gesetzlich weithin nicht erlaubt. Wer die Verhältnisse in anderen Staaten mit lebhaftem Wettbewerb im Linienverkehr auf Schiene und Straße kennt, wird den in Deutschland bestehenden Mangel an Wettbewerb besonders störend und bedauerlich empfinden. Die Deutsche Bahn AG hat mit eng begrenzten Angeboten im Omnibuslinienverkehr (vor allem mit dem Ausland) die Kritiker zu beruhigen versucht - ohne Erfolg. Legale und illegale Mitfahrerzentralen füllen notdürftig eine Angebotslücke. Ohne eine grundlegende Änderung des Personenbeförderungsgesetzes und damit der Öffnung des Marktzugangs für private Omnibusunternehmen im Linienverkehr zwischen großen Städten und Ballungsgebieten lassen sich die Angebotslücken nicht schließen. Nicht einmal ansatzweise ist eine derartige Lösung in Sicht. Der Wettbewerbsschutz zugunsten des staatlichen Eisenbahnunternehmens hat Vorrang. Schutz vor Wettbewerb durch Nichtzulassung von Anbietern wird auch bei der Vergabe öffentlicher Aufträge praktiziert. Die Kommunen tun sich auf diesem Gebiet besonders hervor. Wo kommunale Unternehmen oder Eigenbetriebe bereits existieren, werden sie wie selbstverständliche vor privater Konkurrenz geschützt, ohne dass sich die Kommunalsaufsicht einschaltet. Wo Kommunen ihre unternehmerischen Ambitionen ausweiten wollen, wird nicht einmal nach anderen, meist billigeren Bezugsquellen gefragt. Die derzeit lukrative Entsorgung von Hausmüll wird privaten Unternehmen soweit wie irgend möglich entzogen, auch durch fragwürdige rechtliche Konstruktionen. Wo Konzessionsverträge mit privaten Energieversorgern auslaufen, werden so gut wie immer kommunale Unternehmen gegründet. Der Preis, den die Bürger der Kommunen hierfür bezahlen müssen, spielt keine Rolle. Neue Märkte, etwa die Verlegung von Glasfasernetzen in Großstädten, reklamieren die Kommunen wie selbstverständlich für sich - ohne vorherigen Konkurrenzaufruf (siehe hierzu Hamm, 2010, S. 287 ff.). Marktzugangsbeschränkungen durch beschränkte Ausschreibungen hat die Europäische Kommission zwar für große Projekte unterbunden. Aber auch für kleinere Aufträge - etwas von Kommunen — wäre es für die Bürger vorteilhaft und billi-
73 ger, wenn auch ohne rechtlichen Zwang vom unbeschränkten Wettbewerb durch offene Ausschreibung Gebrauch gemacht würde. Die zahlreichen kommunalen Eigenbetriebe (etwa für Hoch- und Tiefbau, ftir Gartenanlagen, fiir Kraftfahrzeugpflege und -Instandsetzung, für Immobilienmanagement und für die Reparatur und Instandhaltung kommunaler Gebäude und Wohnungen) sollten sich ebenfalls im Wettbewerb mit privaten Anbietern bewähren müssen - auch gegen zu erwartenden gewerkschaftlichen Widerstand, der sich gegen das Infragestellen umfangreicher Privilegien kommunaler Bediensteter richtet. Trotz des meist gegebenen Umsatzsteuerprivilegs fürchten sich Gewerkschaftsvertreter offensichtlich davor, dass Eigenbetriebe im Wettbewerb mit privaten Anbietern unterlegen sein könnten. Die häufig getarnte Quersubventionierung zwischen lukrativen und zuschussbedürftigen kommunalen Tätigkeiten ist ein weiteres Element faktischer Wettbewerbsbeschränkungen zu Lasten privater Anbieter.
4
Beschränkungen des Einsatzes unternehmerischer Aktionsparameter
Nicht immer sind Wettbewerbsbeschränkungen gleichbedeutend mit dem vollständigen Ausschluss unliebsamer Konkurrenten durch rechtliche Regelungen. Es gibt subtilere Formen der Wettbewerbsbeschränkung, meist in der Form, dass der Einsatz einzelner oder mehrerer einzelwirtschaftlicher Aktionsparameter rechtlich eingeschränkt wird. Vor allem die Gesundheitspolitik bietet zahlreiche Beispiele für derartige Wettbewerbsbeschränkungen. Peter Oberender hat sich über viele Jahre kritisch mit den jahrzehntelangen Bemühungen des Gesetzgebers um eine „Kostendämpfung" im Gesundheitswesen durch wettbewerbsbeschränkende staatliche Regulierung auseinandergesetzt, für mehr Freiheit der Anbieter von Gesundheitsdiensten und für die Versicherten plädiert und gut begründetet, konstruktive Lösungen vorgeschlagen. Es ist ihm so ergangen wie vielen anderen Ökonomen, die sich für die Beseitigung von Wettbewerbshindernissen eingesetzt und den erbitterten Widerstand der um ihre Pfründen kämpfenden Interessenten geerntet haben. Gegen den Widerstand der Krankenkassen und der Leistungsanbieter im Gesundheitswesen haben sich selbst gutwillige, von grundlegenden Reformen überzeugte Politiker nicht durchzusetzen vermocht. Die folgenden Beispiele fiir verordnete Unfreiheit beim Einsatz einzelwirtschaftlicher Aktionsparameter sind zu einem großen Teil der Gesundheitspolitik entnommen.
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4.1 Preispolitische Interventionen Im vorstoßenden Wettbewerb wird häufig der Preis als Mittel der Kundengewinnung eingesetzt. Staatliche Preisvorschriften nehmen den Anbietern regelmäßig die Möglichkeit, ihre Überlegenheit im Wettbewerb den Kunden deutlich zu machen. Ihnen wird die Chance verbaut, zwischen verschiedenen Angeboten auszuwählen und preisgünstig einzukaufen. Nahezu alle Preise für Gesundheitsdienste sind staatlich fixiert, insbesondere die Beitragssätze der gesetzlichen Krankenkassen, die Krankenhausdienst, die Arzthonorare und die Arzneimittelpreise in den Apotheken (einschließlich der Handelsspannen). „Kostendämpfung" ist das Zauberwort, mit dem alle diese Interventionen begründet werden. Dass auch der Wettbewerb kostendämpfend wirkt, wenn er nur richtig organisiert wird, wird stillschweigend übergangen. Der Preiswettbewerb zwischen Apotheken wird vor allem aus standespolitischen Gründen verhindert. Die gesamtwirtschaftlich am schwersten wiegenden Preisinterventionen betreffen die Märkte für Arbeitsleistungen. Die straffe staatliche Reglementierung der Arbeitsmärkte wirkt wie eine Lohnerhöhung. Das gilt vor allem für den rigorosen Kündigungsschutz. Die zum Teil von den Arbeitgebern zu finanzierenden Beiträge zur Sozialversicherung sind gleichbedeutend mit einem staatlich regulierten Lohnaufschlag. Die staatlich festgelegten Mindestlöhne in ausgewählten Bereichen liegen durchweg über den zwischen den Tarifvertragsparteien ausgehandelten Tarifuntergrenzen. Die Chancen für schlecht qualifizierte Arbeitskräfte, einen Arbeitsplatz zu finden, verschlechtern sich. Das Risiko, den Arbeitsplatz zu verlieren, steigt für diese Kategorie von Beschäftigten, weil das Wegrationalisieren solcher Arbeitsplätze oder deren Export lohnend wird. Falsche (überhöhte) Preise führen auch auf den Arbeitsmärkten zu einem nicht nachgefragten Angebotsüberhang. Hohe Dauerarbeitslosigkeit und schwerwiegende soziale Lasten fxir die Sozialversicherung und die öffentlichen Haushalte sind die Folge — ganz abgesehen von den psychischen Belastungen der zur Untätigkeit verurteilten Menschen. Internationaler Preiswettbewerb wird in der Landwirtschaft weithin verhindert, um die europäische Landwirtschaft vor billigerer ausländischer Konkurrenz zu schützen. Die Folgen in Form von unnötig hohem Aufwand an knappen Produktionsfaktoren müssen die Verbraucher tragen. In der Mietwohnungswirtschaft fuhren staatliche Vorschriften zugunsten der Mieter zu einem zunehmenden Mangel an billigen Wohnungen, weil staatliche Interventionen private Kapitalanleger dazu veranlassen, einen großen Bogen um diesen früher einmal sehr beliebten, als inflationsgeschützt erachteten Markt zu machen.
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4.2 Mengenregulierung Staatliche Interventionen betreffen oft auch die Angebotsmenge. Rationierung bedeutet, dass Anbieter und (oder) Nachfrager nicht mehr frei über die gehandelten Mengen entscheiden können. Angebotsverknappung ist gleichbedeutend mit Preiserhöhungen und schlechter Versorgung. Ein zu reichliches (durch Abnahmegarantien staatlicher Stellen gesichertes) Angebot verursacht Uberkapazitäten und Verschwendung von Ressourcen. Auf Gesundheitsmärkten fuhren begrenzte (preisregulierte) Arztebudgets dazu, dass zahlreiche Ärzte gegen Jahresende entweder ausgiebig Urlaub machen oder aufschiebbare Behandlungen entgegen den Patientenwünschen in das nächste Jahr vortragen. Krankenhäuser wird fiir zahlreiche Krankheiten nur eine begrenzte Anzahl von Behandlungstagen vergütet. Patienten werden deswegen oft in Pflegeheime oder Reha-Kliniken abgeschoben, wenn keine familiären Pflegemöglichkeiten bestehen. Ob die Alternativen - unter Beachtung eventuell notwendiger Hausbesuche durch niedergelassene Ärzte und ambulante Pflegedienste - wirklich billiger sind, bleibt unbeachtet. In der Landwirtschaft haben Mengenregulierungen eine lange Tradition. Interventionskäufe staatlicher Stellen als Folge staatlicher Preisgarantien verursachen oft erhebliche Belastungen für die Steuerzahler (etwas für die Lagerung oder für die Vernichtung von Überschüssen, die trotz Schleuderpreisen auf Auslandsmärkten nicht absetzbar sind, sowie für die Denaturierung von Lebensmitteln).
4.3 Qualitätsreglementierung In der Gesundheitspolitik wird der Wettbewerb zwischen Krankenkassen erheblich durch staatliche Vorgaben beschränkt. Alle gesetzlichen Krankenkassen müssen einen staatlich genau vorgeschriebenen Katalog von Leistungen (zu einem für alle Kassen verbindlichen Beitragssatz) versichern. Dieser Leistungskatalog ist umfassend und schließt angeblich alle „medizinisch notwendigen" Leistungen ein. Allerdings dürfen die Krankenkassen, wenn sie finanziell dazu in der Lage sind, Zusatzleistungen (etwa sportliche Aktivitäten als Krankheitsvorsorge) gewähren. Eine wesentliche Profilierung im Qualitätswettbewerb ist damit jedoch kaum möglich. Den Versicherten wird die Wahl zwischen unterschiedlichen Versicherungsleistungen (z. B. Beschränkung auf Basisleistungen) genommen. Im Vergleich zur Preis- und Mengenpolitik kommt staatlichen Beschränkungen des Wettbewerbs auf qualitätspolitischem Gebiet insgesamt geringe Bedeutung zu.
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5
Subventionen und Steuervergünstigungen
Immer dann, wenn Subventionen und Steuervergünstigungen selektiv (nicht allen Konkurrenten gleichermaßen) gewährt oder wenn enge Substitutionsgüter davon ausgeschlossen werden, sind Wettbewerbsverzerrungen und Fehllenkungen von Produktivkräften die unvermeidliche Folge. Viele öffentliche Unternehmen, etwa die Deutsche Bundespost mit ihrem Briefdienst und viele kommunale Betriebe, sind von der Umsatzsteuer befreit und haben damit erhebliche Vorteile gegenüber steuerpflichtigen privaten Konkurrenten. Die Deutsche Bahn AG wird mit hohen Milliardenbeträgen jährlich bedacht, vor allem fiir die Finanzierung des Gleisnetzes. Die Konkurrenten auf der Straße müssen nicht nur die laufenden Betriebs-, Unterhaltungs- und Erneuerungskosten des Straßennetzes über steuerliche Abgaben und Benutzungsgebühren (Straßenmaut) aufbringen, sondern auch die gesamten Ausgaben für den Neubau. Überdies müssen sie hohe Milliardenbeträge jährlich zur Finanzierung allgemeiner staatlicher Aufgaben bezahlen. Während die Deutsche Bahn AG bereits mehrfach von ihrer gesamten Schuldenlast (z. B. Ausgaben fiir den Kauf von Schienenfahrzeugen) auf Kosten der Steuerzahler befreit worden ist, denkt niemand daran, den Konkurrenten auf Land- und Wasserstraßen ähnliche Subventionen zu gewähren. Wie zum Hohn weist die Deutsche Bahn AG in ihren Jahresabschlüssen Gewinne aus. Wettbewerbsverzerrende Wirkungen gehen auch vom Querverbund zwischen kommunalen Betrieben aus. Kartellbehörden monieren zwar die Subventionierung kommunaler Betriebe aus Uberschüssen anderer kommunaler Betriebe. Es gibt jedoch getarnte Umgehungsmöglichkeiten, die in großem Umfang genutzt werden. Nachteilig betroffen sind vor allem die Kunden kommunaler Energieunternehmen: Aus den hier erwirtschafteten satten Gewinnen wird eine breite Palette kommunaler Betriebe subventioniert, auch solche, die im (potenziellen) Wettbewerb mit privaten Anbietern stehen. Nicht zufallig sind vor allem öffentliche Unternehmen die Nutznießer Wettbewerbsverzerrender Subventionen. Die dreistellige Milliardensumme von Subventionen und Steuervergünstigungen pro Jahr verursacht auch auf zahlreichen anderen Märkten Wettbewerbsverzerrungen. Hierauf kann an dieser Stelle nur pauschal hingewiesen werden.
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Folgen von wettbewerbspolitischen Ausnahmeregelungen
Deutschland wird oft: als Musterstaat einer Sozialen Marktwirtschaft gepriesen. Eine sorgfaltige Analyse zeigt jedoch, dass davon auf zahlreichen Märkten keine Rede sein kann. Die gesamtwirtschaftlichen Folgen von Wettbewerbsverzerrungen und -beschränkungen liegen klar zutage, worauf Peter Oberender immer wieder nachdrücklich hingewiesen hat (u.a. 2005, S. 260 ff.). Produktionsfaktoren werden fehlgeleitet. Strukturelle Verwerfungen schmälern das Produktionsergebnis. Soziale Folgen, insbesondere die Diskriminierung mittelständischer Unternehmen zum Vorteil meist öffentlicher Betriebe schaden dem Ruf einer freiheitlichen Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft. Innovatoren werden vor allem dort abgeschreckt, wo etablierte Konkurrenten öffentliche Hilfen zu ihrem Schutz zu erwirken vermögen. Der Wohlstandszuwachs wird ebenso gebremst wie das Wirtschaftswachstum und das Angebot von Arbeitsplätzen. Die Beseitigung von Wettbewerbsbeschränkungen wird häufig mit dem Argument bekämpft, Arbeitsplätze in den bisher geschützten Unternehmen gingen verloren. Das trifft zu, sofern die bedrohten Unternehmen nicht durch Kostensenkung, Produktivitätsverbesserungen, Sortimentsänderungen, Qualitätssteigerungen oder Innovationen wettbewerbsfähig zu bleiben verstehen. Gelingt dies nicht, so stehen Arbeitsplatzverlusten in untergehenden Unternehmen steigende Beschäftigungschancen in expandierenden Unternehmen gegenüber. Es gibt keineswegs nur Verlierer als Folge wegfallender Wettbewerbsbehinderungen. Allerdings sind Anpassungs- und Umstellungsbereitschaft nicht nur von Unternehmern zu fordern, sondern auch von den Beschäftigten. Die Erfahrung lehrt, dass sich der Schutz vor Wettbewerbern stets nur begrenzte Zeit aufrechterhalten lässt. Regelmäßig wachsen Umstellungszwänge und öffentliche Hilfen für nicht reformfähige Unternehmen ständig an. Mit Verzögerungen müssen dann unausweichliche Strukturanpassungen doch nachgeholt werden. Solche Lernprozesse sind für alle Beteiligten bitter: für die Beschäftigten, die in künstlich am Leben erhaltenen Unternehmen schlecht bezahlt werden und unter der Unsicherheit ihres Arbeitsplatzes leiden; für die Eigentümer der Unternehmen, die bei alternativem Einsatz ihres Kapitals höhere Renditen erzielten; und für die Steuerzahler, die die finanzielle Last der verzögerten Umstellung tragen müssen. Werden „Ressourcen dauerhaft in schrumpfenden Branchen" gebunden, „die für aus dem Markt heraus entstandene Wachstumsbranchen nicht zur Verfugung stehen", sind „Wachstumsverluste und Beschäftigungseinbußen" nicht zu verhindern (Oberender u. a., 2005, S. 261.). Gegen eine zeidich begrenzte Abfederung struktureller Veränderungen, die die sozialen Belastungen erträglich gestaltet, ist nichts einzuwenden (Hamm, 2005, S. 443).
78 Zusammenfassend lässt sich mit Dönges sagen, dass verbreitete Wettbewerbsbeschränkungen „Verkrustungen und Ineffizienzen sowie ein überhöhtes Kostenniveau in der Volkswirtschaft erzeugen, die das Wachstum lähmen und die Erwerbs- und Beschäftigungschancen der Menschen verringern" (Dönges, S. 157). Durch Verzicht auf Wettbewerbsbeschränkungen können „die international mobilen Produktionsfaktoren mit einer attraktiven Rendite rechnen, wodurch das Land als Investitions- und Produktionsstandort aufgewertete wird; Sachkapital und qualifizierte Fachkräfte wandern zu statt ab, und damit vergrößert sich das gesamtwirtschaftliche Produktionspotenzial" (Dönges, S. 158). In Deutschland fehlen fatalerweise seit langer Zeit Politiker, die nicht nur an die Wiederwahl, sondern vor allem an das langfristige Wohl des Gemeinwesens denken, die ferner nicht nur von Sozialer Marktwirtschaft reden, sondern die zahlreichen Defekte der Wirtschaftsordnung konsequent angehen und mit der so zu gewinnenden individuellen Freiheit einen neuen Schub für Wohlstand, Beschäftigung und Wirtschaftswachstum auslösen. Eine breite Öffentlichkeit muss erst noch von den Vorzügen einer solchen Politik überzeugt werden.
Literatur Beck, Hanno, und Andrea Beyer, Öffentlich-rechtlicher Rundfunk im Zeitalter der Digitalisierung, in: Ordo, Band 61, Stuttgart 2010, S. 287 ff. Dönges, Jürgen B., Deregulierung, in: Rolf H. Hasse, Lexikon Soziale Marktwirtschaft, 2. Auflage, Paderborn 2005, S. 157 ff. Hamm, Walter, Strukturpolitik, in: Rolf H. Hasse, Lexikon Soziale Marktwirtschaft, 2. Auflage, Paderborn 2005, S. 441 ff. Hamm, Walter, Das kommunale Dilemma, in: Ordo, Band 61, Stuttgart 2010, S. 287 ff. Oberender Peter, Stephan Ruckdäschel und Thomas Rudolf, Industriepolitik, in: Rolf H. Hasse, Lexikon Soziale Marktwirtschaft, 2. Auflage, Paderborn, S. 260 ff. Ilgmann, Gottfried, Wettbewerb auf der Schiene: Von der EU verordnet, von den Staatsbahnen unterlaufen, in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Nr. 12b, Dezember 2010, S. 57 ff.
Friedrich Schneider
Schattenwirtschaft und Korruption in Deutschland: Was kann dagegen getan werden? 1
Einleitung
Im Jahr 2009 hatte die Weitfinanzkrise auch die „Realwirtschaft" in Deutschland erfasst, und einen Anstieg der Schattenwirtschaft in Deutschland und in den meisten OECD-Ländern verursacht. Viele OECD-Länder haben bereits in 2010 die Wirtschaftskrise überwunden und das in manchen Ländern beträchtliche Wachstum der offiziellen Wirtschaft führte wieder zu einem Rückgang der Schattenwirtschaft. Auch vor diesem Hintergrund werden das Ausmaß und die zeitliche Entwicklung der Schattenwirtschaft in Deutschland wieder intensiv diskutiert, da viele jetzt viel weniger Anreiz haben, schwarz zu arbeiten, wenn in der offiziellen Wirtschaft auch zusätzlichen Einnahmen erzielt werden können. Hingegen werden von Seiten der Politik wiederum Maßnahmen (Ausweitung der Mindestlöhne, Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge, etc.) ergriffen, die die schattenwirtschaftlichen Aktivitäten zusätzlich attraktiv machen. Ebenso ist das Thema Korruption in Deutschland sehr aktuell und auch hier wird kontrovers diskutiert, wie diese reduziert werden kann. Der vorliegende Beitrag informiert über die Entwicklung der Schattenwirtschaft und Korruption in Deutschland und bringt nach der Weltwirtschaftskrise in 2009 erste Berechnungen über die Schattenwirtschaft von 21 O E C D Ländern für die Jahre 2010 und 2011. Aufgrund der Überwindung der Weltwirtschaftskrise ist in allen OECD-Ländern zum zweiten Mal mit einem Rückgang der Schattenwirtschaft zu rechnen. Die Schätzungen des Umfangs der Schattenwirtschaft basieren auf einer Kombination des MIMIC-Verfahrens und des Bargeldansatzes. Der MIMIC-Ansatz geht von der Annahme aus, dass die Schattenwirtschaft eine nicht direkt beobachtbare Größe ist, die näherungsweise aufgrund von quantitativ erfassbaren Ursachen (z. B. Steuerbelastung, Regulierungsdichte), im Schatten zu arbeiten, und Indikatoren (Bargeld, offizielle Arbeitszeit, etc.), in denen sich Schattenwirtschaftsaktivitäten widerspiegeln, berechnet werden kann. 1 2 3 Da mit dem MIMIC-Verfahren nur 123
Diese Methoden (sowie andere) wird in folgenden Beiträgen ausfuhrlich dargestellt und einer kritischen Würdigung unterzogen: Feld und Schneider (2010), Schneider (2004), Schneider und Enste (2002), sowie Schneider (2009), Schneider und Bühn (2009), sowie Schneider, Bühn und Montenegro (2010).
80 relative Größenordnungen der Schattenwirtschaft der einzelnen Länder berechnet werden können, werden zur Umrechnung der Größen der Schattenwirtschaft in absolute Werte (in % des offiziellen BIP oder in Milliarden €) einige absolute Werte, die mit der Hälfte des Bargeldverfahrens berechnet wurden, benötigt. Der Bargeldansatz fußt auf der Idee, dass die in der Schattenwirtschaft erbrachten Leistungen bar entlohnt werden, und dass es mit Hilfe einer Bargeldnachfragefunktion gelingt, diese bar entlohnten Leistungen zu schätzen und das Volumen an Schattenwirtschaft zu berechnen.
2
Zeitliche Entwicklung der Schattenwirtschaft bis 2011
Tabelle 1, Abbildung 1 und Abbildung 2 geben die zeitliche Entwicklung der mit diesen beiden Verfahren geschätzten Größe der Schattenwirtschaft für Deutschland, Osterreich und die Schweiz über die Periode 1975 bis 2010 wieder. Größe der Schattenwirtschaft (in % des „offiziellen" BIP) Jahr
Deutschland In % Mrd. €
in %
Österreich Mrd. €
in %
Schweiz Mrd. SFr.
1975
5.75
29,6
2,04
0.9
3,20
12
1980
10,80
80,2
2,69
2,0
4,90
14
1985
11.20
102,3
3,92
3,9
4,60
17
199«
12,20
147,9
5.47
7,2
6,20
22
1995
13,90
241,1»
732
12,4
6,89
25
1996
14,50
257,6"
8.32
14,6
7,51
27
1997
15,00
274,7 »
8,93
16,0
8,04
29
1998
14,80
280,7 »
9.09
16,9
7,98
30
1999
15,51
301,8 •>
9,56
18,2
8,34
32
2000
16,03
322,3 »
10.07
19,8
8,87
35
2001
16,02
329,8 »
10,52
21,1
9.28
37,5
2002
16,59
350,4 »
10,69
21,8
9.48
38,7
2003
17,10
370,0 "
10,86
22,5
9,52
39,4
2004
16,12
356,1 '>
11,00
23,0
9.43
39,5
2005
15,41
346,2 »
10,27
22,0
9,05
38,7
2006
15,00
.145,5 "1
9,51
21,28
8.48
37,0
2007
14,74
349,0 •>
9,06
20,80
8,23
36,8
2008
14,22
346,8 •>
8,07
19,92
7,96
35,4
2009
14,57
351,8 »
8,47
20,50
8,28
16,4
2010
13,91
347,6
8.21
20,25
8,10
35,8
2011»
13,72
345,6
8.01
20,20
7,91
35,5
Tabelle 1: Die Größe der Schattenwirtschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz über den Zeitraum 1975 bis 2011, berechnet mit Hilfe des Bargeldansatzes und des MIMIC-Verfahrens Quelle: Eigene Berechnungen (2010). 1) An dem Jahr 1995 fiir Gesamtdeutschland, 2) Prognose bzw. Schätzwert, da die offiziellen Statistiken noch nicht vorliegen
81
E3Deutschland • Ö s t e r r e i c h • Schweiz
Abbildung 1: Größe der Schattenwirtschaft in % des off. BIP in Ö, D und CH (1975-2011) Quelle: Eigene Darstellung.
Abbildung 2: Jährliche prozentuelle Änderung (Zu- und Abnahme) der Schattenwirtschaft für D, ö und CH von 1997 bis 2011 Quelle: Eigene Darstellung.
82
2.1 Entwicklung der Schattenwirtschaft in Deutschland von 1975 bis 2011 Betrachtet man zunächst die Entwicklung der Schattenwirtschaft für Deutschland, so war diese nach starken Anstiegen bis Anfang dieses Jahrzehnts seit dem Jahr 2003 von 370 Mrd. € bis 2006 auf 345,5 Mrd. € rückläufig. Für das Jahr 2007 wurde erstmals seit drei Jahren wieder ein Anstieg der Schattenwirtschaft gegenüber dem Vorjahr um 3,5 Mrd. € oder 1 % auf 349 Mrd. € berechnet; ein wesentlicher Grund dafür war die Mehrwertsteuererhöhung. Da gleichzeitig die offizielle Wirtschaft jedoch mit nominal knapp 3 % stärker gewachsen ist als die Schattenwirtschaft, verbesserte sich die Relation aus Schattenwirtschaft und offizieller Wirtschaft auch im Jahr 2007 weiter. Wahrend der Wert der Schattenwirtschaft im Jahr 2003 in Relation zum offiziellen BIP noch 17,1 % und in 2006 noch 15,0% ausmachte, lag dieser Wert im Jahr 2007 mit knapp 14,7% sogar erstmals wieder unter dem Wert des Jahres 1998. Im Jahr 2008 ging die Schattenwirtschaft dank der guten Wirtschaftslage wieder um 2,2 Mrd. € zurück. Im Jahr 2009 stieg die Schattenwirtschaft erstmals wieder aufgrund der Weltwirtschaftskrise um 1,4% an. Für das Jahr 2010 und 2011 wird aufgrund des starken Wirtschaftswachstums der offiziellen Wirtschaft ein Rückgang der Schattenwirtschaft prognostiziert. Die detaillierten Ergebnisse sind in Tabelle 2 und Tabelle 3 dargestellt. Maßnahmen im Jahr 2010
Zuwachs (+) /Minderung (-) der Schattenwirtschaft [Durchschnitt]
1. 1.1 1.2 1.3
ökonomischer Aufschwung Reduktion der Arbeitslosen auf 3,25 Mio. Rückgang der Kurzarbeit; auf unter 500.000 BIP-Wachstum 3,7% Summe: Faktoren 1-3
-2.500 bis -4.300 [-3.400] Mio. €
2.
Senkung des Beitragssatzes der Krankenversicherung um 0,6 Prozentpunkte auf 14,9 %
-500 bis -800 [-650] Mio. €
3.
Bürgerentlastungsgesetz
-600 bis -900 [-700] Mio. €
4.
Einführung von Mindestlöhnen im Lackiergewerbe, Bergbau und Abfall und in der Pflegebranche
+ 400 bis +800 [+600] Mio. €
Netto-Effekt für 2010
-3.200 bis -5.200 [-4.200] Mio. €
Tabelle 2: Die Auswirkungen des Aufschwungs und einiger wirtschaftspolitischer Maßnahmen der CDU/FDP Koalition auf die Schattenwirtschaft im Jahr 2010 Q u e l l e : Eigene Berechnungen.
83
Effekte/Maßnahmen 2011 1. Rückgang der Arbeitslosenzahl auf 2,95 Mio. 2. BIP-Wachstum 2,0% Beide Effekte 3. Mindesdohn - Höhe 6,65 - Höhe 7,60 Mindesdohn 70.000 4.
in der Zeitarbeit 700.000 Beschäftigte € (Ost) und € (West) im Wach- und Sicherungsgewerbe/
Beitragserhöhung der gesetzlichen Krankenversicherung von 14,9 auf 15,5%
Netto-Effekt fiir 2011
Auswirkungen (Zuwachs (+) /Minderung (-)) auf die Schatten Wirtschaft [Durchschnitt]
-2.350 bis -3.550 Mio. [-2.950 Mio.] €
+ 200 bis +400 Mio. [300 Mio.] € + 500 bis +800 [650 Mio] €
-1.650 bis -2.350 Mio. [2.000 Mio.] €
Tabelle 3: Die Auswirkungen des fortgesetzten Aufschwungs und einiger wirtschaftspolitischer Maßnahmen auf die Schattenwirtschaft im Jahr 2011 Quelle: Eigene Berechnungen.
Aus Tabelle 2 geht hervor, dass aufgrund des ökonomischen Aufschwungs, der zu einer Reduktion der Arbeitslosenzahl auf 3,25 Millionen, einem Rückgang der Kurzarbeit unter 500.000 und zu einem BIP-Wachstum von 3,7 Prozent gefuhrt hat, die Schattenwirtschaft zwischen 2,5 und 4,3 (Mittelwert 3,4) Mrd. Euro sinken wird. Die Senkung des Beitragssatzes der Krankenversicherung reduziert die Schattenwirtschaft noch einmal zwischen 500 und 800 (Mittelwert 650) Mio. Euro, und das Bürgerentlastungsgesetz verringert die Schattenwirtschaft zwischen 600 und 900 Mio. Euro (Mittelwert 750 Mio. Euro). Durch die Einführung von Mindestlöhnen im Lackiergewerbe, Bergbau und Abfallwirtschaft, sowie in der Pflegebranche, steigt die Schattenwirtschaft zwischen 400 und 800 Mio. (Mittelwert 600 Mio.) Euro wieder an, sodass sich insgesamt ein NettoefFekt der Reduktion der Schattenwirtschaft für 2010 zwischen 3,2 und 5,2 Mrd. Euro (Mittelwert 4,2 Mrd. Euro) ergibt. Damit setzt sich seit 2008 der Trend des Rückgangs der Schattenwirtschaft fort. In Tabelle 3 sind die Auswirkungen des fortgesetzten Aufschwungs und einige wirtschaftspolitische Maßnahmen der deutschen Bundesregierung auf die Schattenwirtschaft im Jahr 2010 aufgeführt. Aus dieser Tabelle erkennt man, dass der prognostizierte Rückgang der Arbeitslosenzahlen auf 2,95 Mio. und ein prognostiziertes BIP-Wachstum von 2 Prozent zu einem weiteren Rückgang der Schattenwirtschaft zwischen 2,35 und 3,55 (Mittelwert 2,95) Mrd. Euro führen wird. Auf der anderen Seite wird der Mindestlohn in der Zeitarbeit für 700.000 Beschäftigte in der Höhe von 6,65 Euro (Ostdeutschland) und 7,60 Euro (Westdeutschland) eingeführt, der die Schattenwirtschaft zwischen 200 und 400 Mio. (Mittelwert 300 Mio.) Euro im Jahr 2011 erhöhen wird. Darüber hinaus führt die Beitragserhöhung der gesetzlichen Krankenversicherung von 14,9 auf 15,5 Prozent zu
84 einem Anstieg der Schattenwirtschaft zwischen 500 und 800 Mio. (650 Mio. Mittelwert) Euro. Insgesamt beträgt der Nettoeffekt zwischen 1,65 und 2,35 Mrd. Euro oder im Mittel 2,0 Mrd. Euro, d. h. die Schattenwirtschaft wird auch im Jahr 2011 um 2 Milliarden auf 345,6 Mrd. zurückgehen.
2.2 Die Schattenwirtschaft in Österreich und in der Schweiz In Osterreich hatte sich die Schattenwirtschaft von 22,5 Mrd. € im Jahr 2003 auf 23,0 Mrd. € im Jahr 2004 erhöht, was einer Steigerung von 2,2% entsprach. Ein wesentlicher Grund für das Anwachsen der Schattenwirtschaft im Jahr 2004 bestand dabei in der anhaltend hohen Belastung durch Steuern und Sozialabgaben im Zuge der einnahmeseitigen Budgetsanierung in Osterreich in den letzten Jahren. Im Jahr 2005 erreichte die Schattenwirtschaft in Österreich lediglich ein Volumen von 22,0 Mrd. € — d. h. sie war zum ersten Mal rückläufig und sank um etwa 1 Mrd. €. Der prozentuale Rückgang gegenüber dem Vorjahr betrug 4,35 %. Die zentrale Ursache für diesen Rückgang lag in der zu Beginn des Jahres 2005 in Kraft getretenen Steuersenkung. Für 2007 und 2008 zeigten die Berechnungen für Osterreich wiederum einen leichten Rückgang der Schattenwirtschaft auf 20,80 (2007) und auf 19,9 (2008) Mrd. € an. 2009 trat wegen der Rezession wieder ein Anstieg der Schattenwirtschaft auf 20,50 Mrd. € oder 8,5 % des offiziellen BIP ein. Auch in Österreich ist die Schattenwirtschaft im Jahr 2010 aufgrund des einsetzenden Wirtschaftsaufschwungs und einer Wachstumsrate des BIPs von 2,5 Prozent weiter gesunken. Sie erreichte einen Wert von 8,2 Prozent bzw. 20,25 Mrd. Euro. Durch den fortgesetzten Aufschwung wird für das Jahr 2011 prognostiziert, dass die Schattenwirtschaft in Österreich auf 8,0 Prozent oder 20,2 Mrd. Euro weiter sinken wird. In der Schweiz konnte wie in Österreich erstmals von 2004 auf2005 ein Rückgang der Schattenwirtschaft beobachtet werden: von 39,5 Mrd. SFR im Jahr 2004 sank das Volumen der Schattenwirtschaft in 2005 auf 38,7 Mrd. SFR oder gut 9 % des Bruttoinlandsprodukts und weiter auf 37 Mrd. € oder 8,5 % des Bruttoinlandsprodukts in 2006. Gründe für den Rückgang waren unter anderem strengere gesetzliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Schattenwirtschaft und eine teilweise attraktivere Handhabung von haushaltsnahen Dienstleistungen in der offiziellen Wirtschaft. Im Jahr 2007 und 2008 ging die Schattenwirtschaft wegen der guten Konjunktur und einem Maßnahmenpaket gegen die Schwarzarbeit der Schweizer Bundesregierung zurück; in 2007 auf 36,8 Mrd. CHF und im Jahr 2008 auf 35,4. Wie im Fall von Deutschland und Österreich wuchs im Jahr 2009 aufgrund der Wirtschaftskrise die Schattenwirtschaft auf 36,4 Mrd. Franken oder 8,3% des offiziellen BIP. So wie in Österreich und Deutschland ist auch für die Schweiz die Schattenwirtschaft im Jahr 2010 aufgrund des einsetzenden Wirtschaftsauf-
85 schwungs und einem BIP-Wachstum von mindestens 2 Prozent weiter zurückgegangen. Sie betrug im Jahr 2 0 1 0 8,1 Prozent oder 35,8 Mrd. Schweizer Franken. Im Jahr 2 0 1 1 wird sie aufgrund des fortgesetzten Wirtschaftsaufschwungs auf 7,9 Prozent bzw. 35,5 Mrd. Schweizer Franken weiter sinken.
2.3 Das Ausmaß der Schattenwirtschaft im internationalen OECD Länder-Vergleich Um einen internationalen Vergleich der Größe der Schattenwirtschaft mit anderen OECD-Länder anzustellen, sind in Tabelle 4 sowie in der Abbildung 3 die Schattenwirtschaft von 21 OECD-Länder bis zum Jahr 2 0 1 0 aufgeführt. Tabelle 3: Die GrftBe der Schattenwirtschaft (In % de« offiziellen BIP) In 21 OECD-Ländem von 1)89/90 ble 2011 unter Verwendung des Bargeldnachfrageansatzes und des MIMIC-Verfahrens OECD-Länder
Durch- Durch- Durch- Durch- Durchschnitt schnitt schnitt schnitt schnitt 1989/90 1994/95 1997/98 1999/00 2001/02
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010"
2011' )
1. Australien
10.1
13.5
14.0
14.3
14.1
13.7
13.2
12.6
11.4
11.7
10.6
10.9
10.3
10.1
2. Belgien
19.3
21.5
22.5
22.2
22.0
21.4
20.7
20.1
19.2
18.3
17.5
17.8
17.4
17.1
3. Canada
12.8
14.8
16.2
16.0
15.8
15.3
15.1
14.3
13.2
12.6
12.0
12.6
12.2
11.9
4. Dänemark
10.8
17.8
18.3
18.0
17.9
17.4
17.1
16.5
15.4
14.8
13.9
14.3
14.0
13.8 13.7
5. Deutschland
11.8
13.5
14.9
16.0
16.3
17.1
16.1
15.4
15.0
14.7
14.2
14.6
13.9
6. Finnland
13.4
18.2
18.9
18.1
18.0
17.6
17.2
16.6
15.3
14.5
13.8
14.2
14.0
13.7
7. Frankreich
9.0
14.5
14.9
15.2
15.0
14.7
14.3
13.8
12.4
11.8
11.1
11.6
11.3
11.0 25.8
8. Gnechenland
22.6
28.6
29.0
28.7
28.5
282
28.1
27.6
26.2
25.1
24.3
25.0
25.4
9. Großbntannien 10. Irland
9.6
12.5
13.0
12.7
12.5
12.2
12.3
12.0
11.1
10.6
10.1
10.9
10.7
10.5
11.0
15.4
16.2
15.9
15.7
15.4
15.2
14.8
13.4
12.7
12.2
13.1
13.0
12.8
11. Italien
22.8
26.0
27.3
27.1
27.0
26.1
25.2
24.4
232
22.3
21.4
22.0
21.8
21.6
12. Japan
8.8
10.6
11.1
11.2
11.1
11.0
10.7
10.3
9.4
9.0
8.8
9.5
9.2
9.0
13. Niederlande
11.9
13.7
13.5
13.1
13.0
12.7
12.5
12.0
10.9
10.1
9.6
10.2
10.0
9.8
14. Neuseeland
9.2
11.3
11.9
12.8
12.6
12.3
12.2
11.7
10.4
9.8
9.4
9.9
9.6
9.3 14.8
15. Norwegen
14.8
18.2
19.6
19.1
19.0
18.6
18.2
17.6
16.1
15.4
14.7
15.3
15.1
16. Österreich
6.9
8.6
9.0
9.8
10.6
10.8
11.0
10.3
9.7
9.4
8.1
8.5
8.2
8.0
17. Portugal
15.9
22.1
23.1
22.7
22.5
22.2
21.7
21.2
20.1
19.2
18.7
19.5
19.2
19.4
18. Schweden
15.8
19.5
19.9
19.2
19.1
18.6
18.1
17.5
16.2
15.6
14.9
15.4
15.0
14.7
19. Schweiz
6.7
7.8
8.1
8.6
9.4
9.5
9.4
9.0
8.5
8.2
7.9
8.3
8.1
7.9
20. Spanien
16.1
22.4
23.1
22.7
22.5
22.2
21.9
21.3
20.2
19.3
18.7
19.5
19.4
19.2
21. USA
6.7
8.8
8.9
8.7
8.7
8.5
8.4
8.2
7.5
7.2
7.0
7.6
7.2
7.0
Ungew. Durchschnitt Über21 OECD Länder
12.7
16.2
16.8
16.8
16.7
16.5
16.1
15.6
14.5
13.9
13.3
13.8
13.6
13.4
Tabelle 4: Die Größe der Schattenwirtschaft (in % des offiziellen BIP) in 21 OECDLändern von 1989/90 bis 2011. Quelle: Eigene Berechnungen, 2009, (Prof. Dr. Friedrich Schneider, University of Linz, Altenbergerstraße 69, A-4040 Linz/Auhof), 1) Vorläufige Werte.
86
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1 i si i// # i § iigf-fftiß&if cf / / / i / / * # / / ij° " /-P/ #/ T/ »/ 0 und -y-jj < 0. Die neue, erwardK dK tete Auszahlung im Falle eines Eingriffs ist gegeben durch den Ausdruck + 4 ) + [PVW) Rt) + (l -p(I{K))) (RV+ (1 + i)- 1 - K(I). Hieraus ergibt sich die Maximierungsbedingung in der Form:
f
=
+
(i + ^ - f - o.
Mit anderen Worten bedeutet dies, dass der Investor so lange Geld und geldwerte Mittel in den Aufbau der Illusion investieren wird, bis die Grenzkosten den Grenzerträgen dieser Auszahlung entsprechen. Beeinflusst werden die Ausgaben neben der Transformationsfunktion p (I(-fQ) von der Differenz zwischen den
183
Rückflüssen bei angenommener Integrität und jenen, die bei der Auffassung eines „verschobenen" Spiels realisiert werden können. Aus der Sicht des Teameigentümers ergibt sich mathematisch eine optimale Situation, sofern Integrität nicht als Nutzenbestandteil der Konsumenten in Erscheinung tritt und folglich fehlende Integrität nicht zu verminderten Auszahlungen fuhrt: In einer Situation, in der gilt, dass R¿yg = Rjyg, muss der Investor keinerlei Maskierungskosten aufwenden und maximiert seine Auszahlung durch einen abgesprochenen Sieg der Mannschaft A. Dies entspricht der intuitiven Erwartung.
3.4 Mögliche Auswirkungen eines Eingriffs Im bisherigen Verlauf wurde angenommen, dass ein tatsächlicher Eingriff keinen Einfluss auf die Wahrnehmung der Zuschauer hinsichtlich der Integrität hat. In der Realität sollte hingegen davon ausgegangen werden, dass eine tatsächliche Absprache die Wahrscheinlichkeit, dass diese von den Konsumenten angenommen wird, auch erhöht (von einem Automatismus sollte jedoch nicht ausgegangen werden). Folgende Aspekte können dabei eine Rolle spielen: Ein oder mehrere Spieler treten an die Presse und machen die Absprache publik (sei es, weil sie selber einen integren Sport wünschen oder auch aus persönlichen Gründen wie Differenzen mit der Vereinsfuhrung). Der Spielverlauf weist auf eine Absprache hin, bspw. wenn ein Spieler einen individuellen Fehler begeht (insbesondere auf der Position des Torwarts). Sofern Transferzahlungen zwischen den Mannschaften A und B vorgenommen werden, können diese durch die Presse oder auch die Behörden entdeckt werden. Innerhalb der Modellstruktur können diese Aspekte durch die Einführung einer Variablen a (0 < a < p) berücksichtigt werden. Sie verringert den Wert für p (Annahme eines integren Wettkampfs durch die Konsumenten) und erhöht im gleichem Maße die Gegenwahrscheinlichkeit (1 —p). Somit ergibt sich eine neue erwarte Auszahlung in folgender Form:
Rß) + [(/>- R^. In der aktuellen Spielzeit sind die Erlöse annahmegemäß unabhängig vom Spielausgang zwischen A und B; in der Folgeperiode ergeben sie sich in Abhängigkeit der Annahmen der Zuschauer. Die Gesamtwohlfahrt kann annahmegemäß als die Summe der Erlöse der drei Mannschaften in beiden Perioden betrachtet werden. Die Zahlungsbereitschaft der Konsumenten stellt in diesem Fall ein Proxy fiir deren Nutzen dar. Eine Maximierung der Erlöse der Mannschaften fuhrt unter dieser Bedingung gleichsam zu einer Maximierung des gesamtgesellschaftlichen Nutzens. 285
Ein Praxisbeispiel fiir derartiges Konsumentenverhalten findet sich aktuell im professionellen Radsport, bei dem sämtliche Mannschaften unter einem geringeren öffentlichen Interesse leiden, unabhängig davon, ob sie selber in Dopingfalle involviert waren oder nicht.
186 Der Eigentümer des Teams C hat keine Möglichkeiten, q bzw. den Spielausgang zu beeinflussen. Allerdings kann er im Falle tatsächlicher Absprachen mit Sanktionen drohen, die bis hin zum Austritt aus der Liga reichen und somit das gesamte Produkt gefährden könnten. Sofern der Eigentümer der Mannschaft C ebenfalls streng gewinnmaximierend agiert, wird er eine Entschädigung fordern, die seine Ausfälle mindestens kompensiert. Diese beträgt a(Rc + Rc), für den Fall, dass eine tatsächliche Absprache die Wahrnehmung der Konsumenten verändert. Eine pauschale Aussage darüber, ob die Gesamtwohlfahrt mittels derartiger Transferzahlungen maximiert werden kann, ist jedoch nicht möglich. Dazu bedürfte es genauerer Aussagen über den Informationsstand der einzelnen Akteure. Eine pauschale Forderung nach Kompensationszahlungen durch den Eigentümer der Mannschaft C an den Investor wird letzterer jeweils mit dem Hinweis auf einen fehlenden Eingriff ablehnen. Nur wenn es zu einer Kartellierung der Teameigentümer kommt, in der mögliche Informationsasymmetrien aufgehoben werden, sind derartige Zahlungen realistisch.
4
Modellimplikationen und Ausblick
Das oben skizzierte Modell ist in der Lage zu zeigen, dass unter bestimmten Voraussetzungen (Entscheidungsspiel am Ende der Saison, Ranglisteneffekte etc.) tatsächlich Anreize vorliegen, die einen gewinnmaximierenden Investor zu Absprachen bewegen können. Berücksichtigt man jedoch die Tatsache, dass eine tatsächliche Absprache in der Regel die Wahrscheinlichkeit erhöhen sollte, dass die Zuschauer von einem nicht-integren Wettkampf ausgehen, so stellt sich die Situation anders dar. Hier können insbesondere die Sanktionsmöglichkeiten der Zuschauer limitierenden Einfluss auf die Entscheidung des Investors nehmen. Heermanns Aussage, dass Gefahren drohen, sofern ein Investor mehr als einen Teilnehmer eines Wettbewerbs wirtschaftlich beherrscht, 286 kann damit nicht generell zugestimmt werden. Angesichts der fortschreitenden Professionalisierung sehen wir großen Forschungsbedarf im Bereich der Multi Club Ownerships. Eine Betrachtung von Investoren, die neben monetärem ebenfalls immateriellen Nutzen aus dem Sieg einer Mannschaft ziehen und sich somit Mäzenen annähern, ist dringend erforderlich. Auf Seiten der Spieler ist zu hinterfragen, wie diese einer möglichen Fremdbestimmung gegenüberstehen. Insbesondere für ältere Spieler, die ihren Leistungszenit bereits überschritten haben, könnten Absprachen eine interessante Alternative zum integren Wettkampf sein. Neben den Eigentümern und Aktiven sollte vor allem der 286
Vgl. Heermanns (2007).
187 Konsument in den Fokus des Interesses gerückt werden. Der vorliegende Beitrag nimmt explizit an, dass die Integrität des Sports ein wichtiger Nutzenbestandteil ist. Gegen diese Annahme spricht, dass mit dem professionellen Wrestling seit Jahrzehnten eine Sportart erfolgreich ist, bei der der Ausgang eines Wettkampfs offensichtlich abgesprochen wurde. Und auch in anderen Disziplinen muss angenommen werden, dass zumindest einige Interessengruppen („Ultras") weniger die Integrität des Sports als vielmehr den Sieg der eigenen Mannschaft fordern. Die Akzeptanz möglicher Absprachen muss in diesem Fall als recht hoch gelten. Weiterhin konnte die Berücksichtigung weiterer Vereine (neben A und B) im vorliegenden Beitrag nur in Grundzügen geschehen. Insbesondere die exponentiell wachsenden Möglichkeiten der Einflussnahme bei mehreren Mannschaften und Kreuzbeziehungen scheinen ein interessantes Feld zu sein.
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Alice Weidel
Der Euro ist kein Integrationsvehikel fiir Europa 1
Einleitung
Nicht ohne Pathos wird der Euro von der deutschen Bundeskanzlerin zu einer schicksalhaften Notwendigkeit erklärt. Jedoch ist und sollte der Euro nicht unser Schicksal sein, da er Europa nicht eint, sondern spaltet. Was einst politisch motiviert aus der Wiege gehoben wurde, zieht einen immer tiefer werdenden Graben zwischen Geber- und Nehmerstaaten. Ohne massive Kapitaltransfers der öffentlichen Hand ist die Gemeinschaftswährung nicht überlebensfähig. Da kommen Theorie und Realpolitik zu dem gleichen Schluss. Die Anpassungskosten des Euros übersteigen durch die öffentliche Verschuldung seinen Nutzen und überdehnen die europäischen Integrationsmöglichkeiten. Auf Geberländer wird erheblicher politischer Druck ausgeübt, und Nehmerländer kommen nicht mehr auf die Beine, da sie auf den Weltmärkten durch den entfallenen Wechselkursmechanismus nicht konkurrenzfähig sind. Von ihren einstigen Zielen, den Frieden, die Werte und das Wohlergehen ihrer Völker — vor allem der nachfolgenden Generationen - zu fordern, ist die Union inzwischen weit entfernt. Warum dies so ist, davon handelt dieser Aufsatz. In den folgenden Abschnitten werden zunächst Kosten und Nutzen einer Währungsunion dargelegt. Danach wird der Frage nachgegangen, ob die europäische Währungsunion einen unter diesen Gesichtspunkten günstigen Währungsraum bildet. Auch unter Bezugnahme auf Erfahrungen in der Europäischen Währungsschlange, in dem Europäischen Währungssystem und in der darauffolgenden Europäischen Währungsunion wird der Schluss gezogen, dass die Voraussetzungen fiir eine Währungsintegration in Europa nicht gegeben sind. Die Europäische Währungsunion ist kein optimaler Währungsraum und unter ökonomischen Gesichtspunkten nicht zu rechtfertigen. Die Implikationen sind ernüchternd: Massive Kapitaltransfers, steigende Arbeitslosigkeit und Reallohneinbußen. Nicht der Euro ist das geeignete Integrationsvehikel für Europa, sondern es ist der Binnenmarkt.
189
2
Kleine Theorie einer Währungsunion
2.1 Implikationen Eine Währungsunion ist ein Zusammenschluss souveräner Staaten, die eine gemeinsame Wahrung haben und eine gemeinsame Währungspolitik betreiben. Die Wechselkurse der Teilnehmerstaaten untereinander werden im Zuge der Integration fixiert. Um sich die Implikationen und später die möglichen Dimensionen dieses Vorganges vor Augen zu fuhren, muss geklärt werden, was genau ein Wechselkurs ist und welche volkswirtschaftliche Funktion er hat. Ein Wechselkurs ist zunächst nichts anderes als der Preis einer Währung ausgedrückt in einer anderen. Dadurch ist er ein Indikator für die Wettbewerbsfähigkeit eines Währungsraumes relativ zu einem anderen. Neben seiner Signalfunktion ist der Wechselkurs gleichzeitig aber auch wichtigster Anpassungsparameter eines Wahrungsraumes relativ zu einem anderen, um Ungleichgewichte in den Leistungs- und Kapitalbilanzen wieder auszugleichen. Dies kann durch ein einfaches Beispiel verdeutlicht werden: Ein „starkes" Land steht einem „schwachen" Land gegenüber. Um die Bilanzen dieser beiden Länder zueinander wieder in ein Gleichgewicht zu bringen, müssen die Preise der Produkte des „schwachen" Landes sinken. Dies kann durch Preissenkungen und/oder Abwertung des Wechselkurses geschehen. Dadurch werden die Produkte des „schwachen" Landes im Ausland relativ billiger und die Einfuhren teurer. Im „stärkeren" Land ist dies umgekehrt. Die Einfuhren aus dem Ausland werden relativ billiger und die Ausfuhren teurer. Die Bilanzen können sich so über einen flexiblen Wechselkurs wieder ausgleichen. Im Gleichgewicht entsprechen dann die unterschiedlichen Realeinkommensniveaus zwischen dem starken und schwachen Land den relativen Produktivitätsunterschieden. In einer Währungsunion entfällt dieser nominale Ausgleichsmechanismus über den Wechselkurs als Stoßdämpfer, weshalb andere Anpassungsmechanismen aktiviert werden müssen. Von den Voraussetzungen, die für diese Prozesse erfüllt sein müssen, handelt der folgende Abschnitt.
2.2 Theorie optimaler Währungsräume Ein Zusammenschluss zu einer Währungsunion ist unter ökonomischen Gesichtspunkten eine Kosten/Nutzen-Kalkulation und nur sinnvoll, wenn der Nutzen die Kosten übersteigt. Die Vorteile liegen in der Verminderung von Transaktionskosten wie Umtausch- und Kurssicherungskosten, der Reduktion von Unsicherheiten aufgrund von Währungsschwankungen sowie in der erhöhten Preistransparenz. Die Nachteile liegen in dem Verzicht auf eine autonome Geld- und Wechselkurs-
190 politik, um auf unterschiedliche realwirtschaftliche Produktions- und Beschäftigungsstrukturen in den Mitgliedsländern sowie auf angebots- und nachfrageseitige asymmetrische Schocks angemessen reagieren zu können. 287 Aus der „Theorie optimaler Währungsräume" 2 8 8 lassen sich vier Voraussetzungen ableiten, wann ein Beitritt zu einer Währungsunion bei gegebenem Nutzen unter Kostengesichtspunkten vertretbar ist: 289 • Je höher Faktormobilität (Arbeit und Kapital) sowie Preis- und Lohnflexibilität ausgeprägt sind, desto geringer fallen die realen Kosten von negativen asymmetrischen Schocks aus; • Je diversifizierte und ähnlicher die Produktionsstrukturen der Mitgliedsstaaten sind; • Je offener und verflochtener die Volkswirtschaften sind; • Je homogener die nationalen Präferenzen ausfallen, sich an die Regeln einer Währungsunion zu halten und auf asymmetrische Schocks in einer bestimmten Weise zu reagieren (fiskal-, sozial- und wirtschaftspolitische Harmonisierung). Die Theorie optimaler Währungsräume stellt also Kriterien auf, anhand derer die Vorteilhafitigkeit einer Wahrungsunion beurteilt werden kann. Die Kosten der realen Anpassungsprozesse sind eine Funktion der obengenannten Kriterien. Sind die Voraussetzungen 1) - 4) erfüllt, können reale Anpassungsprozesse theoretisch reibungslos verlaufen. Doch wie sieht dies genau in Europa aus?
287 Yg[ Görgens et al. (2008), S. 4 1 8 f.: „Unerwartete angebots- und nachfrageseitige Entwicklungen können in den davon betroffenen Ländern abweichende Preis-, Produktions- und Beschäftigungswirkungen auslösen („asymmetrische Schocks"). Massive Verteuerungen von Rohstoffen (z. B. Rohöl) werden nicht nur unterschiedliche Produktions- und Beschäftigungseffekte zwischen Export- und Importländern bewirken, sondern auch innerhalb der Ländergruppen. So wird beispielsweise die Rohstoffverteuerung in einem rohstoffarmen Importland andere Wirkungen nach sich ziehen als in einem Land, das bei den relevanten Produkten in gewissem Umfang auf Substitute ausweichen kann. In einem System flexibler Wechselkurse könnte dieser Schock über Änderungen der nominalen Wechselkurse abgefedert werden. [...] Analog könnte etwa ein Konjunktureinbruch [...] je nach Außenhandelsverflechtung unterschiedliche Nachfrageeinbrüche in den exportierenden Ländern hinterlassen, die wiederum durch Änderung der Wechselkurse oder eine gegensteuernde expansive Geldpolitik gedämpft werden könnten." 288 289
Vgl. Mundell (1961); McKinnon (1963). Vgl. Görgens et al. (2008), S. 12 f.
191
3
Erfahrungen mit Europäischen Währungssystemen
3.1 Auseinanderbrechen der Währungsschlange Die Erfahrungen sowohl mit der europäischen Währungsunion (EWU) als auch mit ihren Vorläufern — Europäische Währungsschlange von 1972 bis 1978, Europäisches Währungssystem von 1979 bis 1999 — lassen den Schluss zu, dass die EWU die obengenannten Kriterien nur unzureichend erfüllt und folglich kein optimaler Währungsraum ist. Innerhalb der EWU haben sich über Jahre hinweg enorme Ungleichgewichte in den Leistungs- und Kapitalbilanzen aufgebaut. Ferner sind massive Defizite (Schuldenstand, Neuverschuldung) in den öffentlichen Haushalten der Mitgliedsstaaten bis auf wenige Ausnahmen entstanden - bereits vor dem Ausbrechen der Finanzkrise 2007/2008. 2 9 0 Insgesamt konvergieren die Fundamentaldaten der Mitgliedsstaaten also nicht—wie die „Sachzwangtheorie" 291 nahelegen will - sondern sie divergieren. Die zunehmenden Divergenzen fuhren wiederum zu steigenden Kosten für reale Anpassungsprozesse. Die 17 EWU-Mitgliedsstaaten sind in ihren Strukturen und der nationalen Haushaltspolitik zu heterogen, um reale Anpassungsprozesse kostengünstig, falls überhaupt möglich, durchzufuhren. Zu den Mitgliedsstaaten gehören Belgien, Deutschland, Estland, Irland, Griechenland, Spanien, Frankreich, Italien, Zypern, Luxemburg, Malta, Niederlande, Österreich, Portugal, Slowenien, Slowakei und Finnland. 292 Dass durch die Gründung der EWU Staaten zusammengeführt wurden, die unter Kostenaspekten währungspolitisch nicht zusammenzuführen sind, zeigten bereits die Vorläufer der EWU. Eine von der EWG-Kommission eingesetzte Studiengruppe unter dem Vorsitz von Robert Marjolin fällte bereits 1975 über die europäische Währungsschlange das Urteil: „Die nationalen Wirtschafts- und Währungspolitiken waren in den letzten 25 Jahren nie mehr disharmonisch und mehr divergierend als heute [...] Die Koordinierung der nationalen Politiken ist ein frommer Wunsch, der in der Praxis kaum je erreicht werden kann." 2 9 3 Innerhalb der europäischen Währungsschlange durften die Währungen der Mitgliedsstaaten zueinander nur innerhalb einer Marge von 2,25 % um die Leitkurse schwanken. Bestand die Gefahr, dass sich eine Währung aus der Bandbreite heraus bewegte, intervenierten die Zentralbanken durch Stützungskäufe, die über den Europäischen Fonds für währungspolitische Zusammenarbeit abge-
290 291
292 293
Vgl. Eurostat (2010). Die Sachzwangtheorie, auch „Lokomotivtheorie" genannt, konstatiert die Sogwirkung einer möglichst frühzeitigen gemeinsamen Währung auf die Entwicklung einer gemeinsamen Wirtschafts- und Konjunkturpolitik. Stand: Januar 2011. Marjolin-Bericht (1975) zitiert in Tietmeyer (2005), S. 66 f.
192 wickelt wurden. Die Währungsschlange sollte dem Ziel der Wechselkursstabilität zur Erleichterung der Handelsbeziehungen innerhalb der Mitgliedsstaaten dienen, nachdem das Bretton-Woods-System zusammengebrochen und der „DollarTunnel" entfallen war. Jedoch zeitigte der Verbund bereits nach seiner Gründung enorme Spannungen, die durch den exogenen Angebotsschock der Ölkrise 1973/1974 offen zu Tage traten. Der steigende Olpreis traf die einzelnen Schlangenländer in Abhängigkeit ihres Energieverbrauchs und -angebots fossiler Energieträger unterschiedlich und löste unterschiedliche nationale Politikreaktionen auf die importierten Preissteigerungen aus. Während vor allem die deutsche Bundesbank auf einen inneren und äußeren Werterhalt der D-Mark — oft: entgegen dem erklärten Willen der damaligen Bundesregierung - setzte, begegneten andere Länder den steigenden Arbeitslosenraten mit einer Steigerung der Inflationsrate.294 Der spätere Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer resümierte: „Nicht nur bei den Verhandlungen über die Verteilung der EG-Haushaltslasten kam es zu heftigen Kontroversen. Vor allem die angestrebte Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitiken gelang immer weniger. Insbesondere die wirtschaftspolitischen Antworten der Mitgliedsländer auf die neuen Herausforderungen durch die erste Ölpreisexplosion 1973 [...] divergierten deutlich. Auch der weitere Ausbau der Sozial- und Wohlfahrtssysteme fiel in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich aus. Insgesamt nahm die Divergenz der Politiken zwischen den Ländern zu, allen Konvergenzbemühungen in den Fachgremien zum Trotz. "295 So geschah es, dass einzelne Währungen gegenüber der D-Mark stark abwerteten und zeitweilig aus dem Währungsverbund austreten mussten, um ihre nationale Fiskal- und Beschäftigungspolitik weiterverfolgen zu können. Es kam in der darauffolgenden Zeit zu Austritten, Wiedereintritten und erneuten Austritten. Zwischen 1972 und 1978 gab es insgesamt 17 Auf- und Abwertungen sowie fünf Austritte, die teilweise wieder rückgängig gemacht wurden. Frankreich schied gleich zwei Male 1974 und 1976 aus dem Währungsverbund aus. Die Währungsschlange entwickelte sich im Laufe der Jahre immer mehr zu einer „D-MarkZone, eine Entwicklung, die gerade aus französischer Sicht eigentlich verhindert
294
295
Der Glaube an die Phillips-Kurve hat damals wie heute seinen Reiz. Die durch die amerikanischen Ökonomen Samuelson und Solow in den 1960er Jahren modifizierte Phillips-Kurve stellt einen dauerhaften Trade-Off zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit her, so dass viele Regierungen sich berufen sahen, Arbeitslosigkeit mit einer Ausweitung der Inflation zu begegnen. Selbst der gelernte Volkswirt und spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt ließ sich zu der fragwürdigen Aussage hinreißen: „Lieber fünf Prozent Inflation als fiinf Prozent Arbeitslosigkeit." Tietmeyer (2005), S. 66.
193 werden sollte." 296 Am Ende ihrer Zeit umfasste die D-Mark-Schlange nur noch Westdeutschland, Dänemark und die Beneluxstaaten. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung war 1978 bereits Folgendes zu lesen: „Zu diesem Hin und Her kam es, weil man glaubte, allein durch einen Wechsel des Systems mehr Währungsstabilität in der Welt herbeifuhren zu können. Das aber war und ist ein Trugschluß. Wenn es nicht gelingt, die einzelnen Länder zu einer straffen Stabilitätspolitik zu bewegen, dann wird auch das neue europäische System die Hoffnungen nicht erfüllen. Im Gegenteil, dann besteht die Gefahr, daß der geplante große Stabilisierungsfonds [...] von den weniger stabilitätsbewußten Ländern als eine Art Füllhorn angesehen wird, aus dem ihre wirtschaftspolitischen Versäumnisse großzügig finanziert werden können. In diesem Falle würden riesige Summen notwendig, um die Wechselkurse der undisziplinierten Länder in der vorgesehenen engen Schwankungsbreite zu halten. Es müssen daher strenge Vorkehrungengegen ein laxes Verhalten getroffen werden. Nur wenn alle Länder mit ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik dazu beitragen, eine wirkliche Stabilitätsgemeinschaft zu schaffen, dann wird davon vielleicht auch ein stabilisierender Einfluß[...] ausgehen. Es wäre eine Tragödie, wenn jetzt mit großem Aufwand eine neue Form geschaffen würde, der alte Schlendrian aber weiterginge. '297 Es wurde jedoch eine neue Form geschaffen.
3.2 Politisches Kalkül: Europäisches Währungssystem Die ersten Währungserfahrungen hinterließen tiefe Gräben in der Europäischen Gemeinschaft und lösten eine Europa-Skepsis auf breiter Front aus. Die Regierungschefs der Bundesrepublik und Frankreich fühlten sich berufen, nach dem offensichdichen Scheitern der ersten Währungsintegration auf europäischer Ebene neue Brücken zu bauen. Die offen zu Tage getretenen Probleme durch die Heterogenität der Mitgliedsstaaten und nicht abgestimmten Wirtschaftspolitiken wurden aus politischen Motiven nivelliert. Anstatt die Schwächen des Systems aufgearbeitet und Lehren aus ihnen gezogen zu haben, schmiedeten der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt und der französische Staatspräsident Valéry Giscard d'Estaing bereits im Jahr 1978 Pläne für das Europäische Wahrungssystem (EWS), das durch ein Abkommen der EG-Zentralbanken im Januar 1979 in Kraft trat. Helmut Schmidts Interesse lag — wie sich später herausstellte - klar auf der Hand: „Der Fortschritt der europäischen Integration [...] entspricht dem vitalen, langfristigen strategischen Interesse Deutschlands am Frieden - wenn es denn vermeiden will, dass es zum drit296 297
Tietmeyer (2005), S. 65. FAZ (1978).
194 ten Mal zu einer antideutschen Koalition kommt. Von dieser Einsicht sind alle Kanzler von Adenauer bis Kohl ausgegangen. [...] Gegenüber diesem lebenswichtigen Ziel bleiben alle fachlichen Mäkelein an der Wahrungsunion, bleibt alle gerechtfertigte Kritik am Brüsseler Bürokratismus bestenfalls von zweitrangiger Bedeutung,"298 Die politischen Prioritäten Schmidts waren also gesetzt, obwohl er sich über die möglichen Konsequenzen vollkommen bewusst war und einen Fehlschlag einer gemeinsamen Wirtschafts- und Finanzverfassung in dem EWS-System für wahrscheinlicher hielt als ihren Erfolg - wie er in einer geheimen Denkschrift vermerkte. 299 Laut Schmidt könnte nur unter dem „Angebot sehr hoher deutscher Opfer (volle Bereitstellung und Hingabe unserer Wahrungsreserven, hohe finanzielle Beiträge unter Inkaufnahme von Reallohn-Einbußen in der BRD, Aufgabe des Preisstabilitätszieles) in den anderen EG-Hauptstädten neue Regierungen [...] von der Notwendigkeit zum Sprung ins kalte Wasser überzeugt werden [...] Agrarpolitik und Regionalpolitik dienen dabei in Wahrheit viel weniger der Strukturanpassung [...]; sie sind vielmehr Verkleidung eines horizontalen Finanzausgleichs. '500 Die außenpolitischen Ziele der Bundesrepublik sollten im Angesicht der beiden Weltkriege und des kalten Krieges unter Aufgabe der deutschen Währungsstabilität von den europäischen Partnern — insbesondere von Frankreich - erkauft werden. Denn sonst wäre Deutschland laut Schmidt „finanzwirtschaftlich eine Weltmacht", die „bei allen Nachbarn Angst und Neid" und „eine Koalition fast aller anderen europäischen Staaten gegen Deutschland" auslösen würde. So entstand im Lichte des Äpfel-Birnen-Vergleichs Helmut Schmidts - aller „fachlichen Mäkelein" und „gerechtfertigten Kritik am Brüsseler Bürokratismus" zum Trotz — das europäische Wahrungssystem im Jahr 1979 und löste die Währungsschlange ab. Der Startschuss für den europäischen Währungsautomatismus wurde erteilt entgegen berechtigter geld- und währungspolitischer Bedenken sowie unter Ausschluss des Bürgers als Souverän. Noch bevor der Startschuss gegeben wurde, musste jedoch noch das in den „Concurrent Studies" behandelte Thema etwaiger Finanzhilfen für „wirtschaftlich weniger entwickelte Mitgliedsstaaten" geklärt werden. Insbesondere Italien und Irland drängten auf zusätzliche Transferhilfen, denen von dem Europäischen Rat durch zinsverbilligte Kredite der Europäischen Investitionsbank statt gegeben wurde.301 Nach der Billigung des „Agrarausgleichs" konnte die Politik dem zwei298
299 300 301
Die Zeit (1995), „Deutsches Störfeuer gegen Europa" von Helmut Schmidt. Hervorhebungen durch den Verfasser. Vgl. Abelshauser (2010). Schmidt (1974) zitiert in Abelshauser (2010). Hervorhebungen durch den Verfasser. Vgl. Tietmeyer (2005), S. 76 f.
195 ten Währungsprojekt nun endlich mit drei Monaten Verspätung den Startschuss erteilen. Das EWS verlief ebenfalls nicht ohne Spannungen. Im Laufe der Jahre bis zur Einfuhrung des Euros kam es immer wieder zu Ein- und Austritten.302 Griechenland nahm nie teil.
3.3 Was der Euro in letzter Konsequenz bedeutet Die Lehren aus der Vergangenheit zeigen, dass jede Form einer Währungsgemeinschaft in Europa die strukturellen Unterschiede der Mitgliedsstaaten offen hat zu Tage treten lassen. Die Mitgliedsländer sind sowohl in ihren Beschäftigungs-, Produktions- und Lohnverhältnissen als auch in ihren Wirtschafts- und Fiskalpolitiken zu heterogen, als dass sie einen optimalen Währungsraum bilden. Es war bereits lange vor Einfuhrung des Euros klar, dass mit massiven Kapitaltransfers, Reallohneinbußen und Arbeitslosigkeit zu rechnen ist. Zur Aufrechterhaltung einer Währungsunion souveräner Staaten, die keinen optimalen Währungsraum biUlen wie die EWU, sind Kapitaltransfers der öffentlichen Hand notwendig da die Voraussetzungen für reale Anpassungsprozesse nicht gegeben sind. Ferner müssen steigende Arbeitslosenraten in Kauf genommen werden. Denn ,,[w]ie überall kommt es auch in der Wirtschaftspolitik niemals so, wie man gerne möchte, dass es kommen soll, sondern es kommt immer nur so, wie es kommen muss."303 Um dies zu zeigen, sei noch einmal auf die „Theorie optimaler Währungsräume" verwiesen. Unter Berücksichtigung der EWU-Spezifika von ursprünglich vier Ausgleichsmechanismen ist lediglich noch eine, die vierte Politikoption möglich, um Bilanzungleichgewichten zu begegnen:304 • Die Arbeitsmobilität kann eine Anpassung der Realeinkommen bei fixierten Wechselkursen herbeifuhren. Arbeitskräfte wandern von einem Land mit niedrigem Realeinkommen in das Land mit höheren Realeinkommen, wo die Realeinkommen aufgrund des höheren Arbeitskräfteangebots im Zeitablauf sinken. Die Arbeitsmigration innerhalb der EWU ist jedoch durch Sprachbarrieren, fachliche Qualifikationen, soziale Bindungen im Heimatland und kulturelle Unterschiede stark eingeschränkt. Neben diesen Migrationshemmnissen kommt meist der politische Druck in den einzelnen Ländern hinzu, den Strom von Arbeitsmigranten einzuschränken.
302
303 304
Vgl. Bernholz (1998), S. 801 ff. und 8 3 0 f. Besonders die ersten Jahre des EWS erwiesen sich aufgrund der expansiven Geldpolitik verschiedener Länder und häufigen, teils relativ großer Paritätenänderungen als schwierig. Die höchsten jährlichen Inflationsraten wiesen bis 1 9 8 3 die Mitgliedsstaaten Italien (16,4%), Irland (15,2%), Dänemark ( 1 0 , 7 5 % ) und Frankreich ( 1 1 , 7 1 % ) auf. Die noch nicht beigetretenen Länder Spanien und Portugal 1 6 % bzw. 21 %. Die niedrigsten Inflationsraten hatten Deutschland (4,75%), Österreich ( 5 , 1 5 % ) , die Niederlande (5,48%) und Belgien (6,25%) vorzuweisen. Becker (1999), S. 11 f. Vgl. Becker (1999), S. 7 ff.
196
•
Da der Migrationskanal nicht funktioniert, bleibt noch der Weg über eine administrative Absenkung der Reallöhne (Löhne und Sozialeinkommen). Dieser ist jedoch aufgrund des Drucks von Tarifparteien und Arbeitnehmervertretungen in der europäischen Realpolitik weitgehend versperrt.
• Als dritte Option bliebe die Inkaufnahme von Arbeitslosigkeit zur Absenkung des Lohnniveaus, wenn eine Absenkung der Reallöhne aus politischen Gründen nicht möglich ist. Ein gutes Beispiel für die volkswirtschaftlichen und sozialen Kosten dieser Option bietet die deutsche Wiedervereinigung, im Zuge derer ebenfalls eine „Währungsunion" zwischen BRD und DDR stattgefunden hat. Durch die 1:1-Währungsumstellung der DDR-Mark und die Lohnpolitik kam es in den neuen Bundesländern zu einem viel zu hohen Reallohnniveau („gleicher Lohn für Ost und West"), das bei Weitem nicht der Produktivität der Ost-Industrie entsprach. Da die Anpassungsmechanismen über die Arbeitsmigration und Absenkung der Tariflöhne nicht funktionierten, kam es zu einem signifikanten Anstieg der Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern. Knapp 5 % des deutschen Bruttoinlandproduktes gehen alljährlich als Transferzahlungen in den Osten. Zwischen 1991 und 2009 sind geschätzte 1,3 Billionen Euro Transferleistung geflossen.305 Trotzdem: „Die Gewerkschaften verwiesen [...] auf die tiefe Kluft auf dem Arbeitsmarkt, die auch 20 Jahre nach dem Mauerfall noch bestehe. Nach einer Untersuchung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) suchen in den neuen Bundesländern immer noch fast doppelt so viele Menschen einen Job wie in den alten Ländern [...] Im Osten fanden viele Menschen nur im Niedriglohnsektor Arbeit und seien zusätzlich zu ihrem Lohn auch noch auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen. [...] IG-Metall-Chef Berthold Huber forderte eine Angleichung des Lohnniveaus zwischen Ost und West: ,Die neuen Bundesländer haben keine Zukunft als Region, in der die Menschen weniger Rechte und niedrigste Löhne haben'." 306 Die Wiedervereinigung zeigt „im Miniaturformat", wie hoch die ökonomischen Kosten und einseitige Lastenverteilung in einer Währungsunion von strukturell verschiedenen Regionen sind. Ferner zeigt sich, wie sich in den öffentlichen Debatten ein Schleier des Halbwissens beharrlich über eine sachliche Auseinandersetzung legt. Das ist dahingehend fahrlässig, da eine (faire) Erwartungsstabilisierung der Akteure auf diese Weise verhindert wird. •
305 306
Der Aufbau-Ost ist ein lehrreiches Beispiel, was auf die EWU hinsichtlich Verteilungsfragen nach 2010 noch zukommen wird. Die strukturellen Unterschiede zwischen den europäischen Mitgliedsstaaten sind bei Wei-
Vgl. Süddeutsche Zeitung (2009). Spiegel (2009).
197
tem höher als die Strukturunterschiede innerhalb der nationalen Grenzen. Denn wie bereits antizipiert, bleibt als letzte Möglichkeit nur noch der Kapitaltransfer in die strukturschwachen Regionen. Die Forderung nach Kapitaltransfers wird umso eindringlicher, je mehr die erstgenannten drei Parameter — Migration, Reallohnsenkungen, Inkaufnahme von Arbeitslosigkeit - in ihren Möglichkeiten eingeschränkt sind. In einer Währungsunion entsteht dann ein enormer Druck auf die Geberländer. Theorie und Realpolitik kommen in letzter Konsequenz zu dem gleichen Ergebnis. Angesichts der strukturellen Unterschiede innerhalb der EWU müssen die notwendigen Anpassungen maßgeblich mithilfe öffentlicher Kapitaltransfers wie Strukturfonds, Rettungsschirmen, Aufkauf von Anleihen durch EZB, Emission einer Euro-Anleihe etc. durchgeführt werden. Die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF), wie der europäische Rettungsschirm auch genannt wird, hat ein Volumen von 750 Milliarden Euro (Stand 8.1.2011), die von den Eurostaaten wie Deutschland garantiert werden.307 Eine faktische Abschaffung der Obergrenze von ursprünglich 60 Milliarden Euro wurde so bereits vollzogen. Dass die EFSF nur der Anfang gewesen sein dürfte, legen die beschriebenen Mechanismen sowie die neuerlichen Diskussionen um die Schaffung eines „Europäischen Währungsfonds" nahe.308 Die Ausfuhrungen haben verdeutlicht, dass die Bewirtschaftung einer Währungsunion von Ländern, die keinen optimalen Währungsraum bilden wie die EWU, zwangsläufig auf Kapitaltransfers angewiesen ist. In einem 330 Millionen Menschen umfassenden heterogenen Wirtschaftsraum wie der EWU, die aus 17 souveränen Staaten besteht, ist eine Währungsintegration in Anbetracht der enormen Anpassungskosten und der ohnehin schon hochverschuldeten Eurostaaten nicht vertretbar.
4
Schlussbetrachtung und Ausblick: Rückbesinnung auf das eigentliche Ziel
Das erklärte Ziel der Union gemäß Art. 3 Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV) ist, „den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern. [...] Die Union errichtet einen Binnenmarkt. Sie wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine im hohen Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt. [...] 307 308
Vgl. Spiegel (2011a). Siehe zum „Europäischen Währungsfonds" das Europäische Parlament (2010).
198 [Sie] fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, [...] die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes. Sie fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten." Von diesen Werten hat sich die Europäische Union inzwischen weit entfernt, da die finanziellen Haftungsverhältnisse verdreht wurden. Der dadurch entstandene Geist spaltet die Europäische Union anstatt sie zu einen. Ein Erhalt des Euros ist bereits heute ökonomisch und rechtlich nicht mehr vertretbar. Um sein Überleben zu sichern, wurden EU-Verträge aufgeweicht und gegen deutsches Verfassungsrecht verstoßen. Der 1996/1997 verabschiedete Stabilitäts- und Wachstumspakt, der als fiskalische Regel zur Vermeidung übermäßiger staatlicher Kreditaufnahme gilt, war zu keinem Zeitpunkt glaubwürdig, da er faktisch nicht durchgesetzt werden kann. Die im Jahr 2005 verabschiedeten Änderungen des Paktes haben das Defizitverfahren zusätzlich geschwächt, den Pakt noch intransparenter gemacht sowie den fiskalpolitischen Moral Hazard durch die Einfuhrung „sonstiger Faktoren" als Ausnahmetatbestand für ein geordnetes Defizitverfahren nachträglich legitimiert. So sind beispielsweise die folgenden Ausgaben vom Neuverschuldungskonto eines Staates abzugsfähig: „Die Umsetzung der Lissabon-Strategie, Tragfähigkeit des Schuldenstandes, Qualität der öffentlichen Finanzen, Belastungen aus Finanzbeiträgen zu Gunsten der internationalen Solidarität, Belastungen aus Verwirklichung der Ziele der europäischen Politik, insbesondere dem europäischen Einigungsprozess und Ausgaben für Rentenreformen etc.". 309 Die vergleichsweise medial geräuschlose Aufweichung des einzigen Stabilitätsankers der europäischen Währung gibt Aufschluss über den Paradigmenwechsel in Europa: Ein innereuropäischer Umverteilungsapparat wurde nachvertraglich legitimiert, obwohl gegen geltendes EU-Recht verstoßen wird. Der europäische Rettungsschirm wurde mit der Verordnung (EU) Nr. 407/2010 vom 11. Mai 2010 zur Einfuhrung eines europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus aus der Wiege gehoben. 310 Zunächst ist der Rettungsschirm entgegen aller öffentlichen Beteuerungen weder auf 60 Milliarden Euro noch auf drei Jahre beschränkt. Er umfasst im Januar 2011 bereits 750 Milliarden Euro und soll mit der „Rettung Portugals" weiter aufgestockt werden. 311 Weiterhin verstößt die Verordnung gegen das Bail-Out-Verbot des Art. 125 AEUV und kann weder auf die Ausnahmeklausel gemäß Art. 122 Abs. 2 AEUV noch auf die Flexibilitätsklausel des Art. 352 AEUV gestützt werden. Damit ist die Verordnung rechtswidrig. Zudem verstößt die Verordnung gegen deutsches Verfassungsrecht, „da der Bundestag, wie im Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorgeschrieben, den deutschen Vertreter im Rat nicht ermächtigt hat, der Verordnung zuzustimmen.
309 310 311
Vgl. Bundesbank (2005). Verordnung (2010). Vgl. Spiegel. (2011b).
199 Darin ist ein Verstoß gegen das Recht auf demokratische Teilhabe des Art. 38 GG zu sehen [...]." 312 Damit ist die Krise der Währungsunion der finanziellen Dimension längst entwachsen und rüttelt an den Grundfesten der Demokratien Europas. Indem sich die Politik auf nationaler und europäischer Ebene über die Regeln des Rechts stellt, wird die Legimitationsfrage an die Regierungen als Volksvertretungen eher früher als später gestellt werden müssen. Sollte dies etwa der Preis für das Uberleben des Euros sein? Die darzubietenden ökonomischen und politischen Opfer sind zu hoch. Kurskorrekturen sind nun geboten, um die Europäische Union zu ihren eigentlichen Zielen zurückzuführen. Dafür ist der Euro jedoch nicht geeignet.
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312
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Hilko Holzkämper
Wettbewerb auf dem Ratingmarkt 1
Einleitung
Ratings können definiert werden als die Beurteilung hinsichtlich der Fähigkeit und rechtlichen Verpflichtung eines Schuldners, seinen Zins- und Tilgungsverpflichtungen termingerecht und vollständig nachzukommen. Damit ist ein Rating letzdich nichts anderes als ein Bonitätsurteil. In ein solches Urteil fließen immer objektive Daten (z. B. aus Jahresabschlüssen) und subjektive Bewertungen (z. B. Management) und Gewichtungen ein. Das Ergebnis ist zwangsläufig mit Unsicherheit behaftet. Ratings spielen in der Unternehmensfinanzierung, aber auch bei der kapitalmarktorientierten Finanzierung von Staaten eine zentrale Rolle. So hat Basel II dazu geführt, dass bankinterne Ratings zwingend zentrales Entscheidungskriterium sind, welche Unternehmen Kredite zu welchen Konditionen bekommen. Ein externes Rating durch eine der internationalen Ratingagenturen ist hingegen dann erforderlich, wenn Fremdkapital über den Kapitalmarkt begeben werden soll. 3 1 3 Ist die juristische Grundlage für ein bankinternes Rating eindeutig definiert, so verhält es sich beim externen Rating anders. Dieses ist nicht gesetzlich vorgeschrieben. Der faktische Zwang zum externen Rating ergibt sich vielmehr aus der Situation am Kapitalmarkt. So ist die Platzierung einer Anleihe oder von strukturierten Wertpapieren i. d. R. nur möglich, wenn diese über ein externes Rating verfugen. Es besteht ein Markt mit entsprechendem Angebot und einer Nachfrage nach solchen Beurteilungen. Die Hauptfunktion eines externen Ratings liegt darin, Transparenz und somit Vergleichbarkeit für Investoren hinsichtlich des mit einem Investment verbundenen Risikos zu schaffen. Das Rating ist aus Sicht des Investors objektiver Maßstab fiir das Risiko, zugleich Entscheidungshilfe für das Portfoliomanagement und Grundlage für eine adäquate Preisgestaltung eines Investments. 314 Dabei eröffnet das externe Rating fiir das geratete Unternehmen den Zugang zum Kapitalmarkt und schafft eine gewisse Unabhängigkeit von den Kredit gebenden Banken.
313 314
Vgl. HVB Rating Advisory (2001), S. 7. Vgl. Holzkämper, H. (2007), S. 788.
202 Das von den Ratingagenturen erstellte Bonitätsurteil erhöht folglich die Markttransparenz und entlastet damit faktisch die Investoren von einer aufwändigen eigenen Bewertung verschiedener Anlageklassen. Die Ratingagenturen verfugen über Spezialisierungsvorteile und realisieren Skaleneffekte. Sie reduzieren bestehende Informationsasymmetrien zwischen Emittenten und Anlegern, 315 wirken damit Transaktionskosten mindernd und steigern die Effizienz des Marktes. Letzteres indes nur unter der Voraussetzung, dass die Bonitätsbeurteilungen auf objektiver Basis entstanden und valide sind, mithin die in der Realität zu beobachtenden Ausfälle je nach zugewiesener Bonitätsklasse korrespondieren. Gab es auch schon früher Zweifel an der Objektivität und Validität der Ratings, so sind die Ratingagenturen im Zuge der Finanzkrise erheblich unter Druck geraten. Ihnen wird eine Mitschuld zugeschrieben. Die Agenturen leben von ihrer Reputation, also zum einen der Fähigkeit, Ausfälle rechtzeitig vorhersagen zu können und zum anderen ihrer Unabhängigkeit. Das Ansehen dieser beiden Faktoren hat massiven Schaden genommen. Ohne die Bewertungen der Ratingagenturen hätten die verbrieften Schuldpapiere, synthetische, strukturierte Anleihen, nicht die Verbreitung gefunden, respektive das Volumen erreicht, welches zu Vorkrisenzeiten am Markt gehandelt wurde. Nun steht der grundsätzliche Sinn und Nutzen dieser verbrieften Papiere zwar nicht infrage. Zweifelhaft ist aber der Nutzen der Ratings, wenn diese Anlagen reihenweise ausfallen, obwohl sie zuvor mit besten Ratingnoten versehen waren und sich zudem im Nachhinein herausstellt, dass die Ratingagenturen auf offensichtliche Marktsignale zu spät reagiert haben. 3 1 6 So ist die Kritik an den Ratingagenturen erheblich. Erste Schritte zu einer strafferen Regulierung des Ratingmarktes sind beschlossen, teilweise umgesetzt. Eine Vielzahl von weiteren Maßnahmen wird diskutiert. Im Folgenden werden die Kritikpunkte an den Ratingagenturen und die damit in Zusammenhang stehenden Forderungen systematisch erläutert und unter wettbewerbstheoretischen Gesichtspunkten analysiert und bewertet.
315
316
Zu der Reduzierung von Informationsasymmetrien und der damit in Verbindung stehenden Principal-Agent-Problematik im Ratingmarkt, vgl. Moorkötter, S./Westerfeld, S. (2008). Vgl. BaFin (2007), S. 18 f; EU-Kommission (2009), S. L302/2, Nr. 10.
203
2
Ratingmarkt - der Unvollkommene...
Den Kritikern der Ratingagenturen ist gemein, dass sie den Markt fur externe Ratings in seiner bestehenden Form fur nicht funktionsfähig erachten. Die abgeleiteten Schlussfolgerungen, also die derzeit diskutierten und teilweise bereits umgesetzten Eingriffe in den Ratingmarkt, sind sehr heterogen. So reichen die Forderungen von einer stärkeren Regulierung und Kontrolle der Agenturen bis hin zu einer Verstaatlichung oder dem Aufbau einer staatlichen Ratingagentur als Alternative. Bevor diese und andere Ansätze unter wettbewerbstheoretischen Gesichtpunkten bewertet werden, wird im Folgenden zunächst ein wettbewerbstheoretisches Referenzsystem entwickelt und die aktuelle Wettbewerbssituation am Ratingmarkt dargestellt.
2.1 Wettbewerbstheoretisches Referenzsystem Das Marktsystem kann beschrieben werden als ein evolutorisches Phänomen, durch das eine Koordination der Pläne autonomer Individuen und Organisationen in Form von Transaktionen erfolgt. Das resultierende Handlungsgefuge ist eine spontane Ordnung, die hoch komplex ist und permanenten Veränderungen unterliegt. 317 Sie bildet sich im Gegensatz zu einer geplanten Organisation im Zeitverlauf heraus, dient keinem fixierbaren, übergeordnetem Gesamtziel und ist das „Ergebnis menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs". 3 1 8 Anknüpfend an das faktische Problem der konstitutionellen Unwissenheit und der Vielfältigkeit individueller Werte, Zielvorstellungen und Fähigkeiten und angesichts der Tatsache, dass sich die einzelwirtschaftlichen Pläne aufgrund der Heterogenität der Individuen und der Subjektivität ihrer Umweltwahrnehmungen ex ante nicht entsprechen, kommt es durch Versuch und Irrtum zu einem ständigen Anpassungsprozess. Eine zentrale Rolle kommt dabei dem Preissystem zu, welches Informationen über die Knappheit von Gütern und Dienstleistungen bereitstellt und dadurch zugleich eine Entscheidungsgrundlage für zukünftige Investirions-, Spar- und Konsumpläne darstellt. 319
317 318 319
Vgl. Streit, M. E. (1992), S. 86. Hayek, F. A. von (1969a), S. 97. Vgl. Hayek, F. A. von (1980), S. 38. Von Hayek betrachtet das Marktsystem auch als „ein Reichtum-produzierendes Spiel, weil es jedem Spieler Information verschafft, die ihn befähigt, Bedürfnisse zu befriedigen, von denen er kein direktes Wissen hat, und mit Hilfe von Mitteln, von deren Existenz er ohne es keine Kenntnis hätte, wodurch es die Befriedigung eines größeren Bereichs von Bedürfnissen herbeifuhrt, als es auf andere Weise möglich wäre". Hayek, F. A. von (1981), S. 159.
204 Um Effizienz des Marktsystems im Sinne einer wechselseitigen ökonomischen Vorteilhaftigkeit zu gewährleisten, ist Wettbewerb notwendig. Die Voraussetzung für Wettbewerb ist wiederum Wettbewerbsfreiheit im Sinne der Abwesenheit willkürlichen Zwangs durch andere und im Sinne des Vorhandenseins von Aktionsspielräumen am Markt. Evolutorische Marktprozesse basieren auf Selbstkoordination durch Markthandlungen und Selbstkontrolle durch Wettbewerb, und aufgrund der Offenheit der Prozesse können sie keinen bestimmten Zielen dienen; eine direkte Lenkung mit dem Ziel, konkrete Ergebnisse zu erreichen, ist daher zwangsläufig mit unvorhersehbaren Friktionen verbunden. 3 2 0 Der Wettbewerbsprozess kann nur abstrakt als Prozess von Vorstoß und Nachziehen beschrieben werden. Bezüglich seiner Entwicklung können ex ante nur Muster-Voraussagen getroffen werden. 321 Die Effizienz wettbewerblicher Marktprozesse spiegelt sich in der dieser inhärenten Fähigkeit, menschliches Handeln zum wechselseitigen ökonomischen Vorteil der Individuen zu koordinieren. Die Effizienz kann gesteigert werden, wenn das Wissen der Individuen um die Pläne anderer wächst, so dass sich auftretende Friktionen bei der wechselseitigen Anpassung der Pläne verringern. 322 Da die Ergebnisse des Wettbewerbs ex ante unbekannt sind und es nicht möglich ist, Wettbewerb nach einem Plan zu konstruieren, sind durch die Wirtschaftspolitik keine konkreten Ergebnisse anzustreben, sondern nur die Entwicklungsvoraussetzungen zu verbessern. Ordnungspolitisch bleibt somit zunächst nur die Aufgabe, auf die Kräfte, die im Markt wirken, Einfluss zu nehmen. Dies beinhaltet die Schaffung von Rahmenbedingungen, die einen möglichst freien unverfälschten Aktionsparameterwettbewerb gewährleisten.
2.2 Wettbewerbsbedingungen am Ratingmarkt Externe Ratings haben weltweit an den Kapitalmärkten Relevanz, entsprechend handelt es sich um einen globalen Markt. Die als Finanzintermediäre handelnden internationalen Ratingagenturen sind privatwirtschaftliche, gewinnorientierte Unternehmen. Der Markt wird dominiert von wenigen Anbietern, allen voran Standard & Poor's (S&P) und Moody's. 3 2 3 Mit deudichem Abstand folgt Fitch Ratings vor wiederum deutlich kleineren Anbietern, wie z. B. Dominion Bond Rating Service, die sich häufig auf spezielle Segmente des Kapitalmarktes konzentrieren. 320 321 322
323
Vgl. Hayek, F. A. von (1969b), S. 255. Vgl. Hayek, F. A. von (1972), S. 2 7 ff. Ein absolutes Maß an Effizienz im Sinne einer optimalen Effizienz gibt es indes nicht. Es kann lediglich die alternative Effizienz potentieller Ordnungsformen verglichen werden. Vgl. Hoppmann, E. (1992), S. 1 0 6 ff. Moody's und S&P erreichen einen Marktanteil von ca. 80%.Vgl. Everling (2006), S. 25.
205 Hintergrund der Dominanz von Moody's und S&P ist, dass sie die ersten Ratingagenturen auf dem Markt waren und über entsprechende Reputation, einen sog. track-record verfugen, der über mehrere Jahrzehnte hinweg reicht. Genau dieser track-record ist dabei der entscheidende strategische Wettbewerbsfaktor im Ratingmarkt. Der track-record setzt sich aus verschiedenen Komponenten zusammen. Einerseits ist es die Erfahrung, über Jahrzehnte hinweg Bonitätsanalysen zu erstellen. Es ist aber auch die Vielzahl an Mandaten und vor allem, der über einen sehr langen Zeitraum erbrachte Nachweis, dass die relative Bonitätseinstufung mit den tatsächlichen Ausfallwahrscheinlichkeiten korrespondiert. Der track-record stellt somit zugleich die entscheidende Marktzutrittsbarriere dar. Die Investoren verlangen ein Rating durch eine Agentur, die jahrelange Erfahrung hat, ein umfangreiches Vergleichsspektrum an gerateten Unternehmen bzw. Kapitalmarktprodukten und deren Bonitätsurteile in der Vergangenheit valide waren. Entschließt sich ein Unternehmen z.B. erstmalig Fremdkapital in Form von Wertpapieren auszugeben, fordern die die Emission begleitenden Banken quasi als conditio sine qua non ein Rating von Moody's oder S&E Hier wird schon ein alleiniges Rating durch Fitch kritisch gesehen. Im Falle, eines nahe an der Grenze zwischen Investmentgrade und Non-Investmentgrade zu erwartenden Ratings, fordern die Banken, respektive die Investoren sogar zwei Ratings. Diese Marktzutrittsbarriere ist einerseits verantwortlich für das Scheitern zahlreicher Versuche neue Ratingagenturen zu etablieren. Andererseits hat der abgeschottete Markt in der Vergangenheit zu Umsatzrenditen bei den etablierten Anbietern von über 50 % gefuhrt.324 Dabei erzielen die Agenturen ihre Erlöse überwiegend mit den durch die Emittenten zu zahlenden Ratinggebühren und nur zu einem geringen Teil mit Abonnementverkäufen an Investoren, die regelmäßig ausfuhrliche Analysen erhalten. Die Ratingnoten der Unternehmen und Wertpapiere stehen der interessierten Öffentlichkeit quasi kostenlos zur Verfugung.325 Die marktbeherrschende Stellung der etablierten Agenturen wird durch weitere Faktoren zementiert. Zwar unterlagen Ratingagenturen anders als Banken, Börsen und Versicherungen bislang kaum Aufsichtsregeln. Es war den Agenturen selbst überlassen, ob sie freiwillig die Standards der Internationale Vereinigung der Wertpapieraufseher (IOSCO) einhalten. Gleichwohl bestehen in diversen Ländern Anerkennungspflichten durch die jeweiligen Aufsichtsbehörden — eine zusätzliche Marktzutrittsbarriere. Auch besteht faktisch eine regulatorisch induzierte Nachfrage nach Ratings durch Basel II.326 324 325
326
Vgl. Everling, O. (2008), Internetquelle. Etwa 90 Prozent der Umsätze der großen Ratingagenturen werden durch die Gebührenzahlungen der Emittenten erwirtschaftet. Vgl. Buschmeier, A. (2008), S. 6. Vgl. Buschmeier, A. (2008), S. 10.
206 Die Ratingagenturen selber weisen zwar daraufhin, dass es sich bei Ratings lediglich um Meinungen bzgl. der Bonität handelt, mithin eine rechtliche Bindung und Haftung ausgeschlossen sei. Das faktische Gewicht von Ratings ist aber gänzlich anders einzuschätzen. So gibt es beispielsweise in einer Vielzahl von Finanzinstituten, die am Anlagemarkt tätig sind, die Vorgabe, dass sie lediglich in Investment-Grade-Papiere investieren dürfen, wobei das Urteil hierüber von einer international anerkannten Agentur kommen muss. Und die Relevanz von Ratings nimmt mit der Komplexität des gerateten Objektes zu. So ist es für Investoren noch mit verhältnismäßig überschaubarem Aufwand möglich, eigene Analysen hinsichtlich der Ausfallwahrscheinlichkeit von Unternehmensanleihen anzustellen. Bei strukturierten Finanzprodukten, wie den Collateralised Debt Obligations (CDO's), ist dies ohne entsprechendes Spezialisten-Know-how nicht möglich. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Struktur des Ratingmarktes wesentlich durch einen spezifischen Erfolgsfaktor determiniert wird und zu einem Duopol, zumindest Oligopol, geführt hat, deren Anbieter über eine erhebliche Marktmacht verfugen. Mit dem fiktiven, statischen Idealbild eines vollkommenen Marktes ist die Realität nicht vergleichbar. Ob indes die Kritik an den Ratingagenturen und die daraus abgeleiteten Lösungsvorschläge unter wettbewerbstheoretischen Gesichtspunkten sinnvoll sind, soll im Folgenden analysiert werden.
3
Eingriffe in den Ratingmarkt — eine wettbewerbstheoretische Bewertung
Die von öffentlicher, wie auch von wissenschaftlicher Seite geforderten Eingriffe zur Optimierung des Ratingmarktes lassen sich in zwei Interventionskategorien einteilen. Auf der einen Seite gibt es Forderungen nach weit reichenden direkten Eingriffen in die Marktstruktur. Zu nennen sind hier der Ruf nach Verstaatlichung der Agenturen und das Ansinnen, eine staatlich geförderte europäische Ratingagentur zu schaffen. 327 Andererseits stehen diverse Einzelaspekte des Ratingmarktes im Fokus der Kritik, mit daraus abgeleiteten Forderungen nach Regulierungen bzw. Veränderung der Rahmenbedingungen. Die wesentlichen Punkte sind hierbei die Vermeidung von Interessenkonflikten, eine Ausweitung der Informationspflichten und eine Herstellung der Haftung.
327
Vgl. Bofinger, P. (2009), Internetquelle; Elsas, R. (2010).
207
3.1 Vermeidung von Interessenkonflikten Ahnlich wie die meisten anderen Kritikpunkte an den Ratingagenturen, ist auch der Vorwurf sie unterliegen zahlreichen Interessenkonflikten nicht neu. Dieser Aspekt korrespondierte zumeist mit der Feststellung, dass die Agenturen, anders als Banken, Börsen und Versicherungen vor der Finanzkrise kaum wirksamen Aufsichtsregeln unterlagen. Dabei ergibt sich der Zwang zur Objektivität der Ratingagenturen aus der diametral entgegensetzten Erwartungshaltung von Investor und Emittent an das Rating. 3 2 8 Der offensichtlichste Interessenkonflikt besteht darin, dass die Ratingagenturen von den Unternehmen bezahlt werden, deren Produkte sie beurteilen sollen. In der Regel handeln die Agenturen mit den Emittenten das Honorar aus, und je höher das am Markt gehandelte Anleihevolumen, desto höher die Erlöse. Dies impliziert einen Anreiz, die vom Auftraggeber gewünschten Ratings zu liefern, was mithin eine zügige Emission am Markt erlaubt. Auch, um ggf. den Verlust von Mandaten zu vermeiden, könnten sich die Agenturen zu einem positiven Rating veranlasst sehen. So wird die Unabhängigkeit zunehmend bezweifelt. 329 Ob der dargelegte Interessenkonflikt tatsächlich zu Gefälligkeits-Ratings führt, ist jedoch zumindest sehr zweifelhaft. Eine Institution, deren Geschäftsmodell fast ausschließlich auf dem Erfolgsfaktor Reputation basiert, wird es sich nicht leisten wollen, seinen Ruf und damit die Existenzgrundlage durch Entdeckung der Bestechlichkeit zu gefährden. Dies indes setzt voraus, dass im Falle einer Aufdeckung von Vergehen, auch wirksame Sanktionsmechanismen greifen. Zudem stärkt die oligopolistische Marktstruktur die Stellung der Agenturen gegenüber ihren Kunden. Diese haben faktisch nur eine sehr begrenzte Auswahl, können somit nur sehr begrenzt mit Abwanderung zu einem weniger kritischen Institut drohen. 3 3 0 Durch die Marktstellung mit einer entsprechend großen Anzahl an Kunden, besteht ferner kaum die Gefahr einer Abhängigkeit von einzelnen Auftraggebern. 331 Im Falle eines stark fragmentierten Marktes mit einer Vielzahl 328
329 330
331
So ist der Emittent an einem möglichst guten Rating interessiert, um einen geringen Spread an die Investoren zu zahlen, während die Investoren eine möglichst konservative Beurteilung erwarten, um ihre Rendite zu optimieren. Vgl. Moorkötter, S./Westerfeld, S. (2008), S. 395. Vgl. Reidenbach, D. (2006), S. 335 f.; Elsas, R. (2010), S. 2. Dies war ein mit entscheidender Grund dafür dass die drei führenden Ratingagenturen im Juni 2008 in Abstimmung mit der U.S. Wertpapieraufsichtsbehörde Securities and Exchange Commission (SEC) ein Preis- und Konditionenkartell errichten konnten. Vgl. Everling, O. (2008), Internetquell;. Vgl. Reidenbach, D. (2006), S. 339; Vgl. EU-Kommission (2006), S. C 59/5; Die EUKommission sah zu diesem Zeitpunkt insgesamt keine Gefahr durch wettbewerbsschädliches Verhalten der Ratingagenturen.
208 von kleinen Anbietern, wäre mithin die Gefahr von Gefälligkeitsbeurteilungen oder ein insgesamt sinkendes Anspruchsniveau durch die Agenturen erheblich größer. Problematisch ist es dagegen immer, wenn Beratung und Uberprüfung aus einer Hand kommen. Bei Ratings für Unternehmen ist dies auch nicht üblich. Die Unternehmen, die sich einem Ratingprozess stellen, sichern sich in aller Regel die Unterstützung von professionellen Ratingberatern. 332 Anders war dies bei der Entwicklung und Bewertung von strukturierten Finanzprodukten. Wenn nun die Ratingagenturen die Emittenten hinsichtlich einer Rating-optimierten Gestaltung der zu ratenden Finanzprodukte beraten, ist eine unabhängige Bewertung nicht mehr gegeben. Dies wäre vergleichbar mit dem Sachverhalt, dass der Wirtschaftsprüfer den Jahresabschluss eines Unternehmens aufstellt, um ihn hernach zu prüfen. Zu verhindern ist ein solches Gebaren - wie in den geänderten Regelwerken auf europäischer und amerikanischer Seite geschehen - durch ein striktes Verbot von Beratung und gleichzeitiger Vergabe von Ratings. Ähnlich wirksam lassen sich weitere ggf. auftretende Interessenkonflikte verhindern. Zu denken wäre hier an direkten finanziellen Interessen der Agentur oder des einzelnen Analysten durch Kapitalbeteiligungen am Ratingobjekt oder persönliche Bindungen durch jahrelange Geschäftsbeziehung der Analysten zu den betreffenden Unternehmen oder Interessenkonflikte durch die faktische Einbindung der Agenturen in Konzerne. Allesamt Interessenkonflikte, die sich durch strikte diesbezügliche regulatorische Vorgaben bewältigen lassen. 333 Die International Organization of Securities Commissioners (IOSCO) entwickelte zwar bereits 2004 einen Code of Conduct Standard für Ratingagenturen, deren Einhaltung war indes nicht zwingend. Im Zuge der Finanzkrise wurden die Regeln im Mai 2008 aktualisiert und verschärft. 334 Auf europäischer Ebene ist in Anlehnung hieran im Dezember 2009 die EURatingverordnung in Kraft getreten. Durch diese soll sichergestellt werden, dass „Ratingaktivitäten im Einklang mit den Grundsätzen der Integrität, Transparenz, Rechenschaftspflicht und der guten Unternehmensführung durchgeführt werden, damit die in der Gemeinschaft verwendeten Ratings unabhängig, objektiv und von angemessener Qualität sind". 3 3 5 Dazu sieht die EU-Ratingverordnung vor, dass Ratingagenturen künftig ein Zulassungsverfahren durchlaufen müssen. Sie dürfen keine Beratungsdienste für von ihnen geratete Unternehmen mehr erbringen
332 333 334 335
Ausfuhrlich zum Thema Rating Advisory, vgl. Holzkämper, H. (2007). Vgl. Reidenbach, D. (2006), S. 337. Vgl. I O S C O (2008). EU-Kommission (2009), S. L302/1, Nr. 1.
209 und sind verpflichtet, bestehenden oder potenziellen Interessenkonflikten durch eine Vielzahl von Maßnahmen entgegenzuwirken. Auch die personellen Anforderungen an Mitarbeiter von Ratingagenturen regelt die EU-Ratingverordnung und fordert ein Rotationssystem. Die Methoden, Modelle und grundlegenden Annahmen der Ratings müssen offengelegt werden. Ratings und Entscheidungen zum Abbruch von Ratings müssen veröffentlicht werden. 336 Die Aufsicht über die Ratingagenturen wird ab Juli 2011 von der European Securities Markets Authority (ESMA) wahrgenommen.
3.2 Ausweitung der Informationspflichten Auch Klagen hinsichtlich der mangelnden Transparenz von Ratings, hat es bereits vor der Finanzkrise gegeben. Die Agenturen veröffentlichen allgemeine Regeln bzgl. des Verlaufs eines Ratingverfahrens und Kataloge mit Kriterien, die in die Bewertung einfließen. Letzteres mithin sogar branchenspezifisch, wenn es sich um Ratings von Unternehmen handelt. Auch sind den Ratingberichten diverse Einzelheiten hinsichtlich der Beurteilung zu entnehmen. Indes, im Detail ist das Ratingergebnis, also z. B. die Frage warum das Ergebnis ein A und nicht ein A+ geworden ist, nicht nachvollziehbar. Hintergrund ist einerseits, dass in ein Rating immer neben objektiven Daten (sog. hard facts) auch subjektive Bewertungen bzgl. qualitativer Faktoren (sog. soft facts) und subjektive Gewichtungen der Kriterien einfließen. Ein Rating ist folglich nicht mathematisch genau zu berechnen und stellt in einem evolutorischen, marktwirtschaftlichen System lediglich eine Prognose unter Unsicherheit dar. Die exakte Ergebnisermittlung bleibt sowohl der Öffentlichkeit als auch den Emittenten unklar. Nicht anders verhält es sich im Übrigen beim bankinternen Rating. Dem Kunden werden mittlerweile zwar die Ratingnote mitgeteilt und ihm wird dargelegt - sofern die Bank überhaupt dazu bereit ist — was die wesentlichen Determinanten fiir das Rating waren. Eine exakte Aufschlüsselung von Kennzahlen und der Bewertung qualitativer Faktoren erfolgt nicht, so dass zumindest teilweise eine „black box" bleibt. Dies ist auch verständlich, denn das exakte Ratingverfahren und die Bewertungsgrundsätze sind schlussendlich Geschäftsgeheimnisse. Eine Bank handelt mit Risiken, und die Fähigkeit, potenzielle Ausfälle möglichst genau vorhersagen zu können, als Grundlage für die Vergabe und Konditionierung eines Kredits, ist ein entscheidender Wettbewerbsfaktor. Mehr noch als für Banken gilt dies für Ratingagenturen, denn ihr Nutzen für Investoren ergibt sich ausschließlich aus 336
Vgl. EU-Kommission (2009), S. L302/3, Nr. 22 ff.
210 der Fähigkeit Wertpapiere der Ausfallwahrscheinlichkeit nach zu differenzieren. Mithin ist die Forderung nach einer völligen Offenlegung der Ratingverfahren und -Bewertungen unangemessen. Dies schließt indes nicht aus, dass verbindliche Mindeststandards hinsichtlich Methodik, Transparenz und Überprüfbarkeit definiert, regelmäßig überprüft und bei Verstößen geahndet werden. 337 Dies durchzusetzen ist Aufgabe einer Finanzmarktaufsicht und da es sich um global agierende Ratingagenturen handelt, ist evident, dass dies nicht zielgerecht auf nationalstaatlicher Ebene geschehen kann. Auch hier sind mindestens auf europäischer Ebene einheitliche Regelwerke zu schaffen und deren Überprüfung zu koordinieren. Die Arbeiten der IOSCO haben hier eine weitgehende Harmonisierung zwischen den USA und Europa ermöglicht. Die in den entwickelten Regelwerken enthaltenen Informationspflichten sind vielfaltig. So müssen Ratingagenturen u. a. über ihre historischen Ausfalldaten 338 und über die verwendeten Methoden 339 regelmäßig berichten. Ferner sind sie gezwungen, auf mögliche Interessenkonflikte hinzuweisen. 340 Gleichwohl, Unterschiede werden bleiben. Während das US-amerikanische Recht es z. B. für ausreichend erachtet, dass die historischen Ausfalldaten auf der Webseite des Unternehmens veröffentlicht werden, verlangt der europäische Verordnungsvorschlag, dass diese Informationen der Öffentlichkeit in einem zentralen Datenspeicher zur Verfügung gestellt werden. 341 Letzterer Vorschlag hätte den Vorteil, dass die Daten vereinheitlicht werden könnten und der Investor leichter einen Zugang zu diesen Daten hätte. 342 Ein weiterer, viel diskutierter Aspekt, hinsichtlich der Informationspflichten der Ratingagenturen zielt auf eine differenzierte Verwendung von Ratingsymbolen. So verwenden die Ratingagenturen ihre jeweiligen Ratingskalierungen einheitlich für Unternehmens-, Staatsanleihen und strukturierte Finanzprodukte. Genau dies wird kritisiert und gefordert, dass die Agenturen infolge der Besonderheiten von strukturierten Finanzprodukten, wie CDO's, hierfür auch unterschiedliche Symbole verwenden sollten. 343 Dem Investor müsse deutlich gemacht werden, dass es sich bei dieser Anlageklasse um Papiere mit einem erhöhten Risiko handelt. 337
338 339 340 341 342 343
§ 52 SolvV, durch den die Voraussetzungen für Ratingagenturen zur regulatorischen Anerkennung durch die BaFin festgelegt werden, fordert z.B. allgemein, dass „[...] die Methodik zur Bonitätsbeurteilung Objektivität, Unabhängigkeit, laufende Überprüfung und Transparenz gewährleistet sowie die mit der Methodik erstellten Bonitätsbeurteilungen Zuverlässigkeit und Transparenz gewährleisten". Vgl. IOSCO (2008), Nr. 3.8. Vgl. IOSCO (2008), Nr. 3.5. Vgl. IOSCO (2008), Nr. 2.5, 2 . 1 1 ff. Vgl. EU-Kommission (2009), S. L302/5, Nr. 39. Vgl. Möllers, T.M.J. (2009), S. 233. Vgl. IOSCO (2008), Nr. 3.5 (b); EU-Kommission (2009), S. L302/5, Nr. 40.
211 Sowohl die amerikanische S E C als auch die Europäische Kommission hatten dies in ihren ursprünglichen Änderungsvorschlägen für eine verbesserte Kontrolle der Ratingagenturen vorgesehen, schlussendlich indes nicht umgesetzt. 344 Nun unterscheiden sich in der Tat Unternehmensanleihen deutlich von CDO's. Die Ratingagenturen standen bei der Bewertung dieser vor dem Problem, ihre Modelle nicht auf ausreichend zuverlässige Daten aus der Vergangenheit stützen zu können. Die massenhafte Verbriefung war ein noch junges Phänomen und die Beurteilung eines möglichen Ausfalls von CDO's ist zweifelsohne komplexer als bei Unternehmen. Dies impliziert, dass die Bonitätsbeurteilung mit erheblich mehr Unsicherheiten verbunden ist. In der Ratinglogik der Agenturen hätte dies zu entsprechenden Abschlägen bei der Benotung fuhren müssen. Wenn solche CDO-Papiere nun z. B. ein AAA erhalten haben, was dem Investor signalisiert, die Ausfallwahrscheinlichkeit ist ähnlich derer von Obligationen der BRD, und diese Papiere hatten in erheblichem Maße Ausfälle zu verzeichnen, dann haben die Ratingagenturen bei ihrer Bewertung versagt. Dass dies ggf. auch mit den beschriebenen Interessenkonflikten zusammenhängt ist eine nahe liegende Vermutung. Ob die zwingende Schlussfolgerung hieraus indes eine differenzierte Rating-Skalierung sein muss, ist nicht schlüssig. Wenn ein Investor, und hier geht es nicht um Privatpersonen, die mühsam Erspartes einsetzen, durch differenzierte Ratingsymbole darauf aufmerksam gemacht werden muss, dass er keine Unternehmensanleihe sondern ein strukturiertes Finanzprodukt erwirbt, handelt es sich wohl um ein ernst zu nehmendes unternehmensinternes Problem beim Investor. Die Lösung ist eine andere: Beinhalten auch die höheren (Ausfall ferneren) Tranchen z. B. infolge eines nennenswerten Anteils an zweitklassigen Subprime-Krediten tatsächlich ein hohes Ausfallrisiko, dann muss sich dass in einer schlechteren Ratingnote wider spiegeln. Dies wird zweifellos den Handel mit derartigen Papieren begrenzen. Investoren müssen sich künftig ohnehin die Frage stellen, wie stark sie sich in diesem Segment engagieren wollen. Das undifferenzierte Vertrauen auf die Bewertungen strukturierter Wertpapiere durch die etablierten Agenturen dürfte nachhaltig beschädigt sein. So besteht aktuell eine einmalige Gelegenheit fair weniger exponierte Agenturen, sich in diesem Segment zu profilieren. Vertrauensbild dagegen dürfte ferner eine Neuregelung der Haftung der Agenturen sein.
344
Ausführlich zu dieser Thematik, vgl. Möllers, T. M. J. (2009), S. 231 ff.
212
3.3 Herstellung einer Haftung Die Frage nach der Haftung von Ratingagenturen ist die wohl komplexeste und entsprechend in der Praxis noch ungeklärt. Die Haftungsfrage erhielt bereits vor der Finanzkrise zusätzliche Brisanz, durch die staatliche Anerkennung der Ratingagenturen als Gutachter im Rahmen von Basel II. 345 Dabei ist im Schrifttum unstrittig, dass sich eine Haftung lediglich auf die Ordnungsmäßigkeit der Durchfuhrung eines Ratingverfahrens beziehen kann, nicht auf das eigentliche Ratingergebnis, denn dieses ist schlussendlich nur eine Zukunftsprognose unter Unsicherheit. Die Rating-Agenturen verwenden unisono Klauseln, durch die Haftungsansprüche grundsätzlich ausgeschlossen sind. Sie argumentieren, dass es sich bei den Ratings lediglich um eine Meinung handelt, die dem Recht auf Meinungsfreiheit unterliegt, mithin ließe sich hieraus kein Haftungsanspruch ableiten. Betrachtet man die faktische Relevanz von Ratings, die für diverse Investoren am Kapitalmarkt ein entscheidendes Anlagekriterium sind, dann ist evident, dass die Sichtweise der Agenturen eben ausschließlich einer Haftungsrelevanz Vorschub leisten soll. So ist es gängige Auffassung, dass nach deutschem Recht, das Bestreben der Ratingagenturen, für ihre Bonitätsbeurteilungen gegenüber den Nutzern nicht einstehen zu müssen unbeachtlich ist. Im Grundsatz kann festgestellt werden, dass Ratingagenturen trotz anders lautender Hinweise auf ihren Publikationen stets haften. 3 4 6 Unzulässig sind dabei unzweifelhaft Haftungsfreizeichnungen für fahrlässiges Handeln. So ist nach deutschem Recht eine zivilrechtliche Haftung der Agenturen gegenüber Investoren in jenen Fällen gegeben, bei denen ein eindeutiger Missbrauch vorliegt, mithin das Ratingverfahren nicht objektiv, sachkundig und sorgfältig durchgeführt wurde. 3 4 7 Gleichwohl ist zu konstatieren, dass es bislang weder im europäischen noch im amerikanischen Rechtsraum zu nennenswerten Klageerfolgen von vermeintlich geschädigten Investoren gekommen ist. Für das US-amerikanische Recht galten Ratingurteile vor der Finanzkrise ohnehin als reine Meinungsäußerung, so dass lediglich eine Haftung für den Fall des arglistigen Verhaltens in Betracht kam. Dieses juristische Diktum scheint indes zu fallen. So wurden jüngst Schadensersatzklagen gegen Moody's und S&P zugelassen, mit dem Argument, dass sich die Agenturen eben nicht auf das Recht zur freien Meinungsäußerung berufen könnten, wenn die Ratings, wie bei einem Teil der strukturierten Finanzprodukte geschehen, nur einem begrenzten Kreis von Investoren zur Verfügung stehen. 348
345 346 347 348
Vgl. Reidenbach, D. (2006), S. 3 7 1 f. Vgl. Fiala, J. (2010), Internetquelle. Ausführlich hierzu, vgl. Krämer, L. R. (2004), Lemke, R. (2007). Vgl. o.V. (2010), S. 14.
213 Auch drohen den Ratingagenturen erhöhte Haftungsrisiken durch den in den USA verabschiedeten Frank-Dodd-Act. 349 Hier ist ein verpflichtender Einbezug der bislang haftungsrechtlich unverbindlichen Ratings in die Zulassungsprospekte (forderungsbesicherter) Wertpapiere vorgesehen. Diese unterliegen damit auch der US-amerikanischen Prospekthaftung, was mit erweiterten Haftungsrisiken verbunden ist. 3 5 0 Aus wettbewerbstheoretischer Sicht, ist die Herstellung des Grundsatzes der Einheit von Handlung und Haftung evident. Dass Ratingurteile eine unverbindliche Meinungsäußerung sein sollen, bei der es auch nicht darauf ankommt, ob die Herleitung dieser Äußerung objektiv, sachkundig und sorgfaltig erfolgt ist, ist mit der faktischen Bedeutung der Ratings für die Finanzmärkte unvereinbar und steht im markanten Widerspruch zu den hohen Ratingvergütungen. Auch wenn die Feststellung eines ersatzfähigen Schadens jeweils problematisch ist, 351 die europäischen und amerikanische Bestrebungen hinsichtlich einer größeren Haftungsgefahr für die Agenturen und der damit verbundene Zwang zur ordnungsgemäßen Erstellung von Ratings, sind unter Wettbewerbsgesichtspunkten zu begrüßen. Ob eine Haftungsausweitung zu einer Überschreitung der Tragbarkeit (und Versicherbarkeit) fuhren würde muss angesichts des limitierbaren Tatbestandes der Haftung bezweifelt werden. Wahrscheinlich indes dürfte eine weitere Erhöhung der Vergütung von Ratings sein.
3.4 Staatliche Eingriffe in die Marktstruktur Die Befürworter eines staatlichen Eingriffs in die Struktur des Ratingmarktes, sehen im Wesentlichen die gleichen Probleme, wie auch die Befürworter einer stärkeren Regulierung und Kontrolle der Ratingagenturen: mangelnde Transparenz, Interessenkonflikte und die Haftungsproblematik. Die Schlussfolgerung indes ist weiter gehend: um dem unvollkommenen Ratingmarkt zu begegnen müsse quasi staatlich gefördert eine europäische Ratingagentur als Gegengewicht geschaffen werden. Dem gilt es zunächst zu entgegnen, dass es eine Idealstruktur für den Ratingmarkt nicht gibt. Das Vorbild eines polypolitischen Marktes mit quasi vollkommener Konkurrenz jedenfalls taugt für den Wettbewerb von Finanzintermediären nicht.
349 350
351
Ausführlich zum Frank-Dodd-Act, vgl. Deutsche Bank Research (2010). Die Agenturen haben umgehend reagiert, indem sie ihre Kunden aufforderten, die jeweiligen Bewertungen bei der Emission neuer Finanzprodukte nicht mehr zu verwenden. Daraufhin hat die Börsenaufsicht S E C reagiert und Anleihenverkäufe ohne das entsprechende Rating zugelassen. Ein Verzicht, der zunächst für sechs Monate gültig ist. Vgl. Krämer, L. R. (2004), S. 713.
214 So wurde bereits dargelegt, dass eine gewisse Unabhängigkeit der Agenturen gegenüber den Emittenten gerade aus der oligopolistischen Marktstruktur heraus erwächst und die Gefahr von Gefalligkeits-Ratings senkt. Hinzu kommt das gleiche Problem, wie bei nicht staatlich geförderten Agenturen, dass ein erfolgreiches Agieren am Markt eine historisch gewachsene Reputation und einen entsprechenden Bekanntheitsgrad erfordern. Die Schaffung neuer Expertise für das Rating durch Gründung einer neuen Agentur ist zweifelhaft, da sich die Reputation einer Ratingagentur gerade aus deren langjähriger Erfahrung speist. Die Anerkennung bzw. Wertschätzung von Ratings kann schlussendlich nicht verordnet werden. Entsprechend erfolglos waren diverse auch politisch motivierte Versuche in den vergangenen Jahren, neue Ratingagenturen am Markt zu etablieren. 352 Im Zusammenhang mit dem Wunsch nach einer europäischen Ratingagentur wird bisweilen auch vergessen, das Fitch als Tochterunternehmen der französischen Fimalac-Gruppe, europäisch ist. 3 5 3 Auch stellt sich die Frage, wie es mit der Unabhängigkeit einer staatlich gestützten Ratingagentur bestellt wäre, insbesondere, wenn diese über die Bonität von sie tragenden Staaten zu urteilen hätte. Legt man das die jeweilige Ursache und Wirkung verwechselnde Wehklagen und das bisweilen drohende Gebärden von politischer Seite gegenüber den Ratingagenturen infolge der Herabstufungen von überschuldeten Euro-Ländern, wie Griechenland oder Irland zugrunde, dürfte die Unabhängigkeit und Objektivität einer solchen Europäischen Agentur faktisch ebenso schnell obsolet sein, wie diejenige der Europäischen Zentralbank. Die gleichen Argumente sind dem Ansinnen nach einer Verstaatlichung der Ratingagenturen entgegenzuhalten. Dabei ist auch ein weiteres Argument nicht schlüssig: „Beim Rating hat der Markt keinen Vorteil gegenüber dem Staat. Der Markt ist immer dort besser als der Staat, wo es darum geht, dezentrale Informationen zu verarbeiten. Das kann der Markt besser, weil viele Akteure vor Ort sind. Aber die Ratingagenturen sind zentrale Organisationen - ganz so wie der Staat. Eine staatliche Organisation hat keinen Informationsnachteil gegenüber den Agenturen." 354 So setzt einerseits die Erstellung von Ratings doch gerade die Verarbeitung von dezentralen Informationen voraus und andererseits erschließt sich nicht, weshalb kein Wettbewerb infolge staatlichen Angebots effizienter sein soll als ein oligopolistischer Wettbewerb. Ferner besteht im Falle einer Verstaatlichung das Problem 352
353 354
Beispiele sind u. a. auch die vergeblichen Versuche, Ende der neunziger Jahre in Deutschland Mittelstands-Ratingagenturen zu etablieren. Vgl. hierzu H V B Rating Advisory (2001), S. 15 f. Vgl. Elsas, R. (2010), S. 4. Bofinger, P. (2009), Internetquelle.
215 der objektiven Beurteilung von Staatsanleihen noch drastischer. Hinzu kommt das schier praktische Problem aus europäischer Sicht, dass die führenden Ratingagenturen amerikanische sind, eine Verstaatlichung in den Staaten zu Recht nicht einmal im Entferntesten erwogen wird. Schlussendlich stellt sich auch die Frage nach der Haftung und Kontrolle bei einer staatlich geförderten oder staatlichen Agentur.
4
Schlussbetrachtungen
Im Zuge der Finanzkrise haben die etablierten Ratingagenturen ihrem Ruf, zumindest was die Bewertung von strukturierten Finanzprodukten anbelangt, erheblichen Schaden zugefugt. Es bleibt abzuwarten, inwiefern es anderen Agenturen gelingt, zumindest in diesem Segment Fuß zu fassen. Aus Sicht der Investoren zumindest scheint ein Umdenken unvermeidlich. Das blinde Vertrauen auf externe Ratings der marktbeherrschenden Anbieter dürfte künftig auch nicht ohne weiteres mit einem adäquaten, den gesetzlichen Anforderungen entsprechendem Risikomanagementsystem konform gehen. Die Kontrolle durch den Markt in Form des Reputationswettbewerbs zwischen den Agenturen gegenüber der Anlegerschaft ist zwar ein gutes selbst-regulatorisches Korrektiv. Gleichwohl zeigt eine kritische Analyse der Rahmenbedingungen, dass Defizite hinsichtlich der Kontrolle der Agenturen bestanden und teilweise noch bestehen. Insbesondere sind Haftungsgefahren aus Sicht der Agenturen zu gering, als dass sie zu deren ausreichender Disziplinierung beitragen, mithin Objektivität und eine sachgerechte Erstellung der Ratings erzwingen. Mögliche Erleichterungen der Darlegungs- und Beweislast für die Dritthaftung von Ratingagenturen, erweisen sich dem gegenüber als Ziel führend. Dies in Kombination mit einem Verbot von Beratung und Beurteilung ein und desselben Emittenten, würde die im Zuge der Finanzkrise zu Tage geförderten und verhängnisvollen Unzulänglichkeiten der Bonitätsbeurteilung von strukturierten Finanzprodukten zumindest im Groben beseitigen. Ratings durch staatlich geförderte oder gar staatliche Agenturen sind wettbewerbstheoretisch nicht zu begründen.
216
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217 Hayek, F. A. von (1981): Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit. Eine neue Darstellung der liberalen Prinzipien der Gerechtigkeit und der politischen Ökonomie, Landsberg am Lech. Hoppmann, E. (1992): Freiheit, Marktwirtschaft und ökonomische Effizienz, in: List Forum, Bd. 18, 1992, S. 97-111. Holzkämper, H. (2007): Rating Advisory, in: Büschgen, H. E./Everling, O. (Hrsg.): Handbuch Rating, 2. Auflage, Wiesbaden, S. 785-803. HVB Rating Advisory (2001): Ein Informationsleitfaden zum Thema Rating/ Rating Advisory, München. I O S C O (2008): The Technical Committee of the International Organization of Securities Commissions, Code of Conduct Fundamentals for Credit Rating Agencies, http://www.iosco.org. Krämer, L. R. (2004): Aktuelle Rechstfragen des externen Ratings, in: Achleitner, A.-K./Everling, O. (Hrsg.): Handbuch Ratingspraxis, Wiesbaden, S. 699-720. Lemke, R. (2007): Haftung fur Ratings unabhängiger Agenturen, in: Büschgen, H. E./Everling, O. (Hrsg.): Handbuch Rating, 2. Auflage, Wiesbaden, S. 611-626. Möllers, T. M. J. (2009): Von Standards zum Recht - auf dem Weg zu einer Regulierung der Rating-agenturen in Europa und den USA, in: Zeitschrift fur das juristische Studium, 2. Jg., Ausgabe 3/2009, S. 227—235. Moorkötter, S./Westerfeld, S. (2008): Asset Securitisation: Die Geschäftsmodelle von Ratingagenturen im Spannungsfeld einer Principal-Agent-Betrachtung, in Zeitschrift fur das gesamte Kreditwesen, Ausgabe 9/2008, S. 393-396, Frankfurt/ Main. o.V. (2010): Der Schutzschild der Ratingagenturen bröckelt, in: FAZ, vom 26.11.2010, Frankfurt/Main, S. 14. Reidenbach, D. (2006): Aktienanalysten und Ratingagenturen - Wer überwacht die Uberwacher?, in: Frankfurter wissenschaftliche Studien, Band 79, Frankfurt/ Main. Streit, M. E. (1992): Das Wettbewerbskonzept der Ordnungstheorie, in: Görgens, E./Tuchtfeld, E. (Hrsg.): Die Zukunft der wirtschaftlichen Entwicklung Perspektiven und Probleme, Bern u.a. 1992, S. 83-100. Straub, T. (2010): Warum Rating-Agenturen verramscht werden müssen, in: HWWI Standpunkt, Mai 2010, http://www.hwwi.org.
Bernd Wolfrum
Open Innovation - Erfolgsrezept für Innovationsprozesse? 1
Innovation — Lebenselexier und Risiko
Die Fähigkeit zu Innovationen kann angesichts sich ständig wandelnder Kundenbedürfnisse, des immer schnelleren technischen Fortschritts und sich intensivierenden internationalen und globalen Wettbewerbs als Grundvoraussetzung für das langfristige Uberleben eines Unternehmens angesehen werden. Nur die regelmäßige Einführung innovativer Produkte gewährleistet ausreichende Wachstumspotenziale und Gewinnaussichten. 355 Zudem prägt die Fähigkeit zur Innovation stark das Image von Unternehmen in der Öffentlichkeit. Insbesondere in technisch geprägten Unternehmen spielen das Innovationsmanagement und die damit verbundenen Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten (F&E) seit jeher herausragende Rollen. So gilt Apple im Bereich der digitalen und analogen Medien als Vorreiter, dem es seit Jahren gelingt, sowohl mit technischen Neuerungen als auch innovativen Designkonzepten im Markt zu punkten. Daneben kann Apple mit vorbildlichen Kommunikationskonzepten bei der Einfuhrung neuer Produkte wie zum Beispiel dem iPhone überzeugen. 356 Als das „Erfinder-Unternehmen" schlechthin wird häufig das bereits 1902 gegründete US-amerikanische Unternehmen 3M apostrophiert, dessen Angebotsportfolio von den allseits bekannten Post-it-Hafitnotizen und einfachen Scotch-Klebebändern bis zu High-Tech-Produkten wie Hochleistungsklebstoffen, Brennstoffzellentechnologien, innovativen Materialien im medizinischen Bereich und auch speziellen Softwarelösungen reicht. 3M lebt von einer innovationsfreundlichen Unternehmenskultur und -struktur, bei der weltweit ca. 7.000 der insgesamt 75.000 Mitarbeiter im F&E-Bereich dezentral in insgesamt 35 Forschungszentren tätig sind und auf 45 sogenannten „Technologieplattformen" nach neuen Produktkonzepten forschen. 357 Dass dies recht gut funktioniert, zeigt die Tatsache, dass 3M jährlich im Durchschnitt etwa 500 Patentanmeldungen zu verzeichnen hat und im Jahr 2009 mehr als 30 % des Umsatzes mit Produkten, die weniger als vier Jahre alt sind, erzielen konnte. 358 355 356 357 358
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Kotler u.a. (2011), S. 6 4 1 . Maisch/Meckel (2009), S. 42 ff. Dederichs/Rahn (2010), S. 50/51. Kotler u.a. (2011), S. 646.
219 Dauerhafter Erfolg im Markt setzt aber zum einen voraus, dass es gelingt, in Patenten formuliertes technisches Wissen in marktreifen und vom Kunden akzeptierten Leistungsangeboten umzusetzen. Zum anderen müssen die mit der Entwicklung und Einfuhrung neuer Produkte verbundenen, vielfach steigenden F&E-Budgets angesichts des sich beschleunigenden technischen Fortschritts und der damit einhergehenden Verkürzung der Produktlebenszyklen359 in immer kürzeren Zeiträumen amortisiert werden. 360 Damit steigt einerseits der Innovationsdruck, andererseits erhöhen sich aufgrund der Ungewissheit des Markterfolgs und der immer schwierigeren Differenzierung vom Wettbewerb die mit neuen Leistungsangeboten verbundene Risiken. An dieser Stelle sei aber auch darauf verwiesen, dass nicht nur in den klassischen High-Tech-Märkten (Computer, Automobil, Maschinenbau, Medizintechnik, Chemie, Pharma) dauerhaftes Innovationsstreben überlebensnotwendig ist, sondern auch in Low-Tech-Märkten mit kreativen Ideen die Grundlage für dauerhafte Wettbewerbsvorteile gelegt werden muss. Dies zeigen Unternehmen wie Beiersdorf oder L'Oreal, denen mit innovativen Produktkonzepten die Erschließung der Zielgruppe „Männer" im Kosmetiksektor gelang. Danone konnte als „Functional Food"-Vorreiter mit „probiotischen" Yoghurts Molkereiprodukte aufwerten. Wrigley schaffte es mit Zusatznutzenargumenten wie „Zahnpflege", „Stressabbau" und „frischer Atem" sogar, den Kaugummigenuss „sozial zu rechtfertigen". Dr. Oetker und Coppenrath & Wiese sind mit innovativen Konzepten bei Fertiggerichten und Tiefkühlnahrung erfolgreich, während sich Waschmittelproduzenten (Henkel mit „terra activ" oder Werner & Mertz mit dem Froschreiniger) oder auch Getränkehersteller wie Gerolsteiner oder auch die Bio-Brauerei Lammsbräu sich mit Erfolg an den sich verstärkenden Wertetrends „Gesundheitsorientierung" und „Nachhaltigkeit" ausrichten. Ahnliches gilt für den Bekleidungsbereich (Mammut, Jack Wolfskin) oder auch für Gebrauchsgüterhersteller wie den Produzenten von Duscharmaturen Hans Grohe. All diesen Unternehmen ist gemein, dass sie intensiv mit den Entwicklungen in den von ihnen bearbeiteten Märkten auseinander setzen und die frühzeitige Einbeziehung der (potenziellen) Kunden in ihre F&E-Prozesse anstreben.361 Letztendlich entscheidet nämlich der Kunde über den Erfolg eines neuen Angebots, denn: „Innovation ist, wenn der Markt,Hurra!' schreit." 362 Oder wie es Alexander Zschokke, Group Vice President Marketing der Sonova Gruppe, dem 359 Yg[ Cooper (2002), S. 10 ff., dessen empirische Studien zeigen, dass sich branchenübergreifend in den letzten 50 Jahren die Produktlebenszyklen um etwa 7 5 % verkürzt haben. 3 6 0 Vgl. Enkel/Gassmann (2009), S. 6. 361 Ygi z u d i e s e n Beispielen unter anderem Fösken (2009), Burkhart u.a. (2010) und Ihl/ Piller (2010). 3 6 2 Müller-Kirschbaum u.a. (2009), S. 28.
220 Hersteller der Phonak-Hörgeräte, in einem Interview formuliert: „Ein Produkt entsteht immer dann, wenn ein Marketing Requirement dafür besteht. Ein Produkt entsteht nicht, weil ein Ingenieur es entwickelt." 363
2
Innovationsarten und Probleme des Innovationsmanagements
Zum Begriff „Innovation" findet sich in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur eine Vielzahl von Abgrenzungsversuchen, denen als konstitutives Element die „Neuheit" gemein ist. 3 6 4 Hinsichtlich des Innovationsobjektes kann zwischen Angebots- (neue Produkte und Dienstleistungen), Prozess- und administrativen Innovationen unterschieden werden, wobei im Folgenden primär innovative Leistungsangebote betrachtet werden sollen. Aus der (subjektiven) Perspektive der innovierenden Organisation kann zwischen echten Marktneuheiten und — in der Mehrzahl der Fälle — fiir das spezifische Unternehmen neuen Leistungsangeboten differenziert werden. 365 Bezüglich des Neuigkeitsgrades kann von einem Kontinuum zwischen radikalen Basisinnovationen, mit denen naturgemäß auch höhere Entwicklungs- und Vermarktungsrisiken verbunden sind, auf der einen Seite und inkrementellen oder gar imitierenden Verbesserungsinnovationen auf der anderen Seite ausgegangen werden. 366 Im betrieblichen Innovationsmanagement müssen sich letztendlich die Verbesserung der eigenen technischen Leistungsfähigkeit in Verbindung mit dem unternehmensimmanenten Kreativitätspotenzial („inside-out" oder „technology push") und der Blick auf Entwicklungen im Markt, beim "Wettbewerb und bei sonstigen Rahmenbedingungen sinnvoll ergänzen („outside-in" oder „market pull"). Fehlende oder unzureichende Einbeziehung der Kundenseite in Neuerungsprozesse und das damit oft verbundene „Vorbeientwickeln am Markt" wird als Hauptursache für Fehlschläge von Innovationen betrachtet. Letztendlich entscheidet immer der Kunde über den Markterfolg! 367 Eine konsequente Orientierung des Innovationsmanagements, die eine aktive Einbeziehung einzelner Kunden in die Entwicklungsprozesse umfasst, wird als zentraler Erfolgsfaktor gesehen. 368
363
364
365 366 367 368
Zschokke, A. (2010a), S. 4. y g j z u e j n e r systematischen Diskussion und Abgrenzung des Innovationsbegriffs u.a. Wolfrum (1994), S. 7 - 1 0 , Gaubinger (2009), S. 5 - 8 und kurz, aber prägnant bei Böhler/ Scigliano (2005), S. 79/80. Vgl. Böhler/Sciliagno (2005), S. 79. Vgl. Gaubinger (2009), S. 7/8 und Wolfrum (1994), S. 9/10. Vgl. Backhaus/Voeth (2007), S. 211/212 oder Walther/Dornhöfer (2010), S. 35/36. Vgl. zum Beispiel Müller-Kirschbaum (2009), S. 24 ff. und Zschokke (2010b), S. 56.
221 Die nach wie vor hohen Flopraten gerade in der Konsumgüterindustrie werden daneben zurückgeführt auf: 369 •
unzureichende Budgetierung bzw. ausufernde Entwicklungskosten,
•
zu lange Entwicklungszeiten,
•
unerwartete Veränderungen bei den Rahmenbedingungen und damit verbundene Kostensteigerungen und/oder zeitliche Verzögerungen,
•
falsche Einschätzung der Nachfragesituation.
In den letzten Jahren hat sich daher und nicht zuletzt aufgrund der rasanten Entwicklung moderner Kommunikations- und Prozesstechnologien und der damit einhergehenden Vereinfachung und Beschleunigung unternehmensinterner und -externer Kommunikations- und Logistikprozesse die Diskussion über eine Neustrukturierung und Öffnung des betrieblichen Innovationsmanagements intensiviert. 370
3
Markt- und kundenorientierte Gestaltung von Innovationsprozessen
3.1 Klassisches Phasenschema für Innovationsprozesse In der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur findet sich eine Vielzahl modellhafter Darstellungen des betrieblichen Innovationsprozesses, wobei meist vier Hauptphasen unterschieden werden können, die vielfach auch noch weiter unterteilt werden: 371
369
370
371
•
die Phase der Ideenfindung bzw. -generierung,
•
die Phase der Ideenbewertung und -auswahl,
Vgl. Kotler u. a. (2011), S. 642/643. Nach verschiedenen Studien sind im Konsumgüterbereich 5 Jahre nach ihrer Markteinführung im Durchschnitt noch etwa 4 0 % der Produkte noch im Angebot. Teilweise werden auch Misserfolgsquoten von über 90 % kommuniziert. Vgl. zum Beispiel die umfangreichen Diskussionen in den Themenheften Nr. 2/2009 („Strategisches Innovationsmarketing", S. 6 - 2 9 ) . , Nr. 4/2010 („Spitzenleistungen im des Marketing erzielen", S. 8 - 1 8 ) und Nr. 6/2010 („Auf der Suche nach der richtigen Marketing Logik", S. 50-60) des Marketing Review St. Gallen oder auch im Themenschwerpunkt „Innovationsmanagement: Von der ersten Idee bis zur Marktreife" im Heft Nr. 4/2010, S. 2 4 - 4 9 der Marktforschungszeitschrift planung & analyse. Breite Einblicke in das Themengebiet liefern auch die Beiträge im Sammelwerk von Beiz u. a. (2007). Vgl. zu einer knappen kritischen Diskussion z.B. Wolfrum (1994), S. 1 1 - 1 3 oder Backhaus/Voeth (2007), S. 2 1 2 ff. sowie die dort zitierte Literatur.
222 •
die Phase der Ideenrealisierung und
•
die Phase der Markteinführung.
Diese idealtypischen, in der Regel sequentiellen Phasenmodelle (vgl. Abbildung 20) erlauben zwar eine spezifische theoretische Auseinandersetzung mit den in den einzelnen Stadien zu bewältigenden Aufgaben des Innovationsmanagements,372 bilden aber die tatsächlichen sich überlappenden Prozesse in der Realität nur unzureichend ab. Insbesondere erwecken diese Phasenschemata den Eindruck, dass im Zeitablauf immer unterschiedliche Unternehmensbereiche für die jeweils anstehenden Aufgaben verantwortlich sind und isoliert voneinander bewältigen.
Abbildung 20: Phasen im Innovationsprozess Quelle: Backhaus/Voeth 2007, S. 83.
Bereits in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts konnte in verschiedenen empirischen Untersuchungen plakativ gezeigt werden, dass in den einzelnen Arbeitsschritten des Neuerungsmanagements die technologieorientierte „Inside-out"Perspektive auf der Basis der im Unternehmen vorhandenen technologischen 372
Vgl. etwa die Darstellungen bei Kotler u. a. (2011), S. 645 ff. oder Böhler/Scigliano (2005), S. 82 ff.
223 Kompetenz mit der markt- und wettbewerbsorientierten „Outside-In-Perspektive" im Sinne der Anpassung der Leistungsangebote an die Kundenbedürfnisse bzw. aktuelle Entwicklungen im Konkurrenzumfeld gelingen muss, um erfolgreich im Innovationswettbewerb zu bestehen.373 Während mit an der Absatzseite ausgerichteten „market-pull"-Innovationen in der Regel ein reduziertes Floprisiko verbunden ist, bieten auf oft sogar rechtlich geschütztem technologischem Knowhow basierende „technology-push"-Innovationen ein echtes Differenzierungspotenzial im Wettbewerb und erlauben vielfach die Erschließung neuer Märkte und zumindest temporärer Monopolpositionen. 374 Mit welchen Maßnahmen die von Cooper geforderte „balanced strategy" 375 , die beide Perspektiven vereint, forciert werden kann, soll im folgenden Abschnitt erörtert werden.
3.2 Anforderungen an erfolgreiche Innovationsprozesse Innovierende Unternehmen stehen letztendlich vor der Aufgabe, geeignete kulturelle und strukturelle Rahmenbedingungen für erfolgreiche Innovationsprozesse zu schaffen. Die Basis bilden klare strategische Zielsetzungen, die beispielsweise durch die angestrebte Positionierung als Qualitäts- oder Kostenführer im Markt und die eindeutige Beschreibung der anvisierten Teilmärkte und Zielgruppen konkretisiert werden können. Ähnliche Vorgaben können die Zahl der in einer Planungsperiode zu realisierenden Marktneuheiten und deren Umsatz- und/oder Renditeanteil sein. Auf dieser strategischen Grundlage gilt es dann, während der einzelnen Prozessphasen von Innovationsprojekten betriebliches Technologie- und Marketingmanagement miteinander zu verzahnen (vgl. Abbildung 21). Innovationsprozess
^
•
I A ' l
Technologie-
A
I
ilmWIiBilWftff^^
Malefing^^^^^ management
Abbildung 21: Abstimmung von Technologie- und Marketingmanagement im Innovationsprozess Quelle: Gaubinger 2009, S. 23.
373 Yg[ ¿¡f. umfangreichen Studien von Cooper (1984), S. 32 ff. 3 7 4 Vgl. Böhler/Scigliano (2005), S. 84/85. 3 7 5 Cooper (1984), S. 33.
^ ^
224 Keine Abteilung kann und darf einen Abschnitt für sich beanspruchen, vielmehr muss der gesamte Entwicklungsprozess durch interdiszplinäre Teamkonzepte bereichsübergreifend abgewickelt werden, um beide Perspektiven von Anfang an zu integrieren. Diese Integration und enge Zusammenarbeit im Entwicklungsprozess trägt zur Steigerung der Qualität bei und erhöht damit auch die Erfolgswahrscheinlichkeit im Markt. Daneben sollten mit der Zielsetzung der Verkürzung der Innovationszeiten möglichst viele Aktivitäten parallelisiert werden („Simultaneous Engineering", vgl. Abbildung 22). So kann bereits während der physischen Entwicklung des Produktes parallel von einer Projektgruppe an dem Entwurf eines umfassenden Markteinführungskonzeptes gearbeitet werden. Die Schnittstellen zwischen den beteiligten Unternehmensbereichen müssen effizient gestaltet werden. 376 Empirische Studien haben gezeigt, dass ein systematisches Simultaneous Engineering aufgrund der oft damit einhergehenden Standardisierung von Prozessen auch die Entwicklungskosten dauerhaft reduzieren kann. 377 >
Konzept
Konstruktion^. Versuch
S > planung ^ ; Kalkulation
Markt-
e,nführung
Simultaner Ablauf: Kontinuierliche Abstimmung
Zeitgewinn
Produktionsplanung
mr '
Kalkulation
Markteinführung
Abbildung 22: Sequentielle und simultane Gestaltung von Innovationsprozessen Quelle: Vahs/Burmester 2005, S. 229.
Vgl. Gaubinger (2009), S. 22, Rabl (2009), S. 233 ff. und die ausfuhrliche Diskussion zur Abstimmung von F&E, Marketing und Produktion vor dem Hintergrund der offenkundigen Konfliktpotenziale zwischen diesen Bereichen bei Wolfrum (1994), S. 358-394. 377 Ygi 2 u m Beispiel die Ergebnisse bei Ehrlenspiel (2007), S. 220 ff, der neben Zeitersparnissen von bis 50 % von Kostensenkungen zwischen 20 % und 25 % berichtet. 376
225 Im Business-to-Business-Bereich ist es aufgrund der häufig engen Geschäftsbeziehung und technologischen Verflechtung von Lieferant und Kunde schon länger in vielen Branchen üblich, mit wichtigen Referenzkunden frühzeitig im Innovationsprozess eng zusammenzuarbeiten. Von Hippel prägte in diesem Zusammenhang den Begriff des sog. „lead users", der als Input-Geber für Innovationsideen und als Pilotkunde sowie Erstanwender für viele Investitionsgüterhersteller eine ganz entscheidende Bedeutung im Innovationsgeschehen haben kann. 378 Abbildung 23 zeigt beispielhafte Möglichkeiten der Kundeneinbindung in den Innovationsprozess in BtB-Branchen. Allerdings sollten auch die mit der Integration von Kunden verbundenen Risiken beachtet werden. Dazu zählen opportunistisches und eigennütziges Verhalten, die Gefahr des unkontrollierten Abflusses technischen Know-hows, Konflikte zwischen verschiedenen Kunden und auch das Problem der Selektion des/der falschen „lead user". 379 Ideenwettbewerbe zu Neuprodukten
Kundenanregungen/ Verbesserungsvorschläge
Bewertung von Produktkonzepten (z.B. Conjoint-Analyse)
Rapid-Prototyping mit Kunden
Empirische Erhebung Zur Marktpotenzialabschätzung
NeuproduktVorankündigungen
Test von Prototypen
Initiierung und Begleitung von Communities Begleitende Marktforschung/iterative Anpassung des Produktangebots Abbildung 2 3 : Phasenspezifische Kundeneinbindung in den Innovationsprozess Quelle: Backhaus/Voeth 2 0 0 7 , S. 2 1 4 .
Chesbrough 380 fordert vor dem Hintergrund kürzerer Lebens- und längerer Entwicklungszyklen sowie ausufernder F&E-Kosten die Öffnung der EntwicklungsVgl z u m Beispiel von Hippel (1988), S. 8 3 ff. 379 Y g ] (Jj e Gegenüberstellung von Chancen und Risiken bei Backhaus/Voeth (2007), S. 2 1 5 . 3 8 0 Vgl. Chesbrough (2002). 378
226 prozesse auch in Konsumgüterbranchen, um durch eine „aktive strategische Nutzung der Außenwelt das eigene Innovationspotenzial zu vergrößern" 381 . Dieser „Open Innovation"-Ansatz, der neben den Kundenerwartungen auch die Aktivitäten des Wettbewerbs, die allgemeine externe technologische Entwicklung sowie Anregungen aus weiteren beobachteten Umwelttrends frühzeitig in die eigenen Innovationsaktivitäten einbeziehen soll, kann eine effektivere Ideengenerierung, marktnähere (und damit erfolgreichere) Innovationen und eine schnellere Kommerzialisierung neuer Technologien ermöglichen. 3 8 2 Die Scheuklappen des eigenen Unternehmens sollen abgelegt werden, indem gezielt auch außerhalb nach Innovationsideen gesucht wird und deren Erfolgsaussichten in späteren Entwicklungsphasen im Dialog mit potenziellen Kunden und externen Experten überprüft werden. Bei Procter & Gamble wird im Rahmen der sog. „Connect & Develop Stratgey" für die Einstellung der F&E-Mitarbeiter plakativ formuliert: „Statt das Labor als die Welt zu sehen, wird die Welt zum Labor" 3 8 3 . Gerade moderne Kommunikations- und Informationstechnologien bieten nun vielfältige Ansatzpunkte zur effektiven und effizienten Öffnung des eigenen Innovationsmanagements in verschiedenen Phasen des Prozesses. Diese sollen im folgenden Abschnitt mit einer Reihe praktischer Beispiele vorgestellt und auch kritisch hinterfragt werden, wobei die frühen Phasen von Innovationsprozessen im Mittelpunkt stehen sollen. Abbildung 24 und Abbildung 25 geben bereits einen ersten Überblick über die Systematik der Betrachtung und weisen auf potenzielle methodische Ansätze in frühen und späten Innovationsphasen hin.
Hoch (kreative und offene Aufgabe)
Ideenwetthewerbe
Communities of Creation zur Ideengenierung
Idea Screening durch Kunden
Produktbezogene Diskussionsforen
Freiheitsgrade der innovationsaufgabe Niedrig ivordefinierte und eingeschränkte Aufgabel
Basis der Kollaboration Dyadisch (einzelne Kunden; M M M M M M M M M I
Netzwerk (Kunden Community)
kl
Späte Phasen (Produktentwiddung. Marktiesi)
(ideengenerierung, Konzeptentwicklung)
|
Abbildung 24: Instrumente der Customer-Co-Creation in frühen Innovationsphasen Quelle: Ihl/Piller 2010, S. 9.
381 382 383
Enkel/Gassmann (2009), S. 6. Vgl. Enkel/Gassmann (2009), S. 6. Enkel/Gassmann (2009), S. 8.
227
Hoch (kreative u n d offene Aufgabe) Freiheitsgrade der Innovatkmsaufgabe j
Toolkits for User I n n o v a t i o n
C o m m u n i t i e s of Creation zur Konzeptentwicklung
Toolkits for User Design u n d Customization
Virtueller Konzepttest und Konzepthandel
Niedrig (vordeftnierte und eingeschränkte Aufgabei Basis d e r K o l l a b o r a t i o n Dyadisch (einzelne Kunden)
Netzwerk (Kunden-Community!
Spate Phasen (Produktentwicklung. I—»- Markttest) • •" Innovationsprozess Frühe Phasen (Ideengenetierung, Konzeptentwicklung)
RMHMMMMMM9HHMK
Abbildung 25: Instrumente der Customer-Co-Creation in späten Innovationsphasen Quelle: Ihl/Piller 2010, S. 9.
3.3 Öffnung von Innovationsprozessen mit Best-Practice-Beispielen für die Phase der Generierung von Innovationsideen Für ein kundenorientiertes Innovationsmanagement müssen in einem ersten Schritt die kulturellen und strukturellen Rahmenbedingungen geschaffen werden, um in den einzelnen Projektphasen externes Know-how effizient in das Unternehmen internalisieren zu können. Die nachfolgende Abbildung 26 zeigt beispielhaft die entsprechenden „Schlüsselelemente" des Innovationsmanagements beim Konsumgüterhersteller Henkel, während in der nachfolgenden Abbildung 27 anhand der grundsätzlichen Denkhaltung zu einem Open-Innovation-Prozess beim Henkel-Wettbewerber Procter & Gamble die verschiedenen in den Prozess einzubeziehenden externen Institutionen und Akteure exemplarisch aufgezeigt werden.
228
Innovative Partnerschaften
Innovation Vision und Strategie
Schaffung externer Netzwerke Öffnung nach außen
Ziel: Innovationsführerschaft
Innovationskultur Schaffung interner Netzwerke Offener Informationsaustausch Kein „not-invented-here"
Innovative Prozesse und Tools
Innovation Organisation
Erlernen und Adaptieren von „Best-Practice-Tools" und Methoden
Etablierung von Innovationsteams
Abbildung 26: Schlüsselelemente des Innovationsmanagements bei Henkel Quelle: Müller-Kirschbaum et al 2009, S. 26.
Ideen-Messen, z.B. Tüftler oder Lieferanten
Internet Plattform
Technologie Akquisition Kundenintegration
Lizenzierungen
Outside-In
Inside-Out
Co-Development strategische Lieferanten
Forschungseinrichtungen
\ /
Abbildung 27: Open-Innovation-Grundgedanke bei Procter & Gamble Quelle: Enkel/Gassmann 2009, S. 7.
Internal /external Ventures
229 Grundsätzlich können bei den Ansätzen zur Integration der Kunden in den Ideenfindungsprozess eher herkömmliche Methoden von den online-basierten Tools unterschieden werden. Zu den traditionellen Ansätzen zählen die klassischen Methoden der qualitativen Marktforschung 384 wie Beschwerdemanagement, Expertenbefragungen, Kundenund Konkurrenzbeobachtungen, offene Innovationszirkel und auch moderierte Kreativitätsworkshops, Themenabende oder produktbezogene Rollenspiele mit potenziellen Anwendern. So gewinnt Henkel nach dem Motto „We borrow with pride" durch Hausbesuche, Konsumententagebücher und Echtzeitbeobachtungen mit fest installierten Kameras in den Küchen oder Waschräumen ausgewählter Haushalten Anregungen für Produktverbesserungen, die dann von interdisziplinär besetzten „Inno-PowerTeams" konkretisiert werden sollen. Erweitert wird diese Know-how-Basis durch ein Netzwerk von mehr als 500.000 externen Erfindern und interne Ideenwettbewerbe unter den eigenen Mitarbeitern. 385 Der Nahrungsmittelhersteller Coppenrath & Wiese erarbeitete 2008 in einem moderierten, zweitägigen Kreativitätsworkshop („Super Group™") mit neun nach einem Bewerbungsverfahren ausgewählten Verbrauchern und fünf eigenen Mitarbeitern insgesamt 471 Produktideen unter dem Rahmenthema „Convenience & Nachhaltigkeit". Eine dieser Ideen, die individuell gestalt- und beschriftbare „Motto-Torte" gehört heute als „Für Dich! Kuchen" zu den drei umsatzstärksten Tiefkühlkuchenartikeln in Deutschland. 386 Der mit Innovations- und Designpreisen ausgezeichnete Badarmaturenhersteller Hansgrohe AG arbeitet mit kreativen Designern und Partnern aus Handwerk und Sanitärfachhandel in Innovationskreisen eng zusammen. Ergebnisse dieser Kooperation waren Innovationen mit erheblichem Kundennutzen, wie etwa die AirPower-Technologie, bei der durch Luftbeimischung im Duschkopf voluminösere Wassertropfen erzeugt werden, die durch einen stärkeren Wasserstrahl den Wasserverbrauch senken können. 387 Der Kaugummiproduzent Wrigley gewann die Ideen für den erfolgreichen „Zahnpflegekaugummi" und andere Neuerungen mit Zusatznutzen in vom Marktforschungsinstitut Konzept + Analyse moderierten Rollenspielen („K+A-Psychodra-
Vgl. zum Beispiel Gollnick/Liehr (2010), S. 28/29 oder Steinle (2010), S. 76/77. 385 Ygi z u m Organisation des Innovationsmanagement bei Henkel Müller-Korschbaum u. a. (2009) und Burkhart u.a. (2010). 3 8 6 Vgl. Fösken (2009), S. 2 7 - 2 9 . 3 8 7 Vgl. Gänßlen (2009), S. 5. 384
230 ma"), die bei einer Dauer von ca. acht Stunden doch erhebliche Ansprüche an die Ausdauer und das Durchhaltvermögen der Beteiligten stellen. 388 Vor allem für viele Gebrauchsgüterhersteller (PKW, Elektrogeräte, Medizintechnik) ist die professionelle Beobachtung anderer Branchen, der Natur (z. B. „Lotusblüteneffekt") und der potenziellen Käufer bei der Nutzung der Produkte die zentrale Quelle für aussichtsreiche Neuproduktideen, insbesondere wenn es um die kundennutzenorientierte Verbesserung von Produkten geht. So begleitet das Schweizer Telekommunikationsunternehmen swisscom 60 Haushalte über drei Jahre hinweg in Langzeitbeobachtungen in ihrem persönlichen Lebensumfeld mit Kameras, Hausbesuchen, Tagebüchern und ergänzenden Interviews zu speziellen Produktbereichen. 3 8 9 In einem ersten Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass bereits eine umfassende Palette herkömmlicher qualitativer Marktforschungsinstrumente existiert, um wertvolle Anregungen für Innovationsprozesse von außerhalb des Unternehmens zu gewinnen. Bereits an dieser Stelle sei aber auch die mit einer Öffnung der Innovationsaktivitäten einhergehenden Schwierigkeiten hingewiesen: Die Rekrutierung geeigneter Probanden und Partner steht dabei an erster Stelle, gefolgt von der nicht völlig kontrollierbaren Gefahr des Know-how-Verlustes an Dritte und der oft fehlenden Exklusivität des Inputs. Impulse für echte technologische Neuerungen sind allenfalls von Technologieexperten und F&E-Netzwerken zu erwarten, nicht jedoch vom Kunden selber. Verschärft werden diese Probleme tendenziell durch die Verlagerung der Ideenbeschaffung in die virtuelle Welt des Internets, die aber einerseits eine explosionsartige Ausdehnung der Wissensbasis ermöglicht und andererseits die Kommunikation und Interaktion der Beteiligten beschleunigt. In der „Web 2.0-Welt" des (interaktiven) Internets können ganz allgemeine Ideenplattformen, branchenspezifische Ansätze und von einzelnen Unternehmen für spezifische Fragestellungen ins Leben gerufene Konzepte für Ideenwettbewerbe unterschieden werden. Blogs, Communities, soziale Netzwerke und andere Foren sollen Inhalte, Meinungen und Menschen miteinander vernetzen. Die aktive und bequeme Beteiligung einer fast unbegrenzten Menge potenzieller Konsumenten, die sich für ein bestimmtes Thema, eine spezifische Marke oder Unternehmen interessieren, soll breiten Raum für kreative Lösungsvorschläge schaffen. 390
Vgl. Fösken (2009), S. 27. Vgl. Joob/Schoegel (2008), S. 30, Steinle (2010), S. 76. 390 y g j Hutter u. a. (2010), S. 26 und die dort aufgeführten Beispiele. 388
389
231 Neben der Generierung neuer Produkt- und Serviceideen kann dieses „CrowdSourving" 3 9 1 zur Feststellung aktueller Trends beim Konsumentenverhalten und der Identifikation wertvoller „lead user", die in den weiteren Innovationsprozess eingebunden werden können, beitragen. Quasi als Nebeneffekt wirken Unternehmen mit entsprechenden „Web 2.0-Ansätzen" moderner, offener und kundenorientierter und können ihr Image auf diese Art und Weise positiv beeinflussen. 392 Vielfach nehmen die Ideenwettbewerbe den Charakter von Ausschreibungen an, wenn für die besten Vorschläge Prämien ausgelobt werden. Als Beispiel fiir ganz allgemeine Plattformen kann Crowdspring (www.crowd spring.com) genannt werden, auf der sich fast 60.000 registrierte Kreative an zeitweise ca. 200 parallelen Ideenwettbewerben beteiligen können. Die Plattform InnoCentive (www.best-practice-business.de) weist über 200.000 User auf und genießt vor allem im naturwissenschaftlichen Bereich bei Chemie- und Pharmaunternehmen einen guten Ruf. Fellowforce (www.fellowforce.com) bietet nicht nur Platz fiir Anfragen rund um das Innovationsmanagement, sondern für alle Managementthemen. Eine klassische Branchenplattform fiir Möbeldesign stellt Meublounge (www.meublounge.com) dar. 3 9 3 Zum aktuellen Thema „Selbstbräuner" konnte eine von Beiersdorf in Auftrag gegebene Studie im Jahr 2008 nicht weniger als 437 Foren mit teilweise fünfstelligen User-Zahlen identifizieren, die zum einen regen Informationsaustausch über das bestehende Angebot pflegen und zum anderen Verbesserungsvorschläge für die Anbieter liefern. 394 Diese nicht untemehmensspezifischen Lösungen bieten zwar eine breitere Perspektive über die eigenen Kunden und Markenverwender hinaus und müssen sich auch nicht den Vorwurf eines von vornherein durch die bisherigen Aktivitäten und Angebote des Unternehmens begrenzten und eingeengten Suchfelds gefallen lassen. Auf der anderen Seite liefern sie aber unter Umständen auch zu allgemeine und nichtexklusive Vorschläge und sind zudem nur schwer zu kontrollieren. Viele Unternehmen, vor allem Markenartikelhersteller, initiieren aus diesem Grund eigene Wettbewerbe, Blogs oder Communities, um die eigene „Fangemeinde" zu aktivieren und zur Meinungsäußerung und Mitwirkung zu motivieren. 3 9 5 So konnte Beiersdorf eine Beiersdorf mehr als 11.000 User für eine eigene Plattform zum Thema „Selbstbräuner" gewinnen, Osram erarbeitete unter dem
391
392 393 394 395
Diesen prägnanten Begriff, der bei näherer Betrachtung auch die immanenten Probleme des Konzepts wie Selbstselektion der Beteiligten und mangelnde Kontrolle, deutlich werden lässt, prägten Howe/Strauss (2007). Vgl. Beiz u.a. (2009), S. 10 fF. Vgl. Hutter u.a. (2010), S. 27/28. Vgl. Fösken (2009), S. 26. Vgl. zu den folgenden Beispielen Hutter u.a. (2010), S. 28 ff., Koob/Schoegel (2008), S. 31 ff, Fösken (2009), S. 26/27.
232 Motto „LED - Emotionalize your Light" mit über 5.000 Beteiligten fast 600 brauchbare Ideen für Produktverbesserungen und innovative Anwendungen und Swarowski erhielt mit seiner „Enlightened-jewelry-design-Competition" online von etwa 1750 sehr engagierten Beteiligten mehr als 33.000 Kommentaren und etwa 3.000 Vorschlägen. IBM generierte beim „Innovation Jam", einem OnlineBrainstorming mit angeblich ca. 150.000 Mitwirkenden innerhalb von 72 Stunden nicht weniger als 46.000 Ideen, von denen die zehn erfolgversprechendsten mit einem Weiterentwicklungsbudget von jeweils 100.000 $ prämiert wurden. Procter & Gamble vernetzt im Rahmen seiner „Connect & Develop Strategy" die eigenen F&e-Mitarbeiter mit mittlerweile 1,5 Mio. externen Experten. Als weitere Erfolgsbeispiele werden unter anderem die Plattformen „Lego Factory" (Lego), „Tchibo Ideas" (Tchibo), „Betavine" (Vodafone), „Idea Storm" (Dell) oder „My Starbucks Idea" (Starbucks) genannt. Die genannten Beispiele zeigen zwar die Vielfalt der unternehmerischen Aktivitäten im Kontext „Open Innovation" auf, doch soll abschließend neben den bereits geäußerten Problemfeldern insbesondere das Problem der mangelnden Kontrolle und Exklusivität der Kommunikationsflüsse im Internet hervorgehoben werden. Jede kritische Äußerung eines Beteiligten zu einem Markenprodukt oder einem Unternehmen im Allgemeinen kann, auch wenn sie im Zusammenhang mit einem Verbesserungsvorschlag oder einer Produktidee eigentlich positiv gedacht ist, zu einem enormen Problem werden. In Windeseile können die interessierten User - und die eigenen Konkurrenten - Einblicke in Schwachstellen bekommen, wenn die Community frei zugänglich ist. Zudem stehen die Anregungen oft allen Beteiligten für weiterfuhrende Kommentare zur Verfügung. Es sollte über „geschlossene" Systeme nachgedacht werden, die bei der Registrierung auch eine gewisse Kontrolle der Interessierten erlauben, etwa um Mitarbeiter von Konkurrenzunternehmen von vornherein auszuschließen. Trotzdem „...sollte den Unternehmen auch stets bewusst sein, dass die aktive Einbeziehung des Konsumenten auch stets eine Abgabe von Kontrolle und damit eventuell auch unerwünschte Ergebnisse mit sich bringt." 396 Für die späteren Phasen des Innovationsprozesses gibt es eine Reihe klassischer Bewertungs- und Testinstrumente, die ebenfalls aufgrund innovativer Mess- und Kommunikationstechnologien in den letzten Jahren weiter entwickelt wurden. Diese sollen hier nur kurz erwähnt werden. Die Vielfalt der von Marktforschungsund Beratungsinstituten angebotenen Tools hat deutlich zugenommen und immer 396
Hutter u.a. (2009); S. 33. Als Negativbeispiel wird ein von Kraft Foods Australia initiierter Crowdsourcing-Wettbewerb für einen neuen Markennamen eines Brotaufstrichs angeführt, der zum Siegernamen „iSnack 2.0" führte, mit dem sich die Mehrheit der Beteiligten offensichtlich lustig über den Wettbewerb machte und der bei den markentreuen Kunden des Unternehmens zu erheblichen Protesten führte.
233 mehr Unternehmen versuchen, sich mit eigenen Ansätzen von externen Dienstleistern unabhängig zu machen. Online-Access-Panels, aus deren Adressen-Pools bei Bedarf zielgruppenspezifische Stichproben (Haushalte oder Einzelpersonen) für Produkttests gezogen werden können, werden sowohl von den etablierten großen Marktforschungsgesellschaften als auch von spezialisierten Instituten angeboten. 3 9 7 Eine ganze Reihe von Unternehmen versucht eigene Tester-Pools aufzubauen, entweder indem eigene Mitarbeiter einbezogen werden oder interessierte Verwender gezielt direkt oder über Medien angesprochen werden. 398 Gerade für „Usability-Studien" bei technischen Gebrauchsgütern, aber auch die funktionelle Verpackungsgestaltung bei Verbrauchsgütern bietet sich die frühzeitige Einbeziehung der potenziellen Kunden im Laufe des Innovationsprozesses an. 3 9 9 Neben Befragungen nach der Verwendung kommt dabei der Beobachtung beim Umgang mit den Untersuchungsobjekten immer größere Bedeutung zu. Durch Beobachtungen können ergänzend auch unbewusste Verhaltensmuster erfasst werden, die bei Befragungen von den Probanden naturgemäß nicht benannt werden können. Beispielsweise unterhält Philips am Hauptsitz im holländischen Eindhoven ein sog. Home-Lab, in dem Probanden als dessen „Bewohner" über einen Zeitraum bis zu zwei Monaten beim täglichen Umgang mit neuen Technologien und Prototypen neuer Philips-Produkte mit Hilfe von Kameras und Sensoren zu beobachten. 400
4
Zusammenfassende kritische Würdigung und Ausblick
Gerade moderne Kommunikationstechnologien bieten den Unternehmen eine ganze Palette von Möglichkeiten, Kunden frühzeitig in die eigenen Innovationsprozesse einzubinden, ohne diese allzu sehr zu belasten. Online-Communities erlauben dem User bequeme Rückkoppelungen ohne zeitlichen Druck. Damit eröffnen sich den Unternehmen erhebliche Potenziale und theoretisch kann, wie
Zu einer Übersicht über das Angebot an Online-Panels in Deutschland vgl. o. V. (2010), S. 56 ff. Das Test-Panel-Institut (tpi) in Wetzlar hat nach eigenen Angaben mittlerweile mehr als 170.000 Haushalte in seinem Adresse-Pool, aus dem bei Bedarf aussagekräftige und repräsentative Stichproben gezogen werden können. 3 9 8 Beispielsweise versuchte der Kondomhersteller Durex im Jahr 2008, an den deutschen Hochschulen durch Plakataktionen gezielt junge Tester von Produktinnovationen zu rekrutieren. 399 Ygj a u c j j Jas Special zum Thema „Usability Forschung" in der Fachzeitschrift „planung & analyse" (Heft Nr. 6/2010, S. 58-65). 397
400
Vgl- Koob/Schoegel (2008), S. 29/30 und unter www.research.philips.com/technologies/ misc/homelab.
234 bei Procter & Gamble formuliert, die „Welt zum Labor werden". 401 Studien aus den frühen 2000er Jahren zu Folge banden in Europa bereits damals mehr als 35 % der Unternehmen externe Partner in ihre F&E-Projekte ein, Tendenz klar steigend. 402 Doch bei aller Euphorie um die neuen, vor einigen Jahren noch ungeahnten Möglichkeiten sollten die Grenzen und Risiken offener und damit tendenziell auch „öffentlicher" Innovationsprozesse nicht unterschätzt werden. Gefahren resultieren einerseits daraus, dass nicht hinreichend kontrolliert werden, wer sich beteiligt und Input liefert sowie andererseits aus der Tatsache, dass Online-Inhalte nicht vollständig vor unberechtigten Zugriffen geschützt werden können. Trotz dieser Einschränkungen sollten Unternehmen dennoch die sich bietenden Potenziale nutzen, um durch die frühzeitige Integration von Kundenerwartungen und -meinungen im Sinne des Grundgedankens der „open innovation" die Chancen zur Entwicklung kundengerechter Produkt zu erhöhen und das Floprisiko bei Neueinfuhrungen zu reduzieren.
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Gesundheitsökonomie
Eugen Münch
Gesundheitswirtschaft als Wachstumsmotor? 1
Vorwort
Täglich wird individuell konsumiert, um die persönlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Die Bedürfnisse ändern sich je nach Lebensphase. Mit zunehmendem Alter wird aus modischer Verkleidung wärmende und schützende Kleidung, aus dem Interesse, mit dem Mountainbike seine Kraft zu zeigen, wird mit dem künstlichen Knie zu wandern. Medikamente heben die Alltagstauglichkeit und stärken das Wohlbefinden, die Disco bleibt leer. Bei einer alternden Bevölkerung, wie der unsrigen, verdrängt der sogenannte Alterskonsum zunehmend den Konsum der fehlenden nachwachsenden jüngeren Generation. Ein maßgeblicher Teil des Alterskonsums betrifft - nach heutiger Definition und Einordnung - Leistungen des Gesundheitswesens. Neben und mit der demografischen Entwicklung ist der medizinische Fortschritt der wesendiche Veränderungs- und Wachstumstreiber. Beide Faktoren, die Uberalterung der Gesellschaft und der medizinische Fortschritt, gelten im Gesundheitswesen - anders als dies in der Wirtschaft der Fall wäre — als .Kostentreiber'. Sie gelten als Sozialaufwendungen und werden der Staatswirtschaft (Daseinsvorsorge) zugeordnet. Nicht zuletzt erzeugt die Zuordnung zum Solidarbereich die bekannten Konflikte zwischen Wirtschaft und Sozialinteressen. Das System der von der Leistung fast vollständig unabhängigen Einhebung der Finanzierung und damit Umverteilung und die wachsende Nachfrage nach solchen Gütern und Leistungen hauptsächlich zu Gunsten der älteren Bevölkerung belasten die Krankenkassen und erhöhen die Beiträge der arbeitenden Bevölkerung zu Lasten der Gesamtwirtschaft. Hier muss ein Umdenken stattfinden, um die Produktions- und Umsatzmöglichkeiten - insbesondere für die Gesundheitsgüter und Leistungen mit großem Konsumanteil — als Wachstumsmotor für die Gesamtwirtschaft betrachten und erschließen zu können. Um den Transfer des Gesundheitsbereichs aus der Plan- und Staatswirtschaft zu vollziehen und dabei gleichzeitig die Verfügbarkeit für jedermann in Verantwortung zu wahren, sind neue Finanzierungsformen erforderlich.
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Wachstumsfaktor Alterskonsum
Sind Gesundheitsdienstleistungen — insbesondere soweit sie sich an die ältere Generation richten - Konsumleistungen? Diese Frage pauschal mit einem ,JA' zu beantworten, wäre mit Sicherheit falsch. Sofern es jedoch Leistungen handelt, die mehr dem persönlichen Wohlbefinden, der Bequemlichkeit und Mobilität dienen
240 und dabei gesundheitliche und altersbedingte Einschränkungen beseitigt, gelindert oder gebessert werden, ist die Nähe zum Konsumgut kaum zu leugnen. Die Patienten - oder in diesem Fall besser Systemnutzer — entwickeln Bedürfnisse, weil es Lösungen dafür gibt und der Bedürfnis- oder Leidensdruck ist sowohl von messbaren realen Einschränkungen, die nicht alterstypisch sind wie auch solchen, die von unseren Vorvätern noch als schicksalhaft hingenommen wurden und stark mit geminderter Erleidensbereitschaft zu tun haben, abhängig. Der 15-Jährige, der von den Eltern kein Handy bekommt, leidet möglicherweise, weil er den Umstand als diskriminierend empfindet. Ähnlich empfindet der 65-Jährige, der seine Sehkraft mittels einer Operation verbessern möchte. Beiden wird aus unterschiedlichen Gründen nicht abgeholfen. Der 15-Jährige hat allerdings unter Umständen die Möglichkeit, sich mittels Ferienjob die Mittel zu besorgen und den empfundenen Mangel zu beheben. Der 65-Jährige bekommt keinen Termin, weil das Budget des Arztes schon ausgeschöpft und der Einsatz privater Mittel verboten ist.
2.1 Bestimmt das Angebot die Nachfrage bei Gesundheitsdienstleistungen? Es heißt, dass die Gesundheitsdienstleistungen angebotsinduziert wären. Dabei wird impliziert, dass man im Gesundheitswesen nur einen Erfolg versprechen muss, um eine Leistung, die von der Krankenkasse bezahlt wird, beliebig zu vermehren. Dabei wird unterstellt, dass der Empfanger der Leistung (d.h. der Patient) nicht in der Lage sein soll, den Nutzen für sich zu ermessen. Die Frage, die sich aufdrängt (oder die gestellt werden müsste), lautet: Wird der Erfolg des 15-Jährigen, wenn er sein Handy hat und sich deshalb beim Zeitungsaustragen in den gefahrlichen Frühverkehr begeben hat, in anderer Weise (ab-)gesichert? Mehr als eine Funktionsgarantie (die der Markt bei der Augenoperation auch erzwingen könnte) wird es nicht geben. Ob das danach zu Sehende für den Älteren oder beim Jungen das Gehörte erfüllend ist, hängt nicht vom Produkt oder der Dienstleistung, sondern von der Realität der Erwartung ab. Sobald der Gegenstand der Leistung auch nur annähernd der Gesundheit zugeordnet werden kann, fristen riesige Mengen von Verwaltern und Experten ihr Dasein mit der Gängelung der Nutzer, anstatt sie zu qualifizierten Entscheidern zu machen. Tatsächlich unterscheiden sich die beiden Akteure, der Alte und der Junge, in einer Bedingung: Der Junge kann die Verhältnisse durch eigene Opfer oder Prioritäten in der Schaffung oder dem Einsatz seiner Kaufkraft disponieren. Er unterliegt der restriktiven Wirkung des Preises und würde beim Versuch statt des Handys ein Satellitentelefon zu bekommen im Rahmen seiner Kaufkraft ausgegrenzt. Für den Alten stellt sich diese Frage nicht, da sich die infrastrukturelle Bereitstellung allenfalls über den Stimmzettel einer Mehrheit bei Wahlen, nicht aber über individuelles Nachfrageverhalten anstoßen lässt.
241 Man stelle sich vor, dass wir den Kauf von Automobilen nach demselben System abwickeln würden. Dann würde niemand direkt für ein Auto zahlen, sondern die Kosten für alle Autos, die gebaut werden, würden allen in einem von der Obrigkeit festgesetzten Prozentsatz vom Lohn abgezogen und das Auto seiner Wahl bekommt derjenige, der erfolgreich bei einem Autohändler sein Bedürfnis nachweist. Der Basisantrag wäre der Nachweis, dass man woanders hin möchte als man sich üblicherweise befindet. Der anerkannte Nachweis führt aber nur zum Recht auf Erhalt eines Kleinwagens. Die Luxusstufe wäre der Bedarf für ein Gefährt, das einen aus der Masse der Automobilisten heraushebt. Der Antragsteller müsste dafür dann ein gewaltiges Defizit an Selbstbewusstsein nachweisen, welches es zum Wohle aller auszugleichen gälte. Das System könnte zunächst einmal funktionieren, bis die Restriktionen des Systems nicht mehr halten und die Finanzierung alle gemeinsam erdrückt. Der Ruf nach Gerechtigkeit, die jeder in seinem Sinne versteht, würde immer neue Bürokratien erzeugen und am Ende gibt es dann ein Einheitsauto auf Bezugsschein mit langen Wartezeiten, die auf dem grauen und schwarzen Markt für einzelne modifiziert werden können. Vielleicht hieße das Auto dann wieder Trabbi. Exportfähig wäre das wohl nicht. Diese scheinbare absurde Szenerie habe ich beschrieben, weil ich den Widerstand - den wir alle haben - bei Gesundheitsdienstleistungen an Konsum herkömmlicher Art zu denken, ausbremsen möchte.
2.2 Konsumgüter als Statussymbol... und Mobilitätsfaktor Was ist ein Auto, ein Moped für den Jugendlichen oder eine Prada-Jacke für Modebewusste? Jedes dieser Güter hat immer eine reale Funktion, es bringt den Nutzer an einen anderen Ort (den er unbedingt aufsuchen will — oder es wärmt ihn). Diese Funktionen aber wären auch ganz anders und mit viel weniger persönlichen Opfern erreichbar. Mit diesen Gütern, insbesondere wenn es sich um so genannte Markenartikel handelt, wird damit meist etwas anderes gekauft, nämlich etwas Vergleichbares wie die zum Rad aufgestellten Federn des Pfaus oder den gesträubten Rücken des Hundes, der in bedrohlichen Situationen größer wirken will als er ist. Oder es soll das .Kainsmal' bedeckt werden, um gleich zu sein mit den Lebensgenossen, um dazu zu gehören. Damit werden Defizite ausgeglichen und das Normale in das Besondere gehoben, um in der individuellen Lebenssituation eine günstigere Position einzunehmen. Die Nutzung bestimmter Güter bzw. „Marken" erzielt diese Wirkung. Wenn beispielsweise der Besitzer eines 600er Mercedes vorfährt, und wenn seine Haltung dazu stimmt, gehen viele davon aus, dass er zu den „Erfolgreichen" zählt. Dieses Statussymbol erspart ihm die Energie, es jedem beweisen zu müssen.
242 Möglicherweise basieren mehr als 50 Prozent unserer Wirtschaft auf dieser Form der Güter- und Dienstleistungsnutzung. Die Güter und Dienste, die wir so nutzen, für die wir arbeiten und für die wir manchmal sehr unangenehme Dinge tun und jahraus/jahrein die gleiche Arbeit leisten, ändern sich mit dem Alter, in dem wir gerade sind. Man stelle sich eine Gesellschaft mit einem Durchschnittsalter von 30 Jahren vor, wobei die Gruppe der 16- bis 24-Jährigen 20% der Bevölkerung stellt. Die Wirtschaft dieser Gesellschaft würde unter Wettbewerbsbedingungen vollständig auf die Bedürfnisse und Wünsche der jungen Leute ausgerichtet sein. Um einen „Rollator" für einen gehbehinderten älteren Menschen zu erwerben, würde man extreme Suchaktionen im Internet unternehmen müssen. Der (Motor-)Roller dagegen wäre in unzähligen Facetten überall zu finden. Nun stellen wir dagegen eine Gesellschaft, in der das Durchschnittsalter bei 60 Jahren liegt, wobei die Gruppe der 65- bis 73-Jährigen 2 0 % der Gesamtgesellschaft ausmachen. (Anmerkung: Aktuell erbringt die Anfrage bei Google zum Begriff „Rollator" rd. 725-000 und zum „Roller" 143 Mio. Ergebnisse) Die alte Gesellschaft unterscheidet sich nicht, weil sie im Schnitt mehr Lebensjahre aufweist und weil sie andere Grundbedürfnisse hätte. Nein, die Grundbedürfnisse sind ähnlich. Wir kennen das: •
Jeder von den ,Alten" möchte sich bewegen wie die Jungen oder mindestens wie die gesunden und agilen Alten.
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Die Daseinsrituale der ,Alten" beim Kaffeekränzchen sind im Prinzip dieselben wie bei der Selbstdarstellung der „Jungen" in der Disco.
Jeder möchte - und hat eine Vorstellung davon -eine ganz bestimmte Rolle spielen. Der alte Gehbehinderte möchte wieder laufen wie früher, weil er dann mit seinen Altersgenossen mitkommt und dabei sein kann. Weil das Alter körperliche und vielleicht geistige Einschränkungen mit sich bringt, sollen diese ausgeglichen und kompensiert werden.
2.3 Restriktion durch Altersdiabetes vs. Mobilitätsfreiheit eines 16-Jährigen Welche Beeinträchtigungen können durch Altersdiabetes auch ausgelöst werden? Es ist eine Krankheit, die blind machen kann. Blinde sind aber ausgeschlossen, und es kostet sie unglaubliche Anstrengung, weiter „dabei zu sein". Ständig das Insulin zu kontrollieren kann auch bedeuten, dass nicht an jedem (Alters-)Klassentreffen mehr teilgenommen werden kann. Die Betroffenen werden isoliert, ihre Mobilität sinkt.
243 Man stelle sich einen Altersdiabetiker vor. Die Erfindung einer automatischen Insulinpumpe, die alle Schwankungen ausgleicht, würde sein Gebrechen zwar nicht beheben, aber erleichtern. Es verleiht dem Nutzer aber nahezu auch die alte Mobilität. Den Opel Corsa, den er bis zum Diabetesschock gefahren hat, braucht er nicht mehr, es sei denn die neue Pumpe bringt ihn wieder ans Lenkrad. Dann bewältigt er vielleicht auch wieder den Weg zu einer altersgerechten Arbeit und vieles mehr. Was unterscheidet das Bedürfnis, die Restriktion Diabetes auszugleichen von der Mobilitätsbedingung eines 16-Jährigen, der ein Moped braucht, um auf dem Dorf abends seine Freunde zu treffen oder um mit dem Hilfsmittel jemanden kennen zu lernen, Kinder zu bekommen und sein Leben mittels Mopedmobilität zu gestalten? Der Unterschied liegt darin, dass der „Junge" für das Moped arbeiten oder seine Ersparnisse einsetzen darf und keine Bundesbehörde ihn an der Erfüllung seines Traums hindert - abgesehen von der Führerscheinpflicht und dem Verbot, alkoholisiert zu fahren, und der Pflicht, die Verkehrsregeln zu beachten. Ganz anders der „Alte". Bei ihm hat es vielleicht eine Entscheidung der Krankenkasse oder gar des so genannten gemeinsamen Bundesausschusses gegeben, dass ab dem 70ten Lebensjahr keine Insulinpumpen mehr verordnet (eingesetzt) werden dürfen. Den Opel Corsa könnte der 70-Jährige kaufen, die Insulinpumpe gibt es aber nicht, weil die 9.000 Euro, die das Auto gekostet hätte, nicht reichen, weil durch das Verbot zu wenig und damit zu teure Insulinpumpen gebaut werden. Vielleicht werden sie (die Insulinpumpen) überhaupt nicht entwickelt, weil sich das unter diesen Umständen nicht lohnt und potenzielle Erfinder sich ihren Kopf über andere Probleme zerbrechen. Eine Chance der Wirtschaft wird vertan. Arbeitsplätze werden im Wesendichen in der Welt der Bremser und Verhinderer entstehen.
2.4 Erstes Zwischenfazit Die Menschen in unserer Gesellschaft werden immer älter. Gleichzeitig wird der Anteil der Jüngeren' geringer, da seit Jahren Geburtenrückgänge verzeichnet werden. Damit wächst der Anteil der Alten' an der Bevölkerung. Mit deren Ausweitung wachsen bzw. verändern sich auch die Bedürfnisse nach bestimmten altersgerechten Produkten und Dienstleistungen. Konkret bedeutet Alterung der Bevölkerung, dass die Nachfrage der Jungen weniger wird, weil ihr Anteil am Gesamten schrumpft, und die Nachfrage der Alten steigt. Ein mögliches Wirtschaftswachstum ist dann realisierbar, wenn es sich an den steigenden und geänderten Bedürfnissen der ,Juteren" orientiert und ein Weg der emanzipierten und verantwortungsvollen Bedürfnisbefriedung gefunden wird.
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Medizinischer Fortschritt als Wachstumsursache
Was nun ist die zweite so genannte Wachstumsursache, der medizinische Fortschritt? Dazu gehören sicher „medizinische Durchbrüche". Das könnte z. B. die Partikeltherapie sein. Mit ihr können voraussichtlich Tumore in einer Größe behandelt werden, die die Diagnostiker bisher nicht gesucht haben, weil man sowieso nichts hätte tun können. Eine Insulinpumpe, die wartungsfrei mindestens über Monate ganz genau das ständige Profil prüft und jeden Mangel sofort justiert, wäre auch so ein medizinischer Quantensprung, der neue Felder der Behandlung erschließt. Hirnschrittmacher, die implantiert praktisch automatisch Depressionen beseitigen, würden ebenso in dieses Feld gehören. Diese Quantensprünge sind allerdings eher selten und sind fast schon Nebenthemen im Verhältnis zu der ständigen Verfahrensentwicklung, wie man das in der Industrie nennen würde.
3.1 Das Beispiel Herzbehandlung Vor 30 und mehr Jahren waren Herzoperationen, um verstopfte Adern durch einen Bypass wieder durchgängig zu machen, extrem aufwendig und vor allem für den Patienten mit vielen Schmerzen und Risiken verbunden. Die Methode aber hat nachgewiesen, dass sie Leben verlängert und eine echte Verbesserung der Lebensqualität herbeifuhrt. Die Methode war ziemlich grob, denn es ist keine Kleinigkeit, wenn dem Patienten das Brustbein aufgesägt und der Brustkorb mit Zwingen aufgedehnt wird. Die Schmerzen-/Nutzenabwägung führte deshalb bei vielen Patienten zum Abwarten, bis das Leiden - wie man sagt — schlimm genug war. Der folgende medizinische Fortschritt bestand nun darin, dass die OP-Methode und der messbare Erfolg in Form ausbleibender Komplikationen immer besser wurden. Bei der entstehenden Methode, in geeigneten Fällen keine Herzoperation durchzuführen, sondern mit der Methode der Ballondilatation dem Patienten bei vollem Bewusstsein — er konnte das Wunder also miterleben — die Durchflussbehinderung im Gefäß einfach wegzudrücken, brachen dann die Patienten regelrecht über die Behandler herein. Was war geschehen? Der Schmerz der Behandlung im Verhältnis zur Aussicht, fast beschwerdefrei wieder etwas leisten zu können, kam bei den leistungsbeschränkten Herzpatienten fast dem Satz aus der Bibel nahe, in dem es heißt „stehe auf und gehe". Dass es dabei mit der Nachhaltigkeit nicht so weit her war, weil sich Gefäße nach anfänglichem Erfolg immer wieder schlössen, tat dem Interesse keinen Abbruch.
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3.2 Zweites Zwischenfazit Grundsätzlich kann die Frage, ob medizinischer Fortschritt als Wachstumsmotor für die Gesamtwirtschaft anzusehen ist, mit JA beantwortet werden, wenn die aus den Bedürfnissen der Bevölkerung kommende Nachfrage und die dadurch angeregten Innovationen nicht durch planwirtschaftliche Vorgaben, sondern durch verantwortetes Nutzerverhalten und von dort gesteuerte Gegenleistung erfüllt werden. Nehmen wir als aktuelles Beispiel die Partikeltherapie. Ohne nähere Details zu beschreiben, ist für jeden nachvollziehbar, dass die Entwicklung und der Bau einer derartigen Anlage einen hohen 6-stelligen Millionen-Euro-Investitionsaufwand verursacht, der volkswirtschaftlich zu Buche schlägt. Die dadurch mögliche neue Behandlungsmethode (zielgenauer Einsatz von Protonen und/oder Schwerionen zur Behandlung auch kleinster bösartiger Tumore im frühen Stadium) setzt wiederum eine neue Generation von Diagnostikgeräten voraus, deren Entwicklung, Produktion und Einsatz bei weitem den Investitionsbetrag für den Bau einer Partikelanlage übertreffen wird. Eine (Wachstums-) Kettenreaktion wird ausgelöst. Die Exportchancen derartiger Diagnose- und Behandlungsgeräte sind enorm. Auch die Entwicklung neuer .Verfahren' löst,Investitionsschübe' aus, sei es auch hier im Bereich von Diagnose- und Behandlungsgeräten als auch im Diensdeistungsgewerbe durch entsprechende Schulungsmaßnahmen etc.. Wenn der Erfolg oder Misserfolg oder gar die Zulassung des Starts einer solchen Innovation nicht von der Summe der Nutzerentscheidungen, sondern als das Ergebnis einer planbürokratischen Entscheidung organisiert ist, an der im Wesendichen Entscheidungsträger eingesetzt sind, welche herkömmlichen Verfahren anhängen, also möglicherweise eigene Nachteile beim Erfolg der Innovation erwarten, ist die Gefahr des Abwürgens der Innovation erheblich. Die Folge ist, dass der medizinische Fortschritt mit allen Konsequenzen am Beginn, bevor er sich als nützlich erweisen kann, abgewürgt wird. Der Fortschritt fällt aus, und die volkswirtschaftliche Entwicklung ist verspielt bzw. sie kommt auf Umwegen aus dem Ausland. In der Partikeltherapie ist Japan bereits in einer guten Position und es sind Anlagen in China geordert.
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Konsumentscheidung in der Gesundheitswirtschaft
Die Entscheidungs-Mechanik des Konsumenten herkömmlicher Konsumgüter unterscheidet sich wenig von der eines Konsumenten der Gesundheitswirtschaft, eine Nutzen-/Schmerzenabwägung findet statt, bei uns fehlt aktuell die Nutzenabwägung im Verhältnis zu eigenem Mitteleinsatz. Dagegen wird argumentiert, dass ein Mensch nicht abwägen könne, weil - wenn er Schmerzen verspüre — seine Entscheidensfähigkeit nicht vorhanden wäre. Dieses Argument kann entkräftet werden durch die aktuelle Diskussion über Qualitäts-
246 merkmale, die den Patienten in Stand setzen sollen, den Ort der Behandlung zu optimieren. Denn wenn er das kann — und ich denke, dass die Annahme stimmt - , könnte seine Abwägung auch noch durch ein Nutzen-/Preisverhältnis erweitert werden. Möglicherweise ist die Preis-/Qualitätsabwägung sogar ein entscheidender Entwicklungsansatz, um das System zur Nutzerqualität zu zwingen. Die bei jedem individuell vorhandene Schwelle, Schmerzen und gesundheitliches Ungemach hinzunehmen, scheint in unserer Gesellschaft permanent zu sinken. Gleichzeitig gilt die Feststellung, dass die Bereitschaft, die gebotenen Lösungen qualitativ zu hinterfragen, nur verstärkt wird, wenn ein Eigenbeitrag, d.h. ein Preis, zu bezahlen ist. Bei dieser Herangehensweise wäre das eigene Opfer nicht die Methode der Verhinderung der Leistung, sondern der Weg ihrer Qualifizierung. Mit dieser zusätzlichen Abwägungsvariante würde eine Form dessen, was wir medizinische Entwicklung nennen, einer qualifizierenden, aber nicht verhindernden Hürde ausgesetzt. Der Fortschrittstreiber in der Medizin, welcher tatsächlich die Leistungsmengen bewegt, ist die Reduzierung der Schmerzbelastung im Verhältnis zum angestrebten und gefühlten Ergebnis der Behandlung. An dem Beispiel Herzoperationen versus Ballondilatationen zeigt sich zweierlei: Die Patienten kennen sehr wohl eine Nutzeneinschätzung, und sie nehmen diese auch vor. Der Nutzen wird allerdings zu den erwarteten Behandlungsschmerzen ins Verhältnis gesetzt. Eine Rolle für die Nutzenabwägung spielt auch der Grad der Gefahr des Misslingens. Konkret: Wenn der 70-Jährige nicht mehr beim Joggen seinen Altersgenossen zeigen kann, dass er den Halbmarathon noch schafft, so ist er bei der mit niedrigen Schmerzen zu erwartenden Ballondilatation sehr schnell bereit, seine Hemmungen über Bord zu werfen und die Behandlung zu suchen. Das Mengen steigernde Schmerz-/Nutzenverhältnis funktioniert. Die Folge sind Steigerung der Qualität durch Wiederholung, Komplikationsvermeidung und nicht zuletzt sinkende Kosten, weil die steigende Menge zur Kostendegression fuhrt. Sinkende Preise aus dieser Konstellation gibt es allerdings nur indirekt, weil der Nutzer — der entweder alles bekommt, überhaupt nichts oder umsonst — daran nicht interessiert ist. Beim Bedürfnis, einen Sportwagen zu besitzen, um im Umfeld der Kollegen und Nachbarn eine bessere Position zu besetzen und die Entscheidung, das Sparkonto dafür einzusetzen oder gar die Zukunft mittels Darlehn- oder Leasingverpflichtung zu determinieren, verläuft kaum anders. Das Argument, dass der Aspirant auf den Sportwagen keine Schmerzen habe, zählt dabei wenig. Frage: Haben Sie den Stich im Herzen nie gespürt, wenn die Nachbarin mit der neuen Garderobe gesichtet wurde oder der blöde Nachbar erstmals mit dem Porsche um die Ecke kam? Das kann ganz schön schmerzen — und es kann sogar direkt in den Gesundheitsbereich überschlagen; man sagt: „Es schlägt mir auf den Magen", oder „Es macht mein Herz schwer", oder „Es nimmt mir den Atem".
247 Spätestens jetzt kommt das Argument, dass der Patient als Notfall sicher keine konsumähnliche Entscheidung trifft. Stimmt, das sind wahrscheinlich nur höchstens 15 % und im ambulanten Bereich sind es Bruchteile davon. Außerdem haben viele von denjenigen die Frage, wo sie im Notfall hinkommen wollen, lange vorher, z. B. bei der Wahl des Wohnorts oder sogar durch eine klare Bestimmung, wie „Wenn ich ..., dann gehe ich . . . " entschieden.
4.1 Eigen-versus Fremdbestimmung Der wirkliche Unterschied zwischen dem Geschehen (Angebot + Nachfrage) auf dem Konsumgütermarkt und dem Gesundheitswesen — und da sage ich bewusst „Wesen" — ist die Art der Fremdbestimmung im Vorfeld. Weil wir uns darauf eingelassen haben, Gesundheitswesen immer als einen Akt solidarischer Inanspruchnahme zu verstehen, haben wir eine Verweigerungs- und Gängelungs-Struktur aufgebaut, die einen erheblichen Prozentsatz der tatsächlich möglichen Gesundheitsleistungsproduktion verhindert. Weil es so frustrierend ist, kann man es sich ersparen nachzuzählen, ob 10, 20 oder gar 3 0 % der gesamten Leistungen im Gesundheitswesen auf Verhinderung und Bremsen entfallt. Wem diese Zahl zu hoch erscheint, der sollte normale Arbeitstage von am Patienten tätigen Mitarbeitern auf bürokratische Tätigkeit untersuchen, die im Wesentlichen dazu dient, nicht als zulässig definierte Leistung zu verhindern oder beweisbar zu machen, ohne dem Probanden das Recht oder die Pflicht einzuräumen, sich in diesen Prozess einzumischen. Der größte Teil dieser so entstandenen Bürokratie gibt vor, die Funktion des Patienten als selbstverantwortlichem Individuum zu ersetzen, da er hinsichtlich dessen, was mit ihm geschieht, nicht mündig sei. Die Starrheit des Systems liegt genau hier begründet, und die unzähligen Kontrolleure - und damit sind nicht nur die außerhalb der Leistungserbringer gemeint — werden alles tun, um ihre Existenz zu sichern. In Krankenhäusern und Ärzte-Verwaltungen sind die Eigenkontrollbereiche, welche in vorauseilender Erwartung oder als Gegenstrategie zu den Außenkontrolleuren gebildet werden, vermutlich ein Vielfaches der externen Bürokratie, weil ja gilt, dass der interne Kontrolleur dem externen zuvorkommt. Das Empfinden des Patienten oder Nutzers wird überall als ,das Wichtigste' betont. Tatsächlich sind allerdings so entstandene Qualitätsmaßstäbe häufig eher Mittel zum Zweck, das Preisverhandlungsgeschehen zu disponieren als der Sorge um den Patienten dienend. So wie die freie Wirtschaft dazu neigt, Werbung und Außendarstellung zu präferieren, weil das Ergebnis höhere Preise erwarten lässt, ist die Staats- und Planwirtschaft, auch diejenige, die im Gesundheitswesen stattfindet, eher mit der Erfüllung des Plansolls beschäftigt als die Interessen des Nutzers zu bedienen. Es gilt der Grundsatz, „wer zahlt, schafft" an und damit der Umkehrschluss „wer nicht zahlt, schafft auch nicht an". Da wir diese Priorität im Gesundheitswesen von Kindesbeinen an kennen, haben viele
248 Menschen nie gelernt, in Angelegenheiten der eigenen Gesundheit eine eigene Position zu beziehen. Interessant ist, dass es viele Menschen gibt, die sich bei der Frage, welche Designerjacke sie kaufen, zwar von der Werbung beeinflussen lassen, aber insgesamt sich verwahren würden, wenn der Verkäufer auf die Idee käme, ihnen beim Versuch, die Jacke zu erstehen, erklären würde, dass er ihnen diese nicht gibt, weil sie nicht in der Lage wären, die Wirkung, welche sie auf den Nachbarn hat, abzuschätzen.
4.2 Drittes Zwischenfazit Es gibt im Gesundheitswesen, das noch keine Gesundheitswirtschaft ist, ständig steigende Bedürfnisse nach Leistungen und Hilfsmitteln, insbesondere bei steigendem Lebensalter. Die „alternde Gesellschaft" will mit dem Alter einhergehende Einschränkungen durch Befriedigung der entstehenden „veränderten Bedürfnisse" die gewünschte Lebensart verbessern, aufkommende Schmerzen vermeiden und länger in gutem Zustand leben. Die Herstellung, Andienung und Zurverfügungstellung dieser (gewünschten) Güter und Leistungen wäre geeignet — weil die nachgefragten Mengen schneller steigen als die durch demografischen Abbau junger Menschen ausfallende Nachfrage — binnenwirtschaftliche Nachfragestagnation bzw. -rückgang überzukompensieren, wenn man den Alten' Entscheidungsfreiheit zugesteht und als Korrektiv von jedem, der diese Leistung einfordert, ein zwar tragbares, aber die Selbstverantwortung steigerndes Opfer verlangt.
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Ständiger Wandel stellt Wirtschaft vor neue Aufgaben
Um die Bedeutung dieser Situation noch kräftiger zu beleuchten, sollte ein Blick in die Vergangenheit nützlich sein. Deutschland hat nach dem Krieg gelernt, das Bedürfnis nach Mobilität zu befriedigen. Dabei wurden als Mittel zum Zweck Autos gebaut — immer besser, immer schneller und weil die Welt sie haben wollte, immer mehr. Die Binnennachfrage und deren qualifizierte Bedingung waren die Basis und der Motor. Heute sind weniger die Autos der eigentliche Exporterfolg, sondern wir verkaufen bereits das Know-how der Produktion - genannt Maschinenbau. Das ist so lange kein Problem, solange die vor der Maschinenentwicklung stehende Konsumentenbefriedung, die der Industrie die Aufgaben stellt, diese in Form ständigen Wandels mit immer neuen Aufgaben konfrontiert. Wenn dies geschieht, können die hier gebauten Fabriken getrost nach einigen Jahren verkauft werden, weil es bereits neue Fragestellungen gibt und die neuen Fabriken bereits den Betrieb aufnehmen.
249 Die Nachfrage verlagert sich, und der automatische „Rollator" wird vielleicht in Deutschland gebaut, weil er an der Nachfragestruktur entlang entwickelt werden muss. Er (der Rollator) könnte den Roller ersetzen, der längst in Korea hergestellt wird. Und die Insulinpumpe als möglicher Mobilitätsfaktor für eine Gruppe, die in Deutschland ca. 4 Mio. Menschen umfasst, wäre mindestens fiir die schwerer Erkrankten eine Lösung, die dem individuell Betroffenen mehr Glücksgefiihle bringen würde als dem 16-Jährigen sein neues Moped.
5.1 Gesundheitswirtschaft - ein Zukunftsmarkt? Eigentlich hat die Gesundheitswirtschaft alle Faktoren für einen Markt der Zukunft. Die aktuellen politischen Diskussionen, die allerorten stattfindende Präsentation des Sozialsystems und die Bekundung von dessen Unveränderbarkeit bedeuten allerdings nichts anderes, als die Bescheidung, das Verbot und die Vernichtung der entstehenden Nachfrage. Weil damit der oberste Grundsatz des Handelns festgelegt wird, dass die Systeme bleiben müssen wie sie sind — also könnte das auch Stillstand, Stagnation und Rückgang bedeuten. Ohne Einschränkung kann festgestellt werden, dass die Bedürfnisveränderung und Bedürfnisvermehrung im Gesundheitswesen kommen wird und mit dem Wegfall herkömmlicher Nachfrage einhergehen wird. Die Nachfrage, das heißt in diesem Fall „die Summe der Wünsche" könnte durchaus bis 2030 zwischen 25 und 30 % des BIP erreichen, es könnte aber auch, wenn die Rationierer und Priorisierer gewinnen, bei 1 2 % (des BIP) stehen bleiben und davon verzehren diejenigen, die die Systeme kontrollieren und beherrschen, mit denen sie die Bevölkerung an der Wunscherfüllung hindern, direkt und indirekt einen beachtlichen Teil mit steigender Tendenz („der Druck der Nachfrage muss ja abgewehrt werden") selbst. Aktuell sind wir bei 1 0 % des BIP, da aber gleichzeitig die Aufkommensträger weniger werden kommt es auf der Belastungsseite der Gesellschaft zu ständigen Beitrags- oder erhöhter Steuerverwendung, was letztlich auf dasselbe hinauslauft. Mit den Zahlen für die Zukunft in diesem Bereich sollte man hinsichtlich der Genauigkeit milde sein, da ansonsten die Scheingenauigkeit der Planwirtschaft, die glaubt, sie könnte sogenannte Bedarfsrechnungen machen, wiederholt wird. Eine entsprechend dem Nutzerverhalten geführte Bedarfsdeckung, die in einer Schmerzen-/Behandlungserfolgsrelation aufgestockt um eine Preis Qualitäts-/ Nutzerpreisrelation ihr Korrektiv findet, wäre sicher jeder planwirtschaftlichen Prospektive überlegen. Man könnte sich natürlich auf der volkswirtschaftlichen Ebene die Frage stellen, ob die Wirtschaft und Gesellschaft mit Medizininnovationen und Versorgung, bei der Nutzer zwar besondere, aber immerhin Konsumenten in eigener Verantwortung sind, die erhöhte Anforderung aus der Altersentwicklung und dem Wegfall
250 junger Konsumenten wett machen können. Die Frage wäre aber aus der heutigen Situation falsch gestellt, denn das aktuelle System will glauben machen, dass die etablierte und mit anderen Innovationen versehene Wirtschaft ohne den Gesundheitsbereich -bzw. sogar mit diesem als Kostenfaktor — in der Lage wäre, die wirtschaftliche Zukunft des Landes zu sichern. Unbestritten ist es wichtig und richtig, sich um alternative Energien zu kümmern, Gentechnik voranzutreiben und Mobilität mit geringstem Energieaufwand zu erzeugen. Das wird aber nicht reichen, die jungen Menschen, die nicht geboren wurden mit ihren Wünschen, ihrer Kaufkraft und ihrer Arbeitskraft: zu ersetzen. Und es wird unsere Abhängigkeit kaum mindern von allen wichtigen Rohstoffen — nennen wir sie einfach einmal „seltene Erden", der alte Begriff wird auf vieles anzuwenden sein - , wenn China und Indien ihren wirklichen Bedarf an Gütern zu decken beginnen. Es wird das Problem zu lösen sein, was unsererseits an begehrenswerten Dingen, die intelligent und mäßig rohstoffabhängig sind, eingesetzt wird, damit wir im Wettbewerb nicht bereits an der Rohstoffbeschaffung unterliegen. Immerhin sollte uns daran gelegen sein, unsere bisher so vorteilhafte Position im Tausch der Interessen zu halten.
5.2 Viertes Zwischenfazit Erinnern wir uns an etwas, was jeder kennt: In jedem Problem, respektive seiner Lösung, liegt eine Chance. Danach haben wir die Chance, die sich aus unserem Älterwerden ergibt. Es gilt immer noch: Jede verkaufte Maschine ins Ausland bedeutet Know-howAbfluss. Und eine verhinderte Nachfrage schafft keine Ersatzentwicklungen, die den Level sichern helfen. Denn: Eine gebremste Nachfrage verhindert Angebote, ein verhindertes Angebot bedeutet unterlasse Entwicklung, unterlassene Lösungen, verlorene Märkte und verhinderte Arbeitsplätze. Dabei könnte die veränderte und steigende Nachfrage der selbstbestimmenden Alten die fehlende Nachfrage der nicht geborenen Jungen ausgleichen.
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Schaffung neuer Solidarkreise
Neue Finanzierungsstrukturen im Solidarbereich sind geeignet, das vorhandene Konfliktpotenzial zwischen „Alten" und „Jungen" (= der arbeitenden Bevölkerung) abzubauen. Die Gruppe der Älteren ist eine natürliche Solidargemeinschaft, ihre Sichtweise und ihre Probleme, resultierend aus ihrer Lebensweise, sind untereinander bekannter und vertrauter als zwischen Jungen und Älteren. Deshalb sollten sie (die Älteren) in einer neu definierten Solidargemeinschaft, besser in einem auf
251 gemeinsamen Nutzen ausgerichteten Markt ihrer Bedürfnisse zusammengefasst werden, z. B. einer „Alterskrankenkasse", gebündelt werden. Die Alterskasse soll der Begleiter des älteren Interessenten an Gesundheitsleistungen werden, indem sie ihm einen zwar höheren, aber sozial austarierten Eigenbeitrag anbietet und ihn zum echten Nachfrager macht. Nicht Bevormundung, sondern Begleitung ist die Aufgabe. Wir haben ein Problem. Es geht um die Frage: Wie befrieden wir eine alte Gesellschaft oder wie machen wir es, damit diese sich selbst hilft? Wir haben eine Altengeneration, die noch vom Ruhestrand träumt und dieses beruhigte Warten im „Zustand des Gefiittertwerdens" glaubt, genießen zu können, weil wir ihnen lange genug eingetrichtert haben, Arbeit mache krank. Wozu sollten die ,Alten" noch Aufgaben übernehmen, wenn wir ihnen alles umsonst geben wollen? Wir nehmen ihnen nicht die Sorgen, sondern die Ziele. Es gibt doch fär jeden von uns nichts, wonach wir streben sollten, wenn wir das, was wir möchten, entweder gar nicht bekommen, weil ein kluger Ausschuss es nicht bewilligt hat, oder wenn wir es erhalten, bekommen wir es umsonst. Da kann man doch tatsächlich, wenn überhaupt, nur ehrenamtlich arbeiten, das heißt ohne Verbindlichkeit, sozusagen „selbstbetätigend" aktiv werden. Wie wäre es, wenn wir diejenigen, die an der heutigen Altersgrenze von z. B. 65 Jahren stehen, aus der Arbeitspflicht entlassen ihnen aber, weil sie auf Wunsch die Sicherungssysteme nutzen können, die Gelegenheit geben, sich mit reduziertem Kündigungsschutz vielleicht an Stelle derer, die heute diese Rolle in Leiharbeitsfirmen die Reservearmee bilden, am Produktionsprozess zu beteiligen. Dafür wird ihnen als Aktive die Chance geboten, noch länger zur aktiven Truppe zu gehören. Für diejenigen, die aufhören, sollte gleichzeitig eine neue Solidargemeinschaft, namens Alterskrankenkasse, möglicherweise kombiniert mit der Pflegeversicherung — und gerne auch als eigenständige Organisation ihrer alten Kasse im Wettbewerb mit anderen - verpflichtend werden. Diese Kasse wäre natürlich teurer und hätte entgegen der fortbestehenden Kasse der im Arbeitsleben Stehenden eine Finanzierung aus: Prämien, die sich am Einkommen insgesamt und am Vermögen orientieren; Eigenbeiträge, die in ihrer Höhe aus dem Prämienmodell abgeleitet werden; Steuerzuschüsse, die insbesondere im Übergang der Systeme in dem vom Alterslasten befreiten, vorhandenen GKV Modell frei werden. Damit würden wir die „Jungen" entlasten, die nach wie vor mit ihrer Solidarkrankenkasse leben, die dann viel preiswerter wäre und überwiegend eben die Krankheit der Jüngeren und der im Arbeitsleben bleibenden Älteren als solidarpflichtiges Unglück begreift und entsprechend abdeckt.
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6.1 PRO für eine Alterssolidarkrankenkasse Die Alterskrankenkasse bietet den nicht mehr arbeitstätigen Älteren - dem einen mehr, dem andere weniger - durchaus auch angemessene solidarische Hilfe. Die Älteren sind aus ihrer Lebenssituation unter- und miteinander verbundener, nämlich durch das gemeinsame Schicksal des Älterwerdens und der damit vermehrt verbundenen Bedürfnisse, die nur befriedigt werden können, wenn sie interessensidentisch und kraftvoll auftreten. Diese Gruppe wird untereinander „einsichtiger" fxir sachgerechte medizinische Hilfen für Altersgenossen sein, und jeder wird aus der größeren Nähe eines auch für ihn selbst möglichen Schicksals oder auch nur Gesundheitsverbesserungswunsches für Regel- und Finanzierungslösungen, deren Erfolg er selbst absehbar verspüren kann, offener sein. Lassen wir es doch zu, dass sie diese Mischung aus persönlichem Gesundheitsdienstleistungskonsum, der den Alterseinschränkungen abhilft, erhalten und selbst darüber bestimmen. Stellen wir ihnen aber auch die Konsequenzen in Rechnung, ohne jemanden wegen mangelnder Kaufkraft auszuschließen. Denn jeder der wegen mangelnder Teilnahme fehlt, erhöht bei extremen Vorhaltekosten die Nutzerkosten für alle überproportional und schmälert die Qualität wegen mangelnder Wiederholung und Erfahrung mit den altersspezifischen Bedingungen. Es braucht deshalb ein neues System, weil die Ansprüche sich ändern und dabei sehr hoch sind. In einer Alterssolidarkasse wäre zwar die Zahl der Schultern, die diesen Konsum tragen soll, geringer als wenn alle (also auch die aktiv tätigen „Jungen") dabei wären, aber das gegenseitige Verständnis für diese Konsumnachfrage sollte ausgeprägter sein. Die ,Alten" wollen die Leistung. Wir sollten diese zur Verfugung stellen und zulassen, dass sie darüber autonom entscheiden. Und: Wir sollten sie nicht entmündigen. Dazu gehört dann aber auch, Verantwortung zu übernehmen und Verantwortungsübernahme beweist man (d.h. die ,Alten"), indem man — soweit man das vermag — selbst eintritt.
6.2 Solidarität versus Eigenbeteiligung? Bei Gesundheitsgütern ist die Spannweite beim Einsatz der „Produktionsgüter" wesentlich geringer als bei anderen Produktionsarten bzw. Serviceleistungen. Beispiel: Wenn Sie 200 km entfernt zu Besuch in eine andere Stadt wollen, können Sie vielerlei Ihren Möglichkeiten angepasste Transportgelegenheiten nutzen. Da steht das Fahrrad buchstäblich auf der einen und der Rolls Royce auf der anderen Seite. Eine Hüfte kann nicht alternativ aus Papier oder Titan sein. Das bedeutet, dass bei einer nur von Leistung und Produkt abhängigen Selbstbeteiligung ein Kreis von Menschen von der Leistung ausgeschlossen wird. Das aktuelle System macht daraus: „Alle bekommen alles umsonst, und wenn es nicht reicht, wird entschieden, wer es nicht bekommt". Zumeist wird mangels Entscheidung das
253 Windhundverfahren angewendet („Wer zuerst kommt, mahlt zuerst!") und die Wartelisten sind das Verfahren der Selektion. Ist es nicht sinnvoll, das System umzudrehen und den älteren Menschen zu sagen, dass sie alles haben können, was es medizinisch an Hilfen und Erleichterungen gibt, dass diese aber eine neue Form der Finanzierung bedarf? Jeder leistet Beiträge auf der Basis seines Gesamtleistungsfahigkeit (= Gesamteinkommen und Vermögen). Bei Leistungsentnahme kommen sozial austarierte Eigenleistungsbeiträge, so genannte Selbstverantwortungsbeiträge, in spiegelbildlicher Anwendung der Versicherungsprämien hinzu. Damit tritt er, „der Ältere", in die Verantwortung und wird zum echten Nachfrager. Es gibt eine extrem gespreizte Kaufkraft bei den Älteren in der Gesellschaft. Trotzdem: Unbestritten gibt es eine Schicksalsgemeinschaft zwischen armen und reichen Kranken. Es ist für den älteren, wirtschaftlich potenteren Menschen sinnvoll, durch höhere Beiträge und Eigenleistungsbeiträge Schwächeren die Teilnahme zu ermöglichen, weil die speziellen altersgerechten Leistungen nur so infrastrukturell und entwicklungstechnisch möglich sind. Es ist bekannt, dass eine Medizin, die z. B. für die über 70-Jährigen Herzoperationen bereit hält, ein vielfaches Risiko aufweist. Die Frage könnte also sein (ganz hart ausgesprochen) ob es nicht sinnvoll ist, wenn derjenige der es hat, für diese Leistung den mehrfachen Preis bezahlt, damit er nicht der Einzige ist, bei dem ein Verfahren eingesetzt wird. Der Einwand der Reichen, ihre Solidarität sei damit überstrapaziert, kann auch rein ökonomisch entkräftet werden, weil jeder weitere Teilnehmer auch der wirtschaftlich Schwache, einen Deckungsbeitrag leistet. Bei 7 0 % Fixkostenlast ist, wenn diese gedeckt sind, jede weitere Leistung, die mindestens die variablen Kosten einspielt, ein Mengen- und Qualitätsvorteil. Der Versuch, dieses Modell mit Planwirtschaft zu erreichen, scheitert allerdings, seitdem es versucht wird.
6.3 Unterstützende Kommunikation ist notwendig Natürlich muss das alles motivierend kommuniziert werden, denn es ist wichtig, dass das System sich auf die gesamte Altersgruppierung und deren individuelle Bedürfnisse ausrichtet. Insbesondere der „Selbstverantwortungsbeitrag" bedarf näherer Begründung. Auch hier entscheidet der Betroffene selbst und bringt ein Opfer für die nachgefragte Leistung. Diese Eigenleistungsbeiträge werden nach den individuellen Möglichkeiten gestaffelt, es gibt nichts umsonst, aber jeder muss es bezahlen können. Wenn der ältere Nachfrager sich entschließt, den Preis und das Preis-/ Leistungsverhältnis zu akzeptieren und seinen Anteil einbringt, dann — und nur dann - tritt die Versicherung an seine Seite und macht ihn zum vollwertigen autonomen Nutzer. Als Beispiel ein Extremfall: Ein älterer Mensch braucht und
254 will seine ständig wiederkehrende Depression mit einem Hirnschrittmacher bekämpfen. Die Behandlung kostet in der einen Klinik 20.000 € und in der anderen 20.500 €. Es könnte festgelegt sein, dass der potenteste Patient einen Eigenbeitrag bringen müsste, der 10% ausmacht, und der wirtschaftlich schwächste Patient, z.B. ein Harz IV-Empfänger, müsste 20,5 €, also 0,1%, beibringen. Den Rest übernimmt die Versicherung. Sicher wäre es nötig, über die Wirkweise Erfahrung zu sammeln und es wäre sicher nötig, wie man es von Korea hört, dass diese Eigenbeteiligungen nicht versicherbar und nicht erlassbar wären und der Versuch, mit direkten Rabatten Umsatz zu gewinnen, müsste schwer bestraft werden. So kann daraus eine selbststeuernde Struktur für eine neue Art von Markt werden. Es wäre sicherlich auch sinnvoll, den Älteren die Tür für ein fortgesetztes Erwerbsleben zu öffnen und schmackhaft zu machen, z. B. indem ihnen, wenn sie weiter arbeiten, die günstigere Tarife der Erwerbsleben-GKV, wie wir sie kennen, die um vermutlich um 3 0 - 4 0 % entlastet wäre, als Motivation eingeräumt werden. Es wäre attraktiv, weiter dabei zu bleiben und die Chancen auf dem Arbeitsmarkt wären für diese „Ruhestands-Tätigen" sicherlich sehr günstig, da auf die Schutzfunktionen, die unser Arbeitsleben starr machen, verzichtet werden könnte. Sie bekämen einen ,Anstellungsbonus", weil der Arbeitgeber mit ihnen Flexibilität gewinnt. Eine Flexibilität, die heute junge Leute am Beginn ihres Arbeitslebens darstellen, indem sie über Leiharbeit eingesetzt werden. Die fortarbeitenden Älteren könnten den Vorteil der preiswerteren Krankenkasse frei disponieren. Mancher würde vielleicht die Zeit nutzen, freiwillig in eine Pflegesicherung zu investieren, wenn diese ein Modell hätte, dass bei Nichtgebrauch wenigsten die Beiträge vererbt werden könnten. Damit würde sich das Bild des Problems der alternden Gesellschaft in eine Problemlösung verwandeln.
6.4 Fünftes Zwischenfazit Eine auf den beschriebenen Weg gebrachte „alte Gesellschaft" würde natürlich ihre gesparten Reserven, die ja sehr unterschiedlich verteilt sind, ins System bringen. Wenn sie das für die Erfüllung der Alterswünsche freiwillig tut, weil sie ein durchaus egoistisches, aber für die Breitenwirkung kanalisiertes Motiv hat, geschieht dies sicher ruhiger und konfliktfreier als die motivlose und teilweise an den Haaren herbeigezogene Zwangssolidarität. Dieser Zwangssolidarität suchen viele durch Schwarzarbeit und Steuerflucht zu entkommen und rütteln damit an den Fundamenten des Gemeinwesens zum Schaden aller. Freiwillige neue Solidargemeinschaften sind konfliktfreier als motivlose Zwangssolidarität über Generationen. Der einzelne Mensch bestimmt und nimmt an der Verantwortung (auch pekuniär) teil, der Staat sichert Information, Transparenz und gerechte Teilnahme. Es wird damit eine neue Form der sozialen Marktwirt-
255 schaft des Alters ermöglicht. Die entstehende Funktionalität des Systems würde Leistungen und Produkte hervorbringen und ein Know-how erwachsen lassen, das beispielhaft fiir alle Industrienationen mit alternder Bevölkerung werden würde. Neue Nachfrage der Altersgruppe generiert neue Produkte und Lösungen, Exportchancen entwickeln sich.
7
Schlussbemerkungen
(1) Das Gesundheitswesen, wie es heute angelegt ist, kann kein Wachstumsmarkt sein, weil es als ein Bereich volkswirtschaftlicher Kosten gilt, die planwirtschaftlich reglementiert und verwaltet werden. Dabei gibt es einzelne Bereiche, z. B. private Ketten, die begünstigt wegen des mit kalter Rationierung und Priorisierung erzeugten Leistungsdrucks durch Verdrängung wachsen. Ein volkswirtschaftliches Gesamtwachstum wird nur in engem Rahmen Bedeutung erlangen. (2) Dennoch: Die Gesundheitswirtschaft ist ein potenzieller Wachstumsmarkt, und sie kann zum Motor der Eingliederung der Alteren werden, wenn die Befriedigung der Nachfrage durch ein neues, näher an den Bedürfnissen liegendes Solidarinstrument, d.h. durch sozialverstärkte Kaufkraft der Betroffenen und damit Akzeptanz deren Entscheidungsfahigkeit, angeregt wird. Die 8 € monatliche Erhöhung der Kassenbeiträge und die sofort steigende Nachfrage nach Behandlungen, die weniger Schmerz erzeugen als ein massiver Eingriff, im Ausgleich aber das Risiko haben, häufiger wiederholt werden zu müssen. Letzteres bedeutet, dass die Patienten und ihre beratenden Ärzte eine Abwägung treffen zwischen Schmerzintensität und dem Grad der Nachhaltigkeit. Dies zeigt, dass die Menschen längst qualifiziert sind, eigene Entscheidungen in Sachen Gesundheit (und Kassenzugehörigkeit) zu treffen. (3) Wenn auch die Jüngeren darüber nachdenken, dass die Freiheit und Autonomie der Älteren morgen ihre eigene sein wird, ist es vielleicht legitim und notwendig, überkommene Vorstellung aus der Zeit, in der dieses Volk jünger war, zu überprüfen und zu neuen Ufern aufzubrechen. — Ich hoffe nicht, dass wir dazu zu alt sind.
Nikolaus Knoepffler und Reyk Albrecht
Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen 1
Die Ausgangslage
Neue Behandlungsmethoden und medizintechnische Möglichkeiten tragen zu steigender Lebensqualität und Lebenserwartung großer Bevölkerungsgruppen bei. Ein breiter gesellschaftlicher Wohlstand erlaubt die Bereitstellung großer Ressourcen für das Gesundheitssystem. Neue Forschungsrichtungen versprechen weitere Fortschritte bei der Behandlung bisher unheilbarer Krankheiten. All dies sind sehr positive Entwicklungen. Steigende Lebenserwartung und medizinischer Fortschritt sind jedoch auch mit steigenden Kosten verbunden, da Gesundheitsleistungen länger in Anspruch genommen und neue Leistungen erbracht werden. Nehmen wir das Beispiel der Bundesrepublik Deutschland. Von 1970 (alte Bundesländer) bis 2009 (alle Bundesländer) stieg das Sozialbudget der Krankenkassen von 12,9 Mrd auf 168,7 Mrd zuzüglich 20,3 Mrd für die Pflegeversicherung. Allein von 2009 auf 2010 erhöhten sich die Kosten der gesetzlichen Krankenkassen von 167,3 auf 174,3 Mrd. Euro. 4 0 3 Faktoren wie eine hohe Arbeitslosenquote, eine große Zahl geringfügig Beschäftigter und der demographische Wandel lassen vermuten, dass die Finanzierung des Gesundheitswesens zunehmend problematischer wird. 4 0 4 Dadurch wird ein Gerechtigkeitsproblem immer stärker aufbrechen, das bereits heute, wenn wir die bundesdeutsche Situation betrachten, in einigen Bereichen sichtbar ist: Ärzte und Pflegekräfte haben oft nur sehr wenig Zeit für ihre Patienten. Manche ländlichen Gegenden leiden an einer Unterversorgung mit niedergelassenen Ärzten. Auch müssen Versicherte in der G K V für Arzttermine teils lange Wartezeiten ertragen und sie erhalten nicht immer die wirksamsten Medikamente und bestmöglichen Behandlungen, sondern die „bewährte Standardtherapie". In manchen Fällen wird ihnen eine Alternative nicht einmal benannt, sodass sie sich diese dazu kaufen könnten. 403
404
GKV-Schätzerkreis: http://www.gkv-spitzenverband.de/upload/091209_GKV-Schaetzerkreis_ Tableau_10835.pdf; eingesehen am 08.03.2011; Auch bis dahin sind die Einnahmen der G K V fast kontinuierlich von 1994 (118,8 Mrd. Euro) gestiegen. (BMG, Erhebung: Gesetzliche Krankenversicherung: Kennzahlen und Faustformeln; Zahlen verschiedener Jahrgänge zusammengestellt durch Statista: http://de.statista.com/statistik/daten/studie/2667/ umfrage/gesetzliche-krankenversicherung%3A-einnahmen/); eingesehen am 08.03.2011. Statistisches Bundesamt Deutschland (2011): http://www.destatis.de/jetspeed/portal/ cms/Sites/destatis/Internet/DE/Navigation/Statistiken/Arbeitsmarkt/Arbeitsmarkt.psml sowie http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/ Statistiken/Arbeitsmarkt/Sozialversicherungspflichtige/Tabellen/Content75/Insgesamt, templateId=renderPrint.psml; eingesehen am 08.03.2011.
257 Auf internationaler Ebene verschärft sich das Problem dramatisch, denn die jährlichen Gesundheitsausgaben unterscheiden sich zwischen den einzelnen Staaten erheblich. Standen 2007 laut World Health Statistik 2010 d e r W H O in den USA 7.285 U S D pro Kopf und Jahr zur Verfügung, waren es in Deutschland 4.209 U S D , in Ländern wie Bangladesch oder Madagaskar sogar lediglich 15 bzw. 16 U S D . 4 0 5 Damit wurde in den USA das 485-fache der in Bangladesch verfügbaren finanziellen Mittel bereit gehalten. 406 Obwohl der Ressourceneinsatz nicht gleichbedeutend mit Gesundheitsleistung ist, deuten die Zahlen auf gravierende Unterschiede bei der Gesundheitsversorgung hin. In vielen Ländern fehlt es sowohl an qualifiziertem Personal als auch der medizinischen Ausstattung und Versorgung mit Medikamenten, selbst für eine sehr basale Gesundheitsversorgung. Gerade im Fall lebensbedrohender Krankheiten wie Aids oder Krebs haben diese Unterschiede erhebliche Konsequenzen für die Betroffenen. Erhält zum Beispiel ein Kind in Deutschland im Fall eines Krebsleidens eine umfassende Therapie nach dem anerkannten Stand der Wissenschaft, kann ein Kind in Madagaskar nur dann eine derartige Therapie bekommen, wenn seine Eltern zu einer wohlhabenden Bevölkerungsschicht gehören. 407
2
Die doppelte Herausforderung bei der Realisierung von Gerechtigkeit
Die unterschiedliche Absicherung in Bezug auf lebensbedrohliche Krankheiten muss als doppelte Herausforderung für die Realisierung von Gerechtigkeit im Gesundheitswesen angesehen werden.
2.1 Die globale Herausforderung Geht man von dem Prinzip der Menschenwürde als Grund aller Gerechtigkeitsüberlegungen aus, kommt jedem Menschen unabhängig von seinem Geschlecht, seiner Rasse und seinen individuellen Fähigkeiten ein grundsätzlicher Subjektstatus und eine grundsätzliche Gleichheit mit allen Menschen zu. Denn das Leben ist die notwendige Bedingung, damit ein Mensch existiert. Die Existenz eines 405 W H O , World Health Statistics 2010, S. 130 ff.; Werte angegeben in „Per capita total expenditure on health at average exchange rate (US$)". 406
407
Selbst der Unterschied zwischen den USA und Deutschland wirft Fragen auf, welche hier jedoch nicht ausfuhrlicher behandelt werden können. Damit erstaunt es nicht, dass die durchschnittliche Lebenserwartung im Jahr 2008 in Ländern mit hohen Gesundheitsausgaben wie den USA und Deutschland bei 78 bzw. 80 Jahren liegt, während sie in Bangladesch 65 Jahre und in Madagaskar 60 Jahre beträgt. (WHO, World HealthStatistics 2010, S. 48 ff.). Hier spielen selbstverständlich auch weitere Faktoren eine Rolle, die Gesundheitsversorgung ist jedoch ein wesendicher Faktor.
258 Menschen aber ist notwendige (und hinreichende) Bedingung dafür, dass einem Menschen Menschenwürde zuerkannt werden kann. Mit der Anerkennung der Menschenwürde ist in Bezug auf lebensbedrohliche Krankheiten ein Recht auf eine grundsätzlich gleiche Versorgung verbunden. Jedenfalls hat die Weltgemeinschaft dies in Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgehalten: „(1) Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet" (Art. 25 AEM). 4 0 8 Und in der Präambel der Weltgesundheitsorganisation heißt es sogar: „Den höchstmöglichen Gesundheitsstandard zu genießen, ist eines der fundamentalen Rechte jedes Menschen unabhängig von Rasse, Religion, politischer Einstellung, ökonomischem oder sozialem Rang" (Präambel W H O ) . 4 0 9 Im Sinne eines mit der Menschenwürde verbundenen „Weltbürgerrechts" 410 würde dies bedeuten, dass wir eine internationale Absicherung zumindest einer Grundversorgung für die die Existenz bedrohenden Risiken benötigen. In Anlehnung an die rawlssche mit dem Prinzip der Menschenwürde sehr gut verbindbare Gerechtigkeitskonzeption lässt sich durch folgende zwei Grundsätze gut beschreiben, wie ein solches globales Gesundheitssystem auszusehen hätte: 411
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Das Gesundheitssystem sollte möglichst viel Entscheidungsfreiheit in der Wahl der Leistungen zulassen, die mit der Freiheit aller verträglich ist.
•
Ungleichheiten im Gesundheitswesen sind so zu gestalten, dass (a) die Existenz bedrohenden (gesundheitlichen und finanziellen) Risiken solidarisch getragen werden, (b) eine grundsätzliche Chancengleichheit bei der Versicherung von Gesundheitsgefahren besteht und (c) vernünftigerweise zu erwarten ist, dass Ungleichheiten zwischen den verschiedenen nationalen Gesundheitssystemen, aber auch im Rahmen nationaler Gesundheitssysteme dazu beitragen, Menschen besser zu stellen ohne die Situation anderer auf lange Sicht zu verschlechtern.
Ein Recht auf grundsätzlich gleiche Versorgung bedeutet hierbei nicht, dass in Notsituationen eine entsprechende Versorgung immer sichergestellt werden kann. Dies ist kein legalistischer Fehlschluss, wenn man das Prinzip der Menschenwürde als Prinzip versteht, das die Menschheit aufgrund der Negationen dieses Prinzips durch den Nationalsozialismus für sich in der Menschenrechtserklärung von 1948 gerade auch als ethische Grundeinsicht festgehalten hat. Diesen Begriff hat Benhabib in die internationale Debatte eingeführt: Vgl. Benhabib, S. (2006): Another Cosmopolitanism. Oxford: Oxford University Press. Vgl. zur Konzeption von Rawls: Rawls, J. (2001) [1971]: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 12. Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp als Fairness im Sinne fairer Chancengleichheit entwickelt.
259 Vor dem Hintergrund dieses Gerechtigkeitsprinzips besteht also ein Recht zur Absicherung existenzbedrohender Krankheiten und Behinderungen in einem egalitaristischen Sinn (a). Jede Weltbürgerin und jeder Weltbürger hat im Rahmen einer solidarischen Absicherung das gleiche Recht auf die Leistungen, die benötigt werden, um entsprechenden Krankheiten vorzubeugen bzw. diese zu behandeln. 4 1 2 In diesem Sinne kann allgemein auch von einem Anspruchsrecht auf Solidarität gesprochen werden. Damit ist eine zweifache Absicherung gemeint. Es geht darum, die entsprechenden Leistungen zur Verfügung zu stellen und zu verhindern, dass Betroffene durch notwendige Behandlungen finanziell ruiniert werden. Ein wesentliches Charakteristikum einer solchen Grundabsicherung ist ihre Unbedingtheit, d.h. sie wird unabhängig von jeglichen Faktoren gewährt. Ungleichheiten sind zulässig (Satz 2c), wenn diese Menschen besser stellen und keinem Schaden. Dies gilt z. B. bei neuen Therapiemöglichkeiten, die aus Kapazitätsgründen noch nicht für alle Versicherten zugänglich sind. Gleichzeitig ist in Anlehnung an Gewirth 413 mit entsprechenden Rechten auf eine gerechte Behandlung im Gesundheitssystem auch eine Verpflichtung des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft verbunden, welche die entsprechenden Leistungen zur Verfügung stellt. Diese Pflicht konkretisiert sich darin, entsprechend der finanziellen Möglichkeiten in dieses solidarische System einzuzahlen. Daneben korrespondiert mit solidarischen Rechten auch die Verpflichtung, angemessene gesundheitliche Vorsorgemaßnahmen zu treffen (Bsp. Untersuchungen, Nicht-Rauchen, Sport). Da es jedoch um die Sicherung zentraler eigener Güter geht, sind die Kriterien für eine Sanktionsmaßnahme bei Verletzung dieser Verpflichtung problematisch. Kindern, Jugendlichen und auch geistig behinderten Menschen steht beispielsweise auch bei einer Abweichung von diesen Pflichten die uneingeschränkte Solidarität der Gemeinschaft zu. Was die anderen Bürgerinnen und Bürger angeht, so kann auf globaler Ebene sehr schlecht eine konkrete Handlungsempfehlung ausgesprochen werden. Darum wenden wir uns zur Beantwortung der Frage, wie ein solches System konkret gestaltet werden könnte, der bundesdeutschen Situation mit ihren charakteristischen Problemen wie der spezifischen Demographie zu.
412 413
Damit ist jedoch nichts über einen möglichen Behandlungserfolg ausgesagt. Gewirth, A. (1978): Reason and Morality, Chicago: University of Chicago Press sowie Gewirth, A. (1992): Human Dignity as the Basis of Rights, in: Meyer, M. J./Parent, W A. (Hrsg.) 1992: The Constitution of Rights. Human Dignity and American Values, Ithaca: Cornell University Press und Gewirth, A. (1998): The Justificatory Argument for Human Rights, in: Sterba, J. P. (Hrsg) 1998: Ethics. The Big Questions, Oxford: Blackwell, S. 93-98.
260
2.2 Die nationale Herausforderung am Beispiel Deutschlands Die Gesundheitspolitik in Deutschland gleicht in den letzten Jahrzehnten einer „Flickschusterei" mit dem „Ergebnis falscher Rahmenbedingungen, insbesondere falsch gesetzter Anreizstrukturen für die Beteiligten, Versicherten und Leistungsanbieter".414 Darum haben sich im Auftrag der Politik die BioethikKommission des Landes Rheinland-Pfalz und der Deutsche Ethikrat der Thematik eines gerechten Gesundheitswesens angenommen und 2010 und 2011 ihre Voten vorgelegt.415 Beide kommen hierbei im Unterschied zur derzeitigen von Politikern und Funktionären oft proklamierten Verneinung einer Rationierungsund Priorisierungsnotwendigkeit416 zur Überzeugung: „Jedoch gibt es auch im Hinblick auf die Gesundheitsversorgung Grenzen kollektiver Finanzierungsbereitschaft. [...] Vor diesem Hintergrund sollten Priorisierung, Rationalisierung und Rationierung offen thematisiert werden", so der Deutsche Ethikrat (S. 94), bzw. „Uber Notwendigkeit und Kriterien einer Priorisierung und Rationierung ist in Staat und Gesellschaft eine offene Diskussion zu fuhren", so die Kommission des Landes Rheinland-Pfalz (S. 13). Beiden Voten ist aber auch gemeinsam, dass sie weder eine klare Position im Blick auf real existierende Solidaritätsschwächen des bisherigen Gesundheitssystems werfen noch eine Zukunftsperspektive entwickeln, die konkret benennbare Fehlanreize thematisiert. Dabei fordern national vor allem diese beiden Schwächen des jetzigen Systems zu einer Diskussion heraus.
2.2.1. Das strukturell nur begrenzt solidarische derzeitige Gesundheitssystem Die politische Debatte zu einer Reform des deutschen Gesundheitssystems rang um zwei Modelle, in denen jeweils der Solidargedanke im Blick auf gesundheitliche Versorgung eine wesentliche Bedeutung hatte: das Bürgerversicherungsmodell und das Gesundheitsprämienmodell, im Volksmund „Kopfpauschale" genannt. Beiden Modellen war gemeinsam, dass es ihnen darum ging, eine real existierende Einschränkung der Solidarität im bisherigen System zu beseitigen. Im bisherigen und auch noch im Jahr 2011 existierenden System nämlich werden
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415
416
Oberender, P./Zerth, J. (2010): Wachstumsmarkt Gesundheit, 3. Aufl., Stuttgart: Lucius & Lucius (UTB), 13. Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz (2010): Gesundheit und Gerechtigkeit. Ethische, soziale und rechtliche Herausforderungen. Mainz: Ohne Verlag; Deutscher Ethikrat (2011): Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen - Zur normativen Funktion ihrer Bewertung. Stellungnahme. Berlin: Ohne Verlag. So beispielsweise der CSU-Gesundheitspolitiker Singhammer bei einem Vortrag bei der C S U Freising am 3 0 . 0 3 . 2 0 1 1 (mündlich).
261 gerade die reicheren ebenso wie die nicht erwerbstätigen Bürgerinnen und Bürger aus der Solidarpflicht entlassen. Wer mehr als 45.000 Euro im Jahr verdient, hat das Recht, nicht Teil des Solidarsystems der GKV zu sein, sondern kann sich privat versichern, also eine klassische Risikoversicherung abschließen. Wer nicht erwerbstätig ist, muss ebenfalls nicht in das System einzahlen und darf die Solidarität der Erwerbstätigen, die in die GKV einzahlen, in Anspruch nehmen, ohne dass von ihm selbst im Blick auf die Gesundheitsvorsorge Solidarpflichten gefordert sind. Eine strukturelle Besonderheit des Systems besteht darüber hinaus darin, dass Beamte praktisch gezwungen sind, aus dem Solidarsystem der GKV auszuscheiden, denn sie verlieren bei einem Verbleiben in diesem System den Anspruch auf einen Arbeitgeberanteil, während sie bei einer Privatversicherung durch die sogenannte „Beihilfe" während des Dienstes auf 70 % Unterstützung durch den Arbeitgeber zählen können. Beide konkurrierenden Modelle hätten diesen „Solidaritätsentzug" der Reicheren und der Beamten beendet. Sie wären entweder direkt in der Bürgerversicherung gelandet oder hätten indirekt über die Steuer im Gesundheitsprämienmodell solidarisch für die Versorgung der Betroffenen mitgezahlt. Bei dem zweiten Modell wären zudem nicht nur Erwerbstätige, sondern alle Einkünfte betroffen gewesen, sodass dieses System an dieser Stelle sogar einen Solidaritätsvorsprung gehabt hätte. Doch obwohl zwei solidarische Modelle zur Wahl standen, entschied sich die Politik für ein „weiter so", also für das mit den genannten Solidaritätsmängeln behaftete System mit kleinen Korrekturen.417
2.2.2. Finanzielle Fehlanreize im jetzigen System Auch wenn Gesundheitsökonomen schon länger daraufhinweisen, welche Fehlanreize im bisherigen System gegeben sind 418 , finden sie damit weder in EthikKommissionen noch bei Politikern wirklich Gehör. Dabei sind die Anreize auch für einen Laien in diesen Fragen leicht einzusehen: Die Patienten haben als Kunden einen hohen Anreiz aus dem System für sich möglichst viel an Leistungen herauszuholen. Solange bei Kuren kaum Zuzahlungen nötig waren, galt es schon als naiv, wenn man sich nicht seine Kur genehmigte. Solange es praktisch kaum Kosten außer einer Praxisgebühr von einmalig 10 Euro im Quartal gibt, besteht ein hoher Anreiz, auch dann zum Arzt zu gehen,
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Es wäre natürlich eine böse Unterstellung, wenn man vermutete, dass Politiker aller Parteien als Zeitbeamte kein Interesse an einer Änderung des Systems gehabt haben, weil sie dann zu mehr eigener Solidarität verpflichtet gewesen wären. Z. B. Oberender, P./Fleischmann, J. (2002): Gesundheitspolitik in der Sozialen Marktwirtschaft. Analyse der Schwachstellen und Perspektiven einer Reform, Stuttgart: Lucius & Lucius.
262 wenn es eigentlich nicht nötig ist. Umgekehrt sorgt diese Gebühr möglicherweise bei denjenigen Erwerbstätigen, die auf jeden Euro sehen müssen dazu, dass sie auch bei bedrohlicheren Erkrankungen von einem Arztbesuch absehen. Die Arzte haben einen hohen Anreiz, möglichst viele der Leistungen zu erbringen, für die sie gut honoriert werden. Ein konkretes Beispiel für diesen Fall hat der ehemalige Präsident der Landesärztekammer Thüringen, Eggert Beleites an Hand von Fallzahlen zur Differentialdiagnose „Schwindel" konkret nachweisen können. 4 1 9 In Deutschland verdoppelte sich innerhalb eines Jahres (1995 auf 1996) die Zahl der einfachen Vestibularisprüfungen, bei denen überprüft wird, ob jemand in bestimmter Umgebung Schwindelanfälle bekommt, nach Erhöhung der Punktzahl, also der Bezahlung, um dann auf diesem hohen Niveau zu verharren. Dazu kommt: In Deutschland sehen gesetzlich versicherte Patienten nicht einmal die jeweiligen Rechnungen, sodass zumindest theoretisch (und leider wohl auch praktisch) manche Arzte Leistungen in Rechnung stellen können, die so nie erbracht wurden. Aber auch die Versicherungen haben wenig Anreize, Kosten zu dämpfen, solange im GKV-System ein Risikoausgleich diejenigen bestraft, die besonders gut zu wirtschaften verstehen, und im PKV-System die Kosten auf den Kunden abwälzt werden können, sobald er einmal in dem System ist, da ein Wechsel von einer Kasse zu einer anderen aufgrund der Gesetzgebung zur Rückstellung faktisch kaum sinnvoll ist. Auch wenn ein Arzt bei einer Standardendoskopie mehrfach den 3,5-fachen Satz abrechnet, wird dieser selbst wenn der Patient seine Kasse darum bittet, in seinem Geschäftsgebaren nicht überprüft. 4 2 0 Mit Oberender/Zerth ( 2 0 1 0 , 2 0 3 f ) lässt sich deshalb zusammenfassen:,Aufgrund dieser Rahmenbedingungen fehlt eine unmittelbare Verantwortung des Einzelnen für die Gesamtentwicklung des Systems, es entsteht ein Verantwortungsvakuum, das zu Missbrauch und Aushöhlung des sozialen Sicherungssystems fuhrt." Eine Konsequenz sind immer weiter steigende Beiträge.
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Beleites, E. (1998): Gesellschaftspolitische Überlegungen zum Thema „Schwindel", in: W. Stoll (Hrsg.), Differentialdiagnose Schwindel, Berlin: Springer. So jedenfalls ist es einem der beiden Autoren dieses Beitrags ergangen: „Er solle sich doch bitte selbst darum kümmern", lautete die abschlägige Antwort. Dies ist ein „großartiger" Vorschlag fiir einen Patienten, der den betreffenden Arzt vielleicht noch einmal benötigt, weil er ihn fachlich für ausgezeichnet hält.
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Skizze eines Lösungsmodells
3.1 Notwendigkeit einer unbedingten Grundsicherung Vor dem Hintergrund des Prinzips der Menschenwürde und dem damit verbundenen Teilhaberecht auf eine angemessene gesundheitliche Versorgung im Blick auf existenzbedrohende Krankheiten in beiden Dimension (physisches Leben, materielle Lebensgrundlage) für alle Bürger zu gewährleisten. Dies entspricht auch dem ersten Gerechtigkeitsgrundsatz, der auf die Freiheit abzielt, denn das physische Leben und die materielle Lebensgrundlagen sind notwendige Bedingungen, um Freiheitsspielräume zu gewährleisten. So verwirklicht sich die mit dem Prinzip der Menschenwürde verbundene Achtung vor Leben und Wohlergehen der Betroffen, so wird Freiheit ermöglicht und so realisiert sich Solidarität. Ungleichheiten bzw. das Nichtleisten dieser Versorgung sind nur dann zulässig, wenn in bestimmten Situationen nur einige Menschen gerettet werden können. Wenn zwei Patienten mit einem Schädelhirntrauma eine Behandlung benötigen, aber nur ein Operationsteam vor Ort ist, dann ist die Menschenwürde des Nichtbehandelten nicht verletzt: Die mit der Menschenwürde verbundene prinzipielle Gleichheit der Menschen bedeutet nicht, lieber keinen als einen zu retten. Dies kann eine Analogie verdeutlichen. Auch wenn wir im Fall eines Schiffsunglückes nicht alle Menschen in Not retten können, wäre es eine unterlassene Hilfeleistung, wenn wir nicht einige zu retten versuchten. Eine derartige Grundsicherung ist solidarisch in einem gemeinsamen gesetzlichen Krankenversicherungssystem von allen Bürgerinnen und Bürgern zu tragen. Die Adäquatheit der abgerechneten Behandlungen könnte durch Transparenz mit einer Auflistung der Leistungen auch für die Betroffenen bzw. deren Angehörigen abgesichert werden.
3.2 Weitere Leistungen Für alle weiteren, über die existenzbedrohenden Krankheiten hinausgehenden Leistungen sollte in Anlehnung an das erste rawlssche Prinzip der Freiheit und an Oberender/Zerth (2010, 207) die Eigenverantwortung der Einzelnen in ihrer Wahl- und Entscheidungsfreiheit betont werden. Jeder sollte frei wählen können, welche Leistungen er bei wem zusätzlich versichern möchte. Allerdings sollten einkommensschwache oder durch besondere Risiken schlechter gestellte Bürgerinnen und Bürger durch ein steuerfinanziertes Prämienmodell in Analogie zum Wohngeld die Möglichkeit erhalten, sich ebenfalls weitere Leistungen einkaufen zu können. Damit würden auch Wahlleistungen in gewissem Umfang, also bis zu einer bestimmten Summe, solidarisch durch die leistungsstärkeren Steuerzahler
264 mitfinanziert. Durch einen echten Wettbewerb der Leistungsanbieter bei diesen Wahlleistungen könnte sowohl die Qualität des Angebots verbessert werden als auch die Preise „konkurrenzfähig" werden. 4 2 1
421
Wollte man auch die globale Perspektive nicht vergessen, so wäre es denkbar, dass der deutsche Steuerzahler eine medizinische Entwicklungshilfe finanziert, die praktisch in einer Art Patenschaft einem oder mehreren Ländern zugute kommt, die sich dadurch ein besseres und leistungsfähigeres Gesundheitssystem aufbauen können.
Jürgen Zerth
Zweiseitige Märkte und Gesundheitswirtschaft: Übertragbarkeit der Theorie und potenzielle Implikationen fiir Wettbewerb und Regulierung 1
Problemstellung und Vorgehensweise
Die Diskussion inwiefern Gesundheitsmärkte als Wettbewerbsmärkte organisiert sind, durchzieht die akademische Landschaft schon seit langer Zeit. Dabei konzentriert sich die Auseinandersetzung häufig an den typischen allokativen Ansätzen der Marktversagensliteratur, etwa asymmetrische Informationsverteilung oder Externalitäten einerseits oder am distributiven Problem der Zugangsgerechtigkeit zu Gesundheitsgütern andererseits (vgl. Pauly 1988 oder Gaynor et al. 2000). Insbesondere Autoren, die an der Lehrbuch-Theorie der zweitbesten Lösung orientiert sind, nach der ein verzerrter Markt durch eine zweite Marktunregelmäßigkeit wieder in ein (zweit-) bestes Gleichgewicht gebracht wird, konstatieren fiir den Gesundheitsmarkt einen kontinuierlichen Regulierungsbedarf (vgl. Gaynor et al. 2000). Dies wird insbesondere damit begründet, dass in einem typischen zweitbesten Markt das Gleichgewicht von Grenznutzen und Grenzkosten nicht gegeben ist, somit der Preis oberhalb der Grenzkosten liegen würde. Dieser monopolistische Spielraum würde aber gerade im Gesundheitsmarkt durch das Vorhandensein einer Versicherung noch vergrößert, wenn mangelnde Preissensibilität zu einem Überkonsum infolge von Moral Hazard fuhren würde. Gleichwohl wird in der Literatur festgehalten, dass die fehlende Internalisierungsfähigkeit des Versicherungsmarktes nicht von der sozialpolitischen Vorgabe der Zugangsgerechtigkeit zu trennen ist, die insbesondere dafür sorgt, dass nicht der individualisierte risikoadjustierte Preis steuernd wirkt, sondern nur eine Durchschnittsgröße.422 So wird im Gleichgewicht die Prämie die Durchschnittskosten der Gesundheitskosten einer definierten Versicherungspopulation widerspiegeln, die somit abhängig ist von der Risikoverteilung innerhalb dieser Versichertenpopulation aber auch von der Risikoverteilung in den anderen Versichertenpopulationen.
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Exemplarisch weisen in diesem Zusammenhang Bardey und Röchet 28.01.2009, S. 2 darauf hin.
266 Es können aber Formen der Externalität innerhalb und zwischen den Versichertenpopulationen vorliegen, die insbesondere auch auf die Wahl der Leistungserbringer ausstrahlen, angenommen die Versicherungen können direkt mit den Leistungserbringern kontrahieren. Vor diesem Hintergrund stellen etwa Bardey und Röchet (2009)oder auch Howell (March 2006) die Frage, ob für das Gesundheitswesen auch die Prinzipien zweiseitiger Märkte gelten, die in jüngerer Zeit in verschiedenen Wettbewerbsbranchen an Bedeutung gewonnen haben (vgl. etwa. Röchet und Tirole (2003) oder auch Rysman (2009)). Kurz gefasst wird in der Literatur von zweiseitigen Märkten gesprochen, wenn zwei distinkte Nachfragergruppen in zwei (oder mehr) Märkten vorhanden sind, zwischen denen Externalitäten bestehen, die nicht durch direkte Beziehungen hinreichend internalisierbar sind. Ob diese Ausprägung auch auf das Gesundheitswesen, bei Beachtung einer solidarischen Regelversorgung, übertragen werden kann, soll im Weiteren diskutiert werden. Dabei erfolgt zunächst eine kurze Einführung in die Ökonomie zweiseitiger Märkte, um dann Analogien im Gesundheitswesen zu untersuchen. Anschließend gilt es, potenzielle Wettbewerbseffekte, vorausgesetzt es gilt eine Analogie zweiseitiger Märkte, zu untersuchen.
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Gesundheitswirtschaft: ein zweitseitiger Markt?
2.1 Zweiseitige Märkte: ein Abgrenzungsversuch Der Ansatzpunkt zweiseitiger Märkte liegt, wie oben festgehalten, in einem unterstellten beidseitigen Zusammenhang zwischen zwei distinkten Marktseiten, der durch Externalitäten begründet ist. Die Internalisierungsproblematik wird jedoch in differenzierter Weise problematisiert. Evans und Schmalensee sehen beispielsweise einen zweiseitigen Markt dann als gegeben an, wenn Externalitäten bestehen, die infolge zu hoher Transaktionskosten nicht durch einen direkte (Markt)Beziehung internalisierbar sind, eine Internalisierung jedoch durch eine gemeinsame Plattform möglich ist (vgl. Evans, Schmalensee September 2005). Röchet und Tirole heben insbesondere die Bedeutung der Preisstruktur in beiden Märkten hervor, indem sie darauf abstellen, dass eine Plattform die Externalitäten kanalisieren kann. In der Folge wird einerseits das Marktvolumen des einen Marktes durch die Nachfrage des anderen Marktes beeinflusst und andererseits kann die eine Marktseite einen Preisaufschlag erheben, weil genau dieser Aufschlag und die notwendige Zahlungsbereitschaft dafür durch das Vorhandensein des anderen Marktes ermöglicht wird (vgl. Röchet und Tirole 2003). Diese Annahme
267 rekurriert auf die „Preis-gleich-Grenzkostenregel" bei polypolistischen Märkten, die im Falle zweiseitiger Märkte so nicht mehr gelten könne. 423 Gemäß dieser Annahme ist der Preis einer Nutzergruppe - angenommen sei der Fall, zwei Nutzergruppen beeinflussen sich gegenseitig über positive externe Effekte - davon bestimmt, wie das Vorhandensein einer Gruppe die andere beeinflusst (vgl. etwa. Röchet, Tirole 2003). 4 2 4 Ein Beispiel bei Armstrong stellt etwa ein Nachtklub dar. Falls die anwesende Nutzergruppe I (Männer) stärker von der Anwesenheit der Nutzergruppe II (Frauen) profitiert, wird es eine rationale Strategie für den Clubbetreiber sein, den Eintrittspreis der Frauen niedriger zu setzen als den der Männer (2006, S. 669). Der Vergleich der Abgrenzungsversuche von Evans und Schmalensee einerseits und Tirole und Röchet andererseits zeigt sowohl den Unterschied in der Rolle der verknüpfenden Plattform als auch in der Interpretation des relevanten indirekten Netzwerkeffektes auf. Allgemein gilt, dass der Wert eines Netzwerkes grundsätzlich davon abhängig ist, wie viele Individuen in ihm zusammengeschlossen sind. Als direkter Netzwerkeffekt lässt sich der Verstärkungseffekt formulieren, der aus Sicht des Einzelnen den Nutzen des Netzes erhöht, je mehr Teilnehmer im Netz integriert sind. Der indirekte Netzwerkeffekt beschreibt hingegen die Möglichkeit der gemeinsamen Nutzung von Techniken im Sinne eines Kompatibilitätsvorteils (vgl. etwa Economides 1996 oder Katz und Shapiro 1985). Direkte Netzwerkeffekte sind also eine Ausprägung von positiven Externalitäten. Ein indirekter Netzwerkeffekt liegt vor, wenn der Nutzen eines beliebigen Netznutzers zwar nicht direkt von der Anzahl der übrigen Konsumenten abhängig ist, es aber um so mehr komplementäre Produkte gibt, je stärker das Gut genutzt wird, da dadurch beispielsweise komplementäre Dienstleistungen oder Serviceangebote in größerer Zahl zur Verfugung stehen. Beide Netzwerkeffekte vereinen aber positve externe Effekte. 425 Gleichwohl sind diese Standarddefinitionen auf die Ökonomie einseitiger Märkte ausgerichtet. Beim zweiseitigen Markt beispielsweise in der Logik von Röchet und Tirole (2003) kann diese Definition nicht greifen. M. a. W. lässt sich der zweiseitige Markt im Sinne von Röchet und Tirole (2006) auch so
423
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425
Eine Ähnlichkeit zur Kostenteilungsregel bei Kuppelprodukten kann hergestellt werden, vgl. dazu exemplarisch Fehl und Oberender 2004, S. 301 ff. Ein Beispiel in der Literatur bei Armstrong stellt ein Nachtklub dar. Falls die anwesende Nutzergruppe I (Männer) stärker von der Anwesenheit der Nutzergruppe II (Frauen) profitiert, wird es eine rationale Strategie sein, den Eintrittspreis der Frauen niedriger zu setzen als den der Männer 2006, S. 669. Eine idealisierte Nutzenfunktion wäre im Sinne von Matutes und Regibeau (1988) beispielsweise mit Ui = ai + bjNc Der Parameter ai bezeichnet den isolierten Nutzen ohne Netzwerkeffekt, der Term bjNe formiert mit Ne die Größe des Netzwerkes und mit bt wird die Wertschätzung des Netzwerkeffektes (indirekter Netzwerkeffekt) gemessen.
268 beschreiben, dass die Nachfrage des Gutes A neben dem Eigenpreis auch von der nachgefragten Menge des anderen Gutes B abhängig ist und der Zusammenhang auch in umgekehrter Weise gilt: QA = DA\PA>
QFIL'
(h = DB\pB, QJ,
F-l F-2
In dieser Formulierung liegt ein unmittelbarer Unterschied zur traditionellen Definition eines Komplementär- oder Substitutionsgutes vor. Die Folge der Nachfragedefinition zweiseitiger Märkte ist, dass nicht nur die partielle Eigenpreiselastizität von Bedeutung ist, sondern die totale Preiselastizität. Somit würde im Sinne der Gewinnmaxierungsbedingung die „Preis-gleich-Grenzkostenregel" noch um zwei Elemente korrigiert werden. Einerseits es einen zusätzlichen Grenzkostenfaktor zu integrieren, der aus den Transaktionskosten der Plattformkoordination herrührt, andererseits steigt der Grenzerlös durch jeden zusätzlichen Nachfrager auf der anderen Marktseite an. Ein Beispiel im Kontext des traditionellen Lerner-Index von Monopolmacht soll dies verdeutlichen (vgl. etwa Weyl 2010): In erweiterter Form korrespondiert der Lerner-Index rekursiv mit der Preiselastizität der Nachfrage am Markt. Würde beispielsweise eine Wettbewerbsbehörde eine Gewinnmarge über Grenzkosten eines Wettbewerbers in einem definierten Markt A von etwa 25 % feststellen, würde sie auf eine relativ hohe Preiselastizität der Nachfrage schließen und dabei auch u. U. schlussfolgern, dass ausreichend Substitutionsangebote vorliegen. Liegt jedoch ein zweiseitiger Markt vor, etwa zwischen einem Zeitungs- und einem Werbemarkt, kann diese Gewinnmarge auch Ausdruck einer tendenziell unelastischen Marktnachfrage sein, wenn infolge einer Preiserhöhung des korrespondierenden Marktes B und einem Nachfragerückgang dort auch ein Nachfragerückgang im betrachteten Markt A zu erwarten ist. Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten, dass als Grundcharakteristika für die ökonomische Einordnung zweiseitiger Märkte neben der Transaktionskosten internalisierenden Plattform noch der Aspekt der gegenseitigen Nutzeninterdependenz eine wesentliche Rolle spielt. Diese Interdependenz wirkt sich beispielsweise als Veränderung der Nachfrage im Markt A bei Veränderung der Nachfrage im Markt B aus und findet demzufolge in der Antizipation dieser Effekte bei der Preisbildung im jeden der beiden Märkte Berücksichtigung.
269
2.2 Analogie zum Gesundheitsmarkt? Die Übertragung der Charakteristika zweiseitiger Märkte auf den Gesundheitskontext muss aber die Besonderheit der Gesundheitssysteme berücksichtigen, die durch eine Vielzahl von Prinzipal-Agenten-Beziehungen gekennzeichnet sind (vgl. Pauly 1988). In dieser Hinsicht spielt vor allem die Krankenversicherung eine wichtige Rolle. So lässt sich festhalten, dass die Annahme, dass gemäß der Logik zweiseitiger Märkte auch im Gesundheitswesen distinkte Marktkonstellationen etwa zwischen Versicherungs- und Versorgungsmarkt vorliegen, eher nicht gilt, da es vielzählige Interdependenzen zwischen Versorgungs-, Versicherungs- und Behandlungsmärkten gibt, die in unterschiedlicher Weise miteinander verknüpft sind. Somit ist die damit zusammenhängende Internalisierung entsprechender Externalitäten häufig Ausdruck der institutionellen Grundentscheidung eines Gesundheitssystems. Beispielsweise liegen infolge der Verantwortungsübertragung zwischen Versicherung und Versorgungsunternehmen in der Garantie des Versicherungsversprechens und somit in der Gestaltung der Leistungsgestaltung grundsätzlich unmittelbare Verknüpfungen zwischen Versicherungs- und Versorgungsseite vor, die in der Extremform einer Health Maintenance Organisation (HMO) letztendlich in einen Versorgungsmarkt einmünden. Gleichwohl versucht Howell (2006, S. 7 f f . ) in Anlehnung an Danzon (1997) die Idee eines zweiseitigen Marktes im versicherungsbasierten Gesundheitswesen an den potenziell unterschiedlichen Rollen eines Versicherten und eines Patienten aufzuhängen. Auch wenn beide Personen in der Regel identisch sind, bzw. bei Annahme einer allgemeinen Versicherungspflicht, die Patientenmenge eine eindeutige Teilmenge der Versichertenpopulation ist, stellt doch die unterschiedliche Rationalität in der Entscheidung im Gesundheitsmarkt ein typisches gesundheitsökonomisches Problem dar. So zeichnet Howell letztendlich ein typisches Bild einer sozialen Dilemmasituation, das durch die Verknüpfung unterschiedlicher Anspruchsbeziehungen gekennzeichnet ist, die im Gesundheitswesen durch die Sachwalterrolle einer Versicherung ausgeglichen werden müssen. Die Charakterisierung der unterschiedlichen Rationalitäten von Versicherten und Patienten, die Gegenstand vielzähliger Auseinandersetzungen in der Literatur ist, hilft dieses Problem zu hinterfragen, aber auch den Unterschied zur oben genannten Theorie zweiseitiger Märkte herauszustellen: Wohingegen der Versicherte gegen Zahlung einer Prämie ein (abstraktes) Versicherungssprechen erwartet und institutionell am Versicherungsmarkt tätig ist, wird der Patient, auch in seiner Rolle als Versicherter, auf dem Behandlungsmarkt abstrakt Heilung und damit korrespondierend eine konkrete Gesundheitsleis-
270 tung nachfragen. Wie aus der Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Rationalitätenfalle bekannt ist, gilt es zu berücksichtigen, dass der Zusammenhang zwischen der Definition der Regelversorgung (Claim) und der Rationalisierungslösung keine zufällige Entscheidung ist, sondern Ausdruck der grundlegenden Ordnungsentscheidung eines Gesundheitswesens (vgl. etwa auch Oberender und Zerth 2010). Ein vereinfachtes Gedankenmodell mag als Beispiel hierfür dienen: Es wird ein Gesundheitssystem unterstellt, das eine kollektive Versicherung auf Gegenseitigkeit für alle Bürger zur Pflicht erhebt. Die Versicherungen selbst stehen jedoch zueinander im Wettbewerb. Für das Versicherungssystem soll es nur zwei elementare Regeln geben: Einerseits zahlen alle potenzielle Versicherten zu Beginn eines Jahres einen festen Beitrag N, völlig unabhängig von den konkreten individuellen Leistungsinanspruchnahmen. Kostensteigerungen werden daher auf alle Beteiligten nach Köpfen verteilt. Andererseits bekommen die Leistungserbringer pro Einzelleistung ein Honorar P. Das Anreizdilemma lässt sich wie folgt versinnbildlichen: 426 /i5 -ö c U C u c3w J-S •SÄ 2
Verhalten des Arztes
V
r*
Angemessen
Unnötige Leistung
Angemessen
3,3
1,4
Unnötige Leistung
4,1
2,2
Abbildung 28: Das Problem der Kooperation im Gefangenendilemma Quelle: Eigene Darstellung.
Die in der Matrix ersichtlichen dominanten Strategien zuungunsten einer angemessenen Leistungsinanspruchnahme resultieren jedoch aus den institutionellen Restriktionen des Gesundheitssystems. Aus Sicht des Patienten (Zeilenspieler) ergäbe sich folgende dominante Strategie. Er wird völlig unabhängig vom Arztverhalten im Falle der Leistungsnotwendigkeit seine maximale Leistung einfordern. Da die Zahlung der Prämie am Jahresende erfolgt und diese an ein abstraktes Versicherungssystem geleistet wird, stehen die konkrete Leistungsinanspruchnahme und die vorab gezahlte Prämie nur noch in einen sehr losen Zusammenhang. Gleiches gilt für den Arzt. Er wird soweit es möglich ist, möglichst viele Leistungen abrechnen.
426 Ygj e j n e ähnliche Versinnbildlichung bei Oberender und Zerth 2008. Aus Sicht des Patienten stellt sich die Entscheidungslogik beispielsweise wie folgt dar: Unabhängig vom Verhalten des Arztes dominiert die Strategie „unnötige Leistung" gemäß der formulierten Auszahlungswerte.
271 Für beide gilt der triviale Zusammenhang, dass Erträge individualisiert und Kosten sozialisiert werden können. Jedenfalls in der kurzfristigen Entscheidungssituation werden beide, angenommen die anderen Beteiligten verhalten sich regelkonform, von ihrer Abweichungshandlung profitieren. Wenn nun der Zusammenhang zwischen Leistungsinanspruchnahme und tatsächliche Kostenbelastung (am Ende wird es ja anteilig verteilt) sehr stark gelöst ist, besteht die Gefahr des bekannten Verantwortungsvakuums, das sich mit Begriffen des Moral-Hazard-Verhaltens oder der angebotsinduzierten Nachfrage umreißen lässt (vgl. etwa Breyer et al. 2005). Gleichwohl sind in der Realität vielfaltige Formen der Verhaltenssteuerung zu finden, die versuchen dieses Verhalten aufzulösen, sei es über Honorierungsregeln (z. B. Fallpauschalen) oder Selbstbeteiligungen. Gilt nun daher eine Analogie zu einem zweiseitigen Markü Es liegen in der beschriebenen Problematik zunächst wirklich zwei unterschiedliche Marktsituationen vor und auch das Nachfrageverhalten — völlig unabhängig von der möglichen Personenidentität der Nachfrager - ist als distinkt im Sinne der Logik von Evans und Schmalensee zu interpretieren. Jedoch gilt auch, dass der Aspekt der nicht hinreichend internalisierbaren Transaktionsbeziehung zwischen Versicherungs- und Behandlungsmarkt nicht zwingend unterstellt werden kann. Einerseits gewährleistet die Versicherungsumgebung, wenn eine Versicherung beispielsweise sowohl auf dem Versicherungs- als auch auf den Leistungsmarkt direkt kontrahieren darf, eine Transaktionsplattform. Andererseits würde mit jeder Verbesserung der institutionellen Rahmenbedingungen des oben skizzierten Rationalisierungsphänomens die Internalisierung der induzierten Effekte ermöglicht, d. h. mit unterschiedlichen Formen der Risikoteilung zwischen Versicherung und Leistungserbringer sowie Versicherten und Patienten eine veränderte Internalisierungslösung erreicht. Gerade risikoorientierte Prämien einerseits und Selbstbeteiligungsregelungen andererseits helfen etwa Versicherten- und Patientenrolle wieder zusammenzufuhren. Vor diesem Hintergrund könnte die Versicherung zwar als Transaktionsplattform interpretiert werden, die eine Internalisierung gewährleistet, andererseits bestehen beide Märkte in der Regel nicht ohne die Versicherung allein, da gerade der Versicherungsmarkt letztendlich im Kontext zwischen Versicherung und Versicherten erst definiert werden kann. Vor diesem Hintergrund greift die Analogie zweiseitiger Märkte zu kurz und die Übertragung dieser Idee auf die Rollenidentitäten von Versicherten und Patienten gibt nur einen etwas anderen Zugang zur althergebrachten Diskussion der Rationalitätenfalle.427 427
Gerade diese Beschreibung kennzeichnet später auch das deutsche Gesundheitssystem, das einerseits durch die sukzessive Auflösung kollektiwertraglicher Strukturen sich tendenziell zu einem Wettbewerbssystem auf dem Versorgungsmarkt entwickelt, andererseits im Ver-
272 Gleichwohl fuhrt die Idee der Versicherung als Transaktionsplattform zur Frage, ob die Analogie zweiseitiger Märkte greifen könnte, wenn sich etwa relevante indirekte Netzwerkeffekte zwischen Versicherungs- und Versorgungsmarkt feststellen ließen und beispielsweise eine Marktseite durch Mehrnachfrage der anderen Marktseite profitieren würde. An dieser Überwälzungsproblematik setzen nun Bardet und Röchet (2009) an und versuchen die Bedeutung des Interaktionseffekts im Wettbewerb zwischen Preferred Provider Organization (PPO) und Health Maintenance Organization (HMO) in einem einfachen Oligopolmodell zu illustrieren. Prima facie würde, so die beiden Autoren, bei sonst gleichen Leistungsmerkmalen zu erwarten sein, dass Versichertengruppen mit einem höheren Risiko eine größere Präferenz haben, das Angebot einer Preferred Provider Organization nachzufragen als das einer HMO, da bei letzterer das Leistungsangebot restriktiver ist, dabei aber auch eine niedrigere Prämie möglich wird. In diesem Kontext sind höhere Prämien bei der PPO zu erwarten und somit vordergründig ein Wettbewerbsnachteil. Dieser WettbewerbsefFekt ließe sich als erlöswirksame adverse Selektion zuungunsten der PPO interpretieren. Wie aber Bardey und Röchet zeigen, muss dieser Effekt adverser Selektion mit dem Nachfrageeffekt verglichen werden, der daraus resultiert, dass höhere Risiken eine größere Angebotsdiversifikation nachfragen. Liegt nun eine schiefe Risikoverteilung in der Gesamtversicherungsverteilung vor, die eine hohe Versichertendichte bei höheren Risiken zulässt, könnte die PPO über diesen Nachfrageeffekt den negativen Effekt höherer Prämien bei der geringeren Versichertendichte mit niedrigerem Risiko ausgleichen. M. a. W. ist die Zahlungsbereitschaft sowie die Zahl der Versicherten mit höheren Risiko für die PPO relevant und so ist es nicht zwangsläufig zu erwarten, dass eine PPO gegenüber einer HMO einen Wettbewerbsnachteil im Selektiwertragswettbewerb haben muss. Das Ergebnis ist aber aus dem Licht der traditionellen Theorie zweiseitiger Märkte uneindeutig. Einerseits wird der Nettoeffekt zwischen Nachfrageeffekt und Effekt der adversen Selektion stark von der Marktsituation getrieben, d. h. in einem Dyopol mit annähernd gleicher Marktmacht lässt sich dieser Effekt wahrscheinlicher zeigen als bei veränderter Marktstruktur. Andererseits zeigt das Beispiel der von Röchet und Bardey beschriebenen Interaktionseffekte in weiten Teilen nur die Bedeutung eines heterogenen Wettbewerbsmodells, wo ein vermeintlicher Preisnachteil durch andere Wettbewerbsparameter zumindest teilweise ausgeglisicherungsmarkt sowohl durch die Art der Beitragssatzerhebung - einkommensabhängige Beiträge bei beitragsunabhängigen Leistungen - als auch durch den einheitlichen Beitragssatz im Gesundheitsfonds sich tendenziell von einer idealtypischen Wettbewerbsumgebung entfernt.
273 chen werden kann. Gleichwohl gilt es festzuhalten, dass das Zusammenwirken zwischen der Krankenversicherung und den Leistungserbringern durchaus eine Interaktion zwischen unterschiedlichen Märkten zur Folge hat, dies aber stärker durch die direkte Risikointernalisierung und die Marktstruktur auf beiden Märkten gekennzeichnet ist als durch das Vorhandensein einer Versicherung als Plattform. Welche Implikationen können nun aus wettbewerbstheoretischer Sicht getroffen werden?
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Wettbewerbstheoretische Implikationen
Die Theorie zweiseitiger Märkte hat einerseits den Gedanken der koordinierenden Plattform problematisiert, die zur Internalisierung wechselseitiger externer Effekte dient, andererseits aber auch die Möglichkeit eines Abweichens von der „Preis-gleich-Grenzkostenregel" dokumentiert. Beide Aspekte lassen sich gerade im Modell des versichertenbasierten Gesundheitswesen nicht analog übertragen. Bei einem Modell eines versicherungszentrierten Gesundheitswesens wird die Krankenversicherung in der Regel nicht nur als Kostenerstatter tätig, sondern übernimmt als Agent des Prinzipals Patient die Aufgabe, qualifizierte und preiswerte Leistungserbringer auszuwählen. Insofern ist sie nicht nur Plattform sondern agiert als Handelnder. Sie wird immer mehr zum Marktakteur sowohl im Versicherten- als auch im Versorgungsmarkt desto mehr sie direkt mit den Leistungserbringern Verträge schließt und risikoorientiert Prämien kontrahiert. Trotzdem spielt eine Veränderung der Versichertenpopulation durchaus auch eine Rolle für die Frage der Kontrakte auf dem Markt für nachgefragte Gesundheitsleistungen, d. h. ein Interaktionseffekt ist gegeben. Jedoch würde eine Versicherung im idealtypischen Selektivmodell die Auswahlentscheidung im Lichte der Risikoübernahme auf dem Versichertenmarkt und der Möglichkeit der angebotsseitigen Einflussnahme auf die Morbiditätsstruktur treffen. M. a. W. wird ein Anstieg der Nachfrage auf dem Markt fiir Gesundheitsleistungen bei Annahme eines vollständigen Selektiwertrages den Kostenträger veranlassen, höhere morbiditätsbedingte Kosten entweder durch eine Anpassung der Risikoprämie am Versichertenmarkt und/oder durch eine Anpassung der Leistungsbedingungen auf dem Versorgungsmarkt auszugleichen. Beide Strategien sind unmittelbar abhängig von der Marktsituation auf Versicherungs- und Versorgungsmarkt, zeigen aber nur die Aufteilungsnotwendigkeit des Morbiditätsrisikos auf die beteiligten Marktseiten (vgl. Oberender und Zerth 2010). Idealtypisch würde eine Internalisierung des Morbiditätsrisikos zwischen den Vertragsparteien möglich sein. Wenn jedoch beispielsweise auf dem Versichertenmarkt
274 die Risikoverteilung nicht perfekt über die Prämie internalisiert werden kann, da nur eine Durchschnittsprämie gilt, wird die Notwendigkeit des Ausgleichs des Versicherungsrisikos entweder über eine Vergrößerung der Versichertenpopulation versucht oder ein Teil des Morbiditätsrisikos wird auf die Leistungserbringer überwälzt. Wenn durch dezentrale Versorgungsarrangements beispielsweise zwischen Krankenversicherungen und Leistungserbringern Spezialisierungsvorteile entstehen, die gleichzeitig aber die regionalen Wahlmöglichkeiten für Versicherte reduzieren, steht dieser statischen Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten ein perspektivischer Wohlfahrtsgewinn in dynamischer Hinsicht gegenüber, falls es gelingt, durch regionale und dezentrale Modelle neue, verbesserte Versorgungsstrukturen zu befördern. Voraussetzung ist jedoch, dass der Wettbewerbsprozess zwischen den Krankenversicherungen und den Leistungserbringern durch eine einheitliche Wettbewerbsordnung bestimmt ist (Gaynor und Vogt 2000). Die Versicherungen können in einem derartigen Wettbewerb mit dem Versicherungsangebot ein bestimmtes Leistungsangebot koppeln und dadurch versuchen, ihre Aktionsparameter im Wettbewerb zwischen den Versicherungen zu erweitern. Die Problematik, die wettbewerbstheoretisch aus der Verteilung des Versicherungsrisikos herrührt ist aber in erster Linie Ausdruck der Marktmachtverteilung. Bei sehr starker Marktmacht einer Krankenversicherung in einer Region etwa bliebe einem Leistungserbringer nur ein geringer bis gar kein Spielraum, mit einer Veränderung des Leistungsangebotes auf eine Reduktion der Honorierung zu reagieren. Gleichwohl gilt es festzuhalten, dass ein derartiges Ergebnis von der Durchsetzung einer regionalen Monopsonmacht abhängig wäre, eine Bedingung, die in erster Linie von den Wettbewerbsbedingungen im Versicherungswettbewerb abhängig sind. Je stärker nämlich zwischen den Kostenträgern ein Wettbewerb um Versicherte zu konstatieren ist, desto geringer dürfte die Durchsetzungsfähigkeit regionaler Nachfragemacht sein. Die gilt insbesondere, wenn Patienten bereit sind, Versorgungsangebote auch überregional zu substituieren. Fortentwicklungen in der Medizintechnik, etwa durch Telemedizin erleichtern noch diese Substitutionsmöglichkeit. Vor diesem Hintergrund sind insbesondere Integrationsentwicklungen in der Versorgung interessant und damit einhergehende Externalitäten zwischen Versicherungs- und Versorgungsmarkt. Wettbewerbstheoretisch viel bedeutender scheint jedoch die Analyse von Oligopolen im Gesundheitswesen und Verhandlungskonstellationen zwischen den unterschiedlichen Märkten. Somit lässt sich schlussfolgern, dass die Idee zweiseitiger Märkte in der ursprünglichen Begründung sicherlich nicht direkt auf ein wettbewerbliches Gesundheitswesen übertragbar ist. Jedoch kann auch dieser Theoriestrang zur Verdeutli-
275 chung der Interaktionswirkungen zwischen den verschiedenen Teilmärkten eines Gesundheitssystems dienen. Gerade für die Auseinandersetzung mit einer Wettbewerbsordnung fur ein reguliertes Gesundheitswesen sind die Ansatzpunkte zur analytischen Berücksichtigung der Interdependenzen zwischen Versicherungs-, Versorgungs- und Betreuungsvertrag hilfreich.
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Hanno Beck
Zur Psychologie des Gesundheitswesens: Können die Erkenntnisse der Behavioral Economic« die Effizienz des Gesundheitssystems verbessern? 1
Einleitung
Eines der wichtigsten und schwierigsten Felder der modernen Wirtschaftspolitik ist das Gesundheitswesen: Weltweit steigen die Ausgaben für Gesundheit und nehmen einen immer größeren Anteil am Sozialbudgets ein. Zugleich sorgen die Besonderheiten dieses Marktes — asymmetrische Informationen, Entscheidung unter Unsicherheit, lebenswichtige Entscheidungen, Moral Hazard und adverse Selektion - dafür, dass die Liste der gescheiterten Gesundheitsreformen von Jahr zu Jahr länger wird (ausfuhrlich dazu: Oberender, Zerth, Hebborn 2006). Asymmetrische und unvollkommene Informationen spielen im Gesundheitssektor eine wichtige Rolle, das macht ihn interessant für die Disziplin der Behavioral Economics, welche die Ideen der Ökonomie mit den Erkenntnissen der Psychologie anreichert. Die Behavioral Economics beschäftigen sich mit Situationen mit unvollkommener Information, die in einem emotionalen Kontext getroffen werden, mit drängenden Entscheidungen und Agenten oder Experten, auf die man vertrauen muss. (für einen Überblick vgl. Rabin 1998 oder Beck 2009) - allesamt Situationen, die man im Gesundheitswesen vorfindet. Mittlerweile sind die Erkenntnisse der Behavioral Economics in viele verschiedene Zweige der ökonomischen Theorie gelangt, alleine im Bereich der Gesundheitsökonomie ist die Literaturlage bisher eher übersichtlich (bspw. Frank 2004 oder Halpern 2005). Dieser Beitrag soll Diskussionsanstöße geben, indem er fragt, wo die Theorien der Behavioral Economics für das deutsche Gesundheitswesen relevant sein könnten. Dazu werden im nächsten Abschnitt zuerst einige grundlegenden Ideen der Behavioral Economics dargestellt, die für den weiteren Gang der Untersuchung relevant sind. Im Anschluss daran sollen diese Ideen auf die Angebots- und die Nachfrageseite des Gesundheitsmarktes angewendet werden. Aus diesen Überlegungen sollen einige politische Implikationen abgeleitet werden, die abschließend einer kritischen Überprüfung unterzogen werden.
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Theoretische Grundlagen
Eine wichtige Idee der Behavioral Economics sind die sogenannten Heuristiken: Menschen greifen bei Entscheidungen unter Unsicherheit nicht auf komplizierte Problemlösungen zurück, sondern verwenden vereinfachende Regeln. Heuristiken sind mentale Abkürzungen oder Daumenregeln, welche die komplizierten Berechnungen analytischer Modelle ersetzen. In der Literatur werden verschiedene Heuristiken diskutiert (vgl. dazu Tversky/Kahneman 1974; Starmer 2000), beispielsweise der sogenannte confirmation bias (Nickerson 1998). Darunter versteht man die Neigung von Menschen, Fakten im Sinne bereits vorgefasster Meinungen zu suchen und zu interpretieren. Hat man eine Meinung gefasst, so rückt die Verteidigung dieser Meinung in den Mittelpunkt der Bemühungen, weitere Informationen werden im Sinne der bereits gefassten Meinung interpretiert und notfalls umgedeutet. Vermutlich stammt dieses Verhalten aus dem Wunsch der Menschen, konsistent zu sein, also Widersprüche zwischen dem eigenen Handeln und der Wahrnehmung der äußeren Umstände zu vermeiden. Eine weitere wichtige Heuristik ist die Verfügbarkeitsheuristik: Nach dieser Idee entscheidet die mentale Verfügbarkeit von Beispielen über unsere Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten oder Häufigkeiten. Je leichter wir Beispiele für ein Ereignis abrufen können, umso höher schätzen wir die Wahrscheinlichkeit fiir dieses Ereignis ein. Beispielsweise hängt unsere Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, dass jemand einen Herzanfall erleidet, davon ab, wie viele Beispiele wir aus unseren eigenen Erfahrungshorizont kennen. Eine weitere Beobachtung der Behavioral Economics ist der sogenannte Uberoptimismus (vgl. Lichtenstein, Fischhoff, Phillips 1982). Darunter versteht man das Phänomen, dass Menschen sich selbst und ihre Fähigkeiten überschätzen, sie sind zudem bezüglich ihrer Erwartungen für die eigene Zukunft zu optimistisch (Weinstein 1980). Menschen schreiben Erfolge ihren eigenen Fähigkeiten zu, während sie Misserfolge auf äußere Umstände, beispielsweise auf den Zufall, zurückfuhren (Langer, Roth 1975), und sie überschätzen den Einfluss ihres Handelns auf Ereignisse (Langer, Roth 1975; Langer 1982). Eine weitere Beobachtung der Psychologie ist der sogenannte Status-quo-Bias, nach dem Menschen dazu tendieren, sich gegen eine Veränderung und für den aktuellen Zustand zu entscheiden (vgl. Samuelson, Zeckhauser 1988). Menschen bevorzugen den Status quo, sie wollen Veränderungen vermeiden. Eng damit zusammen hängt die Idee der regret aversion, also der Angst vor einem nachträglichen Bedauern: Menschen empfinden ein höheres Bedauern über einen Fehlschlag, wenn sie nicht routinemäßig gehandelt haben (Loomes, Sudgen 1982, Ritov, Baron 1994). Wer dieses spätere Bedauern vermeiden will, entscheidet sich
279 bei einer Problemlösung fiir das Standardvorgehen - selbst wenn sich dieses Vorgehen später als falsch herausstellt, ist das Bedauern darüber geringer als im Fall, dass man eine Lösung gewählt hat, die nicht Standard ist. Im Ergebnis läuft diese Aversion darauf hinaus, dass man sich im Zweifel dafür entscheidet, so wie immer zu handeln. Wir wollen so bleiben, wie wir sind. Eine weitere Idee der Behavioral Economics, die für die folgenden Überlegungen relevant ist, ist das Phänomen der Zeitinkonsistenz. Damit ist die Beobachtung gemeint, dass Menschen kurzfristig gegen ihre langfristigen Präferenzen verstoßen: Sie fassen gute Vorsätze (Sparen, Diäten, gesündere Lebensweise), halten diese guten Vorsätze aber nicht ein, sondern erliegen der kurzfristigen Versuchung. Man weiß, dass eine gesunde Lebensweise langfristig gut für die eigene Gesundheit ist, kann aber gutem und kalorienhaltigem Essen nicht widerstehen. Ein Erklärungsansatz fiir dieses Verhalten ist das sogenannte hyperbolische Diskontieren (vgl. bspw. Laibson 1997), alternative Ansätze zum Modellieren von Zeitpräferenzen und Zeitinkonsistenz finden sich bei Read (Read 2001 und Schölten, Read, 2006) sowie bei Rubinstein (Rubinstein 2003) (für einen Überblick vgl. Wüst, Beck 2009). Mit Hilfe dieser sogenannten Verhaltensanomalien lassen sich Erkenntnisse darüber gewinnen, wo die menschliche Psyche Entscheidungen und Prozesse auf dem Gesundheitsmarkt beeinflussen kann. Damit lassen sich Ideen für eine kreative Gesundheitspolitik gewinnen.
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Analyse der Angebotsseite
Welche Einflüsse können die oben dargestellten Verhaltensanomalien auf der Angebotsseite des Gesundheitsmarktes haben? Zunächst wäre da der Befund, dass der Status-quo-Bias verhindert, dass neue, verbesserte und möglicherweise kostengünstigere Behandlungsverfahren den Weg in die Praxis schaffen. Mit Blick auf den Status-quo-Bias ist das leicht nachvollziehbar: Wer sich einmal auf eine Behandlungsmethode festgelegt hat, wird nur schwer davon zu überzeugen sein, dass er diese zugunsten einer neuen Methode aufgeben soll, mit der er noch keine Erfahrungen gesammelt hat. Begünstigt wird dieses Problem durch den confirmation bias: Wer sich für eine bestimmte Behandlungsmethode entschieden hat, wird dazu neigen, alle weiteren Erfahrungen und Informationen über diese Methode im günstigen Lichte seiner bereits gefassten Meinung zu verarbeiten und zu interpretieren. Erfolge mit der Behandlungsmethode werden überbewertet, Misserfolge unterschätzt oder uminterpretiert - besondere Umstände oder Fehler haben den Erfolg der Methode verhindert; nicht die Methode hat versagt, sondern der Anwender oder Patient. Ebenso werden alle Informationen über neue, alternative Behandlungsmethoden im entsprechenden Kontext (um)-interpretiert.
280 Stimmen diese Überlegungen, so erschweren psychologische Faktoren die Einführung neuer, günstigerer Heil- und Diagnoseverfahren und neuer Technologien, das reduziert die Effizienz des Gesundheitssystems. Zudem dürfte dieser Effekt nicht nur auf Behandlungsmethoden beschränkt sein, sondern auch für Medikamente oder administrative und organisatorische Neuerungen gelten. Beharrung auf althergebrachtem im Gesundheitswesen hätte damit auch psychologische Ursachen. Gibt es diesen Beharrungsefifekt bei Behandlungen, so bedeutet das auch, dass billigere Generika es schwer haben, sich am Markt durchzusetzen - trotz ihrer Kostenvorteile. Vermutet man zudem, dass dieser Beharrungseffekt auch auf Seiten der Patienten auftritt - man will sein bisheriges Medikament nicht eintauschen gegen ein neues, unbekanntes -, kumulieren sich die Schwierigkeiten der Generika-Hersteller. Empirisch gibt es zumindest Hinweise auf einen solchen Effekt: So findet Hellerstein (1998), dass das Verschreibungsverhalten von Ärzten nicht vollständig über die individuellen Patientendaten erklärt werden kann; sie folgert, dass der Arzt eine wichtige Rolle bei der Wahl des zu verschreibenden Medikaments spielt, die nicht mit den medizinischen Daten erklärt werden kann. Für die Vereinigten Staaten zeigt sich, dass Ärzte bei der Verschreibung von Medikamenten - an der sie nichts verdienen - nicht stets die Medikamente verschreiben, die angemessen wären, sondern bei der Verschreibung der Medikamente eher ein habitualisiertes Verhalten an den Tag legen — man verschreibt, was man während der Ausbildung oder durch Promotion der Pharma-Firmen kennen gelernt hat (Frank 2004). Dieser Beharrungseffekt kann zusätzlich zur Folge haben, dass sich die PharmaFirmen darauf konzentrieren, neue Produkte zu suchen und zu vermarkten, statt sich um billigere Versionen bereits in Anwendung befindlicher Medikamente zu bemühen (Reschke 2010). Ein weiteres psychologisches Phänomen, das Folgen für die Art der Behandlung haben könnte, ist die regret aversion: Um zu vermeiden, dass er eine spätere Entscheidung bereut, wendet der Arzt im Zweifelsfall das Standard-Verfahren an, das in solchen Fällen vorgesehen ist. Entschließt er sich gegen diesen Standard und diese Entscheidung geht zuungunsten des Patienten aus, so wäre das Bedauern zu hoch - das will der behandelnde Arzt vermeiden, also entschließt er sich für das übliche Vorgehen. Ist das Ergebnis der Standard-Behandlung negativ, so ist das Bedauern darüber geringer. Zudem ist diese Strategie risikominimierend, da man sich in der Regel nur rechtfertigen muss, wenn man von einem vorgesehenen Standard-Verfahren abweicht.
281 Stimmt diese Idee, so könnte sie dabei helfen, regional unterschiedliche Kosten und Qualitäten des Gesundheitswesens zu erklären: Finden in unterschiedlichen Regionen unterschiedliche Standardverfahren und Normen (mit unterschiedlichen Kosten) Anwendung, an welche sich die Ärzte halten, so resultieren daraus regional unterschiedliche Ergebnisse was die Kosten der Behandlung und den Behandlungserfolg angeht (Orszag 2010). Auch der Uberoptimismus trägt möglicherweise zu einem Anstieg der Kosten im Gesundheitswesen bei: Hat man — aufgrund des Uberoptimismus — ein zu hohes Vertrauen in Diagnose- und Behandlungsverfahren, so fuhrt das zu einem entsprechend hohen und möglicherweise unnötigem Behandlungsaufwand. Dieser Effekt dürfte bei Standard-Anwendungen, die häufig vorkommen, gering ausgeprägt sein: Studien zeigen, dass der Überoptimismus in Bezug auf bestimmte Handlungen umso weniger ausgeprägt ist, je häufiger man diese Handlungen ausführt und je häufiger und rascher man eine unmittelbare Rückmeldung über den Erfolg der Handlung erhält (Beck 2010) - das dürfte bei Standard-Behandlungen der Fall sein. Dieser Effekt dürfte also eher bei seltenen Krankheiten und NichtRoutine-Anwendungen eine Rolle spielen.
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Analyse der Nachfrageseite
Auch auf der Nachfrageseite, also bei den Patienten, muss man vermuten, dass psychologische Faktoren einen Einfluss auf den Markt für Gesundheitsleistungen haben. Auch hier kann der Status-quo-bias eine wichtige Rolle spielen, sowohl bei der Wahl des Arztes als auch bei der Wahl der Kasse: Wenn Menschen dazu neigen, den bestehenden Zustand zu favorisieren, werden sie weder den Arzt noch die Kasse wechseln, mit entsprechend negativen Folgen für den Wettbewerb im Gesundheitswesen. Der confirmation bias dürfte diese Tendenz bestärken: Man interpretiert Informationen über seinen Arzt oder seine Kasse im Lichte der bereits gefassten Entscheidung — gute Nachrichten über die eigene Kasse oder den eigenen Arzt werden überbewertet, negative Informationen ignoriert oder wegrationalisiert, und am Ende steht ein Patient, der weder den Arzt noch die Kasse wechselt. Auch die Auswahl des zu behandelnden Arztes könnte unter einem psychologisch schlechten Stern stehen: Sucht man einen neuen Arzt, so muss man sich Erwartungen über dessen Fähigkeiten bilden und dessen Willen, sich für den Patienten anzustrengen. Theoretisch läuft das über einen Bayes-Prozess: Man bildet sich Erwartungen über den Arzt und erneuert diese a-priori-Wahrscheinlichkeit nach dem ersten Besuch auf Basis der gemachten Erfahrungen. In der Praxis dürfte
282 dieser Prozess vermutlich oft anders verlaufen: Man informiert sich über Bekannte oder Verwandte und interpretiert die Ergebnisse dieser kleinen Stichprobe fälschlicherweise als repräsentativ (dabei handelt es sich um eine weitere Heuristik, die sogenannte Repräsentativitätsheuristik, vgl. Tversky, Kahneman 1971). Beim anschließenden Besuch des Arztes läuft man Gefahr, aufgrund des confirmation bias ein verzerrtes Urteil über die Qualität des Arztes zu fällen — wenn dieser von den Bekannten als gut empfohlen wurde, interpretiert man jede weitere Information über diesem Arzt im Lichte dieser Wahrnehmung, statt gegebenenfalls sein a-priori-Urteil zu revidieren. Stimmen diese Überlegungen, so muss man befurchten, dass Menschen erstens ihre Arzt- und Kassenwahl anhand von sehr wenigen Informationen treffen, und zweitens äußerst unwillig sind, den Arzt oder die Kasse zu wechseln, mit entsprechenden Folgen für den Wettbewerb sowie den Behandlungserfolg. Auch auf dem Gebiet der Gesundheitsprävention dürften psychologische Faktoren relevant sein. Eine wichtige Rolle könnte dabei der Uberoptimismus spielen, der dafür sorgt, dass Menschen zu wenig Vorsorge betreiben, weil sie nicht vermuten, dass ihnen etwas Schlimmes zustoßen kann. Das ist ein klassischer Befund aus der Literatur: Befragt man Studenten, welche Erwartungen sie an ihr zukünftiges Leben haben, so sind sie überoptimistisch. Sie glaubten, dass sie mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 40 Prozent höhere Anfangsgehälter verdienen werden als ihre Kommilitonen, und dass die Wahrscheinlichkeit, vor dem 40. Lebensjahr einen Herzinfarkt zu erleiden, für sie rund 38 Prozent niedriger ist als für ihre Kommilitonen (Weinstein 1980). Dieser Befund findet sich in vielen Befragungen: Gute Ereignisse stoßen uns in unserer Einschätzung häufiger zu als anderen Menschen, von schlechten Ereignissen fühlen wir uns unterdurchschnittlich bedroht. Ahnlich überoptimistische Einschätzungen finden sich auch für die Wahrscheinlichkeit von Autounfällen, Lungenkrebs bei Rauchern und der Wahrscheinlichkeit, nicht geschieden zu werden (eine Übersicht bei Beck 2009). Aus diesem überoptimistischen Verhalten resultiert dann mangelnde Gesundheitsvorsorge. Gefordert wird dieser Mangel an Gesundheitsvorsorge durch zeitinkonsistentes Verhalten: Auf lange Frist wollen wir uns gesund ernähren und gesundheitsschädliches Verhalten vermeiden, doch bei der Umsetzung dieser Vorsätze erliegen wir der Schwäche des Moments; wir rauchen, trinken und betreiben zu wenig Sport. Das Ergebnis dieses zeitinkonsistenten Verhaltens ist ein ungesunder Lebensstil, der erhebliche Kosten für das Gesundheitssystem mit sich bringt.
283
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Politische Implikationen
Welche Folgerungen lassen sich aus den obigen Überlegungen ableiten — wie soll die Politik mit diesen Ideen umgehen? Zunächst einmal wäre der Beharrungseffekt auf der Angebotsseite, der zu einem Hemmschuh für die Einfuhrung innovativer, besserer oder günstigerer Verfahren fuhren kann. Was kann die Politik hier leisten? Eine Möglichkeit, den Beharrungseffekt und die regret aversion auszunutzen, besteht darin, den Ärzten einen Standard als Vorgabe zu machen. Vereinheitlicht man diesen Standard, so würde das dazu fuhren, dass die regionalen Unterschiede in den Behandlungen verschwinden; auf diesem Weg könnte man den kostengünstigsten Verfahren zum Durchbruch verhelfen. Der Nachteil dieser Idee besteht darin, dass man mit der Vorgabe solcher Standards nicht jedem Einzelfall gerecht werden kann und die Arzte in ihrer Entscheidungsfreiheit stark — möglicherweise zu stark — einengt. Will man einen Wettbewerb der Behandlungsverfahren, so ist diese Idee eher kontraproduktiv. Wenn überhaupt, dann kommt eine solche Politik nur fiir häufige vorkommende, gut erforschte Krankheiten in Betracht, die einfach und mit Sicherheit zu diagnostizieren sind. Ob man in einzelnen Fällen solche Standards als Vorgabe machen soll, sollte letztlich eine Entscheidung der Arzte sein, vermutlich bietet es sich eher für StandardBehandlungsmethoden an, je komplexer ein Fall wird, umso sinnloser (oder sogar kontraproduktiver) wird die Vorgabe eines Standards. In kann dies positive Folgen haben: So hat die amerikanische Gesellschaft der Anästhesisten Mitte der 80er Jahre neue Standards eingeführt - in deren Folge die Sterblichkeitsraten dramatisch fielen (Hyman, Silver, 2001). Eine weitere mögliche Maßnahme wäre es, billigere Generika zur Standardvorgabe bei Behandlungen zu machen — auch hier kann man die regret aversion nutzen. Stimmt diese Idee, dann würde alleine die Vorgabe von Generika als Standardwahl dazu fuhren, dass Ärzte tendenziell zu dieser billigeren Alternative greifen — und die Patienten diese leichter akzeptieren. Mit Blick auf den Beharrungseffekt besteht eine weniger invasive Idee darin, bei Behandlungen auf Teams zu setzen, die man mischt: Ältere Ärzte mit Erfahrung, die aber eher dem Beharrungseffekt unterliegen dürften, zusammen im Team mit jungen Ärzten, die eine andere, neuere Sichtweise mit in den Behandlungsprozess einbringen. Wo das nicht möglich sein wird, bliebe als weitere Möglichkeit eine aktivere Informationspolitik, die auf Anschaulichkeit setzt: Die Idee der Verfügbarkeitsheuristik zeigt, dass Menschen ihr Urteil auch aufgrund der mentalen Verfügbarkeit von entsprechenden Informationen fällen, und diese Verfügbarkeit ist größer bei einleuchtenden, eindringlichen Beispielen. Also sollte die Informationspolitik im Gesundheitswesen auf leichte, anschauliche Beispiele setzen.
284 Eine solche Informationspolitik wäre auf der Patientenseite hilfreich, Patienten den Wechsel der Kasse oder des Arztes zu erleichtern, ohne zu sehr in deren Entscheidungsfreiheit einzugreifen. Wenn es tatsächlich wie hier erörtert psychologische Faktoren sind, welche dazu fuhren, dass Patienten wechselunwillig sind, so kann man auf diesem Weg den Wettbewerb im Gesundheitswesen beschleunigen, ohne die finanziellen Anreize zum Wechsel zu erhöhen. Schwieriger hingegen ist die Frage zu beantworten, was man aus psychologischer Sicht tun kann, um die Gesundheitsvorsorge der Bürger zu verbessern. In der Literatur werden sogenannte Sündensteuern diskutiert: Steuern auf Tabak oder Alkohol sollen willensschwachen Konsumenten helfen, in ihrem Handeln zeitkonsistent zu werden (O'Donoghue, Rabin 2003). Diese Idee ist allerdings klassischer Paternalismus in neuen Schläuchen — wer an einen freien, selbstbestimmten Bürger glaubt, muss sie ablehnen. Subtiler ist die Idee eines „Schubsers" (nudge), also der Versuch, Menschen mit psychologischen Tricks dazu zu bringen, ihr Verhalten zu ändern (Thaler, Sunstein 2008). Beispielsweise solle man bei Appellen an gesundheitsbewusstes Verhalten weniger auf die Vorteile, sondern auf die negativen Folgen einer ungesunden Lebensweise abstellen — und damit die empirisch gut dokumentierte Verlustaversion der Menschen (Kahneman, Tversky 1979) als Motivation für eine gesündere Lebensweise nutzen. Ein anderes Beispiel ist die Werbung für höhere Beitragszahlungen in freiwillige Vorsorgeschemata, beispielhaft untersucht anhand freiwilliger Beiträge für Gesundheitsvorsorgekonten mit Arbeitgeberzuschuss: Die Beitragsraten waren höher, wenn die Entscheidung als Verlust formuliert wurde („Hören Sie auf, Geld zu verlieren") als wenn sie als Gewinn dargestellt wurde („Beginnen Sie jetzt, Geld zu sparen") (Schwartz, Bertrand, Mullainathan, Shafir, 2006). Einen weiteren solchen nudge fand man beim Impf-Verhalten von Menschen: Wenn man Studenten über die Wichtigkeit von Impfungen aufklärte, so stieg die Zahl derjenigen, die sich anschließend impfen lassen, nur geringfügig an. Sobald man aber zu den Informationen über die Impfung einen Plan beilegte, wo auf dem Campus man sich zu welchen Zeiten impfen lassen kann und sie aufforderte, einen Termin zu machen, stieg die Zahl derjenigen, die sich impfen ließen, deutlich an (Bertrand, Mullainathan, Shafir 2006).
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Ordnungspolitische Einwände
Vor allem die Idee des staatlichen Schubsers, des nudge, hat fiir die meisten Menschen großen Charme und Anziehungskraft - das darf nicht darüber hinweg täuschen, dass man sich bei einer kritiklosen Adaption dieser Ideen auf eine
285 rutschige Bahn in Richtung einer staatlichen Moraldiktatur begibt: Die Politik legt bestimmte Werte - weniger Alkohol, mehr Sport - fest, und Ökonomie und Psychologie suchen nach neuen, trickreichen Wegen, Bürgern zu einem entsprechenden Verhalten zu bewegen. Wer die Idee des freien Bürgers ernst nimmt, muss dies ablehnen: Freiheit bedeutet auch die Freiheit, sich unvernünftig oder ungesund zu verhalten. Keine noch so eleganten psychologischen Finessen können darüber hinweg täuschen, dass hier eine staatliche Verhaltenslenkung stattfindet, und wer der Ansicht ist, dass er selbst besser als der Staat weiß, was gut für ihn ist, muss das ablehnen (zur dieser Debatte ausfuhrlicher Beck 2010). Die anderen Ideen, welche sich aus den obigen Überlegungen ergeben, sind durchaus kompatibel mit einer freiheitlichen und wettbewerblich orientierten Sichtweise: Mehr Transparenz und eine professionelle Informationspolitik sind für wettbewerbliche Systeme stets von Vorteil. Was man aus den obigen Uberlegungen allerdings lernen kann ist, dass die Art und die Aufbereitung dieser Informationen eine wichtige Rolle für den Erfolg dieser Informationspolitik spielt. Diese Überlegung schlägt sich bisher kaum in Politik und Theorie nieder - hier bietet sich Raum für weitere Forschungen. Eine einfache, ordnungspolitisch unbedenkliche Idee ist es, die Verfügbarkeit von positiven Informationen bezüglich des Gesundheitsverhaltens zu erhöhen, indem die Politik Vorbilder gibt: der Außenminister, der sein Gewicht reduziert, der Altbundeskanzler, der das Rauchen aufgibt - das wären im Sinne der Verfugbarkeitsheuristik lebendige, leicht abrufbare Beispiele, die das Gesundheitsverhalten der Bürger positiv beeinflussen könnten. So trivial das klingt: Menschen brauchen Vorbilder.
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Fazit: Wie viel Psychologie braucht das Gesundheitswesen?
Können die Erkenntnisse der Behavioral Economics das Gesundheitssystem effizienter machen? Die obenstehenden Überlegungen haben gezeigt, dass es einfache Ideen gibt, die dabei helfen könnten. Doch darin die Rettung des Gesundheitswesen zu sehen, wäre eine Form von Überoptimismus: Man muss diese Ideen auf den Prüfstand der Realität stellen, hier tut sich ein weites Feld für weitere Forschung auf. Zudem besteht wie gezeigt die Gefahr, dass sich der staatliche Leviathan durch die Hintertür der eleganten Ideen der Psychologen einschleicht — es gibt kaum eine gute Idee, die nicht missbraucht wurde. Nicht zuletzt darf man bei aller Psychologie und Kritik am homo oeconomicus nicht der Vorstellung erliegen, dass Menschen durchweg irrationale Wesen sind, die nicht auf Anreize reagieren - eine gute Ordnungspolitik mit richtigen Anreizen ist durch nichts zu ersetzen.
286 Die vielleicht wichtigste Lehre aus den obigen Überlegungen ist, dass eine gute Informationspolitik umso wichtiger wird, je mehr Unsicherheit herrscht - eine Überlegung, die auch Verfechter einer wettbewerblichen Ordnung begrüßen.
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287 Lichtenstein, Sarah, Baruch Fischhoff and Lawrence D. Phillips (1982): Calibration of probabilities: The state of art to 1980, Daniel Kahneman, Paul Slovic and Amos Tversky (eds.), Judgment under uncertainty: Heuristics and biases, Cambridge, England: Cambridge University Press, pp. 306-334 Loomes, G., Sudgen, R. (1982): Regret theory: an alternative theory of rational choice under uncertainty, Economic Journal 92, 805-824 Nickerson, Raymond S. (1998): Confirmation bias: an ubiquitous phenomen in many guises, Review of general Psychology, Vol. 2, No. 2, pp. 175—220 Oberender, Peter; Zerth, Jürgen; Hebborn, Ansgar (2006): Wachstumsmarkt Gesundheit, 2. grundlegend überarbeitete und aktualisierte Auflage, Lucius & Lucius, Stuttgart 2006. O'Donoghue, Ted and Matthew Rabin (2003): Studying optimal paternalism, illustrated by a modell of sin taxes, American Economic Review Papers and Proceedings, Vol. 92 (2), May 2003, pp. 186-191. Orszag, Peter (2010): Health Care and Behavioral Economics, presentation to the National Academy of Social Insurance, May 2010, URL: http://www.cbo.gov/ ftpdocs/93xx/doc9317/05-29-NASI_Speech.pdf Rabin, Matthew (1998): Psychology and Economics, Journal of Economic Literature. Band 36, 1998, S. 1 1 ^ 6 Read, Daniel (2001): Is time-discounting hyperbolic or subadditive?, Journal of Risk and Uncertainty, 23, 1, pp. 5—32 Reschke, Carl Hennimg (2010): Risk-identification and strategic foresight based on history, management and complex systems perspectives — the example of the bio-pharmaceutical industry, Paper presented at the Summer Conference 2010 on „Opening Up Innovation: Strategy, Organization and Technology" at Imperial College London Business School, June 16-18, 2010 Ritov, I., Baron, J. (1994): Biases in decisions about compensation for misfortune. The role of expectation, European Journal of Social Psychology 24, 525-539 Samuelson, William and Richard Zeckhauser (1988): Status Quo Bias in Decision making, Journal of Risk and Uncertainty, 1, 7—59 Schölten, Marc and Daniel Read (2006): Discounting by intervalls: A generalized Model of intertemporal choice, Management Science, Vol. 52, No. 9 (September 2006), pp. 1424-1436
288 Schwartz, Janet; Bertrand, Marianne, Mullainathan, Sendhil; Shafir, Eldar (2006): Boosting program take-up: An experiment with flexible spending accounts, Paper presented at Behavioral Decision Research in Management Conference, Santa Monica, June 15—17 Starmer, Chris (2000): Developments in non-expected utility: the hunt for a descriptive theory of choice under risk, Journal of economic Literature 38 (2), pp. 332-382 Thaler, Richard; Sunstein, Cass R. (2008): Nudge: Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness, Yale University Press. Tversky, Amos and Daniel Kahneman (1971): Believe in the law of small numbers, Psychological Bulletin, Vol. 2, pp. 105-110 Tversky, Amos and Daniel Kahneman (1974): Judgement under uncertainty: Heuristics and biasses, Science, Vol. 185 (1974), pp. 1124-1131 Weinstein, N. D.: Unrealistic optimism about future life events, Journal of Personality and Social Psychology, 39 (1980), pp. 806-457 Wüst, Kirsten; Beck, Hanno (2009): Ökonomische Theorie der Zeit und Psychologie, List Forum fur Wirtschafts- und Finanzpolitik, Band 35 (2009), Heft 1, S. 43-60
Herbert Woratschek und Chris Horbel
Relationship Management im Gesundheitswesen - ein theoretischer Rahmen zur Analyse der Beziehungen 1
Einleitung
Im Gesundheitswesen kommen zunehmend betriebswirtschaftliche Ansätze zur Anwendung. Dies ist sicherlich zum einen mit den knappen Ressourcen der öffentlichen Hand zu begründen, zum anderen in der zunehmenden Erkenntnis auch diesen Bereich stärker nach marktwirtschaftlichen Kriterien auszurichten. Da das Gesundheitswesen dem Dienstleistungssektor zugerechnet wird, liegt es nahe, Ansätze aus dem Dienstleistungsmanagement anzuwenden. In der Literatur im Dienstleistungsmanagement sowie in der Dienstleistungspraxis ist es nahezu unumstritten, dass das Erbringen einer hohen Qualität von außerordentlicher Bedeutung für den Erfolg von Dienstleistungsunternehmen ist (Reichheld/Sasser, 1990; Rust/Zahorik/Keiningham, 1995). Zur Verdeutlichung dieses Zusammenhangs wurde die sogenannte „Service-Profit Chain" entwickelt, welche den Zusammenhang zwischen Aktivitäten einer Unternehmung, der Dienstleistungsqualität und dem ökonomischen Erfolg beschreibt (Heskett u.a., 1994; Heskett/Sasser/ Schlesinger, 1997). Im Gesundheitswesen gibt es viele Non-Profit-Unternehmen. Warum sollte man sich dennoch auch in diesem Fall mit der Service-Profit Chain beschäftigen? Die Antwort ist aus ökonomischer Sicht relativ einfach. Auch die Erreichung von Non-Profit-Zielen benötigt Ressourcen und damit den Einsatz von Kosten. Ökonomischer Erfolg kann gemäß dem ökonomischen Prinzip auch so definiert werden, dass gegebene Ziele mit möglichst geringen Kosten erreicht werden (Oberender/Fleischmann, 2005, S. 22). Folglich muss der Profit, der auch in einer Kostendeckung bestehen kann, im Auge behalten werden, wenn der angesprochene Ressourceneinsatz dauerhaft effizient erbracht werden soll. Das Management der zentralen Variablen in der Service-Profit Chain stellt somit sicher, dass Profit- und Non-Profit-Ziele ökonomisch effizient erreicht werden. In diesem Artikel wird auf die Perspektive der Vermarktung fokussiert. Obwohl auch die effiziente Erstellung einer Dienstleistungsqualität einen zentralen Aspekt in der Service-Profit Chain darstellt und zweifelsohne im Gesundheitswesen von hoher Bedeutung ist, wird diese hier nicht betrachtet. Die Wirtschaftlichkeit von Prozessen und Aktivitäten in Krankenhäusern wird vielfach untersucht (Mühlbauer, 2004; Schlüchtermann, 2006; Schreyögg u. a., 2008), wobei die Ver-
290 marktungsseite, d. h. die Neugewinnung von Patienten sowie die Bindung von Patienten an die Organisation (Krankenhaus, Arztpraxis, etc.) oft weniger differenziert analysiert wird (Dietrich/Lindenmeier, 2009; Hribek/Schmalen, 2000). Dies mag daran liegen, dass in Deutschland in der Vermarktung viele rechtliche Restriktionen existieren (Papenhoff/Platzköster, 2010, S. 19-21). Allerdings wird die Bedeutung der Vermarktungsseite bei einer zunehmenden Liberalisierung und mit einer Zunahme der privatwirtschaftlich organisierten Prozesse im Gesundheitswesen steigen, so dass es im Sinne eines Strategischen Managements unausweichlich ist, sich in Zukunft mit diesen Themen noch stärker als in der Vergangenheit auseinanderzusetzen (Oberender/Zerth, 2009).
2
Service-Profit Chain
Ausgangspunkt der Service-Profit Chain ist die Schaffung der unternehmensinternen Voraussetzungen, die den Dienstleistungsanbieter in die Lage versetzen, eine hohe Dienstleistungsqualität zu erbringen. In Folge der für Dienstleistungen charakteristischen Personalintensität steht dabei vor allem die Auswahl und Entwicklung des Personals, insbesondere aber dessen Zufriedenheit im Mittelpunkt der Bemühungen (Meffert/Bruhn, 2009, S. 358-364). Unter diesen Bedingungen sind die Mitarbeiter fähig und auch motiviert, eine hohe Dienstleistungsqualität zu erbringen (Clugston, 2000). Wie eingangs bereits dargelegt, kommt der Dienstleistungsqualität als Einflussfaktor auf den ökonomischen Erfolg von Dienstleistungsunternehmen eine herausragende Bedeutung zu (Stauss, 1999, S. 5). Folglich ist es auch im Management zentral die Dienstleistungsqualität zu planen, zu steuern und zu kontrollieren. Voraussetzung hierfür ist die Messung der Dienstleistungsqualität. Somit kommt auch der Qualitätsmessung eine bedeutende Rolle im Rahmen der ökonomischen Erstellung von Gesundheitsleistungen zu. Auch wenn im Rahmen dieser Ausfuhrungen aus Platzgründen nicht näher auf die Messproblematik eingegangen werden kann, darf der Hinweis auf die Wichtigkeit der Messung nicht fehlen. Dienstleistungen, auch und vor allem im Gesundheitswesen, zeichnen sich durch charakteristische Eigenschaften aus, die eine intersubjektiv vergleichbare Qualitätsbewertung und -messung erschweren (Woratschek/Horbel/Popp, 2007, S. 289). Zu nennen sind hier die Integration des Kunden im Rahmen der Erstellung der Dienstleistung, die Individualität von Dienstleistungen sowie hohe Unsicherheiten, sowohl bei der Inanspruchnahme als auch bei der Erstellung von Dienstleistungen (Engelhardt/Kleinaltenkamp/Reckenfelderbäumer 1993; Oberender/ Zerth, 2010; Woratschek, 2001). Dies hat zur Konsequenz, dass es bei der Messung der Dienstleistungsqualität zunächst auf die Perspektive ankommt. Hierbei
291 kann zwischen der Sichtweise der Anbieter bzw. Unternehmen und der Nachfrager unterschieden werden, wobei sich die Nachfrager lediglich für die aus ihrer Sicht nutzenstiftenden Komponenten der Dienstleistungsqualität interessieren während die Anbieter vor allem die Prozesse evaluieren, die zu hoher Dienstleistungsqualität fuhren. Darüber hinaus wird häufig die Leistung des eigenen Unternehmens mit den Leistungen von Konkurrenzunternehmen im Rahmen eines Benchmarking verglichen. Abbildung 29 liefert einen groben Überblick über die Messansätze der Diensdeistungsqualität aus den unterschiedlichen Perspektiven. Messverfahren zur Dienstleistungsqualität
Simulierte Kundensicht Expertenanalyse • Expertenbeobachtung • Silent Shopper
Problemorientiert
Originäre Kundensicht
Merkmalsorientiert
Managementorientiert
Mitarbeiterorientiert
z. B. • Statistische Prozesskontrolle
z. B. • Interne Qualitätsmessung • betriebliches Vorschlagswesen
Ereignisorientiert
I
Wettbewerbsorientierte Sicht (Benchmarking)
Abbildung 29: Überblick zu den Messverfahren der Diensdeistungsqualität Quelle: Woratschek, 2004, S. 77.
In Hinblick auf die Vermarktungsseite der Service-Profit Chain, die in diesem Beitrag im Vordergrund steht, ist vor allem die von den Kunden wahrgenommene Dienstleistungsqualität von Interesse. Anders als bei technischen Gütern (z.B. Maschinen), für die objektive Messskalen vorliegen, ist die kundenseitig wahrgenommene Diensdeistungsqualität als theoretisches Konstrukt einer direkten Messung nicht zugänglich (Benkenstein, 1993, S. 1066). Daher wird die Messung psychographischer Variablen notwendig, die Spezialwissen erfordert. Eine Auswahl der wichtigsten aus der Vielfalt der Messansätze, die hierfür herangezogen werden können, ist in Abbildung 30 dargestellt.
292
Messverfahren zur Dienstleistungsqualität aus originärer Kundensicht
Problemorientiert
Merkmalsorientiert
Ereignisorientiert
Einstellungsmessung
Nutzenmessung
Zufriedenheitsmessung
• Adequacy-ImportanceAnsatz (ImportancePerformance-Ansatz) • Multidimensionale Skalierung (MOS) • Kombinierte Regressionsund Faktorenanalyse auf abgefragte Merkmalsausprägungen
• Conjoint Measurement • Diskrete Entscheidungsanalyse
• Direkte Zufriedenheitsmessung • Indirekte Zufriedenheitsmessung z.B. SERVQUAL • ISL-Ansatz
Abbildung 30: Messverfahren der Diensdeistungsqualität aus originärer Kundensicht Q u e l l e : W o r a t s c h e k , 2 0 0 4 , S. 7 9
Die Erstellung einer hohen Dienstleistungsqualität ist ökonomisch bedeutsam, weil sie bei den Kunden zu hoher Zufriedenheit fiihrt (Oliver, 1980). Ist der Kunde zufrieden, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er auch bei zukünftiger Inanspruchnahme der Dienstleistung denselben Anbieter erneut wählt (Oliva/Oliver/ MacMillan, 1992). Der Kunde kann gebunden werden. Für den Anbieter erwachsen aus dieser Bindung Kostenvorteile, da im Allgemeinen die Kosten der Bindung deutlich geringer sind als die Kosten der Neuanwerbung von Kunden (Heskett u.a., 1994, S. 164; Reichheld, 1997, S. 47). Darüber hinaus resultiert aus langfristigen Geschäftsbeziehungen für den Anbieter nicht nur die Sicherung seines Absatzes, sondern häufig zudem eine Steigerung der Erlöse, da im Laufe einer Beziehung die Unsicherheit des Kunden über das Leistungsvermögen und den Leistungswillen des Anbieters sinkt (Bruhn, 2009, S. 3; Woratschek, 2001, S. 265). Langfristige Beziehungen zu den Kunden sorgen somit einerseits für gesteigerte Effizienz der internen Abläufe, andererseits aber auch für eine nachhaltige Sicherung der Ertragslage (Rust/Moorman/Dickson, 2002, S. 19). Aus diesen Gründen ist es für viele Dienstleistungsunternehmen vorteilhaft, langfristige Beziehungen zu den Kunden aufzubauen (Diller, 2006).
293
Trennlinie für Perspektiven
Mitarbeiterbindung
Ökonomischer Erfolg
Abbildung 31: Service-Profit Chain Quelle: in Anlehnung an Heskett u.a., 1994, S. 1 6 6
Dies kann jedoch nur gelingen, wenn auch für die Kunden Vorteile mit der langfristigen Bindung an einen Anbieter verbunden sind. Besonders bei Dienstleistungen, die mit einer hohen Unsicherheit verknüpft sind, kann aus einer langfristigen Beziehung mit einem Dienstleister ein hoher Nutzen für den Kunden resultieren (Bruhn, 2009, S. 3). Aufgrund vorheriger Erfahrungen mit dem Anbieter sinkt die Unsicherheit über die Leistungsfähigkeit und den Leistungswillen des Anbieters (Woratschek, 2001, S. 265). Zudem lernt der Anbieter im Laufe der Zeit die Wünsche des Kunden besser kennen und kann auf diese Weise die Leistungserstellung zum Nutzen des Kunden verbessern (Lingenfelder/Fisbeck, 2000). Die Etablierung langfristiger Beziehungen führt somit zu einem erhöhten Nutzen für beide Beteiligten. Abbildung 31 gibt einen Überblick über die dargestellten Zusammenhänge in der Service-Profit Chain. Bei Dienstleistungen im Gesundheitswesen, beispielsweise in der stationären Versorgung, ist das Ziel der Kundenbindung (Patienten) jedoch nicht zentral, zumindest dann nicht, wenn man sie im klassischen Sinne definiert, d. h. dass die Kunden (Patienten) das Produkt oder den Service immer wieder kaufen. Es ist offensichtlich, dass ein Patient nicht das Interesse haben kann, die Versorgung eines Beinbruchs oder eine Operation am Darm immer wieder durchführen zu lassen, weil er begeistert von den Leistungen der operierenden Arzte war. Kundenbindung bezieht sich hier höchstens auf die Fälle, in denen eine erneute Einweisung in eine Klinik in der Zukunft notwendig sein wird, weil eine erneute, aber andere
294 Erkrankung vorliegt. In diesem Sinne zielt die Kundenbindung allenfalls auf das Cross-Selling ab, d. h. der Patient sucht ein bestimmtes Krankenhaus erneut auf, weil er hoch zufrieden mit den Leistungen bei einer anderen Erkrankung in der Vergangenheit war. Eine Ausnahme hiervon bilden chronisch erkrankte Patienten, bei denen wiederholte Krankenhausaufenthalte abhängig vom Verlauf der Erkrankung immer wieder notwendig sein können. Hier sollte eine langfristige Bindung dieser Patienten angestrebt werden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Krankenhauserfolg in geringerem Maße von der langfristigen Kundenbindung als in anderen Dienstleistungsbranchen abhängt, weil die Kundenbindung, bis auf Ausnahmen, nur auf das Cross-Selling gerichtet ist, nicht aber auf die wiederholte Inanspruchnahme ein und derselben Leistung durch den Patienten abzielt. Grundsätzlich ist der Dienstleistungssektor durch eine hohe Heterogenität gekennzeichnet, so dass es ohnehin unumgänglich ist, die Service-Profit Chain an die jeweiligen Branchen anzupassen (Woratschek/Horbel, 2008, S. 312; Woratschek/Horbel/Popp, 2010, S. 16). Dies ist natürlich auch für das Gesundheitswesen der Fall. Daher wird im Folgenden auf die Besonderheiten im Gesundheitswesen am Beispiel von Krankenhäusern eingegangen.
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Besonderheiten im Gesundheitswesen
Die wichtigste Herausforderung für das Management von Krankenhäusern besteht darin, ständig neue Patienten „anzuwerben" (Salfeld/Hehner/Wichels, 2008), weil die üblichen Kundenbindungsmaßnahmen nicht ausreichen, um den ökonomischen Erfolg abzusichern. Damit ist keineswegs gesagt, dass Kundenbindung unwichtig wäre, sondern dass in dieser Branche der Kundenneugewinnung eine vergleichsweise höhere Bedeutung beigemessen werden muss als zum Beispiel bei Unternehmen aus dem Finanzdienstleistungssektor. Im Gesundheitswesen ist bekannt, dass die Mehrzahl der Patienten bei der Wahl einer Klinik der Empfehlung des einweisenden Arztes folgt (Borges, 2003). Somit stellen niedergelassene Fachärzte offensichtlich eine weitere wichtige „Kundengruppe" von Krankenhäusern dar. Es ist hier eben nicht der Fall, dass der Patient von anderen Personen unabhängige Entscheidungen trifft und damit ist nicht nur seine eigene Perspektive auf die Qualität der Krankenhausleistungen, sondern auch die der „Schlüsselpersonen", hier der einweisenden Arzte, ein wichtiger Aspekt für die Kundenneugewinnung (Clausen, 2010, S. 40). Das Erbringen einer hohen Dienstleistungsqualität fiir die Einweiser sollte demnach, neben dem Qualitätsurteil der Patienten, ebenfalls ein wichtiges Ziel der Klinik sein. Sind die Einweiser mit der von der Klinik erbrachten Qualität zu-
295 frieden, steigt wiederum die Wahrscheinlichkeit, dass sie auch zukünftig ihren Patienten das Krankenhaus empfehlen. Das Problem hierbei besteht jedoch darin, dass die relevanten Qualitätsmerkmale für die Ärzte andere sind als die der Patienten. Dies bedeutet, dass die Qualitätsmessung aus nur einer der beiden Perspektiven keineswegs ausreichend ist. Ärzte berücksichtigen zwar die Qualitätsaussagen ihrer Patienten in ihrer Beurteilung, gewichten diese aber häufig anders und erheben zusätzliche Qualitätsansprüche an die Krankenhäuser, z.B. im Bereich des Informationsrückflusses nach der Überweisung (Ennker/Pietrowski, 2009, S. 185-187). Durch ein gezieltes Management der Beziehungen zu Einweisern können Kliniken folglich sicherstellen, dass auch zukünftig neue Patienten gewonnen werden können. Für die Einweiser besteht der gesteigerte Nutzen aus der langfristigen Beziehung mit einer Klinik in der sinkenden Unsicherheit über das Leistungsvermögen des Krankenhauses und der Vertrautheit mit den Prozessen in der Zusammenarbeit (Oberender/Hacker/Meder, 2001). Trotz dieser wichtigen Erweiterung der Service-Profit Chain hinsichtlich der Kundengruppe „niedergelassene Fachärzte" sollten die Beziehungen zu den Patienten im Rahmen des Relationship Managements der Krankenhäuser nicht unberücksichtigt bleiben. Hierfür sprechen verschiedene Gründe. Erstens gelten eigene positive Erfahrungen mit einer bestimmten Klinik als wichtiger Faktor bei der Klinikwahlentscheidung, sollte diese erneut notwendig sein (Clausen, 2010, S. 351). Zum zweiten ist auch bekannt, dass Patienten bei einer anstehenden Entscheidung fiir eine Klinik häufig auf den Rat von Bekannten und Verwandten (Weiterempfehlung bzw. Word-of-mouth) vertrauen (Papenhoff/Platzköster, 2010, S. 88). Zur Erzeugung dieser Empfehlungen von ehemaligen an potenzielle Patienten ist wiederum die Zufriedenheit der Patienten mit ihrem Krankenhausaufenthalt ein entscheidender Faktor (Clausen, 2010, S. 351). Drittens ist zu vermuten, dass die Zufriedenheit der Patienten auch einen Einfluss auf die Zufriedenheit der einweisenden Ärzte hat, die im Anschluss an die Krankenhausbehandlung in der Regel auch die Nachsorge wieder übernehmen. Eine zunehmende Rolle bei der Gewinnung von Patienten nehmen darüber hinaus auch Krankenversicherungen ein, die sowohl ebenfalls Empfehlungen an ihre Kunden bezüglich der Wahl eines Krankenhauses aussprechen können als auch im Rahmen der Integrierten Versorgung als langfristiger Vertragspartner von Krankenhäusern in Betracht kommen (Linke, 2010, S. 104—109; Papenhoff/ Platzköster, 2010, S. 87). Folglich muss das Relationship Management von Krankenhäusern auf verschiedene Stakeholdergruppen ausgerichtet werden (Clausen, 2010; Riegl, 2001). Das Management langfristiger Beziehungen zu diesen Gruppen fuhrt zu Effizienzvor-
296 teilen sowie zur nachhaltigen Sicherung der Ertragslage des Krankenhauses und damit zum erfolgreichen Bestehen im Wettbewerb. Dabei ist zudem zu berücksichtigen, dass zwischen diesen verschiedenen Stakeholdern auch untereinander Beziehungen bestehen.
4
Health Care Service-Profit Chain als theoretischer Rahmen
Aus den komplexen Zusammenhängen innerhalb des Beziehungsnetzwerkes eines Krankenhauses ergibt sich eine Reihe von Fragestellungen. •
Wie müssen die Beziehungen in einem Gesundheitsnetzwerk aufgebaut werden, damit der ökonomische Erfolg gut positionierter Krankenhäuser gewährleistet ist und damit das Gesundheitssystem effizient und zum Nutzen der Individuen in einer Gesellschaft wirkt?
•
Welche Qualitätsaspekte fuhren zur Zufriedenheit der einzelnen Stakeholder (Patienten, Einweiser, Krankenversicherungen, Mitarbeiter usw.) und wie können diese durch das Krankenhaus-Management gemessen und gesteuert werden?
•
Welche Konsequenzen folgen aus der Zufriedenheit der einzelnen Stakeholder und inwieweit sind diese relevant fur den nachhaltigen Erfolg des Krankenhauses?
•
Was sind die zentralen Variablen fur die Patientenbindung (vor allem im Sinne des Cross-Selling) sowie für die Patientenneugewinnung?
•
Welche Stakeholder beeinflussen die Patientenbindung und die Patientenneugewinnung?
•
Welche Interdependenzen bestehen zwischen den verschiedenen Stakeholdern und den Einflussfaktoren des ökonomischen Erfolgs des Krankenhauses?
•
Wie wirkt sich das Management der Beziehungen zu einer Stakeholdergruppe auf die Beziehungen zu anderen Partnern innerhalb des Netzwerks aus?
•
Wie stark sind die Zusammenhänge zwischen den Variablen in der ServiceProfit Chain?
297 Auch wenn der gezeigte Fragekatalog keineswegs vollständig ist, zeigt er bereits, wie kompliziert das Beziehungsmanagement im Gesundheitswesen ist. Daher ist ein theoretischer Analyserahmen sicherlich hilfreich. Dieser soll hier in Anlehnung an die Service-Profit Chain gezeigt werden, wobei den wichtigsten Besonderheiten des Gesundheitswesens am Beispiel eines Krankenhauses Rechnung getragen werden soll. Die hier angestellten Überlegungen zeigen unter anderem, dass eine primitive Übertragung des Kundenbegriffs auf das Gesundheitswesen keineswegs ausreichend ist, d. h. eine Gleichsetzung der Begriffe Kunde und Patient entschieden zu kurz greift. Im Konsumgütermarkt fallen Leistungsauftraggeber, Leistungsempfanger und Leistungszahler oft in einer Person zusammen: dem Konsumenten bzw. dem Kunden. In Dienstleistungsmärkten handelt es sich bei Leistungsauftraggebern, Leistungsempfängern und Leistungszahlern allerdings häufig um unterschiedliche Personen. Alle drei Personengruppen können als Kunden bezeichnet werden, weil ihre Bedürfnisbefriedigung erlösrelevant für den Anbieter der Diensdeistung ist. Wir bezeichnen diese Gruppen als Kundenstakeholder, um sie von anderen Stakeholdern abzugrenzen. Im hier diskutierten Beispiel aus dem Gesundheitswesen sind die Arzte die Leistungsauftraggeber, die Krankenkassen die Leistungszahler und die Patienten die Leistungsempfänger. Auch wenn Leistungsauftraggeber und Leistungszahler sicherlich ebenfalls die Bedürfnisse und Erwartungen der Leistungsempfänger berücksichtigen, sind die Interessen zwischen den unterschiedlichen Kundenstakeholdergruppen keineswegs identisch und stehen teilweise auch im Konflikt zueinander. Das macht die in nahezu allen MarketingLehrbüchern als notwendig erachtete Kundenorientierung (Homburg/Krohmer, 2006, S. 5; Meffert/Burmann/Kirchgeorg, 2008, S. 16) alles andere als einfach. Der Kunde ist eben nicht einfach nur der Patient, sondern die Kundenorientierung muss sich auch auf die einweisenden Ärzte und die Krankenkassen beziehen. Die Managementkunst besteht daher vor allem darin, die unterschiedlichen Kundeninteressen abzuwägen und zum Ausgleich zu bringen, so dass die Erlöse maximiert werden. Die Konsequenz einer differenzierten Anwendung des Kundenbegriffs im Gesundheitsmarkt zeigt sich darin, dass es nicht nur eine, sondern mindestens drei Kundenperspektiven gibt, die des Leistungsauftraggebers (einweisender Arzt), des Leistungszahlers (Krankenkasse) und des Leistungsempfängers (Patient). Wenn man die wichtigsten Beziehungen für Krankenhäuser in einer Abbildung in Analogie zur Service-Profit Chain darstellt ergibt sich eine erweiterte Sicht des Relationship Managements, die in Abbildung 32 dargestellt ist. Dabei wird der Vielfalt der Perspektiven, die aus der Sicht des Krankenhaus-Managements eingenommen werden muss, um die Einflussfaktoren des ökonomischen Erfolgs
298 zu durchdringen, in besonderer Weise Rechnung getragen. Die hier dargestellte Health Care Service-Profit Chain kann damit als Bezugsrahmen dienen, der die Besonderheiten der Beziehungen im Gesundheitswesen integriert.
Abbildung 32: Health Care Service-Profit Chain unter Berücksichtigung unterschiedlicher Kundenstakeholder im Krankenhaus Quelle: Eigene Darstellung
Für die Empfehlung eines Krankenhauses an Patienten durch Einweiser wie durch Krankenkassen gleichermaßen spielt darüber hinaus auch die Reputation einer Klinik eine wichtige Rolle. Der Reputationsaufbau ist grundlegend wiederum zunächst an das Erbringen einer hohen Dienstleistungsqualität und folglich die Zufriedenheit der verschiedenen Kunden-Stakeholder geknüpft. Darüber hinaus erlangen Kliniken aber häufig durch Spezialisierung in bestimmten Bereichen, oft verbunden mit der Verpflichtung anerkannter Spezialisten, eine hohe Reputation. Damit die Anerkennung renommierter Experten gelingt, ist wiederum eine hohe Qualität der Beziehungen zu den Mitarbeitern erforderlich, so dass die Reputation des Krankenhauses als Arbeitgeber steigt. Hohe Fachkompetenz in bestimmten Bereichen birgt Vorteile sowohl für das Krankenhaus als Leistungserbringer wie auch die Patienten als Leistungsempfanger. Die Patienten profitieren von einer hohen Qualität der medizinischen Versorgung, die Krankenhäuser von einem stabilen Zustrom neuer Patienten. Folglich nutzt eine gute und erkennbare Positionierung der Krankenhäuser auch der Gesellschaft als Ganzes, da die Qualität der medizinischen Versorgung erhöht wird (Terrahe, 2006).
299
5
Fazit
Im vorliegenden Beitrag wurde das im Dienstleistungsmanagement verbreitete Analyseinstrument „Service-Profit Chain" zugrunde gelegt und modifiziert, um aufzuzeigen, welche Perspektiven und Faktoren im Rahmen des Relationship Managements eines Krankenhauses eingenommen werden müssen, um den ökonomischen Erfolg zu sichern. Hierbei wurde vor allem auf die Vermarktungsseite, das heißt auf die Perspektive der Kunden von Krankenhäusern fokussiert. Aus der Service-Profit Chain lässt sich diesbezüglich ableiten, dass die Erbringung einer hohen Dienstleistungsqualität zentral ist, da sie die Grundlage für Kundenzufriedenheit und Kundenbindung darstellt, die als maßgebliche Treiber für den ökonomischen Erfolg gelten. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass ein alleiniger Fokus auf die Patienten als „Kunden" des Krankenhauses zu kurz greift. Die Gegebenheiten im Gesundheitswesen erfordern die Berücksichtigung von mindestens drei verschiedenen Kundenstakeholdern, die sich als Leistungsempfanger (Patient), Leistungsauftraggeber (einweisender Arzt) sowie Leistungszahler (Krankenkasse) charakterisieren lassen und deren - teilweise verschiedenen oder auch widersprüchlichen — Bedürfnisse durch das Krankenhaus befriedigt werden müssen. Folglich müssen mehrere Kundenperspektiven in der Service-Profit Chain berücksichtigt werden. Eine weitere Besonderheit, die es zu berücksichtigen gilt, ist die Tatsache, dass im Gegensatz zu anderen Branchen die langfristige Bindung von Patienten in den Hintergrund tritt, sodass die Gewinnung neuer Patienten im Fokus steht. Diese erfolgt in der Regel nicht auf direktem Wege, sondern über „Gatekeeper", insbesondere einweisende Ärzte, aber auch Patienten-Communities, Selbsthilfegruppen und die Krankenkassen. Daher muss durch das Qualitätsmanagement sichergestellt werden, dass die verschiedenen Anspruchsgruppen durch die Leistung des Krankenhauses zufriedengestellt werden, damit diese bereit sind, sich an der Gewinnung neuer Patienten zu beteiligen. Die Analyse der Faktoren, die die Bereitschaft der verschiedenen Kundenstakeholder zur Empfehlung eines bestimmten Krankenhauses an potenzielle Patienten beeinflussen, offenbart, dass neben der Zufriedenheit mit den Leistungen der Klinik auch ihre Reputation eine wichtige Rolle spielt. Diese basiert häufig auf der Spezialisierung in bestimmten Bereichen, welche auch die Verpflichtung hochqualifizierter Spezialisten bedingt. Folglich darf auch die „interne Dienstleistungsqualität", das heißt das Beziehungsmanagement zu den Mitarbeitern, nicht vernachlässigt werden, damit das Krankenhaus auch als Arbeitgeber ein hohes Ansehen genießt, der in der Lage ist, Spitzenkräfte anzuwerben.
300 Im Zuge des Bestehens im intensiven Wettbewerb auf dem Gesundheitsmarkt ist es daher wahrscheinlich, dass Krankenhäuser in der Zukunft vermehrt Differenzierungs- und Spezialisierungsstrategien verfolgen werden und verstärkt in Netzwerken mit anderen Dienstleistern zusammenarbeiten werden, um eine optimale Versorgung der Patienten zu gewährleisten (Oberender/Zerth, 2010, S. 175). Auf diese Weise kann die Qualität von Gesundheitsleistungen auch insgesamt erhöht werden, so dass auch ein höherer Nutzen fur die Gesellschaft als Ganzes zu verzeichnen ist.
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Claudia Linke
Die Wertschöpfungskonfiguration der integrierten medizinischen Leistungserstellung Spätestens seit dem Inkrafttreten des GKV-Modernisierungsgesetzes (GMG) 2004 wird das deutsche Gesundheitswesen durch zahlreiche neue Versorgungsformen 4 2 8 revolutioniert. Darunter auch die Integrierte Versorgung nach § I40a-d S G B V. Sie ist ein innovatives Organisations- und Finanzierungskonzept für die patientennahe, indikationsorientierte Verwirklichung einer kooperativen und interdisziplinären sowie intersektoralen medizinischen Versorgung aus einer Hand. Das Forschungsthema „Integrierte Versorgung" nimmt aktuell in der Praxis einen größeren Stellenwert als in der Wissenschaft ein, was insbesondere durch die geringe Zahl empirischer Untersuchungen belegt wird. 429 Die ersten praktischen Erfahrungen zeigen jedoch, dass eine erfolgreiche Umsetzung der vom Sozialgesetzbuch gegebenen Handlungsrahmen nur durch eine Umgestaltung der Zusammenarbeit der sektorübergreifenden Leistungserbringer möglich ist. Eine Generalisierung der hier auftretenden Organisations- und Wertschöpfungsprobleme bei der arbeitsteiligen Erstellung der integrierten Gesundheitsleistung für die Patienten sowie eine Betrachtung der Integrierten Versorgung als Ganzes lässt sich aber wenig finden. 4 3 0 Diese bildet jedoch das Fundament fiir die grundsätzliche Fragestellung eines geeigneten institutionellen Arrangements fiir die integrierte medizinische Leistungserstellung und damit für die Optimierung der sektorübergreifenden Managementaufgabe. Genau dafür soll der folgende Artikel die Frage erörtern, was die wertschöpfenden Aktivitäten der integrierten medizinischen Leistungserstellung darstellen, um dann anschließend auf ein entsprechend effektive Wertschöpfungskonfiguration schließen zu können.
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Der medizinische Leistungserstellungsprozess
Das Gut Gesundheit, das als Ergebnis des medizinischen Leistungserstellungsprozesses betrachtet werden kann, lässt einen erheblichen Interpretationsspielraum. Aus der Perspektive des Patienten lässt sich der „Bedarf' an medizinischer Versorgung als individueller Wunsch eines Menschen nach einer bestimmten Art von
428 429
430
Ein Überblick findet sich in Orlowski/Wasem (2003), S. 76-91 und Dalhoff(2009), S. 45 ff. Vgl. Franz (2008), S. 5 und Wagner/Ackerschott/Lenz (2007), S. 308. Eine Übersicht zu existierenden Studien findet sich bei Franz (2008), S. 8-12. Vgl. Leatt/Pink/Guerriere (2000), S. 18.
305 Gesundheitsversorgung, der multifaktorielle Auslöser hat, beschreiben. 431 Dieses subjektive Anliegen wird als abstrakte Nachfrage des Patienten im Rahmen des Leistungserstellungsprozesses durch die Interpretationsleistungen eines Dritten, meistens — aber nicht notwendigerweise — eines Arztes, in die konkrete Nachfrage nach Gesundheitsleistungen transformiert. 432 Die konkrete Nachfrage drückt sich im Bedarf nach Gesundheitsgütern und -dienstleistungen aus, die der Wiederherstellung, Erhaltung und/oder Verbesserung des Gesundheitszustandes dienen. Wird im Folgenden von Gesundheit gesprochen, ist damit ein Zustand gemeint, der nicht Gegenstand, sondern Ergebnis eines Leistungserstellungsprozesses ist. 4 3 3 Der überwiegende Teil der Leistungen für die Gesundheitserstellung ist im hohen Maße der Diensdeistung zuzuordnen. Daraus leiten sich typische Eigenschaften und Besonderheiten je nach Art des Produktes ab. 4 3 4 Nach der informationsökonomischen Typologie von Woratschek können Diensdeistungen nach den drei konstitutiven Merkmalen Grad der Integrativität, Individualisierungsgrad und Grad der Verhaltensunsicherheit unterschieden werden. 435 Gesundheitsleistungen weisen im Hinblick auf die genannten Determinanten die höchste Ausprägung auf. Da Dienstleistungen und Sachgüter in der Regel nicht separat angeboten werden, soll dieser isolierten Auslegung nicht in ihrer Stringenz gefolgt werden. Stattdessen findet bei der Leistungserstellung eine Kombination aus Sachgütern, Diensdeistungen und Rechten statt, die als Leistungsbündel angeboten werden 436 und die der Befriedigung der Bedürfnisse zur Gesundheitserhaltung der Menschen dient. Der Fokus der folgenden Ausfuhrungen liegt dennoch auf der Diensdeistung, da sich der überwiegende Anteil der Transaktionsleistungen der Gesundheitsanbieter aus Beratung, Unterstützung, Präzisierung oder Übernahme der Formulierung, Verordnung des Bedarfs an weiteren Leistungen aufgrund der Verordnungspflicht sowie aus Erbringung dieser zusammensetzen. Im Folgenden werden diese Tätigkeiten als Gesundheitsleistung bezeichnet und als Inputfaktoren für das Ergebnis Gesundheit betrachtet.437
Darunter fallen neben den gesundheitlichen Konditionen auch Attribute wie Alter, Geschlecht, Genetik, Komorbiditäten, subjektive Krankheitsempfindung, individuelles Verhalten, bisherige Erfahrungen mit medizinischer Versorgung, Gesundheitsbewusstsein, Statusfaktoren, Gewöhnung und lokale Traditionen, Beruf etc. Vgl. Oberender/Ecker (2001), S. 10. 4 3 2 Vgl. Oberender/Hebborn/Zerth (2006), S. 20. 4 3 3 Vgl. Milde (1992), S. 12. 4 3 4 Nach Meinung verschiedener Autoren sind die klassischen Besonderheiten von Dienstleistung wie Gesundheitsleistung: eingeschränkte Lagerfahigkeit, Standortgebundenheit, mangelnde Konkretisierbarkeit, Individualität der Diensdeistung, Ergebnisrisiko, geringer Standardisierungsgrad etc. Dazu siehe Corsten (1986), S. 19 ff., Maleri (1973), S. 79 ff. und ergänzend Herder-Dorneich (1994), S. 631-637. 435 Vgl. Woratschek (1998), S. 38. Zur Begründung dieser Vorgehensweise vgl. Woratschek (1998), S. 18 ff. und S. 38 ff. Dieser Definition wird im Rahmen des Artikel gefolgt. 4 3 6 Vgl. Kleinaltenkamp (2005), S. 65, Haase (2005), S. 40 und Woratschek (1998), S. 7. 4 3 7 Vgl. Milde (1992), S. 13. 431
306 Der Erstellungsprozess der Gesundheitsleistung lässt sich nach dem Drei-Phasen-Modell von Hilke in die Potenzial-, Prozess- und Ergebnisdimension unterteilen. 438 Neben der Vorhaltleistung an technischen Geräten, Infrastruktur etc. wird die Fähigkeit und die Bereitschaft der Leistungsanbieter zur Ausübung der Dienstleistung als Leistungspotenzial definiert. Dazu gehören körperliche und geistige Fähigkeiten, aber auch vor allem Fachwissen bspw. über Diagnose, Therapiemöglichkeiten sowie Patientenkarrieren. Ebenso ist es erforderlich, dass der Leistungsanbieter bereit ist, zum vereinbarten Termin und Einsatz die zugesagte Leistung zu erbringen.439 Erst wenn der externe Produktionsfaktor Patient mit einer entsprechend konkretisierten individuellen Nachfrage auftritt, wird durch die Kombination der weiteren Produktionsfaktoren eine Leistung generiert. Zum Zeitpunkt des Kontraktes zwischen Anbieter und Nachfrager ist die Absatzleistung also noch nicht existent. Damit ist die Gesundheitsleistung der Produktart „Leistungsversprechen" zuzuordnen.440 Selbst die Übertragung von Erfahrungen gestaltet sich zudem äußerst problematisch, da die gesundheitlichen Mängel nie vollkommen vergleichbar sind und der Behandlungsprozess eine immense patientenindividuelle Arzt-Patienten-Komponente einschließt.441 Die Prozessdimension beschreibt die Dienstleistung als eine wertschöpfende Tätigkeit oder als einen sich vollziehenden Transformationsprozess. In diesem gilt die mit dem uno-actu-Prinzip442 beschriebene Synchronisation von Leistungserstellung und -konsum durch den Patienten. Für den Leistungserstellungsprozess ist weiter nicht nur die permanente Präsenz des Patienten notwendig, sondern auch, dass dieser als Co-Produzent aktiv am Behandlungserfolg mitwirkt und sich compliant verhält. Das beim Patienten erzeugte und vorhandene krankheits- bzw. gesundheitsspezifische Wissen und seine Einstellungs- sowie Gesundheitsverhaltensänderung können als die Dienstleistung des Patienten ausgelegt werden. 443 Für Gesundheit können die Phasen der Transformation in Prävention, Diagnostik. Therapie, Rehabilitation und Pflege untergliedert werden. Eine Herausforderung ist, dass die Verfugungs- und Beeinflussungsmacht über den externen Faktor „Patient" eingeschränkt ist. Der Leistungserbringer kann über diesen nicht immer frei nach seiner Zeiteinteilung oder Willen disponieren. Neben dem primären 438 439 440
441
442
443
Vgl. Hilke (1989), S. 1 0 - 1 5 . Vgl. Franz (2008), S. 39 f. Vgl. Woratschek (1998), S. 25, Nelson (1970), S. 3 1 1 ff., Milde (1992), S. 13. Es dominieren folglich keine Sucheigenschaften wie bei Sachleistungen. Qualitätseigenschaften sind nicht vor dem Kauf, sondern entweder durch Wahrnehmung des Angebotes (Erfahrungsgut) oder selbst danach mangels fachlichen Wissens (Vertrauensgut) nicht bewertbar. Vgl. Breyer/Zweifel/Kifmann (2005), S. 1 5 1 , Franz (2008), S. 4 7 und Schneider (1998), S. 17. Vgl. Oberender/Hebborn/Zerth (2006), S. 24, Seelos (1998), S. 108 sowie Herder-Dorneich (1994), S. 4 8 5 und 630. Vgl. Donabedian (1978), S. 857.
307 Leistungsprozess, der sich mit der physischen Erstellung der integrierten medizinischen Leistung direkt am Patienten beschäftigt, unterstützen sekundäre Leistungsprozesse diese Aktivitäten durch den Einkauf von benötigen Ressourcen, Technologien oder durch Bereitstellung einer entsprechenden Infrastruktur. 444 Ist die Leistungserbringung abgeschlossen, befindet sich die Gesundheitsleistung in der Ergebnisphase. Das Transformationsergebnis Gesundheit kann entweder die Genesung, Wiederherstellung von Lebensqualität, aber auch die Verhinderung einer Verschlimmerung sein. Sowohl die hohe Integrativität und damit Beeinflussung des Ergebnisses durch die Mitwirkung und die Konstitution des Patienten als auch der Vertrauensgutcharakter fuhren zu einer geringen Homogenität der Ergebnisse. Eine eindeutige Bewertung der Qualität gelingt damit nur schwer. Der Leistungserstellungsprozess einer Gesundheitsleistung lässt sich damit wie folgt schematisch darstellen: Leistungserstellungsprozess
Input
Output
Leistungsbereiche Ambulante Versorgung
Stationäre Versorgung
Potenzial-Dimension
Prozess-Dimension
Ergebnis-Dimension
Abbildung 33: Leistungserstellungsprozess einer Gesundheitsleistung Quelle: Eigene Darstellung
Erst wenn die Behandlung einer Krankheit den Einbezug mehrerer Sektoren und Fachdisziplinen nötig macht, lohnt sich die Einbindung in eine integrierte Leistungserstellung. 445 Dieser Ansatz verlangt nicht nur die Verzahnung von ärztlicher
444 445
Vgl. Porter (1985), S. 69 und Güssow (2007), S. 77. Ein grippaler Infekt, der durch den Hausarzt behandelt werden kann, bedarf keiner Integrierten Versorgung. Die ggf. lebenslange Behandlung von Diabetes mellitus Typ II wird
308 und pflegerischer, sondern auch von physiotherapeutischer, ergotherapeutischer, logopädischer, diätetischer und psychotherapeutischer Versorgung. Das Angebot einer integrierten Gesundheitsleistung sieht im Gegensatz zur Regelversorgung vor, 4 4 6 dass im Moment des Auftretens einer konkretisierten Nachfrage seitens des Patienten alle intersektoral und interdisziplinär benötigten Ressourcen komplett bis zur gewünschten Veränderung des Gesundheitszustandes durch die Leistungserbringer bereitgestellt und für den Patienten koordiniert werden. Für den Leistungserstellungsprozess bedeutet dies, dass als Leistungspotenzial Versorgungsanbieter verschiedener Fachrichtungen, Versorgungsebenen und Sektorenzugehörigkeit sowie eine entsprechende Infrastruktur bereitstehen muss. Im Moment der Prozessphase kommt es darauf an, von wem wann welche Leistung auf welche Art im Rahmen der integrierten Gesundheitserstellung erbracht werden soll. Der Umfang der zu erbringenden Dienstleistungen der beteiligten Akteure erhöht sich also um die Patientenkoordination durch den Behandlungsprozess und damit um die zusätzliche Abstimmung und den Austausch zwischen den einzelnen spezialisierten Fachbereichen. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass gerade weil die medizinische Leistungserstellung als Dienstleistungstransformation eine Mensch-Mensch-Beziehung und nicht eine Mensch-Maschine- oder Mensch-Sachleistungs-Beziehung zugrunde liegt, bilden soziale Interaktionen den Kern der Austauschprozesse. 447 Anders als bei Beziehungen zu Sachmitteln oder Maschinen können zwischen Akteuren divergierende Ziele und Informationsasymmetrien auftreten und zu Verhaltensproblemen fuhren. 448 Das Ausmaß dieser äußert sich in der Motivation der Beteiligten, eine betreffende Transformation im Sinne vorher vereinbarter Koordinationsregeln und Zielvorstellungen durchzuführen. Diese Besonderheit gilt es bei der Prüfung möglicher Wertschöpfungskonfigurationen zu berücksichtigen.
446 447 448
von zahlreichen Akteuren unterschiedlicher Sektoren vollbracht. Damit liegt eine klassische Indikation für eine Integrierte Versorgung vor. Zur Abgrenzung siehe Linke (2010), S. 84 ff Vgl. Haase (2005), S. 38. Auch bei der Produktion von Sachgütern und bei Mensch-Maschinen-Beziehungen treten Verhaltensprobleme auf. Diese beziehen sich jedoch hauptsächlich auf Delegationsbeziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer oder Vorgesetzten und Unterstellten. Das Motivationsproblem tritt hier in der Frage auf, inwieweit Arbeitnehmer (Agenten) die Anweisungen des Arbeitgebers (Prinzipals) zielgerecht umsetzen. Bei Mensch-MenschBeziehungen hängt dagegen das Zustandekommen einer Transaktion bereits von Motivations- und damit Verhaltensproblemen ab. Im weiteren Sinne kann die Prinzipal-AgentenTheorie als ein Zweig der Wirtschaftstheorie verstanden werden, der die Kooperation zwischen Wirtschaftssubjekten beim Vorhandensein von Interessenskonflikten und Informationsasymmetrien sowie die daraus resultierenden Folgen zum Gegenstand hat. Vgl. Schmidt-Mohr (1997), S. 65.
309
2
Wertschöpfungskonfigurationen und ihre Ubertragbarkeit auf die integrierte medizinische Leistungserstellung
In der integrierten medizinischen Leistungserstellung werden Produktionsfaktoren in eine Gesundheitsleistung mit dem und für den Patienten als Abnehmer transformiert. Dafür sind die Kombination, die Koordination und die Ausführung verschiedenster Aktivitäten notwendig. Diese Teilleistungen schaffen für den Patienten einen Wert, der im Ergebnis höher ist als die Summe der eingesetzten einzelnen Produktionsfaktoren.449 Diese Transformation nennt sich Wertschöpfungsprozess. Der Wert wird im Allgemeinen durch Erzielen von Umsatzerlösen auf einem entsprechenden Absatzmarkt realisiert und fuhrt nach Abzug der Kosten fiir alle eingesetzten Produktionsfaktoren zur Gewinnspanne eines integrierten Angebotes. 450 Der beschriebene Wertschöpfungsprozess kann je nach zugrunde liegendem Muster der Leistungserstellung auf verschiedene Arten konfiguriert und nach strategischen Wettbewerbsvorteilen analysiert werden. Schon Barnard stellte fest, dass die Koordination von wertschöpfenden Aktivitäten nach drei Prinzipien geschehen kann: nach dem Prinzip des Nacheinander (sequentiell), nach der Frage der Wiederholung (iterativ) und nach dem Prinzip der Gleichzeitigkeit (simultan).451 Als Typologien dafür werden die Jahre später entwickelten Ansätze der Wertkette, des Wertshops und des Wertnetzwerks vorgestellt und auf ihre Eignung fiir die Abbildung des Wertschöpfungsprozesses der integrierten Gesundheitsleistung hin untersucht. Diese Wertschöpfungskonfigurationen dienen der strukturierten Darstellung der wertschöpfungsbezogenen Aktivitäten einer Unternehmung.
2.1 Die Wertkette Der Wertschöpfungsprozess wird oft in klassischer Weise nach Porters Wertkettenansatz beschrieben.452 Dabei werden voneinander abgrenzbare, jedoch nicht unabhängige wertsteigernde Tätigkeiten dargestellt. Der wertschöpfende Leistungserstellungsprozess wird also in diskrete Aktivitäten, die die Kosten- bzw. Erlössituation des betreffenden Unternehmens determinieren, aber auch Hinweise für Differenzierungsvorteile geben, unterteilt.453 Porter unterscheidet die Tätigkeiten dabei nach dem Zweischichtenmodell in primäre und sekundäre, unterstützende 449 450 451 452 453
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Woratschek/Roth/Pastowski (2002), S. 57. Woratschek/Roth/Pastowski (2002), S. 59. Barnard (1970/1938), S. 117. Porter (2000), S. 63. Woratschek/Roth/Pastowski (2002), S. 57.
310 Aktivitäten. 4 5 4 Neben dem primären Leistungsprozess, der direkt an der Erbringung der Wertschöpfung für den Kunden beteiligt ist - im Rahmen der Integrierten Versorgung die direkte Gesundheitsleistungserbringung am Patienten —, unterstützen sekundäre Leistungsprozesse den primären durch den Einkauf von benötigen Ressourcen, Technologien oder durch Bereitstellung einer entsprechenden Infrastruktur etc. (vgl. Abbildung 34). Die primären Tätigkeiten folgen dabei einer sequentiellen Abfolge, die sich an dem schrittweise erfolgenden Transformationsprozess der Rohstoffe bis zum werthaltigen Produkt orientiert. 455
Unternehmensstruktur Personalmanagement Technologieentwicklung Beschaffung u.a
Primäre Leistungsprozesse
E rr;, e >
—«
Operation Therapie
Reha/ Pflege
^Entlassung/ /Überweisung
Output
Abbildung 34: Wertschöpfungskonfiguration als Wertkette Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Porter (1985), S. 37.
Der Vorteil des Ansatzes liegt darin, dass die Prozesse der wirtschaftlichen Leistungserstellung systematisch Schritt fiir Schritt aufbereitet werden. Insbesondere ftir planbare Produktionen, wo es auf anhaltende, gleichmäßige Anstrengungen oder Aufmerksamkeiten ankommt, oder die Uberwindung einer geringen Geschwindigkeit der Bewegung eines einzelnen bedeutsam ist und die Kraft von mehreren aufeinanderfolgenden Personen für diskrete Tätigkeiten eingesetzt werden kann, stellt die Wertkette eine geeignete Abbildung der Wertschöpfung dar. 4 5 6
454 455 456
Vgl. Porter (1985), S. 69 und Gussow (2007), S. 77. Vgl. Woratschek/Roth/Pastowski (2002), S. 60. Vgl. Barnard (1970/1938), S. 117.
311 Inwieweit dieser Ansatz auch auf den integrierten medizinischen Leistungserstellungsprozess angewendet werden kann, ist jedoch kritisch zu hinterfragen. So stammt die Modellierung der Wertkette vor allem aus klassischen Produktionsbereichen wie der Automobilindustrie, deren einzelne Produktionsschritte sowie deren wertschöpfende Beiträge entsprechend einer Fließbandproduktion sequentiell abbildbar sind. Im Gesundheitswesen findet sie üblicherweise Anwendung für sektoral abgrenzbare Leistungsprozesse wie bspw. innerhalb des Krankenhauses für die Produktionsstätte Operationssaal und für Praxisbetriebe. 457 Die Erstellung der integrierten Gesundheitsleistung als hoch komplexe und variabel Diensdeistung ist jedoch durch einen hohen Grad an Individualität, Integrativität sowie Umwelt- und Verhaltensunsicherheit geprägt. Eine Konfiguration ihrer Wertschöpfung nach der Wertkette berücksichtigt dafür die während der Leistungsprozesse zu erwartende große Anzahl von Varietät und hohen Informationsasymmetrien zu wenig. Es fehlt sowohl die Berücksichtigung der notwendigen Integration des externen Faktors Patient als auch die während des Erstellungsprozesses notwendige Abstimmung der benötigen Potenzialfaktoren unter den Leistungserbringern sowie zwischen den Leistungserbringern und dem Patienten. Des Weiteren steht die Transaktion „integrierte Gesundheitsleistung" im Mittelpunkt und nicht die jeweilig abgrenzbaren medizinischen Einzelleistungen. Innerhalb der Sektoren werden an den Schnittstellen der Anfang und das Ende für eine abgeschlossene Wertschöpfung der Teilleistungen definiert. Im Rahmen der Integrierten Versorgung liegt dagegen eine Gesamtverantwortung für die schnittstellenübergreifende Wertschöpfung mit der Ergebnisorientierung „gesunder Patient" vor. Die Reihenfolge der Produktionsstufen ist je nach Konditionen des Patienten variabel, wenn nicht sogar schleifenartig, sodass einzelne Leistungen auch mehrmals involviert sein können. 4 5 8 Bei multimorbiden und chronischen Erkrankungen ist eine klassische Wertschöpfungskette nicht zu bestimmen, da in der Leistungserbringung mehrere Parallelprozesse existieren. Ebenso verfolgt die Integrierte Versorgung eine andere Quelle für die Realisierung einer Gewinnspanne. Während bspw. bei einer Automobilherstellung zusätzliche wertschöpfende Aktivitäten durch die Honorierung über die erhöhte Zahlungsbereitschaft der Kunden belohnt wird, geht es bei der integrierten Gesundheitsleistung aufgrund des fehlenden direkten Zahlungsstromes zum Patienten darum, ergebnisorientiert („Gesundheit") bei fixiertem Preis (Budget) den notwendigen Ressourceneinsatz abzuwägen, um einen möglichst hohen Deckungsbeitrag zu erwirtschaften.
457 458
Vgl. Hamm (2002), S. 44 und Breuer (2002), S. 142. Vgl. Amelung (2007), S. 30.
312 Die Struktur der Wertkette ist folglich für die integrierte Leistungserstellung zu deter-ministisch und zu starr.459 Trotz der bisher üblichen Anwendung der Wertkette für einzelne Institutionen des Gesundheitswesens wird die Wertkette für die Abbildung des Wertschöpfungsprozesses der integrierten Leistungserstellung daher als nicht geeignet befunden.
2.2 Wertshop Aufgrund der Starrheit des Wertkettenansatzes stellen Stabell/Fjeldstad fest, dass sich Ubertragbarkeitsprobleme auf Aktivitäten, denen eine Problemlösungsfunktion zugrunde liegt, ergeben.460 Daher schlagen sie den Wertshop insbesondere für Dienstleistungen als Wertschöpfungskonfiguration vor.461 Ihr Ansatz konzentriert sich auf die veränderte Darstellung der primären Aktivitäten, die sekundären Aktivitäten unterscheiden sich im Vergleich zur Wertkette hingegen nicht. Die einzelnen wertschöpfenden Tätigkeiten beschäftigen sich im Rahmen einer Delegationsbeziehung mit Aufträgen von Kunden, Probleme für sie zu analysieren und in einer Leistungserstellung zu lösen. Die Gewinnspanne ergibt sich dabei aus dem effektiven und effizienten Einsatz der Ressourcen und dem prospektiv vereinbarten Preis. Dafür muss eine Auswahl und Kombination von Potenzialfaktoren geschehen, die auf den entsprechenden Einzelfall abgestimmt werden. Typische Dienstleistungen sind die von Rechtsanwälten, Beratungen und Architekten. Der charakteristische Prozessverlauf der primären Aktivitäten ist im Sinne einer Lernbeziehung zyklisch, iterativ und unstetig.462 Der Ablauf folgt keinem eindeutig definierten sequentiellen Muster mit striktem Anfang oder Ende. Vielmehr werden die verschiedenen Problemlösungsaktivitäten mehrmals durchlaufen, neue notwendige Informationen aufgenommen und verarbeitet, als Lösungsvorschlag konzipiert, mit dem Auftraggeber besprochen und ggf. das Problem reformuliert. Die nachstehende Abbildung veranschaulicht den Ansatz des Wertshops.
459 460
461 462
Vgl. Woratschek/Roth/Pastowski (2002), 58. Vgl. Corsten/Gössinger (2005), S. 161 ff., Woratschek/Roth/Pastowski (2002), S. 60 und Stabell/Fjeldstad (1998), S. 414. Vgl. Stabell/Fjeldstad (1998), S. 414. Vgl. Stabell/Fjeldstad (1998), S. 422.
313
Unternehmensstruktur Personalmanagement Technologieentwicklung Beschaffung u.a
Problem findung Lösungsalternativen
Akquisition Gewinnspanne
Entscheidung
Evaluation Ausführung
Abbildung 35: Wertschöpfiingskonfiguration als Wertshop Quelle: Stabell/Fjeldstad (1998), S. 424.
Die wertschöpfendenden Aktivitäten weisen eine hohe reziproke Interdependenz auf und erfordern damit einen hohen Koordinationsaufwand. 4 6 3 Der Wertshop spiegelt diese grundlegende Logik wider und versteht den Transformationsprozess nicht als starres Ablaufdiagramm verstanden. Die einzelnen Elemente der primären Aktivitäten werden vielmehr als Pool von Problemlösungsaktivitäten gedeutet. Dabei liegt gerade bei komplexen Dienstleistungen eine Betonung der Bedeutung von Wissen und Kommunikation im Rahmen des problemlösenden Wertschöpfungsprozesses vor. 4 6 4 Komplexe Dienstleistungen, wie integrierte medizinische Leistungen, werden erst nach der Auftragserteilung durch den Patienten und nach Konkretisierung der Nachfrage durch den Arzt in einer Delegationsbeziehung zwischen Leistungserbringer und Patient erbracht. Durch die hohe Individualität und die Abhängigkeit der Qualität der Leistung von den Konditionen und dem Verhalten des Patienten ist mit einem unstetigen Verlauf des Leistungserstellungsprozesses zu rechnen. Wird eine Krankheit nicht auf Anhieb eindeutig diagnostiziert oder fehlen weiterfuhrende Informationen, werden in iterativer und zyklischer Art und Weise mögliche Therapie-Ansätze angegangen. Resultieren diese nicht im entsprechenden Ergebnis bspw. in einer Heilung, wird erneut (iterativ) mit dem neu hinzuge463 464
Vgl. Woratschek/Roth/Pastowski (2002), S. 61. Vgl. Haase (2005), S. 47.
314 wonnen Informationen ein Lösungsversuch gewagt. Damit weist der Ablauf des integrierten medizinischen Behandlungsprozesses Übereinstimmungen mit dem Konzept des Wertshops auf. Abbildung 36 visualisiert die Kongruenzen mit dem Problemlösungsprozess. Der integrierte medizinische Behandlungsprozess als Problemlösungsfunktion Problemfindung Diagnostik
Akquisition Aufnahme/ Einweisung
Losungsalternativen Entscheidung
Ausführung Operation/ Therapie
Prävention
Ausführung Entscheidung
Patient
Entscheidung
Entscheidung Reha
Ausführung Evaluation ? ? ? ?
Gewinnspanner???
Abbildung 36: Der integrierte medizinische Behandlungsprozess mit Problemlösungsfunktion Quelle: Eigene Darstellung
Der externe, schwer disponierbare Faktor Patient ist Auftraggeber für den Problemlösungsprozess „Krankheit" und beeinflusst die Wertschöpfung der Lösungsleistungserbringung erheblich mit. Im Mittelpunkt des Leistungserstellungsprozesses stehen die medizinischen Konditionen (Krankheiten, Verletzungen etc.) des Patienten. Daher steht er im Mittelpunkt der medizinischen Wertschöpfungskonfiguration. In Form eines „Care Cycles" 4 6 5 liegen alle notwendigen spezialisierten Fachdisziplinen, die zur Behandlung und Wiederherstellung der Gesundheit benötigt werden, um den Patienten. Die Leistungserbringer diagnostizieren zuerst das vorliegende Problem so konkret wie möglich, um dann die notwendigen Ressourcen bzw. Leistungen wie Operationen, Therapie, Reha, Pflege etc. in Abstimmung mit dem Patienten zusammenzustellen. Für den gesamten 465 Vgl Porter/Teisberg (2006), S. 105. Porter stellt die „medical conditions over the füll Cycle of Care" ins Zentrum seiner Betrachtung. Dabei definiert er „medical conditions" als Krankheiten, Leiden, Verletzung und natürliche Umstände wie Schwangerschaft.
315 Ablauf müssen weiter ein Anfang und ein Ende definiert werden, um Evaluationen der Ergebnisse durchfuhren zu können. Der Wertschöpfungswert, den ein einzelner medizinischer Leistungsanbieter zur Gesundung des Patienten beiträgt, setzt sich aus der Qualität seiner Leistung, der Abstimmung mit den anderen Teilleistungen 466 und der Berücksichtigung der medizinischen Konditionen des Patienten zusammen. Der integrierte medizinische Leistungserstellungsprozess findet sich deutlich in der Wertschöpfungskonfiguration des Wertshops wieder. Dieses Ergebnis verdeutlicht die bisherigen Ausfuhrungen, dass bei der integrierten Gestaltung der medizinischen Leistungserstellungsprozesse traditionelle Muster der arbeitsteiligen Zusammenarbeit und die Professionsgrenze sowie die Trennung zwischen unterschiedlichen Disziplinen und Leistungsanbietern bei der komplexen Koordination der Potenzialfaktoren für den Patienten überholt sind. 4 6 7
2.3 Wertnetzwerk Das Wertnetzwerk bietet sich nach Stabell/Fjeldstad für die Wertschöpfungskonfiguration von primären Aktivitäten eines Unternehmens, das Intermediationsfunktionen wahrnimmt, an. 4 6 8 Die wertschöpfenden Tätigkeiten ergeben sich aus der Unterstützung bei der Kontaktaufnahme von verschiedenen Unternehmen, Organisationen, Konsumenten oder sonstigen Interessenten zueinander, die entweder voneinander abhängen oder in Beziehung zueinander stehen möchten. Die Verbindungen zwischen den Akteuren können dabei nur auf Informationen basieren, durch Herbeiführung von Verträgen zwischen den Beteiligten und/oder über eine Distributionsfunktion des Intermediationsunternehmens geschaffen werden. 469 Die Firma an sich stellt nicht das Netzwerk dar, sondern bietet verschiedene Netzwerkservices vor allem auf Basis von IuK-Technologien an. Ein klassisches Beispiel sind Telefon- und Internetunternehmen. Die wertschöpfenden Aktivitäten erfolgen im Wertnetzwerk auf verschiedenen Ebenen nach einer simultanen Ausübungslogik. 470 Ihre Intention ist, die Leistungsbereitstellung verschiedener Funktionen zur gleichen Zeit und die daraus entstehende Synchronisation von Aktivitäten direkter/indirekter Beziehungen zwischen den involvierten Akteuren herzustellen, zu überwachen, ggf. zu beenden sowie die 466
467 468 469 470
Bspw. der Fokus auf eine kostengünstige OP erzielt nicht ihre Ergebnisse, wenn sie zu vermehrten postoperativen Komplikationen oder einer längeren Rehabilitation fuhrt. Dies gilt insbesondere dann, wenn der gesamte Behandlungsabiauf in der Verantwortung eines Trägers liegt. Vgl. Ewers/Schaeffer (2003), S. 205. Vgl. Stabell/Fjedlstad (1998), S. 427. Vgl. Woratschek/Roth/Pastowski (2002), S. 61. Vgl. Stabell/Fjeldstad (1998), S. 428.
316 in Anspruch genommenen Leistungen abzurechnen. Standardisierungen und die Schaffung von Kompatibilität für die Ermöglichung der gegenseitigen Kontaktaufnahme gehen damit oftmals einher. Wertschöpfend sind die Netzeffekte, die einen Nutzwert für die Teilnehmer des Netzes darstellen. Diese sind so attraktiv für die Akteure, dass sie bereit sind, Netzleistungen gegen Entgelt zu beziehen. Die Gewinnspanne wird dadurch realisiert, dass der Gesamtwert des Netzes, ausgedrückt in der Zahlungsbereitschaft der Kunden, über den Kosten der Bereitstellung liegt. Die primären Aktivitäten des Wertnetzwerkes lassen sich in die drei Tätigkeiten Promotion, 471 Serviceleistungen 472 und Infrastruktur 473 untergliedern (vgl. Abbildung 37), die simultan ausgeführt werden. Wie diese konkret ausgestaltet sind, in einem Bündel zusammenwirken und koordiniert werden, beeinflusst die Wertschöpfung nachhaltig. 474
Abbildung 37: Wertschöpfungskonfiguration als Wertnetzwerk Quelle: Stabell/Fjeldstad (1998), S. 430. 471
472 473
474
Vermarktung des Netzwerkes, Vertragsmanagement, Anwerbung, Auswahl potenzieller Teilnehmer und Vertrautmachen mit Funktionsweisen des Netzes, Vertragsanbahnung, Vertragsgestaltung etc. Die eigentliche Leistungsbereitstellung ist die Herstellung, Unterhaltung und Beendigung von Kontakten sowie die Abrechnung der in Anspruch genommenen Leistungen. Entwicklung und Unterhaltung der Infrastruktur fiir den laufenden Betrieb des Netzwerkes. Die Dienste können sich von einer Variation von Vertragskomponenten, Änderungen von Schnittstellenmanagement oder die Aufnahme völlig neuer Leistungen erstrecken. Vgl. Woratschek/Roth/Pastowski (2002), S. 62.
317 Ähnlich wie beim Wertshop weisen die wertschöpfenden Aktivitäten des Wertnetzwerkes eine reziproke anstatt sequentielle Interdependenz auf und erfordern damit einen hohen Koordinationsaufwand.475 Gelingt die Synchronisation der Aktivitäten nicht, kann das Gesamtsystem zusammenbrechen.476 Die einzelnen Elemente der primären Aktivitäten werden als Pool von Leistungen zur Bereitstellung des Netzwerknutzens für die Kunden gesehen. Die Kombinationsmöglichkeiten dieser eröffnen Netzwerkunternehmen eine Vielzahl unterschiedlicher Wertschöpfungsquellen, die wiederum als strategische Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Netzwerkanbietern genutzt werden können. Für die Abbildlung der Transaktion „integrierte Gesundheitsleistung" bezieht das Wertnetzwerk den konkreten Behandlungsablauf und das Wertschöpfungspotenzial darin zu wenig ein. Dennoch bietet die Konfiguration einen plausiblen Ansatz für die unterstützenden Aktivitäten bspw. einer Managementgesellschaft im Rahmen der Integrierten Versorgung.477 Ein simultaner Ablauf von wertschöpfenden Tätigkeiten ist für die Art von Transaktionen erforderlich, für die es entscheidend ist, eine Gleichzeitigkeit von Bemühungen herzustellen und dadurch die Reichweite des Wahrnehmungs- und Wissenshorizonts zu erweitern.478 Gründe dafür können die Existenz beschränkter Rationalität, unterschiedlicher Wahrnehmungen sowie verschiedener Standorte der Akteure sein. Dieser Bedarf ist insbesondere beim Transaktionsgut „Gesundheitsleistung" vor dem Hintergrund der Eigenschaften und der historisch gewachsenen Schnittstellen sowie Institutionen vorhanden. Die Managementgesellschaft kann gerade die zahlreich bestehenden Informationsasymmetrien durch die Unterstützung mit einer entsprechenden Infrastruktur bei der Kontaktanbahnung, ob zwischen Krankenkassen und integrierter Leistungserbringergemeinschaft oder zwischen Patienten und dem integrierten Versorgungsangebot sowie zwischen potenziellen Teilnehmern an dem Netz, reduzieren. Die Zusammenstellung und Distribution des integrierten Leistungsangebotes aus einem Verbund heraus generiert des Weiteren in Abhängigkeit von der Anzahl der Beteiligten und von der Komplementarität ihrer Leistungen aufgrund von Verbundeffekten Wertschöpfungspotenziale. Ebenso können sowohl den Leistungserbringern, als auch den Krankenkassen Verträge durch geringere Such- und Verhandlungskosten transaktionskosteneffizienter angeboten werden. Das Wertnetzwerk spiegelt zwar nicht die primäre medizinische Leistungserstellung adäquat wieder, dennoch eignet sie sich für die Beschreibung der wertschöpfenden Aufgaben und Funktionen einer Managementgesellschaft im Rahmen der 475 476 477 478
Vgl. Woratschek/Roth/Pastowski (2002), S. 61. Vgl. Stabell/Fjeldstad (1998), S. 428. Vgl. Linke (2010). Vgl. Barnard (1970/1938), S. 117.
318 Integrierten Versorgung und kann folglich als Grundlage für die Gesamtsystemgestaltung verwendet werden. 479 Die Ausfuhrungen konzentrieren sich im Rahmen des vorliegenden Artikels gleichwohl ausschließlich auf die Konzeption der integrierten medizinischen Wertschöpfung.
3
Konzeption der integrierten medizinischen Wertschöpfung als Wertshop
Eine effiziente integrierte Leistungserstellung benötigt eine kooperative Form der Zusammenarbeit zwischen Medizinern sowie zwischen medizinischen und nicht-medizinischen Fächern. Dafür ist die Etablierung von interorganisationalen Teamstrukturen 480 als persönliche Selbstintegrationsmechanismen ebenso wie die Schaffung einer kooperativen Kultur und der Aufbau von Vertrauen unumgänglich. 481 Die Berücksichtigung des Patienten als Partner und Koproduzent des medizinischen Leistungserstellungsprozesses darf dabei nicht fehlen. Erst diese erhöht nicht nur nachhaltig das Gesundheitsverhalten, sondern auch den klinischen Outcome. Der Wertschöpfungscharakter der horizontalen Austauschbeziehungen zwischen den Transaktionspartnern entspricht, wie festgestellt, dem eines Problemlösungsprozesses. Die Eingliederung der Leistungsanbieter und die damit stattfindende Zusammenfuhrung der Kompetenzen in den sektorübergreifenden Wertshop können verschiedene Ausmaße in Abhängigkeit von der Indikation, den vorhanden Standardisierungen und den Konditionen des Patienten annehmen. Je nach Leistung liegen folglich verschiedene Produktintegrationsgrade vor. 482 Bei der Bestimmung, welcher Anbieter bei welchem integrierten Leistungsangebot in den Wertshop hinzugezogen wird, muss der Fokus auf der möglichst transaktionseffizienten Uberbrückung von Schnittstellen liegen. Dafür müssen diese je nach Indikationen identifiziert und definiert werden, um dann die Aktivitäten in einen patientenorientierten Zusammenhang zu stellen und zu koordinieren. 483 Anstatt funktional getrennt nach Spezialisierungen oder Fähigkeiten zu sein, organisieren sich die Leistungserbringer als „integrated practice unit" gemeinsam um die medizinischen Konditionen der Patienten herum. 4 8 4 Für dieses Lösungsdesign werden 479 480
481 482 483 484
Vgl. ausfuhrlicher Linke (2010). Interorganisationale Teams bestehen aus Mitgliedern verschiedener eigenständiger Organisationen. Vgl. Stock (2003), S. 218. Vgl. Goldsmith (2002), S. 40 und Rabbata (2007), S. A 681. Vgl. hierzu Linke (2010), S. 176. Vgl. Porter/Teisberg (2006), S. 168. Die Bezeichnung folgt einem Vorschlag von Porter/Teisberg (2006), S. 106, und Robinson (1997), S. 16.
319 im anschließenden Abschnitt anhand der prozessualen Schritte des Wertshops 485 relevante Aspekte der integrierten Gesundheitsleistungserstellung erörtert und herausgearbeitet.
3.1 Akquisition Die Aktivitäten der Akquisition umschreiben die Vertragsanbahnung und -gestaltung eines konkreten Behandlungsauftrages zur Erstellung der integrierten Gesundheitsleistung. Bei der Gewinnung von Patienten und Krankenkassen als Kunden der Integrierten Versorgung kommt es zu Überschneidungen bezüglich der Aktivitäten der Managementgesellschaft:, die als Promoter und Vertragsmanager für die integrierten Versorger auftritt. Nachfolgend werden daher nur noch Punkte besprochen, die direkt den Leistungsprozess betreffen. Nicht jede Krankheit und nicht jeder Patient benötigen die Leistungen eines Wertshops. Des Weiteren muss nach Schweregrad und akutem Behandlungsbedarf einer Krankheit (Notfall), Erfahrungswerten und etablierten Leitlinien für Therapien differenziert werden. Ein interdisziplinäres Team wird vor allem bei chronischen komplexen Volkskrankheiten sowie bei Einbezug von Leistungen mehrerer Sektoren notwendig. Für einen transaktionseffizienten integrierten Leistungserstellungsprozess ist es daher von hoher Relevanz, dass die „richtigen" Aufträge selektiert werden. Diesem Selektionsproblem kann durch das Ableiten von rationalen Einschlusskriterien erfolgreich begegnet werden. Diese können sich einerseits an den Bedingungen des Behandlungsprozesses und anderseits an den Konditionen des Patienten orientieren. 486 So kann eine benötigte intersektorale sowie interdisziplinäre Versorgung ebenso dazu fuhren, dass ein Wertshop angesetzt wird, wie auch das Vorliegen einer Multimorbidität, eines hohen Alters oder von Pflegebedürftigkeit. Damit der Patient jedoch auf das Angebot aufmerksam wird und das integrierte Versorgungskonzept nachfragen kann, muss er entweder in der Lage sein, seine Gesundheitsbedürfnisse zu identifizieren und sich selbständig über Behandlungsalternativen, bspw. über seine Krankenkasse, zu informieren oder er wird von seinem ambulanten Haus- bzw. Facharzt nach Konkretisierung seiner abstrakten Gesundheitsnachfrage auf das Angebot hingewiesen. Die ambulanten Vertragsärzte nehmen also eine „Gatekeeper"-Funktion 487 für die Überweisung des Patienten in einen Wertshop ein. Hausärzte bringen wichtige Kompetenzen in 485
486
487
Siehe ausführlicher zum interaktionstheoretischen Ablauf des Problemlösungsprozesses Corsten/Gössinger (2005), S. 161 ff. Kriterien für eine Identifikation der Zielgruppe können epidemiologische, soziodemographische, geographische, verhaltensorientierte und psychographische Kriterien sein. Vgl. Stillfried/Jelastopulu (1997), S. 23 und Rachold (2000), S. 63.
320 den integrierten Behandlungsprozess mit ein. Sie sind als Vertraute der Patienten deren umgebenden sozialen Realitäten oft näher als die Krankenhausärzte, die den Patienten losgelöst von seiner Familie und Gemeinschaft im Akutzustand sehen. 4 8 8 Eine Einbindung der Hausärzte in den Wertshop scheint daher nicht nur aus der Perspektive der sichergestellten Uberweisung, sondern auch für die Sicherung eines patientenorientierten Behandlungsprozesses, der das Commitment des Patienten berücksichtigt, sinnvoll.
3.2 Problemdefinition und Lösungsalternativen Die Problemfindung konzentriert sich auf die zweckmäßige Erfassung und Formulierung des Gesundheitsproblems sowie die Festlegung bestimmter Kriterien für die Erreichung und die Bewertung der Qualität einer Lösung. 4 8 9 Eng damit verbunden sind die Akquisition und die Erarbeitung von Lösungsvorschlägen. Im Rahmen der Ausarbeitung von Handlungsalternativen werden mögliche Varianten auf ihre Konsequenzen und Umsetzbarkeit hin überprüft. Im Zusammenhang mit der Gesundheitsproduktion wird besonders die hohe Bedeutung der beschränkten Rationalität hervorgehoben. 490 In der Phase der Problemdefinition liegen zwischen Arzt und Patient erhebliche Informationsasymmetrien über Behandlungsbedarf und Therapiemöglichkeiten vor. Auf der einen Seite artikuliert der Patient mit seinem Wissen und seiner Sprache die subjektiv wahrgenommenen gesundheitlichen Schwierigkeiten und Bedürfnisse. 491 Der Arzt versucht auf der anderen Seite mit seinem auf ein Fachgebiet begrenztes Wissen diese Informationen in medizinische Diagnostikverfahren und in fachliche Termini zu übersetzen. Aufgrund beschränkter Rationalität und ungleichen Wissens treten jedoch Wahrnehmungsdifferenzen 492 nicht nur zwischen Patienten und Arzt, sondern auch zwischen Haus- und Facharzt sowie zwischen ambulanten und stationären Ärzten auf. Je schlechter das eigentliche Problem von Anfang an definiert und konkretisiert wird, desto weniger effektiv können Therapie und Behandlungsmethoden eingesetzt werden. 493
488 Ygi Campion-Smith (2007), S. 70 und 74. Die Langzeit- oder longitudinale Beziehung zwischen Patient und einem Arzt wie dem Hausarzt kann die Entwicklung beidseitigen Vertrauens verstärkt durch gemeinsame Erfahrungen fördern. 489 490 491 492 493
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Woratschek/Roth/Pastowski (2002), S. 61. Robinson (1997), S. 16. Corsten/Gössinger (2005), S. 161 ff. Bleicher (1972b), S. 174. Porter/Teisberg (2006), S. 172.
321 Der Patient ist als externer Produktionsfaktor daher ein wichtiger Informationsträger 494 und damit auch ein Co-Designer der Konfiguration des gesamten Wertschöpfungsprozesses innerhalb des Wertshops. Er muss dementsprechend von Anfang an in den Leistungserstellungsprozess als Informationsquelle integriert und zum Abbau von Informations-asymmetrien genutzt werden, sodass die externen Informationen mit den internen Informationen/Wissen und Ressourcen optimal verknüpft werden können. Während des Leistungserstellungsprozess stößt er jedoch bei der Übertragung von Diagnostikergebnissen von einem Arzt zu einem anderen an seine Artikulations- und medizinische Fachwissensgrenze. Je öfter der Arzt bei der Problemdefinition wechselt, desto mehr medizinisch relevante Informationen können bei reiner Übermittlung durch den Patienten verloren gehen oder missverstanden werden. Die Kommunikation unter den medizinischen Fachdisziplinen weist hingegen weniger Übermittlungsprobleme relevanter Informationen aufgrund einer gleichen Sprache und geteilten Wissens auf. Der einzelne Arzt erreicht durch seine Spezialisierung und den Fokus auf einen Teilbereich des Gesamtprozesses ebenfalls eine Grenze der ganzheitlichen Problemwahrnehmung. Insbesondere bei komplexen Krankheiten wie Volkskrankheiten und Krebs sind verschiedene fachliche Perspektiven notwendig, um die Ursache und den Ursprung der Gesundheitsleiden zu identifizieren und danach Lösungsalternativen zu erörtern. Wurde bspw. der Patient durch einen Hausarzt mit entsprechenden Einschlusskriterien fiir die integrierte Behandlung an die „integrated practice unit" überwiesen, so verfugt er insbesondere über Informationen zu sozialem Hintergrund, Krankheitsgeschichte, Allergien etc. Der Facharzt zeichnet sich dagegen durch Expertenwissen zu einem speziellen Teilproblem aus und der stationäre Arzt erkennt wiederum notwendige Diagnostikverfahren, die er für die Verordnung bspw. eines invasiven Eingriffs benötigt. Das gemeinsame Wissen der Akteure im Team („information/knowledge sharing") 495 ist in dem Moment der integrierten Problemdefinition mehr wert als das einzelne unverbundene Wissen, da sich jeder wechselseitig auf die gleiche Problemstellung zur gleichen Zeit beziehen kann. Dadurch, dass alle relevanten Informationen zur richtigen Zeit am richtigen Ort für alle Beteiligten vorliegen, wird der Betrachtungszeithorizont des einzelnen Akteurs erweitert, die Verflechtungen sowie Wechselwirkungen der medizinischen Leistungserstellung können berücksichtigt und die Schnittstellenübergaben verbessert werden. Damit wird die Basis für die Optimierung des gesamten Behandlungsprozesses gelegt. Die Potenziale lassen sich leichter realisieren, wenn der gesamte „Care Cycle" organisiert und nicht nur die jeweilige Art der Intervention optimiert wird. 4 9 6 494 495 496
Vgl. Kleinaltenkamp (2005), S. 71. Vgl. Porter/Teisberg (2006), S. 172. Vgl. Porter/Teisberg (2006), S. 106.
322 Notwendige Voraussetzung dafür ist jedoch die gegenseitige Anerkennung von Qualifikationen und Kompetenzen. Gleichzeitig lernt ein jeder beteiligter Arzt über den wechselseitigen interdisziplinären Wissensaustausch mehr über die sektorübergreifenden Gesamtzusammenhänge der Behandlung, was wiederum langfristig die individuellen Entscheidungen aufgrund höherer Transparenz verbessert. Wurde das Gesundheitsproblem in einem zirkulären Prozess hinreichend konkretisiert, werden in einem gemeinsamen Abstimmungsverfahren Lösungen in Form von Behandlungsplänen ausgearbeitet. Damit wird folglich die Suche nach der geeigneten Koordination der integrierten Leistungserstellung gemeinsam erörtert. Das Dienstleistungsteam konstituiert zu diesem Zeitpunkt der Wertschöpfung das individuelle Bedürfnisnetzwerk für den Patienten im Sinne der integrierten Leistungserstellung. Kontextuell muss sich dabei eine ganzheitliche Sichtweise herausbilden, wonach sich alle beteiligten Leistungserbringer als gleichberechtigter Teil eines Teams von Spezialisten und des Wertshops verstehen und gemeinsam an den integrierten Prozessen arbeiten, in dessen Mittelpunkt der Patient steht. Im Rahmen des Behandlungsplans erhält jeder seinem Teilbereich und seinen Funktionen entsprechend Aufgaben und Qualitäts- bzw. Ergebniskriterien, die für den Übergang zur nächsten Teilbehandlung durch einen weiteren Leistungserbringer von Bedeutung sind. Dadurch werden die Schnittstellenprobleme bereits innerhalb des Planungsprozesses der Behandlung organisiert und gegenseitige Erwartungen an die Leistungen der beteiligten Akteure angepasst. Anstatt einer professionsorientierten funktionalen Koordination der Teilaktivitäten wird also eine problem- und ergebnisorientierte Sichtweise etabliert. Die Zusammensetzung des multidisziplinären Wertshopteams 497 erfolgt mit Fokus auf die zu lösenden Schwierigkeiten aufgabenorientiert und sektorübergreifend. Nur so kann eine problemorientierte Kooperationsform für die Koordination und Abstimmung des gesamten Leistungsgeschehens und die Gewährleistung einer ergebnisorientierten Versorgung gelingen. Dabei steht nicht im Vordergrund, dass die Beteiligten kontrolliert und angewiesen werden (Hierarchie), sondern dass sie sich als „relative equals" in ihrer Interaktion unterstützen (horizontale Beziehung) und durch Bündelung von Informationen/Wissen „economics on information costs" 498 realisieren. 497
498
Ein Team fiir bspw. Diabetes mellitus könnte aus spezialisierten Internisten, Diabetologen, Augenärzten, Physiotherapeuten, Fußspezialisten, Diätassistenten, ambulanten Pfleger/ innen etc. bestehen. Bei Onkologiefällen könnte hingegen die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Haus- und stationären Fachärzten (Onkologen, Internisten), onkologischen Schwerpunktpraxen, ambulanten Pflegediensten, Selbsthilfegruppen, Hospizdiensten etc. sinnvoll sein. Vgl. Immenschuh (2005), S. 309. Vgl. Williamson (1975), S. 42.
323
3.3 Entscheidung und Durchfuhrung Stehen nach Abgrenzung der Gesundheitsprobleme und Erarbeitung von Lösungswegen unter Berücksichtigung der Handlungskonsequenzen verschiedene Behandlungsoptionen zur Verfügung, wird eine Entscheidung nach rational festgelegten Kriterien für eine Option getroffen. Bei der Ausfuhrung des Behandlungsplans müssen getroffene Entscheidungen kommuniziert und die relevanten Maßnahmen koordiniert werden 499 Die Entscheidung kann in Form einer Alternativenbewertung gemäß der Grundprinzipien des SGBs und des Subsidiaritätsprinzips, wie bspw. „ambulant vor stationär", der Vorrang der Prävention sowie Vorrang der Rehabilitation gegenüber der Pflege, unter Beachtung der Patientenkonditionen getroffen werden. Dabei können je nach Versorgungsbedarf eine Prozess-, Kunden-, Funktions- bzw. Infrastrukturspezifität vorliegen, 500 nach denen die Behandlung jeweils zusammengesetzt und entschieden werden muss. Eine zunehmende Standardisierung von Leistungsbündeln durch festgelegte und akzeptierte Behandlungspfade (bspw. beim Vorliegen von DMPs) fuhrt zur Desintegration und einem geringen Abstimmungsbedarf bei der Entscheidung sowie Durchfuhrung der Teilleistungen. Eine erhöhte Spezifität verlangt hingegen eine stärkere Integration der verschiedenen Disziplinen (bspw. bei Volkskrankheiten) und die Entwicklung patientenindividueller Casemanagementprogramme. 501 Die Zusammenfuhrung von medizinischer und ökonomischer Verantwortung bspw. über Komplexpauschalen fuhrt weiter zu einer kostenorientierten Gewichtung der verschiedenen Lösungen. Dadurch können Ziele wie die Reduktion von kostenintensiven Verweildauerzeiten im Krankenhaus durch Vermeidung von Fehlbelegungen und hohen Einweisungsfrequenzen gemeinsam berücksichtigt werden. Im Rahmen des Entscheidungsprozesses unter gleichberechtigten Transaktionspartnern wird jedoch deutlich, dass die Anzahl der Teilnehmer des Wertshops die Effizienz des Entscheidungsprozesses bedingen. Da jedes Mitglied mit jedem spricht, belaufen sich die Kommunikationskanäle einer Entscheidung auf Vi n (n - l ) , 5 0 2 was bei zunehmender Größe zu hohen Kommunikationskosten und der Gefahr von „Drückebergerei" fuhrt. Aus diesem Grund wird es kurz- oder langfristig zu einer flachen Hierarchie unter einem Moderator kommen, wodurch 499 500 501
502
Vgl. Woratschek/Roth/Pastowski (2002), S. 61. Vgl. Pico t/Reichwald/Wigand (2003), S. 247 und Gussow (2007), S. 90. DMPs sind allgemeine, standardisierte Prozesslösungen für jeden Patienten, auf die sich die Leistungserbringer formal geeignet haben. Casemanagement wird hingegen patientenindividuell nach Bedarf konzipiert. Zu den verschiedenen Casemanagement-Konzepten siehe Ewers (1996), S. 23 ff. und S. 54 f. sowie zur Abgrenzung von anderen Konzepten Wille (2009), S. 104 f. Vgl. Williamson (1975), S. 46.
324 sowohl „economics of information" als auch „economics of communication" realisiert werden. 5 0 3 Einen transaktionskosteneffizienten Beitrag im Zusammenhang mit der Entscheidung leistet ebenso der Patient. Nach der fachlichen Bewertung der verschiedenen Handlungsalternativen durch die Leistungserbringer müssen dem Patienten die Ergebnisse kommuniziert werden. Dieser trifft dann mithilfe der medizinfachlichen Beratung letztendlich im Sinne eines „shared desicion process" bzw. „informed consent"504 die Entscheidung, welcher sektorübergreifende Behandlungsplan ausgewählt werden soll. Damit reduzieren sich in der Endauswahl die Kommunikationskanäle des Wertshop auf n-1, weil zum Schluss nur noch einer - der Patient — die Entscheidung über den gesamten Behandlungsablauf trifft. In Abhängigkeit von der Informationsübermittlung der Wertshop-Ergebnisse werden dadurch „economics of desicion" über den gesamten Transaktionszeitraum verwirklicht. 505 Durch die Verminderung der sektorübergreifenden Komplexität des Behandlungsablaufes können die Leistungserbringer und auch der Patient wesentlich einfacher ihren wertschöpfenden Beitrag in Bezug auf das Gesamtergebnis sowie die Wirkung für folgende Prozessschritte nachvollziehen. Tendenziell werden zwar hohe Vereinbarungskosten aufgrund der zeitlichen Einbindung und der personellen Beanspruchung anfallen, jedoch können diese, wie die nachfolgenden Ausfuhrungen zeigen, über reduzierte Prozesskosten überkompensiert werden. Bevor die Durchfuhrung der beschlossenen Therapieschritte beginnt, muss der Patient ausreichend über den Ablauf informiert sein und sein Einverständnis eingeholt werden, um seine Compliance sicherzustellen. Das Organisationsproblem der Leistungserbringer bei der Durchführung des vereinbarten Behandlungsplans fokussiert die Frage der Durchsetzung und Einhaltung der beschlossenen Qualitäts- sowie Patientenübergaberegeln. Da während der Phase der Problemdefinition gemeinsam der Bedarf an Leistungen und gegenseitig anerkannten Qualitätskriterien für diagnostische Maßnahmen diskutiert wurde, kann den medizinischen Ergebnissen und den Dokumenten bei der Übergabe des Patienten an den Schnittstellen vertraut werden. Dadurch werden das zwischenärztliche und intersektorale Misstrauen in die Befunderhebung sowie Informations- und Kommunikationsprobleme der Befundergebnisse bei der Abwicklung der Transaktion deutlich reduziert.
503 Vgl. Douma/Schreuder (1992), S.113. 5 0 4 Vgl. Wear (1998), S. 66. 5 0 5 Vgl. Douma/Schreuder (1992), S. 113.
325 Der „Wert" der im Wertshop abgegebenen Verpflichtungen hängt entscheidend von der Vertrauensatmosphäre ab. Liegen Normen vor, dass Verpflichtungen generell beglichen werden, kann von der Norm generalisierter Reziprozität gesprochen werden. Axelrod sieht in dieser Reziprozität eine der wichtigsten Normen, die als Gewohnheit interpretiert werden kann, einen Akteur gegen entsprechende Gegenleistungen zu unterstützen, wodurch wechselseitiges vorteilhaftes Verhalten hervorgerufen wird. 506 Gerade vor dem Hintergrund der hohen opportunistischen Gefahr und den Informationsasymmetrien zwischen den Leistungserbringern bei der Abwicklung der Erstellung der integrierten Gesundheitsleistung ist der Wertshop als Koordinationsinstrument in der Lage, die Motivation zum kooperativen Verhalten durch Abbau von Informationsasymmetrien und Aufbau von Vertrauen zu steigern. Da das Endergebnis des Leistungserstellungsprozesses („Gesundheit") das Resultat sozialer Interaktionen aller Beteiligten inklusive des Patienten ist, kann ein Erfolg als Nebenprodukt einer vertrauensvollen Zusammenarbeit der Transaktionspartner interpretiert werden.
3.4 Evaluation Nach der Durchfuhrung der ausgewählten Aktivitäten muss eine Kontrolle der Resultate und eine Evaluation der integrierten Leistungserstellung durchgeführt werden. Wurden das Gesundheitsproblem nicht ausreichend behoben oder gesetzte Ziele nicht erreicht, kann dieser Zustand ein erneutes Durchlaufen des gesamten Wertshops oder die Wiederholung einzelner Aktivitäten nach sich ziehen.507 Für die Evaluation können bewährte Methoden aus dem Qualitätsmanagement und Controlling angewendet werden. Patienten-, Leistungserbringer- und Mitarbeiterbefragungen ebenso wie Soll-Ist-Vergleiche, Zielüberprüfungen, Risikoanalysen und Identifizierung der wertschaffenden Aktivitäten des integrierten Behandlungsprozesses stellen gute Informationsgrundlagen dar und geben Aufschluss über Fehler, Kritik und Veränderungsbedarf. Diese Informationen können gleichzeitig aggregiert in Form von Qualitätsberichten, Statistiken mit nachvollziehbaren Kennzahlen von einer Managementgesellschaft zur Außenkommunikation sowie zum Benchmarking gegenüber den Krankenkassen, Patienten, potenziellen Leistungserbringern etc. aufbereitet und zum Aufbau von Reputation genutzt werden.
506 ygi Axelrod (1984), S. 5. Axelrod spricht in diesem Zusammenhang von der TIT-FORTAT („Wie Du mir, so ich Dir")-Strategie. 5 0 7 Vgl. Woratschek/Roth/Pastowski (2002), S. 61.
326 Die Ergebnisse geben indikations-, patienten- und prozessorientierte Hinweise für dezentrale Verbesserungen in der Gestaltung des integrierten Leistungserstellungsprozess sowie der verwendeten Versorgungspfade. Ausgehend von der anfanglichen Spezifikation benötigter Gesundheitsleistungen und einer Konfiguration dieser unter Einbezug eines integrierten Leistungserbringerteams sowie des Patienten als Co-Designers wird bei wiederholtem Behandlungsauftrag mit den zusätzlichen Informationen aus der Evaluationen eine optimierte und verfeinerte Problemlösung angeboten. Diese Rückkopplungseffekte etablieren nach Peppers/ Roggers ein „Learning Relationship" (vgl. Abbildung 38) zwischen Patienten und Leistungserbringer sowie unter den Leistungserbringern, welche im Zeitablauf wächst und intelligenter wird. 508 Je nachdem wie die einzelnen Indikationen, Behandlungen und Ergebnisse auf andere Patienten übertragbar sind, lassen sich über die Zeit gesammeltes Wissen und Erfahrungen für Standardisierungen nutzen. Zusätzlich unterstützt die Lernbeziehung die Entwicklung von Produkt- und Prozessinnovationen, die immer ein „Trial and Error"-Versuch sind und über „learning by doing" wichtiges Wissen aufbauen. 509 Eine Steigerung der Innovations- und Lernbereitschaft wird dann erreicht, wenn die Leistungsanbieter von Marktteilnehmern und anderen Leistungserbringern lernen können, ein Variationsspielraum gegeben ist und das Wissen der Leistungserbringer für stetige Verbesserung der Wissensbasis der Integrierten Versorgung eingesetzt wird. Evaluation v o n Q u a Ii tat/Kosten durch Kundenfeedback u n d beteiligte -^Leistungserbringer^
Verbesserung u n d Feintuning der Leistungsspezifikationen
Integrierte Behandlungsjjurchführun^ N e u e r integrierter Behandlungsauftrag
Leistungserbringer u n d Patient erarbeiten Leistungsspezifikationen "~**"5peicherung der indikations- und patientenorientierten Informationen. -
Abbildung 38: Aufbau von „Learning Relationships" im Wertshop der integrierten Leistungserstellung Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Peppers/Rogers (1997), S. 168-194 und Piller (2006), S. 123. 508 509
Vgl. Peppers/Rogers (1997), S. 168 ff Vgl. Robinson (1997), S. 14.
327 Die Ergebnisse erlauben über die Zeit eine zielgerichtete und effizientere Versorgung der Bevölkerung bzw. der Versicherten. Das Wissen darüber wird in der Literatur auch als „Community knowledge" oder „Kunden-Know-how" bezeichnet. 5 1 0 Tritt ein bereits bekannter Patient oder ein vergleichbarer Bedarf ein, kann der Wertshop bereits auf verfeinertes und verbessertes Wissen zurückgreifen, was sowohl eine schnellere und einfachere als auch eine inhaltlich verbesserte Formulierung der Leistungsspezifikation und Konfiguration nach sich zieht.
3.5 Integration des externen Faktors Patient Die integrierte Leistungserbringung betont wie dargestellt die Kooperation und das Teamwork sowohl zwischen den unterschiedlichen Leistungserbringern als auch zwischen Leistungserbringern und den Patienten. Der Patient ist der einzige Akteur, der den gesamten Wertschöpfungsprozess von Anfang bis Ende durchläuft und dabei auf die verschiedenen Leistungserbringer trifft. Ihm kann daher nicht nur in seiner Funktion als Informationsträger und Co-Designer, sondern auch aufgrund seiner aktiven Involvierung eine gewisse Prozesskompetenz zugesprochen werden. Diese ist jedoch aufgrund beschränkter Rationalität eingeschränkt. Unter seiner Compliance wird nicht die passive Befolgung der Weisungen der Leistungserbringer, sondern vielmehr der aktive Beitrag zur Wertschöpfung verstanden. 511 Für jeden beteiligten Akteur stellt der Patient einen Input-Faktor für ihren Teil der Leistungserbringung dar, der in seinen Eigenschaften eigentlich intransparent ist. Da die Akteure mithilfe des Wertshops in der integrierten Leistungserstellung nicht isoliert und sequentiell nacheinander arbeiten, müssen sie im Idealfall nicht ständig neu über die Schnittstellen hinweg relevante Informationen über den Patienten abfragen und die jeweilige Einwilligung in die Behandlung einholen. Vielmehr liegen zentrale patientenbezogene Daten und ein reger Informationsaustausch unter den Kollegen vor. Gleichzeitig hat bereits über „shared desicion" eine informationsgeleitete Integration des Patienten bei der Erstellung des Behandlungsplans stattgefunden und seine Bedürfnisse sowie Erwartungen konnten bei der Konfiguration des Ablaufs einfließen. 512 Bei der Entscheidung fiir eine Lösungsalternative willigt er anstatt nur für eine einzelne Leistung für den gesamten Behandlungsprozess ein, wodurch Reibungsverluste zwischen Leistungserbringer und Patient bei der Transaktionsabwicklung vermindert werden. Selbst wenn die integrierten Leistungserbringer motiviert sind, den vereinbarten Behandlungsplan einzuhalten, wirkt der Patient zeitgleich aktiv oder passiv als Co-Produzent an der Effektivität und Effizienz des Prozesses sowie an der Nach510 511 512
Vgl. Peppers/Rogers (1997), S. 230-250. Vgl. Pratt (1976), S. 197. Vgl. Meyer/Blümelhuber/Pfeiffer (2000), S. 58.
328 haltigkeit des Ergebnisses mit. Nicht nur seine Motivation und Erwartung, sondern auch seine Aktivität im uno-actu-Prinzip sind für eine produktive Ausgestaltung der Behandlung relevant.513 Die aktive Mitwirkung kann in eine physische, intellektuelle und emotionale Beteiligung untergliedert werden. 514 Ansatzpunkte für eine gestalterische Berücksichtigung des Patienten als Co-Produzenten geben damit seine Integrationsfähigkeit und -bereitschaft.515 Die Integrationsfahigkeit wird von den physischen und intellektuellen Eigenschaften determiniert. Sie spiegelt die technische Komponente des Organisationsproblems wider. Physische Dispositionen lassen sich selten vermindern und stellen oft den Behandlungsgrund dar. Im Zusammenhang mit den intellektuellen Bedingungen liegt eine mangelnde Prozessevidenz vor. Der Patient hat ein Informationsdefizit über den Behandlungsabiauf und darüber, wann er welchen Beitrag zum Gesamtprozess einbringen kann oder sollte. 516 Durch Schaffung von Prozessbewusstsein und -transparenz für den Patienten durch die Leistungserbringer in der Phase der Kommunikation der erarbeiteten Lösungsalternativen wird der Patient in die Lage versetzt zu verstehen, wann seine Leistungsbeiträge den Erstellungsprozess beschleunigen oder verzögern können, welche Bedeutung seine Mitwirkung hat und welche Leistungen von ihm gefordert werden. Maßnahmen zur Schaffung von Prozessevidenz sind Kommunikation und Schulungen. Dafiir können Informationsbroschüren, Filme, die Aushändigung eines Behandlungsplans, Gruppenveranstaltungen oder gezielte Coachingaktivitäten dienen. Die Integrationsbereitschaft, die die Verhaltenskomponente des Organisationsproblems darstellt, wird durch verstärkende und hemmende Faktoren beeinflusst. 517 Verstärkende Faktoren sind realisierbare Preis- und Qualitätsvorteile, Freude an der Leistungserstellung sowie Erhöhung der Transparenz und des Wissens. Dagegen zählen zu den hemmenden Faktoren erhöhte Eigenverantwortlichkeit und die einhergehende erhöhte Unsicherheit sowie Anstrengung. Der Patient bringt sich dann integrativ in den Erstellungsprozess ein, wenn aus seiner Sicht die Vorteile die Nachteile überwiegen. Auch hier kann nur mithilfe ausreichender Informationen über die Vorteile eines kooperativen Verhaltens, des Abbaus von Unsicherheiten und der Schaffung einer Prozessevidenz die Motivation des Patienten zur Integration gefordert werden. Über entsprechende Anreizsysteme kann das Wertnetzwerk dazu beitragen. Eine Beteiligung am Kooperationsgewinn oder Belohnungen für eine frühzeitige Entlassung sind an dieser Stelle nur zwei Bespiele.
513 514 515 516 517
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Pratt (1976), S. 197 ff Meyer/Blümelhuber/Pfeiffer (2000), S. 55. Corsten (2000), S. 162. Franz (2008), S. 182. Corsten (2000), S. 153.
329 Ist eine Prozessevidenz gegeben und die Integrationsbereitschaft des Patienten hoch, kann eine Externalisierung von wertschöpfenden Aktivitäten zur Senkung von Produktionskosten beitragen. Dabei werden Leistungen der integrierten Versorger durch Eigenleistungen des Patienten substituiert. Der Patient wird durch Schulungs- und Informationsmaßnahmen in die Lage versetzt, über ein Selbstmanagement persönliche Gesundheitsziele zu erreichen und nachhaltig zu sichern. Wird dieser hohe Grad der Integrationsbereitschaft erreicht, agiert der Patient bei der Erstellung der Gesundheitsleistung als vollwertiger Co-Produzent und hilft dadurch, Koordinations- sowie Motivationskosten auf der Seite der Leistungserbringer abzubauen. Insgesamt muss die Herstellung der Integrationsfähigkeit und -bereitschaft so gestaltet werden, dass eine störungsfreie, kostengünstige und reibungslose Patientenintegration in den integrierten Leistungserstellungsprozess erreicht wird. Die Transparenz und der Aufbau von Organisationsstrukturen, die dem Patienten Platz für Rückkopplungseffekte, Betreuung, zwischenmenschliche Interaktion und Dialoge geben, unterstützen des Weiteren den Aufbau von Vertrauen in die Behandlung. Geeignete Einbindungsinstrumente nicht nur im Prozess der individuellen Behandlung, sondern auch für die Gesamtsystemgestaltung sind Patientenbeteiligungen, Patientenfürsprecher oder ein Patientenrat, die als Partner und kompetente Informanten die Suche nach den richtigen Koordinations- und Motivationslösungen unterstützten.
4
Zusammenfassung
Für die Wertschöpfungskonfiguration der integrierten medizinischen Leistungserstellung wurde die kooperative und problemlösungsorientierte Zusammenarbeitsmethode des Wertshops gewählt. Er spiegelt geeignet die Logik der wertschöpfenden Tätigkeiten der Leistungserbringer wider, da anstatt nach funktionalen oder hierarchischen Befugnissen der Berufsgruppen benötigte Leistungen prozessorientiert koordiniert werden. Nach der gemeinsamen Definition des Gesundheitsproblems wird patientenorientiert und multidisziplinär der gesamte Behandlungsprozess über die verschiedenen Sektoren hinweg in nicht autoritär geführten Teams entschieden und es werden möglichst verbindliche Vereinbarungen (Qualität/Zeit/Kosten) über den Ablauf getroffen. Dabei verstehen sich die autonomen Akteure als Teil des gesamten Wertschöpfungsprozesses, bei dem sie in finanzieller Abhängigkeit durch eine versichertenbezogene Vergütung und in einer organisatorischen Verflechtung aufgrund der Teilnahme am Wertnetzwerk stehen. Durch die gemeinsame Erwirtschaftung einer Kooperationsrente übernehmen die Leistungsanbieter eine ergebnisorientierte Endpunktverantwortung. Der Patient wird
330 konsequent in die Wertschöpfungsaktivitäten des Wertshops als externer Produktions- sowie Potenzialfaktor einbezogen und als Teammitglied bei der Leistungserstellung verstanden. Durch die Etablierung von patientenorientierten autonomen Wertshops reduziert sich der Koordinationsbedarf zwischen den Schnittstellen fiir die integrierte Leistungserstellung sowohl 'für die beteiligten Leistungserbringer bei der Durchfuhrung der Gesundheitsversorgung. Teambasierte Wertshops verbessern die Entscheidungsqualität bei der Diagnostik und der Suche sowie Planung der effizienten Teilleistungskonfiguration zu einer integrierten Gesamtbehandlung. Es können in Bezug auf die Transaktionskosten „economics of information, communication" und „decisión" für die einzelnen Akteure verwirklicht werden. Für die notwendige interdisziplinäre sowie problemorientierte Diskussion und für das Grundverständnis des Systems Integrierte Versorgung ist die abstrakte Abbildung der Gesamtzusammenhänge unerlässlich. Die größten Wirtschaftlichkeitspotenziale in der integrierten Gesundheitsversorgung liegen nicht in den kurzfristigen Produktivitätspotenzialen, sondern in langfristigen Veränderungen der Zusammenarbeit und in kontinuierlichen Prozessinnovationen, die auf Teamstrukturen und Vertrauen basieren. Integration ist mehr als die strukturelle Veränderung der Leistungskoordination zur Uberwindung fragmentierter und zersplitterter Strukturen. Es geht um eine grundsätzliche Veränderung der Arbeitsweisen und des Handelns der beteiligten Professionen mit Fokus auf den Patienten sowie um ein ganzheitliches Verständnis der Medizin. Von einer Neuordnung der Aufgabenverteilung über die Integrierte Versorgung können alle Gesundheitsanbieter profitieren, wenn diese zu einer besseren Ubereinstimmung zwischen den Patienten- und den Umwelterfordernissen eines sich ständig wandelnden Versorgungssystems sowie den Zielen, Aufgaben und Kompetenzen der Akteure führt.
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Uta Maria Feser und Victoria Wilhelm
Best-Practice-Ansatz als Motor für die Europäisierung des Gesundheitswesens Seit 2001 veröffentlicht die OECD im 2-Jahres-Turnus Vergleiche von Gesundheitssystemen, in denen unterschiedliche Indikatoren aus zuletzt 30 Staaten verglichen werden. Berücksichtigt werden unter anderem Morbiditäts- und Mortalitätsdaten, Angaben zum Gesundheitsverhalten, Ausgaben im Gesundheitswesen, Arztdichte und Krankenhausbetten.518 Bedingt durch die Wachstumsdynamik des europäischen Staatenbundes im Verlauf der letzten 10 bis 15 Jahre rückte das Interesse an gesundheitsrelevanten und vergleichenden Themenstellungen stark in den Vordergrund. Aufgrund der bisher national suboptimal verlaufenden Reformansätze werden die Forderungen nach einem länderübergreifenden Benchmarksystem immer lauter. 519 Das Lernen von den Besten mit einer schrittweisen Integration der bewährtesten Teillösungen wird von vielen Wissenschaftlern als die realistischste Methode beim Umbau einzelner nationaler Gesundheitssysteme angesehen. 520
1
Rahmenbedingungen fiir politische Entscheidungen im Gesundheitssektor
Der Vorschlag für eine Gesundheitsdienstleistungsrichtlinie hat die Chancen für länderübergreifende Gesundheitsdienstleistungen allen Beteiligten vor Augen gefuhrt. Die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung in Europa kann deshalb in den nächsten Jahren zur politisch gewollten Realität werden. Die Möglichkeit, von einer potenziell besseren Behandlungsqualität oder niedrigeren Behandlungskosten im Ausland profitieren zu können, dürfte einen gewissen Wettbewerb zwischen den Gesundheitssystemen entfachen. Wenn mit Patienten aus anderen EU-Ländern künftig Umsatzsteigerungen generiert werden können, welche aus einem anderen Finanzierungssystem abfließen, erhält die Suche nach Best-PracticeAnsätzen plötzlich auch ökonomisch eine völlig neue Dimension. 521
518 519 520 521
http://www.oecdilibrary.org/oecd/content/tablecollection/20758480. Vgl. Jaeckel (2009a), S. 4 3 ff. Vgl. Döring/Dudenhöffer/Herdt. (2005). Vgl. Jaeckel (2009b), S.20 ff.
336 Bei einer vergleichenden Analyse von Gesundheitssystemen ist der Fokus nicht nur auf politische Akteure und den institutionellen Kontext, in den diese eingebettet sind, zu richten, sondern auch auf das Verhältnis der jeweiligen Akteure untereinander und das institutionelle Setting des jeweiligen Gesundheitssystems.522 Neben den Interessen einzelner Gruppen haben auch Wertvorstellungen einen Einfluss auf die Richtung und Stärke des Wandels im Gesundheitssystem. Folgende Dimensionen (nach Wendt) können als zentral für die vergleichende Analyse des Umbaus von Gesundheitssystemen durch staatliche und nichtstaatliche Akteure herausgestellt werden:
522 523 524
•
Ökonomischer Wandel und technische Innovationen: Die Diskussion um den nationalen Wirtschaftsstandort wird zunehmend mit Kostendämpfungsmaßnahmen in Gesundheitssystemen verknüpft. Auch die Entstehung internationaler „Krankenhausbetten", die zukünftig möglicherweise nationale staatliche und/oder private Krankenhäuser vom Markt verdrängen können, hat die Wurzeln in der Globalisierung.
•
Ebenfalls in die Analyse einzubeziehen sind Wertvorstellungen. Max Weber hat diese als „Weichensteller" die, die Bahnen gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse bestimmen, bezeichnet.523
•
Des Weiteren sind die Interessen- und Akteurskonstellationen des politischen Systems zu berücksichtigen. Die Machtverteilung innerhalb des deutschen Gesundheitssystems muss bei jedem Reformansatz in die Betrachtung einbezogen werden. Alle Beteiligte verfugen über Wege und Mittel ihre „Macht" deutlich zu demonstrieren.
•
Die Durchsetzungsfähigkeit von Interessen hängt wiederum von der Institutionenstruktur des politischen Systems ab. Die möglichen Vetopositionen in der Gesundheitspolitik spielen eine große Rolle. Die vom Tsebelis definierten und oft auch in der Öffentlichkeit thematisierten Vetospieler sind politische Akteure524, die Entscheidungen blockieren und so den vielbeschriebenen „Reformstau" herbeifuhren können. Im politischen System Deutschlands kommt beispielsweise Parteien innerhalb von Koalitionen oder Bundesländern in Form ihrer Repräsentanden im Bundesrat die Rolle von Vetospielern zu.
•
Von großer Bedeutung ist auch das institutionelle Erbe einer Gesellschaft. So konnten sich in der Vergangenheit unterschiedlich Interessengruppen nicht gleich gut etablieren. Beispielsweise verfügen die deutschen Kas-
Vgl. Wendt (2009), S. 88. Vgl. Weber (1986), S. 22. Vgl. Tsebelis (2002), S. 1 ff.
337 senärztlichen Vereinigungen aufgrund der Mitgliedspflicht fiir alle Vertragsärzte und des Sicherstellungsauftrages für die ambulante medizinische Versorgung über ein sehr viel größeres Machtpotenzial als Ärzteverbände andere Länder. •
Ein weiterer Punkt ist das Beharrungspotenzial des existierenden Systems. Eine Institution, an die sich die Bevölkerung über einen längeren Prozess hinweg gewöhnt hat, wird in nur seltenen Fällen mit deren Zustimmung reformiert werden können. Erst dann, wenn die grundlegenden Wertvorstellungen deutlich von den Ergebnissen einer Institution abweichen, ist eine Akzeptanz einer Veränderung zu erwarten.
Insbesondere der letzte Punkt zeigt, dass Reformen im Allgemeinen und somit auch im Gesundheitswesen ganz eng mit den Wertvorstellungen korrelieren. Da der Wertekanon sich nicht über Nacht ändert, können die Reformen, auch wenn die Uberzeugung über die Sinnhaftigkeit gegeben ist, nur schrittweise umgesetzt werden.525
2
Handlungsempfehlungen an die Akteure im Gesundheitswesen
Die Suche nach „Best Practice" Lösungen, angesichts des wirtschaftlichen Gewichts des Gesundheitssektors innerhalb der nationalen Ökonomien, wird an Bedeutung gewinnen. Im Konzert der EU-Gesundheitssysteme steht Deutschland mit seinen - trotz aller Einwirkungen und Mängel - noch immer relativ hohen Freiheitsgraden ziemlich allein. Die EU-Politik einer „Offenen Koordinierung" verlangt von allen Akteuren an der Formulierung geeigneter Benchmarks mitzuwirken.526 Die Außenwirkung unseres Gesundheitswesens wird ganz wesentlich davon bestimmt, welche Schlüsselbotschaften vermittelt werden. In Deutschland sind Allokations- und Strukturmängel unübersehbar. Das trifft insbesondere auf die unzureichende Zusammenarbeit von Kliniken und niedergelassenen Ärzten als auch auf die Preisgestaltung bei Medikamenten zu. Die auf alle Marktakteure einwirkenden strukturellen Veränderungszwänge berühren jeden Einzelnen, teilweise mit großer Vehemenz. Die staatsferne Gesundheitsversorgung hat sich in den letzten Jahrzehnten in Deutschland bewährt. Um diesen Zustand zu erhalten, sind erhebliche gemeinsame Anstrengungen der verschiedenen Beteiligten im selbstverwaltenden Medizinbetrieb unumgänglich. Auch wenn der Weg in die 525 526
Vgl. Weber (1986), S. 25 ff. Vgl. Döring/Dudenhöffer/Herdt (2005), S. 18 ff.
338 Staatsmedizin mit Anordnungen und Rechtssetzungen einfacher und gerechter erscheinen mag, so kann der Staat als anonymes Gebilde nicht die Innovation und Tatendrang einzelner Individuen ersetzen. Deutschland braucht mehr Mut, eigene Besonderheiten geschickt und effizient in das Binnenmarktgeschehen einfließen zu lassen. 527 Die Suche nach dem besten Weg für Deutschland gleicht einer Gleichung mit mehreren Unbekannten. Wie in der Mathematik gibt es fiir den „richtigen" Weg bei der Gesundheitsvorsorge theoretisch eine Vielzahl von zutreffenden Ergebnissen. Die im Folgenden beschriebene „Bauanleitung" ist eine Mischung aus theoretischen Strukturkriterien und Faktenwissen. Aus Vereinfachungsgründen empfiehlt sich für die Konzeptbeschreibung eine Aufteilung des Gesundheitssystems in drei Strukturkriterien: 528 •
Finanzierung (Mittelherkunft und dafür notwendige Strukturen)
•
Leistungskatalog (Festlegung, Monitoring)
•
Leistungserbringung (Integrationsmodelle, Kliniken, Ärzte)
Der Masterplan orientiert sich an folgenden Grundsätzen: •
Wettbewerbsstrukturen sind besser als Staatsnähe.
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Der Gesundheitssektor ist ein unvollkommener Markt. Die Patienten müssen daher durch strikte Regeln geschützt werden.
•
Der Verlust der Gesundheit ist das größte Lebensrisiko. Der Schutz jedes Einzelnen vor finanzieller Überbelastung muss daher solidarisch organisiert werden.
Die Finanzierung der Gesundheitsversorgung in Deutschland sollte durch gesetzliche Kassen geregelt werden. Die Prämie fiir das Basispaket muss einkommensabhängig sein (solidarische Finanzierung der Lasten). 5 2 9 Die Problematik des Risikostrukturausgleichs könnte durch eine drastische Reduzierung der Anzahl der Kassen erheblich vermindert werden, da innerhalb größerer Kassen die Risiken gleichmäßiger verteilt sind. Die privaten Versicherer werden verpflichtet einen Basistarif ohne Gesundheitsprüfung anzubieten. Dabei muss dieser Tarif fiir alle Kunden des Versicherers gelten. Der Leistungskatalog wird in vier Segmente aufgeteilt. Die Basisleistungen (1) für große Gesundheitsrisiken sind mit einer Pflicht zur Versicherung verbunden. Der Umfang der Basisleis527 528 529
Vgl. Danner (2009). Vgl. Schulenberg/Greiner (2000), S. 145 ff. Vgl. Wilhelm (2010), S. 34 ff.
339 tungen muss von einem unabhängigen Expertengremium festgelegt und laufend überprüft werden. Darüber hinaus wird ein Segment mit s. g. Soll-Leistungen (2) wie Zahnersatz und Ähnlichem definiert werden müssen. Die Preisgestaltung für dieses Segment sollte sich im Rahmen einer Bandbreite bewegen. Damit kann Wettbewerb unter den Anbietern gefördert und die Patienten vor überhöhten Sätzen geschützt werden. Die Prämien für die Soll-Leistungen sind einkommensunabhängig. Zusätzlich kann jeder Versicherer nach eigenem Ermessen Kann-Leistungen (3) anbieten. Dieses Segment sollte dereguliert bleiben. Für die Finanzierung der versicherungsfremden Leistungen (4a) wie Mutterschutz etc. wird eine Steuerfinanzierung vorgeschlagen. Die Gewährung dieser Leistungen hat keinen Einfluss auf den Gesundheitszustand und ist ein Resultat politischer Willensbildung. Ebenfalls zu 100 % sollen alle medizinischen Leistungen für Kinder und Jugendliche (4b) aus dem Steueraufkommen finanziert werden. Die Einnahmen für diese Leistungen sollten durch eine einkommensabhängige Gesundheitsabgabe ohne Arbeitgeberbeteiligung generiert werden. In Summe werden die Belastungen für die Arbeitskosten sinken, da nur das Basispaket paritätisch finanziert wird. Die vorgeschlagenen Maßnahmen sind sozial ausgewogen, da die Basisleistungen paritätisch und einkommensabhängig finanziert werden. Sie sind auch gleichzeitig ökonomisch sinnvoll, da der Faktor Arbeit nicht über Gebühr belastet wird. In Summe könnte die Einnahmeseite auf eine Zustimmung breiter Bevölkerungsschichten treffen. Die Belastungen bei der Finanzierung der Gesundheitsvorsorge muss durch höhere Effizienz im medizinischen Betrieb gegenfinanziert werden. Im vorliegenden Modell (s. oben) wird davon ausgegangen, dass die freie Arztwahl, die für einige Experten so wichtig scheint (Vgl. Danner) nicht zwingend Bestandteil des Basispakets sein muss. Für viele Bürgerinnen und Bürger ist dieses Privileg nicht von großer Bedeutung (s. Deseasemanagement Programme), da diese Menschen allgemein ein hohes Vertrauen in die Kompetenz der Ärzte haben. Vielmehr sollten alle Freiheitsgrade des deutschen Gesundheitswesens wie freie Arztwahl, Therapiefreiheit sowie Krankenhauswahl als Kann-Leistungen deklariert werden. Durch die Beschränkung der Freiheitsgrade - eine völlige Abschaffung wäre abwegig — sind alle Wege für zusätzliche Synergien aus Kooperationen zwischen niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern sowie durch Hausarztmodelle und Programme für chronisch Erkrankte frei. Das System kann sich prozessorientiert und damit optimal aufstellen. Angefangen von der wohnortsnahen Versorgung über Akutmedizin und Rehabilitation bis hin zur Pflege können alle Akteure im Rahmen des Basispaketes, effiziente Abläufe auf einander abstimmen und so Ressourcen schonend einzusetzen. Der durch die Freiheitsgrade verursachte zusätzliche Aufwand zum Vorhalten von unterschiedlichen Therapien an
340 einem Standort oder hohe Verfügbarkeit der Fachärzte kann deutlich reduziert werden. Für die Menschen, die diese Freiheitsgrade schätzen und bereit sind dafür zu bezahlen, können schlankere auf das Bedürfnisprofil der Kunden abgestimmte Strukturen geschaffen werden. Die Kosten dieser Freiheit werden in diesem Modell nicht mehr auf das Solidarsystem, sondern auf denjenigen, der es in Anspruch nimmt, abgewälzt.
3
Konsequenzen für den Deutschen Gesundheitsmarkt
Der Gesundheitsmarkt ist bei allen Unvollständigkeiten der größte nationale Submarkt. 5 3 0 Er stellt zugleich standorttreu eine Vielzahl von hoch qualifizierten Arbeitsplätzen. An und für sich ist Gesundheitspolitik nicht immer politische „Chefsache" und nur selten geeignet, Wahlsiege zu garantieren. Dies unterstreicht die Gefahren, die sich für das System aus einer wesentlichen oder ausschließlichen Steuerfinanzierung ergeben könnten. Im Wettlauf mit den „übergeordneten" Prestigeprojekten im Spektrum zwischen Militäreinsätzen oder zusätzlichen Konjunkturprogrammen wären die Prognosen eher ungünstig. 531 Die Bedeutung des Gesundheitswesens jedoch wird in den kommenden Jahren weiter wachsen. Deutschland ist eine alternde Gesellschaft. Dafür ist einerseits die geringe Geburtenzahl verantwortlich und andererseits die zunehmende Lebenserwartung. Menschen über 60 Jahre werden in einigen Jahren die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Mit der größeren Zahl älterer Bürger wird auch der Bedarf an Gesundheits- und Pflegeleistungen wachsen. 532 Deshalb werden die Gesundheitsausgaben, trotz alle Dämpfungsgesetze, weiter steigen. Alle Beteiligten stehen vor der Aufgabe, das europäische Modell der Gesundheitsversorgung mit einem vergleichsweise freien Zugang zu den Leistungen und einer weitestgehend solidarischen Lastenaufteilung zu erhalten. Bei diesen Bemühungen fuhrt kein Weg an internationalen Erfahrungsaustausch in folgenden 3 Bereichen (s. auch S. 4 Strukturkriterien) vorbei.
Vgl. Oberender/Hebborn/Zerth (2010). Vgl. Danner (2009). 532 ygi http://www.bpd.de/themen/EM53VQ,0,GesundheitspoÜtik_lxmstaDon.html?lt=AAB383. 530
531
341
3.1 Versicherer und öffentliche Gesundheitsträger (Finanzierung) Für die Finanzierung des Gesundheitswesens sind unterschiedliche Modelle für die MittelbeschafFung vorstellbar. •
Steuerfinanziertes System
•
Non-Profit Krankenversicherungssystem
•
Private Krankenversicherung
•
Kopfprämie (einkommensorientiert oder flat)
Steuerfinanziertes System Zum einen kann das System rein steuerfinanziert und somit staatsnah organisiert werden. Dieses Modell zeichnet sich durch eine große Verwaltungseffizienz aus. Die Beiträge müssen nicht kompliziert berechnet und aufwendig eingesammelt werden. Das spart Transferkosten. Zusätzlich lässt ein solches System wenig Raum fiir Neiddiskussionen, da alle Bürgerinnen und Bürger den gleichen Zugang zum System erhalten und die Gerechtigkeitsfrage über das Steuersystem geregelt werden muss. Die Entkoppelung von den Löhnen hilft den Einsatzfaktor Arbeit zu entlasten. Die Bereitschaft der Arbeitgeber Mitarbeiter einzustellen steigt tendenziell an. Im günstigen Fall steigen parallel die Steuereinnahmen, die wiederum zur Finanzierung des Gesundheitswesens herangezogen werden könnten. Der Konjunktiv ist allerdings ein ständiger Begleiter des steuerfinanzierten Gesundheitssystems. Die politischen Prioritäten werden nur in den seltenen Fällen zu Gunsten des Gesundheitssektors gestellt. Am Beispiel des NHS in Großbritannien werden die Folgen sichtbar. Erst wenn die Missstände ein nicht mehr zu übersehendes Niveau erreicht haben, hat die Politik reagieren müssen. Der Grund für diese relative Trägheit liegt in der Natur der Sache. Die fehlende tägliche personelle Betroffenheit macht eine Gesellschaft relativ unsensibel für die Vorgänge in den Krankenhäusern oder Praxen. Erfahrungen im eigenen Umfeld werden zwar registriert aber auch meist mit Schulterzucken quittiert. Diese relative „Straffheit" gepaart mit einem zentral budgetierten System mit all seinen Allokationen/Mängeln und der Anfälligkeit fiir Fehlsteuerungen lässt die reine Steuerfinanzierung als keine gute Empfehlung für Deutschland erscheinen. Non-Profit Krankenversicherungssystem Wesentlicher Unterschied der gesetzlichen oder Non-Profit Krankenversicherung zum rein steuerfinanzierten System liegt in der Mittelbeschaffung. Das Gesundheitssystem basiert im Falle des Versicherungsmodells auf den Beiträgen, die sich
342 an den Einkommen der Versicherten orientieren. Die damit verbundene relative Gerechtigkeit muss allerdings teuer mit einem hohen Verwaltungsaufwand bei der Berechnung und Einzug der Beiträge erkauft werden. Grundsätzlich können durch das Versicherungssystem kontinental-europäischer Prägung die Nachteile des Modells vermieden werden. Durch den Wettbewerb der Kassen um die Versicherten, falls dieser nicht durch staatliche Eingriffe behindert werden, können System-Effizienzen in den Verhandlungen mit den Leistungserbringern einfacher gehoben werden. Die Gefahr der Übervorteilung ist aufgrund einer Vielzahl von Kostenträgern und damit möglicher Transparenz durch Datenaustausch weniger relevant. Auch die Gerechtigkeitsfrage ist im Falle eines reinen Non-Profit Versicherungssystems, abgesehen von einer trotz möglicher Bemessungsgrenzen relativen Uberbelastung der „Besserverdienenden", nicht von großer Bedeutung. Allerdings weist ein Versicherungssystem, das direkt an die Einkommen gebunden ist, im Falle von konjunkturellen Schwankungen erhebliche Nachteile auf. Sollte die Konjunktur rückläufig sein, sinken in Folge die Einnahmen. Da die Ausgabenseite systembedingt nicht beliebig angepasst werden kann, müssen die Beiträge erhöht werden. Dies belastet die Unternehmen und Bürger zusätzlich. Der Abwärtstrend wird verstärkt. Eine kreditfinanzierte Ausgabenpolitik bietet in solchen Fällen keine Alternative. Die dafür notwendigen Staatsgarantieren bergen die Gefahr Versicherungen mit ineffizienten Strukturen am Leben zu erhalten. In Zeiten eines massiven internationalen Wettbewerbs um die Arbeitsplätze erscheint ein System, das im Wesentlichen auf die Arbeitseinkommen abzielt, als wenig geeignet, die Wettbewerbsposition eines Landes zu fördern. Auch Deutschland wird das System der gesetzlichen Krankenversicherungen einer gründlichen Überarbeitung unterziehen müssen, (s. Niederlande)
Private Krankenversicherung Ein System rein privater Krankenversicherung mit einem klaren Bekenntnis zur Profitabilität ist für die meisten Europäer undenkbar. Wie bereits ausgeführt, stellt der Gesundheitsmarkt aufgrund von asymmetrisch vorhandenen Informationen und der Zwangslage eines Erkrankten einen unvollkommenen Markt dar. Somit können die üblichen Marktmechanismen wie Vertragsfreiheit oder Wettbewerb nicht greifen. Darüber hinaus sind mit diesem Modell gravierende Nachteile verbunden. An erster Stelle ist die krankheitsbasierte Selektion des Patientengutes zu nennen. Dieses Problem kann auch nicht durch einen Kontrahierungszwang geheilt werden. In diesem Fall wird der Leistungskatalog entsprechend angepasst, was nicht zum Wohle des Patienten fuhrt. Alternativ könnten die Prämien ruinöse Ausmaße erreichen und wie in den USA viele Menschen von einer adäquaten Gesundheitsversorgung abschneiden. Die Hoffnung durch ein privatrechtlich
343 organisiertes System eine höhere Effizienz zu erreichen, kann ebenfalls, wie das Beispiel USA zeigt (höchste Ausgaben pro Kopf ist mit einer deutlich unterdurchschnittlichen Lebenserwartung gepaart), nicht angenommen werden.
Kopfprämie (einkommensorientiert oder flat) Bei der Auswahl eines geeigneten Kostenträgersystems muss stets auf den Transmissionsmechanismus zwischen der Gesundheitswirtschaft und der Realwirtschaft geachtet werden. Die negativen Effekte des Systems der gesetzlichen Krankenversicherungen auf die Arbeitskosten könnten möglicherweise durch die Entkoppelung der Beitragsberechnung und der effektiven Belastung der Arbeitgeber gelöst werden. In so einem System werden die Beiträge rein an dem Nettoeinkommen der Versicherten gemessen. Der Einwand, die Versicherungsbeiträge der Arbeitnehmer seien lediglich ein Bestandteil der gesamten Personalkosten stimmt nur bedingt. In Konjunktur schwachen Zeiten wird die Überwälzung der höheren Beiträge auf den Arbeitgeber praktisch unmöglich sein. Somit würde ein solches System keine prozyklische Wirkung entfalten können. Auch der Verwaltungsaufwand für die Berechnung der Beiträge ließe sich mit der Zusammenlegung mit der Steuererklärung im vernünftigen Ausmaß halten. Die Gerechtigkeitsfrage, also solidarische Finanzierung lässt sich eindeutig mit ja beantworten. Die Probleme beginnen mit einem notwendigen Risikoausgleich zwischen den Versicherungen. Denn einzelne Anbieter können über kurz oder lang aufgrund „schlechter" Risiken auch durch sinkende oder fehlende Einkommen der Versicherten in Schieflage geraten. Die Versicherten müssten in solchen Fällen vom Gesamtsystem aufgefangen werden. Im Falle einer einkommensunabhängigen Pauschale wären die Versicherungen nur durch den Gesundheitszustand der Versicherten potenziell gefährdet. Auf dieses Risiko könnten die Versicherungen durch Angebot von Präventionsmaßnahmen und Rehabilitationsprogramme reagieren. Die solidarische Lastenverteilung wäre im ersten Schritt nicht gegeben. Auch wenn ein Ausgleich aus dem Steuersystem grundsätzlich möglich wäre, würde das Modell der pauschalen Prämie mit Steuerausgleich zu einer Umverteilung des Volkseinkommens zu Gunsten der gut Verdienenden bedeuten und zum Schluss die negativen Effekte des steuerfinanzierten Systems mit beinhalten. Die oben beschriebenen Systemarten lassen sich natürlich mehr oder minder miteinander kombinieren. So ist es durchaus denkbar, dass neben staatlich organisiertem Modell, das die größten Gesundheitsrisiken durch eine solidarisch einkommensabhängige Finanzierung abdeckt, sich ein privater Zweig mit einer differenzierten Angebotspalette und pauschalen Sätzen für Zusatzversicherungen heraus-
344 bildet (s. Schweizer Versorgungsmodell). 533 Für Deutschland wird es sehr stark darauf ankommen, die solidarische Finanzierung beizubehalten und gleichzeitig durch Wettbewerb im System den Versicherten in der Auswahl der Leistungen und durch größere Selbstbehalte zu mehr Vorsorge und zur angemessenen Zurückhaltung bei der Inanspruchnahme der Leistungen zu bewegen.
3.2 Patientenversorgung (Leistungskatalog) Neben den neuen Formen der Patientenversorgung hat die Freizügigkeitspolitik der E U ebenfalls ein großes Potenzial die Gesundheitsstrukturen in Europa zu verändern. Die Freizügigkeit der Patienten ist ein Bestandteil, der jedem Bürger zustehenden Freiheitsrechte des Binnenmarkts gewährt. Dies geschieht auch vor dem Hintergrund, dass es in Ausnahmefällen notwendig ist, die Freizügigkeit durch die im Allgemeininteresse begründete Steuerungselemente einzuschränken. 5 3 4 Zur grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung, die in den letzten Jahren vor dem Hintergrund der Umsetzung der Decker/Kohll-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs an Bedeutung zugenommen hat, und die von den Patienten auch in zunehmendem Maß als Recht in Anspruch genommen und angesehen wird, gehört eine Vielzahl von Vorhaben: 535 •
Projekte in Grenzregionen, in den durch örtliche Vereinbarungen eine Zusammenarbeit ermöglicht wird, um bestehende Kapazitäten gemeinsam zu nutzen (z.B. EUREGIO),
•
die Nutzung freier Kapazitäten — insbesondere in Krankenhäusern — durch Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, in den es Wartelisten gibt,
•
die Erleichterung der Freizügigkeit der Bürger durch Vereinfachung der Verfahren und die Einfuhrung der europäischen Krankenversicherungskarte.
Viele Experten versprechen sich viel von den grenzüberschreitenden Kooperationen im Gesundheitswesen. 536 Gedacht ist an den verstärkten Einsatz von Telemedizin, die gegenseitige Anerkennung von Arzneimittelverschreibungen und den Datenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten insbesondere zur Verhinderung von Epidemien.
533 534 535 536
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Zweifel/Schocher (2008), S. 3. Bernd (2010). Schmidt/Klaunig (2005). Oberender (2008).
345 Der zunehmende Technikersatz macht den Patienten informierter und mündiger. Fortschritte in der Diagnostik, der Therapie und der Rehabilitation werden schneller bekannt. Die Patienten, sind somit in der Lage Kürzungen im Leistungskatalog zu hinterfragen sowie woanders verfugbare aber in Deutschland nicht angebotene Leistungen einzufordern. Die Europäisierung wird daher u. E. für die Patientenversorgung positive Entwicklung im Gesundheitswesen bringen. 537
3.3 Leistungserbringer Auch die Leistungserbringung wird durch eine stärkere Europäisierung der Gesundheitspolitik und zunehmende Internationalisierung z. B. in Gestalt von internationalen Krankenhausgesellschaften beeinflusst. So setzt sich die Europäische Kommission für Referenzzentren ein, die Leistungen der Gesundheitsversorgung in besonderen Fällen erbringen sollen, in denen eine Bündelung von Ressourcen oder Fachwissen erforderlich ist, um eine qualitativ hochwertige Versorgung, z. B. bei seltenen Krankheiten, sicherzustellen. Derartige Zentren können außerdem maßgeblich an Ausbildung und Forschung im Gesundheitsbereich und bei der Informationsverbreitung und -bewertung in Deutschland mitwirken, (s. Health Technologie Assessments in skandinavischen Ländern). 538 Die Europäischen Referenzzentren lassen aber bislang einige zentralen Fragen offen, die geklärt werden müssen, bevor weitere Schritte zur Ausgestaltung eines Netzwerks von Referenzzentren unternommen werden. So fehlt eine klare Bestimmung der Zielsetzung, der Zielgruppen und des Aufgabenbereiches dieser Zentren. Die Krankheitsbilder, die in einem europäischen Referenzzentrum behandelt werden sollen, sind nicht hinreichend eingegrenzt. Auch gibt es bisher keine Aussagen über die Maßstäbe für die Anerkennung als Referenzzentrum, wie z. B. Zertifizierung bzw. Akkreditierung. Deutschland zeichnete sich bei den Leistungserbringern vor allem durch die grundsätzlich strikte Trennung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung aus. Ambulanzen/Praxen an Krankenhäusern überwinden seit ein paar Jahren im Rahmen von Integrierten Versorgungsmodellen diese Grenzen.539 Die Initiatoren dieser Modelle orientieren sich dabei u. a. am Vorbild der Niederlande. Auch Medizinische Versorgungszentren (MVZ) sind eine neue Form der Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung.
537 538 539
Vgl. Urban (2004). Vgl. Schmidt (1996). Vgl. Amelung (2007), S. 7 ff.
346 Sie spielen in Deutschland mittlerweile eine wichtige Rolle. Über 6.000 Ärzte und Ärztinnen in über 1.300 M V Z haben sich seit 2004 dafür entschieden, ihre Patienten gemeinsam „unter einem Dach" zu versorgen. 540 Diese Form der Zusammenarbeit ermöglicht den Ärzten im Angestelltenverhältnis eine Vielzahl individueller Arbeitszeitmodelle. Sie trägt zur Flexibilisierung des Arztberufes bei. Seit dem 1. Januar 2007 mit Inkrafttreten des Vertragsarztrechtsänderungsgesetzes dürfen M V Z grundsätzlich eine unbegrenzte Anzahl von angestellten Ärzten haben, während der Bundesmantelvertrag die Anzahl der abhängig beschäftigten Ärzte in Praxen auf drei beschränkt. Andererseits profitieren die Patienten von SynergieefFekten wie der koordinierten interdisziplinären Versorgung. Durch die Vernetzung verschiedener ärztlicher Fachrichtungen werden Schnittstellen in der Patientenversorgung überwinden. Medizinische Versorgungszentren können nur unter bestimmten Voraussetzungen zugelassen werden. Geschäftsanteile können nur von zugelassenen Ärztinnen und Ärzten sowie Krankenhäusern gehalten werden. Wesentlich ist dabei vor allem, dass die Mehrheit der Geschäftsanteile und Stimmrechte Ärztinnen und Ärzten zusteht und das M V Z von Ärztinnen und Ärzten verantwortlich gefuhrt wird. 541
4
Fazit
Im Wettbewerb der Gesundheitssysteme können die besten Elemente und Lösungsansätze untereinander ausgetauscht und an die jeweiligen nationalen Strukturen adaptiert werden. Dieser Lernprozess sollte genutzt werden, um die besten Versorgungsmodelle unter schonendem Ressourceneinsatz auf das Deutsche Gesundheitswesen zu übertragen und auch aus Problemen bei der Umsetzung neuer Modelle in anderen Ländern zu lernen.
Literatur Amelung, V. E. (2007): Managed Care, Neue Wege im Gesundheitsmanagement. 4. Aufl., Wiesbaden 2007 Danner, Günter, M. A. (2009): Ph. D, Abstract: Europa und fachärztliche Versorgung als Teil des nationalen Gesundheitswesens, H N U Hintergrundinformation EU und Gesundheit, Neu-Ulm 2009
Vgl.KassenäntdicheBundesvereinigung,http://daris.Jdjv.de/claris/link.aspiIDsl003758993, 10.20.2010. 541 y g i KoaJitionsvertrag zwischen C D U , C S U und FDP, 17. Legislaturperiode http://www.heute.de/ZDFheute/download/0j6741, 7012935.00.pdf. 540
347 Döring Diether/Bettina Dudenhöffer/Jürgen Herdt (2005): Europäische Gesundheitssysteme unter Globalisierungsdruck. Studie im Auftrag der Hans-BöcklerStiftung, Wiesbaden 2 0 0 5 Jaeckel, Roger (2009a): Gesundheitssystemvergleiche: Vom Best-Practice-Ansatz zu einem europäischen Modell der Versorgungsforschung? in: Monitor Versorgungsforschung M F V 0 1 / 2 0 0 9 v. 02.02.2009, S. 4 3 - 4 7 Jaeckel, Roger (2009b): Auf dem Weg zu einer Europäisierung des Gesundheitswesens? in: Gesellschaftspolitische Kommentare 6/2009, S. 1 9 - 2 3 Oberender, Peter (2008): Innovative Versorgungsstrukturen für Gesundheitsregionen, Bayreuth 2 0 0 8 Oberender P./Hebborn A./Zerth J . (2010): Wachstumsmarkt Gesundheit, Stuttgart 2 0 1 0 Schmidt, Josef (1996): „Wohlfahrtsstaaten im Vergleich, soziale Sicherungssysteme in Europa: Organisation, Finanzierung, Leistung und Probleme", Frankfurt am Main 1996 Schmidt & Klaunig: IGSF (Institut für Gesundheits-System-Forschung) (2005): „Leistungskatalog des Gesundheitswesens im internationalen Vergleich: eine Analyse von 14 Ländern. Bd. 2, Geldleistungen" Quelle: http://www.aerzteblatt.de/ v4/archiv/artikel.asp?id=58349, 06.02.2010 Schulenberg & Greiner (2000): Gesundheitsökonomik, Tübingen 2000 Tsebelis, George (2002): Veto-Players. How Political Institutions Work. New York/Princeton: Princeton UP 2 0 0 2 Urban Hans-Jürgen (2004): „Europäisierung der Gesundheitspolitik?" Veröffentlichungsreihe der Arbeitsgruppe Public Health Forschungsschwerpunkt Arbeit, Sozialstruktur und Sozialstaat Wissenschaftszentrum, Berlin 2004 Weber Max (1986): „Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie", Tübingen 1986 Wendt, Claus (2009): „Der Gesundheitssystemvergleich: Konzepte und Perspektiven", Quelle: http://www.mzes.uni-mannheim.de/publications/wp/wp-88.pdf Wilhelm, Victoria (2010): Chancen und Risiken der Internationalisierung im deutschen Gesundheitswesen, MA H N U , Neu-Ulm 2 0 1 0 Zweifel, Peter/Schocher, Johannes (2008): Managed care in Germany und Switzerland: Konzepte und Leistungsansätze — Ein internationaler Vergleich aus Schweizer Sicht, Zürich 2 0 0 8
Herbert Rebscher
Perspektivenwechsel Bewertungskategorien selektiven Vertragshandelns 1
Perspektivenwechsel - Die Sicht auf die Dinge
Es gibt wohl kaum einen Lebensbereich, in dem die Beurteilung konkreter Vorgänge, so „alternativlos" sie auch immer begründet, so „wissenschaftlich" und „analytisch zwingend" sie hergeleitet werden und so „objektiv" notwendig sie auch erscheinen mögen, nicht von der individuellen Perspektive des Betroffenen und Beteiligten abhängt. Es bleibt dabei: die Perspektive des Betrachters (des Betroffenen) entscheidet letztendlich über jede Form der Bewertung. Richtig oder falsch? Die Antwort erübrigt sich, es gibt nicht die eine Perspektive auf die Welt. Und es gibt auch nicht die eine Perspektive im Gesundheitswesen und schon gar keine wissenschaftlich gebotene. 542 Ökonomen ringen seit Jahrhunderten im Zusammenhang mit dem „objektiven" Nutzenbegriff, um ein Maß für die Dinge und müssen daran scheitern, jedenfalls Zuflucht in mehr oder weniger sinnvolle Surrogate wählen. 543 Es gibt keine objektive gesamtgesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion. Und es gibt auch keinen gesamtgesellschaftlichen Nutzen. Es gibt individuellen Nutzen, der nur individuell bestimmt werden kann - eben aus der Perspektive des Betroffenen selbst. Und der in der ökonomischen Literatur so inflationär verwendete Begriff der „Effizienz", der „allokativen Effizienz", kann nicht verdecken, dass es eben kein wissenschaftliches Maß für Verteilungsentscheidungen in einer Gesellschaft geben kann — und zwar prinzipiell nicht geben kann. 5 4 4 Die mühsamen Versuche dies zu konstruieren beleben nur einen überwunden geglaubten Utilitarismus 545 , der keine gesellschaftliche Akzeptanz nach sich ziehen kann. Deshalb führen auch gut begründete, theoretische Konstrukte von wettbewerblichen Prozessen und deren Überlegenheit bezüglich der allokativen Effizienz eben nicht per se zu einer gesellschaftlichen Akzeptanz. Sie liefern keine Begründung aus sich selbst, sondern sind prinzipiell offen für den gesellschaftlichen Diskurs aus unterschiedlichen Perspektiven. 542 543 544 545
Lübbe, W„ 2008. Aidelsburger u.a., 2006, S. 61. Münnich, F. E „ 2006, S. 27. Lübbe, W„ 2008.
349 Für wichtige Methodenfragen scheint die Bedeutung der Beurteilungsperspektive hingegen geklärt. Die Guidelines für methodisch gute Studien zur Evaluation fordern zwingend die explizite Nennung der gewählten Perspektive aus der die Studie ihre Ergebnisse ableitet. 546
2
Das Konzept selektiven Kontrahierens
2.1 Ziele des Wettbewerbs Die Suche nach der effizienten Mittelallokation beherrscht die gesundheitspolitische Debatte. Die gesundheitsökonomisch diskutierten Steuerungs- und Honorierungssysteme, dienen ausschließlich der Suche nach geeigneten Anreizen um Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung zu optimieren. Eines der diskutierten Instrumente ist die Einführung mehr wettbewerblicher Gestaltungsmöglichkeiten der Akteure. Mit Wettbewerb verbinden wir im Allgemeinen die Erweiterung von Handlungsoptionen aller Akteure, Suchprozesse für angebotene Waren und Dienstleistungen, immanente Innovationsanreize und unternehmenspolitische Strategien. Kurz, wir verstehen Wettbewerb als „Entdeckungsverfahren" 547 und hoffen darauf, dass trotz aller konkreten Konflikte in der Dynamik von Wirtschaftssystemen die Wettbewerbswirtschaft daraus ihre politische Akzeptanz und die Akzeptanz bei den Kunden zieht. Im Gesundheitswesen wirkt dieser Mechanismus jedoch nur begrenzt: Auf der einen Seiten bringt er die Erweiterung der Wahloptionen zwischen verschiedenen Versicherungsalternativen, deren jeweiligen Leistungsportfolio und Serviceorientierung, auf der anderen Seite entsteht bei der konkreten Leistungsinanspruchnahme aus der Perspektive des Patienten eine empfindliche Begrenzung und Einengung vorhandener Wahloptionen gegenüber den Freiheitsrechten des Kollektivvertrags. Die Debatte um selektives Kontrahieren, als dem zentralen Wettbewerbsinstrument im Gesundheitswesen, muss diesem Faktum Rechnung tragen, wenn es zielführend in ein System implementiert werden soll, das sich traditionell durch die Freiheit der Wahl unabhängiger Leistungserbringer durch die Patienten selbst und durch die Freiheit der Leistungserbringer bei der Wahl der von ihnen verantworteten Therapie, gemäß den festgestellten medizinischen Bedarf des Patienten, auszeichnet, ohne dass die Beteiligten dabei Rücksicht auf Vertragsverhältnisse Dritter, z. B. der Krankenkassen, nehmen müssen. 546 547
Schulenburg, J. M „ 2007 a, S. 286; Schulenburg, J. M „ Greiner, W„ 2007 b, S. 210. Hayek, F. A „ 1969, S. 249.
350
2.2 Theoretische Konzeptionen Mit Blick auf die wettbewerbstheoretischen Annahmen, die fiir die Selbststeuerungsfähigkeit von Wettbewerbsmärkten entscheidend sind, zeigt sich, dass wir vor der einfachen Übertragung dieser wettbewerbstheoretischen Annahmen auf die Bedingungen der gesundheitlichen Yersorgungszusammenhänge nur warnen können. Markttheoretische Annahmen • Es existieren keine negativen externen Effekte des Konsums. • Es existieren keine positiven externen Effekte des Konsums. • Die Präferenzen der Konsumenten legen im Voraus fest Nachfrageseitige Annahmen • Jeder kann am besten selbst über seine Wohlfahrt entscheiden. • Konsumenten verfügen über ausreichend Informationen, um richtige Entscheidungen zu treffen. • Konsumenten sind sich der Folgen ihrer Konsumentscheidung stets bewusst. • Menschen handeln rational. • Die Präferenzen des Einzelnen lassen sich an seiner Handlungsweise erkennen. • Gesellschaftliche Wohlfahrt basiert einzig und allein auf individuellem Nutzen, der wiederum allein auf dem Konsum von Gütern und Leistungen beruht.
AngebotsseIt Ige Annahmen • Angebot und Nachfrage werden unabhängig voneinander bestimmt. • Unternehmen verfügen über keine Monopolmacht • Unternehmen maximieren ihre Profite. • Es gfot keine zunehmenden Skalenerträge. • Die Produktion ist unabhängig von der Verteilung des Wohlstandes. Verteil ungspoNtische Annahmen • Gesellschaftliche Wohlfährt basiert einzig und allein auf individuellem Nutzen, der wiederum allein auf dem Konsum von Gütern und Leistungen beruht. • Die Gesellschaft billigt die vorhandene Verteilung des Wohlstands. Abbildung 39: Wettbewerbstheoretische Annahmen Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an: Rice, T., Gesundheitsökonomie, 2004, S. 29
Nicht erst durch die Finanzmarktkrise ist Wissenschaft und Politik vorsichtiger gegenüber dem naiven Postulat der „Selbststeuerung von Märkten" geworden. Die analytisch ambitionierte ökonomische Literatur hat diese Begrenzung der modelltheoretischen Annahmen der Effizienz von Märkten gegenüber alternativen Formen der Koordination längst eindrucksvoll belegt, sodass wir gut daran tun, bei der Beurteilung wettbewerblicher Steuerungsansätze im Gesundheitswe-
351 sen eine differenzierte Analyse zugrunde zu legen. Wichtig ist dabei, dass man die Beurteilungskriterien explizit nennt und daran auch Chancen und Risiken alternativer Strategien misst und dies der Beurteilung zugrunde legt. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung des Gesundheitswesens legte in seinem Jahresgutachten 2005 eine überaus differenzierte Analyse kooperativer Koordinationen im Vergleich zu den Möglichkeiten „selektiven Kontrahierens" vor. Der Rat verweist dabei auf die mangelnde Empirie der theoretisch als vorteilhaft bezeichneten Alternativen und kommt zu dem Schluss: „eine aussichtsreiche Alternative (zur kooperativen Koordination), die eine theoretische Fundierung besitzt und sich - auch aus internationaler Perspektive - auf empirische Evidenz stützen kann, erscheint noch nicht in Sicht." 548 , 549
2.3 Beurteilungskriterien Was wären geeignete Beurteilungskriterien zur groben Sichtung der Möglichkeiten und Grenzen „selektiven Kontrahierens"? Es bietet sich an, die wettbewerbstheoretischen Chancen selektiver Vertragsgestaltungen an inhaltlichen Kriterien zu messen und damit systematisch gegenüber den Vor- und Nachteilen kollektiver Koordinationen zu vergleichen. Die Vorteile des „selektiven Kontrahierens" werden üblicherweise darin gesehen, dass sie den beteiligten Akteuren Chancen eröffnen, um sektorale Grenzen zu überwinden, Suchverfahren zu eröffnen, die in Richtung Qualität von Versorgungsinhalten und Versorgungsabläufen, die in der Ablaufoptimierung und der Patientenorientierung und in der Effizienz der Organisationsstrukturen der Medizin liegen können. Daraus, so die Hoffnung, könnte ein System entstehen, das Schritt für Schritt aus sich selbst heraus, lernfahig und durch Vergleich und Benchmarks mit alternativen Lösungen das Versorgungsniveau auf ein höheres qualitatives Niveau heben kann. Die daraus entstehenden dynamischen Versorgungsstrukturen werden innovationsfördernd und qualitätsorientiert dem Wettbewerb um Versicherungsleistungen eine inhaltliche Dimension für die Patienten geben. Die ordnungspolitische Ausgangshypothese lautet dabei „selektives Kontrahieren ist ein wettbewerbliches Instrument, das zielfuhrend Effizienz in einem normativ auf Solidarität und Umverteilung gegründeten System schaffen hilft". 550 Gerade wenn in diesem Sinne „selektives Kontrahieren" eine gesundheitsökonomische vorzugswürdige Ergänzung der bestehenden korporatistischen Koordinationsord-
548 549 550
SVR, 2 0 0 5 ; Wille, E„ 2 0 0 6 , S. 4 2 7 ff. Tesic, D., 2005, Kritisch auch: Rosenbrock, R., Gerlinger, Th„ 2006, S. 2 8 2 u. 288. Rebscher, H„ 2 0 1 0 , S. 47.
352 nung sein soll, gilt es, in einer seriösen Beurteilungsmatrix die jeweiligen allokativen Stärken und Schwächen der alternativen Konzepte zu benennen und anhand überprüfbarer Kriterien zu gewichten. Ein zweites, sinnvolles Kriterium zur Beurteilung, ist die Frage nach der Zeit oder der Fristigkeit des Bedarfs. Akute Notfälle lassen keinen Spielraum für Informationsgewinnung und -gewichtung, noch für aufgeklärte Entscheidungen. Planbare Behandlungen und Eingriffe, die organisatorisch, diagnostisch und therapeutisch vorbereitet werden können, machen diese Suchprozesse jedoch möglich und sinnvoll. So lässt sich die Beurteilung von Kollektivvertrag vs. „selektives Kontrahieren" auf einer zweiten Beurteilungsmatrix, nämlich der des medizinischen Bedarfs in Abhängigkeit der Zeit auftragen, mit dem Ergebnis, dass eben bei zeitlich planbaren Versorgungszusammenhängen die Vorteile des „selektiven Kontrahierens" in Bezug auf rationale und informierte Entscheidungen der Betroffenen sehr viel stärker zu gewichten sind, als die Vorteile des Kollektivvertrags, der insbesondere bei einem kurzfristigen Bedarf (Notfälle), oder anderen Gründen der sofortigen Verfügbarkeit der Angebotsressourcen seine Stärken entwickelt. Auf den Punkt gebracht heißt das: Die Notfallmedizin und die Rettungskette entzieht sich jeder selektiven Kontrahierungsoption. Die zeitlich und inhaltlich planbaren Versorgungsanliegen machen eine Auswahl der Akteure und damit „selektives Kontrahieren" grundsätzlich möglich.
2.4 Mess- und Zuordnungsprobleme Das Konzept des „selektiven Kontrahierens" ist nur dann zielfuhrend zu administrieren, wenn eine hinreichend sichere Verständigung über die Verwendung des Begriffes der Effizienz erfolgt. Und zwar Effizienz in Bezug auf ihre allokativen und distributiven Ziele und Wirkungen. 5 5 1 Gerade wenn im Ansatz des „selektiven Kontrahierens" die ökonomischen Vorteile vermutet werden, muss umso sorgfältiger Wert auf die konkreten Bedingungen, die Messbarkeit der Effekte und die sichere Beurteilbarkeit der Ergebnisse gelegt werden. 552 Viele politische und wissenschaftliche Beiträge erschöpfen sich in der Hoffnung, dass selektive Verträge quasi von sich aus Effizienz produzieren und für Qualität und Innovation sorgen, ohne mitzudenken und vorzulegen, was denn die inhaltliche Dimension ist, die eine effiziente und qualitätsgesicherte Versorgung ausmacht und wie man dies in Abgrenzung unterschiedlicher Anbieter und deren Leistungsversprechen messen und beurteilen kann. 551 552
Pfaff, M„ 2006, S. 83 f. Rebscher, H„ 2010, S. 55.
353 Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass die Verwendung des Effizienz-Begriffes oft der gezielte und selbstimmunisierende Ersatz für das Nichtvorhandensein geeigneter Beurteilungskriterien oder Steuerungsziele darstellt und damit die eigendiche Problemstellung nur vernebelt. 553 Viele Vorschläge zu „allokationseffizienten Wettbewerbsstrukturen" fußen auf einer erhabenen Banalität. 554 Hieraus entsteht eine politische Vernebelungsstrategie, die wir uns in vielfaltigen gesundheitsökonomischen Zusammenhängen eher zu eigen gemacht haben, als den Schleier durch nüchterne Analytik zu überwinden. Zentrales Kriterium für die Beurteilung selektiver Kontrakte ist jedoch die verlässliche und hinreichend objektivierbare Messung seiner Ergebnisse. Dem stehen objektive Beurteilungsgrenzen entgegen, die sich insbesondere an drei zentralen Fragestellungen festmachen lassen:555 1. die unzureichende Durchdringung der Nützlichkeit des Leistungsangebots mittels Kosten-Nutzen-Bewertungen 2. die Varianz-Problematik bei allen Preis- und Klassifikationsmodeilen in der Medizin 3. das Problem der risikoadjustierten Qualitätsmessung als Vergleichsmaßstab. Für die noch unzureichende Kosten-Nutzen-Bewertung macht der Gesetzgeber im aktuellen Arzneimittelgesetzgebungsverfahren erste Versuche, um bei der Markteinfuhrung neuer Produkte ein solches Verfahren zu etablieren. Die hier zu Tage tretenden Probleme zeigen, dass wir ohne eine Systematisierung der Versorgungsforschung eine große Lücke in der Bewertung selektiver Vertragsoptionen hinterlassen und diese Strategie ohne verlässliche Nutzenmaße ein Stück inhaltsleer wird. Versorgungsforschung ist der Versuch, die aus klinischen Studien gewonnenen Informationen zur Wirksamkeit und Sicherheit auf populationsorientierter Ebene, im realen Kontext des Versorgungssystems, unter Alltagsbedingungen der Versorgung, mit Blick auf den konkreten Patienten hin zu analysieren und daraus Informationen für die Gestaltung zukünftiger Versorgungsarrangements abzuleiten. Dies ist ein Gebot der Stunde. 556 Das Varianzproblem von Preis und Klassifikationsmodellen begleitet die Diskussion um Honorierungs- und Finanzierungsmodelle (z.B. DRG-System) genauso wie die Diskussion um gerechte Mittelzuweisungen im Finanzierungssystem, Stichwort Risikostrukturausgleich. Varianz meint die Abweichung der durch-
553 554 555 556
Knappe, E„ 2006, S. 265. so auch im neuesten Gutachten der Monopolkommission 2008/2009, S. 441, 443, 444. Rebscher, H„ 2010, S. 53; Rebscher, H„ 2009, S 119 ff. Glaeske, G. Rebscher, H„ Willich, S., 2010, S. A1295 f., Rebscher, H„ 2009, S. 119.
354 schnittlich kalkulierten Zuweisungs- und Honorierungsbeträge gegenüber dem Aufwand im konkreten Einzelfall der Versorgung. Dies ist auf vielen Märkten durch eine üblicherweise herrschende Zufallsverteilung als automatisch gelöst zu betrachten. Im Gesundheitswesen versuchen wir jedoch gerade die Zufallsverteilung durch ein differenziertes System der fachärztlichen Zuweisung, der indikationsspezifischen Expertenentscheidungen und Zweitmeinungen und der qualitätsorientierten Weiterentwicklung von Versorgungsketten zu unterbinden. Kurz: wir versuchen, das Zufallsprinzip außer Kraft zu setzen, wobei gerade dadurch das Problem der Varianz zu durchaus problematischen Mittelzuweisungen fuhren kann (Stichwort Hochleistungsmedizin). 557 Um dies zu lösen bedarf es einer Ergänzung um sinnvolle Qualitätskriterien der Versorgung, die ohne ein methodisch nicht triviales Instrument der Risikoadjustierung wiederum, zu problematischen Strategien Anlass geben könnte (Risikoselektion).
3
Perspektiven — Das Dilemma selektiven Vertragshandelns
3.1 Beurteilungsperspektiven Im Folgenden sollen mögliche Beurteilungsperspektiven im Gesundheitswesen untersucht werden. Es ist unmittelbar einsichtig, dass auf individueller Ebene mindesten drei Perspektiven miteinander rivalisieren. Es ist zum Einen, die des Versicherten, der in seinem persönlichen Status, eben nicht krank und von der konkreten Versorgungsalternative und deren potenziellen Nutzen in keiner Form betroffen ist. Das ist zum Zweiten, die des konkret betroffenen Patienten, für den die Perspektive seiner Gesundung eine überragende Dominanz erhält. Und es ist zum Dritten die Perspektive desjenigen Patienten, der in einer anderen als der in Rede stehenden selektiven Vertragsoptionen seine Versorgung erhält, aber potenziell die Ressourcen miteinander in Konkurrenz stehen, Stichwort „Priorisierung". Auf Ebene der individuellen Leistungserbringer (Ärzte/Krankenhäuser etc.) ist ebenfalls mindestens zu unterscheiden, die direkt Betroffenen und Beteiligten (also der in einem Vertrag eingeschlossenen Akteure) und die von diesem Vertrag nicht Betroffenen oder nicht Beteiligten oder ausgeschlossenen Akteure, für die dieser Vertrag jedoch eine Bedrohung, jedenfalls eine Konkurrenzsituation bedeuten kann. 557
Rebscher, H „ 2007, S. 348.
355 Auf Ebene der Versicherungsträger stellt sich die Perspektive der individuell im Wettbewerb stehenden Unternehmen und der mit einer Vertragsalternative verbundenen Anreize zu Wahl der Versicherungsträger (Wettbewerb), schließlich auf Ebene des Versicherungssystems, die Frage der Wirkung auf das Gesamtsystem in budgetärer, aber auch in leistungsentwickelnder Hinsicht und die Frage der Rationalität individueller Entscheidungen für die Gesamtrationalität des Systems. Schließlich rivalisieren die Perspektiven unterschiedlicher Sozialversicherungsträger bei der Beurteilung solcher Versorgungsmodelle. Die Wirkungen auf Renten-, Unfall-, Pflege-, Arbeitslosenversicherung sind jeweils anders zu gewichten und zu bewerten, wie die vielfältigen Abgrenzungsdebatten und Zuständigkeitsregeln zwischen Renten- und Krankenversicherung, bezüglich der Rehabilitation, oder zwischen Pflege- und Krankenversicherung hinsichtlich der Abgrenzung relevanter Funktionen oder Ausstattungen (Hilfsmittelausstattungen) belegen. Schließlich ist die von Ökonomen präferierte gesellschaftliche Perspektive, die der Wirkung auf die Gesellschaft, den Arbeitsmarkt, die Belastung der Bürger und Steuerzahler in vielfältigen Zusammenhängen zu berücksichtigen. Über alles hinweg können diese Beurteilungsperspektiven noch in ihre funktionalen Dimensionen untergliedert werden, je nachdem, ob es sich um eine medizinische, eine ökonomische oder eine politische Rationalität handelt. Im Rahmen dieser Skizze soll im Folgenden nur die Perspektive gesunder Versicherter vs. kranker Patient und beteiligter Leistungserbringer vs. nichtbeteiligter Leistungserbringer (individuell und institutionell) beleuchtet werden. Diese Personengruppen sind nicht nur die unmittelbaren Akteure, sondern sie beeinflussen das öffentliche Bewusstsein bezüglich der Vorteilhaftigkeit selektiver Verträge am nachhaltigsten.
3.2 Exemplarische Beurteilung: Versicherter vs. Patient Der Bedarf an Gesundheitsleistungen ist systemunabhängig massiv ungleich verteilt. Alle empirischen Untersuchungen beschreiben den Zusammenhang, dass ca. 2 0 % der Menschen rund 8 0 % aller Leistungen des Systems benötigen. 558 Was im Umkehrschluss allerdings auch heißt, dass 80 % der Menschen keinen aktuell relevanten Nutzen aus den angebotenen Versorgungsarrangements des Systems ziehen. Die Frage der Beurteilung effizienter Versorgung ist damit eine Frage, wie die aufwändige Versorgung weniger Menschen organisiert wird. Die Preissignale des Systems, z. B. Prämien, richten sich zunächst jedoch an die 80 % der Menschen an die preisreagiblen Menschen, die nur episodenhaft medizinischen Bedarf 558
Aktuell: Busse, R. 2009, S. 608 ff.
356 nachfragen, insbesondere in Routineprozessen, in der Vorsorge, in der Zahnerhaltung oder bei marginalen Krankheitserlebnissen. Hier liegt systematisch das Problem der Marktspaltung. 559 Für einen gesunden Versicherten wird der Wahlakt bezüglich einer Krankenversicherung deshalb nicht von der Frage eines konkreten medizinischen Leistungsbedarfs und deren Prozessorganisation bestimmt, sondern wird sich primär um die Kategorie Preis/Beitragssatz/Bekanntheit/Image evtl. Servicequalität drehen. Wichtige Parameter, jedoch für den Kern des kollektiven Versorgungsproblems und -systems keine hinreichend erklärenden Parameter. Für den Patienten mit episodenhaften Krankheitserlebnissen werden maximal die Kategorien Wartezeiten, Terminvergabe, Erreichbarkeiten und persönliche Zuwendung dominieren, nicht jedoch das qualitativ hochwertige Angebot eines klar definiert indikationsbezogenen Versorgungsmodells, z. B. in der Chronikerversorgung. Aus episodenhaften, heterogenen Krankheitserlebnissen wird sich auch keine begründete Präferenz bezüglich bestimmter Leistungserbringer und Einrichtungen ergeben. Dies auch schon deshalb nicht, weil die Wahlakte, wenn sie gesundheitsökonomisch und versicherungsmathematisch Sinn stiften sollen, zu einem Zeitpunkt getätigt werden müssen, zu dem die Präferenzen bezüglich bestimmter Leistungserbringer mangels konkretem Leistungsbedarf und ohne eine potenzielle Indikationsstellung von niemandem entscheidbar ist. Sinnvolle selektive Vertragsmodelle können nur aktuell kontrahiert werden, aktuell im Lichte eines konkreten Bedarfs. Bei chronisch Kranken und Schwerstkranken bzw. Pflegebedürftigen dominiert jedoch die Kategorie Versorgungsqualität. Primär wohl das Vertrauen in den behandelnden Arzt/Ärztin, in deren Kompetenz und Zusammenarbeit mit ergänzend notwendigen Partnern im diagnostischen und therapeutischen Prozess. Daneben der freie Zugang zur qualitativ vermeintlich besten Klinik, die Erreichbarkeit notwendiger ergänzender diagnostischer Abklärung, die Verwendung innovativer Arzneimittel und der Umfang eventuell notwendiger Nachsorgeprogramme. Hier dominieren auch Themen, wie die Verzahnungen der therapeutischen Prozessschritte (z. B. Akutmedizin/Reha/Pflege) und die für den Patienten selbst und seine Familie günstige regionale Erreichbarkeit im Wohnumfeld. Selektives Kontrahieren ist ökonomisch und versorgungspolitisch dort am sinnvollsten, wo eine langwierige, teure und von den Prozessschritten her eng verzahnte Zusammenarbeit der Akteure notwendig ist. 5 6 0
559 560
Rebscher, H „ 2010, S. 39. Rebscher, H „ 2010, S. 37.
357 Deshalb sind solche Programme in der Regel auf die Zielgruppe der chronisch Kranken und Schwerkranken orientiert. Dort macht es ökonomisch Sinn. Und dort macht es von der Versorgungsqualität her Sinn. Dies bedeutet jedoch im Umkehrschluss, dass selektives Kontrahieren vor allem dort sinnstiftend wirkt, wo die dauerhafte und intensive Inanspruchnahme des Systems aktuell notwendig wird. In den Augen der in diesem Versorgungsprozess Betroffenen wird sich in dieser Situation selektives Kontrahieren jedoch als Begrenzung und Einengung des ursprünglich freien Zugangs zu in Frage kommenden Krankenhäusern und Ärzten und auf die selektiv durch die Krankenkasse kontrahierten Vertragspartner darstellen. Deren Therapiemöglichkeiten würden im Konzept des selektiven Kontrahierens zudem auf die Verordnung von Vertragsdienstleistungen und Vertragsprodukten (z. B. rabattierten Arzneimitteln) aber auch Hilfs- und Heilmitteln oder auf die kassenindividuellen Arzneimittellisten reduziert. Diese Beispiele zeigen, dass die theoretische Begründung des wettbewerblichen Konzeptes „selektives Kontrahieren" von den im Versorgungsprozess Betroffenen gemeinsam zunächst als Einschränkung bestehender Freiheitsrechte erlebt wird. Wenn diese Partnerwahl als Selektionskriterium die Qualität hat (vorausgesetzt die Messmethoden stünden bereit), kann diese Selektion gesundheitspolitisch und ökonomisch durchaus sinnvoll begründet sein. Dies bedeutet aber für Patienten und deren Angehörige, für einweisende Ärzte und die Zusammenarbeit in einem regionalen Netzwerk sehr konkrete Einschränkungen der bisherigen Beziehungsmuster und eine Veränderung gewohnter Prozessschritte.
3.3 Exemplarische Beurteilung: Beteiligter Leistungserbringer vs. ausgeschlossener Leistungserbringer Selektive Vertragskonzepte sind keine einseitige Angelegenheit. Auch von Seiten der beteiligten Leistungserbringer besteht eine hohe Motivation, dieses Vertragskonzept im Sinne eigener Vorstellungen von rationalen Prozessschritten zu gestalten. Insoweit kann man mit der freiwilligen Teilnahme von Leistungserbringern unterstellen, dass die Vertragsziele, Vertragsinhalte und Messmethodiken für die Bewertung der Vertragsergebnisse im Konsens entwickelt wurden. Wer einen Vertrag hat, ist zunächst zufrieden und wird mit und für diesen Vertrag werben. Gemeinsames Ziel der Vertragsparteien ist es, dem Patienten das Gefühl zu vermitteln, in einem guten Versorgungskontext aufgehoben zu sein. Für den vertragsschließenden Arzt und/oder Krankenhaus ist dieser Vertragsabschluss mit relevanten Partnern der Krankenversicherung zudem Ausweis für eine bevorzugte Partnerschaft, die ihn als qualitätsorientierten Anbieter ausweist und damit für die Patienten eine vertrauensstiftende Grundinformation von dieser Partnerschaft ausgeht. Beteiligte Leistungserbringer können durch die typische
358 Netzwerkstruktur selektiver Versorgungsverträge zudem davon ausgehen, dass die Zusammenarbeit im Netzwerk, d. h. zwischen den vor- und nachgelagerten Versorgungssektoren nicht nur in diesem Vertragskontext enger und kooperativer wird, sondern sich auch in Versorgungszusammenhängen bei Patienten anderer Krankenkassen oder bei Abstimmungen von Versorgungsprozessen positiv auswirkt. Für den vertragsschließenden Leistungserbringer ist also der Vertrag selbst ein rundum positiv zu bewertendes und zu kommunizierendes Angebot, das ihn in Konkurrenz zu anderen unterscheidbar macht und unterscheiden soll. Genau dieser Punkt wird von ausgeschlossenen und/oder nicht beteiligten Wettbewerbern als Bedrohung empfunden. Sie fühlen eine massive Konkurrenzsituation, insoweit sie ihren Patienten gegenüber kommunizieren müssen und wollen, dass in ihrem konkreten Versorgungskontext eine bessere Medizin, eine adäquatere Versorgung erfolgt und die von ihnen gewählten nach- und vorgelagerten Versorgungsstufen nicht zufällig, sondern gezielt nach den qualitativen Erfordernissen des Einzelfalls ausgewählt werden. Gerade im Zusammenhang mit neuen gesellschaftsrechtlichen Organisationsformen, wie Medizinische Versorgungszentren/Managementgesellschaften/Krankenhaus M V Z (vor allem wegen deren finanziellen und investiven Potenz) wird dieses Potenzial von den einzelnen niedergelassenen Akteure durchaus als Bedrohung empfunden. Die Widerstände gegen solche Versorgungsformen haben nicht nur die öffentliche Diskussion dominiert, sondern im Koalitionsvertrag der Bundesregierung ihren Niederschlag gefunden. Insbesondere die Versorgungszentren in der Hand von Krankenhäusern und/oder von „anonymen" Investoren werden mit einer massiven Skepsis bis Ablehnung begleitet. Krankenhäuser, die zu forsch an den Aufbau Medizinischer Versorgungszentren gehen, werden durchaus auch mit Zuweisungsentzug durch niedergelassene Ärzte „bestraft". Die Perspektive ist jeweils höchst rational, die Wirkung auf die örtliche Bevölkerung und die, vor allem auch kommunalen, politischen Instanzen, ist durchaus messbar und vorhanden. Selektive Vertragsmodelle leben deshalb ständig in der Gefahr, von ausgeschlossenen Akteuren diskriminiert zu werden, während der Nutzen sich nur für die konkret Versorgten, nicht jedoch für die Gesamtbevölkerung ohne aktuellen Bedarf erschließt. Ein ernst zu nehmendes Problem bei der Umsetzung selektiver Vertragsmodelle in der Versorgungspraxis.
3.4 Konsequenzen aus dem Beurteilungsdilemma Zusammengefasst und in größeren Zusammenhang gestellt, kann man vertragspolitische Konsequenzen aus den unterschiedlichen Perspektiven ableiten. Die Grundperspektiven lassen sich durchaus unterscheiden, ohne sie auch als indivi-
359 duell gültig zu bezeichnen. Auch lassen sich einige Konsequenzen aus funktionaler Perspektive unterscheiden, die für die Beteiligten wichtige Eckpunkte fixieren. Aus der personalen Sicht der gesunden Versicherten besteht kein aktueller individueller Nutzen aus selektiven Vertragsangeboten. Daraus erklärt sich, dass selektive Vertragsmodelle, qualitätsgesicherte Versorgungsoptionen und vieles andere mehr für das Wettbewerbshandeln von Krankenkassen nur sehr begrenzte Bedeutung entwickeln werden. Für Patienten entwickelt sich die Perspektive des konkreten Leistungsinteresses (enorm mit den Krankheitsstadien aufwachsend) und ein hohes Interesse an einer freien Wahlentscheidung beim Zugang im Kontext mit der jeweils ärztlichen Empfehlung. Daraus wird deutlich, dass die selektive Einschränkung der Wahlakte und die Fokussierung der Leistungszusage auf selektive Vertragspartner nur zufällig mit den individuellen Wünschen und dem Rat des behandelnden Akteurs übereinstimmen wird. Arzte wiederum sind, ob im Vertragskontext eingebunden oder ausgeschlossen, an ihrer Therapiefreiheit, ihrer freien Einweisung- und Verordnungsentscheidung genauso interessiert, wie an einer Teambildung im regionalen Setting. Dies gilt sowohl für die vor- und nachgelagerten Versorgungssektoren der Akutmedizin, aber auch der Heilmittel, Hilfsmittel und Krankenhausversorgung. Jeder Akteur hat dazu ein langjährig erworbenes Erfahrungswissen akkumuliert. Wettbewerber ohne selektiven Vertrag empfinden das selektive Vertragsangebot gegenüber Patienten als Bedrohung ihrer eigenen freiberuflichen Rolle und kommunizieren dies politisch, berufspolitisch aber auch in Form der unterschwelligen Diskriminierung dieser Angebote gegenüber den eigenen Patienten. Politiker, insbesondere im kommunalen und regionalen Kontext - unabhängig von der jeweiligen ordnungspolitischen Rhetorik ihrer Parteien — pochen in der Regel auf die Einheitlichkeit der Versorgung der Bevölkerung und sind nicht bereit, die Konsequenzen wettbewerblicher Suchprozesse in Form von unterschiedlichen Zugängen und unterschiedlichen qualitativen Standards für unterschiedliche Personengruppen zu tolerieren. Dies erklärt, warum auch (gerade) wettbewerbsnahe politische Kreise im Gesundheitswesen zur Verteidigung ihrer jeweiligen Klientel mutieren und Schutzwälle gegen Wettbewerb um Arztpraxen, Apotheken, Heilberufe, Hilfsmittellieferanten und ihre regionale Krankenhausstrukturen errichten. Ein durchaus rationales Motiv. Der Grund ist ein generelles Akzeptanzproblem der Wirkung selektiver Verträge, nämlich die Preisgabe der einheitlichen Versorgung für alle, zugunsten eines Systems von selektiven Angeboten, die Benchmarks zur Beurteilung der besseren und qualitativeren Versorgung bieten können.
360 Auch aus funktionaler Sicht bestehen ernst zu nehmende Struktur- und Prozessprobleme, die die Akzeptanz weiter in Frage stellen. Für die betroffenen Patienten ist das zunächst die Entfernung und die Erreichbarkeit selektiver Vertragsangebote gegenüber ihrer örtlich erreichbaren, gewohnten Versorgungssituation. Gerade für die hauptbetroffenen älteren Jahrgänge ein wichtiges Kriterium und auch langfristig ein ernstes Problem (Demographie, Ein-Personen-Haushalte etc.). Für die Entscheidungen im investiven Bereich und für die Planung von Kapazitäten ist die Verlässlichkeit der Nutzung über die Amortisationszeiträume entscheidend. Selektive Vertragsmodelle und ihre jeweiligen kürzeren Laufzeiten für kleinteilige Patientenkollektive stellen diese Zeitperspektive in Frage. Die Rolle der Arbeitsteilung, gerade im regionalen Kontext, außerhalb verdichteter Ballungsräume, wird in selektiven Vertragsstrukturen durch das jeweilige knappe Angebot und deren Wartezeiten und nicht durch den Vertragskontext bestimmt. Schließlich gilt für die Notfallversorgung, dass diese nur im kollektiven Rahmen sinnvoll organisierbar ist. Insbesondere müssen die dazu notwendigen Vorhaltefunktionen voll inhaltlich (quasi gesellschaftlich) bedient werden können. Selektive Vertragsmodelle scheiden hier zwangsläufig aus. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass für die Notfallversorgung vorgehaltene Kapazitäten nicht durch selektive Verträge gefährdet werden dürfen, insbesondere die hohe Investitionsbelastung der Vorhaltung sollte durch Nutzung im selektiven Kontext einer besseren Amortisation zugeführt werden.
4
Akzeptanzstrategien
Die Darstellung der methodischen Voraussetzungen zum verantwortungsbewussten Umgang mit dem Konzept des selektiven Kontrahierens, insbesondere die Berücksichtigung berechtigter und rationaler Perspektiven unterschiedlich Beteiligter im Versorgungszusammenhang zeigt, dass das Instrument des „selektiven Kontrahierens" allein noch nicht Akzeptanz schaffend wirkt und dass der Begriff einer „effizienten Versorgung" in seiner auch individuellen Bestimmungsgröße eine zentrale gesundheitsökonomische Herausforderung darstellt. Wer das Konzept des selektiven Kontrahierens ernst nimmt, wer es erfolgreich als Ergänzung des Kollektiwertragssystems implementieren will und dauerhaft bevölkerungsorientiert relevante Benchmarks auf der Suche nach besseren medizinischen Abläufen und Versorgungsinhalte etablieren will, der muss diese realen Bedingungen selektiven Kontrahierens sehr ernsthaft berücksichtigen und dabei Perspektive der Betroffenen im Vertragskontext ernst nehmen.
361 Mit der Berücksichtigung dieser methodischen und faktischen Voraussetzungen kann selektives Kontrahieren jedoch wesendiche Beiträge zum ständigen Suchprozess nach Qualität und Effizienz der Versorgung leisten, besser jedenfalls als der Ausschließlichkeitsanspruch des Kollektiwertragssystems dies je erfüllen könnte.
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Norbert Klüsen
Solidarisch finanzierte G K V - ein Auslaufinodell? „Heute ist nicht mehr die Freiheit gefährdet, auch nicht die Gleichheit vor dem Gesetz, gefährdet ist heute die Solidarität..." (Heiner Geißler)567 Die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland ist eine Solidargemeinschaft, das Solidaritätsprinzip eine ihrer tragenden Säulen. Mit erstaunlicher Stabilität überlebte genau diese solidarische Ausrichtung in den letzten fast 130 Jahren zwei Weltkriege, Inflationen und Währungsreformen, den finanziellen BeinaheZusammenbruch in den zwanziger Jahren, die Gleichschaltung unter den Nazis, die Verstaatlichung in der ehemaligen D D R , die Verwirklichung der deutschen Einheit und Zusammenfuhrung zweier bis dato getrennter Gesundheitssysteme, eine strikte Kostendämpfiingspolitik, und anschließend die parteiübergreifend konsentierte wettbewerbliche Neuausrichtung der Krankenversicherung, beginnend mit der Einfuhrung des Kassenwettbewerbs im Rahmen des Gesundheitsstrukturgesetzes (GSG) von 1993. Bemerkenswert ist, dass selbst auf europäischer Ebene - trotz des konträren Verhältnisses von Wettbewerb und Solidarität im Prozess der europäischen Integration, in dem der Handlungskorridor nationaler Gesundheitspolitik in Richtung Marktöffnung und wettbewerblicher Steuerungsoptionen verengt wird und der Sozialschutz bisher eine untergeordnete Rolle spielt 562 - der Europäische Gerichtshof (EuGH) das Prinzip Solidarität zu einem wettbewerblichen Ausnahmetatbestand erklärt hat. So sind deutsche Krankenkassen europarechtlich keine Unternehmen, da sie „rein soziale Aufgaben" übernehmen, die auf dem Grundsatz der Solidarität beruhen und ohne Gewinnzweck ausgeübt werden. Diese Rechtsauffassung ist allerdings umstritten und gilt nur, solange sich das solidarische Finanzierungssystem, die Prinzipien der Leistungserbringung oder das Wettbewerbsverhältnis der G K V zur PKV nicht ändern. 563 In Deutschland wird diese Solidarität gelebt. Seit ihrer Gründung ist die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland entsprechend finanziert und organisiert: der Leistungsanspruch richtet sich bis heute im Gegensatz zur Privaten Krankenversicherung nicht nach dem individuellen Krankheitsrisiko des Versicherten, sondern nach seiner Bedürftigkeit. Gesunde zahlen für Kranke, Junge für Alte, Kinderlose 561 562 563
Geißler, 2006, S. 37. Schmucker, R., 2009, S. 2 0 3 - 2 3 1 . Schmucker, R., ebenda.
364 für Familien, Einkommensstarke für Einkommensschwache. Der Beitrag eines jeden Versicherten ist abhängig von seiner finanziellen Leistungskraft bis zu einer Beitragsbemessungsgrenze. Schon 1884 durften die Krankenkassen den Versicherungsschutz auf die Familienangehörigen ausdehnen, schon damals galt das Sachleistungsprinzip, das den Patienten von der belastenden Pflicht befreite, für Behandlungskosten in Vorleistung zu treten. Auch die gesetzliche Regelung, die Beiträge in Abhängigkeit vom Bruttoarbeitsentgelt zu bestimmen, stammt aus dieser Zeit. Ein Drittel von etwa 1,8 Prozent zahlten die Arbeitgeber im Jahr 1885, zwei Drittel die Arbeiter.564 Dafür hatten diese in den Kassen aber auch das Sagen. Die paritätische Finanzierung der Beiträge durch Arbeitgeber und Versicherte wurde durch die Anordnungen des Sozialversicherungsanpassungsgesetzes von 1949 eingeführt und ist seit gut 60 Jahren Voraussetzung für die Mitbestimmung der Arbeitgeber in den meisten Selbstverwaltungen der Krankenversicherungen.
1
Der Abschied von der paritätischen Finanzierung
Unter der Goldfolie gesundheitspolitischer Rhetorik zur „nachhaltigen und sozial ausgewogenen Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung" des GKV-Finanzierungsgesetzes von 2011 erodiert nun schleichend gerade dieses tragende Prinzip der Solidarität im deutschen Gesundheitssystem. Neben dem im Jahr 2005 eingeführten zusätzlichen Beitragssatz in Höhe von 0,9 %, der ausschließlich von den GKV-Mitgliedern zu zahlen ist, wurde ab 2011 der Arbeitgeberbeitrag in Höhe von 7,3 % eingefroren, um langfristig — so das erklärte Ziel - Lohnnebenkosten zu senken und Beschäftigung zu fördern. Weitere über die allgemeine Lohn- und Gehaltsentwicklung hinausgehende Ausgabensteigerungen sollen künftig von den Versicherten alleine über die kassenindividuellen lohnunabhängigen Zusatzbeiträge finanziert werden. Durch diese gesetzlichen Vorgaben verabschiedet sich das deutsche Gesundheitswesen langfristig von der bisherigen paritätischen Finanzierung des Beitragsaufkommens durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer, obwohl dem Gesetzgeber klar ist, dass sich das Gleichgewicht zuungunsten des Versicherten verschiebt, die Arbeitgeber als Nutznießer einer hochwertigen Gesundheitsversorgung dagegen aus ihrer Verantwortung für die Kostenentwicklung in der GKV entlassen werden. Dabei ist wissenschaftlich strittig, dass die finanzielle Belastung des Gesundheitssystems die internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen beeinträchtigt. Eine aktuelle Studie des Instituts für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES) im Auftrag des Wissenschaftlichen Instituts der TK für Nutzen und Ef564
Schlenker, 1994, S. 8.
365 fizienz im Gesundheitswesen (WINEG) zeigt, dass deutsche Unternehmen 2008 durch die Arbeitgeberbeiträge zur Gesundheit nur mit 3,5 % im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt belastet wurden. Damit bewegte sich Deutschland mit den Niederlanden (3,1%) und Frankreich (3,7%) im Mittelfeld, während in den USA die gesundheitssystembedingten Kostenbelastungen der Unternehmen mit 5,7% deutlich höher lagen. 565 Das IGES errechnet zudem, dass die finanzielle Belastung der Privathaushalte in Deutschland durch die jüngste Gesundheitsreform spürbar steigen wird. Während die Versicherten 2008 einen Anteil von 55,4 Prozent an den rund 310 Milliarden Euro Gesamtkosten im Gesundheitssystem tragen mussten, werden es 2016 bereits mehr als 60,4 Prozent sein, während der Anteil der Arbeitgeber von 44,6 % im Jahr 2008 auf 39,6 % in 2016 sinkt. 566
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Kontinuierliche Ausweitung der Steuerfinanzierung
Parallel zur Entlastung der Arbeitgeber wird die G K V über immer höhere Bundeszuschüsse aus Steuergeldern finanziert — eine weitere Bewährungsprobe für das Solidaritätsprinzip wie sich zeigen lässt. Steuerfinanzierte Gesundheitsausgaben setzen sich im Jahr 2008 folgendermaßen zusammen: 5 6 7 •
15,6 Mrd. Euro an Belastungen der öffentlichen Arbeitgeber für Beihilfezahlungen der Beamten und Arbeitgeberbeiträge im öffentlichen Dienst,
•
17,8 Mrd. Euro direkte staatliche Finanzierung von Gesundheitsausgaben ( Ö G D , Sozialhilfe, Kriegsopferfürsorge, KH-Investitionen),
•
8,3 Mrd. Euro indirekte Finanzierung aus Bundeszuschüssen an Sozialversicherungen (6,3 Mrd. Euro allein für die GKV).
Insgesamt waren damit bereits im Jahr 2008 41,7 Mrd. Euro bzw. 13,4% der gesundheitsbedingten Gesamtkosten steuerfinanziert. An die G K V werden, wie das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) schreibt, Bundeszuschüsse aus Steuergeld für sogenannte versicherungsfremde Leistungen (z. B. kostenlose Familienversicherung von Kindern und Ehegatten) gezahlt. Für das Jahr 2011 erhöhten sich die Bundeszuschüsse auf 13,3 Mrd. Euro. Einmalig wird im Jahr 2011 zusätzlich ein weiterer Bundeszuschuss von 2 Mrd. Euro bereit gestellt, der die Finanzierung des Sozialausgleichs im Zusammenhang mit Zusatz-
565 566 567
IGES, Albrecht u.a., 2011, S. 108-109. IGES, s.o., S. 119-120. IGES, s.o., S. 73-74.
366 beiträgen fiiir die Jahre 2 0 1 2 b i s 2 0 l 4 sicherstellen soll. Ab dem Jahr 2015 will der Bund Zahlungen zur Finanzierung des Sozialausgleichs leisten; die Höhe dieser Zahlungen soll aber erst im Jahr 2014 gesetzlich festgelegt werden. Die Steuerfinanzierung wächst: nicht nur durch Bundeszuschüsse aus Steuermitteln und die Einführung einer derzeit noch kleinen Gesundheitssteuer für Beitragszahler über Zusatzbeiträge, die der Versicherte ohne Arbeitgeberbeteiligung alleine zu tragen hat, sondern ebenfalls über den geplanten steuerfinanzierten Sozialausgleich, der die Versicherten vor einer Überforderung durch eben diese Zusatzbeiträge bewahren soll. Damit nimmt die Abhängigkeit des Systems von der aktuellen Haushaltslage zu - ein wackliges Standbein vor dem Hintergrund der vorliegenden Schuldensituation des Bundes. In welcher Höhe Steuermittel tatsächlich der Krankenversicherung zugewiesen werden, hängt nämlich von den aktuellen politischen Prioritäten der jeweiligen Regierung ab. Die Erfahrung spricht nicht für die dauerhafte Stabilität solcher Zuweisungen, vor allem, wenn es sich um hohe Summen wie die geplanten 14 Mrd. Euro für die Gesundheitsversorgung von Kindern oder das kontinuierlich wachsende Volumen des Sozialausgleichs handelt, der ab 2014 laut Aussagen des B M G mit einer knappen Milliarde Euro startet und Jahr für Jahr um eine Milliarde Euro wachsen soll 5 6 8 — Etatbomben mit fiskalischer Spätzündung wie die Opposition behauptet. 569 Kürzungen des Steuerhaushalts für Gesundheit in wirtschaftlich angespannten Zeiten träfen besonders die sensiblen Personengruppen, die sich derzeit noch auf die Solidarität der Versichertengemeinschaft verlassen können. In letzter Konsequenz ist kritisch zu hinterfragen, wo die Obergrenze der Steuerfinanzierung liegt, ab der Systemveränderungen greifen müssten wie beispielsweise eine paritätische Beteiligung staatlicher Vertreter im Rahmen der Selbstverwaltung neben Arbeitnehmern und Arbeitgebern, ab der also der politische Schiedsrichter gleichzeitig zum handelnden Mitspieler wird. Der Blick über die Grenzen zeigt, dass überwiegend steuerfinanzierte Länder wie Großbritannien, Schweden und Spanien sich trotz ihres Fürsorgeanspruchs gerade nicht durch höhere Solidarität ausweisen. In wirtschaftlichen Krisenzeiten, in denen das Gesundheitsbudget aufgrund der angespannten Haushaltslage drastisch gekürzt und Kapazitäten zurückgefahren werden, sind elektive Operationen, Vorsorgeleistungen aber auch bestimmte lebenswichtige Behandlungen wie beispielsweise Krebsbehandlungen fiir die Versicherten nur nach langen Wartezeiten, über eine hohe Punktzahl im Priorisierungsverfahren oder gar nicht mehr verfügbar, es 568 569
Handelsblatt, 19.07.2010. Biggi Bender (Die Grünen) im Handelsblatt vom 19.07.2010.
367 sei denn, die Patienten sind finanziell in der Lage, diese Leistungen zeitnah auf dem privaten Gesundheitsmarkt einzukaufen. So warteten beispielsweise Ende 2010 - trotz massiver Erhöhung des Gesundheitsbudgets in den letzten zehn Jahren - immer noch 2,4 Millionen Engländer im Durchschnitt ein bis zwei Monate auf einen Behandlungstermin, zehn Prozent der Patienten sogar über vier Monate. Selbst bei lebensbedrohlichen Krebserkrankungen müssen zwei Wochen Wartezeit in Kauf genommen werden, um einen Spezialisten zu konsultieren. 570 Auch der steuerfinanzierte Sozialausgleich ist abhängig von den zur Verfugung stehenden Haushaltsmitteln. Beispielhaft ist dies in der Schweiz zu beobachten, wo der regressive Effekt von Kopfprämien durch steuerfinanzierte Prämienverbilligungen aufgefangen werden soll, was angesichts der Haushaltslage nur unzureichend gelingt und sich als Armutsfalle für den Mittelstand erweist. Rund 30 % der schweizerischen Haushalte werden mit 3,5 Mrd. Franken im Jahr subventioniert. 571 Das Sozialkorrektiv zur Kopfpauschale greift aber zu kurz. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das sozialpolitische Ziel eines zumutbaren Beitrages für Versicherte von sechs Prozent des verfugbaren Einkommens lediglich in vier von 26 Kantonen erreicht wird. In acht Kantonen beträgt die mittlere Prämienbelastung trotz Prämienverbilligung mehr als 10 Prozent des verfugbaren Einkommens, die der Versicherte alleine zu tragen hat, da die Arbeitgeber keinen Versicherungsbeitrag leisten. Besonders in den Kantonen der Romandie, welche hohe Krankenkassenprämien aufweisen wie z. B. Neuenburg und Waadt, gelingt es trotz der Prämienverbilligung nicht, die Belastung für die Haushalte auf das durchschnittliche Niveau der Schweiz zu reduzieren. Betroffen sind vor allem Großfamilien und Familien mit jungen erwachsenen Personen, die trotz Steuerzuschüssen zwischen 13 und 18 Prozent des verfugbaren Einkommens für Krankenkassenbeiträge aufbringen müssen. 5 7 2 Versicherten, die ihre Versicherungsprämien nicht mehr bezahlen können, wird die medizinische Leistung verweigert. 573 Steuerfinanzierte Systeme funktionieren in wirtschaftlichen Krisenzeiten häufig nur unzureichend: das Solidaritätsprinzip bleibt aufgrund mangelnder finanzieller Spielräume schnell auf der Strecke. Der Druck auf den Umfang der Leistungskataloge nimmt dagegen zu.
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Department of Health, Annual Report 2010. Ärztezeitung Online, 2009. Balthasar, Bieri, Gysin (2008). Tages Anzeiger, 07. Februar 2007.
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Der Ruf nach offener Rationierung und Priorisierung
Der Ruf nach offener Rationierung und Priorisierung wird auch in Deutschland immer lauter. Sowohl der Deutsche Ethikrat als auch die Bundesärztekammer (BÄK) und das Kieler Fritz Beske-Institut für Gesundheitssystemforschung fordern gebetsmühlenartig die Reduzierung des Grundleistungskataloges der GKV. Es sei nicht mehr alles für alle finanzierbar. Deshalb seien Rationierung und Priorisierung die Methoden der Wahl, denn Solidarität erfordere Realismus, konstatiert Beske in einer Pressemitteilung zur Neugestaltung der gesetzlichen Krankenversicherung im September 2010. Schon im Januar hatte Jörg-Dietrich Hoppe, der Präsident der Bundesärztekammer, Gesundheitsminister Rösler aufgefordert, zu entscheiden, welche Patienten mit welchen Krankheiten künftig mit welcher Priorität behandelt werden müssten, da die Ärzte in Deutschland Leistungen bereits heimlich rationierten, weil nicht genügend Geld im System vorhanden wäre. Auch der Deutsche Ethikrat spricht sich in seiner neusten Stellungnahme „Nutzen und Kosten des Gesundheitswesens - Zur normativen Funktion ihrer Bewertung" für eine Debatte über die Verteilung begrenzter Mittel aus. Für eine Debatte, die sich nicht auf Fachkreise und ökonomische Aspekte begrenzen darf, wie der Rat formuliert.574 Faktisch — und wieder zuungunsten der Versicherten - würde eine Entschlackung des Leistungskatalogs - wenn es sich nicht um verzichtbare Leistungen handelt - und wer definiert dies? - zur Ausweitung des IGEL-Kataloges führen, der den Ärzten derzeit 1,5 Mrd. Euro zusätzliche Einkünfte verschafft.575 Die Folge wären weniger Leistungen für alle, Entsolidarisierung durch das Wachsen des grauen Marktes, nur die finanzstarken Versicherten könnten rationierte Leistungen privat finanzieren. Mit Solidarität hätte dies nichts zu tun. Rationierung und Priorisierung erzeugen auch per se keine Effizienzvorteile. In Oregon ist es durch Priorisierung nicht gelungen, Effizienzreserven zu heben. Stattdessen kam es sogar zu Leistungsausweitungen, die durch Steuergelder und restriktive Budgets aufgefangen werden mussten.576 In Ländern wie Großbritannien, Finnland und Schweden, die Leistungssteuerung über Mangelverwaltung und Priorisierung (Quality Adjusted Life Years - Qualys, Wartelisten, Leistungsausschluss) betreiben, weil die finanziellen Spielräume der Gesundheitssysteme
574 575
576
Deutscher Ethikrat (2011). Laut W I D O (2010): Inzwischen wird mehr als jedem vierten Versicherten (28,3 %) binnen Jahresfrist eine medizinische Leistung auf Privatrechnung verkauft, die Zusatzeinnahmen der Arzte bei der Behandlung von gesetzlich Krankenversicherten sind damit auf rd. 1,5 Mrd. Euro im Jahr angewachsen. Marckmann, ZEFQ, 2009, S. 85.
369 durch die Steuerfinanzierung stark eingeschränkt sind, wurde von den Bürgern heftig kritisiert, dass Rationierung und Priorisierung lediglich eine Ausweichaktion sei, um sich nicht mit der Frage beschäftigen zu müssen, wie die gesundheitliche Versorgung besser organisiert werden könne. Großbritannien und die skandinavischen Länder sind mittlerweile dabei, ihre Systeme durch mehr Wahlfreiheiten und die vorsichtige Einfuhrung von Wettbewerbselementen effizienter zu gestalten. Nicht die Suche nach geeigneten Vorgaben zur Priorisierung bestimmen die Weiterentwicklung der gesundheitlichen Versorgung, sondern die Priorisierung in Richtung hohe Versorgungsqualität.
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Ein Schutzschirm für die PKV
Neben den beschriebenen Entsolidarisierungstendenzen im deutschen Gesundheitswesen wird im Rahmen der aktuellen Gesetzgebung über die Private Krankenversicherung (PKV), die dazu beiträgt, dass sich in Deutschland ausgerechnet gesunde Versicherte mit hohem Einkommen aus dem Solidarsystem der G K V verabschieden können, ein gesetzlicher Schutzschirm gespannt. Seit Januar 2011 lässt die Koalition die privaten Krankenversicherer über die entsprechenden Regelungen des Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG) von Preisnachlässen der G K V profitieren (die Privaten kommen damit — zunächst bei Medikamenten - in den Genuss der gleichen Einkaufsvorteile wie die gesetzlichen Kassen, ohne dafür das Privileg aufgeben zu müssen, sich die rentabelsten Kunden des Krankenversicherungsmarktes herauszupicken). Zusätzlich wird die Wettbewerbslinie zwischen den beiden Systemen im begrenzten Bereich der freiwillig Versicherten durch schnellere Wechselmöglichkeiten ebenfalls in Richtung PKV verschoben. Rund 300.000 gesunde und gutverdienende Versicherte verabschieden sich jährlich aus der Solidargemeinschaft der G K V in Richtung PKV. 5 7 7 Das sind rund 180.000 Nettozugänge in die PKV unter Berücksichtigung der Wechsler in die GKV. Jahr für Jahr gehen der G K V so 750 Millionen Euro verloren wie ein Gutachten des IGES aus dem Jahr 2007 auf Basis der Daten des sozioökonomischen Panels für den Zeitraum 2000-2004 belegt. 578 40-50 Prozent der TKVersicherten, die die Kasse wechseln, verabschieden sich in die PKV. Ein nennenswerter monadicher Solidarbeitrag der Privatversicherten an die GKV erfolgt nicht, auch wenn die PKV immer wieder argumentiert, eine Art „Solidarbeitrag" über die Zahlung höherer privatärzdicher Vergütungen zu leisten. Dieser liegt aber weit unter dem Betrag, den Privatversicherte bei vollständiger Beteiligung an der
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PKV-Zahlenbericht 09/10, Zahlenreihen 1999-2009. Albrecht et al„ 2007.
370 solidarischen Finanzierung leisten würden. Mangelnde Solidarität mit der Gesamtbevölkerung und verzerrte Wettbewerbsbedingungen zugunsten der PKV kennzeichnen heute die Schnittstelle des segmentierten Krankenversicherungsmarktes. Die Niederländer haben mit der Zweiteilung ihres Krankenversicherungssystems im Rahmen der Gesundheitsreform im Jahr 2006 aufgeräumt. Sie hatten keine Angst davor, alle Krankenkassen zu privatwirtschaftlich tätigen Unternehmen umzuwandeln, die einem einheitlichen Wettbewerbsrecht unterliegen, das die Solidarität durch eine verbindliche Versicherungspflicht für alle Bürger in einem Versicherungsmarkt, Kontrahierungszwang aller Kassen und einen Sozialausgleich für Bedürftige stärkt.
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Solidarität ist kein Auslaufmodell
Interessant ist, dass der internationale Trend in eine gegenläufige Richtung weist: nicht Entsolidarisierung sondern die Suche nach einer Balance zwischen Wettbewerb und Solidarität kennzeichnet die Weiterentwicklung der Gesundheitssysteme. Die Amerikaner haben sich nach heftigen Debatten und trotz andauernder juristischer Auseinandersetzungen über die generelle Einführung einer Versicherungspflicht im Rahmen der Gesundheitsreform Obamas mehrheitlich mit ihren Unversicherten solidarisiert; die Schweizer halten ihr Kopfpauschalen-Modell ohne Arbeitgeberbeteiligung plus Sozialausgleich (jeder dritte Haushalt erhält wie erwähnt mittlerweile einen staatlichen Zuschuss), schon lange nicht mehr für ein Exportmodell; die Briten versuchen durch den Abbau von Bürokratie den N H S effizienter zu gestalten und Wartelisten abzubauen; die Niederländer haben in ihrer Gesundheitsreform von 2006 Wert darauf gelegt, die paritätische Finanzierung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu erhalten ( 5 0 : 5 0 Regel) während sie ihr staatliches Gesundheitssystem in ein Wettbewerbsmodell mit einheitlichem Wettbewerbsrahmen überführt haben. Mehr Transparenz, eine starke Stellung der Versicherten und Patienten und mehr Effizienz soll die Solidarität stärken. Zum Solidaritätsprinzip bekennen sich auch die deutschen Versicherten deutlich. Im TK-Meinungspuls 2010 beurteilen 81 % dieses Prinzip positiv - ein Höchststand im Jahresvergleich. Ebenso gibt es ein klares Votum für mehr Wettbewerb (63%), um die Solidarität durch effiziente Strukturen zu erhalten. Bundeszuschüsse werden dagegen kritisch betrachtet, weil 77 % der Versicherten furchten, dass diese in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Sparzwängen zum Opfer fallen. Solidarität ist und bleibt damit für Deutschland eines der tragfähigsten Konzepte für die Zukunft. Effizienz wird zum Schlüsselelement des Gesundheitswesens.
371 Für Deutschland heißt dies, dass die Abkehr von der paritätischen Finanzierung und der PKV-Schutzschirm sehr kritisch bewertet werden müssen, da sie das Solidaritätsprinzip in der GKV schwächen. Die Diskussion über Rationierung oder Priorisierung von Leistungen ist dagegen schlicht unethisch, wenn nicht vorher alle Möglichkeiten ausgeschöpft worden sind, Effizienzreserven im System zu heben. Dabei muss berücksichtigt werden, dass eine Verschwendung von Ressourcen so lange systeminhärent bleibt, wie Anreize bestehen, über fremde Ressourcen zu verfügen. 579 Weder Regulierung noch Priorisierung, sondern dezentrale Steuerung und Wettbewerb in einem verbindlichen Ordnungsrahmen schaffen diese Effizienz. 580 Deshalb gibt es in Deutschland seit langem einen parteiübergreifenden Konsens zur Einfuhrung von Wettbewerbselementen in die GKV, auch wenn gleichzeitig ein enger Rahmen gesetzt wird, um Risikoselektion und Versorgungsdefizite zu vermeiden wie beispielsweise die Einfuhrung des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs, des Einheitsbeitrags und die verbindliche Vorgabe zum Abschluss von Hausarztverträgen. Ob ein solcher Rahmen den Wettbewerb befördert, ist höchst fraglich, dass es einen Ordnungsrahmen geben muss, dagegen unstrittig. Das deutsche Gesundheitswesen braucht einen Ordnungsrahmen, der Regeln definiert. Geregelter Wettbewerb und Solidarität sind deshalb kein Gegensatzpaar. Ganz im Gegenteil: zur Freiheit gehört auch immer die Verantwortung. Zu einem funktionierenden Wettbewerbssystem die Verantwortung für die Menschen. Dann erzeugt ein effizientes Gesundheitssystem durch Wettbewerb den benötigten Spielraum für mehr Solidarität. Von vielen Beteiligten im Gesundheitswesen wird Wettbewerb schon lange nicht mehr als reiner Verdrängungskampf des Homo oeconomicus, sondern als wichtiger Suchprozess für produktive Innovationen und effiziente Lösungen angesehen. Die neue wirtschaftswissenschaftliche Richtung der Verhaltensökonomie — ausgehend von Wirtschaftswissenschaftlern der experimentellen Ökonomie wie Selten 581 und Ockenfels, 582 kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass der Mensch deutlich weniger egoistisch und rational handelt, als die Ökonomie traditionell annimmt. Gerade in Europa schmälert soziale Ungleichheit z. B. sogar das Wohlbefinden der Menschen.
579 580 581 582
Oberender/Zerth, 2007. Oberender/Zerth, 2006. Selten, R„ 2001. Ockenfels, A„ 1998.
372 Es geht also immer weniger um den Gegensatz von Wettbewerb und Solidarität, um Schwarz-Weiß-Malerei, immer weniger darum, ob man links oder rechts steht, ob man die Bürgerversicherung oder die Gesundheitsprämie präferiert. Entscheidend sind Daten statt Dogmen als Leitmotiv einer neuen Wirtschaftswissenschaft. 583 Entscheidend ist, ob ein Wettbewerbsdesign funktioniert. Viel interessanter als die Diskussion um die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit von Wettbewerb und Solidarität ist deshalb die Frage, welche Rahmenbedingungen dazu beitragen, die effizienzschaffenden Kräfte des Wettbewerbs freizusetzen, um einen robusten Gesundheitsmarkt zu schaffen, ohne die Solidarität im System preiszugeben. Ein einheitlicher fiir alle Beteiligten geltender Ordnungsrahmen, eine starke Aufsicht, Transparenz über die Ergebnisqualität der Versorgung, vertragliche und finanzielle Spielräume fiir Krankenkassen, natürlich die Eigenverantwortung der Versicherten für ihre Gesundheit, aber auch die Beteiligung der Arbeitgeber in wirtschaftlichen Aufschwungphasen an der Finanzierung des Beitragsaufkommens gehören zu diesen Rahmenbedingungen. Solidarität ist ein hohes Gut, wenn auch kein Ruhekissen. Denn Solidaritätsbekundungen alleine werden nicht ausreichen, ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem für Deutschland zu gestalten584. Hand in Hand mit dem Wettbewerb könnte dies aber gelingen. Solidarität und Wettbewerb profitieren dann voneinander wie zwei Bergsteiger in der Felswand, die sich gegenseitig beim Aufstieg unterstützen, wenn regulierter Wettbewerb die Effizienzreservenfreisetzt,die Solidarität erst ermöglichen. Und wenn alle Beteiligten sich am Erhalt dieser Solidarität beteiligen. Mit diesem Modell wäre es möglich, die aktuellen Entsolidarisierungstendenzen umzukehren, damit das deutsche Gesundheitswesen nicht nur seine Vorbildfunktion als eines der besten Versorgungssysteme im internationalen Vergleich erhält, sondern unser solidarisch finanziertes und organisiertes Gesundheitssystem nicht zum Auslaufmodell wird.
Literatur Albrecht, M. u. a. (2011): Belastung der Arbeitgeber in Deutschland durch gesundheitsbedingte Kosten im internationalen Vergleich, Ergebnisbericht IGES, Berlin Albrecht, M. et al. (2007): Finanzielle Auswirkungen und typische Formen des Wechsels von Versicherten zwischen GKV und PKV, Baden-Baden Balthasar, A. et al (2008): Monitoring 2007. Die sozialpolitische Wirksamkeit der Prämienverbilligung in den Kantonen, Experten- und Forschungsberichte zur Kranken- und Unfallversicherung, Luzern 583 584
Ockenfels, A„ im ZEIT Interview 7/2011. Vgl. Klüsen, 2003.
373 Department of Health (2010): N H S Referral to Treatment (RTT) Waiting Times Statistics for England, 2010 Annual Report Deutscher Ethikrat (2011): Stellungnahme: Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen - Zur normativen Funktion ihrer Bewertung", Berlin Geißler, H. (2006): Die Neue soziale Frage: Globale Solidarität, in: Langkutsch, H „ Vöcking, J. (Hrsg.): Gedanken, Opladen Klüsen, N . (2003): Verantwortung braucht Mut. Bausteine fiir ein neues Gesundheitswesen. Technik, Ethik, Ökonomie, Baden-Baden Marckmann, G. (2009): Priorisierung im Gesundheitswesen: Was können wir aus den internationalen Erfahrungen lernen?, in: Zeitschrift fur Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen, Band 103, S. 85-91 Oberender, P., Zerth, J. (2007): Gesundheitsökonomie und die Frage der Legitimation: Warum es einer gesundheitsökonomischen Orientierung in der Gesundheitspolitik bedarf, in: Oberender, P./Straub, C. (Hrsg.), Auf der Suche nach der besseren Lösung, Gesundheitsökonomische Beiträge 52, Baden-Baden Oberender, P., Zerth, J. (2006): Soziale Ziele und marktwirtschaftliches Gesundheitswesen — schlussendlich kein Gegensatz! — Anmerkungen zum Spannungsfeld von Wettbewerbspolitik und Sozialrecht, in: O R D O , Band 57, 2006, S. 261-283 Ockenfels, A. (1998): Fairness, Reziprozität und Eigennutz, Dissertation Universität Magdeburg Schlenker, R. U. (1994): Geschichte und Reformperspektiven der gesetzlichen Krankenkassen, in: Schulin, B. (Hrsg.), Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 1, München Schmucker, R. (2009): Solidarität in der europäischen Gesundheitspolitik? Zum Verhältnis von Wettbewerb und Solidarität im europäischen Binnenmarktprojekt, in: Böckmann, R. (Hrsg.), Gesundheitsversorgung zwischen Solidarität und Wettbewerb, Wiesbaden Selten, R. (2001): Die konzeptionellen Grundlagen der Spieltheorie einst und jetzt, Bonn Graduate School of Economics, Departments of Economics, University of Bonn Tages Anzeiger (2007): „Kein Versicherungsschutz, keine Medizin", 07. Februar 2007 Thelen, P. (2010): Reform mit Nebenwirkungen. Röslers Gesundheitspläne reißen Haushaltsloch, Handelsblatt (19.07.2010)
Ulrich Hemel
Basisversicherung mit Zusatzmodulen — Eine philosophische Betrachtung zur Reform des Gesundheitswesens 1
Hinfuhrung
Das Gesundheitswesen sendet uns in Deutschland höchst verwirrende Signale. Einerseits bietet es eine wachsende Zahl von Arbeitsplätzen und ist somit ein stabiler Teil der Volkswirtschaft. Andererseits belastet es die Löhne und Gehälter mit unaufhaltsam steigenden Nebenkosten. Die Rechte der Patienten werden gestärkt oder ausgedünnt, je nach Perspektive. Unzufrieden sind Arzte und Apotheker. Gestärkt werden seit Jahren die Krankenkassen- deren Zahl aber durch Fusionen immer weiter zurück geht. Im Folgenden soll das Gesundheitswesen in Deutschland aus philosophischer Perspektive betrachtet werden, damit die hinter spezifischen Argumenten liegenden philosophischen Grundfragen deutlicher an Kontur gewinnen. Auf diesem Hintergrund wird anschließend die Einführung einer gesundheitsbezogenen Basisversicherung mit Zusatzmodulen vorgeschlagen, die sowohl Effizienz- wie auch Wohlstandsgewinne im Gesundheitswesen bringen soll.
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Prinzipien der Gesundheitsversorgung I: Die Paradoxie superiorer Güter
Betrachtet man die Grundprinzipien der Gesundheitsversorgung, lassen sich einige der offenkundigen Widersprüche, mit denen wir täglich leben, recht gut aufheben. So gilt die Gesundheit den Wirtschaftswissenschaftlern als superiores Gut. Vereinfacht gesagt heißt das: „Je mehr ich für Gesundheit ausgebe, desto erstrebenswerter kann es scheinen, noch mehr auszugeben". Für Brot und Essen gilt das nicht: Ich kann schließlich nicht mehr essen, als mein Magen auf einmal fassen kann. Das Grundprinzip von Gesundheit als superiorem Gut beleuchtet auch, warum reiche Volkswirtschaften relativ zum Bruttosozialprodukt deutlich mehr für Gesundheit ausgeben als arme. 4 % des BSP in einem armen Land namens „A-Land" mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 2000 Euro bedeuten 80 Euro pro Kopf. 13 % des BSP in einem reichen Land namens B-Land mit einem
375 durchschnittlichen Bruttoeinkommen von 28.000 Euro bedeuten 3640 Euro pro Kopf- also mehr, als ein Bewohner unseres armen Landes im ganzen Jahr verdient. Treiben wir diesen Gedanken auf die Spitze, dann können wir nur noch feststellen: Wenn wir 50 % oder 80 % des BSP in die Gesundheit stecken, leben wir in einem unglaublich reichen Land! Dieser Gedanke ist nur scheinbar absurd. Denn was in die Gesundheitsversorgung gesteckt wird, wirkt sich auf die Lebensqualität aus: Ein besseres Gesundheitswesen fuhrt dazu, dass weniger Kinder bei der Geburt und im ersten Lebensjahr sterben, aber auch dazu, dass Menschen immer älter werden, da sie Krankheiten überleben, die in armen Ländern den sicheren Tod bedeuten. Es gibt aber auch einen weiteren, weniger offensichtlichen Effekt: Der Anteil der Menschen mit schweren Gesundheitsbeeinträchtigungen nimmt zu. Lebensverlängerung ist daher nicht gleich bedeutend mit einer Verminderung von Krankheit, Behinderung und Leid. Denn paradoxerweise leben die Menschen in unserem sehr armen „A-Land" gesünder, allerdings deutlich kürzer- bei der Kindersterblichkeit angefangen, beim Tod durch Infektionskrankheiten nicht aufgehört. In „B-Land" fuhrt das entwickelte Gesundheitswesen nämlich u.a. dazu, dass Menschen auch mit schweren Beeinträchtigungen eine hohe Zahl von Jahren mit annehmbarer Lebensqualität leben können.
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Prinzipien der Gesundheitsversorgung II: Freiheit, Gerechtigkeit und Verteilungskämpfe
Speziell in Deutschland, einem nach wie vor wohlhabenden Land, leben wir darüber hinaus nach wie vor in einer Tradition des Fürsorgestaats. Der einzelne Bürger zahlt Steuern und erwartet vom Staat ein umfassendes Angebot der Fürsorge, von Straßen und öffendicher Infrastruktur bis hin zu Schulen und Bildung, Sicherheit und Gesundheit. Geht man vom Grundsatz der Staatsfiirsorge aus, die eben vom Fürsorgestaat erwartet wird, werden zwei Fragen unausweichlich: Wie viel Fürsorge kann und darf der Staat sich leisten? Was ist gerecht? Und wo enden die Grenzen von Freiheit und Selbstbestimmung bei denen, die andere Vorstellungen von Fürsorge und Gesundheit haben als der Fürsorgestaat? Auch hier sind die zu stellenden Fragen alles andere als theoretisch. Darf der Staat Zeugen Jehovas gegen deren Willen eine Bluttransfusion im Notfall aufzwingen? Kann sich der einzelne auf seine Willensfreiheit berufen, wenn er einen assistierten Selbstmord plant, etwa in Verbindung mit der Schweizer Organisation „Dignitas"? Wo hört die Menschenwürde im Krankenhaus auf, beim Zwei-
376 Bett-Zimmer, beim Vier-Bett-Zimmer oder beim Acht-Bett-Zimmer? Wie viele Stunden Hubschrauberflug sind der Rettungswacht zuzumuten, wenn es um die Suche nach einem verunglückten Skifahrer handelt, der fahrlässig von der Piste abgewichen ist? Was ist gerecht? Wo hört die Freiheit des einzelnen auf? Selbst wenn jemand den Stein der Weisen für sich beanspruchen könnte, müsste er doch in einer offenen, demokratischen Gesellschaft den mühsamen Weg durch die Parlamente nehmen, damit seiner Auffassung Gehör geschenkt wird. Da Gesetzgebungsverfahren aber in sich komplex sind, da sie Gegenstand vielfaltiger lobbyistischer Bemühungen werden und da sie von der mehr oder weniger tiefen, mehr oder weniger zufalligen Kenntnis medizinischer und sozialer Zusammenhänge bei den Ministerialbeamten im Gesundheitsministerium in Berlin (und deren Kollegen in anderen europäischen Ländern) abhängen, wirken Ergebnisse von Gesundheitsreformen und gesundheitsbezogenen Gesetzen häufig wenig überzeugend: Sie spiegeln Interessen und Kompromisse, die einseitig sein können; sie gehen von einem Wissensstand aus, der längst überholt sein kann; und sie berücksichtigen zu wenig die sozialen Nebenfolgen, die sich aus ihnen ergeben können. Das Dilemma von Freiheit und Gerechtigkeit bietet dabei in vielen Fällen die Hintergrundlandschaft, vor der massive Verteilungskämpfe stattfinden. Dabei gilt eine alte politische Regel: Wer laut schreit, kriegt viel. Wer den Mund nicht aufmacht, wird übergangen. Dass dies keiner bekannten Idee von Gerechtigkeit entspricht, liegt auf der Hand. Es gehört allerdings zu den Regulativen der Demokratie, dass Politiker „im Namen der Gerechtigkeit" auftreten. Wie weit selbst ernannte Hüter der Gerechtigkeit tatsächlich sachkundig sind, hat mir ihrem Wahlerfolg in demokratischen Wahlen allenfalls indirekt zu tun. Noch mehr: Wer politischen Erfolg haben will, wird um dieses Erfolges willen immer wieder versuchen, im Namen der Gerechtigkeit und/oder im Namen der Freiheit auch dann aufzutreten, wenn er lediglich die Gerechtigkeit und Freiheit des eigenen Geldbeutels, der eigenen Ideenverliebtheit oder Eitelkeit meint! Dies zu erkennen, ist jedoch allenfalls ein Teil der Lösung. Denn wenn es zum Detail zurück geht („wie viele Minuten Hubschrauberflug für den abgestürzten, fahrlässigen Skifahrer?"), fehlt jedem noch so fleißigen Gesetzgeber das Detailwissen. Wir kommen damit zu einem weiteren Charakteristikum des Gesundheitswesen: Die Hyperkomplexität.
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Prinzipien der Gesundheitsversorgung III: Hyperkomplexität und Handlungszwang
Gesundheit betrifft jeden Menschen und jedes Lebensalter. Natürlich ändert sich die Prävalenz von Erkrankungen, aber neben Interessenkonflikten bestehen Verteilungsfragen, die alles andere als trivial sind: Soll das öffentliche System in die Alzheimerforschung investieren oder in die Früherkennung chronischer Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen? Ist es sinnvoller, sich für eine flächendeckende Schulspeisung oder für ein umfassendes Impfprogramm einzusetzen? Schon diese, als Alternative gestellte Frage kann uns als Eingangspforte zur staunenden Betrachtung des Gesundheitssystems führen. Wenn wir denn schon die Idee des Fürsorgestaates vor Augen haben sollten, dann wird doch sonnenklar: Impfungen gehören in das Budget des Sozialministeriums, Schulspeisungen in das Budget des Bildungsministeriums- und das bitte schön von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich! Hyperkomplexität im Gesundheitswesen bedeutet, so gesehen, das Zusammentreffen und Ineinanderwirken verschiedener Subsysteme, die in sich hoch komplex sind und aus denen die Hyperkomplexität des Gesundheitswesens entsteht. Die Besonderheit hyperkomplexer Systeme ist es, dass sie so gut wie nicht steuerbar sind, weil der Effekt eines Steuerungsimpulses immer wieder ungeplante Nebenwirkungen auslöst, die in der sozialen Realität häufig nicht vorhersehbar sind. Ein Beispiel: In einer lateinamerikanischen Millionenstadt bestand ein hervorragendes Niveau im Bereich der Transplantationsmedizin. Nach einigen Jahren ergaben sich dort Erfolge bei der Verbrechensbekämpfung. Die Zahl der Todesfälle durch Mord und Schießereien ging zurück. Woran niemand dachte: Plötzlich gab es auch einen Mangel an transplantationsfähigen Organen! Was natürlich nicht bedeuten kann und konnte, den Kampf gegen das Verbrechen aufzugeben. Es wäre ethisch, philosophisch und politisch falsch, aus der Hyperkomplexität in die Falle der vorschnellen Resignation zu verfallen. Da sich gesellschaftliche Verhältnisse ebenso ändern wie medizinische Erkenntnisse, stellen sich stets und ständig neue Fragen, die nicht einfach unbeantwortet bleiben dürfen. Ist die Präimplantationsdiagnostik ethisch geboten, ethisch zulässig oder verwerflich? Wie soll der Gesetzgeber sich verhalten? Welche Leistung darf und soll ein Arzt anbieten? Wird die mögliche Zulassung der PID zu einem stärkeren sozialen Druck auf Eltern führen, die ein behindertes Kind zur Welt bringen? Nichtwissen ist jedoch kein hinreichender Grund für Nicht-Handeln. Im Gesundheitswesen gilt immer wieder das Prinzip des Handlungszwangs unter Bedingungen der Unwissenheit. Ethisch vorauszusetzen ist ein Höchstmaß an zumut-
378 barem Wissen, ein Höchstmaß an zumutbarer Reflexionsdistanz- aber auch die Ausbildung geeigneter Strukturen, um Zweifelsfälle aus verschiedenen Perspektiven heraus zu erörtern. Ethik-Kommissionen an Krankenhäusern sind hier nur ein- und nicht immer ein leuchtendes- Beispiel. Immerhin zeigen sie, dass Reflexionsdistanz im Gesundheitswesen auch institutionell verankert werden kann.
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Prinzipien der Gesundheitsversorgung IV: Gesundheit als Ware und Gesundheit als öffentliches Gut
Wir gelangen damit zu einem weiteren, unausweichlichen Dilemma der Gesundheitsversorgung. Einerseits wird Gesundheit im Fürsorgestaat als öffentliches Gut angesehen: Jeder hat ein Recht auf ärztliche Behandlung- ohne Ansehen der Person. Andererseits kann sich nicht jeder eine aufwändige Zahnbehandlung leisten, die über das hinaus geht, was Krankenkassen noch zu zahlen bereit sind. In den letzten Jahren hat die schwierige Abgrenzung zwischen Gesundheit als öffentlichem Gut und Gesundheit als Ware zu sozialen Arabesken, absurd anmutenden Fallgestaltungen und teilweise zu einer Art Lebenslüge der modernen Gesellschaft geführt. Dieser Umstand hängt mit der Geschichte des Fürsorgestaats zusammen. Auf dem Hintergrund dieser Geschichte ist es schwer, zur Erkenntnis zu gelangen, dass Fürsorge ihre Grenze im sozial Zumutbaren hat. Gleichzeitig fuhren finanzielle Engpässe in Entscheidungen, die als soziale Folge zwangsläufig in einer Art Zwei- und Drei-Klassen-Medizin endet. So erwirtschaften Arzte immer mehr sogenannte IGel-Leistungen, d. h. Einkommen aus individuell vereinbarten Gesundheitsleistungen, die sinnvoll sein mögen, von der Krankenkasse aber nicht mehr bezahlt werden. Die Abgrenzung zwischen Leistungen des Gesundheitssystems und persönlicher Lebensverantwortung wird so einerseits immer fließender, andererseits wird sie immer stärker auf dem Rücken der Versicherten ausgetragen. Dies hängt auch mit dem Umstand zusammen, dass niemand sich bereit findet, der offenherzig bekennt: Leistung A, B und C sind Basisleistungen. Leistungen D, E und F sind medizinisch sinnvoll, aber keine Basisleistung mehr. Solche Abgrenzungen sind schwierig: Denn am Ende ist jeder Mensch ein Einzelfall. Was beim einen sinnvoll ist, ist beim anderen medizinisch unbedingt erforderlich. Dennoch gilt auch hier die Regel vom Zusammenhang zwischen Hyperkomplexität und Handlungszwang: Die Schwierigkeit der Abgrenzung ist kein hinreichender Grund für ein Nicht-Handeln, das in der Folge zumindest intransparenter, vermutlich aber auch im Wortsinn ungerechter wirkt.
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Die Balance zwischen Fürsorge und Freiheitsgarantie (I): Von der Pflichtversicherung zur Versicherungspflicht
Würde man im Sinn des Dilemmas zwischen Gesundheit als Ware und Gesundheit als öffentliches Gut die Dinge einseitig auf die Spitze treiben, dann werden Zerrbilder sichtbar, die keiner will: Entweder den alles bevormundenden Staat, der auch die Farbe einer Binde und das Aussehen eines Brillengestells normiertoder eine überzogene Privatisierung, die Gesundheitsleistungen ausschließlich nach Geldbeutel anbietet, ohne dass Anbieter eine hinreichende Gewährleistung für den Sinn und die medizinische Qualität des Angebots übernehmen. Wenn beide Extreme nicht gewollt werden können, muss für das Gesundheitssystem eines Landes eine wie immer geartete Balance gesucht werden. Über diese aber lässt sich trefflich streiten: Wo sind die Grenzen der Patientenmündigkeit? Wo hören Basisleistungen auf? Welches Angebot soll wie und von wem kontrolliert werden? Historisch gesehen hat der Staat in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert recht früh soziale Verantwortung übernommen. Staatliche oder staatsnahe Systeme sind auch 2011 noch immer recht stark. Auch wenn der Freiheitsgedanke - etwa im Sinn der „freien Arztwahl" - nicht fehlt, so wird er doch immer wieder in Frage gestellt-so etwa durch ausgewählte Vertragsärzte bestimmter Kassen. Und einerseits sind die Menschen in Deutschland stolz darauf, dass fast die gesamte Bevölkerung krankenversichert ist. Andererseits ist das Gängelband der Krankenversicherung überzogen eng: Es lässt weder den Kassen noch den Patienten ausreichend Wahlfreiheit. Wenn jeder weiß, dass es unterschiedliche Behandlungsmethoden und Behandlungskonzepte gibt, warum muss dann das Angebot der Kassen einheidich normiert sein? Warum sprechen sich politische Parteien nicht stärker für eine Ausweitung des Wahlkatalogs bei Krankenkassen aus? Dabei ist ja nicht ausgeschlossen, dass eine bundesweite Institution Anträge auf Gewährung oder auf Ausschluss einer Leistung überprüft. Krankenkassen hätten aber eine stärkere Chance, sich voneinander zu unterscheiden und damit den gewünschten Wettbewerb zu erzielen. Findet dieser nur über den Umfang der eigenen Verwaltungskosten und die Risikogruppen in einer Krankenkasse statt, fuhrt dies zwangsläufig zu Systemverzerrungen. Dies gilt in analoger Weise für die Patienten selbst. Der Staat traut jedem Erwachsenen zu, sein Auto so zu versichern, wie er es für passend hält: Mit oder ohne Selbstbeteiligung, mit oder ohne Wildschaden-Erstattung und dergleichen mehr. Warum soll es nicht möglich sein, auch im Gesundheitswesen eine Versicherungspflicht einzuführen, die nach Kosten, aber auch nach Leistungen gestaffelt ist?
380 Dies ist nicht das gleiche wie die heutige Krankenversicherung, bei der beliebige Zusatzversicherungen abgeschlossen werden können. Viel eher geht es um definierte Gesundheitsmodule wie „Zähne", „Krankenhausbehandlung", „chronische Krankheiten" oder „Unfälle", die in ihren Kosten gut erfassbar sind und bei denen es über ein Basismodul hinaus wählbare Zusatzleistungen gibt. Philosophisch gesehen hätte ein solches System einen heilsamen NebenefFekt. Es zwingt den Gesetzgeber nämlich zur Definition dessen, was wirkliche eine Basisleistung ist und sein kann. Weiterhin käme es zu einer Stärkung im Berufsbild des Gesundheitsberaters. Schließlich lassen Menschen sich auch bei Versicherungen und bei Finanzanlagen beraten; nur beim Thema „Gesundheit" überlässt man die Auswahl der Handlungsparameter dem Staat! Ein Beispiel soll zeigen, dass die hier vorgeschlagene Kombination von Basisleistung und Zusatzmodulen für den einzelnen und für das Gesundheitssystem vorteilhaft sein kann. Wenn mir beispielsweise bekannt ist, dass in meiner Familie Herzkrankheiten häufig sind oder wenn ich ängstlich in Sorge bin, von einem Herzinfarkt getroffen zu werden, dann bin ich gut beraten, mich für das Zusatzmodul „Sonderleistungen Herzkrankheiten" zu entscheiden. Weder Diabetes noch Alzheimer fände ich für die eigene Person besonders bedrohlich. Folglich würde ich mich auf die Basisleistung des Gesundheitswesens verlassen. Daraus folgt zweierlei: Erstens muss die Basisleistung ausreichend sein, um beim überraschenden Auftreten von Krankheitsbildern kompetente Hilfe leisten zu können. Schließlich kann ich ja trotzdem zum Opfer der Diabetes werden. Zweitens würde die statistische Wahrscheinlichkeit sehr wohl dazu führen, dass Einzelpersonen und auch Familien sich stärker für diejenigen Zusatzmodule interessieren würden, bei denen sie sich potenziell gefährdet sehen. Sie würden diese Zusatzmodule aber eben auch zusätzlich bezahlen und dafür vielleicht nur eine statt zwei Wochen Sommerurlaub buchen. Heute wird die gleiche Leistung aus dem allgemeinen Topf des Gesundheitssystems finanziert. Dieser Topf würde aber offensichtlich durch ziel- und passgerechte Zusatzmodule entlastet, so dass selbst bei gleicher Leistung wie heute der durchschnittliche Aufwand pro Versichertem sinken würde. Dies bedeutet aber nichts anderes als die Überlegenheit eines solchen Systems aus „Basisleistungen mit Zusatzmodulen" im Sinn der gesundheitswirtschaftlichen Allokation und Steuerung von Ressourcen! Was wäre die Folge einer solchen Reform in Richtung Eigenverantwortung? Würde damit nicht das Prinzip der Solidargemeinschaft geschwächt werden? Und wäre die Folge nicht die fatale Schwächung derer, die sich teure Zusatzmodule nicht leisten können?
381
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Die Balance zwischen Fürsorge und Freiheitsgarantie (II): „Gerechte Gesundheitspolitik und die Mehrklassengesellschaft
Wie leicht zu sehen ist, stehen hinter solchen Fragen Sorgen um Gerechtigkeit und Gleichheit, aber auch bestimmte Gesellschaftsbilder. Das Gesundheitswesen ist für ideologische Stellvertreterdiskussionen dieser Art überaus anfällig, da sich immer wieder im einen oder anderen Sinn anrührende Fallbeispiele finden lassen. Philosophisch und gesellschaftstheoretisch sind allerdings auch andere Fragen auszuhalten. Die erste Frage lautet: Ist das Gesundheitswesen ein geeignetes Mittel zur Herstellung oder zumindest zur Förderung gesellschaftlicher Gleichheit? Die Gegenfrage dazu ist freilich genau so ernst zu nehmen: Wo fiihrt materielle Ungleichheit im Gesundheitswesen zu Situationen existenzieller Beeinträchtigung, die dem Grundgedanken der Menschenwürde aus Art. 1 des Grundgesetzes erkennbar zuwider laufen? Auch in diesem Zusammenhang lassen sich wieder Extrempositionen anfuhren. Ein einfaches Beispiel soll zeigen, was gemeint sein kann. So stellt in vielen ärmeren, vorindustriellen Gesellschaften der Zustand der Zähne ein auf den ersten Blick erkennbares Bild der sozialen Lage eines Gegenübers dar. Erkennbare Zahnlücken und Gebiss-Mängel zeigen an: Der andere kann sich zahnärztliche Versorgung nicht leisten. Eine lange Reihe goldener Kronen sagt aus: „Gold im Mund zeigt meinen gehobenen sozialen Status". In Deutschland dürfte Konsens darüber herrschen, dass dies kein erstrebenswerter sozialer Zustand ist. Zugang zu zahnärztlicher Mindestversorgung erweist sich hier nicht zuletzt als ein Beitrag zum sozialen Frieden. Daraus zu schließen, dass es leicht wäre, einen Konsens über Basisleistungen zu finden, wäre allerdings ein Trugschluss. Gesellschaftliche Diskussionen über die Angemessenheit von systemfinanzierten Leistungen sind in einer offenen Gesellschaft allerdings auch nichts Verwerfliches. Auch unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten problematisch wird die Diskussion dort, wo Haupt- und Nebenziele unzulässig miteinander verknüpft werden. So ist es den meisten Menschen in Deutschland in Fleisch und Blut übergegangen, dass die Krankenkasse durch einen prozentualen Beitrag vom Arbeitseinkommen finanziert wird. Die Finanzierung des Gesundheitssystems hat damit Züge einer
arbeitsbezogenen Nebensteuer.
382 Unter dem Gesichtspunkt gesellschaftlicher Gerechtigkeit ist dieses System aus verschiedener Hinsicht fragwürdig. Es besteuert Arbeit und privilegiert Einnahmen aus Mieten und Kapitalerträgen. Es kann aber auch zum Anlass einer kollektiven Lebenslüge werden, weil es „Unterzahler" und „Überzahler" produziert. Denn die einen zahlen deutlich mehr, als das System pro Person kostet („Überzahler"). Die anderen, die ich hier „Unterzahler" nennen will, werden faktisch von den Überzahlern subventioniert. Damit übernimmt das Gesundheitssystem Steuerungs- und Lenkungswirkungen aus der persönlichen Einkommensteuer. Dies jedoch ist von Haus aus systemwidrig, weil Gesundheitskosten keine Steuern sind, sondern umlagefinanzierte Leistungen spiegeln. Dass es anders geht, ist längt bekannt. Wenn der Staat nämlich einen Mindeststandard im Gesundheitswesen gewährleistet, kann er die dafür nötigen Kosten bei allen Bürgerinnen und Bürgern erheben und ggf. dort aus Steuermitteln eingreifen, wo finanzielle Bedürftigkeit herrscht. Wer so vorgeht, wird aber auch einräumen müssen, dass weder die umfassende Vorsorge und Fürsorge noch die möglichst weit gehende persönliche Verantwortung Gerechtigkeit im Gesundheitswesen herstellen. Dies jedenfalls dann, wenn „Gerechtigkeit" den Zugang zur gleichen Güte von Leistungen für jede Person im Land bedeuten soll. Nur ist dieser Gerechtigkeitsbegriff philosophisch unzureichend, ja sogar ideologisch besetzt. Er setzt nämlich voraus, dass die Probleme an der Landesgrenze enden. Für in Deutschland lebende Menschen gäbe es den Standard A, für Menschen aus Albanien den Standard B — Albanien ist schließlich ein unabhängiger Staat. Argumentiert man so, dann mag dies zynisch wirken. Tatsächlich deckt das Argument auf, dass hinter dem scheinbar so ehrenwerten Einsatz für Gleichheit und Gerechtigkeit Fragen auftauchen, die zumindest aus philosophischer Sicht unabweisbar sind: Gilt für Albaner in Albanien das Grundprinzip der Menschenwürde denn nicht? Hört Gerechtigkeit im Gesundheitswesen an der Landesgrenze auf? Mit welchem Hochmut wird Menschenwürde in „A-Ländern" anders definiert als in „B-Ländern? Gilt nicht auch hier das Prinzip der globalen Zivilgesellschaft, die allen- und wirklich allen- Menschen gleiche Würde zuerkennt? Nun ist es andererseits offensichtlich, dass es kein gerechtes „Weltgesundheitssystem" gibt. Es gibt Grenzen der Gerechtigkeit, bei denen die ethische Aufgabe zunächst einmal darin besteht, diese Grenzen zu erkennen und vorläufig anzuerkennen, um zumindest den Fehler der impliziten Heuchelei zu vermeiden.
383 Gleiches gilt aber auch auf nationaler Ebene. Es ist einfach nicht wahr, dass die ärztliche Versorgung in ländlichen Gebieten den gleichen Standard aufweisen kann wie in einer Großstadt. Und es ist einfach eine Tatsache des gesellschaftlichen Lebens, dass es Menschen gibt, die sich aufwändiger versichern wollen und können oder die sich im Ausland behandeln lassen wollen und können. Das Gesundheitswesen kommt daher ohne ein Mindestmaß an Toleranz gegenüber gesellschaftlicher Ungleichheit nicht aus. Philosophisch ist dies freilich nicht mit Resignation zu verwechseln: Gestaltungsaufträge gehen von einer unvollkommenen, nicht von der vollkommenen Welt aus. Ob man dann das Wort von der Mehrklassengesellschaft in den Mund nehmen will, mag eine Frage des politischen und historischen Standpunkts sein. Nur wird und muss man sich womöglich fragen, wieso ausgerechnet das Gesundheitswesen gesellschaftliche Ungleichheit weniger spiegeln sollte als z. B. der Bereich Verkehr und Mobilität, Kleidung und Ernährung, Bildung und Erziehung. Befürwortet jemand die Antwort, der Gleichheitsanspruch ergebe sich aus dem Charakter von Gesundheitsleistungen als einem öffentlichen Gut, dann finden wir zurück zur Grenze und zur Chance eines reformierten Gesundheitssystems: Denn gerade aus diesem Argument heraus lohnt sich der Einsatz und der Streit um definierte Basisleistungen. Aus der Grenze des Arguments hingegen kann und darf die Möglichkeit folgen, dass Krankenversicherungen modulare Zusatzleistungen nach eigener Entscheidung anbieten können, die sich genau derjenige leistet, der dies so finanzieren will und kann. Ein so umgestaltetes Gesundheitssystem könnte das Beste aus zwei Welten vereinigen: Die nötige Solidargemeinschait, die keinen ausschließt, und die Förderung von persönlicher Verantwortung, bei der dem einzelnen und seiner Familie zugemutet wird, Entscheidungen zum persönlichen Wohlergehen zu treffen, die ihm im Notfall auch zu gute kommen können. Der Wohlstandsgewinn würde freilich allen zufallen: Denn ein so gestaltetes Gesundheitswesen hat die Chance auf erhebliche Effizienzgewinne- nicht ausschließlich im Sinn der Gesundheitsanbieter, sondern auch im Blick auf ziel- und passgenaue Programme für spezielle Patientengruppen.
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Literatur J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. 4.Aufl. 1977 U. Hemel, Wert und Werte, 2. Aufl. München 2006 N. Knoepffler, Angewandte Ethik, Köln 2009 K. R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd.1-2, Bern 5. Aufl.1977 WHO, The World Health Report 2002, Reducing Risks, Promoting Healthy Life, Genf 2003 WHO, World Report on Violence and Health, Genf 2002
Günter Neubauer
Durch Vorsteuerabzug zu mehr Effizienz in der Gesundheitsversorgung 1
Einleitung
Es war und ist ein stetes Bemühen von Peter Oberender, die Effizienz des Gesundheitswesens zu verbessern. Dabei hat Peter Oberender vor allen Dingen die Möglichkeiten und Grenzen des Wettbewerbs ausgelotet, um in der Gesundheitsversorgung ein höheres Maß an Wirtschaftlichkeit zu erreichen. Bereits 1987, also vor rund 25 Jahren, hat er zusammen mit Wolfgang Gitter eine wegweisende Veröffentlichung 585 hierzu zur Diskussion gestellt. Die dort entwickelten Gedanken wurden dann in einer wissenschaftlichen Arbeitsgruppe in Vorschläge zur Strukturreform der Gesetzlichen Krankenversicherung586 umgewandelt. Vor allem der heute intensiv diskutierten Form des selektiven Kontrahierens wurde damals schon der Weg bereitet. Auch die zehn Jahre später umgesetzte Wahlfreiheit für alle gesetzlich Versicherten wurde bereits thematisiert. Schließlich war auch das Wort von einem Solidar-/ Risikoausgleich geboren, das dann ebenfalls zehn Jahre später als Riskostrukturausgleich umgesetzt wurde. Etwa zur gleichen Zeit, nämlich 1986-1989, war Peter Oberender, zusammen mit dem Verfasser, Mitglied in der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags zur Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung 587 . Dort wurden ebenfalls, wenn auch unter politischem Kompromisszwang, viele Ideen entwickelt und vor allen Dingen wichtigen politischen Entscheidungsträgern nahe gebracht, die die Gesundheitspolitik der 1990er Jahre bestimmten. Immer trat Peter Oberender Innovationen im Gesundheitssektor offen gegenüber, gemäß dem Grundsatz „Innovationen müssen sich im Wettbewerb bewähren". Nicht zuletzt aus diesem Grund will der Verfasser hier ein Thema ansprechen, das bislang in Deutschland, ja in Europa, wenig thematisiert, ja z.T. sogar tabuisiert ist. Wir wollen zeigen, dass die Befreiung der Gesundheitseinrichtungen von der Mehrwertsteuer und die daraus folgende Verweigerung des Vorsteuerabzugs für die Effizienz der Gesundheitsversorgung nachteilige Folgen hat, die relativ leicht beseitigt werden könnten. Eine Vereinheitlichung der Mehrwertsteuer steht ohnedies auf der nationalen wie auch der europäischen Agenda. 588 Es gilt hierfür
585 586 587 588
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Gitter/Oberender (1987). Gitter et al. (1987). Deutscher Bundestag (1990). Europäische Kommission (2010) und Reuters (2010).
386 das Bewusstsein zu wecken, dass die gedachte Befreiung der Gesundheitseinrichtungen von der Mehrwertsteuer letztlich keine materielle Befreiung ist, sondern lediglich formell nach außen so auftritt. Denn in dem Umfange, wie Gesundheitsreinrichtungen mehrwertsteuerpflichtige Leistungen von Dritten beziehen, ist in den Preisen Mehrwertsteuer als Vorsteuer enthalten, die nicht absetzbar ist. Somit erfolgt eine Diskriminierung von Vorleistungen gegenüber selbst erbrachten Tätigkeiten, weil erstgenannte über die zusätzliche, nicht abzugsfähige Steuerpflicht verteuert werden. Damit entsteht ein Anreiz, die Mehrwertsteuerausgaben und damit den Anteil der Vorleistungen möglichst gering zu halten und somit ein breites Leistungsspektrum selbst zu erbringen. Die Vergabe von Aufgaben an Externe und damit eine effizienzsteigernde Leistungsspezialisierung unterbleibt folglich, sofern diese den Steuernachteil nicht kompensieren kann. Unser Vorschlag: Einheitlich ermäßigte Mehrwertsteuer für alle Gesundheitsleistungen Der in diesem Beitrag thematisierte Vorschlag zielt auf eine systematische Reform der Mehrwertsteuersätze im Gesundheitssektor ab: Er sieht vor, dass alle Gesundheitsleistungen einheitlich mit dem ermäßigten MwSt-Satz (von derzeit 7 %) belegt werden. Wie Abbildung 40 verdeutlicht, werden dadurch die Behandlungsleistungen durch die stationären Einrichtungen ebenso wie durch die ambulant tätigen Arzte mit 7 % mehrwertsteuerpflichtig. Analoges gilt für die weiteren Bereiche des Gesundheitswesens (z.B. verordnete Heilmittel). Bei den apothekenpflichtigen Arzneimitteln vermindert sich der Mehrwertsteuersatz dagegen von 19% auf 7 % .
Abbildung 40: Einheitliche, ermäßigte Besteuerung von Gesundheitsleistungen Quelle: Eigene Darstellung nach Statistisches Bundesamt
387 Mit dieser Harmonisierung der Mehrwertsteuersätze im Gesundheitswesen geht einher, dass alle Akteure automatisch auch ein Recht zum vollen Vorsteuerabzug erhalten, so dass zukünftig - konsistent mit der Grundidee der Mehrwertsteuer die Endverbraucher, also Patienten und Krankenkassen, die Steuer zahlen. Durch diese Gewährung des Rechts zum Vorsteuerabzug verschwindet die Diskriminierung von Sach- und damit Vorleistungen gegenüber Personalausgaben. Damit erhalten die Leistungserbringer einen Anreiz, sich auf ihre tatsächlichen Kernkompetenzen zu konzentrieren und Randleistungen von externen Spezialisten erbringen zu lassen. Diese Realisierung von Spezialisierungsgewinnen durch Arbeitsteilung wirkt wiederum kostensenkend. Um diesen Vorschlag diskutieren zu können, ist es erforderlich, die daraus erwachsenden Konsequenzen transparent zu machen.
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Abschätzung der finanziellen Auswirkungen auf die Leistungserbringer
Eine Abschätzung der Konsequenzen aus einem einheitlichen, ermäßigten MwStSatz auf Gesundheitsleistungen erfordert zunächst, die Ausgaben unter den bestehenden Regelungen zu erfassen. Diese Analyse konzentrieren wir auf die drei großen Versorgungsbereiche des Gesundheitswesens, auf welche im Jahr 2009 zusammen rund 66 % der GKV-Ausgaben entfielen: 589 Krankenhäuser, die ambulant-ärztliche Versorgung sowie Arzneimittelausgaben. Bei der Betrachtung ist sowohl danach zu differenzieren, wer die Ausgaben finanziert, als auch danach, ob und in welcher Höhe die Leistung des jeweiligen Bereichs bereits heute mehrwertsteuerpflichtig ist. Darauf aufbauend erfolgt anschließend eine Abschätzung der Veränderung der Ausgaben bei Einführung eines einheitlichen, ermäßigten Mehrwertsteuersatzes. Diese werden dem status quo vergleichend gegenübergestellt, so dass man daraus die Reform-Auswirkungen bei den einzelnen Akteuren der Gesundheitswirtschaft ablesen kann.
2.1 Krankenhäuser Die stationären Leistungen, für die GKV, PKV und private Haushalte im Jahr 2008 zusammen 59 Mrd. € ausgaben, sind im bestehenden System von der Mehrwertsteuerpflicht befreit. Dagegen unterliegen die im Rahmen der Leistungserbringung bezogenen Vorleistungen der Mehrwertsteuerpflicht. In der Statistik
589
Vgl. BMG (2009).
388 werden diese Vorleistungen als Sachkosten erfasst. Ihr Anteil lag 2008 im stationären Bereich bei rund 39%, was einem Betrag von 23,1 Mrd. € entspricht. 590 Weil auf die darin enthaltenen Medizinprodukte teilweise der volle und teilweise der ermäßigte MwSt-Satz anfällt, ist an dieser Stelle eine Mischkalkulation mit einem Steuersatz von 15 % notwendig, der sich aus der mit ihren Anteilen gewichteten Summe der MwSt-Sätze der Vorleistungen ergibt. 591 Dementsprechend sind in den 23,1 Mrd. € Sachkosten der Krankenhäuser 3 Mrd. € Mehrwertsteuerausgaben für Vorleistungen enthalten. Werden die Leistungen der stationären Einrichtungen mit dem ermäßigtem MwSt-Satz belegt, erhöhen sich die Ausgaben um 4,1 Mrd. € auf 63,1 Mrd. €. Durch das mit der MwSt-Pflicht verbundene Recht zum Vorsteuerabzug sind aber die besagten 3 Mrd. € an MwSt-Ausgaben für Vorleistungen abzugsfähig, so dass der Ausgabenanstieg auf 1,1 Mrd. € netto vermindert wird. Mit diesem gewährten Recht zum Vorsteuerabzug werden Vorleistungen relativ zu Personalkosten im Vergleich zum status quo günstiger, weil die auf Erstgenannte anfallende Mehrwertsteuer nun rückerstattet wird. Durch diese veränderten Relativpreise sind die Krankenhäuser aufgefordert, das Einsatzverhältnis von Eigen- und Vorleistungen zu überprüfen. Letztendlich führt dies dazu, dass Personal- durch Sachkosten ersetzen werden, also mehr Leistungen durch externe Spezialisten erbracht werden, statt dass sie die Häuser weiterhin selbst ausfuhren. Durch den nun gewährten Vorsteuerabzug variieren die finanziellen Effekte, die mit einer einheitlichen, ermäßigten Mehrwertsteuerpflicht auf Gesundheitsleistungen für jedes einzelne Krankenhaus einhergehen in Abhängigkeit von dessen Outsourcing- und Investitionsquote, wie Tabelle 13 zeigt. Mit steigender Investitionsquote (in den Spalten nach rechts abgetragen) und Outsourcing (in den Zeilen abgetragen) — jeweils im Vergleich zum status quo - des jeweiligen Hauses, nimmt das Ausmaß des Vorsteuerabzugs zu und vermindert so die zusätzlichen Ausgaben, die für die Kasse als Kostenträger für das jeweilige Haus anfallen. Ab einer entsprechend hohen Investitionsquote und/oder Outsourcing überkompensiert der Vorsteuerabzug sogar die Zusatzausgaben für die Mehrwertsteuerpflicht.
590 591
Vgl. Statistisches Bundesamt (2009a), S . l l . Vgl. ebd, S . l l .
389 Investitionsquote
Outsourcing-Quote
Tabelle 13: Alternative Be-/Entlastungen durch den Krankenhaussektor (in Mrd. €) bei Einführung einer Mehrwertsteuerpflicht Quelle: Eigene Berechnungen.
2.2 Ambulant-ärztliche Versorgung Analog zum Vorgehen bei den stationären Einrichtungen erfolgt eine Abschätzung der finanziellen Auswirkungen unseres Vorschlags im Bereich der ambulantärztlichen Versorgung, für die GKV, PKV und private Haushalte im Jahr 2008 zusammen 32,3 Mrd. € ausgaben.' 9 2 Der Anteil der Vorleistungen im ambulanten Bereich variiert über die einzelnen Facharztrichtungen - wie Abbildung 41 zeigt - und beträgt im Mittel rund 55 %. Die Vorleistungen machen also eine Summe von rund 17,8 Mrd. € aus.
Ajzlpraxen insgesamt
AJIgemeinarzt
Allgemeinarzt
Radiologie
Radiologie
(Einzelpraxis)
(Gemeinschaftspraxis)
(Einzelpraxis)
(Gemeinschaftspraxis)
O Personalkosten
• Sachkosten
Abbildung 41: Personal- und Sachkostenstruktur unterschiedlicher Arztpraxen Quelle: Eigene Berechnungen nach Statistisches Bundesamt (2009b) 592
Vgl. BMG (2009) und PKV (2009).
390 Auch im ambulanten Bereich kalkulieren wir mit einem gemischten Mehrwertsteuersatz, der in Anlehnung an das Verhältnis der MwSt-Sätze auf die Umsätze mit Medizinprodukte 1 8 % beziffert wird. Die Sachkosten der Arztpraxen beinhalten demnach 2,7 Mrd. € an Mehrwertsteuerausgaben. Die Mehrwertsteuerpflicht von ambulant-äralichen Leistungen erhöht (vor Berücksichtigung des Vorsteuerabzugs) die Ausgaben für diesen Bereich um 2,2 Mrd. €. Der nun mögliche Vorsteuerabzug von 2,7 Mrd. € bewirkt aber, dass die Gesamtausgaben für die ambulant-ärztliche Versorgung gegenüber der bestehenden Situation netto um 0,5 Mrd. € auf 31,8 Mrd. € sinken. Das im Rahmen der MwSt-Harmonisierung gewährte Recht zum Vorsteuerabzug verändert auch in den ambulant-ärztlichen Einrichtungen die Relativpreise von Vorleistungen und Personalkosten zu Gunsten der erstgenannten Position. Folglich entsteht analog zum stationären Sektor ein Anreiz, Personal- durch Sachkosten zu ersetzen, also vermehrt Leistungen durch externe Spezialisten erbringen zu lassen. Das relativ enge Tätigkeitsspektrum einer Arztpraxis lässt erwarten, dass sich das Ausmaß diesbezüglich aber in Grenzen hält.
2.3 Arzneimittelhersteller Als dritter Schritt erfolgt noch die Abschätzung der Effekte der Harmonisierung des MwSt-Satzes auf die Arzneimittelversorgung, den dritten großen Ausgabenbereich der Gesundheitsversorgung. Die Ausgaben dafür addierten sich im Jahr 2 0 0 8 über GKV, PKV und die Privathaushalte auf 40,7 Mrd. € . 5 9 3 Weil die Arzneimittel bereits heute einheitlich mit dem regulären Mehrwertsteuersatz belegt sind, sind darin bereits 6,5 Mrd. € an MwSt-Ausgaben enthalten. Eine Absenkung des Steuersatzes auf das ermäßigte Niveau (derzeit 7 %) würde die Arzneimittelausgaben um 4,1 Mrd. € auf 36,6 Mrd. € reduzieren. Durch die bereits bestehende Mehrwertsteuerpflicht von Arzneimitteln bleiben in diesem Bereich Ausmaß und Möglichkeiten des Vorsteuerabzugs durch Einführung einer ermäßigten Mehrwertsteuer auf Arzneimittel unverändert.
2.4 Verwendung der eingesparten Mittel der Kassen zur Einfuhrung einer Teilmonistik im Krankenhaus Die dargestellten finanziellen Effekte der Einfuhrung einer einheitlichen, ermäßigten Mehrwertsteuerpflicht auf Gesundheitsleistungen entlasten in der Summe die Krankenkassen Dies bildet die Basis zur Einfuhrung einer teilmonistischen
593 Vgl. BMG (2008) und PKV (2009).
391 Krankenhausfinanzierung, indem die Minderausgaben der Krankenkassen über eine teilmonistische Finanzierung der Krankenhausinvestitionen ausgeglichen werden. 594 Dies kann in Anlehnung an das Krankenhausfinanzierungsreformgesetzes (KHRG) durch Investitionszuschläge auf die Fallpauschalen (sogenannte Investitionspauschalen) geschehen. Dadurch würden die Kassen durch die Harmonisierung der Mehrwertsteuersätze letztendlich weder ent- noch belastet, weil die erwarteten Minderausgaben von knapp unter 3,5 Mrd. € jährlich den Krankenhäusern in Form von DRG-Aufschlägen zufließen. Die bestehende, direkte Förderung der Krankenhäuser durch die Bundesländer nach dem K H G (Krankenhausfinanzierungsgesetz) bliebe davon unbenommen. Dies würde zu einer Verdoppelung der Investitionsfördermittel im Krankenhausbereich fuhren. Der Investitionsstau in deutschen Krankenhäusern ließe sich dadurch merklich abbauen. Weil die Bundesländer weiterhin zur Investitionsförderung und -planung verpflichtet bleiben sollen, können sie über diesen Weg auch Einfluss auf die regionale Krankenhausversorgung nehmen, wenn auch in abgeschwächter Form.
3
Be- und Entlastungen durch Mehrwertsteuerpflicht
Die Einfuhrung eines einheitlichen, ermäßigten MwSt-Satzes auf Gesundheitsleistungen einschließlich der Gewährung des Rechts zum Vorsteuerabzug entlastet die Kostenträger, also GKV, PKV und die privaten Haushalte (über die drei großen Versorgungsbereiche ambulante, stationäre und Arzneimittel-Versorgung) zusammen um rund 3,5 Mrd. €. Von diesen Entlastungen fallen 2,55 Mrd. € bei den Krankenkassen (2,35 Mrd. € G K V und 0,22 Mrd. € PKV) und 0,96 Mrd. € bei den privaten Haushalten (HH) an, wie die Abbildung 42 zeigt.
594
Vgl: Neubauer/Beivers (2009).
392
Veränderungen der Ausgaben nach Kostenträgern (in Mrd. €) o -0.5
GKV
PKV -0,2
pri
m
H
CT
-0,96 i-1.5 -2
-2,5
-2,35
Abbildung 42: Veränderungen der Ausgaben nach Kostenträgern Quelle: Eigene Berechnungen.
Diese Entlastung der Kostenträger erfolgt zu Lasten von Mehrwertsteuer-Mindereinnahmen der öffentlichen Haushalte. Weil die Umsatzsteuer eine gemeinschaftliche Steuer darstellt, würden diese Mindereinnahmen in etwa hälftig auf Bund und Länder entfallen. Die Kompensation der öffentlichen Haushalte für diese Mehrwertsteuer-Mindereinnahmen könnte im Rahmen der Harmonisierung der Verteilung des ermäßigten Steuersatzes sowie durch Überprüfung der Mehrwertsteuerbefreiung gewisser Positionen geschehen. Andererseits werden die Länder im Bereich der Krankenhausinvestitionen entlastet. Die Mehrbelastung des Bundes von ca. 2 Mrd. € kann als Teil-Kompensation des Finanzierungsdefizits der Kassen im Bereich der Harz IV-Empfänger gewertet werden.
4
Volkswirtschaftliche Effekte
Wie dargestellt wäre mit der Einführung eines einheitlichen Mehrwertsteuersatzes auf Gesundheitsleistungen ein weiterer Schritt von der Sozialversicherung hin zur Gesundheitswirtschaft getan. Damit ist eine Reihe von Vorteilen verbunden: Es kommt zu mehr Wirtschaftlichkeit im System, da die Leistungserbringer nicht länger durch steuerliche Hürden daran gehindert werden, sich auf ihre Kernkompetenzen zu konzentrieren. Folglich nimmt die ökonomisch effiziente Arbeitsteilung auch im Gesundheitswesen zu. Dies wird sich vor allem in einem zunehmenden „echten" Outsourcing von Bereichen, die nicht zur Kernkompe-
393 tenz gehören, äußern. Das begünstigt vor allem viele klein- und mittelständischen Unternehmen (KMUs) des Gesundheitswesens. Diese KMUs leiden stärker unter einer höheren Mehrwertsteuerbelastung als die Organgesellschaften der Krankenhäuser. Durch die Umsetzung unseres Vorschlags kann diese Benachteiligung neutralisiert werden. Die verstärkte Einbindung externer Spezialisten in die Gesundheitswirtschaft beschleunigt außerdem das Innovationstempo und erzeugt zugleich ein positives Investitions- und Innovationsklima. Den spezialisierte Dienstleister weißen eine signifikant höhere Investitionsquote als andere Leistungserbringer auf. Dieses wiederum wirkt sich indirekt positiv auf den Abbau des Investitionsstaus der Krankenhäuser aus. Wichtig ist weiterhin festzuhalten, dass die von uns in diesem Zusammenhang vorgeschlagene Einfuhrung der Teilmonistik im stationären Bereich zu einer verstärkten Harmonisierung der Investitionsfinanzierung im Gesundheitswesen fuhrt. Damit werden auch ambulant-stationäre Verzerrungen verringert und die Integrierte Versorgung bekommt Auftrieb. Im Arzneimittelmarkt kommt es auf internationaler Ebene durch die Reduktion des Umsatzsteuersatzes zu einer deutlichen Harmonisierung der europäischen Medikamentenbesteuerung. Dadurch werden die Steuervorteile des ausländischen Versandhandels gegenüber inländischen Apotheken merklich abgebaut. Ein weiterer Schritt hin zu gleichen Wettbewerbsbedingungen erfolgt im Inland zwischen Krankenhaus- und Offizinapotheken: Beide konkurrieren um die Arzneimittelversorgung in den Krankenhäusern und an den Krankenhäusern. Die Krankenhausapotheken besitzen dabei bisher einen Wettbewerbsvorteil, weil auch sie von den Investitionsmitteln aus den öffentlichen Haushalten profitieren. Durch Umsetzung der dargestellten Teilmonistik müssen Krankenhausapotheken bzw. die Krankenhäuser dagegen ihre Investitionsmittel zumindest teilweise über Investitionspauschalen selbst finanzieren. Hinzu kommt, dass mit Gewährung des Rechtes zum Vorsteuerabzug eine Neutralisierung der Gesundheitsdienstleister fiir zukünftige Mehrwertsteuererhöhungen erfolgt. Denn die letzte Erhöhung der Mehrwertsteuer zum 1. Januar 2007 belastete beispielsweise die Kassen und privaten Haushalte mit rund 2 Mrd. € zusätzlich.
394
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Jochem Müller
Flourishing — Positive Psychologie als gesundheitsökonomische Handlungsoption für die Unternehmensfuhrung 1
Die Anfange der Positiven Psychologie
1.1 Historische Entwicklung der Psychologie Philosophie und Psychologie sind eng miteinander verknüpft. Ursprünglich bildete die Psychologie einen Zweig der Philosophie. Sie wurde kontinuierlich weiterentwickelt. Im Jahre 1850, mit der Entstehung der Psychophysik, löste sich die Psychologie von der Philosophie und galt fortan als eigenständige Wissenschaft. 595 Die Psychologie erforscht bis heute den Menschen in seinem Erleben und Verhalten. Sie hat sich zur Aufgabe gestellt zu ermitteln, unter welchen Bedingungen der Mensch die Möglichkeit findet, seine Persönlichkeit und Talente bestmöglich zu entfalten. Die Psychologie erlebt im Moment einen Wandel. Auf Grund der politischen Vergangenheit und der Auswirkungen der Gräuel des Zweiten Weltkrieges auf den Menschen wurden vor allem die Ursachen der negativen Gefühle des menschlichen Lebens, wie z. B. Depressionen, Ängste, Phobien und Stress untersucht. 596 Gesichtspunkte wie Glück, Stärke und Kreativität wurden daneben völlig vernachlässigt. Die Fachleute richteten ihr Augenmerk allein auf negative seelische Vorgänge, wie z. B. Schwächen, Ängste und Niederlagen. Eine derart eingeengte defizitorientierte Betrachtung verhindert jedoch die Sicht auf das Positive. Die traditionelle Psychologie befasst sich mit zwei Zielen: Sie möchte Schwächen ausgleichen und Wunden heilen. Dies ist der modernen Psychologie zu wenig. Sie wendet eine neue Methode an: Die Positive Psychologie will zukunftsorientiert und präventionsbezogen arbeiten, sie möchte Kompetenz entwickeln anstatt Schwächen zu korrigieren. 597 „Alle Menschen wollen glücklich sein" erkannte schon Aristoteles in der Antike.
595 596 597
Vgl. Bunge/Ardila (1980), S. 3 ff. Vgl. Keyes/Heidt (2003), S. 3. Vgl. Vopel, (2009), S. 8 ff.
396
Philosophie
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Antike 1850: Die Psychologie löste sich von der Philosophie und galt von n m an als eigenständige Wissenschaft.
K l f e h e P s y c W o g e
Um 1930: die Klinische Psychologie beschäftigte sich vor allem mit den negativen Aspekten des Lebens.
Mitte 1990 begründete Martin Seligman die Positive Psychologie als neuen Zweig der akademischen Psychologie.
Abbildung 43: Historische Entwicklung der Psychologie Quelle: Eigene Darstellung
1.2 Martin Seligman der Begründer der neuen Entwicklung Martin Seligman begründete gegen Ende der 90iger Jahre die Fachrichtung „Positive Psychologie". Als Leiter der Abteilung fur Klinische Psychologie der American Psychological Association (APA), wurde der US-amerikanische Psychologe im Jahre 1996 mit der größten Mehrheit in der Geschichte dieser Vereinigung zum Präsidenten gewählt. Zurzeit arbeitet er als Fox Leadership Professor of Psychology an der University of Pennsylvania. 598 Nach seiner Wahl zum Präsidenten machte sich Martin Seligman auf die Suche nach einem Thema, das seine Amtszeit prägen sollte. Alle Vorschläge, von denen er gehört oder die er sich selbst überlegt hatte, überzeugten ihn nicht. Er wollte die ausgetretenen Pfade der alten Psychologie verlassen und etwas Neues schaffen. Er wartete auf eine Eingebung. Einige Monate nach seiner Wahl gab seine kleine Tochter Niki den entscheidenden Anstoß fur eine Inspiration. „The moment took place in my garden while I was weeding with my five-year-old daughter, Nikki. I have to confess that even though I write books about children, I'm really not all that good with children. I am goal oriented and time urgent, and when I'm weeding in the garden, I'm actually trying to get the weeding done. Nikki, however, was throwing weeds into the air, singing, and dancing around. I yelled at her. She walked away, then came back and said, „Daddy, I want to talk to you"„Yes, Nikki?" „Daddy, do you remember before my fifth birthday? From the time I was three to the time I was five, I was a whiner. I whined every day. When I turned five, I decided not to whine anymore. That was the hardest thing I've ever done. And if I can stop whining, you can stop being such a grouch." 5 9 9
598 y g | h t t p : / / w w w . p p c . s a s . u p e n n . e d u / a b o u t u s . h t m 599
Seligman/Csikszentmihalyi ( 2 0 0 2 ) , S. 5.
[19.11.2010].
397 Nikki gab auf diese Weise nicht nur ihrem Vater den entscheidenden Denkanstoß, in der Familie vergnügter und optimistischer aufzutreten, sie half ihm darüber hinaus eine neue Lerntheorie zu organisieren und genau zu erfassen. In Zukunft sollte sich die Psychologie nicht nur um Krankheiten, Schwächen oder Depressionen kümmern, sie sollte sich vielmehr mit Glück, Stärken und der Entwicklung positiver Charaktereigenschaften auseinandersetzen. Es wurde Seligmans Ziel, den Menschen dabei zu helfen, Wohlbefinden und Lebensfreude zu erringen.
2
Die Positive Psychologie, eine theoretische Betrachtung des Denkmodells
2.1 Definition und Theorie The purpose of this volume is to begin to study „that which makes life worthwhile" and to investigate some possible mechanisms for promoting the ranks of healthy, productive, happy, flourishing individuals". 600 Menschen möchten in ihrem Leben Sinn, Geborgenheit, Vertrauen, Vergebung und Gelassenheit erfahren. Der Wunsch nach angenehmen Erfahrungen ist stets vorhanden. Im täglichen Leben erfahren wir aber immer wieder eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem als angenehm Erlebten und der Alltagswirklichkeit. Häufig wird auch ein Mangel an positiven Zukunftsaussichten als schmerzlich empfunden. Unser Wohlbefinden wird vielfach von psychischen und physischen Faktoren wie Ängste, Bedrohungen und Stress reduziert. Die klinische Psychologie beschäftigt sich mit dieser Problematik und sieht Ihre Hauptaufgabe darin, die „Störenfriede" zu beseitigen. 601 Ein neuer Grundgedanke hat in der Psychologie Fuß gefasst. In Ergänzung zur klinischen Psychologie wählt die neue „Positive Psychologie" ihren Schwerpunkt im POSITIVEN und grenzt sich damit zur Perspektive der klinischen Psychologie ab.
600 601
Keyes/Haidt (2002), S. 3 ff. Vgl. Auhagen (2008), S. 1.
398
Positive Psychologie
überdurchschnittlich glücklich
krankhaft unglücklich
1
Entwickelt Wohlbefinden / G lück
Klinische Psychologie 1
Psychopathologie
Abbildung 44: Übergang von der Klinischen Psychologie zur Positiven Psychologie Quelle: eigene Darstellung
Die Positive Psychologie stützt sich im Wesentlichen auf drei Säulen: •
Menschen müssen ihre Stärken kennen und sie optimal einsetzen können. Zentrale Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet stammen von Donald O. Clifton, Marcus Buckingham, Martin Seligman, Christopher Peterson.
•
Die Arbeit muss den Fähigkeiten der Mitarbeiter entsprechen, dass sie häufig einen Zustand der Selbstvergessenheit, den so genannten „Flow" erreichen können. Die Menschen erleben ein Flow-Erlebnis in den Augenblicken, in denen Konzentration, Können und Begeisterung in eins fließen und damit persönliches Glück und Wachstum entstehen kann. Zentrale Forschungen stammen in diesem Zsuammenhang von Mihaly Csikzentmihalyi.
•
Die Arbeit muss Sinn geben. Menschen müssen bei ihrer Arbeit die Ziele und Visionen des Unternehmens mit ihren eigenen, persönlichen Zielen in Einklang bringen können. Forschungsansätze finden sich hier beispielsweise bei Viktor E. Frankl, James C. Collins oder Jery I. Porras. 602
Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Positive Psychologie zu einer Erneuerung der menschlichen Stärken und Tugenden beitragen will. Die moderne Psychologie sucht nach Hilfsmitteln, die den Einzelnen beim Erreichen von Zielen fördern und bei der Bewältigung von Krisen unterstützen. Nicht die psychischen Störungen stehen im Mittelpunkt, sondern die Aspekte, die das Leben lebenswerter machen. Neben Martin Seligman gehören zu den bekanntesten Vertretern der Forschungsrichtung der Positiven Psychologie Daniel Kahnemann, Ed Diener, Mihaly Csikzenthihalyi und Barbara Fredrickson.
602
Vgl. Creusen/Eschemann (2008a), S. 1 9 - 2 1 .
399 Welche Einstellung bzw. Aktivität ruft Glück und Wohlbefinden hervor? •
Für die Vergangenheit: Genugtuung, Zufriedenheit, Stolz, Gelassenheit
•
Für die Gegenwart: Genießen und Belohnung
•
Für die Zukunft: Optimismus, Vertrauen, Hoffnung, Zuversicht.
Schwerpunktmäßig beschäftigt sich die Positive Psychologie mit drei zentralen Aspekten: •
Der erste Schwerpunkt der Positiven Psychologie bezieht sich auf die positiven Emotionen des Menschen. Ziel ist es, dass das Individuum die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft möglichst positiv einschätzt. Zufriedenheit, Freude und Wohlbefinden stellen sich ein, wenn man auf eine positive erlebte Vergangenheit zurückblickt. In einer als positiven empfundenen Gegenwart fühlen wir uns glücklich, wir erleben einen „Flow", sind in Ekstasen oder fühlen Sinnlichkeit. Im Vertrauen auf eine positive Zukunft verspüren wir Optimismus und Hoffnung.
•
Den zweiten Punkt bilden die Stärken und Tugenden des Menschen. Don Clifton und Chris Peterson identifizieren 2 4 Stärken und Tugenden, die in den meisten Kulturkreisen und zu allen Zeiten geschätzt werden. Dabei handelt es sich um Eigenschaften, die uns allen vertraut sind: Kompetenzen und Stärken wie Freundlichkeit, Integrität, Originalität, Weisheit, Dankbarkeit oder Intimität.
•
Den letzten Ansatzpunkt sieht die Positive Psychologie im Studium und der Entwicklung menschenfreundlicher Institutionen. Damit sind Rahmenbedingungen von Institutionen wie Familie, Schulen, Gemeinwesen etc. gemeint, welche Wachstum erlauben und fordern. 6 0 3
Die drei Schwerpunkte zeigen, dass die Positive Psychologie ein großes Themenspektrum abdeckt. Sie hat es sich zum Ziel gesetzt, die guten Aspekte des menschlichen Lebens und das Miteinander der Individuen zu erforschen.
2.2 Grundidee der Positiven Psychologie „Glück hängt nicht davon ab, wer du bist oder was du hast; es hängt nur davon ab, was du denkst." Dale Carnegie Die Positive Psychologie zeigt die Möglichkeit, dass Glück bzw. Wohlbefinden trotz vorhandener Beschränkungen erreichbar ist. Es ist uns möglich, durch Wissen, Können und Üben einen Weg zu finden, der das Leben lebenswerter bzw. 603
Vgl. Vopel (2009), S. 15 ff.
400 effektiver macht, denn das Streben nach Glück liegt in der Natur des Menschen. Glücklich sein oder ein erfülltes Leben sind das angestrebte Ergebnis der Positiven Psychologie. Positive Emotionen haben einen tieferen Effekt, abgesehen von dem herrlichen Gefühl, das sie uns schenken. Positive Emotionen vergrößern unsere geistigen, körperlichen und zwischenmenschlichen Fähigkeiten. Sie zeigen uns Gefahren und Chancen im Leben auf und bilden Reserven, auf die wir erforderlichenfalls zurückgreifen können. Eine positive Grundstimmung überträgt sich auf andere Menschen und lässt eine Person offener, anderen Personen zugewandter und freundlicher erscheinen. Liebesbeziehungen werden gefestigt und Konflikte entschärft. Positive Emotionen erweitern unseren geistigen Horizont und steigern unsere Kreativität und Toleranz. Negative Emotionen schränken uns in unserem Denken und Handeln ein. Glückliche Menschen erinnern sich an eine größere Zahl guter Ereignisse, als tatsächlich eingetreten sind, während sie schlechte Erlebnisse eher vergessen. Positive Stimmung hilft dem Menschen neuen Ideen und Erfahrungen offen und aufgeschlossen gegenüber zustehen. Positive Emotionen und Stimmungen können sich günstig auf die Gesundheit und Lebensdauer des Menschen auswirken. Konkrete Studien zeigen, dass ein Zusammenhang zwischen den körperlichen Ressourcen und positiven Emotionen besteht. 604
2.3 Charakterstärken und Tugenden Im 20. Jahrhundert war der Begriff „Charakter" fast gänzlich aus der Psychologie verschwunden. Martin Seligman jedoch sieht den „guten Charakter" als Kernkonzept der Positiven Psychologie. Durch den Wandel der Psychologie von der ausschließlich klinischen Betrachtung hin zur Entwicklung des Positiven im Menschen ist es laut Seligman jetzt an der Zeit, den Charakter als zentrale Eigenschaft in den Fokus zu stellen und wieder als Grundbegriff für die wissenschaftliche Erforschung des menschlichen Verhaltens zu etablieren. 605 Weitere zentrale Begriffe der Positiven Psychologie sind die Stärken und Tugenden. Um Tugenden zu erlangen, ist es notwendig, den menschlichen Charakter zu stärken. Die praktische Umsetzung beruht darauf, die eigenen Signaturstärken zu erkennen und zu fördern. Unter Signaturstärken wird die volle Bandbreite persönlicher Stärken verstanden, die jedes Wesen charakteristisch und einzigartig definieren. Sie vermögen dem Individuum positive Empfindungen zu verschaffen. Jeder Mensch ist in der Lage, solche Stärken in sich zu entdecken oder sie zu ent604 605
Vgl. Seligman (2002), S. 61 ff. Vgl. Seligman (2002), S. 2 1 9 ff.
401 wickeln, wenn er ausreichend Zeit, Energie und Entschlossenheit investiert. Ein Mensch, der an seiner Charakterbildung arbeitet, kann durch den entschlossenen Einsatz seines Willens alle oder zumindest die meisten der Tugenden erlangen. Dabei gibt es nach Seligman zu den wesentlichen Tugenden verschiedene Zugänge, die als unterschiedliche Stärken auftreten. Diese positiven Eigenschaften sind erlernbar und helfen dabei, die Tugenden zu erarbeiten. Um ein „gutes" Leben fuhren zu können, setzen Menschen ihre eigenen Signaturstärken ein, erfahren dadurch reichlich Belohnung in den wichtigen Bereichen ihres Lebens und erlangen letztlich auf diesem Weg authentisches Glück. Ein „sinnvolles" Leben hingegen erreicht man, indem Signaturstärken und Tugenden gemeinsam eingesetzt werden. 606
2.4 Broaden and Build - Theorie der positiven Emotionen Eine zentrale Schlussfolgerung der Positiven Psychologie ist die Annahme, dass positive Emotionen Einfluss auf Psyche und Körper haben. Mit ihrer Theorie der positiven Emotionen „Broaden and Build", die sie als Überlebens- und reproduktionsdienlich bezeichnet, bestätigt die amerikanische Forscherin Barbara L. Fredrickson, die als Professorin an der University of North Carolina at Chapel Hill tätig ist und als der neue Superstar unter den Positiven Psychologen gilt, die oben genannte Feststellung. 607 Es gibt mehrere Gründe, warum die Psychologie erst jetzt positive Gefühle in den Fokus der Beachtung nimmt. Negative Emotionen, wie z. B. Wut, Ekel, Angst etc. sind spezifisch, eindeutig, differenzierter in ihren Funktionen und besser erforscht als positive Emotionen. Körperliche Ausdrucksmöglichkeiten von Gefühlen wie z.B. Wut, Angst, Traurigkeit, können beim Menschen treffsicher voneinander unterschieden werden. Im Gegensatz dazu sind echte positive Emotionen wie z. B. Lachen, Zufriedenheit und attraktive Ausstrahlung für den Laien kaum von gekünsteltem Minenspiel oder floskelhaften Äußerungen („mir geht's gut...), zu unterscheiden und werden von den ähnlichen äußeren Erscheinungen begleitet. Der erst Schritt zur Erforschung guter Gefühle besteht darin, die alten Verhaltens- und Denkmodelle über Bord zu werfen. Gute Gefühle können helfen, sich innerlich weiterzuentwickeln, stark zu werden und für „harte Zeiten" Schutzschilde aufzubauen. Nach der Broaden und Build Theorie erweitern (broaden) positive Emotionen das Wahrnehmungs- und Verhaltensrepertoire und bilden (build) dauerhafte persönliche Ressourcen.
Vgl. Seligman (2002), S. 221 ff. 607 Vgl http://fredrickson.socialpsychology.org/ [19.11.2010],
606
402 Mehrere Studien von Barbara L. Fredrickson sowie einiger Kollegen, wie z. B. Alice Isen von der Conell University in Ithaca (New York) zeigen, dass das Denken sich wohl fühlender Menschen kreativer, flexibler, umfassender und offener ist, als bei Menschen, die ihre Situation eher negativ einschätzen. Des Weiteren wirken sich positive Emotionen günstig auf die körperliche Verfassung aus. Schon lange wird vermutet, dass gute Gefühle die Stress-Antwort des Körpers auf belastende Ereignisse modifizieren. Positive Emotionen selbst lassen sich wiederum gut an spezifischen Parametern des vegetativen Nervensystems und am Herz-KreislaufSystem ablesen. 608 Zusammenfassend kann man festhalten, dass die Positiven Emotionen, die der Mensch erlebt, einen Antrieb dafür darstellen, Ereignisse und Erfahrungen besser zu verarbeiten. Die so entstandene individuelle Lebenseinstellung eines Menschen spiegelt sich in seiner Ausstrahlung wider und beeinflusst entscheidend sein inneres Gleichgewicht, das die Grundlage fiir Lebensqualität und körperliche und seelische Gesundheit ist. Umgekehrt zeigt das Untersuchungsergebnis aber auch, dass negative Empfindungen den Körper schwächen und den Ausbruch von Krankheiten begünstigen. Die seelische Ausgangslage eines Menschen beeinflusst also indirekt Gesundheit und Lebensdauer.
2.5 Flourishing - Die Kraft der Positiven Psychologie Die Positive Psychologie entwickelt sich ständig weiter und befindet sich derzeit in einer starken Wachstumsphase. Zahlreiche neue Erkenntnisse werden in diesem Bereich gewonnen, gesammelt und ausgewertet. Eine interessante Entwicklung ist das so genannte „Flourishing". Das Wort kommt aus dem Englischen und heißt übersetzt: aufblühen, florieren, gedeihen etc. Der Begriff entstammt der Biologie und wird in der Pflanzenkunde verwendet. Man spricht vom Aufblühen einer Blume und dem Gedeihen eines Keimlings. In der Literatur wie auch in der Bibel findet man das Bild des Erblühens als Zeichen von Vitalität und Kraft. Wir erleben das Gefühl des Aufblühens, Erblühens oder Gedeihens im Einklang mit uns selbst und mit anderen als äußerst positiv und angenehm. Wir entfalten unsere Fähigkeiten und wachsen als Persönlichkeit. Dies alles erfüllt uns mit Zufriedenheit im eigenen Dasein, in der Liebe oder im Beruf. Einige Forschungen zeigen, dass fiir das Erblühen im Wesentlichen eine gute Balance zwischen positiven und negativen Gefühlen notwendig ist. Dabei muss zuerst klar definiert werden, was Gefühle sind? 609 608 609
Vgl. Edelman u.a. (2002), S. 39 ff. Vgl. Metzger (2009), S. 22 ff.
403 „Why do we feel happy? Why do we feel anything at all? Why has evaluation endowed us with emotional states that are so insistent, so consuming, and so [...] well, so present [...] that we run our every lives around them?" 610 Neben dem rationalen Element des Verstandes bestimmen auch Gefühle das Denken und Handeln des Menschen. Ein gutes Gefühl ist mehr als nur angenehm oder ein kurzes Erlebnis. Gefühle machen mehr mit dem Menschen: Gefühle zeichnen den Menschen aus. Die Einflüsse von Liebe, Dankbarkeit oder Neugier erzeugen Aufmerksamkeit und Offenheit für uns selbst und unsere Umwelt. Darüber hinaus erweitern gute Gefühle die Wahrnehmung und fördern die Kreativität. Um den Zustand des Flourishing entwickeln zu können, ist es von essentieller Bedeutung, einen Ausgleich von positiven und negativen Gefühlen zu erreichen. Dabei hilft es, über das Leben nachzudenken und Ursachen möglicher Unzufriedenheit herauszufinden, um anschließend dem Leben einen Anstoß in eine bessere Richtung zu geben. In edichen Fällen lassen sich auf diesen Weg wichtige Eigenschaften, wie Motivation, Engagement und Ehrgeiz entwickeln und verstärken. 611 Glück verspüren wir durch den Wechsel unterschiedlicher Gefühle; auch negative Gefühle gehören mit dazu. In gewissen Situationen ist es auch durchaus hilfreich zu weinen. Tränen können bei einer angespannten Gemütslage für Entspannung und Entlastung sorgen. Der Körper baut Stress ab und fühlt sich anschließend erleichtert und dadurch besser bzw. glücklicher. 612 Glücksgefühle dauern oft nur flüchtige Momente an, Ereignisse, die wir nicht festhalten können, rufen sie hervor. Jedoch ist es möglich, Glücksgefuhle öfters im Alltag zu erleben und die Empfindung länger zu bewahren, wenn man sich der Techniken der Positiven Psychologie bedient. Flourishing versucht die gesamten Emotionen des Menschen in eine gesunde und ausgeglichene Balance zu bringen, so dass ein optimales Verhältnis der Empfindungen als Basis für ein glückliches Leben entsteht.
2.6 Der Flow — Geborgen im Glückszustand „Die Menschen sind dann am Glücklichsten, wenn sie das tun, was sie am besten können" Mihaly Csikszentmihalyi Flow ist ein Begriff aus der Positiven Psychologie, der besonders durch Mihaly Csikszentmihalyi bekannt wurde. Der Wissenschaftler arbeitete sehr eng mit Martin Seligman zusammen und interessierte sich für die positiven Aspekte der menschlichen Erfahrungen. 610 611 612
Seligman (2002), S. 30. Vgl. Malinowski (2010), S. 31 ff. Vgl. Schwalb/Imgrund (2006) S. 29.
404 Er entwickelte die sog. Experience Sampling Method (ESM), eine schriftliche Befragung, deren Ziel darin besteht, eine Abbildung menschlicher Erfahrungen zu ermitteln. Die Probanden werden mit elektronischen Piepsern und einem Notizbuch ausgestattet. Ein Sender schickt in zufälligen Zeitintervallen ein Signal. Bei jedem Signalton füllen die Versuchsteilnehmer einen Bogen des Notizbuches aus. 6 1 3 Sie notieren dabei, wo sie sich befinden, mit wem sie zusammen sind, gerade waren oder was sie eben tun. Interessant ist dabei, dass die Teilnehmer, wenn sie sich in einer guten bzw. angenehmen, kreativen oder inspirierenden Situation befanden, den Zustand häufig mit Worten wie etwa „Meine Energie fließt sehr leicht" oder „Es ist ein gutes Gefühl. Alles gelingt, es läuft wie geschmiert" beschrieben. Der Versuchsaufbau bietet die Möglichkeit herauszufinden, in welchen Situationen sich die Probanden in einem positiven Gefuhlszustand befinden. Diese Information ermöglicht es, bewusst beschriebene Situationen aufzusuchen und auf diese Weise ein dauerhaft höheres Level an Zufriedenheit zu erlangen. Im Idealfall verbleibt die Person möglichst lange in diesem Zustand. Veranlasst von diesen Auswertungen und Erkenntnissen entschlossen sich Csikszentmihalyi und seine Kollegen, diesen Zustand als „Flow-Erlebnis" zu bezeichnen. 614 Zusammengefasst kann der Flow als gänzliches Aufgehen in einer störungsfrei verlaufenden Tätigkeit gesehen werden, ein Zustand den man trotz hoher Anforderungen unter Kontrolle hat. Es ist ein von äußeren Reizen unabhängiger Seins- und Glückszustand, in dem der Mensch in der Sache vollkommen aufgeht, jedes Zeitgefühl verliert und nur im Hier und Jetzt lebt. Dabei wirken Körper und Geist, Gefühle und Gedanken mühelos zusammen. Dieses einzigartige, euphorische Erlebnis ist mit der Metapher des Flow, zu Deutsch „fließen" oder „strömen", in einen kategorialen begrifflichen Rahmen gesetzt. Derjenige, der die Handlung ausfuhrt, fließt mit seinen Handlungen wie in einem Strom mit. Als „Glück pur" bezeichnet der Flow das eigentliche Geheimnis menschlicher Glückserfahrung. Das Flow-Gefuhl können alle Menschen empfinden, unabhängig von ihrer Kultur und Herkunft, unabhängig von der Situation, in der sie sich befinden oder der Aufgabe, die sich ihnen gerade stellt. Jeder Einzelne kann das Flow-Erlebnis erfahren, da sich der Flow am individuellen Fähigkeitsniveau jedes Einzelnen orientiert. Es existiert also keine Schwelle minimaler Kunstfertigkeit als Voraussetzung zur Erfahrung des Flow. Im Zustand des Flow herrscht Ordnung im Bewusstsein, die Aufmerksamkeit ist ungeteilt auf die soeben ausgeführte Aufgabe gerichtet und das Bewusstsein ist durch nichts abgelenkt. Jede Tätigkeit ist Flow-geeignet, wie z. B. Malen, Kochen oder Sport. Entscheidend ist nur, dass der Mensch dabei selbst bestimmend ist, als „autotelische Persönlichkeit" agiert, die 613 614
Vgl. Möhring (2003), S. 177. Vgl. Csikszentmihalyi (1999), S. 6 3 ff.
405 im Flow das kreative Handeln und das Einswerden mit der Aufgabe als sinnvoll, positiv oder belohnend erlebt. 615
2.7 Kritische Würdigung des Denkmodells Die Positive Psychologie wird häufig als Weg des Aufbruchs aus der alten, mehrheitlich an Defiziten orientierten Psychologie dargestellt und verspricht wirksame Ergebnisse bei Anwendung ihrer neuen Methoden zur Persönlichkeitsentwicklung. Es stellt sich die Frage, ob das Modell der Positiven Psychologie in der Realität umsetzbar ist. Kritiker der Positiven Psychologie bemerken, dass die Beschäftigung mit dem Glück keineswegs neu für die Psychologie bei ihrem Bemühen um einen besseren Zugang zum Menschen ist. Schon die Philosophen des Altertums beschäftigten sich mit der Bedeutung des Glücksgefiihls für das Leben des Menschen. Insbesondere Aristoteles („Glück ist Selbstgenügsamkeit") mit seiner Tugendlehre argumentiert ähnlich, wenn er die These aufstellt, dass alles Handeln des Menschen letztlich ausgerichtet ist auf die Glücksseligkeit als obersten Zweck. 616 Jedoch ist das Fehlen echter Neuheit nicht wirklich ein Argument, das gegen die Positive Psychologie spricht. Es kann nicht für die Qualität eines Gedankens entscheidend sein, dass er schon früher angedacht wurde. Ebenso gut ist es, einen bereits entwickelten Denkansatz neu aufzugreifen, zu erweitern oder zu interpretieren. 617 Als weiterer Kritikpunkt an der Positiven Psychologie könnte angeführt werden, dass sie ihren Anhängern zu viel verspricht und damit letztlich zwangsläufig zu Enttäuschung führt. Selbst wenn es dem Individuum gelingt, die eigenen Signaturstärken zu erkennen und zu entwickeln, ist es immer noch fraglich, ob es möglich ist, die Umwelt so zu beeinflussen, dass das Individuum seine ausgearbeiteten Charakterstärken auch effektiv einsetzen kann. Häufig sind z. B. die inhaltlichen und äußerlichen Bedingungen am Arbeitsplatz nicht ideal. Das kann an nicht kooperationsfähigen oder -willigen Kollegen, einem ungeeigneten Vorgesetzten oder nicht nachvollziehbaren Zielvorgaben liegen. Letztlich führen diese Probleme alle zu einer für den Arbeitnehmer eingeschränkten Ausgangslage, in der er sein Potenzial nicht voll zum Einsatz bringen kann. Jedoch sollte nicht verkannt werden, dass die Positive Psychologie in einer solchen Situation zwar nicht den Arbeitsalltag zum „Blühen" bringt, wohl aber dem Betroffenen das nötige Handwerkszeug reicht, um mit einer schwierigen Situation, in der er sich selbst nicht voll einbringen kann, besser fertig zu werden. Das Entstehen des gefürchteten Burn-Out oder einer Depression kann unter Umständen vermieden werden. 615 616 617
Vgl. Piakos (2001), S. 11 ff. Vgl. Rohles (1999), S. 65. Vgl. http://www.nytimes.eom/2007/01/07/magazine/07happiness.t.html [08.07.2010],
406 Des Weiteren könnte gegen die Positive Psychologie eingewendet werden, dass sie ihren Anwendern suggeriert, der Zustand des Glücklichseins sei stets zu erreichen. Dies birgt die Gefahr in sich, dass der Mensch unter Zugzwang gerät, glücklich zu werden und sich demnach als Versager fühlt, wenn ausgerechnet bei ihm die vorgeschlagenen Methoden nicht oder nicht vollständig wirken. Die Gefahr ist umso größer, als sich auf dem Gebiet der Glücksforschung leider auch zahlreiche Scharlatane betätigen und unter dem Etikett pseudowissenschaftlicher Erkenntnisse Bücher verkaufen, Seminare abhalten oder simple „Gebrauchsanweisungen zum Glück" anpreisen. Der Verbraucher zieht lediglich insoweit Nutzen aus diesen Angeboten, als er deren Sinnlosigkeit rasch erkennt und vielleicht kein zweites Mal auf entsprechende Geschäftemacher hereinfällt. Mit Positiver Psychologie haben solche zweifelhaften Aktivitäten nichts gemeinsam. Die Positive Psychologie stellt eine fundierte Wissenschaft dar, die nach akademischen Methoden arbeitet. Sie ist eine neue Richtung der Psychologie, deren Ziel es ist, dem Menschen zu einem besseren Lebensgefuhl zu verhelfen. Dass ein Thema des öffentlichen Interesses zweifelhafte Existenzen verlockt, Gewinn aus der Sehnsucht des Menschen nach Glück zu ziehen, kann nicht ernsdich gegen die Positive Psychologie selbst sprechen. Es zeigt vielmehr lediglich die Aktualität des Themas „Glück" auf. Wie in der Medizin ist auch in der Psychologie ein Erfolg der Bemühungen nicht garantiert. Glück im vollen Umfang zu erreichen ist das Ideal; dass dies nicht immer umsetzbar ist, ist dem mündigen Patienten klar oder liegt im Verantwortungsbereich des behandelnden Psychologen etc., der seinen unkritischen Schützling insoweit in einem umfassenden Beratungsgespräch aufklären muss. Der Positiven Psychologie könnte entgegen gehalten werden, dass bei der Erhebung der vorhanden Ressourcen im Rahmen der Bestandsaufnahme der Ist-Situation des Menschen neben den Charakterstärken auch Defizite aufgedeckt werden. Negativfaktoren wie psychische Störungen, physische Beeinträchtigungen, ungünstigste soziale Ausgangsbedingungen und begründete Schuldgefühle müssen ebenfalls berücksichtigt werden. Die Positive Psychologie negiert aber keinesfalls das Vorhandensein dieser Defizite. Indem sie den Fokus auf vorhandene Stärken richtet, werden die Defizite indirekt ebenfalls bearbeitet. Der Mensch schafft sich durch den ressourcenorientierten Beratungsansatz in Eigenverantwortung Lösungsansätze zur Bewältigung von Problemen. Die Autonomie des Menschen und seine Stärken werden aufgezeigt und weiterentwickelt, es entsteht Selbstkompetenz, der Mensch wird handlungsfähig. Er ist nicht mehr ohnmächtig seinen Problemen ausgeliefert, sondern erlebt sich als aktive Persönlichkeit, die ihr Leben eigenverantwortlich gestaltet. Abschließend ist festzustellen, dass bisher keine kritischen Argumente vorgebracht werden, die so schwer wiegen, dass sie den grundsätzlichen Nutzen der Positiven Psychologie in Frage stellen könnten. Beschäftigt man sich mit den kritischen Denkanstößen näher, kommt man zu der Beurteilung, dass die Positive
407 Psychologie trotz der oben genannten durchaus vorhandenen Probleme bei ihrer Anwendung letztlich in der Praxis einen gut gangbaren Weg zur Erreichung von Persönlichkeitsentwicklung und Wohlbefinden bietet.
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Positive Psychologie im Kontext der Unternehmensfuhrung
3.1 Positive Psychologie im Unternehmen am Beispiel der Media-Saturn Holding Als eines der ersten Unternehmen in Deutschland, nutzte die Media-Saturn Holding das Konzept der Positiven Psychologie und entwickelte daraus einen Human-Ressource-Management-Ansatz. Das Unternehmen erkannte sehr früh, dass es nicht genügt, hervorragende Manager einzusetzen, sondern dass vielmehr bei allen Mitarbeitern Stärken notwendig sind, um erfolgreich zu sein. Die Herausforderung bei diesem neuen Leadership-Ansatz war es, auf allen wichtigen Positionen Menschen einzusetzen, die dafür passende Stärken mitbringen. Außerdem sollten die jeweiligen Begabungen der Mitarbeiter in den Teams optimal eingesetzt und eine Arbeitskultur entwickelt werden, in der Lernen und Vertrauen bestmöglich gefördert werden. Die Geschäftsführung glaubt an den Ansatz, dass ihre Mitarbeiter Höchsdeistungen erreichen können, wenn sie in ihrer täglichen Arbeit Sinn finden und ihre persönlichen Wachstumsziele mit der Vision des Unternehmens verbinden können. 618 Das weltweit vertretene amerikanische Meinungsforschungs- und Beratungsinstitut Gallup ist auf die Schnittstellen zwischen Ökonomie und Psychologie spezialisiert. Es sieht seine Aufgabe darin, vorhandene Potenziale in Unternehmen zu entdecken, die Stärken der Mitarbeiter und deren Potenzial zu fördern. Einige Unternehmen wenden bereits die unterschiedlichen Methoden von Gallup an und beauftragen dieses Institut damit, bei ihnen verschiedene Tests durchzuführen. 619 Prof. Dr. Utho Creusen, der derzeit als Senior Advisor für mehrere internationale Handelsunternehmen tätig ist und von 2002 bis 2008 als Mitglied der Geschäftsführung der Media-Saturn-Holding G m b H Ingolstadt für die Ressorts Personal und Revision verantwortlich war, entschloss sich ebenfalls den „Q12"-Test des Gallup Institutes durchfuhren zu lassen. 620 Der Test bestand aus zwölf Fragen aus den Bereichen Engagement, Persönlichkeit, Produktivität und Effektivität. Er misst die emotionale Verfassung der Mitarbeiter in ihrem Unternehmen. 618 619
620
Vgl. Creusen/Eschemann (2008b), S. 58 f. http://www.gallup.eom/Germany/l 17457/Gallup-Services-Proaktives-Handeln-Zeitender-Unsicherheit.aspx [ 19.11.2010]. http://www.utho-creusen.com/utho-creusen-lebenslauf.html [19.11.2010].
408 Die ersten Erhebungen im Jahr 2001 zeigten, dass nur 21 % der Mitarbeiter „highly engaged People" waren. Dieses Ergebnis liegt zwar über dem Durchschnitt der Bundesbürger (13%), war aber für Media-Saturn nicht zufriedenstellend. Deshalb meldete das Unternehmen die Einzelergebnisse an die Mitarbeiter zurück und bat um Reflexion: „Was können wir konkret tun, um unser Engagement zu steigern?". Eine Reihe von Verbesserungsmaßnahmen, die das Gallup Institut angeregt hatte, führte bei einer Untersuchung in neuerer Zeit zu einen Ergebnis von immerhin 43 %. 6 2 1 Wie schon in den vorherigen Kapiteln dieser Arbeit angesprochen, ist die Konzentration auf die eigenen Schwächen aber nur eine Methode mit beschränkter Wirkung. Die Forschung der Positiven Psychologie zeigt nicht nur im Fall von Media-Saturn, welch erfreulicher Effekt erzielt werden kann, wenn man die Stärken der Menschen in den Vordergrund der Bemühungen stellt, sondern findet mittlerweile überall mehr und mehr Befürworter. Die Produktivität des Unternehmens Media-Saturn konnte um 30 % gesteigert werden. Dies ist aber nicht der einzige positive Effekt. Die Konzentration auf die Stärken der Mitarbeiter fuhrt nicht nur zu einem Anstieg der Produktivität als Umstand, von dem das Unternehmen profitiert. Vielmehr zieht auch der einzelne Arbeitnehmer selbst aus der Entwicklung und Förderung seiner Stärken umfassenden Nutzen. Das Leben besteht nicht nur aus Freizeit. Die berufliche Betätigung nimmt bei den meisten Menschen eine wesentliche Zeitspanne des Lebens in Anspruch. Aus diesem Grund ist es enorm wichtig, Glück gerade auch an dem Ort zu finden, an dem man einen großen Teil seines Lebens verbringt.
3.2 Chancen und Konsequenzen, die sich durch die Positive Psychologie für Unternehmen ergeben Der Mensch beeinflusst mit seiner Arbeit den unternehmerischen Erfolg in hohem Maße. Der Faktor Mensch ist die entscheidende Größe fiir Qualität und Quantität der Leistung, die in einem Unternehmen erbracht wird. Jedes Unternehmen ist von der Leistungsbereitschaft: und den Fähigkeiten seiner Mitarbeiter abhängig. Aus diesem Grund ist es wichtig, am Faktor Mensch zu arbeiten. Das Berufsleben wird keineswegs nur von rationalen Entscheidungen bestimmt. In vergleichbarer Weise spielen auch Spaß, Freude, Wohlbefinden, Teamgeist und der Wunsch nach Anerkennung, aber auch Angst, Stress und Wut eine wichtige Rolle. Das Beispiel der Saturn-Media Holding zeigt, dass das Wohlbefinden der Mitarbeiter sich positiv auf das Arbeitsklima und die Produktivität des Unternehmens auswirkt. Immer mehr Firmen wenden diese neuen Methoden an, um die Stärken 621
Vgl. Creusen/Eschemann (2008b), S. 62.
409 ihrer Mitarbeiter kennen zu lernen und diese danach korrekt und effektiv einsetzen zu können. Ein positives Betriebsklima, eine geringe Krankheitsrate, steigende Motivation, gute Qualität der Arbeit und Einsatzbereitschaft der Mitarbeiter sind mit entscheidend für den unternehmerischen Erfolg. Die Positive Psychologie versucht den Arbeitnehmern die nötige Kraft zu geben, ihre Stärken zu erkennen und diese richtig einzusetzen. Sie ist dabei für alle Mitglieder eines Unternehmens von Interesse. Jeder kann die Erkenntnisse und Methoden dieser neuen Wissenschaft für sich nutzen und seine Arbeitsweise optimieren. Kunden profitieren ebenfalls von besserem Service und bestmöglicher Qualität der angebotenen Produkte. Das Ziel ist dabei, eine Verbesserung der Leistung des einzelnen Mitarbeiters zu erreichen, Problemlösungen zu finden, die Freude an der Arbeit zu fördern und die Zufriedenheit der Mitarbeiter zu steigern. Diejenigen, die in ihrer Aufgabe glücklich sind, tragen dieses Wohlbefinden nach außen. Nicht nur sie selbst, sondern ihre Umgebung profitiert davon. Das Unternehmen wird positiv repräsentiert, der Mitarbeiter setzt sich für seinen Arbeitgeber ein und trägt auf diesem Wege zur günstigen Außendarstellung des Unternehmens bei. Zusammengefasst kann das Denkmodell der Positiven Psychologie als ein immer wiederkehrender Kreislauf gesehen werden. Die Lebenszufriedenheit spiegelt sich in der Arbeitszufriedenheit wider und umgekehrt.
3.3 Umsetzung des Modells „Flourishing" in einem Unternehmen Unternehmen versuchen ihre Mitarbeiter mit immer wieder neuen Methoden zu motivieren, um sie auf diese Weise zu Höchstleistungen zu bringen. Mittel zu diesem Zweck sind etwa Kummerkästen, Mitarbeiterveranstaltungen sowie das in Aussicht Stellen von Geld oder Sachwerten als Prämie. In vielen deutschen Unternehmen ist es daher üblich, erfolgreiche und einsatzbereite Mitarbeiter zu belohnen. Zwar tragen Mitarbeiterveranstaltungen oder Prämien zu einer Motivationsförderung bei. Es ist allerdings zu beobachten, dass das Engagement bei einer nicht geringen Zahl von Mitarbeitern gleichwohl nach einer gewissen Zeit verpufft. So beklagen rund 77 % der befragten Arbeitgeber, dass Sach- bzw. Geldgeschenke langfristig doch nicht zum gewünschten Ziel führen. 6 2 2 Die jüngste Studie über Mitarbeiter-Motivation, veröffentlicht im Harvard Business Manager, zeigt, dass Führungskräfte davon überzeugt sind, Anerkennung für gute Arbeit sei der wichtigste Faktor von Motivation. Gleichzeitig endete eine 622 Ygj http://www..focus.de/finanzen/karriere/management/tid-l5624/mitarbeitermotivationgeld-wird-ueberschaetzt_aid_438595.html [19.11.2010].
410 mehrjährige Untersuchung, die diese Einschätzung der Führungskräfte widerlegt. Bei dieser zweiten Befragung wurden über einen längeren Zeitraum alltägliche Handlungen, Gefühle und Motivationszustände von Hunderten von Wissensarbeitern ganz unterschiedlicher beruflicher Hintergründe untersucht. Die Auswertung ergab, dass der Fortschritt bei der Arbeit derjenige Faktor ist, der die Mitarbeiter am meisten beeinflusst. So stellten sich positive Emotionen und ein starker Erfolgswille bei den Mitarbeitern gerade an den Tagen ein, an denen sie gut vorankamen oder Unterstützung erhielten. Negative Empfindungen oder Langeweile traten hingegen auf, wenn das Gefühl aufkam, auf der Stelle zu treten oder die Aufgaben nicht bewältigen zu können. 623 Eine weitere Studie des Gallup Institutes zeigt auf: 70 % der Mitarbeiter leisten nur Dienst nach Vorschrift. Das fehlende Engagement wird zumindest teilweise von schlechten Führungskräften verursacht. Dazu sagt Marco Nick, Mitarbeiter des Gallup Institutes: „Es fängt an mit einem Mangel an Lob und Anerkennung für gute Arbeit, die geleistet wurde. Das vermissen sechs von zehn Befragten. Dabei ist das ein ganz entscheidender Motivationsfaktor. Aus anderen Studien weiß man, dass jeder zweite Deutsche von Glückserlebnissen berichtet, wenn er gelobt wird oder eine Würdigung erfährt." 624 Diese Studie und weitere Forschungsergebnisse belegen, dass es nicht ausreicht ist, die Mitarbeit mit Geld oder Sachwerten zu motivieren; vielmehr muss der Fortschritt bei der Arbeit anerkannt werden. Menschen tragen in sich eine tiefe Sehnsucht nach positiven Erlebnissen bei der Arbeit. Sie möchten erfolgreich tätig sein, ihre Leistung soll anerkannt und ihre Einsatzbereitschaft durch Lob honoriert werden. Positive Psychologie setzt genau bei dem Faktor an, Mitarbeiter so zu stärken, dass sie einen Fortschritt bei der Arbeit erreichen und auf diesem Weg Lob und Anerkennung erfahren können. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Mitarbeiter und Führungskräfte zum Aufblühen zu bringen. Angestellte in leitenden Positionen können, motiviert aus ihrem eigenen Wohlbefinden, das sie mit Hilfe der Positiven Psychologie erreichen, ihr Team zu Höchstleistungen fuhren. Der Einzelne selbst findet Befriedigung in seiner Arbeit, wenn er die eigene Persönlichkeitsstruktur optimiert und seine Stärken richtig zum Einsatz bringt. Aus diesem Grund spricht die Positive Psychologie alle Mitglieder in einem unternehmerischen Prozess an.
623 Vgl http://www.harvardbusinessmanager.de/heft/artikel/a-69l442.html [19.11.2010]. 624
Vgl.Http://www.sueddeutsche.de/karriere/mitarbeiter-motivation-fuer-ein-danke-brauchtes-kein-budget-1.514417 [19.11.2010].
411
4
Schlussbetrachtung
Der Mensch ist stets auf der Suche nach Glück und Zufriedenheit, auch wenn die Sinnsuche häufig unbewusst erfolgt. Ein ausgefülltes Leben, geprägt von Zweckhaftigkeit und getragen von positiven Werten, steigert das Selbstwertgefuhl und vermittelt dem Menschen Glücksempfinden. Das Modell der Positiven Psychologie, das sich in erster Linie als akademische Disziplin vergleichbar der herkömmlichen Psychologie darstellt, bietet hierbei ein System von Techniken, mit deren Hilfe der Einzelne in die Lage versetzt wird, seine eigene Position zu erkennen und an seiner Persönlichkeit zu arbeiten. Dabei setzt sie auf das konstruktive Potenzial von Werten und moralischen Tugenden, auf Charakter und Stärken des Menschen. Die gewünschten Ergebnisse sind Glück und Wohlbefinden, die Effekte eines gelingenden Lebens. Positive Psychologie darf dabei aber nicht mit dem sog. Positiven Denken verwechselt werden. „Positives Denken" ist keine wissenschaftliche Disziplin, sondern eher als triviale Methode zur Lebensbewältigung zu verstehen. Es setzt auf die Kraft der Gedanken und arbeitet mit Suggestion und Imagination. Die Positive Psychologie hingegen bemüht sich bei ihrer Arbeitsweise um eine akademische Grundlage und arbeitet nach wissenschaftlichen Forschungsregeln. Ihre Methoden sind von der Art, dass sie sich durch eine zustimmende Herangehensweise an Probleme auszeichnen. Sie kann somit als ressourcenorientierte Psychologie verstanden werden. Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass sich die Positive Psychologie nur auf positiv belegte Begriffe wie „Bestätigung" oder „Zustimmung" konzentrieren und im Gegensatz zur klassischen Psychologie die Schattenseiten des Lebens außer Acht lassen würde. Die neue psychologische Richtung will nicht dahin verstanden werden, dass es ihr darum geht, Leid, Schwierigkeiten und Probleme zu leugnen oder zu eliminieren. Das wäre unrealistisch und unwissenschaftlich. Die Positive Psychologie zielt vielmehr darauf ab, die in jedem Leben vorhandenen negativen Aspekte zu bewältigen und an diesem Prozess charakterlich zu wachsen. Mit der Ausbildung persönlicher Stärken wächst zugleich der Charakter des Menschen, der um seine Persönlichkeitsentwicklung kämpft. In Folge davon entstehen Glück und Wohlbefinden. Die Positive Psychologie will dabei aber nicht als unvereinbarer Gegensatz zur klassischen Klinischen Psychologie verstanden werden, das heißt als eine Richtung, die mit der herkömmlichen Psychologie inkompatibel wäre. Sie stellt vielmehr einen zusätzlichen Ansatz zur Bewältigung menschlicher Schwierigkeiten zur Diskussion und will mit ihren neuen Methoden ergänzen, durchaus auch Brücken schlagen, um im Interesse der Menschen ergebnisorientiert zu arbeiten.
412 Der Prozess der Charakterbildung des Individuums hat nicht nur Auswirkungen auf das Leben des Menschen selbst; vielmehr ergibt sich aus ihm ein weit reichender Synergieeffekt. Der Mensch blüht in seinen Handlungen auf, wenn er sieht, dass er, nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf seine Umgebung positiven Einfluss nehmen kann. Dies ist die bestmögliche Rückmeldung: Das Individuum erlebt das „Flourishing" als eine Balance von positiven und negativen Lebenseinflüssen. Die aus diesen Effekten gewonnenen Erkenntnisse lassen sich in vielfältiger Weise nutzen. Es darf aber nie vergessen werden, dass das Flourishing nicht von alleine, ohne individuelles Bemühen gleichsam vom Himmel fällt. Es stellt das Ergebnis eines lang dauernden Prozesses dar, der vielfältige Anstrengungen erfordert, bevor sich ein Erfolg einstellt. Am Anfang dieser Entwicklung muss die Entscheidung stehen, am bisherigen Leben etwas ändern zu wollen. Dabei kommt es nicht darauf an, unglücklich oder unzufrieden zu sein; vielmehr kann auch der Gedanke am Anfang stehen, sich vorwärts entwickeln zu wollen. Als weiterer Schritt muss die nötige Eigeninitiative aufgebracht werden, die momentane eigene seelische Position zu ermitteln. Ist die Frage „Wie fühle ich mich heute ..." geklärt, kann anhand verschiedener Übungen damit begonnen werden, die eigenen Ziele abzustecken und die nötige Ruhe zu gewinnen, um die Gedanken zu ordnen und Gelassenheit zu erreichen. Man entwickelt eine Strategie, das Selbstbewusstsein im eigentlichen Wortsinn zu bilden und den Blick für das Positive im Leben zu schärfen. Hierbei entsteht Dankbarkeit als Gefühl der Befriedigung sowohl für denjenigen, der sie ausspricht, als auch für den, der sie empfängt. Daneben steht der Prozess der Ermittlung der eigenen Stärken, die gefördert und weiterentwickelt werden sollen. Der Mensch, der sich auf die Methoden der Positiven Psychologie einlässt, muss sich bewusst sein, dass er über eine längere Phase der Persönlichkeitsentwicklung hinweg Zeit und Energie investieren muss, damit sich langfristig der erstrebte Erfolg, die Balance des Flourishing, einstellt. Positive Psychologie ist mittlerweile ein Gedankenmodell an den Hochschulen. In vielfältiger Weise wird umgesetzt, was theoretisch entwickelt und erprobt wurde. Harvard bietet beispielsweise Kurse für Positive Psychologie an. Verschiedene Schulen nutzen die Erkenntnisse zur besseren Bewältigung der Probleme ihrer Schüler. Es werden präventive Techniken zur Vermeidung von Schwierigkeiten eingesetzt oder die Schüler erhaltenen Hilfestellungen fiir ihre Persönlichkeitsentwicklung und Charakterbildung.
413 Die Techniken der Positiven Psychologie lassen sich im Rahmen eines Unternehmens für die Produktivität des Betriebes nutzen. Hierbei gelten dieselben Vorgaben wie für den einzelnen Menschen. Zeit und Energie müssen investiert werden; darüber hinaus muss aber auch die Bereitschaft vorhanden sein, die erforderlichen finanziellen Mittel aufzubringen. Dieser Gesichtspunkt darf keinesfalls unterschätzt werden; denn der Kostenfaktor ist auch nicht dadurch zu entschärfen, dass nur halbherzig in die Methoden der Positiven Psychologie eingestiegen wird. Ein Misserfolg wäre vorprogrammiert und Enttäuschung die vermeidbare Folge eines solchen Fehlversuchs. Auf Unternehmensebene erfordert die Entscheidung für die Einfuhrung der Techniken der Positiven Psychologie professionelle Hilfe. Unerlässlich ist dabei der Einsatz eines renommierten Institutes oder eines Teams erfahrener Psychologen, die sowohl als Coach arbeiten können als auch mit betriebswirtschaftlichen Denkweisen vertraut und deshalb in der Lage sind, unternehmensbezogenen Defizite aufzuspüren Im wirtschaftlicher Hinsicht steht nicht nur das Wohlbefinden der Person im Fokus; vielmehr soll gerade das Aufblühen des Unternehmens selbst erreicht werden. Dieses Ergebnis kann nur über den einzelnen Mitarbeiter im „Flow" erzielt werden, der sich bei seiner Arbeit weder über- noch unterfordert fühlt, der seine Stärken am richtigen Platz einsetzt und somit ein nützliches Rad im störungsfrei laufenden Uhrwerk des Unternehmens sein kann. Von den dafür notwendigen Anstrengungen sollte sich jedoch niemand abschrecken lassen. Der Erfolg, den die Methoden der Positiven Psychologie möglich machen, ist alle Mühen wert. Das Besondere der initiierten Positiven Psychologie besteht darin, dass der Mensch in einen kontinuierlichen Kreislauf gerät: Die Lebenszufriedenheit wirkt sich auf die Arbeitszufriedenheit aus und umkehrt. Das innerlich erlebte Glück spiegelt sich nach außen wider und wird von den Mitmenschen reflektiert. Dies funktioniert sowohl beim einzelnen Menschen als auch innerhalb eines Unternehmens. „Wer dauerhaftes Glück will, muss sich stets verändern." Konfuzius
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J.-Matthias Graf von der Schulenburg und Kathrin Damm
Ökonomisches Handeln ist ethisches Handeln: Werturteile als Rahmen gesundheitsökonomischer Forschung 1
Einleitung
Mit dem stärkeren Vordringen der Ökonomen und ihren Bewertungsmethoden in das Gesundheitswesen wuchs in den letzen Jahren auch die Kritik an dieser Entwicklung. Insbesondere von Seiten der Philosophen wird der Gesundheitsökonomie vorgeworfen, im Rahmen von Entscheidungsempfehlungen ethische Aspekte unberücksichtigt zu lassen oder nur halbherzig auf sie zu verweisen. Vereinzelt gefordert wird, dass nicht länger Ökonomen die Bewertung von Maßnahmen vornehmen, sondern stattdessen Ethiker diese Entscheidungen treffen. Auslöser fiir die Konflikte ist letztlich das Diktat der Knappheit, dem die Menschheit seit der Vertreibung aus dem Paradies in allen Bereichen unterliegt. Dies trifft auf die Lebenszeit ebenso zu wie auf finanzielle Ressourcen oder immaterielle Bedürfnisse des Menschen, wie Liebe, Anerkennung und Sicherheit. Nur die Bedürfnisse selbst sind nicht knapp und wachsen zudem mit den Möglichkeiten. Man kann dies auch das Knappheitsdilemma nennen: Je stärker es gelingt, die Knappheit durch effizienteren Einsatz der Ressourcen und technischen Fortschritt zu vermindern, um so größer werden die Bedürfnisse und umso mehr empfinden die Menschen die neue Knappheit als Diskrepanz zwischen gestiegenen Bedürfnissen und gewachsenen Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung. Im Gesundheitswesen steht die Endlichkeit der Ressourcen jedoch nicht nur steigenden Ansprüchen gegenüber sondern betrifft auch ein Gut mit transzendentalem Charakter. Neben den Gütern „Frieden" und „Sicherheit" kommt auch der Gesundheit eine übergeordnete Bedeutung zu. Als „höchstes Gut" bezeichnet, gilt die Gesundheit als Voraussetzung zur Erreichung von Lebenszielen und ist somit essentieller Bestandteil von individueller Entwicklung. Diesem Umstand geschuldet ist das deutsche Gesundheitswesen nicht ein Sektor wie viele andere der Volkswirtschaft, sondern unterliegt einer weitgehend nicht-marktwirtschaftlichen Organisation. Die Grundentscheidung, dass jeder Bürger eine Krankenversicherung haben muss und die Prämien dieser von der individuellen Leistungsfähigkeit abhängen, ist ursächlich für weitere Regelungen und Reglementierungen. Hierzu gehören solche des Leistungskataloges und der Honorierung der Leistungserbringer. Versicherungsbedingungen sind weitgehend einheitlich gestaltet. Marktpreise
417 werden durch administrierte Preise ersetzt, kollektive Preis-Leistungs-Überlegungen substituieren individuelle Nutzenbewertungen der Konsumenten und an die Stelle einer Nachfrage basierend auf Zahlungsbereitschaft und damit offengelegter Wertschätzung tritt ein gesetzlich definierter Leistungsanspruch. Mit der Einstufung gesundheitlicher Absicherung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verlagert sich auch das Problem der Knappheit auf diese Ebene. Während im privatwirtschaftlich organisierten System Patient und Arzt über den therapiebezogenen Ressourceneinsatz entscheiden, trennt das deutsche Gesundheitswesen die Perspektive von Leistungsträger und Empfanger weitgehend. Dies wird in folgendem Dreiecksverhältnis deutlich. Der Patient ist Nutznießer der Leistungen, der Arzt veranlasst die Leistungen und die Versichertengemeinschaft trägt die Kosten. Nutzenerwägungen und Kostentragung fallen, anders als auf unregulierten Märkten, auseinander. Preise können deshalb auch ihre allokative Funktion nicht oder nur ungenügend wahrnehmen. Deshalb muss die Versichertengemeinsaft bzw. Gesellschaft darüber entscheiden und entsprechende Maßnahmen ergreifen, wie die knappen Mittel einer effizienten, gerechten und angemessenen Verwendung zuzuweisen sind. Schon Peter Oberender und Jürgen Zerth haben auf dieses Spannungsfeld hingewiesen, 625 indem zwei Ansprüche aufeinander prallen: die vorhandenen Ressourcen sollen effizient verwendet (Allokationsaufgabe) und die Gesundheitsleistungen (und auch die im Gesundheitswesen verdienten Einkommen) sollen gerecht verteilt werden (Distributionsfunktion). Zudem ist zu entscheiden, welcher Anteil des Nationaleinkommens auf Gesundheitsleistungen entfallen sollen und wie sich dieser Anteil über die Zeit verändern soll, da es noch andere Bedürfnisse gibt, die zu befriedigen sind (Stabilisierungsfunktion). Gesundheitsökonomischen Evaluationen dienen der Optimierung der Allokation, dem sorgsamen, nachhaltigen und Nutzen stiftenden Umgang mit knappen Ressourcen und haben somit einen starken ethischen Bezug. Sie beruhen auf Axiomen (Werturteilen) und den zu Grunde liegenden Gerechtigkeitsvorstellungen, die transparent gemacht werden müssen, über die jedoch nicht logisch gestritten werden kann. Ihre mechanistische Befolgung kann zu Verteilungen führen, die Mindeststandards der Gerechtigkeit verletzen — und genau hier stößt die Gesundheitsökonomie an ihre Grenzen, hier muss sie offen sein für den Einbezug distributiver Kriterien, die es im interdisziplinären Diskurs zu entwickeln gilt. Ein Austausch zwischen den einzelnen Fachdisziplinen, insbesondere zwischen Ethikern und Ökonomen, scheitert häufig jedoch bereits an der Unkenntnis der Methoden der anderen Disziplinen und unzureichenden Kommunikationsbereitschaft. 626
625 626
Vgl. Oberender, Zerth (2006), S. 67-82. Vgl. Schulenburg (2010), S. 158.
418 Dieser Beitrag soll der beschriebenen Problematik ein Stück weit entgegenwirken, indem sowohl einige Werturteile und die darauf aufbauenden Methoden der gesundheitsökonomischen Forschung erläutert werden als auch erste Überlegungen zum Einbezug distributiver Kriterien.
2
Werturteile theoretischer Verteilungskonzepte
Die theoretischen Konzepte einer gerechten Verteilung bilden den Rahmen zur Einigung auf Verteilungsmechanismen. Sowohl im Konstrukt des Utilitarismus als auch im Egalitarismus und Kontraktualismus finden sich Werturteile, welche grundlegend für ein Verständnis von allokativen und distributiven Ansätzen sind.
2.1 Der Kontraktualismus und das Rawlssche Verteilungskonzept Die Gedankenexperimente der Kontraktualisten (Vertragstheoretiker) gehen der Frage nach, auf welche staatliche Ordnung, auf welchen Gesellschaftsvertrag sich Individuen aus natürlichem Interesse heraus einigen würden. Die Ideen beruhen auf einem prozessualen (deontologischen) Verständnis von Ethik. Maßstab der Bewertung ist hier bereits der Weg bzw. die Methodik zur Zielerreichung. Nachdem schon die Vertragstheoretiker Thomas Hobbes, John Locke und Immanuel Kant zu den Kontraktualisten gehörten, erlebte das Konzept eine Neubelebung und einen Höhepunkt mit der 1971 veröffentlichten Verteilungstheorie von John Rawls. Die „Theory of Justice" (Theorie der Gerechtigkeit) des amerikanischen Philosophen gilt als wohl berühmtester Ansatz zur Verteilung knapper Güter. Den Ausgangspunkt dieser Theorie bildet dabei die fiktive Vorstellung eines vorgeburtlichen Zustands. In diesem haben die Entscheidungsträger weder Kenntnisse über ihren jeweiligen späteren sozialen Status noch über ihre individuellen Fähigkeiten und Neigungen oder die Entwicklungsstufe „ihrer" Gesellschaft. Sie verfugen allein über die vollständigen Informationen der relevanten sozialen, politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge. Der hier beschriebene fiktive Zustand des „Schleiers der Unwissenheit" versetzt die Entscheidungsträger in eine Situation, in der sie unter Unsicherheit über Verteilungsprinzipien entscheiden und somit keinen Anreiz haben, den eigenen Nutzen zu Lasten anderer Individuen zu maximieren. Als Nutzengrößen bezieht sich Rawls auf sogenannte primäre Güter. Hierzu gehören Grundfreiheiten und Rechte, Einkommen, Vermögen sowie soziale Grundlagen der Selbstachtung. Rawls nimmt an, dass sich die Individuen auf ein möglichst umfassendes System allgemein gültiger Grundfreiheiten
419 einigen, während soziale und ökonomische Ungleichheiten so gestaltet werden, dass sie jedermanns Vorteil dienen bei genereller Chancengleichheit.627 Ein Hauptkritikpunkt an Rawls Theorie bezieht sich auf die Umsetzbarkeit des fiktiven Zustands des „Schleiers der Unwissenheit". Bezogen auf die Verteilung von Gesundheitsleistungen streiten sich die Wissenschaftler zudem über die Anwendbarkeit von Rawls Theorie, da diese nicht allein von zugewiesenen Gütern abhänge, sondern ebenfalls von biologischen Faktoren. Dennoch liefert der Kontraktualismus wichtige Einsichten über die Gerechtigkeit von Verteilungen, auf die später erneut eingegangen wird.
2.2 Utilitarismus und Egalitarismus Im Gegensatz zu den Konzepten der Kontraktualisten beruhen die des Utilitarismus und des Egalitarismus auf einem konsequenzialistischen Ethikverständnis, welches das Ergebnis in den Fokus der Beurteilung rückt. Das utilitaristische Konzept, vertreten unter anderem durch Jeremy Bentham und John Stuart Mill, zielt darauf ab, den größtmöglichen Nutzen für die größtmögliche Zahl von Individuen zu erreichen. Als Nutzen gilt hierbei die Eigenschaft einer Sache, das Wohlbefinden zu erhöhen, auch ergänzt um die Präferenzen von Individuen. Ausschlaggebendes Kriterium zum Erreichen einer gerechten Verteilung ist demnach das der Effizienz. Die gesundheitsökonomischen Evaluationsmethoden basieren auf dem Konzept der Aufsummierung von Kosten und Nutzen, welches nicht unumstritten ist. Von Seiten der Ethiker wird das Konzept des Utilitarismus vehement kritisiert. Die häufig als ethisch falsch bzw. methodisch mangelhaft ausgewiesene interpersonelle Vergleichbarkeit von Nutzen beruht letztlich jedoch auf einem Werturteil. Als problematisch angesehen wird auch, dass das utilitaristische Konzept nicht zwischen unterschiedlichen Verteilungen mit identischer Gesamtsumme (60:40; 100:0) unterscheidet, so dass theoretisch auch eine absolute Ungleichbehandlung optimal sein kann. Dennoch wurde bislang kein wissenschaftliches Konzept zur Verteilung knapper Mittel vorgestellt, welches ohne das Heranziehen utilitaristisch basierter Werturteile auskommt. Übrigens basieren auch die Methoden zur Auswertung klinischer Studien, z. B. zur Prüfung und Zulassung von Arzneimitteln, auf einem utilitaristischen Werturteil. Ansonsten wäre es unzulässig, die „Outcomes" der Probanden eines Studienarms zu aggregieren und mit Hilfe statistischer Methoden zu analysieren, und diese dann mit denen anderer Studienarme zu vergleichen. Die Aussage, eine Therapie 627
Vgl. Rawls (1973).
420 sei signifikant effektiver als eine andere oder Placebo, beruht auf einem utilitaristischen Werturteil, welches interessanterweise von Ethikern nie kritisiert wurde. Lehnt man den Utilitarismus ab, so wäre eine solche Aussage nur statthaft, wenn die Therapie für alle Probanden einen höheren Nutzen liefern würde. Das generelle Ziel des egalitaristischen Konzepts ist die Gleichheit von Individuen einer Gesellschaft und grenzt sich dementsprechend deutlich von der utilitaristischen Nutzenaufsummierung und -maximierung ab. Unter den Egalitaristen gibt es eine Reihe von verschiedenen Ansichten darüber, welche Art von Gleichheit anzustreben sei. 628 Theoretische Ansätze sind die Gleichverteilung von Ressourcen, von Anerkennung oder von Nutzen. Auf das Gesundheitswesen bezogen weichen die unrealistischen Ideen gleicher Gesundheitszustände bzw. gleichverteilter finanzieller Mittel zur Versorgung solchen, welche für eine Gleichverteilung unter gleich Bedürftigen, dem gleichen Zugang zu Leistungen bzw. der Chancengleichheit plädieren. Insbesondere der letztgenannte Ansatz gleicher Chancen findet einen starken Zuspruch und große Überschneidungen mit weiteren Verteilungsprinzipien, obwohl auch hier wiederum ein ganzes Bündel von Interpretationsmöglichkeiten herangezogen werden kann: von der gezielten Förderung Benachteiligter bis zur Verteilung unzureichender Ressourcen per Los oder Würfel.
3
Werturteile der gesundheitsökonomischen Evaluation
Wie bereits erwähnt, dient die gesundheitsökonomische Evaluation der Allokation, also des effizienten Einsatzes, von Mitteln im Gesundheitswesen. Einen guten Überblick über ihre grundlegenden Methoden liefern Oberender et al. 629 Die wesentlichen ihr zu Grunde liegenden Werturteile manifestieren sich wie folgt.
3.1 Das Solidarprinzip Ökonomische Evaluationen sollten nur eingesetzt werden, wenn es sich um solidarisch finanzierte Gesundheitsleistungen handelt. Werden Gesundheitsleistungen privat finanziert, so bestimmen die Konsumenten selbst mit ihren Kaufentscheidungen, was der marginale Nutzen für eine Gesundheitsleistung ist. Die Präferenzen der Menschen zur Bestimmung des Nutzens müssen hier nicht erhoben werden, und es muss auch nicht festgestellt werden, ob eine Gesundheitsleistung ihren Preis wert ist.
628 629
Vgl. Rauprich (2005), S. 1 3 - 3 6 . Vgl. Oberender, Zerth, Ecker (2007), S. 5 3 - 6 2 .
421 Vielfach wird gerade in der aktuellen Gerechtigkeitsdebatte das Individualprinzip propagiert, indem darauf verwiesen wird, dass Gesundheit nicht einfach etwas Gutes sei, sondern etwas Gutes für die Person, um deren Gesundheit es sich handelt. 6 3 0 Doch in einer Welt des reinen Individualismus haben solidarisch finanziert Systeme keinen Platz; in einer solchen Welt gibt es keine kollektiven Entscheidungen, da jede Form der Präferenzenaggregation, sei es über wissenschaftliche Erhebungen und Wahlen keine wertmäßige Basis hat. Wenn jeder nur für sich selbst bestimmt, was für ihn gut ist, und dann den Anspruch an eine Solidargemeinschaft hat, diese Bedürfnisse zu befriedigen, dann gibt es keine wissenschaftlich begründbare Lösung für das Knappheitsproblem.
3.2 Das Pareto-Kriterium Als Folge der Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen müssen Entscheidungen über die Verwendung vorhandener Mittel getroffen werden. Den theoretischen Hintergrund ökonomischer Empfehlungen bildet die Wohlfahrtstheorie. Sie beschreibt, unter welchen Bedingungeneine optimale (effiziente) Ressourcenallokation erzielt wird. 6 3 1 Das grundlegende Paradigma des Pareto-Prinzips besagt dabei, dass die Reallokation von Ressourcen wohlfahrtssteigernd ist, wenn hierdurch der Nutzen mindestens eines Mitglieds der Gesellschaft gesteigert wird ohne den eines anderen zu senken. Vollkommene Märkte führen zu einer Paretooptimalen Situation, in der sich kein Individuum verbessern kann ohne einem anderen zu schaden, liegen im Gesundheitswesen jedoch nur sehr begrenzt vor, sodass das Pareto-Kriterium hier kaum Anwendung finden kann. Das Instrument sozialpolitischer Umverteilung geht immer zu Lasten von Gesellschaftsmitgliedern. Nicholas Kaldor und John Hicks lösten das klassische Pareto-Kriterium von der Bedingung des vollständigen Marktes und erweiterten es um die Annahme, nach der eine Verbesserung der gesellschaftlichen Wohlfahrt vorliegt, wenn die Gewinner einer Maßnahme einen so großen Nutzenzuwachs durch eine Maßnahmen haben, dass sie in der Lage sind, die Verlierer soweit zu kompensieren, dass sie mindestens nicht schlechter gestellt sind als vorher (Pareto-KompensationsKriterium). Auf das Gesundheitswesen übertragen hieße das, dass z.B. die Gewinner einer Rationierungsmaßnahme (z. B. die Versicherten) bereit und in der Lage sind, die Verlierer der Maßnahme (z. B. Patienten) für den Nutzenentgang zu kompensieren. Erfolgt die Kompensation, z. B. in Geld oder in Sachleistungen, so scheint das Kriterium unmittelbar einleuchtend. Allerdings gehen Kaldor und Hicks weiter, indem sie postulieren, dass ein solcher Ausgleich in der Realität gar 630 631
Vgl. Lübbe (2008), S. 10. Vgl. Leidl (2003), S. 4 6 1 ^ 8 4 .
422 nicht zu erfolgen hat, sondern nur theoretisch möglich sein muss (Kaldor-HicksKriterium). Auch diese Modifikation weist Probleme auf - wie beispielsweise die Bestimmung einer akzeptablen Kompensation und des interpersonellen Nutzenvergleichs. Sie macht jedoch zwei Aussagen mit gesundheitsökonomischem Bezug möglich: 1. Die Welt ist besser, wenn es einem besser geht und keinem anderen schlechter geht. 2. Kosten-Nutzen-Evaluationen können eine potenzielle Pareto-Effizienz aufzeigen. 632 Das Pareto- (Kaldor-Hicks-) Prinzip liefert dabei jedoch keine „gerechte" Lösung. Diese kann nur durch Festlegung auf Werturteile über eine gerechte Verteilung erzielt werden.
3.3 Die Perspektive Am Anfang einer Bewertung steht immer ein wichtiges Werturteil: die Bewertungsperspektive. Eine Bewertung der Kosten und der Nutzen kann nur vorgenommen werden, wenn man die Perspektive a priori (also im Vorfeld der Evaluation) festlegt. Rationierungen erhöhen z. B. in der Regel den Nutzen des gesunden Versicherungsnehmers, da seine Beitragslast gemindert wird, und mindern den Nutzen der durch die Rationierung betroffenen Patienten. Dennoch wird der Nutzen des gesunden Versicherungsnehmens auch negativ beeinflusst, da er damit rechnen muss, im Krankheitsfall ebenso von der Rationierung betroffen zu sein. Andersherum ist der betroffene Patient auch Beitrags- und Steuerzahler. Es ist also wesendich, ob die Evaluation aus der einen oder anderen Perspektive erfolgt. In der Wahl der Perspektive steckt bereits ein Werturteil. Aus der Perspektive von Person A ist das Ergebnis einer Bewertung ebenso klar, wie aus der Perspektive von Person B (so lange sich keiner von beiden altruistisch verhält). Der Versicherte hingegen, der heute gesund ist, will, dass er im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten, die er seiner Krankenversicherung durch Beiträge zur Verfügung stellt, im Krankheitsfall bestmöglich versorgt wird. Welche Brille soll sich der durch demokratische Wahlen legitimierte Politiker aufsetzen, der darüber zu entscheiden hat, ob die Krankenversicherung mehr Geld (zum Beispiel aus Steuermitteln) zur Verfugung gestellt bekommen soll und der über die Allokation der Mittel zu entscheiden hat? Er wird sowohl an die Perspektive der Patienten als auch die der heutigen und morgigen Beitragszahler und Steuerbürger denken. Der Ökonom kann hierbei zumindest insofern helfen, als dass er über die Kosten-Nutzen-Relationen informiert, die sich aus den unterschiedlichen Perspektiven ergeben. 632
Vgl. Schiander (2009), S. 1 2 0 - 1 2 2 .
423
3.4 Die Ex-Ante Entscheidung und die Abstraktion Die Methoden der ökonomischen Evaluation bauen auf der Annahme auf, dass die Nutzen und Kosten von Menschen und Wirtschaftssubjekten addiert werden können und folgen hiermit der utilitaristischen Grundidee. Bei den Kosten ist dieses Werturteil weniger umstritten. Indirekten Kosten (in Geld bewertete Produktionsausfälle verschiedener Arbeitgeber) werden addiert. Bei dem Nutzen ist diese Annahme stark kritisiert worden. Sie ist auch nach Meinung von Ökonomen nur zulässig, solange es sich nicht um konkrete Wahlentscheidungen über Behandlungen für heutige Patienten handelt, sondern um Entscheidungen für zukünftige Patienten, das heißt, die Entscheidungen im Rawls'schen Verständnis hinter dem „Schleier der Ungewissheit" getroffen werden. Ziel ist es, die Differenz von Erwartungsnutzen und Erwartungskosten aller Individuen und für jeden einzelnen zu maximieren. Dem Egalitarismus folgend, gelten die Ergebnisse ökonomischer Evaluationen für jeden in der Solidargemeinschaft im gleichen Maße, sobald gleiche Umstände vorliegen. Um dies zu erreichen werden bei ökonomischen Evaluationen nicht einzelne konkrete Patienten betrachtet. Stattdessen werden Patientenkarrieren zunehmend durch Modelle, d. h. abstrakte Abbilder der Realität abgebildet. Diese Abbilder und die daraus zu ziehenden Schlüsse über zu erwartende Kosten und Nutzen können dann auf konkrete Patientenfälle angewendet werden. Dies folgt dem von Ökonomen präferierten deduktiven Vorgehen (schließen vom Allgemeinen auf das Spezielle).
3.5 Die interdimensionäre und intertemporale Aggregation Um verschiedene Behandlungsoptionen evaluieren und vergleichen zu können, ist es notwendig, Möglichkeiten der interdimensionären Aggregation zuzulassen, denn jede therapeutische Maßnahme erzeugt mehr als nur eine Wirkung. So hat die Chemotherapie beispielweise das Potenzial, die Lebenszeit von Krebspatienten zu verlängern, während sie sich gleichzeitig negativ auf die Lebensqualität während der Behandlung auswirken kann. Alternative Behandlungsmöglichkeiten (z. B. adäquate Schmerzbehandlung) steigern möglicherweise die Lebensqualität der Patienten zu Lasten der absoluten Lebenszeit. Kosten und Nutzen der verschiedenen Therapieoptionen können nur ins Verhältnis gesetzt werden, wenn die verschiedenen Nutzendimensionen aggregiert werden, am besten in einem kardinalen Maß. Die Lebensqualitätsforschung hat axiomatische Verfahren entwickelt, um dem Problem interdimensionärer Nutzenaggregation begegnen zu können. Sie beruhen auf der von Daniel Bernoulli entwickelten Erwartungsnutzentheorie,
424 welche von John von Neumann und Oskar Morgenstern633 zu einer auf Axiomen, also Werturteilen, basierenden Entscheidungstheorie ausgebaut wurde. Bei Anerkennung dieser Werturteile lässt sich ein kardinales Nutzenmaß für verschiedene mehrdimensionale Lebenszustände ableiten. Methoden sind das „Time Trade OfF- oder „Standard Gamble"-Verfahren. Ihr „Trick" ist, dass ein hypothetischer sicherer Zustand mit Situationen, die nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit eintreten, verglichen wird. Vielfach wurde diese Vorgehensweise als zu kompliziert und zu theoretisch abgetan634 und die Annahmen der Erwartungsnutzentheorie sind auch keineswegs trivial. Insbesondere die Linearitätsannahme und das Unabhängigkeitsaxiom sind zu hinterfragen, und haben es in sich. In der Regel muss Kritikern allerdings testiert werden, dass sie sich mit den Methoden nur unzureichend auseinandergesetzt haben und in anderen Fällen einer interdimensionären Aggregation in der Medizin (z. B. der Abwägung von mit einer Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Wirkung und einer nicht mit Sicherheit eintretenden Nebenwirkung) unkritisch gegenüberstehen. Stark kritisiert wird derzeit das Konzept der QALYs (Quality-Adjusted Life Years - Qualitätsadjustiertes Lebensjahre), das aber, wie andere Scoring-System (z.B. Schmerzskalen), dann unproblematisch ist, wenn man die zugrundeliegenden Werturteile und die Limitierungen verstanden und analysiert hat. Die intertemporale Aggregation ist notwendig, sobald Nutzen und/oder Kosten in mehreren Zeitperioden anfallen, wie beispielweise im Fall von Impfungen und Präventionsmaßnahmen. Hier fallen Kosten häufig nur einmalig und heute an, der Nutzen besteht dagegen meist über einen langen Zeitraum. Wenn verschiedene therapeutische Alternativen verglichen werden, ist es notwendig, die Kosten und Nutzen mehrerer Jahren bzw. des restlichen (erwarteten) Lebens heranzuziehen. Die Gesundheitsökonomen greifen hierbei auf die Methodik der Investitionsrechnung zurück. Indem sie gegenwärtige und zukünftige Kosten und — umstrittener Weise auch - Nutzen durch eine Abzinsung gleichnamig machen, können diese anschließend aggregiert werden. In Deutschland wird hierzu ein Diskontsatz von 3 % (IQWiG) bzw. 5 % (Hannoveraner Konsens) verwendet. Diese Konvention enthält ein Werturteil: Menschen bewerten zukünftige Kosten und Nutzen um die festgelegte Diskontrate geringer als die gegenwärtigen. Zwar ist diese Annahme nicht unrealistisch, jeder Mensch hat aber wohl seine eigene Meinung über die Bewertung von zukünftigen und heutigen Nutzen und Kosten. Die generalisierende Konvention hat deshalb auch Gerechtigkeitsimplikationen. Therapien mit Langzeitwirkungen und gegenwärtig anfallenden Kosten erzielen ein schlechteres Kosten-Nutzen-Verhältnis je höher die Diskontrate ist. Insbesondere im Bereich 633 ygi N euma nn von, Morgenstern (1944). 634
Vgl. Lübbe (2008), S. 12.
425 der Prävention stellt die Abdiskontierung zukünftigen Nutzens ein stark umstrittenes Problem dar. Zwar kann auf eine intertemporale Aggregation nicht verzichtet werden, wie unter anderem die bisherigen Diskussionen um die Einfuhrung und Finanzierung von Pneumokokken-Impfprogrammen zeigten, dennoch muss sich die Wissenschaft — nicht allein die Gesundheitsökonomie — künftig stärker mit diesem Thema auseinandersetzen. Von Seiten der Ethiker ist uns bislang kein weiterführender Gedanke zu dieser Problematik bekannt, obwohl es sich um ein analoges Aggregationsproblem wie die interdisziplinäre Aggregation handelt.
4
Gesundheitsökonomische Evaluation und Verteilungsgerechtigkeit
Gesundheitsökonomen sehen sich dem Vorwurf ausgesetzt, ihre Bewertungsmaßstäbe und -kriterien seien geprägt von der utilitaristischen Verteilungstheorie, welche im Zusammenhang mit dem transzendentalen Gut „Gesundheit" als ungerecht und unangemessen postuliert wird. Behauptet wird, dass eine konsequente Orientierung an der Größe Kosten pro QALY zur systematischen Diskriminierung von bedürftigen Bevölkerungsgruppen führt. Durch die einheitliche Bewertung von Leistungen unabhängig von Empfängern und Indikationen würden insbesondere schwer Erkrankte, Behinderte und alte Menschen schlechter gestellt, entweder auf Grund ihrer geringeren Restlebenszeit oder generell niedrigeren Lebensqualität. Ein empirischer Beweis dieser These fehlt bislang jedoch und würde auch nicht den Kern des Konzepts treffen. Als Instrument zur interdimensionären Aggregation, also der Zusammenfassung verschiedener Dimensionen von Lebensqualität und Lebenserwartung ist das QALY-Konzept kein Instrument zur Lösung interpersoneller Aggregationsprobleme. Mit Hilfe distributiver Kriterien muss die Optimierung der allokativen Effizienz entsprechend dort eingeschränkt werden, wo elementare Rechte und Mindeststandards von Patienten eingeschränkt werden. Diese sind natürlich nicht fix, sondern verändern sich im Zeitablauf, mit dem Wohlstand eines Landes und den Möglichkeiten der Medizin. In einem demokratischen Land ist es Aufgabe der Verfassung, Minderheitenrechte zu schützen und Aufgabe der Politik, diese weiter zu entwickeln und den Gerechtigkeitsvorstellungen der Gesellschaftsmitglieder anzupassen. Ökonomische Evaluationen müssen diese Rahmenvorgaben beachten. Während die ökonomische Forschung bislang leistungsfähige Modelle und Methoden zur Lösung der Allokationsaufgaben entwickelt hat, steht die Wissenschaft erst am Anfang einer Klärung der Fragen, die im Zusammenhang mit der Distri-
426 butionsaufgabe auftreten. Dementsprechend konzentriert sich die ökonomische Evaluation vor allem auf die Allokationsaufgabe, solange distributive Vorgaben fehlen, die operational, also umsetzbar sind für die Frage, ob ein Zustand gerechter oder weniger gerecht ist. Diese für die Gesellschaft wichtige Aufgabe kann nur interdisziplinär angegangen werden. Die intradisziplinäre Diskussion zwischen Gesundheitsökonomen beziehungsweise Public-Health Forscher läuft an diesem Punkt immer wieder auf eine Fragestellung hinaus: Sollten Determinanten der Gerechtigkeit in die bisherigen Methoden gesundheitsökonomischer Evaluationen integriert oder als Rahmen zur Ergebnisprüfung eingesetzt werden? Beide Ansätze finden ihre Befürworter. So entwickelten Forscher bereits Konzepte, eines stärkeren Einbezugs von Präferenzen und normativen Vorstellungen. Nord et al. schlagen diesbezüglich eine Ergänzung der QALY-Kalkulation um sogenannte „equity weights" (Gerechtigkeits-Gewichtungen) vor. Ziel ist es hierbei, neben der Bewertung des Outputs medizinischer Maßnahmen auch die gesellschaftliche Verteilung von Gesundheitsleistungen einzubeziehen, so dass letztlich QALYs als Maße des gesundheitsbezogenen sozialen Wertes genutzt werden können. 6 3 5 In einem bereits einige Jahre zurück liegenden Vorschlag ergänzen Nord et al. den inkrementellen Nutzen einer Maßnahme um die Faktoren Krankheitsschweregrad und Heilungspotenzial. Übel et al. befürworten eine Ergänzung der gesundheitsökonomischen Evaluation um soziale Werte. Ohne den Einbezug dieser könnten die Kosten-EfFektivitätAnalysen nicht zu einem Instrument von Allokationsentscheidungen werden. Kritisiert wird insbesondere die einheitliche Bewertung der QALY Gewinne ohne Berücksichtigung von Krankheitsschwere, Behinderung oder Einschränkungen für den Patienten. Vorgeschlagen wird ein eine Integration normativer Gerechtigkeitsvorstellungen mit Hilfe von Tradeoff-Messverfahren. 636 Eine weitere Überlegung zur Reform gesundheitsökonomischer Bewertungen geht auf Wagstraff zurück. 637 Auch er sieht das größte Problem des QALY-Konzepts in der Nicht-Berücksichtigung von Ungleichheit, glaubt jedoch nicht daran, diese mit Hilfe von equity weights beheben zu können. Stattdessen soll die Entwicklung und Nutzung einer allein gesundheitsbezogenen sozialen Wohlfahrtsfunktion zur gerechteren Ressourcenallokation führen. Einbezogen werden hierbei sowohl die Gleichheit des gesundheitlichen Status als auch die Effizienz der Maßnahmen. Weitergeführt und auf Deutschland übertragen wurde diese Idee von 635 636 637
Vgl. Nord, Pinto, Richardson, Menzel, Übel (1999). Vgl. Übel, Nord, Gold, Menzel, Prades, Richardson (2000). Vgl. Wagstraff (1991).
427 Kifmann, 6 3 8 der vorschlägt einen sozialen Gesundheitsindex einzuführen, welcher die Leistungen des Gesundheitswesens misst. Einbezogen werden in diesen Index sowohl das Niveau der Gesundheit innerhalb der Bevölkerung, als auch die Gesundheitsverteilung. Sobald die Verbesserungen des Gesundheitsindexes mit der gesellschaftlichen Zahlungsbereitschaft zusammengebracht werden, können Kosten und Nutzen von medizinischen Maßnahmen verglichen werden. Hierfür sind zunächst jedoch Untersuchungen zu den zugrundeliegenden Werturteilen beziehungsweise empirische Erhebungen nötig, insbesondere zur Zahlungsbereitschaft und zur Ungleichheitsaversion. Diesen Ansätzen kritisch gegenüber stehen Forscher, die sowohl methodische Schwierigkeiten und Grenzen sehen als auch Einschränkungen in der Aussagekraft der so ermittelten Größen. Neben den technischen Schwierigkeiten der Messung von sozialen Werten, können lediglich einige dieser normativen Vorgaben Berücksichtigung finden, so dass zunächst ihre Bedeutung festgelegt werden müsste. Zudem ist fraglich, inwieweit die Ergänzung eines rein ökonomischen Maßes um gesellschaftliche Normen nicht ein Zusammenfügen zweier ganz unterschiedliche Aspekte ist und eine Vermischung die Aussagekraft beider Größen letztlich verringert. Auf die sich hier ergebenden Fragen kann es letztlich keine Lösung geben, solange der Austausch der wissenschaftlichen Disziplinen und Vorgaben der politischen Vertreter fehlen. Insgesamt geben die Ausführungen jedoch einen Eindruck über das hier in Zukunft noch an Bedeutung gewinnende sensible Forschungsfeld.
5
Zusammenfassung und Ausblick
Die Ressourcenknappheit und die gleichzeitig weitgehend nicht-marktwirtschaftliche Organisation des Gesundheitswesens zwingen die politischen Vertreter zu Entscheidungen über Allokation und Distribution vorhandener Mittel. Die gesundheitsökonomische Evaluation dient der Allokation, also dem effizienten Einsatz von Ressourcen und hat einen endsprechend hohen ethischen Bezug. Sie beruht auf Werturteilen beziehungsweise Axiomen, über die nicht logisch gestritten werden kann. Für Entscheidungsfindungen ist es jedoch essentiell diese transparent zu machen. Hierzu gehört unter anderem die grundlegende Annahme des Pareto- (Kaldor-Hicks-) Prinzips, nachdem die Welt besser ist, wenn es einem besser geht und keinem anderen schlechter und die des Solidaritätsprinzips, ökonomische Evaluationen also nur dann eingesetzt werden sollen, wenn es sich um solidarisch finanzierte Gesundheitsleistungen handelt. Ein weiteres 638
Vgl. Kifmann (2010).
428 grundlegendes Werturteil bezieht sich darauf, dass die Nutzen und Kosten von Menschen und Wirtschaftssubjekten, im utilitaristischen Sinne, addiert werden können, solange es nicht um konkrete Wahlentscheidungen über Behandlungen fiir heutige Patienten geht, sondern um Entscheidungen für zukünftige Patienten. Möglichkeiten der interdimensionären Aggregation werden zugelassen. Darüber hinaus folgen die Evaluationen dem von den Ökonomen präferierten deduktiven Vorgehen, indem nicht einzelne konkrete Patienten betrachtet werden, sondern stattdessen Patientenkarrieren zunehmend durch Modelle, das heißt abstrakte Abbilder der Realität, abgebildet werden. Dem Egalitarismus folgend sollen die Ergebnisse ökonomischer Evaluationen darüber hinaus für jeden in der Solidargemeinschaft in gleichem Maße gelten, sobald gleiche Umstände zu Grunde liegen. Im Vorfeld der Evaluation müssen zudem Entscheidungen über die Perspektive und die intertemporale Aggregation, also die Diskontierung über die Zeit getroffen werden. Beide Entscheidungen sind Werturteile, die eine hohe Bedeutung für das Ergebnis der Bewertung haben. Eine mechanistische Befolgung der gesundheitsökonomischen Methoden kann zu Verteilungen fuhren, die Mindeststandards der Gerechtigkeit verletzen. Hier müssen die politischen Vertreter Wege finden, diese zu schützen und dem Gerechtigkeitsverständnis der Bevölkerung anzupassen. Die gesundheitsökonomische Forschung stößt hier an ihre methodischen Grenzen und ist auf distributive Vorgaben und Kriterien angewiesen, die es im interdisziplinären Diskurs zu entwickeln gilt. Sie müssen operativ sein für Aussagen über das Maß an Gerechtigkeit verschiedener Zustände. Zwar bestehen bereits erste Ansätze zum Einbezug von normativen Vorgaben, diese sind jedoch sehr stark methodisch geprägt, umstritten und könnten erst nach einer Festlegung auf Gerechtigkeitskriterien und Verteilungsmechanismen eingesetzt werden. Insgesamt gesehen befinden sich die wissenschaftlichen Disziplinen erst am Anfang einer Klärung der Fragen, die im Zusammenhang mit der Distributionsaufgabe, das heißt einer als gerecht empfundenen Verteilung, auftreten. Den derzeit laufenden Diskussionen fehlt es an Tiefe und möglicherweise auch am Willen der Teilnehmer, gemeinsam Ergebnisse zu erlangen. Auf einer Seite stehen die methodisch versierten Evaluationsforscher mit dem Willen, ein konkretes Problem zu lösen, nämlich ob der Preis des Medikamentes A angesichts des Zusatznutzens gegenüber Medikament B als zu teuer anzusehen ist oder ob sich ein Präventionsprogramm lohnt. Auf der anderen Seite fordern Wissenschaftler einen gesellschaftlichen und möglichst „demokratischen" Diskurs, um herauszufinden, welche Verteilung die Bevölkerung präferiert und der dazu dienen soll, Mindeststandards zu definieren. Hier müssen sich alle Seiten entgegenkommen, um eine ergebnisorientierte Debatte zu ermöglichen, denn das Knappheitsprob-
429 lern in allen Bereichen des Gesellschaft, auch im deutschen Gesundheitswesen, ist kein abstraktes sondern ein konkretes und gegenwärtiges. Deshalb bedarf es auch konkreter und operationalisierbarer Methoden, um die vorhandenen Mittel möglichst effizient und gerecht zu verwenden.
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430 Schulenburg, J.-M. G. v. d. (2010): Rationierung und Gerechtigkeit, in: Gesundheitsökonomie und Qualitätsmanagement, 15. Jg., Nr. 4, S. 158-161. Übel, P. A„ Nord, E., Gold, M., Menzel, P., Prades J.-L. P., Richardson, J. (2000): Improving Value Measurement in Cost-Effectiveness Analysis, in: Medical Care, 38. Jg., Nr. 9, S. 892-901. Wagstraff, A. (1991): QALYs and the equity-efficiency trade-off, in: Journal of Health Economics, Nr. 10, S. 21-41.
Hennann Schoenauer und Markus Horneber
Ethisch vertretbarer Technikeinsatz in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft 1
Technikeinsatz in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft
1.1 Wachstumsbranche Sozial- und Gesundheitswirtschaft Die Sozial- und Gesundheitswirtschaft ist trotz der enormen Wachstumspotenziale zweifelsohne eine der sowohl in ihrer Bedeutung als auch in ihrer Dynamik am meisten unterschätzten Branchen. Richtet man den Blick auf den Freistaat Bayern, dann wird deutlich, dass insgesamt 300.000 Männer und Frauen allein in der Sozialwirtschaft beschäftigt sind. Das entspricht einem Anteil von 5 % aller Erwerbstätigen in Bayern (zum Vergleich: Automobilindustrie 2,9%). Primäre Aufgabe der Sozialwirtschaft ist die Unterstützung von Menschen jeden Alters und in verschiedensten Lebenslagen. Dies reicht von der Kinder- und Jugendhilfe bis hin zur Alten- und Pflegehilfe. Mehr als ein Drittel der in der bayerischen Sozialwirtschaft beschäftigten Personen sind in der ambulanten und stationären Altenhilfe tätig. In der Kinder- und Jugendhilfe sind es 74.000 und in der Behindertenhilfe 25.000 Beschäftigte.639 Dazu kommen noch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die im Gesundheitssektor beschäftigt sind. Bis heute ist die Sozial- und Gesundheitswirtschaft eine sehr personalintensive Branche. Dies ist auch nicht verwunderlich, geht es doch um die Erstellung von personennahen Dienstleistungen. Allerdings ist wegen der demografischen Entwicklung, aber auch wegen der nicht allzu hohen Attraktivität von Arbeitsplätzen in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft ein zunehmender Arbeitskräftemangel abzusehen. Dazu kommen quantitativ und vor allem auch qualitativ wachsende Ansprüche der Kunden. Erforderlich sind neue Ansätze, um die hochwertige Versorgung aufrecht zu erhalten oder weiter auszubauen.
639
Vgl. hierzu die Studie von Puch/Schellberg (2010).
432 Daher ist es nicht nur legitim, sondern sogar geboten, die Frage aufzuwerfen, ob durch ein systematisches Innovationsmanagement sowie durch ein Forschungsund Entwicklungsmanagement neue, überlegene Methoden, Verfahren, Konzepte und Techniken etabliert werden könnten. Insbesondere der Technikeinsatz spielt heute noch im Vergleich zu andern Branchen eine untergeordnete Rolle. Ein erster Indikator hierfür ist der Umsatz der deutschen Unternehmen in der Medizintechnik. Mit gut 20 Mrd. € im Jahr 2010 erscheint er zwar in absoluten Zahlen als recht bemerkenswert. Verglichen mit den gesamten Gesundheitsausgaben in Höhe von ca. 270 Mrd. € in Deutschland ist er mit 7 % eher gering. Bemerkenswert ist allerdings, dass die deutschen Medizintechnikbetriebe weltweit den Ruf von Innovationsfuhrern genießen. Dementsprechend investieren sie kontinuierlich etwa 9 % ihres Jahresumsatzes in die Forschung. Fast ein Drittel der verkauften Produkte ist jünger als drei Jahre. 640 Ein zweiter Indikator ist die Kapitalintensität in Unternehmen der Sozial und Gesundheitswirtschaft. Dies kann am Beispiel der Diakonie Neuende11elsau641 gezeigt werden. Hier haben die Personalkosten einen Anteil von über 70% an den Gesamtkosten. Die Abschreibungen, die die Kapitalintensität und damit die Investitionsaktivitäten widerspiegeln haben einen Anteil von etwa 7 % an den Gesamtkosten. Schwerpunktmäßig sind sie auf bauliche Investitionen zurückzufuhren und weniger auf technische Ausstattung. Die Zahlen sind repräsentativ für zahlreiche weitere Unternehmen in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft.
1.2 Verantwortungsbewusster Technikeinsatz schafft Vorteile Heute beschäftigen sich nur sehr wenige Dienstleister im Sozial- und Gesundheitsbereich mit den enormen Potenzialen eines verantwortungsbewussten Technikeinsatzes. Und dies obwohl sich Wettbewerbsvorteile ergeben können. Eine erste wesentliche Antriebskraft, sich intensiver mit dem Technikeinsatz auseinanderzusetzen, den Kunden und ihren Angehörigen ethisch geprüfte und ethisch vertretbare technik-gestützte Dienstleistungen zur Verfugung zu stellen, welche die Lebensqualität spürbar erhöhen. Die Dienstleistung steht selbstverständlich immer im Vordergrund, die technischen Lösungspotenziale haben lediglich subsidiären, unterstützenden Charakter.
640 641
Vgl. o.V. (Medizintechnik 2011). D i e Diakonie Neuendettelsau ist einer der größten deutschen Diensdeister im Sozial- und Gesundheitsbereich. Über 6 . 5 0 0 Mitarbeitende sind in 190 stationären und ambulanten Einrichtungen der Behindertenhilfe, der Altenhilfe, in Kliniken und in Schul- und Ausbildungseinrichtungen beschäftigt.
433
Aus Sicht der Angehörigen ist es wichtig und sinnvoll, Entlastungsstrukturen durch technische Potenziale zu etablieren. In erster Linie geht es hierbei um Sicherheit schaffende Informationen über den Gesundheitszustand oder den Aufenthaltsort des zu betreuenden Angehörigen oder um Hilfe und Kommunikation im Notfall. Für die Nutzer der Dienstleistung soll Technik umfassend als Lebenshilfe zum Einsatz kommen. Sie soll dazu beitragen, die Lebensqualität zu erhöhen und zielgerichtete Unterstützung zu liefern. So verstandene Lebensqualität umfasst eine größere Selbständigkeit und eine höhere Wahlfreiheit wie auch verbesserte Gesundheit, Sicherheit, Unabhängigkeit und Mobilität. Ein Beispiel: Möglichst lange selbstständig und sicher zu Hause zu leben, das ist der Wunsch der allermeisten älteren Menschen. Denn sie vermuten, dass die Lebensqualität zu Hause sehr viel höher ist, als im besten Pflegeheim. Neben den älteren Menschen sind Menschen mit Behinderung und kranke Menschen weitere wichtige Zielgruppen, die durch entsprechende Unterstützung selbstständig in der eigenen Wohnung leben können. Wir haben Bewohnerinnen und Bewohnern in einem stationären Pflegeheim verschiedene technische Möglichkeiten, z.B. ein einfaches Ortungssystem gezeigt. Nicht selten haben wir gehört, dass sie mit einem solchen System länger zu Hause hätten wohnen bleiben können. Vorausgesetzt natürlich, dass dieses System zuverlässig funktioniert, leicht bedienbar ist und dass ein Dienstleister verfugbar ist, der die Services erbringt. Eine zweite wesentliche Antriebskraft für die Beschäftigung mit technischen Innovationen ist die Tatsache, dass künftig in erheblichem Umfang Pflegekräfte für die Versorgung in den eigenen vier Wanden fehlen werden: Experten gehen davon aus, dass im Jahr 2050 nur halb so viele Pflegekräfte zur Verfugung stehen, wie erforderlich.642 Technische Innovationen können dazu beitragen, dass die immer knapper werdenden personellen Ressourcen effektiv und effizient eingesetzt werden. Die technische Unterstützung soll die Konzentration auf die Kernprozesse befördern und die Arbeitsbedingungen spürbar erleichtern. Den Anbietern von Dienstleistungen in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft geht es im wesentlichen darum, durch Technikeinsatz verbesserte, attraktive Arbeitsbedingungen für die Mitarbeiter zu schaffen und eine wirtschaftliche Dienstleistungserstellung in der erwünschten Qualität zu ermöglichen. So könnte bspw. durch die automatische Übertragung von Vitalparametern (Blutdruck, Puls, Temperatur) in die Pflegedokumentation der Schreib- und Dokumentationsaufwand für die Pflegekräfte deutlich verringert werden, doch der Kontakt zu den Bewohnern würde weiterhin bestehen. 642
Vgl. Häcker/Hackmann/Raffelhüschen (2009), S. 4 6 ff.
434 In ganz unterschiedlichen Bereichen und Branchen gibt es interessante innovative technische643 Entwicklungen. Doch existieren mit Ausnahme der Medizintechnik kaum erprobte, hilfreiche technische Lösungen für die Sozial- und Gesundheitswirtschaft. Die Entwicklung neuer innovativer Ansätze ist zumeist sehr kosten- und zeitintensiv. Daher lohnt ein Blick auf bestehende Techniken und deren möglichen Einsatzgebiete im Bereich der Sozial- und Gesundheitswirtschaft:.644 Die grundsätzlichen Anwendungsmöglichkeiten der verfugbaren technischen Potenziale sind sehr vielfältig,645 doch handelt es sich zumeist um isolierte Einzellösungen. Eine Integration der Teilsysteme in ein wirksames und nutzbares Gesamtsystem gestaltet sich oftmals sehr schwer und entsprechend kostenintensiv. Innovative Entwicklungen entstehen zumeist aus einer technischen Idee heraus. Die Ausrichtung auf die Gebrauchstauglichkeit und Bedarfe der Nutzer und die daraus resultierende Akzeptanz der potenziellen Anwender steht in aller Regel im Hintergrund. Genau an dieser Stelle setzt das Forschungs- und Entwicklungsmanagement von Sozialdiensdeistern an. Die zeigt das Projekt „KADIMA", welches das Forschungsinstitut der Diakonie Neuendettelsau im Sommer 2010 gestartet hat: Inzwischen gibt es eine Reihe von Hausnotrufen, welche vor allem für ältere Menschen, die alleine leben, interessant sind. Doch ist davon auszugehen, dass viele dieser Menschen noch aktiv im Leben stehen. Sie möchten ein Notrufsystem, das auch außerhalb der Wohnung störungsfrei funktioniert. Bei Marktrecherchen sind wir auf ein als geeignet erscheinendes mobiles Notrufsystem gestoßen, welches die Funktionen Notruf, Ortung und Kommunikation verbindet. Das Gerät ähnelt einer Uhr. Im Falle eines Notrufs kann eine Servicezentrale mit der betroffenen Person über das Gerät Kontakt aufnehmen und auch deren Aufenthaltsort bestimmen. Das Gerät wurde von Senioren einem vierwöchigen Praxistest unterzogen. Im Prinzip fanden die Testnutzer das Gerät toll. Jedoch wurde festgestellt, dass die Akkulaufzeit viel zu kurz ist und nicht einmal für eine eintägige Radtour ausreicht. Zudem funktionierte die Ortung nicht immer zuverlässig und das Gerät hatte weder eine Uhrzeit- und Datums- noch Akku- und Netzverfügbarkeitsanzeige, wie dies bspw. bei einem Handy üblich ist. Das Ergebnis des Praxistests ist ernüchternd: es gibt zwar einen Bedarf nach mobilen Notrufsystemen, doch aufgrund der mangelnden Gebrauchstauglichkeit ist die Akzeptanz auf Seiten der potenziellen Nutzer gering. 643
644 645
Vgl. zum Technikbegriffz. B. Ropohl (1979), S. 30 ff; Fischer (2004), S. 11 ff; Siegemund (2009), S. 15 ff. Vgl. hierzu ausfuhrlich Horneber (2010a), S. 1 6 0 f. Einige Beispiele: Telemedizin mit Vitalparametermonitoring durch Sensorik, spezifische Internet-Plattformen, Bestimmung des Standorts von Personen oder Geräten oder technische Ausstattung von Einrichtungen. Vgl. ausfuhrlich Horneber (2010a), S. 1 6 0 ff
435
2
Erfolgreiches Innovationsmanagement in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft
Der Technikeinsatz ist kein Selbstzweck, sondern in verantwortungsvoller Weise an den Lebenssituationen und Bedürfnislagen der jeweiligen Nutzer auszurichten. Durch die Nähe zum Kunden verfugen gerade Unternehmen aus der Sozial- und Gesundheitswirtschaft über dieses Wissen. Sie können dazu beitragen, technische Innovationen nutzerzentriert in einer ethisch akzeptablen Form zu entwickeln und auszurichten.
2.1 Nutzereinbindung im Entstehungszyklus innovativer Techniken Ein im Unternehmen etabliertes Innovationsmanagement ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, technische Systeme zusammen mit den zugehörigen Dienstleistungen in den Alltag integrieren zu können. Sofern keine Innovationskultur vorhanden ist, wird mit hohen Widerständen und mit einer ablehnenden Haltung der Beteiligten zu rechnen sein. 646 Dies ist problematisch, denn die Innovationsdynamik wird auch in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft in den nächsten Jahren stark zunehmen. Der Wettbewerb zwischen den Dienstleistern um die anspruchsvolleren Kunden wird immer mehr zu einem Innovationswettbewerb. Nur überzeugende und wirklich passende Angebote werden ihre Abnehmer finden. Das Forschungs- und Entwicklungsmanagemenfcist dabei Grundlage und zugleich Voraussetzung, um Innovationen zu generieren. Die Innovationsdynamik ist durch drei Entwicklungslinien gekennzeichnet: Marktzyklen verkürzen sich - ein Service-Wohnen ist heute bereits nach 12 Jahren alt - Methoden und Verfahren in der Medizin oder Medikamente haben kurze Verfallszeiten. Die Entstehungszyklen dagegen, die Zeitspanne von den ersten FuEAktivitäten bis zur Hervorbringung marktreifer Konzepte werden immer länger. Die Überwindung von Akzeptanzbarrieren, langwierige Genehmigungs- und Zulassungsverfahren sowie schwierige Refinanzierungsbedingungen benötigen einen hohen Zeitaufwand. Dabei wird es im intensiveren Wettbewerb zur conditio sine qua non, mit einer Innovation vor der Konkurrenz am Markt zu sein. Schließlich steigen die Vorbereitungskosten im Sinne der FuE-Kosten laufend weiter an.
646 647
Vgl. zu Innovationsbarrieren ausfuhrlich: Horneber (2011). Vgl. zum Forschungs- und Entwicklungsmanagement in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft ausführlich Horneber (2010b).
436 Um unter diesen Rahmenbedingungen dauerhaft erfolgreich am Markt bestehen zu können, muss die Zeitspanne zwischen erster Idee und Umsetzung eines innovativen Assistenzsystems möglichst kurz gehalten werden. Zusätzlich geht es darum, die FuE-Ressourcen, im Wesentlichen Personalaufwendungen, effektiv einzusetzen. Requirements- und Usability-Engineering als die beiden entscheidenden Tools im Rahmen der Systementwicklung 648 stellen sicher, dass die Hauptinvestitionen in Zeit und Geld am Anfang des Entstehens neuer Techniken und Organisationskonzepte eingesetzt werden. Mit einem vergleichsweise geringen Mitteleinsatz lässt sich im Entstehungszyklus sehr viel beeinflussen, so dass die Weichen gleich richtig gestellt werden können. So geschehen in dem vorab erwähnten Praxistest eines mobilen Notrufsystems. Die Testnutzer hatten festgestellt, dass die Akkulaufzeit des Gerätes sehr kurz ist und daher für einen Echteinsatz wie zum Beispiel für eine ausgedehnte Wanderung oder für eine Radtour nicht geeignet. Diese Erfahrung wurde an die Techniker weitergegeben und innerhalb kürzester Zeit konnte die Akkulaufzeit maßgeblich verlängert werden. Eine wesentliche Erfolgsvoraussetzung für neue Entwicklungen ist eine zielgerichtete Bedarfsanalyse. Sie kann wirkungsvoll nur durch das Involvement potenzieller Nutzer erfolgen. Denn diese sind Experten für ihre eigene Lebenswelt und können ihre Bedürfnisse am besten einschätzen. Eine durchgängige Einbindung der Nutzer in den Entwicklungsprozess kann zudem den Innovationsprozess und den Transfer in die Praxis fördern, da so potenzielle Implementierungsprobleme frühzeitig aufgedeckt und kostengünstig behoben werden können. Ein weiteres Problem für eine erfolgreiche Implementierung von Innovationen sind Akzeptanzbarrieren seitens der Nutzer und anderer Stakeholder wie Pflegekräfte, Ärzte, Angehörige etc. Diese können ebenfalls durch eine frühzeitige Einbindung in den Entwicklungsprozess abgebaut werden. In einem Ambient Assisted Living Projekt, welches die reale Lebenswelt älterer Menschen mit Elementen virtueller sozialer Netzwerke verbindet, wurden zur Definition von Benutzeranforderungen und zur Klärung der Akzeptanz des Systems nicht nur ältere Menschen, sondern auch Einrichtungsleiter eingebunden. Zunächst standen die Einrichtungsleiter dem System mit Skepsis gegenüber, da ihrer Meinung nach moderne Technologien nichts für ältere Menschen in Senioreneinrichtungen sind. Doch wurde im Laufe des Workshops erkannt, dass man dieses System auch sinnvoll als eine Art Informationssystem in Senioreneinrichtungen nutzen kann. Durch die Einbeziehung der Caregiver konnten dadurch erste Barrieren und Vorbehalte gegenüber einem Technikeinsatz minimiert werden und zugleich ein weiteres Anwendungsfeld für das System gefunden werden.
648
Vgl. hierzu Hansen (2005), S. 248 ff.
437
2.2 Sozial- und Gesundheitsunternehmen als Forschungspartner Sozial- und Gesundheitsunternehmen sind attraktive und auch notwendige Forschungspartner fiir Universitäten und Forschungsinstitute sowie für industrielle Partner. Sie sollten sich aktiv in Forschungsvorhaben einbringen und ihre besondere Kompetenz, die neben einer Art „Vermittlerfunktion" zwischen Anwender und Technik auch ethische Aspekte umfasst, für die Erforschung innovativer Techniken nutzbar machen. 6 4 9 Dies sei erneut an dem Beispiel des mobilen Notrufsystems verdeutlicht: Das Gerät ist mit einer SIM-Karte ausgestattet und kann daher über das Mobilfunknetz kommunizieren. Beim Praxistest wurde festgestellt, dass die Ortung nicht immer zuverlässig funktioniert. Dieses Ergebnis wurde den Technikpartner zugeleitet. Wie diese richtigerweise feststellten, lag das Problem der mangelhaften Ortung nicht an dem Ortungssystem, sondern am Mobilfunknetz, welches nicht immer verfügbar war. Aus Sicht der Techniker funktionierte daher die Ortung fehlerfrei. Aus Sicht des Nutzers ist es jedoch uninteressant, welche Komponente in dem System nicht zuverlässig funktioniert. Schlussendlich zählt für den Nutzer das Ergebnis, d. h. die Frage, ob jederzeit bei einem Notfall eine Ortung möglich ist oder nicht. Für die Nutzer- und damit für die Marktakzeptanz ist dies aber entscheidend.
Zugang zu Zielgruppen Eine spezifische Aufgabe von Sozial- und Gesundheitsunternehmen im Rahmen der Forschungsprojekte kann es sein, eine ethisch verantwortbare Erhebung von Bedürfnissen und Anforderungen durchzufuhren, eine Evaluation durch Tests im Rahmen der Umsetzung in Labormuster und Prototypen vorzunehmen sowie die Technikpartner zu beraten. Um wissenschaftlich fundierte Aussagen und verwertbare Ergebnisse zu erzielen, ist es wichtig, Vertreter der einzelnen Gruppen der Stakeholder frühzeitig am Forschungs- und Entwicklungsprozess zu beteiligen. Dies kann zum Beispiel durch ein .Komitee fiir Zukunftstechnologien' erreicht werden: Interessierte Personen aus den verschiedenen Zielgruppen, z. B. Angehörige, Pflegekräfte, Arzte und natürlich die potenziellen Nutzer selbst können sich zur freiwilligen Mitwirkung anmelden. Sie werden dann je nach Themenstellung und Beratungsbedarf in die Forschungsprojekte einbezogen. Möglichkeiten der Mitwirkung sind zum Beispiel Teilnahme an Sitzungen, Workshops, Interviews, Fokusgruppen oder an Expertengesprächen.
649
Vgl. Horneber/Pensky/Macco (2011).
438
Netzwerkpartner Durch die in der Regel langjährige und ein breites Spektrum der sozialen Arbeit umfassende Tätigkeit von Sozial- und Gesundheitsunternehmen sind diese in besonderer Weise geeignet, eine Pilotfunktion für die Weiterentwicklung und Anpassung erforderlicher Angebote fiir neu entstehende oder sich wandelnde Bedarfe und Bedürfnisse wahrzunehmen. Sie stehen in Kontakt mit verschiedenen Stakeholdern aus der Gesundheits- und Sozialbranche (z. B. Kranken- und Pflegekassen, Arzte, Krankenhäuser). Durch die schon bestehenden Kontakte haben sie die Möglichkeit, als Systemanbieter ein komplexes Netzwerk aus unterschiedlichen Stakeholdern aufzubauen und die einzelnen Tätigkeiten zu koordinieren.
Gesundheitsökonomisches Know-how Für die erfolgreiche Implementierung innovativer Assistenzsysteme ist ein überzeugendes und nachhaltiges Geschäftsmodell erforderlich. Dieses beinhaltet Antworten u. a. auf folgende Fragen: Welche Zielgruppen können erschlossen werden? Wie sieht die regionale Abgrenzung aus? Und wie steht es mit der Preiselastizität der Nachfrage? Intensives gesundheitsökonomisches Know-how ist zwingend notwendig, um einen tragfahigen Business-Plan zu entwickeln sowie um die Zahlungsbereitschaft der Kunden abschätzen zu können. Aufgrund des breiten Tätigkeitsspektrums im sozialen Bereich verfugen gerade Sozial- und Gesundheitsunternehmen über fundiertes Wissen im Bereich sozialpolitischer Finanzierungsstrukturen. Also genau über jenes Know-how, welches technischen Innovatoren in der Regel kaum zur Verfugung steht.
Der Mensch im Mittelpunkt Trotz finanzieller Restriktionen im Gesundheitswesen muss die soziale Balance im Auge behalten werden. Christliche Werte und ein menschlicher Umgang mit Kranken und Schwachen sind genauso wichtig wie technischer Fortschritt und wirtschaftliche Interessen. Der Mensch muss immer im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen. Um dies zu gewährleisten, ist eine ethische Bewertung innovativer Assistenzsysteme und Techniken im Hinblick auf ihre Chancen und Risiken sowie möglichen Folgewirkungen wichtig. Aus ihrer Tradition heraus sind gerade kirchliche Sozial- und Gesundheitsunternehmen fiir eine ethische Beurteilung prädestiniert. Ein Beispiel aus einem Forschungsprojekt zeigt, wie diese besondere Verantwortung wahrgenommen wird:
439 In einem Workshop wurde Pflegekräften ein Ortungssystem vorgestellt, welches ein Signal abgibt, sobald ein Bewohner bzw. der Geräteträger einen vorab definierten Bereich (z. B. die Einrichtung) verlässt. Dadurch kann der Bewohner sich frei und sicher in einem bestimmten und für ihn ungefährlichen Bereich bewegen. Ein Aspekt, welcher gerade bei dementieil erkrankten Menschen wünschenswert ist. Des Weiteren ist es der Pflegekraft möglich, den Bewohner bei Nichtauffinden zu orten. Dadurch kann viel Zeit bei der Suche nach Bewohnern z. B. für das Zusammenkommen zum gemeinsamen Mittagessen gespart werden. Doch auf der anderen Seite gaben die Pflegekräfte zu bedenken, dass in diesem Fall die Grenze zwischen Ortung und Überwachung sehr fließend ist. Die Dilemmasituation ergibt sich demnach aus der Freiheit und Sicherheit auf der einen Seite und der Überwachung des Bewohners auf der anderen Seite.
3
Ethische Beurteilung und Prüfung des Nutzens innovativer Techniken
Ein wesentlicher Grund dafür, ethische Maßstäbe zur Beurteilung technischer Systeme heranzuziehen, liegt darin, dass Technik eine „Ausübung menschlicher Macht ist, d. h. eine Form des Handelns, und alles menschliche Handeln moralischer Prüfung ausgesetzt ist."650 Die Erforschung und die Verwendung von Technik ganz generell werfen bereits anspruchsvolle Fragestellungen auf. Der assistive Einsatz von technischen Potenzialen im direkten persönlichen Kontakt gerade auch bei hilfsbedürftigen Menschen verstärkt die Notwendigkeit eines verantwortungsbewussten Umgangs. Jonas nennt fünf Kriterien, die eine ethische Beurteilung des Technikeinsatzes erfordern: Die Ambivalenz der Wirkungen von Technik, die Zwangsläufigkeit von deren Anwendung, ihr globales Ausmaß in Raum und Zeit, die Durchbrechung des anthropozentrischen Monopols der früheren ethischen Systeme sowie schließlich die Aufwerfung der metaphysischen Frage durch das grundsätzliche apokalyptische Potenzial der Technik.651 Zukunftsfragen von weitreichender Bedeutung müssen sich bei aller Schwierigkeit sie zutreffend zu beurteilen, nicht einer rationalen Entscheidungsfindung entziehen. Würde man eine systematische Technikbeurteilung unversucht lassen, würde man das Feld der Ideologie überlassen.
650 651
Jonas (1987), S. 42. Vgl. Jonas (1987), S. 4 2 ff.
440
3.1 Probleme der Technikbeurteilung und Technikbewertung Ohne Zweifel stecken enorme ambivalente Innovationspotenziale darin, Technik im Sozial- und Gesundheitssektor einzusetzen. Um dieser Ambivalenz von Technikfolgen zu begegnen, können zwei komplementäre Ansätze herangezogen werden: Zum einen das Konzept der ethischen Techniksteuerung in Form der Berufsethik der spezifischen Forscher und Entwickler und zum anderen das Konzept der politischen Techniksteuerung, auch Technikfolgen-Abschätzung oder Technikbewertung genannt. Da Technisierung ein sozialer Prozess ist, kann und muss dieser in letzter Konsequenz gesellschaftlich verantwortet werden. Der moralphilosophische Diskurs der individualistischen Ethik und der sozialphilosophische Diskurs der politischen Technikbewertung muss zu einer Synthese zusammengeführt werden. 652 Parallel zur Verankerung ethischer Maßstäbe in der Forschung und Entwicklung im technischen Bereich ist es daher geboten, bestehende Methoden und Instrumente der Technikbeurteilung und der Technikbewertung653 weiterzuentwickeln bzw. neue Ansätze zu etablieren. Es geht darum, mögliche negative Folgen des Technikeinsatzes zu vermeiden. Die besondere Schwierigkeit liegt dabei darin, dass zum einen auf der sachlichen Ebene eine enorm hohe Informationskomplexität zu bewältigen ist. Zum anderen lassen sich potenzielle positive wie negative Effekte nicht direkt messen, so dass die Entwicklung eines Indikatorensystems654 erforderlich ist. Die Indikatoren aus unterschiedlichen Bereichen, wie der Technik, der Ökonomie und der Ethik müssen in einem mehrdimensionalen Ziel- und Wertesystem miteinander in Einklang gebracht werden. Auf der zeitlichen Ebene geht es schließlich darum, auch weit in der Zukunft liegende Folgewirkungen und Konsequenzen ex ante einer Beurteilung zugänglich zu machen.
3.2 Indikatoren und Instrumente zur Beurteilung assistiver Techniken Ziel assistiver Techniklösungen in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft ist die Erhöhung der Lebensqualität und Sicherheit. In einem ausgewogenen Beurteilungs- und Bewertungsprozess müssen vor dieser Zielsetzung Chancen und Risiken, spezifischer Bedarf und Potenziale verantwortungsvoll geprüft werden.
Vgl. Ropohl (1999), S. 29 f. Vgl. hierzu z. B. Fischer (2004), S. 189 ff. oder ausführlich Metze (1980). 654 Yg| z u r Messung mittels Indikatoren Randolph (1979). 652
653
441 Hierzu können als Indikatoren beispielsweise der Zugang zu neuen Techniken also die Frage nach der Verteilungs-655 und Teilhabegerechtigkeit656 sowie Indikatoren, die die Wirkungsmechanismen der Technik betreffen herangezogen werden. Grundsätzlich sollte der Zugang zu innovativen technischen Systemen für alle gleichermaßen gewährleistet sein. Doch nicht immer wird das der Fall sein. Hemmende Faktoren können sein: ein nicht fiir alle bezahlbares Dienstleistungsangebot, ein für die Technik nicht geeignetes häusliches Umfeld. Oder die betroffene Person verfugt nicht über die entsprechenden Fähigkeiten mit komplexen Techniken umzugehen. Hinsichtlich der Wirkmechanismen stellt sich die Frage, inwieweit ein technisches Assistenzsystem die bei dem Anwender noch vorhandenen Kompetenzen fördert oder im Gegenteil eher schwächt, so dass es zu einem sich verstärkenden Unterstützungsbedarf kommt. Ein anderer wichtiger Aspekt ist die persönliche Begegnung und der körperliche Kontakt. Zwar können moderne Kommunikationsmedien der Einsamkeit entgegenwirken, doch ersetzen sie nicht die persönliche Begegnung und den körperlichen Kontakt, der gerade in der Pflege eine wichtige Rolle einnimmt. Ein Beispiel: Mehrere Hersteller bieten Geräte mit einer Sensorik an, die eine laufende, automatische Kontrolle des Blutdrucks erlauben. Wir haben Pflegekräfte unserer Einrichtungen um ihre Beurteilung des Geräts gebeten. Ihre übereinstimmende Meinung dazu war, dass das Messen des Blutdrucks besser im persönlichen Kontakt mit dem Menschen erfolgen sollte. Im Rahmen der Messung kann zugleich ein Gespräch geführt werden und der Gesundheitszustand bzw. das Wohlbefinden ganz allgemein überprüft werden. Allerdings würde es sehr begrüßt werden, wenn der Dokumentationsaufwand durch eine telemetrische Übertragung der Messwerte in eine elektronische Gesundheitsakte erfolgen würde. Ein Teil des belastenden Dokumentationsaufwands könnte so elegant geleistet werden. Diese nur exemplarisch genannten Aspekte und Beispiele verdeutlichen die Notwendigkeit einer ethischen Beurteilung der Entwicklung einer innovativen Lösung und der daraus resultierenden potenziellen Folgewirkungen bevor die konkrete Technik flächendeckend zum Einsatz kommt. Ethische Beurteilungen sind außerhalb des Medizintechnikgesetzes für technische Entwicklungen eher die Ausnahme und erscheinen den meist marktorientierten Interessen auf den ersten Blick wenig förderlich. Erst bei genauerer Betrachtung 655 yg[ z u Kontrollfragen' im Hinblick auf die Beurteilung der Verteilungsgerechtigkeit: Kreß (2009), S. 1 1 0 ff. 656 Ygj
zur
Teilhabe- oder Partizipationsgerechtigkeit ausfuhrlich: Kreß (2009), S. 1 0 6 ff.
442 erkennt man, dass aus der Beantwortung einiger Fragen wertvolle und den Erfolg des innovativen technischen Potenzials unterstützende Erkenntnisse gewonnen werden. Assistive Techniken sind nicht immer klar von medizinischen Geräten zu unterscheiden, die Grenze verschwimmt zu einem Graubereich. Schon allein deshalb sollten einige Fragestellungen bedacht werden: Wer steht für den Betrieb und eventuelle Fehler des Systems in der Verantwortung, wie viel Verantwortung ist der betreuenden Person zu zumuten, welche Konsequenzen entstehen aus Programmfehlern, Bedienfehlern oder Fehlinterpretationen und wer haftet dafür? Wie kann ein Grundverständnis über die technische Funktionsweise und eine Transparenz des Systems hergestellt werden, die grundlegende Voraussetzungen für unabhängige und selbstbestimmte Entscheidungen des Nutzers der spezifischen Technik sind? Wie kann gewährleistet werden, dass Technik den Benutzer nicht durch Lenkung und gezielte Information in seiner Entscheidungsfreiheit beeinflusst? Ab wann kann technische Unterstützung negative Auswirkungen auf die Gesundheit haben - beispielsweise wenn durch die Abnahme der haushälterischen Tätigkeiten der Bewegungsmangel gefördert wird und die Isolation einzelner Menschen entsteht? Es stellt sich die Frage wie bzw. welches Gremium die exemplarisch angeführten Fragestellungen und zahlreiche weitere relevante Themenbereiche in einem strukturierten Prozess lösungsfördernd beraten soll. Grundsätzlich lassen sich drei Ebenen der ethischen Beratungspraxis unterscheiden:657 Die erste Ebene ist die Beratung in Fallbesprechungsgremien, z. B. in klinischen oder anderen unternehmensinternen Ethik-Komitees. Denkbar ist, eine spezifisch auf ethisch-technische Fragestellungen ausgerichtete Ethikkommission658 zu etablieren. Sie kann unternehmensinternen, beratenden Charakter haben oder als extern besetzte Kommissionen fungieren. Eine solche Kommission sollte interdisziplinär besetzt sein. Experten könnten aus den Bereichen Gerontologie, Medizin, Theologie/Ethik, Ökonomie, Technik und Recht kommen. Der zweite Typus der ethischen Beratungspraxis arbeitet auf der Ebene der Politikberatung, wie z. B. der Deutsche Ethikrat. Dessen Aufgabe ist es, ein plurales Meinungsspektrum der Gesellschaft abzubilden. Eine dritte Gruppe ethischer Kommissionen stellen Beratungsgremien zur Zulässigkeit von Forschungsprojekten, z. B. im biomedizinischen Bereich dar. Exemplarisch angeführt werden kann hier die Zentrale Ethikkommission für Fragen der Stammzellenforschung am Robert-Koch-Institut.
Vgl. zu den drei Ebenen: Grau (2010). 658 Yg[ z u r Technikethik als Teilgebiet der angewandten Ethik: Fischer (2004), S. 180 ff
657
443 Die Potenziale, mit assistiven Techniken die Dienstleistungsqualität in der Sozialund Gesundheitswirtschaft erheblich zu verbessern, sind groß. Diese Potenziale zu heben, bedeutet für die einschlägigen Unternehmen allerdings, sich gezielt und systematisch auf ein bislang nicht bearbeitetes Themenfeld zu begeben. Dies wird in aller Regel nicht problemlos möglich sein, sondern erhebliche unternehmensinterne Diskussionsprozesse auslösen, die auch zu einer strategischen Repositionierung des Dienstleisters fuhren können. Vor allem müssen FuE- und Innovationsmanagement aufgebaut und wirkungsvoll miteinander verbunden werden. Schließlich sind klare Antworten auf die schwierige Frage nach der ethischen Beurteilung der verfugbaren technischen Potenziale zu formulieren. Wir sind allerdings sicher: Unternehmen in der an Dynamik zunehmenden Sozial- und Gesundheitsbranche werden sich nur dann erfolgreich in die Zukunft entwickeln, wenn sie sich intensiv mit einem ethisch vertretbaren Technikeinsatz auseinandersetzen.
Literatur Fischer, P. (2004): Philosophie der Technik, München 2004. Grau, A. (2010): Religion in bioethischen Diskursen. Welche Kompetenzen können Vertreter der Kirchen beanspruchen, und wo ist ihre Grenze, in: FAZ v. 29.12.2010, S. N 4 . Häcker, J.; Hackmann, T.; RafFelhüschen, B. (2009): Auswirkungen der Finanzund Wirtschaftskrise auf Diakonische Einrichtungen, Studie erstellt für den Verband diakonischer Dienstgeber in Deutschland e.V., Freiburg 2009 (nicht veröffentlicht). Hansen, H.R.; Neumann, G. (2005): Wirtschaftsinformatik 1. Grundlagen und Anwendungen, 9. Aufl., Stuttgart 2005. Horneber, M. (2010a): Innovative Technik in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft. In: Horneber, M.; Heibich, P.; Raschzok, K. (Hrsg.): Dynamisch Leben gestalten. Stuttgart 2010, S. 148-175. Horneber, M. (2010b): Forschung und Entwicklung in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft, in: König, J. et al. (Hrsg.): Sozial wirtschaften - nachhaltig handeln - Consozial 2010, München 2010. Horneber, M. (2011): Innovationsbarrieren beim Einsatz innovativer Assistenzsysteme. In: Horneber, M.; Schoenauer, H. (Hrsg.): Lebensräume — Lebensträume. Stuttgart 2011, S. 140-158.
444 Horneber; M.; Pensky, N.; Macco, K. (2011): Warum Sozial- und Gesundheitsunternehmen attraktive Partner für die Forschung und Entwicklung innovativer assistiver Techniken sind, Paper im Rahmen des 4. Deutscher AAL — Kongress, Berlin 2011. Jonas, H. (1987): Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt am Main 1987. Kreß, H. (2009): Medizinische Ethik. Gesundheitsschutz - Selbstbestimmungsrechte - heutige Wertkonflikte, 2. Aufl., Stuttgart 2009. Metze, G. (1980): Grundlagen einer allgemeinen Theorie und Methodik der Technologiebewertung, Göttingen 1980. O.V. (Medizintechnik 2011): In der Medizintechnik herrscht Zuversicht, in: FAZ vom 6.1.2011, S. 13. Puch, H.J.; Schellberg, K. (2010): Sozialwirtschaft in Bayern. Umfang und wirtschaftliche Bedeutung, Nürnberg 2010. Randolph, R. (1979): Pragmatische Theorie der Indikatoren, Grundlagen einer methodischen Neuorientierung, Göttingen 1979. Ropohl, G. (1979): Eine Systemtheorie der Technik. Zur Grundlegung der Allgemeinen Technologie, München-Wien 1979. Ropohl, G. (1999): Technologische Aufklärung. Beiträge zur Technikphilosophie, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1999. Siegemund, A. (2009): Technik als Wertsetzung und Lebenspraxis. Verständnis und Ethik einer Ausdruckspraxis, Leipzig 2009.
Wollgang Gitter
Das Pflegefallrisiko - ein Thema bei der Gründung der Forschungsstelle für Sozialrecht und Gesundheitsökonomie und heute 1. Der Aufbau der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth erfolgte unter der Leitlinie, eine Gesamtstruktur unter weitgehender gegenseitiger Integration und Interdependenz der beiden Fächergruppen zu realisieren. 659 Aufgrund dieser Zielsetzung arbeiteten die Lehrstühle für Bürgerliches Recht, Arbeits- und Sozialrecht (Prof. Gitter) und Volkswirtschaftslehre (Prof. Oberender) eng zusammen. Nach intensiver Vorbereitung wurde von ihnen am 22.2.1984 die Forschungsstelle für Sozialrecht und Gesundheitsökonomie als erstes interdisziplinäres Forschungsinstitut der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät eröffnet. Die Aufgabe der Forschungsstelle wurde darin gesehen, aktuelle Fragestellungen des Sozialrechts und der Gesundheitsökonomie im Spannungsfeld zwischen Recht und Ökonomie aufzugreifen, kritisch zu begleiten und wissenschaftlich fundierte Entscheidungshilfen zu erarbeiten. Nach ihrem Selbstverständnis sollte die Forschungsstelle neben ihrer Interdisziplinarität die Funktion als „institutionelles Scharnier" zwischen Forschung und Praxis einnehmen, Probleme des Sozial- und Gesundheitswesens anwendungsorientiert diskutieren und Problemlösungen für Gesetzgebung und Rechtsanwendung entwickeln. Bei der Eröffnungsveranstaltung der Forschungsstelle betonte der Bayerische Staatsminister für Arbeits- und Soziales, Dr. Pirkl, 660 dass gerade hier in Bayreuth Theorie und Praxis besonders gute partnerschaftliche Beziehungen pflegen. Dies gelte insbesondere im Hinblick auf die Bayreuther Sozialrechtstage, die in vorbildlicher Zusammenarbeit zwischen der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät und der LVA Oberfranken und Mittelfranken regelmäßig veranstaltet werden. Mit der Einrichtung der Forschungsstelle werde ein weiterer wichtiger Schritt unternommen, um das vorhandene Defizit an systematischen Entscheidungshilfen in der Sozial- und Gesundheitspolitik abzubauen. Für seinen Vortrag hatte Staatsminister Pirkl das seit Jahren umstrittene und diskutierte Thema,Absicherung des Lebensrisikos der Pflegebedürftigkeit - eine sozialund ordnungspolitische Herausforderung" gewählt. Er betonte zunächst,661
659 660 661
Wolf, Jahresbericht des Präsidenten 1984, Festvortrag, S. 17. Gitter/Oberender (Hrsg.), Pflegefallrisiko, S. 7. Gitter/Oberender (Hrsg.), Pflegefallrisiko, S. 8.
446 •
dass trotz aller Kontroversen ein breiter Konsens über die Dringlichkeit einer Neuregelung zwischen den Parteien, Organisationen und gesellschaftlich relevanten Gruppen bestehe. Man wolle sich nicht mehr damit abfinden,
•
dass immer mehr Bürger außerstande sind, ihre Pflegekosten aus eigenen Einkommen zu finanzieren,
•
dass deshalb insbesondere viele ältere Mitbürger, die ein Leben lang hart gearbeitet und sich einen vermeintlich gut gesicherten Lebensabend erarbeitet haben, zu Kostgängern der Allgemeinheit werden,
•
und dass demzufolge das Auffangnetz Sozialhilfe in systemwidriger Weise im Falle der Pflegebedürftigkeit inzwischen zum hauptsächlichen Kostenträger geworden ist.
Trotz dieser Übereinstimmungen sei es nicht gelungen, ein gemeinsames Lösungskonzept zu entwickeln. Dies sei im Hinblick auf ordnungspolitische Fragen und die Finanzierbarkeit einer Neuregelung gescheitert. Vor Darstellung des von ihm entwickelten und der Bayerischen Staatsregierung im April 1982 gebilligten Regelungskonzepts ging Dr. Pirkl noch kurz auf das in den Niederlanden seit dem 1.4.1968 geltende Modell ein. Nach diesem Gesetz besteht der Sicherungsschutz für alle Bürger bei Pflegebedürftigkeit, wobei ein eigenständiger Versicherungszweig geschaffen wurde, der durch die Krankenkassen mitverwaltet und durchgeführt wird. In der Praxis habe sich dies so ausgewirkt, dass seit dem Inkrafttreten des Gesetzes die Zahl der Pflegefalle und Pflegetage kontinuierlich angestiegen sei und sich innerhalb von 13 Jahren mehr als verdoppelt habe. Besonders bedenklich erscheine die Entwicklung der Pflegekosten, die zwischen 1969 und 1981 auf mehr auf das Neunfache gestiegen seien. Kritisch äußerte Dr. Pirkl sich auch zum im Frühjahr 1980 vorgelegten Bericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Aufbau und Finanzierung ambulanter und stationärer Pflegedienste". Darin war mehrheitlich die Auffassung vertreten worden, dass sowohl eine eigenständige Pflegeversicherung als auch ein Bundespflegegesetz die meisten Anforderungen an eine sachgerechte Neuregelung erfüllen würden. Nach seiner Auffassung sei ein Bundespflegegesetz ein wesentlicher Schritt in Richtung Staatsversorgung. Eine eigenständige Pflegeversicherung würde — selbst wenn sie von den Trägern der Krankenversicherung durchzuführen wäre - den Keim zur umfassenden Volksversicherung, zur Zentralisierung sowie zum Finanzausgleich in sich tragen.
447 Aufgrund dieser ordnungspolitischen Überlegungen sei das Bayerische Konzept mit folgenden Forderungen entwickelt worden: 662 Erstens soll die Absicherung des Pflegefallrisikos durch Erweiterung der gesetzlichen Krankenversicherung erfolgen. Eine derartige Regelung sei sowohl für einen ersten Einstieg als auch für eine schrittweise Verwirklichung einer optimalen Absicherung am besten geeignet. Zweitens müsse eine zusätzliche Belastung der Beitragszahler vermieden werden, so dass nur ein im Ergebnis beitragsneutraler Einstieg vertretbar sei, der sich auf eine Minimallösung beschränken muss. Als solche komme eine Beschränkung auf den häuslichen Bereich der Pflege in Betracht, indem die Leistungen der häuslichen Krankenpflege des § 185 RVO auf die Pflegefälle ausgedehnt werden. Damit würde dem Grundsatz einer vorrangigen Pflege in der Familie entsprochen. Schließlich sollten, damit die Kostenentwicklung kalkulierbar bleibt, vorerst nur schwere Fälle ab dem 65. Lebensjahr erfasst werden. Abschließend betonte Dr. Pirkl, dass nach seiner Auffassung nicht nur über die sozialgesetzliche Absicherung des Pflegefallrisikos diskutiert werden sollte, sondern auch die private Absicherung stärker in die Diskussion einbezogen werden sollte. Die Chancen und Risiken einer auf Eigeninitiative und Selbstverantwortung basierenden privaten Absicherung müssten wissenschaftlich aufgearbeitet und damit den Verantwortlichen eine weitere Entscheidungshilfe bei der Lösung der mit dem Pflegefall verbundenen Probleme gegeben werden. Zu dem Thema „Pflegefallrisiko" nahmen im Anschluss auch die Professoren Gitter 663 und Oberender 664 aus juristischer und ökonomischer Sicht Stellung. Prof. Gitter ging auf die rechtshistorischen, rechtsdogmatischen, rechtspolitischen und rechtsvergleichenden Aspekte des Themas ein. Bei rechtshistorischer Betrachtung ergebe sich, dass die Absicherung der Pflegebedürftigkeit nur scheinbar ein Problem neueren Datums sei. Die Diskussion um diese Thematik habe nämlich schon kurz nach der Verabschiedung des Krankenversicherungsgesetzes von 1883 begonnen. Allerdings sei es dabei nicht um die Frage, ob eine soziale Pflegeversicherung mit Versicherungszwang geschaffen werden sollte, gegangen, sondern die Pflege eines besonderen Personenkreises, der Geisteskranken. Zu diesem Zweck wurde 1885 eine freiwillige Pflegeversicherung geschaffen, deren Träger der „Verein zur Unterstützung Geisteskranker" in Nürnberg war. Die Tätigkeit des Vereins wurde in der „Frankfurter Zeitung" folgender662 663 664
Gitter/Oberender (Hrsg.), Pflegefallrisiko, S. 11. Gitter/Oberender (Hrsg.), Pflegefallrisiko, S. 16 ff. Gitter/Oberender (Hrsg.), Pflegefallrisiko, S. 27 ff.
448 maßen gewürdigt: 665 „Würde es gelingen, eine Versicherung wie die Nürnberger weiteren Kreisen unseres Volkes zugänglich zu machen, so würde dies eine unschätzbare Hilfe für viele Familien sein, die heute für ein geisteskrankes Mitglied schwere Opfer bringen, ja mitunter das ganze Vermögen hingeben müssen. Es ist aber leicht verständlich, dass eine derartige Pflegeversicherung auch allgemeine Interessen des Gemeinwesens und des Staates wahrnimmt, indem sie verhütet, dass viele gesicherte kleine Existenzen der Mittelschicht in Verfall und in Abhängigkeit von der Armenpflege geraten." Diese Argumente für die Einrichtung einer Pflegeversicherung vor dem Ersten Weltkrieg waren zwar primär auf die Pflege Geisteskranker ausgerichtet, haben aber noch heute Bedeutung. Heute sieht sich allerdings der real existierende Familienverband häufig nicht in der Lage, die normale Pflege von Familienmitgliedern zu übernehmen. Darin zeigt sich der Wandel familiärer Beziehungen. Zugleich hat die Kostenproblematik damit für weitere Bevölkerungskreise Bedeutung erlangt. Zu einer gesetzlichen Absicherung des Pflegefallrisikos ist es zunächst nicht gekommen. Eine Einbeziehung in den bereits bestehenden Krankenversicherungsschutz ist nicht erfolgt. Dies wurde schon aus rechtsdogmatischen Gründen abgelehnt, da die Altersgebrechlichkeit nicht als Krankheit im Sinne eines „regelwidrigen körperlichen oder geistigen Zustands, der Arbeitsunfähigkeit und/oder Behandlungsbedürftigkeit zur Folge hat", angesehen wurde. Bei dieser vom Begriff der Krankheit ausgehenden Interpretation wäre es unzulässig erschienen, das Risiko der Pflegebedürftigkeit der Krankenversicherung anzulasten. Die bestehende Problematik hat aber zu langdauernden rechtspolitischen Auseinandersetzungen geführt. Dabei wurden privatrechtliche und öffentlich-rechtliche Gestaltungsformen diskutiert. Für privatrechtliche Regelungen wurden geltend gemacht, dass damit dem Prinzip der Eigenvorsorge Rechnung getragen würde. Problematisch sei jedoch, dass bei privater versicherungsrechtlicher Abdeckung des Pflegefallrisikos soziale Ausgleichsmechanismen fehlen, so dass für Bürger mit geringem Einkommen der Versicherungsschutz schwer tragbar wäre. Für öffentlich-rechtliche Gestaltungsformen wurde vorgebracht, dass die Pflegebedürftigkeit ein allgemeines Lebensrisiko darstellt, dessen Einbeziehung in die Sozialversicherung nicht systemfremd wäre. Auch könne innerhalb der Sozialversicherung der soziale Ausgleich gewährleistet werden. Problematisch erscheine jedoch die Frage, welcher Personenkreis in den Sozialversicherungsschutz einbezogen werden sollte. So wurde vorgeschlagen, die Versicherung auf nach ihrer Einkommenslage sicherungsbedürftige Bürger zu beschränken. Bei einer derartigen Beschränkung auf die „schlechten Risiken" könnte jedoch der soziale Ausgleich 665
Gitter/Oberender (Hrsg.), Pflegefallrisiko, S. 16 f.
449 nicht funktionieren. Deshalb wurde auch eine Pflicht-Pflegeversicherung für jedermann mit beitragsfreiem Versicherungsschutz für Personen ohne Einkommen vorgeschlagen. Dieser Schritt in Richtung Staatsbürgerversorgung wurde jedoch, wie es auch im Referat von Dr. Pirkl zum Ausdruck kam, als politisch nicht akzeptabel abgelehnt. Die Problematik einer Pflicht-Pflegeversicherung zeige sich auch bei rechtsvergleichender Betrachtung im Beispiel der Niederlande. Die dort eingeführte Volksversicherung habe zu einem stetigen Anstieg der Pflegefälle, Pflegetage und Kosten gefuhrt, so dass eine Selbstbeteiligung mit steigenden Beiträgen eingeführt werden musste. Abschließend betonte Prof. Gitter, dass die Regelung des Pflegefallrisikos einer sorgfältigen Abwägung bedürfe. Auf der einen Seite gebiete das Sozialstaatsprinzip, dass die gegenwärtige lückenhafte Abdeckung des Pflegefallrisikos ausgebaut wird, aber auf der anderen Seite müsse dieser Ausbau des sozialen Schutzes in Einklang mit den Wertvorstellungen des Grundgesetzes erfolgen und damit der Würde der Person und dem besonderen verfassungsrechtlichen Schutz der Familie Rechnung tragen. Prof. Oberender kritisierte in seinem Beitrag 666 die geplante Einbeziehung des Pflegefallrisikos in die Sozialversicherung. Nach seiner Auffassung zeigen die bisherigen Erfahrungen mit der gesetzlichen Krankenversicherung in der Bundesrepublik sowie mit der Pflegeversicherung in den Niederlanden, dass die Einfuhrung einer Zwangsversicherung mehr Probleme aufwirft als zur Lösung des Pflegefallrisikos beiträgt. Das Gebot der Stunde müsse es deshalb sein, den Sozialstaat zurückzudrängen, um einer weiteren Entmündigung des Einzelnen durch den Staat sowie einer zunehmenden Belastung der Einkommen durch Sozialabgaben entgegenzuwirken. Hierzu sei eine ordnungspolitische Neuordnung unerlässlich. Zur Erhaltung und Sicherung der persönlichen Freiheit gehöre es, dass ein genügend großer Handlungsspielraum für Eigenverantwortung, Eigeninitiative sowie Eigenvorsorge besteht. Die Forderung ftir den Pflegebereich könne deshalb nur lauten: Eigenvorsorge soweit wie möglich, staadiche Hilfe soweit wie nötig. Nicht mehr Staat, sondern mehr Markt bei angemessenem Schutz wirtschaftlich Schwacher, aber auch die Förderung wirtschaftlich aktiver Kräfte müsse deshalb die ordnungspolitische Maxime sein. Prof. Oberender betont, dass es verfehlt wäre, das historisch gewachsene Solidarprinzip so ohne Weiteres aufzugeben. Es müsse aber verhindert werden, dass durch einen weiteren Ausbau des Sozialstaats dieses Prinzips weiter sukzessive ausgehöhlt 666
Gitter/Oberender (Hrsg.), Pflegefallrisiko, S. 27 ff., 36.
450 wird. Es müsse wieder auf den Bereich reduziert werden, für den es ursprünglich gedacht war, nämlich auf kleine, nicht anonyme Gruppen. Deshalb hielt es Prof. Oberender für verfehlt, eine Zwangsversicherung in irgendeiner Form für das Pflegefallrisiko einzuführen. Stattdessen sei es auch im sozialen Bereich erforderlich, schrittweise mehr Handlungsspielraum für den Einzelnen zu schaffen. Mit der Problematik der Absicherung des Pflegefallrisikos war bei der Eröffnungsveranstaltung des Instituts ein Thema behandelt worden, mit dem unter politischen, juristischen und ökonomischen Aspekten auch in den Folgejahren eine intensive Auseinandersetzung stattfand. 667 Vom Institut ist diese Thematik noch einmal im Zusammenwirken mit der LVA Oberfranken und Mittelfranken bei den Bayreuther Sozialrechtstagen 1991 behandelt worden. Zu einer gesetzlichen Regelung kam es erst durch das „Gesetz zur Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit" vom 26. Mai 1994. 2. Mit diesem Gesetz ist die Pflegeversicherung als eine „eigenständige Säule" der sozialen Sicherheit in SGB XI geschaffen worden. Bereits 1995 haben sich die Bayreuther Sozialrechtstage wieder mit dieser Thematik auseinandergesetzt. Nach der gesetzlichen Regelung ist die Pflegeversicherung zwar ein eigenständiger Sozialversicherungszweig mit eigenständiger Finanzierung, sie steht aber unter dem Dach der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 1 Abs. 1 , 3 SGB XI). Die Aufbringung der Beiträge erfolgt zwar äußerlich dem Halbteilungsprinzip, durch Streichung eines landesweiten gesetzlichen Feiertags wird aber der Arbeitgeberanteil teilweise kompensiert (§ 58 SGB XI). Die Pflegeversicherung ist schließlich eine Volksversicherung, in Bezug auf das Risiko der Pflegebedürftigkeit sind alle - gesetzlich oder privat - Krankenversicherten pflichtversichert, entweder sozialversichert oder privatversichert. Das für die Sozialversicherung kennzeichnende soziale Schutzprinzip ist damit auch in der privaten Pflegeversicherung gültig. 668 Die Pflegeversicherung hat in der Bevölkerung hohe Akzeptanz gefunden, jedoch ist auch in den Folgejahren Reformbedarf angemeldet worden. Dabei ist vor allem eine Anpassung der seit Einfuhrung des Gesetzes unverändert gebliebenen Leistungen und eine Verbesserung der Qualität der pflegerischen Versorgung, insbesondere auch im Hinblick auf Menschen mit demenzbedingten Funktionsstörungen, gefordert worden. Der Gesetzgeber hat diesen Forderungen im Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung vom 28. Mai 2008 Rechnung getragen, 669 wobei allerdings eine grundlegende Überarbeitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs unterblieb. Mit der 667 668 669
Gitter, Sozialrecht, 4. Auflage, S. 1 2 6 ff. Waltermann, Sozialrecht, 8. Auflage, S. 109 f. Fuchs/Preis, Sozialversicherungsrecht, 2. Auflage, S. 4 0 2 f.
451 Anhebung des Beitragssatzes um 0,25 Prozentpunkte sollte die Ausweitung des Leistungsangebotes sowie die Auswirkungen der demographischen Entwicklung bis zum Jahre 2015 finanziert werden können. 670 Die Finanzierung stellt weiterhin das zentrale Problem der Pflegeversicherung dar. Ihr System der Umlagefinanzierung, in der die jeweils aktuellen Einnahmen den Bedarf der jeweils aktuellen Pflegebedürftigen decken müssen, stößt durch den demographischen Wandel zunehmend an die Grenzen der Finanzierbarkeit. Aufgrund von Hochrechnungen wird davon ausgegangen, dass die Anzahl der Pflegebedürftigen bis 2060 sich auf 4 Mio. Personen verdoppeln wird. Gleichzeitig geht die Zahl der Beitragszahler zurück. Allein die Veränderung der Bevölkerungsstruktur würde dazu führen, dass sich die Ausgaben der Pflegeversicherung fast verdoppeln. Um die nachwachsenden Generationen nicht unangemessen zu belasten, wird deshalb der Einstieg in eine kapitalgedeckte Finanzierung gefordert. 671 Diese Forderung hat auch politische Unterstützung erfahren. Im Koalitionsvertrag Union/FDP ist zum Ausdruck gebracht worden, 672 dass geplant ist, ein „verpflichtendes, individualisiertes und generationengerechtes Element" der Kapitaldeckung als Ergänzung zur Pflegeversicherung einzuführen. Diese Zielsetzung findet Anklang in der Bevölkerung. Aus Umfragen ergibt sich, dass deutlich mehr Bürger für einen Einstieg in eine Teilkapitaldeckung als für eine Erhöhung der einkommensabhängigen Beiträge votieren. 673 Im Koalitionsvertrag heißt es weiter: „Alle Bemühungen um eine finanzielle Absicherung des Pflegerisikos im Rahmen der Pflegeversicherung entbinden den Einzelnen nicht davon, seine Eigenverantwortung und Eigeninitiative zur Absicherung des Pflegerisikos und zur Gestaltung der Pflege wahrzunehmen." Durch eine zusätzliche Absicherung in Form einer privaten Pflege-Zusatzversicherung könnte dieser Forderung Rechnung getragen werden. Welche der geplanten gesetzlichen Regelungen letztlich getroffen werden, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt (Ende 2010) noch nicht sicher. Es ist zu hoffen, dass es - unter Anknüpfung an den Titel des Beitrags — gelingt, „heute" einen weiteren Schritt zur optimalen Absicherung des Pflegefallrisikos vorzunehmen.
670 671 672 673
BT-Drucks. 16/743, S. 1 f. Leienbach, Reform der Pflegeversicherung, in: Die Krankenversicherung 2010, S. 176 f. Leibenbach, a.a.O., S. 177. Reform der Pflegeversicherung, in: PKV publik 2010, Ausgabe 8, S. 8.
Hans-Peter Klös, Susanne Seyda
Bildungspolitik und präventive Gesundheitsförderung 1
Einleitung: Gesundheit und Bildung als Basis des Humanvermögens
Das Humanvermögen der Menschen basiert auf der Bildung und der Gesundheit der Menschen. Die Gesundheit ist eine wesentliche Voraussetzung zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und zur Sicherung der eigenen Existenz. Sie ist als Teil des Humankapitals eine wichtige Voraussetzung für die Erwerbsbeteiligung. Nur wer gesund ist, kann seine Fähigkeiten und Kenntnisse einsetzen, um sich gesellschaftlich zu integrieren und sich aktiv am Arbeitsmarkt zu beteiligen. Da die Grundlage für ein langes und gesundes Leben bereits in der Kindheit gelegt wird, ist es Ziel der Politik, allen Kindern unabhängig von ihrer sozialen Herkunft gleiche Startchancen für eine gesunde, gelingende Entwicklung zu geben. Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist eine gute Humankapitalausstattung der Menschen wichtig, um den Wohlstand in einer wissensbasierten Volkswirtschaft wie der deutschen zu sichern. Darüber hinaus sind Menschen mit hohem Humanvermögen - Bildung und Gesundheit — seltener auf Transferzahlungen angewiesen und entlasten die sozialen Sicherungssysteme. So liegt die Arbeitslosenquote von Geringqualifizierten fast sieben Mal höher als jene der Hochqualifizierten. Weitere Daten belegen ein deutlich erhöhtes Arbeitslosigkeitsrisiko in Abhängigkeit von Dauer und Art der registrierten Krankschreibung. Auch sind Menschen mit chronischen Erkrankungen oder anderen Erwerbsminderungen häufiger arbeitslos und damit häufiger Transferempfänger als gesunde Menschen (RKI, 2003). Professor Peter Oberender hat sich fast sein gesamtes wissenschaftliches Leben lang mit der Frage auseinandergesetzt, welche ökonomische Bedeutung dem Gesundheitswesen sowohl auf der Einnahmen- wie auf der Ausgabenseite der öffentlichen Haushalte zukommt. Er hat für das Gesundheitswesen vielfach gezeigt, wie „durch klug institutionalisierte Märkte und funktionierende Wettbewerbsprozesse" ein institutionelles Arrangement gefunden werden kann, das „unter grundsätzlichem Erhalt der Freiheit der beteiligten Akteure deren Interessen bestmöglich koordiniert" (Oberender/Fleischmann, 2003, S. 103). Diesen Blick hat er auch auf das Bildungswesen gerichtet. Gleichzeitig hat er aber auf das Vorliegen meritorischer Güter für den Fall hingewiesen, dass bestimmte Güter Privatgutei-
453 genschaften aufweisen, aber aufgrund externer Effekte vom Staat bereitgestellt werden. „Ein Beispiel ist die staatliche Bereitstellung von Bildungseinrichtungen" (Oberender/Rudolf, 2005, 325). Der vorliegende Beitrag möchte deshalb einen Zusammenhang zwischen dem Gesundheits- und dem Bildungswesen beleuchten, indem er sich den Einflussfaktoren auf Gesundheit und Bildung von Kindern und Jugendlichen sowie den Wechselwirkungen zwischen diesen beiden Seiten des Humanvermögens von Menschen widmet. Abschnitt zwei diskutiert deshalb einige neuere Befunde für die Einflussfaktoren zwischen Bildung, Gesundheit und Humanvermögen, Abschnitt drei gibt einige bildungspolitische Empfehlungen.
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Einflussfaktoren auf die Entwicklung von Humanvermögen
Die Humankapitalentwicklung von Kindern und Jugendlichen hängt von einer Vielzahl von Einflussfaktoren ab (Grossman, 2000). Neben genetischen Faktoren kommt insbesondere familiären sowie sozioökonomischen Einflussfaktoren eine herausgehobene Bedeutung zu (Schaubild). Angeberene Q?sundt»il
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Abbildung 45: Determinanten der Humankapitalbildung Quelle: Seyda/Lampert (2009)
Zu diesen Faktoren zählen Einkommen und Bildung. Mit zunehmendem Einkommen stehen mehr Ressourcen für Bildungs- und Gesundheitsausgaben zur Verfugung. Der sozioökonomische Status korreliert eng mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen und mit deren Verwendung. Eltern mit niedrigem Einkommen und/oder geringer Bildung haben andere Präferenzen hinsichtlich der Gesundheit ihrer Kinder, andere Ansichten, welcher körperliche Zustand als ge-
454 sund definiert ist (Currie, 2008), und ein unterschiedliches eigenes Gesundheitsund Vorsorgeverhalten (z. B. Rauchen, Übergewicht, Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen der Kinder). Der Bildungsstand beeinflusst die Höhe des Einkommens, das durch eine Erwerbstätigkeit erzielt werden kann und dem Haushalt zur Verfugung steht. Ein höherer Bildungsstand ist in der Regel mit einem besseren Wissensstand verbunden, der auch Bereiche der gesundheitlichen Aufklärung betrifft. So zeigen aktuelle Daten für Deutschland, dass Menschen mit einer höheren Bildung häufiger einen sehr guten oder guten subjektiven Gesundheitszustand aufweisen und seltener unter koronaren Herzerkrankungen leiden. Der Bildungsstand der Eltern hat aber auch Einfluss auf die Gesundheit der Kinder. Studien aus den USA zeigen, dass sich der Bildungsstand der Mutter positiv auf das Geburtsgewicht und die Dauer der Schwangerschaft auswirkt (Currie/Moretti, 2003), positive Effekte auf die kognitiven Fähigkeiten hat und zu einem geringeren Risiko von Verhaltensauffälligkeiten fuhrt (Carneiro et al., 2007). Im Folgenden wird diesen Zusammenhängen auf Basis eines umfassenden Datensatzes, dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) des Robert KochInstituts für Kinder und Jugendliche zwischen 11 und 17 Jahren, etwas gründlicher nachgegangen, der auf Basis einer Selbsteinschätzung des subjektiven Gesundheitszustandes auch Angaben über familiäre, personale und soziale Schutzfaktoren enthält. 674 Darin wurden Kinder und Jugendlichen gebeten, ihren subjektiven Gesundheitszustand auf einer Skala von 1 (sehr gut) bis 5 (sehr schlecht) zu bewerten. Die empirische Analyse zeigt, dass Kinder, deren Mütter über einen hohen Bildungsstand verfugen, tendenziell auch einen besseren Gesundheitszustand haben. So schätzen Kinder, deren Mütter Akademikerin sind, mit 24,5 Prozent ihren subjektiven Gesundheitszustand am häufigsten als „sehr gut" ein. Hingegen zeigt sich bei Kindern, deren Mütter keine abgeschlossene Berufsausbildung haben, dass der Anteil an Kinder mit einem mittelmäßigen, schlechten und sehr schlechten Gesundheitszustand am höchsten ist. Ferner zeigt sich, dass die Gesundheit und das Gesundheitsverhalten der Eltern die Gesundheit der Kinder durch genetische und pränatale Einflüsse oder durch 674
An der KiGGS-Studie haben zwischen Mai 2003 und Mai 2006 insgesamt 17.641 Jugendliche im Alter von 0 bis 17 Jahren sowie deren Eltern teilgenommen (Kurth, 2007). Ziel dieses bundesweiten Befragungs- und Untersuchungssurveys war es, erstmals umfassende und bundesweit repräsentative Daten zum Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen zu erheben. Die Kinder und Jugendlichen sowie ihre Eltern wurden schriftlich befragt und die Heranwachsenden zusätzlich körperlich untersucht. Die Befragung wurde mittels Fragebögen durchgeführt, die von den Eltern und ab dem 11. Lebensjahr auch von den Kindern und Jugendlichen auszufüllen waren.
455 schlechtere Erziehung und Betreuung aufgrund von Erkrankungen der Eltern beeinflusst (Case et al., 2002). Eltern haben Einfluss auf die Gesundheit der Kinder, weil sie über Investitionen in gesunde Lebensweise und medizinische Versorgung entscheiden und ungesunde Lebensweisen wie Rauchen und Alkoholkonsum vermeiden können (Coneus/Spieß, 2008). Von erheblicher Bedeutung ist dabei die Vorbildfunktion der Eltern. Sie entscheiden nicht einfach über das Gesundheitsverhalten ihrer Kinder, sondern „üben" dies gemeinsam ein. Damit wird die Bedeutung der sogenannten Schutzfaktoren deutlich. Schutzfaktoren schützen und erhalten die Gesundheit und ermöglichen es betroffenen Kindern und Jugendlichen, bei vorhandenen Belastungen und Risikofaktoren Widerstandskraft gegenüber Stressoren aufzubauen und sich dennoch gesund zu entwickeln. Die familiären Schutzfaktoren umfassen insbesondere Aspekte des Familienklimas, das heißt den familiären Zusammenhalt und das Erziehungsverhalten der Eltern. Hierzu zählt auch die Zeit, die für gemeinsame Gespräche und fiir Lösungen von (schulischen) Problemen verfugbar ist. Daneben sorgen die personalen Schutzfaktoren, also Merkmale der Persönlichkeit der Jugendlichen selbst, und soziale Schutzfaktoren wie die von Gleichaltrigen und Erwachsenen erfahrene oder verfugbare soziale Unterstützung oder das Umfeld, in dem die Kinder soziale Unterstützung erfahren, für eine gelingende Entwicklung von jungen Menschen. In der KiGGS-Studie wurde das Ausmaß der Schutzfaktoren auf einer mehrstufigen Antwortskala erfasst. Dabei zeigt sich, dass erwartungsgemäß das soziale Umfeld — Nachbarschaft, Schule —, in dem die Kinder sich bewegen und in dem sie Rollenvorbilder durch Gleichaltrige finden, Einfluss auf die gesundheitliche Entwicklung nimmt. Hierzu können auch die sozialen Schutzfaktoren gefasst werden, da sie als vermittelnde Glieder die Wirkung sozialer Unterschiede auf die gesundheitliche Entwicklung beeinflussen können. Das Vorhandensein überdurchschnittlicher familiärer, personaler und sozialer Ressourcen fuhrt dazu, dass der Gesundheitszustand besser eingeschätzt wird. Von den sozioökonomischen Faktoren steht aber das Einkommen lediglich in einem schwach signifikant positiven Zusammenhang mit dem subjektiven Gesundheitszustand des Kindes. Leiden die Kinder und Jugendlichen an psychischen Auffälligkeiten oder chronischen Erkrankungen, so schätzen sie ihre Gesundheit schlechter ein. Auch das Gesundheitsverhalten der Kinder beziehungsweise dessen vermutete Folgen haben erwartungsgemäß einen Einfluss: Regelmäßige körperlich-sportliche Aktivitäten und ein Fleischkonsum von mehr als ein bis zwei Mal pro Woche gehen mit einem besseren Gesundheitszustand einher. Gesundheitsschädlich wirken Übergewicht, hoher Fernsehkonsum und Rauchen. Alles in allem ist das gesundheitsbewusste Verhalten wichtiger ist als das Einkommen der Eltern (Seyda/Lampert, 2010).
456 Der sozioökonomische Hintergrund beeinflusst ferner die Chance, dass ein Kind oder Jugendlicher das Gymnasium besucht. Ein hohes Bildungsniveau der Eltern erhöht die Chance auf einen Besuch des Gymnasiums. Dies gilt ebenso für das weibliche Geschlecht, das Fehlen eines Migrationshintergrundes und eine rasche Entwicklung in der Vorschulzeit. Man erkennt ferner, dass auch ein höheres Familieneinkommen mit größeren Bildungschancen der Kinder verbunden ist. Zudem zeigt sich auch hier, korrespondierend mit der Empirie zum Gesundheitszustand, dass es Wechselwirkungen zwischen Gesundheit und Bildung der Kinder gibt: Kinder, die ihren Gesundheitszustand besser einschätzen, haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, das Gymnasium zu besuchen. Bei Betrachtung der Ergebnisse fällt zudem auf, dass eine Vielzahl der Einflussfaktoren auf den Bildungsstand zu den Gesundheitsindikatoren und zum Gesundheitsverhalten zählen. Das Vorhandensein psychischer Auffälligkeiten, ein hoher Fernsehkonsum und Rauchen gehen mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit einher, eine höher qualifizierende Schule zu besuchen. Auch das Gesundheitsverhalten der Eltern ist bedeutsam: Kinder, deren Eltern rauchen und übergewichtig sind, besuchen häufiger die Haupt- oder Realschule als andere Kinder. Betrachtet man das Gesundheitsverhalten und den Bildungsstand der Eltern, so fällt auf, dass sich Eltern mit geringerer Bildung weniger gesundheitsbewusst verhalten als gebildetere Eltern. Offenbar bestehen also deutliche Wechselwirkungen zwischen Schulbesuch und Gesundheitszustand. Ein großer Effekt auf schulische Leistungen wird auch den psychischen Auffälligkeiten zugeschrieben. Viele Fähigkeiten, die der Nobelpreisträger James Heckman (2007) als nicht-kognitive Fähigkeiten bezeichnet — Ausdauer beim Lösen von Problemen, Disziplin, Konzentration oder Motivationsfähigkeit können aus medizinischer Sicht auch als Determinanten von psychischer Gesundheit aufgefasst werden. Kinder, denen diese Fähigkeiten fehlen, haben häufiger Lernschwierigkeiten in der Schule oder sind verhaltensauffallig. Die betroffenen Kinder leiden akut unter den psychischen Problemen, und sie haben langfristig schlechtere Chancen, da sie möglicherweise einen geringeren Bildungsstand erreichen werden. Solche Beeinträchtigungen in der Kindheit können langfristige Folgen haben und im Erwachsenenalter aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen und aufgrund eines krankheitsbedingt geringeren Bildungsstandes zu einem niedrigeren Sozialstatus fuhren. Die Gesundheit der Kinder liefert damit einen wesentlichen Erklärungsbeitrag für die intergenerationelle Transmission von Bildung und sozioökonomischem Status (Currie, 2008). Um den Zusammenhang von Erkrankungen in der Kindheit und dem späteren Bildungserfolg zu ermitteln, können mit dem vorliegenden Datensatz multivariate Regressionen berechnet werden, die den Zeitpunkt der Erkrankung berück-
457 sichtigen. Es wurden Kinder, die jünger als drei bzw. sieben Jahre alt waren, als die Krankheit zum ersten Mal auftrat, mit denjenigen Kindern verglichen, die nicht an einer Erkrankung gelitten haben. Als Variablen für den Bildungsstand der Bander wurden die Entwicklung in der Vorschulzeit und die schulischen Leistungen aus Sicht der Eltern (subjektive Indikatoren) und die Frage, ob die Einschulung zurückgestellt wurde (objektiver Indikator), einbezogen. Die Entwicklung in der Vorschulzeit hat dabei einen großen Einfluss auf die Schullaufbahn: Kinder, die sich während der Vorschulzeit rascher entwickelten, haben eine mehr als 2,8 mal so hohe Chance, das Gymnasium statt der Realschule/Hauptschule zu besuchen, wie Kinder, die sich normal entwickelt haben. Hingegen haben Kinder, die von der Einschulung zurückgestellt werden, eine nicht einmal halb so hohe Wahrscheinlichkeit für den Besuch eines Gymnasiums wie andere Kinder. Die KIGGS-Daten zeigen, dass ein erheblicher Anteil der untersuchten 13 Erkrankungen einen Zusammenhang mit mindestens einem Bildungsindikator aufweist. Negativ betroffen in ihrer Entwicklung während der Vorschulzeit sind Kinder, die unter Anämie, Epilepsie, Herzerkrankungen, Lungenentzündung, Skoliose und spastisch obstruktiver Bronchitis zu leiden hatten. Drei dieser Erkrankungen (Anämie, Epilepsie und Skoliose) führen auch zu einer Zurückstellung von der Einschulung. Darüber hinaus wirkt sich auch Migräne negativ auf die Einschulung aus. Bei der Einschätzung der Schulleistungen zeigt sich ein negativer Einfluss von Anämie, Lungenerkrankungen und Diabetes. Zwischen den Erkrankungen und der Art der weiterfuhrenden Schule gibt es keine signifikanten negativen Zusammenhänge, gleichwohl liegt ein indirekter Effekt von Krankheiten vor, da eine schlechtere Entwicklung in der Vorschulzeit und eine Zurückstellung von der Einschulung mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit eines Gymnasialbesuchs verbunden sind. Aber nicht nur der Bildungsstand der Eltern beeinflusst die Gesundheit der Kinder. Auch der Schule selbst kommt eine bedeutende Rolle zu: Zum einen findet im Unterricht Aufklärung über Gesundheit und gesundheitsbewusstes Verhalten statt, zum anderen finden hier Sozialisationsprozesse statt, in denen die Kinder und Jugendlichen - positiven wie negativen - Peer-Effekten ausgesetzt sind. Da die eigene Gesundheit wesentlich durch das Gesundheitsverhalten bestimmt wird, ist auch für Kinder die Hypothese plausibel, dass Kinder, die mehr über gesundheitsbewusstes Verhalten wissen und sich an gesundheitsbewussten Vorbildern orientieren können, gesünder sind. Allerdings lässt sich anhand der vorliegenden Daten nicht messen, wie viel Gesundheitsaufklärung die Kinder und Jugendlichen in den Schulen erfahren und welchen Wissensstand über gesundheitsbewusstes Verhalten sie haben. Somit können keine direkten Vergleiche zwischen Kindern unterschiedlichen Bildungs-
458 standes gezogen werden. Um dennoch eine Antwort auf die Frage zu finden, ob Bildung hilft, gesundheitliches Verhalten zu verbessern, wird folgende Frage gestellt: Haben Kinder, die die Hauptschule besuchen, bei ähnlichem Gesundheitsverhalten der Eltern eine schlechtere Gesundheit als Kinder, die das Gymnasium besuchen? Damit lassen sich die Effekte der familiären Herkunft von den Effekten, die innerhalb der Schule stattfinden (Unterricht und Peer-Effekte), trennen. Hier stellt sich auch die Frage, ob positive Effekte der Peers und der Schule negative Effekte des Elternhauses ausgleichen können. Die Daten zeichnen beim Indikator Rauchen - ähnliche Befunde zeigen sich beim Indikator Übergewicht - folgendes Bild: Erstens haben Kinder, deren Eltern rauchen, in allen Schulformen eine höhere Wahrscheinlichkeit, ebenfalls zu rauchen, als Kinder von Nichtrauchern. Zweitens sind die Unterschiede zwischen Kindern von Nichtrauchern und Kindern von Rauchern bei Kindern auf der Hauptschule größer als bei Kindern in den anderen Schulformen. Drittens haben Kinder auf der Hauptschule eine höhere Wahrscheinlichkeit zu rauchen, unabhängig davon, wie sich die Eltern verhalten, d. h. auch Kinder von Nichtrauchern rauchen auf der Hauptschule häufiger als auf der Realschule oder dem Gymnasium. Damit erscheint die Aussage zulässig zu sein, dass auch die Schule und die damit verbundenen Peer-Effekte das individuelle Gesundheitsverhalten beeinflussen können. Einschränkend muss hinzugefugt werden, dass nur die Unterschiede zwischen der Hauptschule und Gymnasium signifikant sind.
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Schlussfolgerungen
Der Grundstein für einen hohen Bestand an Humanvermögen in Form von Bildung und Gesundheit wird bereits in der Kindheit gelegt. Bildungschancen und Gesundheitszustand hängen stark von den familiären Lebensverhältnissen ab. Dazu zählen das Einkommen, teilweise der Bildungsstand der Eltern und auch das Gesundheitsverhalten in der Familie. Psychische Auffälligkeiten, Rauchen und ein hoher Fernsehkonsum beeinträchtigen nicht nur den subjektiven Gesundheitszustand des Kindes, sondern senken auch die Wahrscheinlichkeit, dass es später einmal ein Gymnasium besucht. Ferner bestehen enge Wechselwirkungen zwischen der Gesundheit und der Bildung der Kinder. Gesunde Kinder lernen schneller. Dagegen entwickelt sich der Nachwuchs, der im Kleinkindalter an chronischen Erkrankungen leidet, langsamer und hat dadurch schlechtere Chancen, später das Gymnasium zu besuchen. Der umgekehrte Zusammenhang gilt aber ebenso. Gebildetere Kinder leben gesünder. So rauchen Jugendliche, die die Hauptschule besuchen, häufiger als Schüler in den anderen Schulformen. Dies gilt selbst nach Berücksichtigung des Rauchverhaltens der Eltern.
459 Die Wechselwirkungen zwischen Bildung und Gesundheit verweisen damit auf den volkswirtschaftlich wie sozialpolitisch bedeutsamen Tatbestand, dass weder hinsichtlich der Bildung noch hinsichtlich der Gesundheit von gleichen Startchancen für junge Menschen ausgegangen werden und daher ein Teufelskreis entstehen kann. Zwar spielt das Einkommen nur eine untergeordnete direkte Rolle für die Humankapitalentwicklung der Kinder. Aber auch die wesentlich wichtigeren familiären Einflussgrößen - der Bildungsstand und das Gesundheitsverhalten der Eltern - gehen mit unterschiedlichen Chancen für die Kinder einher. Das Gesundheitsverhalten von Kindern und Eltern spielt eine wesentliche Rolle bei der gesunden Entwicklung von Kindern. Eine gesunde Lebensweise — mit ausgewogener Ernährung, ausreichenden sportlichen Aktivitäten, Verzicht auf Rauchen und gemäßigtem Fernsehkonsum - erhöht die Wahrscheinlichkeit, sich gesund zu entwickeln. Die Analysen mit dem KiGGS-Datensatz zeigen jedoch auch klar, dass ein Zusammenhang zwischen Gesundheitsverhalten und Bildungsstand besteht: Eltern mit geringem Bildungsstand rauchen häufiger und sind häufiger übergewichtig. Da das Gesundheitsverhalten der Eltern vom Bildungsstand und dem Einkommen abhängt ist, finden Kinder aus bildungsfernen Familien schlechtere Vorbilder hinsichtlich der Gesundheit. Man kann daher sagen, dass neben der Bildung auch die Gesundheit einen Transmissionsmechanismus fxir die intergenerationelle „Vererbung" des sozioökonomischen Status darstellt. Die Diskussion über Startchancengerechtigkeit, die nach der Veröffendichung der PISA-Ergebnisse begonnen hat, sollte deshalb verstärkt auch unter dem Gesichtspunkt der gesundheitlichen Startchancen gefuhrt werden. Der Befund zeigt einen deutlichen Bedarf an politischen Maßnahmen, um die Startchancen aller Kinder zu verbessern. Ansatzpunkte sollten aber weniger finanziellen Transfers als Unterstützungs- und Aufklärungsmaßnahmen sein, die sich besonders auf Kinder aus bildungsfernen Schichten konzentrieren. Insoweit zielt die derzeit von der Bundesregierung angestrebte Einführung eines Schulpaketes statt der Erhöhung der Regelsätze bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende in die richtige Richtung. Am sinnvollsten erscheint eine kontinuierliche Begleitung von potenziell gefährdeten Familien über die gesamte Kindheit der Kinder hinweg. Dies könnte beispielsweise durch den verstärkten Einsatz von Familienhebammen geschehen, die junge Familien kurz nach der Geburt besuchen und beraten. Auch ein Ausbau der Familienzentren scheint bedenkenswert. Im Idealfall findet in Familienzentren eine individuelle Förderung der Kinder statt, und Familien werden umfassend unterstützt und beraten. Denkbar wäre zum einen die Stärkung des Bereichs gesundheitlicher Aufklärung in den Familienzentren, zum anderen sollten Strukturen entwickelt werden, die eine langfristige Begleitung der Familien auch über
460 das Kindergartenalter hinaus ermöglichen. Die Einbeziehung der Eltern ist dabei ganz zentral, damit Aufklärung durch Kindergärten, Schulen und Medien über gesundheitliches Verhalten langfristig Erfolg hat. Ziel muss es sein, das Verhalten von Eltern und Kindern im Alltag und dadurch eine anhaltend positive Wirkung auf die Gesundheit von Kindern (und Eltern) zu erreichen. Eine Verminderung gesundheitlicher Unterschiede kommt den Kindern und Jugendlichen zu gute, da sie bessere Chancen auf ein gesundes Leben, auf eine höhere Bildung und auf eine bessere Position am Arbeitsmarkt haben. Für die Volkswirtschaft lohnen sich Maßnahmen in der Kindheit, da eine Verminderung von gesundheitlichen Unterschieden langfristig nicht nur positive Folgen für die Ausgaben im Gesundheitsbereich, sondern auch in den anderen sozialen Sicherungssystemen hat. Ahnlich wie hinsichtlich der Bildung ist es notwendig, auf eine Reduktion der gesundheitlichen Unterschiede hinzuwirken, um die Startchancen von Kindern und Jugendlichen zu verbessern und möglichst allen, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, eine gesunde und gelingende Entwicklung zu ermöglichen.
Literatur Carneiro, Pedro/Meghir, Costas/Parey, Matthias (2007): Maternal Education, Home Environments and the Development of Children and Adolescents, Institute of Fiscal Studies, Working Paper No. 15/07, London. Case, Anne/Lubotsky, Darren/Paxson, Christina (2002): Economic Status and Health in Childhood: The Origins of the Gradient, in: American Economic Review, Vol. 92 (5), S. 1308-1334. Coneus, Katja/Spieß, Katharina (2008): The Intergenerational Transmission of Health in Early Childhood, Z E W Discussion Paper No. 08-073, Mannheim. Currie, Janet (2008): Healthy, wealthy, and wise: Socioeconomic status, poor health in childhood, and human capital development, N B E R Working Paper No. 13987, Cambridge. Currie, Janet/Moretti, Enrico (2003): Mother's Education and the Intergenerational Transmission of Human Capital: Evidence from College Openings, in: Quarterly Journal of Economics, Vol. 118 (4), S. 1495-1532. Grossman, Michael (2000): The Human Capital Model, in: Culyer, Anthony/Newhouse, Joseph (Eds.): The Handbook of Health Economics, Vol.1, Amsterdam, S. 347-408.
461 Heckman, James J. (2007): The Technology and Neuroscience of Capacity Formation, Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS), Vol. 104 (33), August, S. 13250-13255. Kurth, Bärbel (2007): Der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS): Ein Uberblick über Planung, Durchfuhrung und Ergebnisse unter Berücksichtigung von Aspekten eines Qualitätsmanagements, in: Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz, Jg. 50 (5/6), S. 533-546. Oberender, Peter/Fleischmann, Jochen (2003): Wettbewerb als Reformperspektive für die Hochschulen, in: O R D O - Jahrbuch fiir die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Band 54, Stuttgart, S. 93-112. Oberender, Peter/Rudolf, Thomas (2005), Das Konzept des Marktversagens bei öffentlichen Gütern aus mikroökonomischer Sicht, in: Wirtschaftswissenschaftliches Studium, Jg. 34 (6), S. 321-327. RKI - Robert Koch-Institut (2003): Arbeitslosigkeit und Gesundheit. Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Heft 13, RKI, Berlin. Seyda, Susanne/Lampert, Thomas (2009): Der Einfluss der Familie auf die Gesundheit und Bildungslaufbahn von Kindern, in: IW-Trends, Vierteljahresschrift zur empirischen Wirtschaftsforschung, Jg. 36, Heft 3, S. 105-120. Seyda, Susanne/Lampert, Thomas (2010): Zum Einfluss des Einkommens auf die physische Gesundheit von Jugendlichen in Deutschland, in: Sozialer Forschritt, Jg. 59, Heft 3, S. 69-80.
Krankenhausmarkt
Uta Meurer
Beobachtung der Krankenhausszene in den vergangenen 30 Jahren Blicken wir 30 Jahre zurück. Ich hatte eine Banklehre absolviert, dann ein Studium der Betriebswirtschaft angeschlossen und arbeitete für die Deutsche Leasing. Wir ermöglichten Unternehmen die steueroptimierte Investition in moderne Datentechnik, Fertigungsanlagen oder in Fahrzeugflotten. Was sollte eine Berufsanfängerin mit dieser Biografíe dazu bewegen, sich mit Krankenhäusern zu beschäftigen? Das Thema ist, wie Professor Herbert Rebscher gerne sagt, wenig sexy. Mich aber verband eine tiefe positive Erfahrung mit Krankenhäusern, denn in Kliniken war mir als Kind geholfen worden, eine schwerwiegende Erkrankung zu überwinden und ins normale Leben zurückzufinden. Zudem waren London, Frankfurt und Hannover zwar schöne Städte, aber auch Melsungen hatte seinen Reiz. Dort bot mir die B. Braun Melsungen AG eine Chance in der Marketingabteilung. Nach einem Jahr trat der Vorstand mit der Aufforderung an mich heran, eine Fachzeitschrift für das Management von Krankenhäusern auf den Weg zu bringen. Nachdem die Zeitschrift Die Schwester Der Pfleger aus dem konzerneigenen Bibliomed-Verlag schon ein Erfolg war, hatte der Vorstand einerseits die wachsende Bedeutung der Klinikleitung erkannt und andererseits die offenkundigen unternehmerischen Defizite im Krankenhausmanagement. Hier setzte B. Braun an. Der Vorstand wählte bewusst eine Betriebswirtin für die Aufgabe, die Zeitschrift aufzubauen und zu leiten. Der Titel der Publikation war Programm: fértv fiihren und wirtschaften im Krankenhaus. Dahinter stand die Auffassung, dass ein Krankenhaus ein Unternehmen sei und sich in seinen betriebswirtschaftlichen Grundstrukturen eben nicht von einem Pharma- oder Automobilhersteller unterschied. Was in der Industrie richtig war, konnte in den Krankenhäusern doch nicht falsch sein. Mit dieser Auffassung stand f&w zunächst einmal ziemlich allein da. Aus der Finanzwirtschaft kommend trat ich in eine mir fremde Welt. Mit Kameralistik, mit katholischer und evangelischer Buchführung oder mit dualer Finanzierung hatte ich mich nie zuvor befasst. Das Selbstkostendeckungsprinzip sprach allem Hohn, was ich je an Unternehmenskultur erlernt und erlebt hatte. Es war mir unvorstellbar, dass ein Unternehmen, in diesem Fall ein Krankenhaus, seine eigenen Prozesse und Produkte nicht permanent hinterfragte, sondern als gegeben hinnahm, die Kosten ihrer Bereitstellung aufaddierte und diese dann erstattet bekam.
466 Ich konnte es nicht fassen, dass ein Unternehmen die eigenen Herstellungskosten seiner Produkte nicht kannte. Es war mir unbegreiflich, dass Chefärzte beispielsweise gigantische Einnahmen hatten, während der Arbeitgeber tiefrote Zahlen schrieb. In dieser Branche verdiente offenbar jeder üppig, nur die Kliniken nicht. Obendrein wurden die Verluste der Krankenhäuser als ethisch wertvoll verbrämt. Es galt als anrüchig, wenn ein Krankenhaus Gewinne machen wollte. Nur wenige wollten erkennen, dass der vermeintlich Gierige in Wahrheit mit dem Geld, das ihm die Allgemeinheit anvertraut hatte, verantwortungsbewusst umgehen wollte. Unwirtschaftliches Handeln wurde als ethisch definiert. Humanität und Wirtschaftlichkeit schlössen sich in dieser Denke aus. Das war widersinnig, und f&w stellte sich dagegen: „Die Privaten beweisen es. Der Konflikt zwischen Ökonomie und Humanität ist erfolgreich zu lösen", hieß es in der ersten Ausgabe 1984. Diese Prognose sollte sich bewahrheiten. Aber bis dahin war es noch ein langer Weg voll harter Uberzeugungsarbeit. Es gab immerhin erste private Krankenhäuser, die zwar als Rosinenpicker diffamiert wurden, aber den Weg in die richtige Richtung beschritten. Eugen Münch und Hartmut Krukemeyer leisteten Pionierarbeit. Indes war die Wissenschaft schon weiter als die Wirklichkeit. Immerhin machte sie sich Gedanken über unternehmerisches Handeln und verbreitete vermeintlich frevelhafte Gedanken über Marketing, Wettbewerb und Konkurrenz im Krankenhaus. Weil die Wissenschaftler es sich selbst nicht trauten, diese offenbar „gefährlichen" Worte offen auszusprechen, setzten sie diese in Anfuhrungsstriche. Auch der Titel eines Krankenhaustages zur Interhospital hieß: Das „ Unternehmen " Krankenhaus. In Bayreuth aber gab es einen Reformator, der die verkehrte Welt der Krankenhäuser infrage stellte und die reine Lehre von Markt und Wettbewerb vertrat: Professor Dr. Dr. h. c. Peter Oberender. Wir gaben ihm in f&ußJC> (1) erstmals eine Plattform. Rückblickend betrachtet gebe ich zu, dass auch mir der Mut fehlte, Oberenders „grundsätzliche ordnungspolitische Überlegungen" ohne Einschränkungen zu veröffendichen. Deshalb stellte ich den Beitrag zur Diskussion, distanzierte mich mithin etwas von seinem Inhalt, weil ich Widerspruch, wenn nicht das Entsetzen meiner Leserschaft fürchtete.
675 Vgl fg£W fuhren und wirtschaften im Krankenhaus, Ausgabe 6/1990, 7. Jahrgang.
467 Oberender benannte die Schwächen der Krankenhausbedatfiplanung. Bar jeder Marktsteuerung orientiere sie sich vor allem an politischen Kriterien. Sehr oft würden Krankenhäuser als Prestigeobjekte (sogenannte „Weiße Elefanten") ähnlich wie teure kommunale Hallenbäder als Wahlgeschenke in die Landschaft gesetzt. Er arbeitete die Duale Finanzierung als grundlegenden Mangel heraus, denn mit ihr werde das „Prinzip von Handlung und Haftung durchbrochen". Selbstverständlich war ihm das Selbstkostendeckungsprinzip ein Dorn im Auge, denn „die reine Inputorientierung ist mit dem großen Nachteil verbunden, dass weder ein ökonomischer Zwang besteht, Kosten zu sparen und mit den knappen Mitteln wirtschaftlich umzugehen, noch ein Anreiz vorhanden ist, sparsam zu wirtschaften, da keine anreizwirksamen Gewinne erzielt werden dürfen. Entstehende Gewinne müssen nämlich zu 75 Prozent weitergegeben werden". 676 Stattdessen plädierte Oberender für eine Outputbewertung, wie sie marktsystemkonform sei. In seinen Reformvorschlägen forderte er die Therapiehoheit nicht für die Ärzte, sondern für die Patienten. Als Versicherte sollten sie mehr Autonomie erhalten, vor allem bei der Wahl des Umfangs ihres Versicherungsschutzes. Die gesetzlichen Krankenkassen sollten einen Kontrahierungszwang gegenüber jedem Sozialversicherungspflichtigen haben und schlechte Risiken nicht länger ausschließen können. Damit der Wettbewerb voll zur Entfaltung komme, forderte Oberender, „muss auch eine Vertragsfreiheit zwischen den einzelnen Kassen und den einzelnen Leistungserbringern oder deren Verbänden eingeführt werden. Der Kontrahierungszwang, dem die gesetzlichen Krankenversicherungen bezüglich der Krankenhäuser, die im Bedarfeplan stehen, und dem die Ärzte, die der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) angehören, gegenwärtig noch unterliegen, muss aufgehoben werden. Außerdem müssen die Preise für die Leistungen aller Leistungserbringer, wie dies in einer marktwirtschaftlichen Ordnung üblich ist, in freien Verhandlungen zwischen den Kassen und den Leistungserbringern oder der in einem Wettbewerb zueinander stehenden Verbände ermittelt werden". Oberender plädierte für eine Entgeltreform. Denn die tagesgleichen, proportionalen und vollpauschalierten Pflegesätze stellten einen weiteren Kostentreiber dar. Da der Kostenverlauf der stationären Behandlung pro Patient in aller Regel tendenziell degressiv verlief, waren die Krankenhäuser verständlicherweise bemüht, die Verweildauer auszudehnen und vor allem leichtere und weniger pflegeintensive Fälle länger als notwendig zu behalten. Oberender und andere, die den Paradigmenwechsel des Krankenhauses — weg vom defizitären Transferempfänger hin zum gemeinwohlorientierten Leistungs676
ebenda.
468 träger - forderten, das sich zu Wettbewerb, Leistungsorientierung und betriebswirtschaftlichem Haushalten und damit zu einem ethisch verantwortungsvollen Umgang mit den Ressourcen bekennt, haben offenbar Recht behalten. Zwar wird das Gesundheitssystem niemals politisch vollkommen dereguliert sein, aber es ist schon sehr lange her, dass wir die Worte Wettbewerb und Markt mit Anfuhrungszeichen gezähmt haben. Die Lektüre des Textes von 1990 offenbart eine Krankenhauswelt, die dem Leser von heute unvorstellbar weit weg erscheint. Nicht alles, aber vieles, was Oberender 1990 gefordert hat, ist heute Wirklichkeit geworden. Die Verhältnisse haben sich gleichsam umgekehrt. Sein Text, der damals in den Ohren vieler fast ketzerisch klang, beschreibt einige Charakteristika der unterdessen geschaffenen Wirklichkeit, oder aber er setzt nach wie vor die Themen in den Diskussionen, die wir heute führen. Wie selbstverständlich wird heute über Wettbewerb gesprochen, Marketing, Positionierung am Markt, Werbung um den Patienten. Gewinne sind gesellschaftsfähig geworden, keiner schämt sich ihrer, sondern derjenige wird zur Verantwortung gezogen, der keine macht. Auch ein Blick auf wenige Strukturdaten veranschaulicht die Veränderungen: Jahr
Krankenh ingesamt
1980
1985
1989
1991
3.234
3.098
3.046
2.411
1995
2.325
2000
2.242
2005
2008
2.139
2.083
davon öffentlich
davon freigemeinnützig
davon
durchschnittl.
Fallzahl
Betten
Betten
Betten-
privat
Verweildauer
je 1 0 0 . 0 0 0
je
insgesamt
auslas-
in Tagen
tung
100.000
19,7
1.883
k.A.
707.710
84,9 %
18
1.992
k.A.
674.742
85,8 %
979 (32,1)
16,2
2.155
kA
669.750
86%
1.190
1.097
947
(36,8)
(33,9)
(29,3)
1.104 (35,6)
1.049
945
(33,9)
(30,5)
1.046
1.021
(34,3)
(33,5)
1.110
943
18.224
832
665.565
84,1 %
(39,1%)
358 (14,9%)
14
(46%) 972 (41,8%)
944 (40,6%)
409 (17,6%)
11,5
19.509
746
609.123
82,1 %
9,7
21.004
681
559.651
81,9%
844
912
486
(37,6%)
(40,7%)
(21,7%)
751
818
20.056
635
523.824
74,9 %
(38,2%)
570 (26,7%)
8,7
(35,1%)
637 (30,6%)
8,1
21.297
613
503.360
77,4 %
665
781
(31,9%)
(37,5%)
Tabelle 14: Krankenhäuser, Vorsorge- und Reha-Einrichtungen in Westdeutschland 1908 - 1989 Quelle: Statistisches Bundesamt.
469 Hinweis: Die Zahlen bis 1989 und ab 1991 sind nur eingeschränkt vergleichbar, denn 1990 wurden die Erhebungsbereiche der Krankenhausstatistik neu abgegrenzt. Seitdem werden etwa Vorsorge- und Reha-Einrichtungen nicht mehr als allgemeine Krankenhäuser gezählt. 1989 waren beispielsweise von den 979 Krankenhäusern in privater Trägerschafic 706 Häuser Kur- und Reha-Einrichtungen - die seit 1990 nicht mehr für diese Übersicht erfasst werden. Betten insgesamt
davon in öffentlichen Einrichtungen
davon in freigemeinnützigen Einrichtungen
davon in privaten Einrichtungen
2002
547.284
298.034 (54,4%)
200.635 (36,7%)
48.615 (8,9%)
2004
531.333
2 8 0 . 7 1 7 (52,8%)
189.334 (35,6%)
6 1 . 2 8 2 (11,5%)
2006
510.767
260.993 (51,1%)
180.200 (35,3%)
69.574 (13,6%)
2008
503.360
246.423 (48,9%)
177.085 (35,2%)
79.852(15,9%)
Tabelle 15: Aufgestellte Betten seit 2002 Quelle: Statistisches Bundesamt.
Die Zahl der Kliniken ist während der vergangenen 30 Jahre um ein Drittel gesunken und die Verweildauer wurde mehr als halbiert, indes die Zahl der Fälle je 10.000 Einwohner von 1.883 auf knapp 2.200 stieg. Ist es nicht erstaunlich, zu welchen Leistungssteigerungen die Kliniken in der Lage waren, die sich nach eigenen Worten schon in den 1980er-Jahren am Rande ihrer Leistungsfähigkeit wähnten? Der Wandel kam teils aus freier, selbstgewählter Erkenntnis und teils unter Zwang oder heilsamem Druck. Denn die öffentlichen Lasten überforderten die öffentlichen Kassen. Der Sozialstaat, der in den Nachkriegsjahren mit dem Wirtschaftswunder reich erblüht war, war in dieser Pracht nicht mehr am Leben zu erhalten. Das haben die Politiker - auch die der beiden großen Volksparteien - erkannt, und haben — auch wenn es ihnen wegen der Heterogenität ihrer potenziellen Wählerschaft naturgemäß schwerfiel - daraus Konsequenzen gezogen. Einerseits gab es die Serie der einfallslosen Kostendämpfungsgesetze, andererseits gab es tatsächliche Systemveränderungen, die den Namen der Reform verdienten. Zum Beispiel wurde die Selbstbeteiligung der Patienten selbstverständlich, und das diagnosebezogene Entgeltsystem wird als deutsches DRG-System sogar in andere Länder exportiert. Es hat intern endlich Kostentransparenz geschaffen und der Qualität als Wettbewerbsfaktor einen ganz neuen Stellenwert gegeben. Entgegen der Kassandrarufe, die in der Gesundheitspolitik offenbar zum Ritual gehören, sind die blutigen Entlassungen und das epidemische Krankenhaussterben kein Massenphänomen geworden.
470 Es gibt zwar formal die duale Finanzierung noch. Faktisch hat sie aber nicht mehr die Bedeutung von einst, denn die Krankenhäuser haben sich daran gewöhnt, dass die Länder zu wenig Geld haben. Selbst die öffentlichen Häuser machen es heute, wie es damals die Privaten wagten. Sie bedienen sich am Kapitalmarkt und schließen mit ihren Mitarbeitern Verträge, in denen Lohnzurückhaltung mit der Aussicht auf Arbeitsplatzsicherung verbunden wird. Die Barrieren zwischen ambulant und stationär wurden zwar nicht völlig abgebaut, jedoch zumindest eingerissen. Die Krankenkassen wurden in einen Strudel der Veränderungen gestürzt, sie gingen - stärker ah die Krankenhäuser - Fusionen und Kooperationen ein. Am weitesten ist der Wandel in der zahnmedizinischen Versorgung zu erkennen, ohne dass in deutschen Mündern Lahnlücken klaffen, sondern das Lächeln ist makelloser denn je. Oberender hatte also recht. Und wer ehrlich ist und Größe besitzt, erkennt dies auch an. Oberender wusste von Beginn an, dass er allein mit Argumenten einen Kampf gegen ein verkrustetes Denken fuhrt, das ein Kartell von Mächtigen und Besitzenden gegen jede Veränderung abschirmen sollte. In seinem vermeindich aussichtslosen Kampf nahm er sich Ludwig Erhard zum Vorbild und schloss seinen Beitrag in f & u P 1 mit den Worten: „Zur politischen Reform (des deutschen Gesundheitswesens) bedarf es mutiger Politiker, die auch bereit sind, aus sachlichen Gründen gegen die Interessenverbände und gegen den Zeitgeist zu handeln. In diesem Zusammenhang sei an die Entscheidung Ludwig Erhards 1948 erinnert, der bei der Einführung der sozialen Marktwirtschaft lediglich den Kölner Professor der Wirtschaftswissenschaft Alfred Müller-Armack, der dann auch sein Staatssekretär wurde, auf seiner Seite hatte, und dies damals gegen die Meinung sowie gegen den Rat aller politischen Parteien und Verantwortlichen tat." Interessant ist übrigens, dass die SPD während der vergangenen Jahre häufig offensiver war als Ludwig Erhards Partei, wenn es darum ging, das Gesundheitssystem auf mehr Wettbewerb zu trimmen. Wenn wir zum Beispiel an die Debatte um die Monistik, um den Sicherstellungsauftrag und die Bedarfsplanung der KVen oder um die Selektiwerträge denken. Wenn Oberender schon in der Vergangenheit recht hatte, spricht vieles dafür, dass sein Modell sich auch in Zukunft bewahrheiten wird. Indem sich der Staat zwangsläufig aufgrund seiner Finanznot immer mehr zurückzieht, werden die Aufgaben auf dem Markt in einem wettbewerblichen System bewältigt werden
677
ebenda.
471 müssen. Wenn die Krankenkasse das Brillengestell nicht mehr zahlt, verschenkt es eine private Optikerkette eben zu den kostenpflichtigen Gläsern. Diesem Trend hin zu mehr Markt und Wettbewerb wird sich auch das GKVbasierte Gesundheitssystem nicht entziehen können. Das heißt dann aber auch, dass wir mehr Vertragsfreiheit benötigen, sei es in der Wahl des Vertragspartners oder im Vertragsgegenstand. In Zukunft werden Krankenkassen mit bestimmten Anbietern über Mengen und Preise verhandeln, um bestimmten Versichertengruppen attraktive Versorgungsmodelle bieten zu können. Erst jüngst ist zum Beispiel der Einstieg in mehr Markt mit dem Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarkts gelungen. Kassen und Industrie sollen über die Preise innovativer Präparate verhandeln. In diesem Wandel zu mehr Markt stellen sich den Krankenhäusern ganz spezifische Herausforderungen. Der medizinisch-technische Fortschritt wird in Verbindung mit dem Zwang zum rationalen Umgang mit den Ressourcen und dem berechtigten Anspruch der Versicherten auf optimale Versorgung dazu fuhren, dass immer mehr Leistungen auch ambulant erbracht werden können. Wahrend den Kliniken also einerseits der Verlust von Geschäftsfeldern droht, erfordert die Behandlung der verbleibenden Patienten, die an immer schwereren und komplexeren Erkrankungen leiden, einen immer größeren Aufwand. Manche Krankenhäuser haben die schwer kranken Menschen als besonders rentable stationäre Fälle erkannt und sich darauf spezialisiert, indes zum Beispiel mit der Ophthalmologie ein ambulantes Behandlungsfeld erwächst. Ein privater Klinikträger hat die Augenheilkunde schon als Wachstumsfeld definiert. Der selbstbewusste Patient will informiert sein und fordert die Information als Bringschuld. Und es informieren sich nicht nur junge Menschen, sondern zunehmend die älteren mit geringem Einkommen, die eine optimale, aber möglichst kostengünstige Behandlung erwarten. Damit muss das Krankenhaus umgehen. Wichtig wird es in diesem Zusammenhang auch sein, dass die Qualitätsberichte für die Patienten verständlicher werden. Es ist an den Krankenhäusern, sich selbst darzustellen, und dieses nicht als darbende, vom Aussterben bedrohte öffentliche Einrichtung, die auf Kosten der anderen lebt. Sie müssen aufhören „zu jammern", denn wer sich selbst nicht leiden kann, den können andere auch nicht leiden. Sie müssen verdeutlichen, dass ihre Arbeit sinnvoll ist, deren Sinn keiner in Frage stellt, weil sie Menschen zugewandt ist und nutzt.
472 Die Krankenhäuser haben allen Grund, sich realistisch als das darzustellen, was sie sind: hervorragende Unternehmen, die etwas ganz Sinnvolles für jeden Einzelnen und die Volkswirtschaft tun, die anspruchsvolle, herausfordernde Arbeitsplätze bieten, einerseits mit Hightech, andererseits mit dem unmittelbaren Kontakt zu Menschen, der im direkten persönlichen Einsatz belohnt wird. Krankenhäuser sind keine Geldvernichter, keine Kostgänger oder Kostenverursacher. Sie sind eine Stätte, in der Menschen gesunden, ins gesellschaftliche und ins Arbeitsleben zurückgeführt werden. Damit leisten sie einen ethisch unverzichtbaren Beitrag zur Humanität in unserer Gesellschaft. Zugleich nutzen sie der Volkswirtschaft. Sie schaden ihr nicht. Nur weil ich als Kind in einem Krankenhaus erfolgreich behandelt worden bin, konnte ich später eine Ausbildung absolvieren und schon über ein halbes Jahrhundert zur Wertschöpfung unserer Volkswirtschaft meinen Beitrag leisten, Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen. Insofern sind Medizin und Pflege kein Almosen. Sie sind nicht zuvorderst, aber auch nicht zuallerletzt ein unverzichtbarer Beitrag zur Leistungsstärke unserer Volkswirtschaft, und je effizienter sie ihren Beitrag erbringen, desto besser ist es für sie, fiir die anderen und kurzum für uns alle.
Christoph Rasche und Andrea Braun von Reinersdorf!"
Krankenhäuser im Spannungsfeld von Markt- und Versorgungsauftrag: Von der Medizinmanufaktur zur Hochleistungsorganisation 1
Problemaufriss: Wertschaffung als strategischer und versorgungswirtschaftlicher Imperativ
Die Gesundheitswirtschaft avanciert in Deutschland zu einer wettbewerbsstrategischen Schlüsselbranche, der nicht nur mit Blick auf die demographischen Veränderungen in den meisten Industriestaaten ein hohes Wachstumspotenzial zugeschrieben wird. Vielmehr lässt sich bei vielen Zielgruppen ein gestiegenes Gesundheitsbewusstsein feststellen, das sich in korrespondierenden Bedürfnisstrukturen, Wertinventaren und Leistungsangeboten manifestiert. Der konventionell versorgungswirtschaftlich induzierte Gesundheitsmarkt in seiner Funktion als Interventionsarena der Politik wird zunehmend um Komplementär- und Substitutionsmärkte arrondiert. Der Markt für „Krankheit, Therapie und Versorgung" im akuten und elektiven Bereich erfährt eine Arrondierung um komplementärmedizinische Angebote, die unter dem Schlagwort der IGel- und Wahlleistungen einem strategischen Positionierungsmanagement unterzogen werden. 678 Dieses steht für den Einstieg in die auf Abschöpfung individueller Preisbereitschaften bedachten Zielgruppenmedizin, bei welcher der Patient als Gesundheitskunde in Erscheinung tritt, nachdem er zuvor über Jahre hinweg als Versorgungsfall interpretiert wurde (from Case to Customer). Im Gegensatz zur personalisierten Medizin und Pharmakologie, die mit dem Anspruch einer bestmöglichen Versorgung eine Therapieindividualisierung postuliert, impliziert die Zielgruppenmedizin im hier verstandenen Sinne eine Verschiebung der Entscheidungshoheit hin zum Patienten. 6 7 9 Die Expertensicht der verordnenden Professionals, die als Agenten der Krankenkasse für einen Leistungsnehmer kuratorisch in Erscheinung treten, wird auch in Zukunft insbesondere bei chronisch und akut erkrankten Patienten eine zentrale Rolle spielen. Jedoch wird diese „Inside-out"-Sicht überlagert von einer „Outside-in"-Sicht des Medizinkunden, sofern dieser als Selbstzahler die Leistungsbündelung (in Abstimmung mit dem Experten) in Eigenregie erbringt. Zu denken ist hierbei neben typischen Convenience-Leistungen hotelähnlicher Natur vor allem an medizinisch nicht indizierte, aber trotzdem begehrte Leistungs678 679
Vgl. Rasche & Braun von Reinersdorf? (2003). Vgl. grundlegend Heitele (2010) und Braun von Reinersdorff (2007).
474 Spektren, die aus Sicht der Anbieter den „extrabudgetären" Bereich repräsentieren. 680 Dieser reicht von der Luxusunterbringung über die ästhetische Chirurgie bis hin zu Therapieformen außerhalb der WANZ 681 -Logik. Die Zielgruppenmedizin kulminiert dabei keinesfalls in einem „Wunschkonzert" und inflationären Ansprüchen, wenn der Wert nachgefragter Mezin-, Pflege- und Serviceleistungen bei den Patienten direkte Preis- und Zahlungsbereitschaft auslöst. Ein Teil des ambulanten Versorgungsmarkts wird schon heute durch eine preisdiskriminierende Logik bestimmt, weil sich nicht jeder die Versorgungsqualität leisten kann (möchte), die seinen Nutzenerwartungen entspricht. Zwar provoziert eine medizinische Versorgungslandschaft ,die stärker von Preis- und weniger von Bedürftigkeitskategorien geprägt ist, ethische Konflikte, doch existierten diese immer schon im Fall meritorischer Vertrauensgüter, die einer erheblichen Ressourcenknappheit unterliegen. Diese wird mit Blick auf galoppierende Fortschritts- und Innovationskosten im Gesundheitswesen bei gleichzeitig steigenden Erwartungen deutlich zunehmen. Die unpopulären Prinzipien der Priorisierung, Rationierung und Rationalisierung sind, wenn auch in moderater Form, bereits praktizierte Realität des Versorgungsalltags. 682 Wahrend von politischer Seite die Doktrin einer nichtdiskriminierenden Wohlfahrtsmedizin proklamiert wird, wird die Realität des Gesundheitswesens verstärkt durch Priorisierung, Rationierung und Rationalisierung geprägt, wodurch der Weg in die Mehrklassenmedizin geebnet wird. 6 8 3 Letztere ruft oft negative Assoziationen hervor, wenn sich der Mensch über seine Zahlungsfähigkeit und Preisbereitschaft für medizinische Leistungen qualifiziert und nicht über den Grad an Bedürftigkeit. Der Terminus der Zielgruppenmedizin dagegen konnotiert einen positiv besetzten Zustand der relativen Wahlfreiheit mündiger Patienten, die sich nicht länger als passive Therapiefälle sehen. Vielmehr fordern diese zunehmend neben ihren Patientenrechten auch ihre Kundenrechte ein - handelt es sich doch ihrer Auffassung nach um eine ökonomische Transaktion bei der individualisierte, personalisierte und zunehmend auch lokalisierte Dienstleistungen dem Marktmechanismus unterworfen werden. Der Weg in die Zielgruppen- und Mehrklassenmedizin wird schon heute in vielen Versorgungsbereichen als alltagspraktische Evidenz akzeptiert (z. B. Zahnheilkunde), auf die sich Anbieter und Nachfrager werden einstellen müssen. Vorschub erhält dieses Argument durch zahlreiche öffentliche Krankenkassen und deren Tarifsysteme, die verstärkt auf Zielgruppen, Individualisierung der Gesundheitsbedürfnisse sowie variierende Risikopräferenzen ausgerichtet sind. Oder anders formuliert: Bin ich als Versicherter bereit als Äquivalent für einen günstigen Tarif entwe-
680 681 682 683
Vgl. Oberender (2010), S. 30. Das Akronym W A N Z steht ftir wirtschaftlich, ausreichend, notwendig und erforderlich. Vgl. Heitele (2010), S. 17 ff Vgl. Oberender (2010).
475 der Abstriche bei der Versorgungsqualität zu machen oder als Selbstzahler die vertraglich akzeptierte Versorgungslücke zu schließen? Der momentan forcierte Qualitätswettbewerb im Gesundheitswesen wird wohlmöglich in den nächsten Jahren allein schon mit Blick auf die prognostizierten Kostenanstiege durch multimormide Patienten, explodierende Therapie- und Pharmakosten sowie den damit korrespondierenden technisch-medizinischen Fortschritt in einen ergänzenden Preiswettbewerb einmünden. Das medizinisch Wünschenswerte wird verstärkt gespiegelt an der faktischen Realität des Finanzierbaren, sodass mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Pluralität der Versorgungs- und Therapieangebote entlang der Nutzen-Äquivalenz-Linie zu konstatieren ist. Diese verdeutlicht den Trade-ofF zwischen dem empfundenen Nutzen eines Leistungsangebots und der dafür zu entrichtenden Preisbereitschaft:, die bei sehr hochwertigen Leistungen regelmäßig höher ausfallen wird als bei typischen Grund- und Regelleistungen. Unter dem Schlagwort des „Value for Money" werden künftig nicht nur Selbstzahler Preis-/Leistungsvergleiche durchfuhren, sondern auch Krankenkassen in ihrer Rolle als institutionelle Kunden, die durch selektives Kontrahieren versorgungswirtschaftliche Leistungspakete ordern. - Und zwar auf Basis von Mengen, Preisen, Rabatten und definierten Qualitäten, die der Medizinische Dienst der Krankenkassen regelmäßig zum Gegenstand von Kontrollen und Revisionen macht. Diese bisher geführte Diskussion verdeutlicht, dass sich Krankenhäuser zum Ziel ihrer Wettbewerbsfähigkeit von Medizinmanufakturen zur wert- und nutzenschaffenden Expertenorganisationen entwickeln müssen. 6 8 4 Diese adoptieren zunehmend die ökonomischen Prinzipien eines multifokalen Wertmanagements, das sich konsequent auf die Wertschaffung für multiple Stakeholder konzentriert. 685 Hierzu zählen unter anderem neben Patienten, Kostenträgern und Mitarbeitern zunehmend auch die Kapitalgeber bzw. Eigentümer, von denen ein hoher Effizienz- und Renditedruck ausgeht. Uber eine gleichermaßen effektive wie effiziente Hospital Governance muss sichergestellt werden, dass die knappen Versorgungs- und Therapieressourcen nutzenoptimal eingesetzt und latente Leistungsreserven mobilisiert werden. 686 Nicht selten wird in polemischer Diktion der Vorwurf artikuliert, das bundesdeutsche Gesundheitswesen sei nicht unterfinanziert, sondern lediglich überadministriert und fehlbewirtschaftet. 687 — Verbunden mit der Folge, dass aufgrund unprofessioneller Führungs- und Verwaltungsregime Krankenhausmanufakturen mit High-tech-Anmutung entstehen, die bislang weit von der Best-Practice-Produktivitätsgrenze entfernt sind. Die Ursache hierfür ist in exorbitant hohen internen und externen Koordinationskosten 684
685 686 687
Vgl. Rasche, Margaria & Braun von Reinersdorf? (2010), 419 ff., Glouberman & Mintzberg (2001a/b). Vgl. Rasche (2002), Heitele (2010). Vgl. Rasche, Margaria & Braun von Reinersdorf? (2010), S. 421 ff. Vgl. weiterführend Heitele (2010), S. 27 ff.
476 zu suchen, die oftmals Ergebnis einer funktionalen Siloproduktion sind. Evidente Governance-, Leadership- und Management-Defizite im Vergleich zum „Goldstandard" anderer Dienstleistungsbranchen werden mit Blick auf den beschworenen Versorgungsnotstand im Gesundheitswesen zu einem Paradigmenwechsel fuhren. 6 8 8 Dieser lässt die gezielte Praktizierung eines nachhaltigen Wertmanagements zum strategischen Imperativ werden. 689 Im Gegensatz zur angloamerikanischen Deutung dieses Ansatzes steht dabei nicht notwendigerweise die Shareholder-Value-Maximierung im Vordergrund, sondern die Stakeholder-ValueMaximierung für unterschiedliche Adressaten, deren Nutzenfunktionen es zu berücksichtigen gilt. Zu denken ist hierbei nur an das Problem der Anspruchsinflation in der Gesundheitswirtschaft, die regelmäßig zu erbitterten Verteilungskämpfen unter den diversen Anspruchsgruppen fuhrt. Jede für sich reklamiert nicht nur einen Maximalwertbeitrag der eingesetzten Ressourcen, sondern möchte darüber hinaus in den Prozess der Mittelverwendung involviert werden. Das Sozialstaatsprinzip weist Gesundheitsdienstleistungen einen meritorischen Charakter zu, weil es sich hierbei sprichwörtlich um existenzielle Versorgungsangebote handelt, die jedem Bürger unabhängig von seiner Zahlungsfähigkeit „zustehen" sollten. Ein derart umfassender Versorgungsanspruch scheint perspektivisch allein schon aus finanziellen Gründen illusorisch bzw. nur bei evidenten Grundleistungen gerechtfertigt. Zudem werden spezifische Wahlleistungen als demeritorische Güter eingestuft (z. B. Botox-Anwendungen, Facelifting, nicht-medizinisch indizierte Schönheitskorrekturen), deren aggressive Marktpositionierung von medizinischer und sozialethischer Seite äußerst kritisch gesehen wird. Paradoxerweise handelt es sich aber oft um solche Leistungen, die aus der relativen „Laienperspektive" des Gesundheitskunden als extrem nutzenstiftend bewertet werden. Neben dem erwähnten Kosten-, Effizienzdruck im Sinne der Ressourcenproduktivität sind nicht nur ökonomische Wertbeiträge für die Kapitalgeber zu generieren, sondern auch subjektiv reflektierte Nutzenfacetten für den Gesundheitskunden. - Und dies selbst dann, wenn der Healthcare Professional in seiner Funktion als Agent des Klienten qua Expertenstatus anderer Meinung ist. Ethische Konflikte sind eine der Nebenwirkungen einer Zielgruppenmedizin, die Patientenkunden eine viel größere Mitsprache einräumt als die bislang experten-dominante Schulmedizin. Während letztere oftmals das ein relativ unkoordiniertes Produkt medizinischer Teilsysteme ist und im schlimmsten Fall „als Gesamtleistung weniger verkörpert als die Summe der Einzelleistungen", erfordert die Zielgruppenmedizin einen aufwendigen Dialog auf Augenhöhe mit (teil-)informierten Patienten. Diese müssen aufgrund ihrer zunehmend offensiv reklamierten Gesundheitsbedürfnisse bisweilen durch gezielte Aufklärung und Information vor ihrer eigenen 688 689
Vgl. Glouberman & Mintzberg (2001a/b). Vgl. Heitele (2010).
477 Unkenntnis geschützt werden - begründen doch gerade medizinische Leistungen ein hohes Maß an Irreversibilität. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass sich Krankenhäuser den tektonischen Verschiebungen im Gesundheitswesen progressiv stellen müssen, um nicht lediglich auf dem Wege „der operativen Nachsteuerung" vermeidbare Schwächen zu reduzieren. Stattdessen sollte vorsteuernd der strategische Wandel im Einklang mit der Szenario-Veränderung eingeleitet werden. 690
2
Mehrdimensionales Wertmanagement im Krankenhaussektor
2.1 Wertschaflfung und Nutzenstiftung als strategische Imperative Für die nähere Zukunft darf für die Institutionen der Gesundheits- und Krankenhauswirtschaft ein erhöhter Konzentrations-, Konsolidierungs- und Globalisierungsdruck erwartet werden, der in Teilbereichen im ruinösen Hyperwettbewerb kulminieren kann (z.B. ambulante Pflegedienste). 691 Aber auch die bislang stark regulierten Versorgungssektoren (ambulanter und stationärer Medizinbereich) werden sich dem Primat des wertorientierten Managements insofern stellen müssen, als gerade gemeinnützige Trägerorganisationen einem enormen Legitimationsdruck bezüglich der bewirtschafteten Aktivposten ausgesetzt sind. Auch wenn die Wertmaximierung für die Kapitalgeber bzw. Anteilseigener nicht im Vordergrund steht, so müssen doch nachhaltige Werte für Patienten, Angehörige, Kostenträger und Beschäftigte generiert werden. Gerade die nicht-kommerzielle Zwecksetzung vieler gemeinnütziger Gesundheitsinstitutionen (z.B. Hospize) verlangt nach einem Höchstmaß an Managementprofessionalität, weil die spenden-induzierte Produktion sensibler Vertrauensgüter in ethisch brisanten Kontexten im besonderen Fokus der Medienöffentlichkeit steht. Im hier verstandenen Sinne impliziert das mehrdimensionale Wertmanagement im Krankenhaussektor eine professionelle Nutzenstiftung für multiple Anspruchsgruppen, die dabei nicht notwendigerweise Zahlungs- bzw. Kapitalbereitschaft (z.B. Kunden, Kapitalgeber, Kostenträger) zur Verfugung stellen. Vielmehr zeigt der reklamierte Personalmangel in der Gesundheitswirtschaft, dass jenseits der Hardware- und Software-Orientierung (Medizintechnik, Prozesse, IT) eine stärkere Aufmerksamkeit der „People- & Brainware" im Rahmen eines strategischen Kompetenzmanagement geschenkt werden sollte. 692 Konkret bedeutet dies nicht nur einer
690 691 692
Vgl. Heitele (2010). Vgl. Rasche (2002). Rasche, Margaria & Braun von ReinersdorfF (2010).
478 Werterzeugung durch Humankapital, sondern auch eine Nutzen- und Sinnstiftung für das Humankapital, dessen oftmals hohe intrinsische Motivation nicht ausschließlich über monetäre Äquivalente vergütet werden kann. 6 9 3 Soll nicht lediglich die intrinsische durch eine extrinsische Motivation ersetzt werden, so kann die Entlohnung niemals als singulärer Trigger fungieren. Erwartet werden zusätzlich Nutzenkomponenten wie Wertschätzung, Empathie und Realoptionen auf individuelle Kompetenzentwicklung (z. B. Forschungsoptionen), die auf individueller Ebene eine große Rolle spielen können und unmittelbar zur Mitarbeiterzufriedenheit beitragen. Diese ist oftmals eine Voraussetzung für einen hohen Patientennutzen, der wiederum eine Funktion einer exzellenten Interaktion zwischen Leistungsnehmer und Leistungsgeber ist. Insbesondere das Klinikpersonal - ungeachtet ob Mediziner, Pflegekräfte oder Servicepersonal - definiert erfolgskritische Interaktionsmomente mit dem Patienten, der als Compliance-Partner zur aktiven Mitwirkung motiviert und verpflichtet werden muss. Der einerseits evidenzbasierte und andererseits subjektive Patientennutzen wird zunehmend zum Gradmesser des Klinikerfolgs, weil die Kostenträger und deren Agenten in Gestalt der Medizinischen Dienste der Krankenkassen, die Patientenzufriedenheit zur Säule eines holistischen Qualitätsmanagements machen. Im Rahmen von Payfor-Performance-Verträgen führen diesbezügliche Defizite zu finanziellen Wettbewerbsnachteilen. An dieser Stelle entsteht eine existenzielle Rückkopplung zu den Anteilseignern, die ein genuines Interesse an Finanzmittelüberschüssen aus dem operativen Geschäftsbetrieb haben, um diese entweder satzungsmäßig zu reinvestieren oder an die Kapitelgeber auszuschütten. Zweifelsohne können zwischen den multiplen internen und externen Anspruchsgruppen eines Krankenhauses Interessenskonflikte im Rahmen der Wertvorbereitung (Wertschöpfiingsarchitektur), Wertgenerierung (Wertschöpfungsprozess) und Wertaneignung (Wertschöpfungsverteilung) bestehen, sofern diese die Gesamtwertschöpfungsleistung zur ihren Gunsten opportunistisch zu manipulieren versuchen. 694 Nicht umsonst wird das Gesundheitswesen von Lobbyisten dominiert, die auf politischem Wege versuchen, ökonomische Partikularinteressen über den sogenannten Political Mix durchzusetzen. Dieser bildet das Gegenstück zum Marketing-Mix und ist die Handlungsebene eines politischen Interventionsmanagements zur Erzielung von Organisationsvorteilen unter regulierten Marktbedingungen. 695 Die im Kontext der Finanzkrise geführte Diskussion um die Effektivität der Corporate Governance erfasst vermehrt die Krankenhaus- und Gesundheitswirtschaft, weil sich deren Institutionen oftmals außerhalb einer professionellen Kontrolle durch funktionierende Kapitalmärkte und Aufsichtsgremien bewegen. Nicht zuletzt aus diesem
693 694 695
Vgl. Scheck McAlearney (2006). Vgl. Rasche (2004). Vgl. Baron (1995).
479 Grund werden zahleiche Institutionen des öffentlichen und gemeinnützigen Gesundheitswesen despektierlich unter die Mismanaged Institutions bezeichnet. 696 Bedingt durch evidente Kontroll- und Managementdefizite im Gesundheitswesen, wird das nach „Goldstandard" mögliche Wertoptimum auf mikro- und makroökonomischer Ebene verfehlt. Provokativ formuliert leidet das Gesundheitswesen primär nicht an Unterfinanzierung sondern an Uberadministration, singulären Partialoptimierungen und antiquierten Organisationsprinzipien. Die auf durch Fehlkoordination, Fehlkommunikation und Fehlleistung induzierte Wertvernichtung ist dabei weniger ein medizinisch-pflegerisches Problem als vielmehr ein Mangel an versorgungswirtschaftlicher Wandlungs- und Innovationsbereitschaft. Progressive Klinikketten antizipieren in ihren Geschäftsmodellen und Wertschöpfungsarchitekturen die strategischen Erfolgsfaktoren sich bereits abzeichnender Hoffnungs- und Zukunftsmärkte einschließlich der korrespondierenden Kompetenzanforderungen an Medizin, Pflege, Management und Service. Durch diese Form der prognostischen Vorsteuerung lassen sich sogenannte Preemptive Advantages aufbauen, indem zum gegenwärtigen Zeitpunkt experten-validierte Investment- und Innovationsstrategien aus plausiblen Healthcare-Szenarien abgeleitet werden. 697 Im hier verstanden Sinne impliziert ein holistisches Wertmanagement im Gesundheitswesen nicht nur eine Konzentration auf die operative Exzellenz im Tagesgeschäft, sondern das Design innovativer Wertarchitekturen und deren Fundierung mittels strategischer Kompetenz-/Prozess-/Kundenlandkarten, aus denen hervorgeht, welche Erfolgspotenziale für welche Wettbewerbsanforderung(-en) zu akkumulieren sind. Wertmanagement im Gesundheits- und Kliniksektor lässt sich nicht auf ein myopisches Gegenwartsmanagements reduzieren, sondern beinhaltet jenseits der Konsolidierung immer auch ein nachhaltiges Business Development. Dieses orientiert sich an prospektiven Wachstumsachsen, um aus den diagnostizierten Strukturbrüchen in der Gesundheitswirtschaft Kapital schlagen zu können. 6 9 8 Nachfolgend sollen zunächst die Adressaten des Wertmanagements diskutiert werden, um dann diesbezügliche Strategien, Stellgrößen und Managementimplikationen zu diskutieren. Das Wertmanagement für Krankenhäuser und Gesundheitsunternehmen gestaltet sich insofern als komplex, als diese Institutionen den Charakter typischer Hybridorganisationen annehmen, weil sie sich zwischen kommerziellem Marktauftrag und solidarischem Versorgungsauftrag bewegen. Der hier maßgebliche Wertmaßstab kann sich demnach weder in einer puristischen, auf Risiko-/Rendite-Optimierung bedachten Portfolioeffizienz erschöpfen noch wird es künftig möglich sein, „Versorgungsleistungen um jeden Preis, zu jedem Zeitpunkt für jede Adressatengruppe anbieten zu können. Im
Vgl. Heitele (2010), S. 27 ff. Vgl. Borgonovi & Bovetto (1994), Christensen, Böhmer & Kenagy (2000). 698 Vgl. weiterfahrend Braun von Reinersdorff (2010).
696
697
480 Gegensatz zur zweifelsohne ethisch-normativen Wertediskussion im Gesundheitswesen („Was dürfen und wollen wir tun?) fokussiert ein ökonomisches Wertmanagement auf die Art, Qualität und Architektur der Krankenhauswertschöpfung, um knappe Versorgungsressourcen im Sinne legitimer Anspruchsgruppen gesamtnutzenmaximierend einzusetzen (Was können wir uns leisten und wie wollen wir dies erreichen?).
2.2 Adressaten des Wertmanagements In Anlehnung an Heitele lassen sich in der Krankenhauswirtschaft multiple Adressaten identifizieren, die an den erzielten Wertüberschüssen partizipieren möchten, nachdem zuvor die finanziellen und ideellen Ansprüche aller relevanten Ansprüche befriedigt worden sind. 699 Deren Erfullungsmöglichkeit der Ansprüche ist dabei eine Funktion der Effektivität, Effizienz und innovatorischen Kreativität des Ressourceneinsatzes, der einer professionellen Hospital Governance bedarf. Ist diese Bedingung nicht erfüllt, so droht in der primär fremd organschaftlich organisierten Gesundheitswirtschaft Wertvernichtung durch hohe Agenturkosten. Diese entstehen im Kontext komplexer Vertrauensgüter, weil die mittelbaren und unmittelbaren Prinzipale (Kapitalgeber, Aufsichtsgremien, Kostenträger, Patienten) gegenüber professionellen Agenten erhebliche Informations- und Kenntnisnachteile haben. Nicht zuletzt aus diesem Grund fungiert der Medizinische Dienst der Krankenkassen als Kontrollagent der Kostenträger, um (latente) Systemrisiken zu erkennen und einer Wertvernichtung vorzubeugen. Dass dabei eine empfundene Wertvernichtung des einen Akteurs (z. B. überhöhte Abrechnungen, nicht erforderliche Therapien) integratives Element der Wertschaffung eines anderen Akteurs ist, wird beim selektiven Kontrahieren und Pay-for-Performance-Verträgen deutlich, wenn um den Algorithmus der Wertverteilung im Rahmen der Konditionenverhandlungen „gefeilscht" wird. 700 Voraussetzung für Win-Win-Konstellationen sind Network-Governance-Systeme, die zwischen den heterogenen Wert- und Nutzeninteressen der Einzelakteure vermitteln, um eine Kollektiv-Supraddivität überhaupt zu ermöglichen. •
699 700
Wertschaffungfür Kapitalgeber. Unabhängig davon, ob private oder öffentliche Eigentums- und Verfiigungsrechte an einem Krankenhaus, Gesundheitskonzern oder Seniorenstift vorliegen, erwartet die Eigentümerseite eine risikoadjustierte Rendite und Wertsteigerung als Äquivalent für die Kapitalüberlassungsfunktion. Jedoch bestehen beträchtliche Unterschiede bezüglich der Investitionsziele der Kapitalgeber. Während die öffentliche Hand als Klinikeigentümer zumeist an einer bestmöglichen Regionalver-
Vgl. Heitele (2010), S. 147 ff. Vgl. ergänzend Coff (1999).
481 sorgung interessiert ist und die Erwirtschaftung solider Finanzmittelüberschüsse als wichtiges Nebenziel formuliert, definieren Finanzinvestoren und Beteiligungsgesellschaften oft anspruchsvolle Wertsteigerungs- und Ertragsziele. Einhergehend mit der prognostizierten Attraktivität der Gesundheitswirtschaft darf erwartet werden, dass dort Finanzinvestoren verstärkt aktiv werden und eine Restrukturierung der gesamten Branche unter Wertsteigerungsgesichtspunkten anstreben. In einer finanzökonomischen Portfoliodiktion bedeutet der Imperativ der Wertsteigerung immer auch die Notwendigkeit strategischer Change-Management- und TurnaroundProjekte, um als Minimalziel für jede Analyseeinheit die Kapitalkosten „einzuspielen". •
Wertschaffung für Leistungsnehmer. Insbesondere in der Grund- und Regelversorgung zeigen die Leistungsnehmer keine direkte Preisbereitschaft, weil die empfangenen Dienstleistungen vom Kostenträger vergütet werden. Trotzdem sehen sich viele Patienten als Gesundheitskunden, die offensiv ihre Ansprüche reklamieren und auch auf dem Rechtswege durchzusetzen bereit sind. Im Gegensatz zu früheren Dekaden betrachten Krankenhäuser ihre Patienten höchstens in der Akut- und Intensivmedizin als passive Versorgungsobjekte im Therapieprozess. Vielmehr gefordert wird eine proaktive Patientenintegration, die dem (mündigen) Patienten explizite Wahlund Entscheidungsrechte zuweist, die er als Compliance-Partner ausübt. Die Crux besteht allerdings oftmals in semiinformierten „Web2.0-Patienten", die oft nur über ein paramedizinisches Halbwissen bei verfügen. Diese Konstellation manifestiert sich im Phänomen der Anspruchs- und Erwartungsinflation, der nur durch gezielten Patientendialog begegnet werden kann. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Patientenzufriedenheit und die darin synthetisierte Nutzenstiftung individuelle Wahrnehmungskonstrukte repräsentieren, die sich asynchron zur medizinischen Potenzial-, Prozess- und Ergebnisqualität verhalten können. Wertlücken dieser Art entstehen immer dann, wenn große Informationsasymmetrien zwischen Professionals und Patienten bestehen.
•
Wertschaffung für Selbstzahler. Selbstzahler und Privatpatienten avancieren in Krankenhäusern zu hart umkämpften Zielgruppen, bei denen der Versorgungscharakter der Therapiedienstleistung diskret in den Hintergrund treten soll. Dies gilt insbesondere für elektive Leistungen und IGel-Leistungen, deren Erbringung oftmals in einem hotelähnlichen Kundenambiente erfolgt, um dem Patienten ein Maximum an Empathie und Wertschätzung entgegenzubringen. Die zuvor erwähnte Problematik der Anspruchsinflation gilt umso mehr für die Zielgruppen der Selbstzahler
482 und Privatpatienten, weil eine direkte Verkopplung von Preis und Leistung erfolgt. Während die Preisbereitschaft des Privatversicherten mit Einreichung der Rechnung über den Kostenträger kompensiert wird, zeigen IGel-Leistungen eine sachlogische Nähe zu demeritorischen Life- und Health-Style-Produkten. Dies begründen nicht selten ethische Konfliktsituationen, wenn Gesundheitskunden medizinisch nicht zu rechtfertigende Operations- und Therapiewünsche artikulieren bzw. Mediziner bei ihrer zahlungsbereiten Kundschaft diesbezügliche Bedürfnisse wecken. Zweifelsohne bestehen erhebliche Grauzonen bei dem Spektrum der IGelLeistungen, weshalb seriöse Anbieter an einer nachhaltigen Wert- und Nutzenstiftung interessiert sind, um einen Reputationsverlust zu vermeiden. In der Reputation einer Klinik oder eines Gesundheitsanbieters selbst besteht ein genuines Erfolgspotenzial, dessen Beschädigung im Fall sensibler Vertrauensgüter einem massiven Wertverlust gleichkommt. Dies gilt insbesondere für den „grauen Markt" der Komplementärmedizin, der durch ein hohes Maß an Intransparenz gekennzeichnet ist.
701
•
Wertschaffung für Kostenträger. Angesichts der demographischen Entwicklung hin zu einer gerontologischen Gesellschaft und steigenden medizinischen Fortschrittskosten haben die Krankenversicherer ein originäres Interesse an einer nachhaltigen und medizinisch indizierten Mittelverwendung. Erwartet werden hohe Versorgungsqualitäten bei gleichzeitig effizientem und effektivem Mitteleinsatz. Momentan forciert wird der Qualitätswettbewerb, wenngleich das Beispiel des selektiven Kontrahierens die Preis- und Konditionenpolitik stärker auf die Agenda ruft. Mit Blick auf Skalen- und Lernkurveneffekte entstehen für die Krankenversicherer finanzielle Mehrwerte durch Rabattverträge, die perspektivisch zu einer Diskriminierung diversifizierter Grund- und Regelversorger fuhren kann, weil diese allein schon aufgrund geringer Leistungsmengen nicht von Fixkostendegressionseffekten profitieren können. Die Losung des „Big is Beautiful" könnte sich in Zukunft im Geschäftsmodell einer vertikal und horizontal integrierten Healthcare Holding wiederfinden, bei der die Krankenversicherer ambulante und stationäre Versorgungspakete zu einem vorteilhaften Preis-/Leistungsverhältnis kontrahieren. Eine strategische Kontraktionspolitik erweist sich für die Versicherer als ein zentrales Instrument, um im Tarifwettbewerb bestehen zu können.
•
Wertschaffung für die Mitarbeiter. Krankenhäuser verkörpern hoch wissensintensive Expertenorganisationen, deren Wettbewerbsfähigkeit sich maßgeblich über das „Wissen, Wollen und Können" ihrer Professionals definiert.701
Dorgan, Layton, Bloom et. al. (2011), S. 14.
483 Nicht zuletzt aus diesem Grund herrscht aktuell ein „Talentkrieg" in Medizin und Pflege, wie z. B. die Fremdrekrutierung von Anästhesisten, Radiologen und Internisten zeigt. Im Humankapital wird dabei nicht lediglich ein Kostenfaktor bzw. eine Aufwandsposition gesehen, sondern eine strategischer Wertsteigerungshebel.702 Krankenhäuser lassen sich überspitzt als Protagonisten einer postindustriellen Kompetenz- und Expertenökonomie deuten, in der eine nachhaltige Personal- und Organisationsentwicklung eine Vorsteuergröße des Markt- und Finanzerfolgs darstellt. Eingang gefunden hat diese Logik sowohl in adaptierten Healthcare-Balanced Scorecards als auch in fast allen Krankenhaus-Qualitätsmanagement-Systemen. Bedingt durch den direkten Professional-Patientenkontakt tragen qualifizierte, zufriedene und intrinsisch motivierte Mitarbeiter unmittelbar zur Patienten und Kundenzufriedenheit bei. Aus diesem Grund werden regelmäßig Mitarbeiterzufriedenheitsstudien lanciert, um eine drohende Wertvernichtung durch innere Immigration, Burn-out, Dienst nach Vorschrift oder Fluktuation zu vermeiden. Die Wertschaffung durch Mitarbeiter basiert auf einer Wertschaffung für Mitarbeiter, die insbesondere in der Gesundheitswirtschaft lange Zeit vernachlässigt wurde.703 In kaum einer anderen Hochrisikobranche wurde in den letzten Jahren abgesehen von der reinen Fachqualifikation derart wenig Energie in den Aufbau holistischer Wertschöpfungskompetenz investiert. Davon abgesehen sehen viele ambitionierte Professionals in ihrer Employability im Sinne fortwährender Karriereoptionen einen nachhaltigen Organisationswert, den eine Expertenorganisation ihren Kompetenzträgern bieten muss. Gratifikationsleistungen können z. B. in besonderen Qualifikationsmaßnahmen (z. B. MBA) oder Forschungsbefreiungen bestehen. •
702 703
Wertschaßungfiir die ambulanten Versorger. Ein Kardinalanliegen der integrierten Versorgung besteht in der stärkeren Vernetzung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung, wie die Zunahme im unmittelbaren klinischen Umfeld zeigt. Einem ähnlichen Anspruch wollen Belegarztkliniken gerecht werden, wenn diese ein Kreislaufmodell zwischen hausärzdicher und (teil-)stationärer Versorgung zu realisieren versuchen. Häufig besteht zwischen niedergelassenen Fachärzten und stationär arbeitenden Krankenhäusern bei spezifischen Therapieformen eine erhebliche Behandlungskonkurrenz, sodass nach konstruktiven Wegen einer versorgungsökonomischen Symbiose gesucht werden sollte. Einhergehend mit dem Trend zu kürzeren stationären Aufenthalten bei gleichzeitiger Erhöhung der ambulanten The-
Kalamas, Mango & Ungerman (2008). Vgl. Schleck Alearney (2006).
484 rapieanteile, versuchen Kliniken durch den Erwerb vakanter Kassensitze und die Etablierung klinikeigener MVZs mit Portalcharakter, den ambulanten Versorgungsmarkt stärker zu penetrieren. Bei dieser Strategie handelt es sich um eine Verlängerung der Wertschöpfungskette um ambulante und poststationäre Versorgungsanteile. Dabei ist darauf zu achten, das Wertund Nutzenpotenzial der niedergelassenen Fachärzte nicht zu marginalisieren, sofern diese den Charakter eines Haupteinweisers haben und einen Teil des Rentenpools für sich reklamieren. Vielmehr sollte im Rahmen von integrierten Versorgungsmodellen und Disease Management Programmen auf die synergetische Zusammenflihrung von Komplementärkompetenzen zwischen ambulantem und stationärem Sektor geachtet werden. Nicht zuletzt aus diesem Grund wird seit geraumer Zeit die Gewährung von Vorbehandlungspauschalen bzw. eine leistungsanteilige DRG-Aufteilung diskutiert, sofern beide Seiten Hand in Hand arbeiten. 704 •
Wertschaffungfür sonstige Anspruchsgruppen: Hierbei handelt es sich um eine finale Sammelkategorie all solcher natürlicher und juristischer Personen, die moralische und/oder finanzielle Ansprüche reklamieren (können). Zu nennen ist neben den Angehörigen und Selbsthilfegruppen vor allem die breite Öffentlichkeit - zumal viele Krankenhäuser bemüht sind, sich als „Corporate Citizen" in den Dienst der Gesellschaft zu stellen. Unter dem Schlagwort der „Corporate Social Responsibility" sind insbesondere Krankenhäuser für die Wahrnehmung gemeinwohlorientierter Zwecke prädestiniert, um soziale Werte und soziales Kapital zu generieren.
Eine Harmonisierung der multiplen Anspruchsgruppeninteressen provoziert ceteris paribus im Gesundheitswesen oftmals nullsummen-induzierte Zielkonflikte, 705 wenngleich intelligente Versorgungsmodelle in Gestalt hybrider Netzwerklösungen im Spannungsfeld von ambulanter und stationärer Versorgung Positivsummenspiele denkbar erscheinen lassen.706 Dies gilt auch fiir alle Maßnahmen zur Steigerung der operativen Exzellenz durch Erschließung systemischer Leistungsreserven (z. B. Lean Hospital Management, Krankenhaus-Informations-Systeme, Workflow Management, Elektronische Patientenakte), aber für alle Initiativen der strategischen Exzellenz, die auf einen innovatorischen Paradigmenwechsel bei der Wertschöpfungsarchitektur abzielen (z. B. Hub-and-Spoke-Systeme in der Maximalversorgung, Healthcare-Holdings). Während Nullsummenspiele auf die Wertverteilung und Wertaneignung abstellen, steht bei Positivsummenspielen die Wertgenerierung durch Vergrößerung des kollektiv bewirtschafteten Gewinnpools 704
Vgl. Braun von Reinersdorf Heitele & Rasche (2010), Pitum-Weber (2011). Vgl. Coff (1997) und (1999). 706 v g l . Pitum-Weber (2011), Braun von Reinersdorff, Heitele & Rasche (2010). 705
485 im Vordergrund. Diesen durch ein strategisches Business Development zu erhalten und zu expandieren, ist Aufgabe aller Anbieter, um im Sinne der Co-opetitionKonzeption über eine gelungene Synthese aus Kooperation und Wettbewerb eine Wert- und Nutzenstiftung für alle Akteure zu erreichen. Nicht zuletzt aus diesem Grund postuliert Braun von Reinersdorff ein Balanced Hospital Management als Steuerungs- und Führungskonzeption für Krankenhäuser, um die latenten Interessenkonflikte der heterogenen Anspruchsgruppen auszutarieren.
2.3 Risiko-adjustiertes Wertmanagement Das Risikomanagement avanciert im Gesundheitswesen zu einem kritischen Erfolgsfaktor für multiple Anspruchsgruppen, die allesamt ein hohes Interesse an einer Versorgungssicherheit und Dienstleistungsqualität zeigen. Die Minimierung des Patienten- und Versorgungsrisikos ist gleichsam ein Kardinalziel der Gesundheitspolitik, das sich in der Institution des Patientenbeauftragten der Bundesregierung manifestiert. In medial inszenierter Form mehren sich die Reportagen und Berichte über den „Pfusch am Patienten", hochpotente MRSA-Keime oder schlechte Versorgungsqualitäten im Gesundheitswesen, die sich im weiteren Sinne auch auf hotelähnliche Dienstleistungen jenseits der medizinisch-pflegerischen Versorgung beziehen können. Gefordert wird ein multifokales Risikomanagement. Dieses repräsentiert ein komplexes System verschiedener Risikoachsen, zwischen denen Interdependenzen bestehen (können). Neben medizinischen und pflegerischen Risiken (einschließlich omnipräsenter Hygienerisiken) begründen weitere Risikoachsen die Säulen eines übergeordneten Qualitätsmanagements. Hierzu zählen unter anderem technologische, kaufmännische, organisatorische oder allgemeine Führungsrisiken, die ihre Ursache in dysfunktionalen Klinik-Governance-Strukturen haben können. Der von der Politik vehement eingeforderte Qualitätswettbewerb in der Gesundheitsversorgung lässt sich gleichsam als Trigger-Moment für ein multifokales Risikomanagement interpretieren, das versucht, multiple Risiken in unterschiedlicher Granularität zu „managen". Oftmals besteht die Notwendigkeit, ein aggregiertes und indexiertes Gesamtorganisationsrisiko kaskadenförmig in eine Vielzahl operativer Sub-Risiken bis auf die Mikroebene von Akteuren, Prozessen, und Aktivitäten zu zergliedern, um mögliche Risikoursachen qualifiziert evaluieren zu können. Nicht selten haben im Gesundheitswesen vorgeblich triviale Ursachen dramatische medizinische, rechtliche, ökonomische und psychosoziale Folgen, wie die Diskussion um „Pleiten, Pech und Pannen": •
Sicherstellung der Versorgungsqualität bei meritorischen Gütern im Rahmen der Daseinsfürsorge-. Aus dem Blickfeld der Daseinsfürsorge und des Sozialstaatsprinzips besteht ein großes politisches Interesse an einer hohen Versorgungsqualität bei gleichzeitig limitierten Gesundheitsressourcen. Zum Wohl des
Leistungsnehmers gilt es dabei, die latenten und kaum abwendbaren Versorgungsrisiken auf ein vertretbares Minimum zu reduzieren, wenngleich Hoch-Risiko-Organisationen wie Krankenhäuser ein Restportfolio unvermeidbarer Risiken akzeptieren muss. Zudem müssen sich Gesundheitsdienstleistungen und deren „Produzenten" an hohen ethisch-moralischen Standards messen lassen, weshalb ein strategisch vorsteuerndes Risikomanagement zur Pflichtaufgabe im Rahmen der Patientensicherheit wird. Vermeidung zivil- und strafrechtlicher Folgen bei natürlichen und juristischen Personen des Gesundheitswesens-. Das Medizinrecht evolvierte in den letzten Jahren zu einem wichtigen Spezialgebiet der Jurisprudenz im zivil- und strafrechtlichen Sinne. Die Vermeidung negativer Rechtfolgen ist ein zentrales Anliegen des Risikomanagements - zumal diese nicht nur enorme finanzielle Schäden verursachen können, sondern auch die Reputation eines Individuums oder eine Organisation nachhaltig beschädigen. Steigerung der Patientenzufriedenheit: Gesundheitsdienstleistungen repräsentieren typische Vertrauensgüter, die durch erhebliche Informationsasymmetrien zwischen Anbieter und Nachfrager gekennzeichnet sind. Aus dem Blickfeld der Patienten sind Gesundheitsdienstleistungen Verhaltens-, bewertungs- und ergebnisunsicher, weshalb auf sie minimale Therapieund Interventionsrisiken „vertrauen" müssen. Umso wichtiger ist ein Risikomarketing im Sinne glaubwürdiger Qualitätsversprechens. Intersektorale Koordination und Kommunikation-. Patientensicherheit und Versorgungsqualität sind eine Funktion sogenannter „Seamless Workflows", die die funktionalen Silogrenzen der Fachprofessionen transzendieren. Voraussetzung hierfür sind IT-unterstützte Kommunikations- und Koordinationsprozesse, wie sie durch moderne Krankenhaus-Informations-Systeme abgebildet werden. Ein oft vernachlässigtes Sicherheitsmoment ist die adäquate Patienten- und Angehörigenkommunikation zum Ziel einer hohen Compliance. Institutionen- und fachübergreifendes Risikomanagement-. Das Postulat nach Koordination und Kommunikation in der Gesundheitsversorgung erfordert auf der operativen Entscheidungs- und Handlungsebene ein fach- und institutionenübergreifendes Risikomanagement. Denn das Gesamtorganisationsrisiko ist nicht lediglich die Summenfunktion aller Teilrisiken. Vielmehr sind deren Wechselwirkungen übergreifend und systemisch zu analysieren, weil häufig Trade-offs zwischen den diversen Teilrisiken bestehen. So impliziert ein „Zero Tolerance & Failure"-Anspruch mit dem Erreichen einer sehr hohen Gütestufe die Inkaufnahme finanzieller Risiken infolge einer kostenintensiven Risikovorsorge.
487 •
Kosten- und Effizienzdruck: Ambulante und stationäre Gesundheitsversorger sind einem enormen Kosten- und Produktivitätsdruck ausgesetzt, der finanzielle Risiken auf der einen Seite und Versorgungsrisiken auf der anderen Seite induzieren kann. Führt ein Kosten-Dumping gleichzeitig auch zu einem Leistungs- und Qualitätsdumping in Form von Rationierung oder Minderqualitäten, so gilt es im Rahmen eines Balanced-Risk-Managements die bestehenden Finanz- und Versorgungsrisiken zu synchronisieren.
•
Systematische Überwachung aller relevanten Mikro- und Makroumweltbereiche durch strategische Früherkennung: Die systematische Überwachung der relevanten Gesundheits-System-Umwelten erweist sich als wirksame Maßnahme der Risiken- und Chancenerkennung, weshalb eine diesbezügliche Methodenkompetenz unabdingbar ist.
•
Systemisches Risikomanagement-. Während in der Vergangenheit im Gesundheitswesen einzelinstitutionelle Risiken in zumeist fein granulärer Form thematisiert wurden, gilt es perspektivisch die Risikodisposition vernetzter Akteure zu analysieren. Eine Höchstmaß an Interdependenz und Vernetzung (ohne ausreichende Pufferkapazität an den Systemgrenzen) kann aber systemische Risiken provozieren, wie sie jüngst im Rahmen der Finanzkrise offenbar wurden bzw. gegenwärtig im globalen Supply-Chain-Management aufgrund der Fukushima-Katastrophe drohen. 707
Das risiko-adjustierte Wertmanagement sensibilisiert die Entscheidungsträger im Gesundheitswesen für die Notwendigkeit, sich systematisch mit allen möglichen Risikoexpositionen auseinanderzusetzen, um eine Fehlerprävention in Frühstadium zu ermöglichen. Gerade im klinischen Betrieb entstehen durch (leicht) vermeidbare Risiken exorbitante Wertverluste. So ist in einem ersten Schritt feiner Ebene zu analysieren, welche Risiken, entlang welcher Gefahrdungsachsen mit welcher Wahrscheinlichkeit und welchen Konsequenzen auf welchem Level akzeptiert bzw. nicht akzeptiert werden. In einem zweiten Schritt ist im Rahmen einer 80:20-Analyse zu hinterfragen, ob sich spezifische Risiken durch vergleichsweise triviale organisatorische Maßnahmen deutlich reduzieren lassen (z.B. Hygienevorschriften, Babytransponder, Medikamentenausgabe) bzw. welche Form der Risikominimierung extrem kostspielig ist. Diese Form der Kosten-/Nutzenanalyse lenkt die Aufmerksamkeit des Klinikmanagements auf Risikoprioritäten, um eine maximale Hebelwirkung der eingeleiteten Veränderungsmaßnahmen zu erzielen. Eine kaum beachtete Form der Wertvernichtung im Krankenhaussektor besteht aber nicht nur in der Negierung von Gefahrdungspotenzialen, sondern 707
Vgl. zu diesem Punkten ergänzend Heitele (2010), Rasche, Margaria & Braun von Reinersdorff (2010), Braun von Reinersdorff, Heitele & Rasche, Hogan, Singh & Rasche (2011).
488 in der Nichterkennung und Nichtergreifung sich abzeichnender Chancenpotenziale. Die Vermeidung derartiger Unterlassungsfehler ist ebenfalls Teil eines risikoadjustierten Wertmanagements, das immer auch die Opportunitätskosten einer Status-quo-Konservierung reflektieren sollte. Auch ist zu bedenken, dass sich die Kompetenzentwicklung im Krankenhaus als Ergebnis der Lern- und Innovationsbereitschaft seiner Mediziner und Pflegekräfte darstellt. Diese aber basiert auf dem Prinzip des Fehlerlernens, weshalb eine „Zero-Failure-Tolerance"-Mentalität im Krankenhaus paradoxerweise zu ungünstigen Risikopositionen fuhren kann, wenn deshalb Fehler verschwiegen, Innovationen gehemmt und Veränderungsprozesse unterdrückt werden. Die bewusste Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Bedrohungs- und Chancenfeldern eines Krankenhauses ist Gegenstand eines holistischen Wertmanagements, wobei ein offener Dialog über die zu akzeptierenden Risikoexpositionen gefuhrt werden sollte. Auch wird im Rahmen des Risikomanagements im Krankenhaussektor das Augenmerk zumeist auf die Beherrschung endemischer Gefährdungsfelder des operativen Krankenhausbetriebs gelegt, ohne dabei die strategischen Risiken der Wertvernichtung durch negierte bzw. vertane Chancenfenster zu reflektieren. Das Konzept eines Balanced-Hospital-Managements vermittelt zwischen den Trade-offs im Risikomanagement, indem die möglichen Spannungsfelder zwischen kurz- und langfristigen Ambitionen, Markt- und Versorgungsinteressen sowie Therapiezielen und Patientenwünschen aufgedeckt werden. 708 Heitele fordert gar ein multifokales Krankenhausmanagement als logische Weiterentwicklung eines Balanced-Hospital-Managements, in dessen Mittelpunkt neben der Balanced Scorecard und dem EFQM-Modell das von Rasche entwickelte Modell des multifokalen Managements steht. Auf diese Weise entsteht ein multiparadigmatisches Führungs- und Steuerungssystem für Krankenhäuser, das aus praktischer Sicht allerdings eine Gefahr birgt: Die Überforderung kleiner und mittlerer Krankenhäuser, denen es in vielen Fällen an der Reife für die Einführung betriebswirtschaftlicher Spitzenstandards mangelt. Nicht zuletzt aus diesem Grund sollte nach robusten, adaptiven und institutionenspezifischen Managementlösungen gesucht werden, die die Betroffenen fördern und fordern, ohne dabei zu überfordern. 709 Wenn derzeit bei der Ausschreibung vieler Chefarztpositionen explizit ein MBA-Abschluss oder zumindest fundierte Managementkenntnisse zur Bedingung gemacht werden, dann ist hierin nicht nur ein starkes Signal für den Wandel der Kompetenzanforderungen zu sehen. Dieser Trend ist gleichsam ein Vorbote für ein risiko-adjustiertes Wertmanagement im Krankenhaussektor, das Versorgungsziele, Patientenziele, Mitarbeiterziele sowie Finanz- und Marktziele in den Mittelpunkt von Strategie und Umsetzung rückt.
708 709
Vgl. Braun von Reinersdorff (2007). Vgl. Heitele (2010), 131 ff.
489
3
Wertsteigerungsmanagement im Krankenhaussektor: Strategien, Methoden und Umsetzung
Nachfolgend soll aufgezeigt werden, welche Implikationen sich fur Krankenhäuser durch ein zu verankerndes Wertsteigerungsmanagement ergeben. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den korrespondierenden Strategien und Methoden sowie seiner Umsetzung, die mitunter einen Paradigmenwechsel in der Führung und Steuerung von Krankenhäusern zu Gegenstand haben kann. Dies gilt umso mehr für Gesundheitsanbieter, die sich nicht länger als experten-geleitete Manufakturbetriebe sehen, sondern als High-tech-und High-serv-Organisationen, fur die medizinische Spitzentechnologien und Serviceprozesse zentrale Elemente eine übergeordneten Wert- und Nutzenlogik sind. 7 1 0 Diese hinterfragt gezielt alle Ressourcenrekrutierungs-, allokations- und Veredelungsprozesse im Hinblick auf die periodisch erzeugten Mehrwerte für die oben genannten Anspruchsgruppen. Eine zentrale Aufgabe fallt diesbezüglich der Hospital Governance zu.
3.1 Hospital-Governance als Wertdimension Zumeist fremd-organschaftlich geführte Krankenhäuser leiden oftmals unter hohen Agenturkosten im Fall evidenter Divergenzen zwischen beauftragter Geschäftsführung einerseits und potenziell intervenierenden Kontrollorganen andererseits. Krankenhäuser bewegen sich verstärkt im Fadenkreuz von Zielgruppenmedizin einerseits und Versorgungsgruppenmedizin anderseits, wodurch oftmals Zielkonflikte zwischen Geschäftsführung und nicht selten konfessionellen und politischen Aufsichtsorganen provoziert werden. Dies gilt umso mehr für Reizkonstellationen, in denen die Prinzipalseite mehrheitlich den Versorgungscharakter eines Krankenhauses betont, während die Agentenseite an einer renditemaximierenden Zielgruppenmedizin interessiert und vice versa. Im Fall privater und teilweise börsennotierter Krankenhausholdings steht zwangsläufig das Management unter einem erheblichen finanziellen Wertsteigerungsdruck, der sich über verbindliche Leistungsindikatoren und betriebswirtschaftliche Kennzahlen definiert. Davon betroffen ist zunehmend die ärztliche Leitungsebene, die schon heute einer 360-Grad-Bewertung unterzogen wird und zusätzlich zur erwarteten Kernleistungsqualität betriebswirtschaftliche Performanz zeigen muss. Während sich die privaten Anbieter in ihrer Geschäftssystemlogik dem mehrdimensionalen Wertmanagements unterwerfen und eherne Krankenhausprinzipien im Rahmen eines offensiven Restrukturierungsmanagements „über Bord werfen", werden die öffentlichen und kirchlichen Anbieter von system-konservierenden Trägheitsmomenten heimgesucht. Dementsprechend schwer fällt die Anbahnung und Um710
Vgl. Christensen, Böhmer Sc Kenagy (2010).
490 setzung radikaler Change-Projekte, die auf Innovations-, Markt- und Strategieorientierung angelegt sind. Dafür mitverantwortlich sind zu einem beträchtlichen Teil politisch und bisweilen (schein-) altruistisch motivierte Mandatsträger in den Aufsichtsorganen, denen es oftmals an der medizinökonomischen Kompetenz mangelt, um die Notwendigkeit strategisch vorsteuernder Veränderungsprozesse zu erkennen. Diese Form der Governance-Kompetenzlücke könnte sich künftig als Hemmschuh bei der Bewältigung flexibler Markt- und Wettbewerbsanpassungen erweisen. Letztere werden die privaten Anbieter aufgrund absoluter Governance-Vorteile künftig schneller, effizienter und kompromissloser umsetzen als gemeinnützige Hospitäler, die im Fall eines auf Wertsteigerung bedachten Portfoliomanagements ihren gemeinwohlorientierten Versorgungscharakter einbüßen werden. Dies soll nicht heißen, dass private Anbieter keinem Versorgungsauftrag verpflichtet wären. Jedoch bieten sich diesen aufgrund einer höheren organisatorischen Flexibilität oftmals andere Optionen, diesen besonders kosteneffizient zu erfüllen. 711
3.2 Systemisches Portfolio-Management als Wertdimension Das von Heitele propagierte Konzept des systemischen Portfolio-Management berücksichtigt neben den Interdependenzen der Portfolio-Objekte auch deren Aggregationsstufe sowie deren Bezugspunkt in der medizinischen Versorgungskette — je nachdem, ob es sich um Kompetenzen, Technologien, Fachabteilungen, Therapieleistungen oder Patienten handelt. Auch kann nach der Granularität der Portfolio-Objekte differenziert werden, die von der Klinikebene bis zur Fallpauschalenebene reichen kann. 712 Abbildung 46 verkörpert eine Meta-Portfolio-Systematik, die das Gesamtspektrum der möglichen Portfolio-Objekte eines fiktiven Gesundheitskonzerns erfasst. In Abhängigkeit von der Betrachtungsebene lassen sich mittels dieser Logik gleichermaßen übergeordnete Strategiethemen ebenso abbilden wie operative Details, die nach einer detaillierten Analyse auf den Subebenen eines Krankenhauskonzerns verlangen.
711 712
Vgl. hierzu auch Heitele (2010), S. 2 7 ff. Vgl. Heitele (2010), S. 138 ff.
491
Mikro-P*rep«ktiv«
Abbildung 46: Meta-Portfolio-Systematik Quelle: Heitele (2010), S. 144.
Das systemische Portfolio-Management umfasst in der Diktion von Heitele sechs Managementfelder, die in einer sachlogischen Beziehung zum Wertsteigerungsmanagement stehen. Im Einzelnen handelt es sich hierbei um das •
Wachstumsmanagement
•
Risikomanagement
•
Renditemanagement
•
Sanierungsmanagement
•
Optionenmanagement und
•
das Interdependenzmanagement.
Abbildung 47 erweitert die sonst übliche Risiko-/Rendite-Doktrin des Portfoliomanagements um weitere wichtige Handlungsfelder des Wertmanagements, wie die Notwendigkeit neue Expansionsfelder zu erschließen, Sanierungsprojekte zu initiieren oder über Horizontalstrategien Skalen- und Verbundeffekte durch ein gezieltes Management von Interdependenzen zu realisieren. Diese können nicht nur in leistungswirtschaftlichen Verflechtungen zwischen Fachabteilungen (z. B. Radiologie, Kardiologie, Chirurgie) bestehen, sondern auch in versorgungswirt-
492 schaftlichen Angebotsverpflichtungen. Selbst wenn sich diese nur unrentabel realisieren lassen (z. B. Pädiatrie), so dürfen diese dennoch nicht als „Poor Dogs" aus dem Portfolio eliminiert werden. Möglich dagegen ist eine „Schadensbegrenzung" in Form einer Verlustminimierung bzw. einer positiven Imagewirkung im Fall der Pädiatrie und Geburtsmedizin. Zudem sind künftig im Zuge des Medizin- und Krankenhaus-Controlling innerbetriebliche Leistungsverflechtungen in Rahmen von silo-übergreifenden Prozesskostenrechnungen abzubilden, um ein verursachungs- und wertgerechtes Ressourcenmanagement zu praktizieren.
Sanierungsmanagement Krisenerkennung Krisen lokal isation Krisenevaluation Krisenbewältigungsstrategien Sanierungsziele Sanierungsfähigkeit Sanlerungswürdlgkelt Sanierungsmaßnahmen Sanierungsoptionen
Intederpendenzmanagement
Optlonenmanagement • strategische Portfolio-Optionen • Markt- und Wettbewerbsoptionen « medizinische Therapieoptionen • pflegerische Optionen • Dienstleistungsoptionen • betriebswirtschaftliche Optionen • Konfiguration der Option - Investitionsoptionen - Liquidationsoptionen • Aus- und Einstiegsoptionen
• Portfolio-Verflechtungen • interne Leistungsverflechtungen • externe Leistungsverflechtungen • •
Synergiemanagement Horizontalstrategien
• • •
Schnittstellenmanagement Make-or-Buy-Management MVZ-Management
Abbildung 47: Systematik und Logik eines systemischen Portfolio-Managements Quelle: Heitele (2010), S. 144.
3.3 Strategische und operative Exzellenz Wertdimension Viele Krankenhäuser verschreiben sich gegenwärtig der Disziplin der operativen Exzellenz, indem sie versuchen ihr bestehendes Geschäftsmodell zu perfektionieren. Im Vordergrund stehen dabei die Maßnahmen eines eher inkrementellen „Nennermanagements", bei dem ein hoher Return on Investment über einen reduzierten Mitteleinsatz bzw. eine Mobilisierung latenter Leistungsreserven zu erreichen versucht wird. Sofern die Optionen des Zählermanagements ergriffen werden, beziehen sich diese zumeist auf eine moderate Arrondierung des Kerngeschäfts um Wahlleistungen und leicht zu erschließende Umsatzquellen. Wahrend die Maßnahmen der operativen Exzellenz innerhalb eines definierten Portfolios initiiert werden, zielt die strategische Exzellenz auf eine bewusste Veränderung der Portfoliogrenzen durch strategische Transaktionen (Kauf, Verkauf, Fusion) bzw.
493 organische Veränderungen im Zuge radikaler Neuausrichtungen ab. Hierzu zählen sowohl auf Fokussierung bedachte Portfolio-Konsolidierungen als auch die Erweiterung und Vertiefung des Portfolios im Zuge von M&A-Transaktionen. Die Lancierung strategischer Initiativen im Krankenhaussektor erweist sich aufgrund der konservierenden Governance-Systeme oftmals als anspruchsvolles Unterfangen, weil ein radikaler organisatorischer Wandel oftmals erhebliche Widerstände hervorruft. Abbildung 48 systematisiert als Komplexdarstellung das Spannungsfeld zwischen operativer und strategischer Exzellenz.
Kunden / Patienten
strategische Exzellenz
Produkte/ Leistungen
' Führungsoptionen? 1 Wettbewerbsarenen? ' strat. / operatives Mgt.
3 Inside-out-focus
_Top-down
Entrepreneurship Management
Bottom-up
Marketing, Vertrieb
Outside-in-focus
Technologien
operative E x z e l l e n z Manage igement
4
Führung
operatives Mgt. Optionengenerierung? Optionenrealisierung?
horizontale Wertprozesse
Abbildung 48: Harmonisierung strategischer und operativer Entscheidungsfelder Quelle: Heitele (2010), S. 135.
3.4 Integriertes Krankenhausmanagement als Wertdimension Als Antwort auf die gestiegene Wettbewerbs- und Umweltkomplexität im Gesundheitswesen werden die Forderungen nach ganzheitlichen Führungs- und Steuerungsmodellen für Krankenhäuser laut, die inhaltlich und methodisch über den Anspruch technokratischer Enterprise-Resource-Planning-Systeme hinausgehen. Letztere finden ihre Entsprechung in Krankenhaus-Informations-Systemen, die im günstigsten Fall dem One-Thing-Approach folgen und eine nutzerfreundliche Harmonisierung bisweilen sehr heterogener Hardware- und Software-Konstellationen unterstützen.713 Jenseits dieser eher technischen Herausforderung beinhaltet ein integriertes Krankenhausmanagement die Synchronisation eines 713
Vgl. Rasche, Margaria & Braun von Reinersdorff (2010), S. 427 ff.
494 heterogenen Problemfeld- und Entscheidungstableaus durch unterstützende Führungs-, Steuerungs- und Kontrollansätze, die sich bis auf die Einzelmethodenebene herunterbrechen lassen. So ist zu prüfen, welche „Best Practices" in methodischer, prozessualer oder struktureller Hinsicht (in adjustierter Form) auf die Krankenhauswirtschaft übertragen werden sollten, um operative Systemreserven zu erschließen und attraktive Expansionsoptionen zu ergreifen. Abbildung 49 umreißt modellhaft die Idee eine integrierten Krankenhausmanagements.
Abbildung 49: Modell eines integrierten Krankenhausmanagements Quelle: Heitele (2010), S. 137.
495
4
Von Medizinmanufaktur zur Hochleistungsorganisation
Nachfolgend soll anhand von vier Eckpfeilern aufgezeigt werden, wie sich Medizinmanufakturen in wettbewerbsfähige Hochleistungsorganisationen transformieren lassen.
4.1 Workflow- statt Manufaktur-Geschäftsmodelle Bedingt durch die wertvernichtende Kombination aus hierarchischer Top-downSteuerung, berufsständischer Fach- und Subsilobildung sowie einer dominanten Inside-out-Orientierung, die immer die Expertensicht wiederspiegelt, entstehen exorbitante Koordinationskosten und Reibungsverluste an den internen und externen Systemschnittstellen. Hohe Transaktionskosten verursachen zudem die Barrieren zwischen ambulanter und stationärer Versorgung, wie am Bespiel der Behandlungskonkurrenz zwischen Krankenhäusern und niedergelassenen Fachärzten deutlich wird. Die konsequente Umsetzung industrieller Workflow-Prinzipien im Krankenhaus erfordert ein Professionen übergreifendes Entscheiden und Handeln - und zwar nicht nur innerhalb der dominanten Medizin-, Pflege-, Verwaltungs- und Techniksäulen, sondern auch zwischen diesen Fachsilos. 714 Dabei steht die praktische Evidenz Pate, dass sich Gewinne und hohe Versorgungsqualitäten nur dann generieren lassen, wenn sich Kernprozesse, Subprozesse und Einzelaktivitäten „im Fluss" befinden. Vorreiter und Protagonist auf diesem Gebiet ist die Zentrale Notfall-Medizin einschließlich des dort favorisierten FirstView-Konzepts, das eine Erstversorgung des Patienten innerhalb von 15 Minuten vorsieht. 715
4.2 Adoption diensdeistungsorientierter Managementprinzipien Der markt- und wettbewerbsstrategische Ansatz impliziert die konsequente Ausrichtung einer Organisation auf Kunden und Konkurrenten. Dies gilt umso mehr für dienstleistende Expertenorganisationen wie Krankenhäuser, deren Patienten verstärkt als Gesundheitskunden auftreten und sich in Zielgruppen segmentieren lassen. Zudem wird von ihnen eine aktive Patienten-Compliance erwartet, der sie über die Rolle als externer Faktor hinausgehend zu Ko-Produzenten komplexer Therapieleistungen werden lässt. Die bislang dominierende Expertensicht des Krankenhauses, die sich primär der evidenzbasierten Schulmedizin verschreibt, wird sich künftig stärker den subjektiven Nutzenerwartungen seiner Zielgruppen
714 715
Vgl. Collins & Muthusamy (2007). Vgl. Hogan, Singh & Rasche (2009) und (2011).
496 auch dann widmen müssen. Im Fall klaffender Lücken zwischen Erwartungshaltung und erfüllbarem Leistungsversprechen erweist sich eine zielgruppenadäquate Patientenkommunikation als wichtiges Steuerungsinstrument der Kundenzufriedenheit. 716
4.3 Innovative Geschäftszweckdefinition: Experten- versus Marktorientierung Die Losung des ehemaligen CEOs von Allied Signal Larry Bossidy „You cannot shrink to greatness!" resümiert pointiert die Grenzen unkreativer Sanierungsmaßnahmen, die primär auf Portfolio-Bereinigung und operative Sanierungsmaßnahmen abstellen. Perspektivisch gefragt in einer drohenden Ära des Hyperwettbewerbs im Gesundheitswesen sind innovative Geschäftszweckdefinitionen, die über die Standardfloskeln der bestmöglichen Patientenversorgung hinausgehen. 7 1 7 Grundsätzlich zu harmonisieren sind in diesem Kontext die medizinischen Versorgungsprioritäten mit den Markt- und Wettbewerbsprioritäten, sodass im günstigsten Fall ein Strategie Fit zwischen endogen Erfolgspotenzialen und exogenen Erfolgsfaktoren erreicht wird. Weiterhin ist zu klären, wie eng bzw. weit ein Krankenhaus seinen Geschäftszweck definieren möchte. Während eine zu enge Marktdefinition eine Verkennung von Chancen und Risiken begünstigen kann, führt eine sehr weite Marktabgrenzung in räumlicher, sachlicher, zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht zur strategischen Verzettelung und Zersplitterung der Krankenhausressourcen. Abbildung 50 verdeutlicht die Logik der Geschäftszweckdefinition im Krankenhaussektor anhand eines Zwiebelschalenmodells, in dessen Mittelpunkt das konventionelle Kerngeschäft steht. Dieses wiederum fungiert oftmals als leistungswirtschaftliche Absprungbasis für die systematische Erschließung kompetenzaffiner Dienstleistungs- und Therapiefelder.
716 Vgl. zum Service-based View oft the Firm Rasche, Margaria und Braun von Reinersdorff (2010), S. 427 ff. 7 1 7 Vgl. Oberender, Hacker & Schommer (2008).
497
Clinic Governance {Zentrenholding vs. Zentralverwaltung) Versorgung (stationär oder ambulant)
Leistungsniveau (top, mittel, WANZ-Level)
e v i d e n z b a s i e r t e Alternativmedizin
Hkonservative S c h u i m e d i z i n o i n v a s i v e E l e k t i v m e d i z i n W^^M. Therapy O w n e r (Casé-Mgmt., I . Hauptfeitstelie) '
maximalinvasive Akutmedizin
Therapieformen (z. B. High-Tech vs. Slow Medicine)
/
Zielgruppen
Diagnosen
(PKV, G KV, Selbstzahler)
(Krankheiten, Bedürfnisse)
Retail Fokus (Lokal, national, international)
Abbildung 50: Geschäftszweckdefinition im Gesundheitswesen Quelle: Heitele (2010), S. 108.
5
Conclusio
5.1 Fazit Die zuvor skizzierten Veränderungstreiber der Gesundheitswirtschaft erzwingen eine betriebswirtschaftlich Wertorientierung im erweiterten Sinne. Nicht das eindimensionale Streben nach spekulativen Finanzwerten steht dabei im Vordergrund, sondern der nachhaltige Ressourceneinsatz zum Wohl der Vielzahl der zu bedienenden Anspruchsgruppen. Aufgrund der gesetzlichen Versorgungsvorgaben und des meritorischen Charakters vieler Gesundheitsdienstleistungen bewegen sich die Akteure der Gesundheitswirtschaft innerhalb eines relativ rigiden Ordnungsrahmens, der ihnen ein komplexes Zielsystem exogen aufoktroyiert. Dabei kollidiert gelegentlich die ökonomisch-rationale Wertorientierung mit der philosophischen Wertorientierung im Sinne moralisch-altruistischer Grundüberzeugungen. Gegenstand des mehrdimensionalen Wertmanagements im Gesundheitswesen ist dabei der Spagat zwischen beiden Wertinterpretationen. Wahrend in der Medienöffentlichkeit der ökonomische Wertbegriff oftmals negative Profitassoziationen weckt, wird im Rahmen dieses Beitrags darin lediglich das sorgsame Ressourcenmanagement zur effizienten Realisierung der primären Organisationsziele
498 gesehen. Diese können dabei auch nicht-monetärer bzw. gemeinnütziger Natur sein, deren wirtschaftliche Erreichung aus dem Blickfeld der normativen Unternehmensfuhrung ethisch-moralisch geboten ist. Bedingt durch die soziodemographischen Strukturbrüche in den meisten hoch entwickelten Industrie- und Dienstleistungsnationen steht der Sozialstaat einschließlich seiner Kerninstitutionen zunehmend auf dem Prüfstand. Wohlfahrtsökonomisch wünschenswerte Staatsleistungen in den Bereichen „Gesundheit, Kultur und Soziales" lassen sich auf Basis des Generationenvertrags in der geforderten Qualität und Quantität kaum mehr für weite Teile der Bevölkerung als quasi-öffentliche Güter anbieten. Die Grenzen der Finanzierbarkeit erzwingen das Begehen neuer Wege im Rahmen der Produktion sozialer Dienstleistungen bei gleichzeitig stagnierender oder abnehmender Ressourcenverfugbarkeit. Schon jetzt ist eine maximalmedizinische Versorgung aus Budgetgründen nicht mehr zu leisten, weshalb von politischer Seite lediglich die Losung der kostengünstigeren, evidenzbasierten Optimalversorgung ausgeben wird. Wie diese Überlegungen zeigen, avanciert die Gesundheit zunehmend von einem Sozialfaktor zu einem Wirtschaftsfaktor, der gleichermaßen Kosten-, Wachstums- und Werttreiber ist. Gesundheit als Ä^f«yä£tor/718Demographie-bedingt ist ceteris paribus mit erheblichen Kostenanstiegen in Form von Beitragserhöhungen zu rechnen, sofern nicht durch effizienz-steigernde Methoden eine Optimierung des Ressourceneinsatzes erreicht wird. Hierzu zählen unter anderem die Etablierung von Medizinischen Versorgungszentren, Clinical Pathways, DRG-Systemen, Qualitätsmanagementsystemen oder evidenzbasierter Gesundheitsfürsorge. Gesundheit als Wachstumstreiber?19 Der gesellschaftliche und ökonomische Stellenwert der Gesundheit und affiner Assoziationsfelder wie Fitness, Wellness oder Vitalität ist Grundlage einer Vielzahl dienstleistungsorientierter Geschäftssysteminnovationen zur Erschließung attraktiver Wachstumsfelder (Wellness Resorts, Sport- und Healthstyle-Kliniken, Gesundheitstourismus). Insofern kann die Gesundheit als „Motor" der regionalökonomischen Entwicklung strukturschwacher, aber landschaftlich reizvoller Landstriche dienen und deshalb ein Nukleus der Standortpolitik sein. Gesundheit als Werttreiber:72® Nicht nur im ökonomischen Sinne sind Gesundheits-einrichtungen gefordert, Mehrwert für die Anteilseigner als monetäres Äquivalent für die Kapitalüberlassung zu generieren, sondern auch im medizinischevidenzbasierten Sinne. Der patientenseitig wahrgenommene Behandlungserfolg 718 719 720
Vgl. Nöthen & Böhm (2009). Vgl. Oberender (2010). Vgl. Heitele (2010).
499 manifestiert sich in hohen Zufriedenheitsgraden und final in Kundentreue und positiven Imagewerten für den Anbieter. Makroökonomisch lässt sich die Gesundheit in der Diktion des Public-Health-Ansatzes insofern als Werttreiber deuten, als sich durch präventive Disease-Management-Programme der wohlfahrtsökonomische Gegenwert der eingesetzten Gesundheitsressourcen deudich steigern lässt. Dies gilt insbesondere für die zeitliche Verzögerung, Abmilderung oder vollständige Abwehr chronischer Erkrankungen, die im Fall ihrer Manifestation einer lebenslangen Therapie bedürfen.
5.2 Thesen These 1: Das industrielle Flussprinzip als Paradigma für Versorgungsmodelle Angesichts der hohen technischen, sozialen und medizinischen Komplexität der integrierten Hochleistungsmedizin können Einzelkompetenzlösungen weder aus ökonomischer noch aus medizinischer Sicht zu versorgungsoptimalen Marktangeboten fuhren. Vielmehr gilt es, im Teamverbund das Flussprinzip anzuwenden, um Versorgungsprozesse effizienter und besser zu managen. 721 These 2: Vom medizinischen Versorgungsbetrieb zur Prozess- und Netzwerkklinik Die Evolution administrierter Versorgungsbetriebe in Richtung vernetzter Prozessorganisationen verlangt weniger nach zusätzlicher medizinischer Funktionalexpertise als vielmehr nach holistischer Prozess- und Geschäftssystemkompetenz. Diese beinhaltet nicht nur eine Permeabilität der funktionalen Medizin-, Pflegeund Verwaltungssilos, sondern auch einen moderaten Hierarchieabbau zugunsten dezentraler Kompetenzzentren. 722 These 3: Krankenhäuser als wissensintensive Expertenorganisationen In kaum einer anderen Unternehmung wird derart intensiv Wissen generiert, Wissen veredelt und Wissen genutzt wie im Krankenhaus. Allerdings reflektieren die meisten Krankenhaus-Informations-Systeme als Metdatenbanken lediglich den Status quo, ohne die Vielzahl heterogener „Zahlen, Daten und Fakten" für strategische Controlling- und Kompetenzentwicklungszwecke sinnvoll aufzubereiten. 723 These 4: Rationalisierung durch Intelligente IT-Lösungen Ein Kernproblem des Gesundheitswesens besteht in der Mobilisierung organisatorischer Leistungsreserven zum Ziel der Versorgungsquantität und -qualität. Nach 721 722 723
Vgl. Collins & Mutusamy (2007). Vgl. Pitum-Weber (2011), Braun von Reinersdorff, Heitele & Rasche (2010). Vgl. Glouberman & Mintzberg (2001a/b).
500 dem Vorbild so genannter „Lead Industries" wird die Informationstechnologie zur treibenden Kraft der Organisationsentwicklung, wie sich am Beispiel der Industrialisierung, Vernetzung und Serviceorientierung der Gesundheitswirtschaft zeigt (z. B. Telemedizin). 724 These 5: „Hub-and-Spoke"-Versorgungsmodelle Als Reflex auf die Wettbewerbs- und Umweltkomplexität werden im Gesundheitswesen innovative Organisations- und Koordinationsformen entstehen, die nach dem Vorbild hoch kompetitiver Referenzbranchen den Netzwerkgedanken gegenüber dem monolithischen Steuerungsansatz favorisieren. Der Maximalversorgungsklinik bzw. der Klinikholdung kommt in diesem „Hub-and-Spoke"Modell die Rolle des fokalen Unternehmens, das die Network Governance übernimmt und eine wichtige Drehkreuzfunktion übernimmt. 7 2 5
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724 y g i Rosche, Margaria & Braun von Reinersdorff (2010). 7 2 5 Vgl. Pitum-Weber (2011), Braun von Reinersdorff, Heitele & Rasche (2010).
501 Collins K. F., Muthusamy S. K. (2007): Applying the Toyota Production System to a Healthcare Organization: A Case Study on a Rural Community Healthcare Provider. In: Quality Management Journal, Jg. 14, Nr. 4, S. 41-52. Dorgan, S., Layton, D., Bloom, N., Holmes, R., Sadun, R. & Van Reenen, J. (2011): Management in Healthcare: Why good practice really matters, London. Glouberman, S. & Mintzberg, H. (2001a): Managing the Care of Health and Cure of Disease - Part I: Differentiation. In: Health Care Management Review, Vol. 26, No. 1, pp. 56-70. Glouberman, S. & Mintzberg, H. (2001b): Managing the Care of Health and the Cure of Disease - Part II: Integration, Health Care Management Review, Jg. 26, Nr. 1, pp. 70-84. Heitele, S. C. (2010): Wettbewerb und Wertmanagement im deutschen Gesundheitswesen — Konzeption, Kompetenzanforderungen und Konkurrenzvorteile, Dienheim. Hogan, B., Singh, M. & Rasche, C. (2011): Patientenzufriedenheit und Wartezeiten, in: Von Eifif, W, Dodt, C, Brachmann, M & Fleischmann (Hrsg.): Management der Notaufnahme - Patientenorientierung und optimale Ressourcennutzung als strategischer Erfolgsfaktor, Stuttgart, S. 298-307. Hogan, B., Singh, M. & Rasche, C. (2009): Höchstens 15 Minuten Das FirstView-Konzept als medizinisches Managementparadigma zur Prozessoptimierung, in Krankenhaus-Umschau, S. 42-46. Kalamas, J., Mango, P. D. & Ungerman, D. (2008): Linking Employee Benefit to Talent Management, in: McKinsey Quarterly, Nr. 3, S. 0-5. Nöthen, M. & Böhm (2009): Krankheitskosten, Robert Koch-Institut, Berlin. Oberender, P. (2010): Die deutsche Gesundheitswirtschaft: Ein Wachstums- und Beschäftigungsmotor, in: Kahler, S. & Schröder, S. (Hrsg.): Ökonomische Perspektiven von Sport und Gesundheit, Schorndorf, S. 23-34. Oberender, P., Hacker & Schommer, R. (Hrsg.) (2008): Innovative Versorgungsstrukturen für Gesundheitsregionen, Bayreuth. Pitum-Weber, S. (2011):Management von Gesundheitsnetzwerken — Eine empirische Analyse in der deutschen Gesundheitswirtschaft, Dienheim. Rasche, C. (2002): Multifokales Management - Unternehmenskonzepte für den pluralistischen Wettbewerb (Habilitation), 2002, Wiesbaden.
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Markus Mosti
Krankenhausrecht als Regulierungsrecht? Peter O b e r e n d e r h a t sich w i e k a u m ein anderer u m d i e w i s s e n s c h a f t l i c h e A n a l y se u n d p r a k t i s c h e W e i t e r e n t w i c k l u n g d e s G e s u n d h e i t s w e s e n s verdient g e m a c h t . A l s O f f e n t l i c h r e c h t l e r m ö c h t e ich ihn d a d u r c h ehren, dass ich i m F o l g e n d e n die F r a g e a u f w e r f e , inwieweit es sich l o h n t , d a s K r a n k e n h a u s r e c h t a u f d e r k o n z e p t i o nellen G r u n d l a g e d e s R e g u l i e r u n g s r e c h t s zu b e t r a c h t e n , d a s als Teilgebiet des W i r t s c h a f t s v e r w a l t u n g s r e c h t s in d e n letzten J a h r e n einen r a s a n t e n A u f s c h w u n g g e n o m m e n hat.
1
Entwicklungslinien des Regulierungsrechts
D a s n o c h j u n g e 7 2 6 R e g u l i e r u n g s r e c h t h a t einen rasanten A u f s c h w u n g g e n o m m e n 7 2 7 u n d ist in kurzer Z e i t z u e i n e m „ S c h l ü s s e l b e g r i f F 7 2 8 u n d w i c h t i g e n Teilgebiet des W i r t s c h a f t s v e r w a l t u n g s r e c h t s 7 2 9 avanciert. I m Z u g e der Privatisierung u n d L i b e r a l i s i e r u n g der g r o ß e n N e t z w i r t s c h a f t e n - T e l e k o m m u n i k a t i o n ,
Post,
E n e r g i e , B a h n — e n t s t a n d e n , 7 3 0 g e h t es i h m u m d i e G e w ä h r l e i s t u n g a u s r e i c h e n d e r
Zum Regulierungsrecht als einem in Deutschland und Europa „jungen", „neuartigen Rechtsgebiet": Amdt/Fetzer, in Steiner (Hrsg.), BesVwR, 8. Aufl. 2006, VI, Rn. 286; Huber, in Schmidt-Aßmann/Schoch (Hrsg.), BesVwR, 14. Aufl. 2008, 3. Kap., Rn. 177; zur älteren Begriffsverwendung in den USA: Lepsius, in Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2010, § 1. 727 Kiihling, Sektorspezifische Regulierung in den Netzwirtschaften, 2003, S. 11. 728 Stober, BesWiVerwR, 14. Aufl. 2007, S. 176. 729 Ygj Lüdemann (Hrsg.), Telekommunikation, Energie, Eisenbahn, 2008, Vorwort. Zum Regulierungsrecht als Teilgebiet des Wirtschaftsverwaltungsrechts: Badura (Hrsg.) in Beck'scher PostG Kommentar, 2. Aufl. 2004, § 2, Rn. 1 ff.; Berringer, Regulierung als Erscheinungsform der Wirtschaftsaufsicht, 2004; Stober (Fußn. 3), S.179. 730 Masing, Die Verwaltung 2003, 1 ff.; in diesen Bereichen wird der Begriff „Regulierung" auch ausdrücklich vom Gesetzgeber verwendet (§ 1 f., 9 ff. T K G ; § 1 f. PostG; §§ 1 Abs.2, 11 ff. EnWG; §§ 14 ff. A E G und ist eine sektorübergreifende Regulierungszuständigkeit der Bundesnetzagentur geschaffen worden (vgl. Gesetz über die Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen; dazu und zu den Folgen fiir die Gestalt des Regulierungsrechts: Masing, Gutachten D zum 66. D J T 2006, S. 16, 24 ff., 38 ff). 726
504 Daseinsvorsorgeleistungen731 unter Wettbewerbsbedingungen; 732 die Schaffung und Ordnung Sozialpflichtiger Wettbewerbe ist sein Gegenstand. 733 Für die Entwicklung der typusprägenden Merkmale des Regulierungsrechts in seinen klassischen Materien (Telekommunikation, Post, Energie, Bahn) war zunächst völlig zu Recht bestimmend, dass das Rechtsgebiet aus der Perspektive des Privatisierungsfolgenrechts734 und der spezifischen Funktionsbedingungen von Netzwirtschaften betrachtet wurde, die bis auf weiteres auf ein dominantes und nicht kurzfristig duplizierbares Netz in der Hand eines ehemaligen und nach wie vor marktbeherrschenden Monopolisten angewiesen waren. 735 Als prägend können vor diesem Hintergrund vor allem folgende Bausteine736 des Regulierungsrechts angesehen werden: Erstens seine klare Ausrichtung auf das Ziel der Schaffung und Förderung von Wettbewerb. 737 Wettbewerb ist im Regulierungsrecht nicht allein Mittel zur Erreichung sozialstaatlicher Ziele, sondern zugleich eigenständiges Ziel der Regulierung. 738 Wettbewerb stellt sich unter den Bedingungen der Verwiesenheit auf ein dominantes Netz nicht von selbst ein, sondern muss — mittels Regulierung als staatlicher Gestaltungsaufgabe — erst geschaffen und erhalten werden. 739 Unverzichtbares Herzstück der Regulierung und Schlüssel zur Schaffung von Wettbewerb ist vor diesem Hintergrund zweitens die ggf. asymmetrisch gegen den marktbeherrschenden Netzbetreiber gerichtete und dessen Netz auch für Wettbewerber öffnende Netzzugangs- und Entgeltregulierung. 740 731
732
733
734 735 736 737
738 739 740
Freilich unter Zugrundelegung, eines neuen, nicht auf staatliche Erfüllung, sondern auf staatliche Gewährleistung abstellenden Daseinsvorsorgebegriffs; dazu: Möstl, FS Badura, 951 ff.; das EU-Recht spricht von „Diensten von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse", Art. 14, 106 Abs. 2 AEUV. Zum Regulierungsbegriff: Ruffert, in Fehling/Ruffert (Fußn. 1), § 7, Rn. 58; Huber, in Schmidt-Aßmann/Schoch (Fußn. 1), 3. Kap. Rn. 177 mwN; die Begriffsbildung mag nach wie vor im Flusse sein (vgl. Stober (Fußn. 3), S. 176); die notwendige Bezogenheit auf wettbewerbliche Märkte (statt rein staatlicher Erfiillung/Leistungserbringung) und das sozialstaatliche Ziel der Gewährleistung ausreichender Versorgung wird (d. h. die instrumenteile Verknüpfung von Wettbewerb mit sozialen Zielen) man jedoch als begriffsprägend ansehen müssen (siehe Lepsius, in Fehling/Ruffert (Fußn. 1), § 4, Rn. 2). Lepsius, in Fehling/Ruffert (Fußn. 1), § 2, Rn. 5; § 19, Rn. 1; Kenten, W D S t R L 69 (2010), S. 288 (316 f.). Deutlich z.B. bei Ruffert, AöR 124 (1999), 237 (239). Deutlich z.B. bei Masing, Die Verwaltung 2003, 1 (6), (31). Ähnlich z. B. Ruffert, in Fehling/Ruffert (Fußn. 1), § 7, Rn. 49 ff. Zur Herstellung und Förderung eines (noch nicht funktionierenden) Wettbewerbs als Kennzeichen des Regulierungsrechts im Allgemeinen: Huber, in Schmidt-Aßmann/Schoch (Fußn. 1), 3. Kap., Rn. 177; Ruffert, in ders./Fehling (Fußn. 1), § 7, Rn. 58. Kenten, W D S t R L 69 (2010), 288 (318); Lepsius, in Fehling/Ruffert (Fußn. 1), § 19, Rn. 32. Masing, Die Verwaltung, 2003, 1 (6 f.). Kühling (Fußn. 2), S. 182.
505 Als Hauptinstrument der sozialstaatlichen Gewährleistungspflicht fiir eine flächendeckend ausreichende Versorgung mit Dienstleistungen 741 wurde drittens lange das Universaldienstkonzept angesehen; 742 seiner Analyse galt höchste Aufmerksamkeit. 743 In organisatorischer Hinsicht prägend ist schließlich eine Verantwortungskonzentration beim Bund 7 4 4 und hierbei bei einer in dieser Form neuartigen zentralen Regulierungsbehörde, der Bundesnetzagentur, 745 fiir deren Arbeit institutionell eine (freilich umstrittene) besondere Unabhängigkeit sowie materiell ein (ebenso umstrittenes) besonderes Regulierungsermessen charakteristisch geworden ist. 7 4 6 Derzeit indes scheint es, als trete das Regulierungsrecht in eine neue Phase, die seine Gestalt verändert. Zwei Entwicklungslinien kommen hierbei zusammen:
a) Veränderungen in den klassischen Referenzgebieten (Netzwirtschaften) Zum einen stehen die traditionellen Referenzgebiete des Regulierungsrechts, die Netzwirtschaften, vor neuen Herausforderungen, die alte Gewissheiten in Frage stellen und neue Perspektiven eröffnen; der Koalitionsvertrag der Bundesregie-
Im Post- und Telekommunikationsbereich bis hin zur völligen terminologischen Gleichsetzung des Universaldienstkonzepts mit der aus Art. 87f Abs. 1 GG folgenden Gewährleistungspflicht (Verfassungspflicht zur Gewährleistung eines Universaldiensts): siehe z.B. Windthorst, in Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, Art. 87f, Rn. 8 ff.; ders., Der Universaldienst im Bereich der Telekommunikation, 2000; Herdegen, in Badura (Hrsg.), Beck'scher PostG Kommentar, 2 Aufl. 2004, VerfGrdl Rn. 23, 26; Brosius-Gersdorf, DOV 2002, 275 (277). 7 4 2 Z.B. Lepsius, in Fehling/RufFert (Fußn. 1), § 4 , Rn. 95; Masing, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR IV, 3. Aufl. 2006, § 90, Rn. 38; v. Danwitz, in: Beckscher PostG Kommentar (Fußn. 16), § 11, Rn. 2 ff.; Freund, NVwZ 2003, 408 (411); Freund, Infrastrukturgewährleistung in der Telekommunikation, 2002, S. 5, 67; Cannive, Infrastrukturgewährleistung in der Telekommunikation zwischen Staat und Markt, 2001, S. 26 f.; Cornils, AöR 131 (2006), 378 (384 f.); Franzius, ZG 2010, 66 (67). 743 Vgl. z. B. die Dissertationen von Windthorst, Der Universaldienst im Bereich der Telekommunikation, 2000; Cannive, Infrastrukturgewährleistung in der Telekommunikation. Staatliche Gewährleistungsverantwortung. Universaldienst. Wegerechte, 2001. 7 4 4 Siehe bereits Art. 87f Abs.l und Abs.2 Satz 2 GG. 7 4 5 §§ 116 ff. TKG. Dazu Masing, in Lüdemann (Fußn. 4), S. 155 (158 ff.). 746 Masing, Gutachten D zum 66. DJT 2006, 73 ff., 152 ff. einerseits und Kenten, WDStRL 69 (2010), 288 (322 ff), (328 ff.); zum Regulierungsermessen: BVerwGE 130, 39 (48 f.); 131, 41 (44 ff); BVerwG vom 27.1.2010 - 6 C 22/08; Gärditz, NVwZ 2009, 1005; Franzius, DVB1. 2009, 409; zum prägenden Merkmal einer prinzipiell als unabhängigverstandenen Regulierungsbehörde: Ruffert, in Fehling/Ruffert (Fußn. 1), § 7, Rn. 52; zur organisatorischen Stellung einer zentralen und in bewusster Distanz zu Politik und Wirtschaft entscheidenden Regulierungsbehörde auch Britz, in Fehling/Ruffert (Fußn. 1), § 21, Rn. 41 ff, 49 ff; kritisch Gärditz, AöR 135 (2010), 252; Durner, Referat auf der Staatsrechtslehrertagung 2010. 741
506 rung spricht insoweit von „moderner Regulierung" 7 4 7 , die Literatur von einem „regulatorischen Paradigmenwechsel" 748 . Vor allem der Umstand, dass viele Netzwirtschaften - etwa im Telekommunikationsbereich (Breitbandnetze 749 ) oder im Energiesektor (smart grid 7 5 0 ) - vor neuen Investitionszyklen stehen, 751 dass es also notwendig geworden ist, in den Aufbau neuer Netze zu investieren, spielt hierbei eine entscheidende Rolle. Die Akzente verschieben sich hierdurch: Nicht mehr allein die wettbewerbliche Öffnung eines vorhandenen Netzes, sondern der Ausbau neuer Netze rückt ins Zentrum des Regulierungsinteresses. 752 Die Gestalt des Regulierungsrechts verändert sich hierdurch; vor allem folgende neue Entwicklungslinien haben sich ergeben: Erstens eine differenziertere Sicht auf das Wettbewerbsziel. Uberdeutlich geworden ist nämlich, dass klassische Wettbewerbsfbrderung mittels Netzzugangsregulierung auch ein veritables Hindernis fur einen bedarfsgerechten Infrastrukturausbau sein, d. h. dem Versorgungsziel nicht nur nützen, sondern auch schaden kann; der Investor scheut die Aussicht, seine Investition dem Konkurrenten öffnen zu müssen; er trägt das Risiko seiner Investition und will im Gegenzug exklusive Wettbewerbsvorteile und Vorreitergewinne. 753 Es ist deswegen signifikant, dass zur Investitionsförderung neuerdings „Regulierungsferien" und temporäre Monopolstellungen vorgeschlagen werden 7 5 4 und dass sich die Gesetzgebung um eine investitionsfreundlichere Regulierung bemüht. 7 5 5 Regulierung ist also nicht nur dazu da, Wettbewerb freizusetzen und zu fordern, sondern kann situationsbedingt auch in der Lage sein, den Wettbewerb fur das Gemeinwohl zu instrumentalisieren und zu beschränken. 7 5 6
Koalitionsvertrag (http://www.cdu.de/doc/pdfc/091026-koalitionsvertrag-cducsu-fdp.pdf)) S. 18; dazu Haucap/Heimeshoff, WiVerw 2/2010, 92 (93). Ähnlich auch das Europarecht: siehe die Änderungsrichtlinie „Bessere Regulierung" (2009/140/EG). 748 Fetzer, WiVerw 2/2010, 145 (151). 7 4 9 Hierzu Möstl, in Maunz/Dürig, Art. 87f GG, Rn. 5. 750 Paskert, WiVerw 2010, 122 ff.; Gundel, WiVerw 2010, 127 (132). 751 Henseler-Unger, WiVerw 2010, 111 (115). 752 yg] hierzu allgemein die in WiVerw 2/2010 (ab S. 89) abgedruckten Beiträge des Kompendiums zur Regulierungskonferenz von BDI und Bundesnetzagentur mit dem Titel „Investionen und Wettbewerb in Netzwirtschaften". Sehr deutlich auch Lüdemann, in ders. (Fußn. 4), 69 (71 f.) (zuvor auch S. 70); zu neuen Herausforderungen ebenda auch 747
Henseler-Unger, 37 (50 f.).
753
754 755
756
Ausfuhrlich: Haucap/Heimeshoff, WiVerw 2010,92 ff.; s.a. /tfföw, WiVerw 2010,145 (147 f.); Lüdemann, in ders. (Fußn. 4), 69 (72 f.). Haucap/Heimeshoff, WiVerw 2010, 92 ff. Am Beispiel Telekommunikation: Entwurf einen Gesetzes zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Regelungen (Stand 15.9.2010; http://www.bmwi.de/BMWi/Redaktion/ PDF/Gesetz/referentenentwurf-tkg,property=pdf,bereich=bmwi,sprache=de,rwb=true. pdf), dazu Pressemitteilung des Bundeswirtschaftsministeriums vom 23.9.2010. Zu Recht Kühling (Fußn. 2), S. 59.
507 Zweitens ein differenzierterer Blick auf die Techniken der Grundversorgungsgewährleistung. Namentlich das für zentral gehaltene Universaldienstkonzept hat z. B. im Telekommunikationsbereich (Breitbandausbau), wo es faktisch keine Rolle spielt, versagt. 757 Stattdessen rücken andere Instrumente in den Mittelpunkt, so insbesondere die herkömmliche staatliche Subventionierung von Investitionen; 758 aber auch die Bedeutung einer staatlichen Infrastrukturplanung wird wieder stärker gesehen. 7 5 9 Drittens muss auch die bisherige Fokussierung des Fachs auf die Regulierungsbehörde des Bundes relativiert werden. Bei der staatlichen Förderung des Breitbandausbaus z. B. spielt sie keine Rolle; statt des Entscheidungsmodus „unabhängige Regulierungsbehörde" bricht sich ein Stück unmittelbar politisch verantworteter Infrastrukturentscheidung Bahn. Außerdem treten bei den Förderaktivitäten neben dem Bund in erheblichem Maße auch die Länder und die Kommunen auf den Plan. In einem föderativen und von kommunaler Selbstverwaltung geprägten Staatswesen ist Regulierung natürlicherweise eine Mehrebenenaufgabe. 760 Angesichts eines gewissen Marktversagens beim Netzausbau und eines deswegen verstärkt erschallenden Rufs nach dem Staat 761 ist schließlich deutlich geworden, dass es verkürzt wäre, Regulierungsrecht ausschließlich unter der Perspektive des Privatisierungsfolgenrechts zu sehen; der Regulierung können vielmehr auch Märkte unterliegen, die dauerhaft oder aufs Neue von einer Pluralität privater und öffentlicher Anbieter geprägt sind. 762
b) Hinzutreten neuer Referenzgebiete jenseits der Netzwirtschaften Doch nicht nur Veränderungen in den klassischen Netzwirtschaften selbst, sondern auch noch eine weitere Entwicklungslinie ist für das Regulierungsrecht derzeit prägend: Das Hinzutreten neuer Referenzgebiete auch jenseits der klassischen Vgl. Neumann, wik Newsletter 2007/68, S. 1. Beispiel Breitband: Hoknagel/Deckers, DVB1. 2009, 482 (487 f.); Grämlich, NJ 2009, 274 (276); Breitbandstrategie der Bundesregierung, 2009, S. 15 ff. Die Fördersumme in den Jahren 2 0 0 8 - 2 0 1 0 betrug stattliche 243 Mio. Euro, siehe 1. Monitoringbericht zur Breitbandstrategie des Bundes, S. 9, 23. 7 5 9 Mitteilung der Kommission „Europäische Breitbandnetze: Investition in ein internetgestütztes Wachstum", KOM (2010) 472 endg, S. 7 ff.; siehe auch bereits „Digitale Agenda", KOM (2010) 245 endg/2, S. 25. 7 6 0 Zum Ganzen auch Möstl, in Maunz/Dürig, Art. 87f GG, Rn. 91 f. 761 Franzius, Wo bleibt der Staat? Das Modell der Universaldienste und seine Alternativen, ZG, 66 (v. a. 74 ff). 762 Ygj e t w a (jje _ öffentliche Unternehmen einschließende - Darstellung bei Britz, in Fehling/Ruffert (Fußn. 1), § 21. Gerade auch im Energie- und im Verkehrsbereich sind in erheblichem Umfang öffentliche Unternehmen am Markt beteiligt. Art. 87e und Art. 87f lässt sich kein Gebot der Kapitalprivatisierung entnehmen, siehe Möstl, in Maunz/Dürig, Art. 87e GG, Rn. 110. 757
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508 Netzwirtschaften. Regulierung als Technik der Verknüpfung v o n Wettbewerb u n d Gemeinwohlorientierung ist offenbar so sehr z u m Erfolgsmodell geworden, dass Literatur u n d Politik über die traditionellen Netzwirtschaften hinaus vermehrt auch ganz andere Wirtschaftssektoren v o n den Strukturen des Regulierungsrechts her zu deuten versuchen; beispielhaft ist der 2 0 1 0 erschienene Band „Regulierungsrecht" v o n Fehling/Ruffert zu nennen, der etwa auch die Bereiche Medien, Finanzmarkt u n d Gesundheitswesen als Sektoren der Regulierung behandelt; 7 6 3 auch diese Ausweitung des Anwendungsbereichs (Stichwort: erweiterter RegulierungsbegrifF 6 4 ) bereichert u n d verändert den Blick auf das Fach. Z u den neuen Anwendungsfeldern, die vermehrt unter d e m Aspekt des Regulierungsrechts betrachtet werden, gehört auch das Krankenhausrecht. Das Krankenhausrecht steht exemplarisch fiir ein Gebiet, für das es n o c h ganz neu ist, auf der konzeptionellen Grundlage des Regulierungsrechts betrachtet zu werden; u n d doch setzt sich — i m Zuge der allgemeinen Bemühungen, das Sozialrecht stärker an das öffentliche Wirtschaftsrecht heranzufuhren 7 6 5 - wird vermehrt die These vertreten, dass Krankenhaus- u n d Regulierungsrecht gleichermaßen profitieren, w e n n erkannt wird, dass Strukturen der Regulierung i m Gesundheitswesen teils
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Fehling/Ruffert (Fußn. 1), siehe dort die §§ 12 (Schuler-Harmsj, 15, 16 (Schuler-Harms, Hense), 17 (Fehling), 18 (Röhl); zu den sozialen Dienstleistungen auch: Wißmann, in: v. Arnauld/Musil (Hrsg.), Strukturfragen des Sozialverfassungsrechts, 2009, S. 139 ff.; speziell zum Krankenhausrecht: Höfling, GesR 2007, 289. Die Frage eines engen oder weiten Regulierungsbegriffs ist umstritten, die Begriffsverwendung noch uneinheitlich. Enge Regulierungsbegriffe stellen allein auf die Netzwirtschaften, allein auf ehemals monopolistisch geprägte Wirtschaftssektoren oder aber (institutionell) allein auf die Aufgaben der BNetzA ab. Vermehrt setzt sich ein weiterer Regulierungsbegriff durch, der (jenseits der Netzwirtschaften) auch weitere Märkte, die durch eine Kombination aus wettbewerblicher Öffnung und besonderer Gemeinwohlorientierung gekennzeichnet sind, in denen der Staat also gemeinwohlorientierte Versorgungsziele trotz struktureller Funktionsschwächen des Marktes unter Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten trachtet (Gewährleistungsstaat), in die Begrifflichkeit einbezieht; kennzeichnend bleibt aber auch hier die Marktbezogenheit des Regulierungsbegriffs. Zum Ganzen Lepsius, in Fehling/ Ruffert (Fußn. 1), § 17, Rn. 27 f.; ausfuhrlich auch die beiden Referate von Hellermann und Durner („Schutz der Verbraucher durch Regulierungsrecht") auf der Staatsrechtslehrertagung 2010, die beide letztlich einen weiten Regulierungsbegriff zugrunde legten (wie hier insbesondere Hellermann; auch Durner gestand dem weiten Regulierungsbegriff eine wichtige heuristische Funktion als Analyseinstrument zur Gewinnung von Aussagen über spezifische Regulierungsinstrumente in unterschiedlichen Sektoren und Rechtsgebieten zu; für einen weiten, auch jenseits der Netzwirtschaften greifenden Regulierungsbegriff auch Franzius, DVB1. 2010, 1086 [1088]). Nicht gefolgt wird hier hingegen einem - auch vertretenen - ganz weiten „umfassenden" Regulierungsbegriff, der unter Regulierung letztlich jede gewollte staatliche Beeinflussung gesellschaftlicher Prozesse versteht (Eifert, in Grundlagen des Verwaltungsrechts I, 2006, § 19, Rn. 5); für das Wirtschaftsverwaltungsrecht ist ein so weit gezogener Regulierungsbegriff ohne Abgrenzungswert. Zur hier vertretenen Begrifflichkeit siehe auch den Schlussteil des Beitrags. Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005.
509 seit jeher vorhanden sind oder zumindest möglich wären. 766 Ob es sich tatsächlich lohnt, ein Gebiet wie das Krankenhausrecht als Regulierungsrecht zu begreifen, und welche Konsequenzen sich für die Gestalt des Regulierungsrechts ergeben, soll im Folgenden untersucht werden.
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Das Krankenhausrecht als neues Referenzgebiet des Regulierungsrechts
Welchen Ertrag bringt es, ein Feld wie das Krankenhausrecht als Referenzgebiet des Regulierungsrechts zu betrachten? Zweierlei erscheint hierbei wichtig:
a) Bestätigung des Befundes der Vielfalt möglicher Gestaltungsformen Zum einen: Der bereits in den klassischen Netzwirtschaften neuerdings zutage tretende Befund der Diversifizierung und Vielfalt der Gestaltungsformen bestätigt sich, weil Strukturen, auf die sich die klassischen Netzwirtschaften ein Stück weit zubewegen, im Krankenhausrecht teils seit jeher vorhanden sind, teils noch um zusätzliche Optionen bereichert werden: Seit jeher z. B. ist das Krankenhausrecht von einer - sogar zum gesetzlichen Leitbild erhobenen 767 - Akteursvielfalt privater 768 , freigemeinnütziger und öffentlicher Krankenhausträger geprägt 769 , verbunden mit einer subsidiären Erfullungsverantwortung der Kommunen als Träger eines Sicherstellungsauftrags. 770 Seit jeher auch kann das Krankenhausrecht geradezu als Muster einer Mehrebenenregulierung auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene begriffen werden. 7 7 1 Der Organisationstyp der verselbständigten Regulierungsbehörde findet sich bislang nicht ausgeprägt, 772 dafür rücken — neben unmittelbar staatlicher
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Hense, Soziale Infrastruktur im Gesundheitswesen - der stationäre Sektor, in Fehling/Ruffert (Fußn. 1), § 16; Wißmann , Kooperation im Wettbewerb: Soziale Dienstleistungen als Herausforderung staatlicher Regulierung, in: v. Arnauld/Musil (Fußn. 38), S. 139; programmatisch: Höfling, Vom Krankenhausrecht zum Krankenhausregulierungsrecht, GesR 2007, 289 ff.; allgemein s.a. Krämer, Diskussionsbeitrag in Verhandlungen des 66. DJT, Band II/2, O 187. §§ 1 Abs.2 Satz 1 und 2, 8 Abs.2 Satz 2 K H G , Art. 1 Satz 1 BayKrG. Der Anteil privater Krankenhausträger steigt; vgl. BT-Drs, 16/13974: von 16,2 % im Jahre 1993 bis auf 29.7% im Jahre 2007. Hense, in Fehling/Ruffert (Fußn. 1), § 16, Rn. 42 ff. Friedrich, in Huster/Kaltenborn (Hrsg.), Praxishandbuch des Krankenhausrechts, 2010, § 16, Rn. 9 ff.; Art. 51 Abs. 3 Nr. 1 BayLKrO, Art. 48 Abs.l BayBezO Schmidt am Busch, Die Gesundheitssicherung im Mehrebenensystem, 2007, S. 236 ff.; Hense, in Fehling/Ruffert (Fußn. 1), § 16, Rn. 25. Dies kritisierend: Höfling, GesR 2007, 289 (292 f.).
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Regulierung (wie bei der Krankenhausplanung) 773 — als zusätzliche Option (etwa bei der Entgeltregulierung oder der Qualitätssicherung) 774 Formen der Selbstverwaltung, d.h. autonomer Selbstregulierung ins Blickfeld, 775 welche im Gesundheitswesen mit seiner unterschiedliche Interessen zusammenspannenden „Gemeinsamen Selbstverwaltung" und seinen gerade im Krankenhausbereich üblichen Beleihungskonstruktionen freilich eine sehr spezielle institutionelle Gestalt annehmen kann. 7 7 6 Seit langem auch existiert, in Gestalt der Krankenhausplanung und Investitionsförderung der Länder, 777 ein ausgeprägtes System der staatlichen Infrastrukturplanung und -fbrderung. 7 7 8 Diese mag zunehmend umstritten 779 und unterfinanziert 780 sein; für das (in den Netzwirtschaften erst nach und nach bewusst werdende) Problem der langfristigen Sicherung bedarfsgerechter Investitionen und Infrastrukturen 781 hat das Krankenhausrecht aber immerhin eine Antwort parat. Bestätigt findet sich schließlich der differenziertere Blick auf das Wettbewerbsprinzip. Dass Wettbewerbsförderung als Regulierungsziel im Krankenhausrecht bislang allenfalls in Ansätzen ausgeprägt ist, 7 8 2 lässt dieses nicht aus dem Regulie773
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§ 6 ff. KHG, Art. 3 ff., 22 BayKrG, zum (trotz angestrebter Mitwirkung der Beteiligten, § 7 KHG) jedenfalls bestehenden Letztentscheidungsrecht des Landes: Stollmann, in Huster/Kaltenborn (Fußn. 45), § 4, Rn. 32; Herne, in Fehling/Ruffert (Fußn. 1), § 16, Rn. 168 ff. Z.B. § 17b KHG; § 10 KHEntgG (Vereinbarung der Fallpauschalen), § 137 SGB V (Qualitätssicherung). Zu letzterem: Gamperl, Qualitätssicherung in der stationären Versorgung: Rechtsinstrumente und offene Rechtsfragen, in Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Düsseldorfer Krankenhausrechtstag 2007. Das Krankenhaus im Gewährleistungsstaat, 2008, S. 109. Hense, in Fehling/Ruffert (Fußn. 1), § 16, Rn. 167, 171 Hense, in Fehling/Ruffert (Fußn. 1), § 16, Rn. 160-163; Degener-Hencke, in Huster/Kaltenborn (Fußn. 45), § 5, Rn. 15, 153, 176 ff; allgemein zum Legitimationsproblem dieser besonderen Gestaltungsformen: Kingreen, NZS 2007, 113; Möstl, in Erichsen/Ehlers, AllgVwR, 14. Aufl. 2010, § 20, Rn. 12. Auf der Basis des Krankenhausfinanzierungsgesetzes des Bundes und der Landeskrankenhausgesetze. Hense, in Fehling/Ruffert (Fußn. 1), § 16, Rn. 29 ff, 65 ff., 111 ff; Stollmann, Krankenhausplanung § 4, und Degeler-Hense, Krankenhausversorgung und -finanzierung § 5, Rn. 40 ff, beide in Huster/Kaltenborn (Fußn. 45); Schmidt am Busch (Fußn. 46), S. 238 ff; Rixen, (Fußn. 40), S. 534 ff. Kritisch z. B. Depenheuer, Glanz und Elend der Krankenhausfinanzierung - Überlegungen zu einem angekündigten Paradigmenwechsel, in Düsseldorfer Krankenhausrechtstag 2008, 2009, S. 15 ff Die finanzielle Förderung ist rückläufig und zunehmend unzureichend; vgl. Degener-Hencke, in Huster/Kaltenborn, § 5 Rn. 60. f. Zur enormen Investitionshöhe: Wißmann, in v. Arnauld/Musil (Fußn. 38), S. 139 (153). Hense, in Fehling/Ruffert (Fußn. 1), § 16, Rn. 54 ff. („weitgehend unbekanntes Regulierungsziel"); Lepsius, ebda., § 19, Rn. 18; Burgi, NVwZ 2010, 501 f.; Stollmann, in Huster/ Kaltenborn (Fußn. 45), § 4 Rn. 2.
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rungsrecht herausfallen. Das Krankenhausrecht verfugt über ausreichende Strukturen der wettbewerblichen Marktöffhung auch für privatwirtschaftliche Leistungserbringer bei gleichzeitiger Gewährleistungsverantwortung des Staates,783 um taugliches Anwendungsfeld des Regulierungsgedankens zu sein. 784 Jenseits dieses wettbewerblichen Mindestmaßes ist es eine mögliche Gestaltungsform des Regulierungsrechts, wenn sich der Gesetzgeber — um trotz hoher Investitionskosten785 eine flächendeckend ausreichende Krankenhausversorgung zu garantieren - nicht für ein System des freien Marktzutritts, sondern der staatlichen Bedarfsplanung786 entscheidet; Investitionsförderung kann Einschränkungen des Wettbewerbsprinzips rechtfertigen. Mit dem Gebot der Trägervielfalt, das der Staat bei seiner Entscheidung über die Aufnahme in den Krankenhausplan zu beachten hat, 787 hat das Wettbewerbsprinzip im Rahmen der Krankenhausplanung überdies eine besondere Ausprägung gefunden. 788 b) Orientierung an den wettbewerblichen Regulierungsmustern der Netzwirtschaiten Zum anderen — und wir kommen damit zur umgekehrten Blickrichtung — kann auch das Krankenhausrecht von der Regulierungsdebatte und dem Vorbild der für die klassischen Regulierungsfelder typisch gewordenen Regelungstechniken profitieren789 - und zwar trotz der Besonderheit, dass es sich bei Krankenhäusern gerade nicht um Netz-, sondern um Punktinfrastrukturen handelt, 790 dass 783
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Zur Gewährleistungsverantwortung: Höfling, GesR 2007, 289 ff.; im Krankenhaus üblichere Terminus: Sicherstellungsauftrag: Friedrich, in Huster/Kaltenborn (Fußn. 45), § 16, Rn. 35; Rennen, DVB1. 2010, 936 (938); Schmidt am Busch (Fußn. 46), S. 237; BVerfGE 83,363 (376). BVerwGE 132, 64 (79), Abs.-Nr. 41: „regulierter Markt" (s.a. Abs.-Nr. 31: „Unter Plankrankenhäusern herrscht Wettbewerb; hier besteht einer enger umschriebener Markt „der Privilegierten").; siehe außerdem die Nachweise in Fn. 21. Schwintowski, in Buckenberger/ Klaue/Schwintowski (Hrsg.), Krankenhausmärkte zwischen Regulierung und Wettbewerb, 1006, S. 142 („sektorspezifische Regulierung"). Wißmann, in v. Arnauld/Musil (Fußn. 38), S. 139 (153); Herne, in Fehling/Ruffert (Fußn. 1), § 16, Rn. 207. Rixen (Fußn. 40), 534 ff.; Herne, in Fehling/Ruffert (Fußn. 1), § 16, Rn. 64 ff. (auch zur - letztlich subsidiären Zulassung durch Versorgungsvertrag nach §§ 108 Nr. 3, 109 Abs.l Satz 1 SGB V). § 8 Abs.2 Satz 2 KHG; Stollmann, in Huster/Kaltenborn (Fußn. 45), § 4, Rn. 58. BVerfG-K vom 4.3.2004, 1 BvR 88/00, Abs.-Nr. 31 ff. Und auch durch seine kooperativen Strukturen weist der Wettbewerb im Krankenhausbereich eine Besonderheit auf. Wißmann, in v. Arnauld/Musil (Fußn. 38), S. 139 (175) spricht vom "Modus des kooperativen Wettbewerbs" und sieht in den kooperativen Strukturen eine besondere Eigenart der Regulierung im Sozialrecht. Programmatisch: Höfling, GesR 2007, 289 ff.; Wißmann, in v. Arnauld/Musil, S. 139 (141 f.). Herne, in Fehling/Ruffert (Fußn. 1), § 16, Rn. 4; aA offenbar Höfling, GesR 2007, 289 (290) („netzwerkartig angelegte Infrastruktur).
512 die Finanzierung der Leistungen im Modus der Versicherung erfolgt, 791 und dass der Wettbewerb erst ansatzweise ausgeprägt ist. 792 Anhand des Beispiels einiger aktueller Entwicklungslinien des Krankenhausrechts soll gezeigt werden, dass die Orientierung an den wettbewerblichen Regulierungsmustern der großen Netzwirtschaften tatsächlich zum wirkkräftigen Impuls geworden ist. Dies gilt zunächst für die Entwicklung des Konkurrentenschutzes bei der Krankenhausplanung: Die jüngere Rechtsprechung des BVerfG, die bei Auswahlentscheidungen nicht nur die Konkurrentenklage eröffnet, sondern auch in der Sache darauf gedrungen hat, dass bestehende Marktstrukturen nicht zementiert werden, sondern reelle Chancen auf Neuzugang bestehen,793 lässt deutlich den Willen erkennen, wenn schon keinen freien Marktzutritt, so doch zumindest einen fairen „Wettbewerb um den Markt" ins Werk zu setzen, wie er auch in anderen Regulierungssektoren üblich ist. 794 Zu Recht hat die Literatur in der Entfaltung des Konkurrentenschutzes daher eine Parallele zu den wettbewerblichen Ordnungsvorstellungen anderer Referenzgebiete des Regulierungsrechts erblickt. 795 Eine Reform, die den Wettbewerbsgedanken im Krankenhausmarkt deutlich verstärkt hat, ist sodann die in den letzten Jahren erfolgte Umstellung der Krankenhausvergütung auf das leistungsorientierte Fallpauschalensystem.796 Die Monopolkommission sieht in ihr - in Parallelität zu anderen Regulierungssektoren — eine Art Price-Cap-Regulierung. 797 Zuzugeben ist, dass Wettbewerbsdruck bei alledem weniger als Entdeckungsverfahren, sondern aus Kostensenkungsgründen erzeugt wird und damit einen stark instrumenteilen Charakter aufweist. 798
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Schuler-Harms,
in Fehling/Ruffert (Fußn. 1), § 15, Rn. 5.
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Buckenberger/Klaue/Schwintowski
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BVerfG-K vom 14.1.2004 - 1 BvR 506/03; BVerfG-K vom 4.3.2004 - 1 BvR 88/00; BVerfG-K vom 23.4.2009 NVwZ 2009, 977; s.a. BVerwGE 132, 64 ff.; siehe dazu Burgi, NVwZ 2010, 601 ff.; Steiner, NVwZ 2009, 486 f..; Rennen, DVB1. 2010, 936 ff; Stollmann, in Huster/Kaltenborn (Fußn. 45), § 4, Rn. 56-75; Hense, in Fehling/Ruffert (Fußn. 1), § 16, Rn. 198 f.; Rennert, Konkurrentenschutz im Krankenhauswesen, in Düsseldorfer Krankenhausrechtstag 2008, 31 ff. Britz, in Fehling/Ruffert (Fußn. 1), § 21, Rn. 14 ff. Bruckenberger, in ders./Klaue/Schwintowski (Fußn. 59), S. 88 f.; s.a. Friedrich, in Huster/ Kaltenborn (Fußn. 45), § 16, Rn. 15.
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(Fußn. 59).
Rixen (Fußn. 40), S. 541 ff; Hense, in Fehlung/Ruffert (Fußn. 1), § 16, Rn. 92 ff; Degener-
Hencke, in Huster/Kaltenborn (Fußn. 45), § 5, Rn. 145 ff; Friedrich, ebda, § 16, Rn. 1, 42. 797 ßT-Drs. 16/1140, S. 325, 338. Weitere Instrumente (z.B. die Mindestmengenregelung) kommen hinzu. § 137 Abs.3 SGB V; kritisch dazu (bzgl. der Legitimation des Gemeinsamen Bundesausschusses) Kingreen, NZS 2007, 113 (119); zur Mindestmengenregelung auch Stollmann, in Huster/Kaltenborn (Fußn. 45), § 4, Rn. 120 ff. 798 Klaue, in Bruckenberger/Klaue/Schwintowski (Fußn. 59), S. 19, 22. Zum instrumenteilen Wettbewerb: Kersten, W D S t R L 69 (2010), 288 (308 ff.).
513 Ein weiterer Vorteil der Orientierung am Regulierungsrecht liegt in der Schärfung des Bewusstseins für eine kohärente Ausgestaltung der maßgeblichen Regulierungsziele und -techniken, an der es im Krankenhausrecht bisweilen hapert. 7 9 9 Zu Recht wird z. B. beklagt, dass eine konzeptionelle Widersprüchlichkeit eingetreten sei zwischen einer nach wie vor auf das Kriterium des Bettenbedarfs ausgerichteten Krankenhausplanung einerseits 800 und einem Vergütungssystem nach Fallpauschalen andererseits, das im Gegenteil leistungsbezogen konzipiert ist und so tendenziell auf Liegezeitenverkürzung 801 und Bettenabbau 802 dringt. 8 0 3 In organisatorischer Hinsicht ist interessant, dass die in den Netzwirtschaften erprobte Gestaltungsform der Regulierungsbehörde — sei es als Vorbild 8 0 4 oder zur Abgrenzung 805 - vermehrt zur nützlichen Diskussionsfolie wird, wenn es darum geht, die Reform der legitimatorisch umstrittenen 806 und an Leistungsgrenzen stoßenden 8 0 7 Strukturen der gemeinsamen Selbstverwaltung zu erörtern. Ein letztes: Auch die längerfristigen Reformdebatten der letzten Jahre, z. B. zur monistischen Krankenhausfinanzierung oder zum selektiven Kontrahieren, 808 799 800 801 802 803
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Höfling, GesR 2007, 289 (291) (stringentere Steuerung), (292) (Regulierung aus einer Hand). Stollmann, in Huster/Kaltenborn (Fußn. 45), § 4 Rn. 7. BT-Drs. 16/13974, S. 5. Klaue, in Bruckenberger/Klaue/Schwintowski (Fußn. 59), S. 15, 19. Höfling, GesR 2007, 289 (291); Herne, in Fehling/Ruffert (Fußn. 1), § 16, Rn. 102, 203; Stollmann, in Huster/Kaltenborn (Fußn. 45), § 4, Rn. 18. Eine weitere - andersgelagerte Spannung besteht darin, dass der durch Fallpauschalen u.Ä (z. B. die Mindestmengenregelung nach § 137 Abs.3 SGB V) bewusst freigesetzte Wettbewerbsdruck Krankenhausfusionen befördert, die wiederum von der Fusionskontrolle des Bundeskartellamts konterkariert werden könnten. Dazu: Höfling, GesR 2007, 289 (292); Bold, in Huster/Kaltenborn (Fußn. 45), § 9, Rn. 1, 7 ff.; Klaue, in Bruckenberger/Klaue/Schwintowski (Fußn. 59), S. 169 ff; Monopolkommission, BT-Drs. 16/10140, 316 ff.; Herne, in Fehling/Ruffert (Fußn. 1), § 16, Rn. 142, jeweils auch zur strittigen Frage der Anwendbarkeit des Wettbewerbsrechts. Eine Regulierungsbehörde fordernd: Höfling, GesR 2007, 289 (292 f.); zu entsprechenden Überlegungsansätzen in der Literatur auch Schuler-Harms, in Fehling/Ruffert (Fußn. 1), § 15, Rn. 13, 146, 152, 166 mwN. Warnend: Metzinger, G-BA: Vom Selbstverwaltungsorgan zur staatlichen Regulierungsbehörde, Die Krankenversicherung 2006, 239. S.a. Kingreen, NZS 2007, 113 (120); das jeweils beschriebene Vorhaben der Einfuhrung hauptamtlicher Mitglieder des Bundesausschusses wurde letztlich nicht verwirklicht (siehe § 91 Abs.l Satz 9 SGB V). Kingreen, NZS 2007, 113; ders. Knappheit und Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen, Referat auf der Staatsrechtslehrertagung 2010, Thesen 15, 16. Vgl. Degener-Hencke, § 5, Rn. 14 ff, Friedrich, § 16 Rn. 35, beide in Huster/Kaltenborn (Fußn. 45) (fiir den Fall der Übertragung neuer Regulierungsaufgaben wie z. B. selektives Kontrahieren). Dazu: Degener-Hencke, § 5, Rn. 1ff.Friedrich, § 16, Rn. 31 ff, beide in Huster/Kaltenborn (Fußn. 45); Herne, in Fehling/Ruffert (Fußn. 1), § 16, Rn. 205 ff; Monopolkommission BTDrs. 16/10140, S. 327 ff. Das Krankenhausfinanzierungsreformgesetz 2009 hat mit § 10 KHG (Entwicklungsauftrag zur Einfuhrung leistungsorientierter Investitionspauschalen) bereits einen ersten Zwischenschritt in Richtung Monistik genommen (so die Wertung
514 können von regulierungsrechtlichen Denkmustern profitieren. Beide Vorschläge würden zunächst die eingeschlagene Wettbewerbsorientierung des Krankenhauswesens noch einmal verschärfen. 809 Zugleich gehen sie mit einer Diskussion über neuartige Techniken einer in jedem Fall sicherzustellenden wohnortnahen Grund- und Notfallversorgung einher, die sich konzeptionell an das Universaldienstmodell anlehnen kann. 8 1 0 Traditionelle Bedarfsplanung und Investitionsförderung hingegen würden geschwächt - ein ambivalent erscheinender Schritt, wenn man bedenkt, dass im klassischen Regulierungsrecht die Bedeutung ausreichender Infrastrukturplanung und -förderung, wie gesehen, gerade erst richtig bewusst wird. 811
3
Schluss
Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem Gesagten für die Idee und Gestalt des Regulierungsrechts? Das Regulierungsrecht ist fest etabliert und doch, wie sich gezeigt hat, im Wandel begriffen. 812 Seine klassischen Referenzgebiete stehen vor neuen Herausforderungen, neue Referenzgebiete geraten ins Blickfeld, der Zugriff wird insgesamt reichhaltiger und komplexer. Zugegeben: Die vermeintlich scharfen Konturen des Netzregulierungsrechts, die man schon erschlossen zu haben glaubte, verflüchtigen sich dadurch ein wenig. Andererseits bietet die zweifache Horizonterweiterung sowohl in den klassischen als auch durch neue Referenzgebiete die Chance, das Regulierungsrecht innerhalb des Wirtschaftsverwaltungsrechts als das zu etablieren, was es ist, nämlich nicht allein die zeitbedingte Sonderdogmatik einiger Netzwirtschaften, sondern der langfristige Leitbegriff jenes großen Zwischenbereichs zwischen leistungsverwaltungsrechtlicher Eigenerfullung und bloß gewerberechtlicher Wirtschaftsaufsicht, 813 in dem der Staat gemeinwohlorientierte Versorgungsziele unter Wettbewerbsbedingungen zu
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bei Degener-Hencke, NZS 2009, 6 [13]), der allerdings unter Landesvorbehalt steht, da die Länder die bisherige Investitionsforderung beibehalten dürfen ( § 1 0 Abs.l Satz 5 KHG). Selektives Kontrahieren hat sich zunächst nicht durchgesetzt. Dies geht unweigerlich mit einem erhöhten Druck zumal auf kleinere und mittlere Häuser in dünn besiedelten Gebieten einher. Dazu: Friedrich, in Huster/Kaltenborn (Fußn. 45), § 16, Rn. 36, 38, 42 ff. Höfling, GesR 2007, 289 (293). Zu dieser Stoßrichtung vgl. Depenheuer, in Düsseldorfer Krankenhaustag 2008, 15 ff. Der Koalitionsvertrag der Bundesregierung (2009, S. 90) betont zu Recht die Bedeutung „verlässlicher Investitionsfbrderung". Die Stichworte der monistischen Finanzierung und des selektiven Kontrahierens werden nicht ausdrücklich aufgegriffen. Das DRG-System soll als „lernendes System" weiter beobachtet und ggf. weiterentwickelt werden. Dazu, dass das Regulierungsrecht ständig im Fluss ist: Gärditz, AöR 135 (2010), 251 (252); Lüdemann, in ders. (Fußn. 4), S. 69. Wißmann, v. Arnauld/Musil (Fußn. 38), S. 139 (141).
515 gewährleisten trachtet. Der hin- und herwandernde Blick zwischen klassischen und neuen Referenzgebieten - mit ihren Unterschieden, aber auch Konvergenztendenzen - kann dem Regulierungsrecht hierbei zugute kommen. Regulatory choice 814 ist nur möglich, wenn das Gesamtspektrum der Regelungsoptionen vor Augen steht. Nichts kann die dogmatische Systembildung mehr befördern als der differenzierende Vergleich der vielfaltigen Gestaltungsformen. Sozialen Zusammenhalt und flächendeckend ausreichende Leistungen der Daseinsvorsorge in Zeiten des demographischen Wandels und des Auseinanderdriftens von Ballungszentren und ländlichem Raum zu gewährleisten, ist eine große Herausforderung.815 Nur ein ganzheitliches Regulierungsrecht, das prinzipiell alle Daseinsvorsorgebereiche (d.h. auch: das Krankenhausrecht) und das volle Bild der möglichen Gestaltungsformen im Blick hat, ist in der Lage, dieser Herausforderung gewachsen zu sein.
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Zu dieser Aufgabe des Regulierungsrechts: Wißmann, in Heun u.a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 4. Auflage 2006, Regulierung/Deregulierung, Sp. 1987. Kersten, Universaldienste in einer schrumpfenden Gesellschaft, DVB1. 2010, 942 ff.
Volker Ulrich und Andreas Schmid
Dynamik und Ordnung - Strukturen der medizinischen Leistungserbringung am Beispiel des stationären Sektors 1
Grundlagen einer dynamischen Entwicklung
Für den Erfolg jedes sozialen und ökonomischen Systems sind klar definierte und widerspruchsfreie Spielregeln von elementarer Bedeutung. Sie bilden den Rahmen, in welchem sich die Akteure frei bewegen können. Ordnungspolitik hat die Aufgabe, diesen Rahmen zu setzen und hierdurch einerseits negative Auswüchse einer Laissez-faire Politik zu verhindern, andererseits die Akteure vor sporadischem Interventionismus zu schützen. Kontinuität und Handlungssicherheit zeichnen eine gute Ordnungspolitik aus und erlauben den Akteuren sich durch dynamisches Planen und Handeln auf neue Herausforderungen einzulassen. Im Bereich des Gesundheitswesens erfährt dies vor dem Hintergrund zahlreicher und häufiger prozesspolitischer Eingriffe besondere Bedeutung. Der ordnungspolitische Rahmen des Gesundheitswesens hat zuletzt eher wenig Beachtung gefunden, obwohl die zunehmende Auflösung des Kollektivvertrags und die damit einhergehende Zunahme dezentraler Verhandlungen und selektiver Verträge zu fundamentalen Veränderungen fuhren dürften. Viele grundlegende Fragestellungen von direkter Relevanz für den stationären Sektor bedürfen weiterer Bearbeitung. Hierzu zählen beispielsweise Fragen der Markt- und Verhandlungsmacht. In einer Marktordnung wird dieser Bereich durch eine Wettbewerbsaufsicht, welche Missbrauchs- und Fusionskontrolle gewährleistet, abgedeckt. Für stationäre Leistungserbringer ist dies in Teilen einschlägig, für die weiteren Akteure wie Krankenkassen und ambulante Leistungserbringer hingegen kaum. Somit ist nicht nur grundsätzlich das Verhältnis von Sozial- und Wettbewerbsrecht kritisch zu hinterfragen, sondern auch konkret die Frage der Rolle und Existenz von Macht im Verhältnis der an der Gesundheitsversorgung beteiligten Akteure sowie deren Verbände zu erörtern. So kommen auch Oberender undZerth 2010, S. 110, zu dem Ergebnis, dass „sowohl auf Seiten der Versicherungen als auch bei den Leistungserbringern Marktmachtstrategien zu erwarten sind und diese, weil in ihren Wirkungen häufig gegeneinander gerichtet, wettbewerbspolitisch ambivalent sein können. Diese Schlussfolgerung fuhrt zur immanenten Bewertung, dass die Fragen einer Wettbewerbsordnung im Gesundheitswesen (...) noch nicht gelöst sind."
517 In diesem Kontext sind im Rahmen der formalen und empirischen ökonomischen Analyse auch diverse Teilaspekte wie Messung von Konzentration, Rolle der Trägerschaft, Auswirkungen auf Qualität, Effizienz und Gesamtwohlfahrt zu bearbeiten. Im hier vorliegenden Beitrag soll ein Ausschnitt dieses Themenkomplexes — die Struktur der stationären Versorgung - in den Fokus gerückt werden. Die Charakterisierung der Struktur erfolgt zugespitzt anhand Kennzahlen der Konzentration. Ausgehend von einer empirischen Bestandsaufnahme werden noch offene Forschungsfragen dargelegt.
2
Wettbewerb und Wettbewerber
2.1 Wettbewerbliches Verhalten im stationären Sektor Krankenhäusern stehen auf zwei Seiten potenzielle Kunden gegenüber. Einerseits die Krankenkassen, andererseits die Patienten. Im Wettbewerb um seine Kunden stehen einem Unternehmen im Allgemeinen insbesondere die zwei Wettbewerbsparameter Preis und Qualität zur Verfugung. Besteht auf einem Markt Wettbewerb, können die Kunden ein unangemessenes Preis- oder Qualitätsniveau durch das Ausweichen auf einen Wettbewerber sanktionieren. Fehlt diese Ausweichmöglichkeit, entsteht Marktmacht. Je größer die Differenz zwischen dem im wettbewerblichen Optimalfall zu erwartenden und dem realen Preis- und Qualitätsniveau ist, desto größer ist die Marktmacht. In der Tendenz fuhrt dies zu einer Reduktion der Gesamtwohlfahrt und einer Umverteilung von Konsumentenrente zugunsten der Produzenten. Fallen bei zunehmender Konzentration auf einem Markt nun Wettbewerber weg, besteht die Gefahr steigender Marktmacht. Für Patienten könnte dies konkret bedeuten, dass sie trotz mangelhafter Qualität des Leistungserbringers keine Alternative wahrnehmen (können), da direkte und indirekte, tangible und intangible Kosten, eine Alternative zu wählen, unter Umständen (prohibitiv) hoch sind. Verschiedene empirische Studien zeigen, dass insbesondere die Entfernung zum Krankenhaus die Wahlwahrscheinlichkeit stark beeinflusst, mithin zu einer Segmentierung von Märkten fuhrt. Für Krankenkassen wird die Marktmacht von Krankenhäusern dann relevant, wenn es um bilaterale Verhandlungen in Bereichen geht, die nicht vom Kollektivvertrag abgedeckt sind. Neben indikationsspezifischen Verträgen würde dies insbesondere bei Populationsverträgen zutreffen. Will oder muss die Krankenkasse sicherstellen, dass sie allen Versicherten einer Region den Zugang zu bestimmten Leistungen garantieren kann, kann es bei fehlenden Alternativen zum Abschluss mit einem bestimmten Leistungserbringer gezwungen sein, obwohl dieser ein unangemessenes Qualitätsniveau bietet oder zu hohe Preise fordert.
518
2.2 Abgrenzung der Akteure Neben neuen Vertragsstrukturen stellen insbesondere neue Versorgungssysteme, die unter-schiedliche Leistungserbringer unter einem Dach vereinigen, alle beteiligten Parteien vor Herausforderungen. Neben der innerbetrieblichen Organisation verändern sich auch die Grundlagen der Interaktion zwischen den verschiedenen Interessensgruppen. Fragen von Verhandlungsmacht und Marktmacht gewinnen stark an Bedeutung. Auf die gesamte Bundesrepublik bezogen erreichen zwar selbst große Krankenhausträger derzeit keine Marktanteile, die im weiteren Sinne zu Marktmacht fuhren würden. Auf regionaler Ebene stellt sich dies jedoch anders dar. Insbesondere in strukturschwachen Regionen können Krankenhausträger marktbeherrschende Stellungen erlangen. Nach einer Periode relativer Ruhe ist am Markt stationärer Leistungserbringer wieder eine verstärkte Übernahmetätigkeit zu beobachten. Dies dürfte der Einstieg in eine neue Konsolidierungsrunde am Krankenhausmarkt sein. Die Betrachtung des einzelnen Krankenhauses als Kern der Analyse ist demnach überholt und würde zu kurz greifen, denn wie Getzen 2010, S. 184, formuliert: „As the twenty-first Century proceeds, hospitals are being replaced or transformed into larger and more complex ,health systems' that encompass different modes of care (inpatient, ambulatory centers, home health, nursing homes) spanning multiple sites." Auch wenn Getzen hier sicherlich primär den Krankenhaussektor der USA vor Augen hat, ist dies durchaus auch auf die Situation in Deutschland übertragbar (vgl. Maier und Schmid 2009): Verschiedene Strategien horizontaler und vertikaler Integration werden verfolgt, um sich in einem immer härter umkämpften und von Ressourcenknappheit gekennzeichneten Gesundheitsmarkt behaupten zu können. Das alleinstehende Krankenhaus nimmt hierbei zwangsläufig nur noch eine untergeordnete Rolle ein. Wichtiger wird das Gesamtpaket der im englischen Sprachraum als „Hospital Systems" bezeichneten, multidimensional integrierten Gesundheitsunternehmen. Diese Verbünde sind entscheidend fiir Unternehmensstrategie und Fragen wettbewerblicher Positionierung (vgl. Augurzky et al. 2009, S. 132-136). Gerade auch das Bemühen der Verhandlungsmacht auf Kassenseite mehr Gewicht entgegensetzen zu können forciert Kooperationen jeglicher Couleur durch die Leistungserbringer (vgl. Oberender und Zerth 2010, S. 109 f.). Soll nun der Krankenhausmarkt einer wettbewerblichen Analyse unterzogen werden, lässt sich hieraus ableiten, dass das einzelne Krankenhaus als kleinste Untersuchungseinheit nur von nachrangiger Bedeutung ist. Wichtiger ist der Krankenhausträger, der unter Umständen weitere stationäre oder ambulante Einrichtungen unterschiedlichster Ausrichtung unter seinem Dach vereint. Die Definition und Abgrenzung der Trägerschaft: ist jedoch komplex. So sind beispielsweise Träger mit
519 klarer hierarchischer Struktur von Verbünden mehr oder wenig starker Intensität abzugrenzen. Während bei ersteren Geschäftsberichte oder sonstige Pflichtpublikationen Einblick in Eigentumsstrukturen und Beteiligungen geben, sind bei letzteren die Grenzen weit weniger klar gezogen. Zudem bleibt häufig unklar, inwiefern Kooperationen auf bestimmten Ebenen oder Beteiligungen unterschiedlicher Größenordnung zu einem strategisch abgestimmten Verhalten fuhren. Dies lässt sich gut anhand des Beispiels der valeo gGmbH illustrieren. Sie umfasst 13 Einrichtungen mit mehr als 4000 Planbetten und knapp 10.000 Mitarbeitern. Im Internetauftritt heißt es: „Valeo wurde im Februar 2003 (...) gegründet. (...) Durch eine gemeinsame strategische Positionierung wollen wir uns auf das sich ändernde Gesundheitswesen bestmöglich einstellen. Unter Erhaltung und Stärkung der Eigenverantwortlichkeit der Mitglieder wachsen im Verbund die individuell notwendigen Voraussetzungen zur Einrichtung marktgerechter Strukturen." 816 Während in diesem Beispiel einerseits zur Beibehaltung der Eigenständigkeit auf eine direkte gesellschaftsrechtliche Verbindung verzichtet wird und die einzelnen Mitglieder „über" dem Verbund stehen, übernimmt die valeo gGmbH auf vertraglicher Basis zentrale strategische Aufgaben von hoher Relevanz für das Verhalten im Wettbewerb, insbesondere auch hinsichtlich der Verhandlungen mit den Kostenträgern. 817 Neben der Intensität der Bindung in rechtlicher Hinsicht ist auch die geographische Ausbreitung von Bedeutung für das wettbewerbliche Verhalten. Es erscheint plausibel, dass auf die gesamte Bundesrepublik bezogen ein einzelner Krankenhausträger kaum Marktmacht entfalten dürfte. So stehen auch große Klinikketten nicht im Verdacht in ihrer Gesamtheit eine marktbeherrschende Stellung zu erlangen; derartige Untersuchungen beziehen sich stets auf bestimmte Konstellationen in eng definierten Regionen, wie beispielhaft das Kartellamtsverfahren Rhön-Klinikum AG/Kreiskrankenhäuser Bad Neustadt, Mellrichstadt zeigt (vgl. BKartA 2005). Hiermit geht einher, dass insbesondere in ländlich strukturierten Regionen wie im Nordosten Deutschlands oder bestimmten Regionen Bayerns auch kleinere regionale Krankenhausträger eine marktbeherrschende Stellung erreichen können, obwohl sie gemessen am Umsatzvolumen noch unter der Aufgriffsschwelle des Bundeskartellamts liegen.
816 817
Vgl. valeo 2010a. So heißt es in der Selbstdarstellung: „Valeo fördert seine Mitglieder durch: eine einheitliche Position bei den regionalen Verhandlungen zur Entwicklung des Gesundheitswesens, insbesondere zur Krankenhausplanung, die Entwicklung, Fesdegung und Vertretung einer einheidichen Position gegenüber den Sozialleistungsträgern bei Budgetverhandlungen und anderen Vertragsangelegenheiten, (...) gemeinsame Öffentlichkeitsarbeit und gemeinsames Qualitätsmanagement (...)." (valeo 2010b, o.S., im Original in Listenform).
520 Zusammenfassend lassen sich in einem ersten Schritt somit zwei Dimensionen abgrenzen, anhand derer die Trägerschaft hinsichtlich ihrer Relevanz für wettbewerbliches Verhalten charakterisiert werden kann. Die erste Dimension beschreibt die Intensität der Verbindung der einzelnen Krankenhäuser und beschreibt ein Kontinuum organisatorischer Varianten. Dieses beginnt mit losen Verbünden und Verbünden mit untergeordneten gesellschaftsrechtlichen Bindungen. Über Träger mit kleineren Minderheitenbeteiligungen an einzelnen Leistungserbringern reicht es bis zu Trägern mit Sperrminorität oder als Endpunkt bis zur alleinigen Trägerschaft eines Unternehmens mit vollständiger Kontrolle der untergeordneten Leistungserbringer. Die zweite Dimension beschreibt die geographische Ausbreitung, mithin wiederum ein Kontinuum. Lokale Träger am einen Ende, regionale und überregional Träger dazwischen, und bundesweit tätige Träger am anderen Ende. Als ein Indikator für die Struktur des stationären Sektors soll nun der HerfindahlHirschman-Index (HHI) dienen. Er gibt die Summe der quadrierten Marktanteile aller im relevanten Markt vertretenen Wettbewerber an und liegt somit stets zwischen null und eins. Je höher der Wert, desto höher ist die Konzentration im Markt bzw. ungleicher die Verteilung der Marktanteile.
3
Empirische Erfassung der Strukturen im stationären Sektor
3.1 Datengrundlage und deskriptive Statistik Die vorliegende Auswertung basiert auf der deutschen Krankenhausstatistik für die Jahre 1995, 2000, 2003, 2005 und 2007. Für die nun folgende empirische Erfassung von Marktmacht musste die Variable „Träger-ID" neu generiert werden. Hierzu wurde auf das deutsche Krankenhausverzeichnis, eine Publikation des Statistischen Bundesamtes zurückgegriffen. 818 Es enthält die Trägerschaftsinformation als Freitexteingabe und stellt wiederum einen Auszug aus der deutschen Krankenhausstatistik dar. Ausgehend von den vorliegenden, nicht bereinigten und häufig inkonsistent erfassten Trägernamen wurden umfangreiche Recherchen durchgeführt und auf Basis der Ergebnisse eindeutige Träger-IDs vergeben. In Grenzfallen wurde stets eine eher enge Definition der Trägerschaft gewählt. Dies
818
Rechtsgrundlage für das Krankenhausverzeichnis sind die Krankenhausstatistik-Verordnung (KHStatV) sowie das Bundesstatistikgesetz (BStatG) und beruhen auf der Krankenhausstatistik. Im Verzeichnis sind nur Krankenhäuser enthalten, die einer Veröffentlichung zugestimmt haben. Für das Jahr 2007 war dies beispielsweise für 2028 von 2087 Krankenhäusern, mithin 97,2 % der Einrichtungen, der Fall (vgl. Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2009, S. 5).
521 fuhrt dazu, dass in der Tendenz die Größe der Träger und somit auch ihre Marktmacht systematisch unterschätzt werden. Lassen sich in den folgenden Analysen dennoch signifikante Ergebnisse feststellen, spricht dies für ihre Robustheit. 819 Bereits auf Ebene des Krankenhausverzeichnisses lassen sich in Verbindung mit der generierten Träger-ID erste Schlüsse ziehen. Wie Tabelle 16 zeigt, wird die Zahl der Krankenhausschließungen deutlich von der Konsolidierung auf Trägerebene übertroffen. 1995
2000
2003
2005
2007
Krankenhäuser
2280
2221
2152
2096
2032
Krankenhausträger
1583
1565
1473
1372
1280
Veränderung KHs in %
-3%
-3%
-3%
-3%
Veränderung Träger in %
-1%
-6%
-7%
-7%
Veränderung KH absolut
-59
-69
-56
-64
Veränderung Träger absolut
-18
-92
-101
-92
Tabelle 16: Entwicklung der Krankenhäuser und Träger von 1995-2007 Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis des deutschen Krankenhausverzeichnisses
Hinzu kommt noch ein Artefakt der amtlichen Statistik. Vordergründig scheint die Zahl der Krankenhäuser von 2000 bis 2007 um 189 abgenommen haben. Die Zahlen sind jedoch kritisch zu hinterfragen, spiegeln sie die Realität doch nur eingeschränkt wider. Hauptfaktor ist hierbei, dass manche Krankenhausträger einzelne Häuser unter einer Kennziffer zusammenzuführen, mithin „Einhäusigkeit" herstellen. Dies fuhrt unter Umständen dazu, dass faktisch zwar alle Standorte erhalten bleiben, in der amtlichen Statistik jedoch nur ein Haus mit einer Anschrift fortgeführt wird. Alle Daten werden über die einzelnen Häuser aggregiert und können einzelnen Standorten nicht mehr zugeordnet werden. Dies fuhrt zum einen zu einer deutlichen Unschärfe im vorliegenden Material, wodurch belastbare Aussagen deutlich erschwert werden. Zum anderen kann im Rahmen der Statistik nicht zwischen der realen Schließung eines Standortes und der Herstellung von „Einhäusigkeit" bei Erhaltung aller Standorte unterschieden werden. 820 Die Zahl der Krankenhausschließungen wird in der Tendenz also eher überschätzt. Die bei weitem bedeutendere Entwicklung findet auf Trägerebene statt.
819 820
Für nähere Informationen zum Vorgehen wenden Sie sich bitte an die Autoren. So konstatieren beispielsweise Spindler und Schelhase 2009, S. 642, in einer Publikation des Statistischen Bundesamtes: „Damit wurde seit Anfang der 1990er-Jahre jedes achte Krankenhaus entweder fusioniert oder ist durch eine Fusion in einem anderen Haus aufgegangen. In welchem Umfang es dabei zu Schließungen bzw. zu Fusionen gekommen ist, lässt sich aus den vorhanden Daten nicht ableiten."
522 Bei der Krankenhausstatistik, welche die Grundlage für das oben verwendete Krankenhausverzeichnis bildet, handelt es sich um eine jährlich stattfindende Totalerhebung der Krankenhäuser, Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen. Sie setzt sich aus drei Teilen zusammen: Krankenhausstatistik Teil I - Grunddaten (technische und personelle Ausstattung, erbrachte Leistungen), Krankenhausstatistik Teil II — Diagnosen (Fall- und Diagnosedaten) und Krankenhausstatistik Teil III — Kosten (Sach-, Personal- und Ausbildungskosten). Diese Daten werden am Forschungsdatenzentrum in Kamenz (Statistisches Landesamt Sachsen) bereitgestellt.821 Generell ausgeschlossen werden Krankenhäuser mit überwiegend psychiatrischen Schwerpunkten sowie Krankenhäuser mit weniger als 50 Betten. Um eine Verfälschung des HHI bei bundesweit tätigen Krankenhausträgern zu vermeiden, wurde im Rahmen der Berechnung des relevanten Marktes unterstellt, dass es sich in jedem Bundesland um einen eigenständigen Träger handelt. Zur Berechnung der Patientenströme, welche die Grundlage für die Marktanteilsberechnung bilden, wird eine 5 % Stichprobe aus den in der Krankenhausstatistik enthaltenen Diagnosedaten gezogen. Die Diagnosedaten enthalten alle auftretenden stationären Behandlungsepisoden (ca. 17 Mio. Fälle pro Jahr). Kombiniert enthält der Datensatz zur Bestimmung der Konzentration die Variablen anonymisierte PatientenID, anonymisierte Patienten-Postleitzahl sowie anonymisierte Krankenhaus- und Träger-ID. Der finale Datensatz, auf dessen Basis die Berechnung der Konzentrationsgrade erfolgt, umfasst folglich rund 786 Tausend Patientenfälle, verteilt auf 1439 Krankenhäuser bzw. 944 Krankenhausträger. Tabelle 17 fasst die im Rahmen der Datensatzaufbereitung vorgenommenen Schritte nochmals zusammen. Datensatzaufbereitung
Zahlen für das Jahr 2007 # KHer
# Träger
Urdatensatz aus der KH-Statistik
2093
1247
Träger-,, Bundeslandsplit"
2093
1349
Ohne Psych-Einrichtungen
1725
1145
Bereinigung wegen fehlender Daten
1652
1096
Ohne KHer mit weniger als 50 Betten
1439
944
=> Zuspielen der Fälle (5 % Stichprobe von ca. 17 Mio. Fällen pro Jahr) => Datensatzstruktur: Pat_ID | Pat_PLZ | KH_ID | TR_ID => 786 Tsd. Beobachtungen Tabelle 17: Datensatzaufbereitung Quelle: Eigene Berechnungen 821
Aufgrund des hohen Detaillierungsgrades der Krankenhausstatistik und den damit einhergehenden Datenschutzanforderungen erfolgt der Zugang über kontrollierte Datenfernverarbeitung.
523
3.2 Bestimmung des relevanten Marktes und Berechnung des HHI Bezüglich des Produktmarktes wird im Folgenden die eher weite Definition des Bundeskartellamtes zugrunde gelegt, die keine weitere Differenzierung des allgemeinen Marktes für Krankenhausdienstleistungen, z.B. nach Fachgebieten, vornimmt. Die Frage der Abgrenzung des Produktmarktes wird in der Literatur intensiv diskutiert. Nach Gaynor und Vogt 2000 ist dies eine weite Abgrenzung solange unproblematisch, wie von einer leichten Substituierbarkeit der einzelnen Komponenten ausgegangen werden kann. Die Autoren stellen jedoch explizit fest, dass in diesem - im Vergleich zum geographischen Markt - relativ wenig beforschten Bereich weitere theoretische und empirische Untersuchungen von Nöten sind. Dies deckt sich mit den Befunden diverser Autoren (vgl. Zwanziger et al. 1994, Halbersma et al. 2007, Lindrooth 2008 oder Varkevisser et al. 2008), die eine stärkere Differenzierung des Produktmarktes anregen und konkrete Vorschläge unterbreiten. Da Kreuzpreiselastizitäten ausscheiden, wird der geographische Markt mit Hilfe der aus den Daten konstruierbaren Patientenströme auf Ebene von Postleitzahlbezirken erfasst. Für jeden Krankenhausträger wird der eigene relevante Markt bestimmt und in der Folge ein eigener HHI berechnet. In Anlehnung an Zwanziger et al. 1990 werden folgende Regeln zugrunde gelegt: Für jeden Postleitzahlbezirk wird berechnet, welchen Anteil die aus diesem stammenden Patienten an allen Fällen des relevanten Krankenhausträgers darstellen. Die Postleitzahlbezirke werden entsprechend dieses Anteils absteigend sortiert. Bis kumuliert 60 % der Krankenhausfalle erreicht sind, werden alle Postleitzahlbezirke aufgenommen, darüber hinaus jedoch nur diese, die eine kritische Masse von mindestens 1 % aller Fälle des relevanten Krankenhausträgers darstellen.822 Zur Berechnung des HHI müssen ferner die relevanten Wettbewerber identifiziert werden. Auch hier wird in Anlehnung an Zwanziger et al. eine konservative Grenze von 3 % gewählt. Trägt nicht wenigstens ein dem relevanten Markt zuzurechnender Postleitzahlbezirk 3 % oder mehr zu den Fällen eines potenziell konkurrierenden Krankenhausträgers bei, dann stellt dieser gemäß Definition keinen relevanten Wettbewerber dar und wird bei der Berechnung des HHI nicht berücksichtigt.
822
Zwanziger et al. vergleichen verschiedene Cut-Off-Werte und kommen zum Ergebnis, dass diese Variante zu einer relativ weiten Abgrenzung des Marktes fuhrt.
524
4
Ergebnisse
Die auf Trägerebene berechneten Konzentrationsmaße werden in Abbildung 51 für jedes Krankenhaus separat abgetragen. Legt man als Grenzwert für stark konzentrierte Märkte einen H H I von 0,18 zugrunde, geht aus der Abbildung hervor, dass 2007 mehr als ein Drittel aller Krankenhäuser (525 Einrichtungen) in stark konzentrierten Märkten agierten. Für 171 Häuser wurde sogar ein H H I von über 0,3 ermittelt, ein kleiner Teil erreicht extreme Werte von über 0,6.
Krankenhäuser
Quelle: FDZ der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder, Krankenhausstatistik (,95/'00/'03/,057,07), eigene Berechnungen
Abbildung 51: Verteilung des HHI 2007 Quelle: F D Z der Statistischen Amter des Bundes und der Länder, Krankenhausstatistik 2007, eigene Berechnung
Ein H H I von 0,3 wird beispielsweise erreicht, wenn sich ein dominierendes Krankenhaus mit 50 % Marktanteil im relevanten Markt mit vier gleichgroßen Wettbewerbern konfrontiert sieht. Richtet man den Blick auf die 944 im Datensatz enthaltenen Krankenhausträger (siehe Tabelle 18), so liegt der Marktanteil im Mittelwert bei 2 1 % , wobei 5 % der Träger mit mindestens 5 4 % Marktanteil eine deutlich marktbeherrschende Position innehaben dürften. Am Median der Variable „Zahl der Krankenhäuser im Verbund" lässt sich ablesen, dass 2007 noch immer mehr als 50 % der Träger nur
525 ein freistehendes Krankenhaus führten. Unterstellt man, dass langfristig alleinstehende Krankenhäuser eher als Auslaufmodell zu betrachten sind, deutet sich hier hinsichtlich der Konzentrationsgrade noch deutliches Steigerungspotenzial an. Variable
N
Mean
PI
P5
P25
Median
P75
P95
P99
Marktanteil des Trägers
944
0.21
0.00
0.01
0.05
0.18
0.33
0.54
0.68
Zahl der Wettbewerber im Markt
944
13.01
2
3
6
9
14
38
60
Zahl der PLZBezirke im Markt
944
23.45
2
7
14
20
28
52
76
HHI aufTrägerbasis
944
0.15
0.00
0.02
0.07
0.14
0.21
0.36
0.52
Zahl der KHer im Verbund
944
2.99
1
1
1
1
2
14
37
Bettenzahl des Trägers
944
822.72
53
70
160
352
686
2788
10606
0 Größe der KHer im Verbund
944
300.44
52
70
141
227
361
763
1357
Tabelle 18: Keimzahlen auf Trägerebene fiir das Jahr 2007 Quelle: FDZ der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder, Krankenhausstatistik 2007, eigene Berechnung
Bei der Bewertung ist zu berücksichtigen, dass sowohl bei der Definition der Trägerschaft, als auch bei der Abgrenzung des relevanten Marktes sehr konservative und damit in der Tendenz die Konzentration unterschätzende Varianten gewählt wurden. In dieselbe Richtung wirkt die breite Definition des Produktmarktes, welche dazu führt, dass ein Fachkrankenhaus ohne Einschränkung mit einem Maximalversorger oder einem Allgemeinkrankenhaus konkurriert. Dass dennoch hohe HHI-Werte festgestellt werden konnten, ist ein starker Indikator dafür, dass zumindest in Teilbereichen Konzentrationsgrade erreicht werden, die auf eine geringe Wettbewerbsintensität schließen lassen. Berücksichtigt man ferner, dass 2007 mehr als 80 % der Patienten ein Krankenhaus gewählt haben, das in weniger als 20 Kilometer Entfernung (Luftlinie 8 2 3 ) des Wohnortes lag, ist die Bereitschaft, für deine Krankenhausbehandlung größere Distanzen zurückzulegen, eher als gering einzustufen. Dies stärkt wiederum die Marktmacht von Krankenhäusern.
823
Gemessen als Luftlinie zwischen PLZ-Bezirk des Patientenwohnortes und PLZ-Bezirk des Krankenhauses.
526
5
Fazit
Die derzeit nachrangige Rolle von selektiven Verträgen fuhrt dazu, dass die Marktmacht einzelner Krankenhausträger für die GKV noch keine signifikant negativen Wirkungen entfalten sollte. Patienten in ländlich strukturierten Regionen dürften^, lokal jedoch bereits die Erfahrung machen, dass ihnen keine realistischen Alternativen zum örtlichen Krankenhausträger zur Verfugung stehen. Indirekt sind hieraus wieder Auswirkungen auf die GKV denkbar, wenn Patienten aus diesem Grund ein von ihnen wahrgenommenes zu niedriges Qualitätsniveau nicht vermeiden können und hieraus Folgekosten entstehen. Aus Perspektive der Krankenkassen sollten bei einer weiteren Zunahme selektiver Vertragsschlüsse Leistungsbündel auch innerhalb einer Region in mehrere Lose aufgeteilt werden, sodass mehrere Anbieter zum Zug kommen können. Ziel ist es hierbei, einer übermäßigen Konzentrationsbildung keinen Vorschub zu leisten. In Ballungszentren und städtisch geprägten Regionen ist dies allerdings von geringerer Relevanz als im ländlichen Raum. Dieses Problem ist insbesondere bei einer verstärkten Kooperation von Leistungserbringern und Versicherern — wie im Rahmen von Verträgen der integrierten Versorgung oder in Managed-CareGesellschaften — zu beachten, da diese in der Regel einem Leistungserbringer ein gewisses Maß an Exklusivität einräumen. Zu beachten ist, dass sich hier potenziell ein Zielkonflikt zwischen einem effizienten Wettbewerb der Leistungserbringer und produktiver Effizienz ergibt. So können bestimmte Leistungen erst ab einem bestimmten Volumen zu angemessen Kosten- und Qualitätsniveaus erbracht werden. Aus dieser Perspektive wäre gerade im ländlichen Raum häufig eine noch stärkere Konsolidierung anzustreben. Dieser Zielkonflikt ist nicht trivial zu lösen. Hinzu kommt, dass Krankenkassen im ersten Schritt durch die Einbeziehung kleinerer Anbieter unter Umständen nachteilige Bedingungen akzeptieren müssten. Erst im zweiten Schritt würden sie durch die daraus resultierende Vermeidung ansteigender Marktmacht Nutzen ziehen können. Sollte aufgrund sonst unrentabler Produktionsstrukturen eine hohe Konzentration im Markt nicht zu verhindern sein, muss jedoch zwingend ein alternativer Kontrollmechanismus geschaffen werden, der die Sanktionsmechanismen des marktlichen Wettbewerbsprozesses ersetzt. Es ist im Interesse aller Beteiligten, dass ein derartiger, sanktionsbewehrter Regulierungsrahmen, der ein mangels Wettbewerb sich außerhalb eines akzeptablen Rahmens bewegendes Preis-Qualitäts-Gefüge korrigieren kann, etabliert wird, bevor Strukturen zementiert sind und eine Intensivierung selektiven Kontrahierens stattfindet. Ex post korrigierend einzugreifen wird unter anderem durch die hohen Marktzutrittsschranken für Leistungserbringer erschwert.
527 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass heute zwar in der Regel einzelne Krankenkassen durch ihre Größe die dominierenden Akteure im Markt sind. Setzt sich der Trend der Konsolidierung im stationären Sektor jedoch fort, werden ihnen in naher Zukunft marktmächtige Leistungserbringer gegenüberstehen. Ein Konzentrationsindex, wie er im Rahmen dieses Beitrags verwendet wurde, kann hierbei sicherlich nur als ein Indikator verstanden werden. Viele damit zusammenhängende Aspekte, wie die Integration des stationären in den ambulanten Sektor (Stichwort Klinik-MVZ) oder die durch den Krankenhausplan gesetzten, hohen Hürden für den Markteintritt neuer Wettbewerber, können durch diese Kennziffer nicht erfasst werden. Ein weiterer Ansatz, potenzieller Marktmacht entgegenzuwirken, wäre es, den Aktionsradius der Patienten zu erhöhen. Die negativen Implikationen von sporadischem Interventionismus wurden bereits eingangs des Textes beschrieben. Ziel muss es sein, eine robuste Wettbewerbsordnung zu etablieren, die komplementär zum Sozialrecht allen Akteuren nicht nur den notwendigen Schutz, sondern auch den notwendigen Freiraum bietet, um den sich ändernden Rahmenbedingungen dynamisch entgegentreten zu können.
Literatur Augurzky, B., Krolop, S., Gülker, R., Schmidt, C. M., Schmidt, H „ Schmitz, H „ Schwierz, C. undTerkatz, S. (2009): Krankenhaus Rating Report 2009, Im Auge des Orkans, in: RWI: Materialien, Bd. 53, RWI, Essen. BKartA - Bundeskartellamt (2005): Beschluss des BKartA vom 10.05.05 B 10 123/04 - Rhön-Klinikum AG/Kreiskrankenhäuser Bad Neustadt, Mellrichstadt, Bonn. Gaynor, M. und Vogt, W. B. (2000): Antitrust and competition in health care markets, in: Culyer, A. J. und Newhouse, J. P. (Hrsg.), Handbook of Health Economics, Bd. 1, Elsevier Science, Amsterdam, S. 1405-1487. Getzen, T. E. (2010): Health economics and financing, 4. Aufl., Wiley, Hoboken, NJ. Halbersma, R. S., Mikkers, M. C., Motchenkova, E. und Seinen, I. (2007): Market structure and hospital-insurer bargaining in the Netherlands, T I L E C Discussion Paper, Nr. 2007-006, Tilburg University, Tilburg. Lindrooth, R. C. (2008): Research on the Hospital Market: Recent Advances and Continuing Data Needs, in: Inquiry - The Journal of Health Care Organization Provision and Financing, 45(1), S. 19-29.
528 Maier, C. und Schmid, A. (2009): Potentiale internationaler Vergleiche im Gesundheitswesen am Beispiel von Konzentrationsprozessen im stationären Sektor, in: Gellner, W. und Schmöller, M. (Hrsg.), Gesundheitsforschung. Aktuelle Befunde der Gesundheitswissenschaften, Nomos, Baden-Baden, in Vorbereitung. Oberender, P. O. und Zerth, J. (2010): Wachstumsmarkt Gesundheit, in: UTB fur Wissenschaft, Uni-Taschenbücher, 3. Aufl., UTB GmbH, Stuttgart. Spindler, J. und Schelhase, T. (2009): Krankenhauslandschaft im Umbruch, in: Wirtschaft und Statistik, 2009(7), S. 641-659. Statistische Ämter des Bundes und der Länder (2009): Verzeichnis der Krankenhäuser und Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen in Deutschland — Krankenhausverzeichnis, Stand: 31.12.2007, Wiesbaden. valeo — Verbund Evangelischer Krankenhäuser in Westfalen (2010a): Startseite, online im Internet: http://www.valeo-klinikverbund.de [Stand: 20.8.2010]. valeo — Verbund Evangelischer Krankenhäuser in Westfalen (2010b): Über Valeo, online im Internet: http://www.valeo-klinikverbund.de/de/berValeo/page.html [Stand: 20.8.2010]. Varkevisser, M., Capps, C. S. und Schut, F. T. (2008): Defining hospital markets for antitrust enforcement: new approaches and their applicability to The Netherlands, in: Health Economics, Policy and Law, 3(1), S. 7—29. Zwanziger, J., Melnick, G. und Eyre, K. M. (1994): Hospitals and antitrust: Defining markets, setting standards, in: Journal of Health Politics, Policy and Law, 19(2), S. 423-447. Zwanziger, J., Melnick, G. und Mann, J. M. (1990): Measures of Hospital Market Structure: a Review of the Alternatives and a Proposed Approach, in: SocioEconomic Planning, 24(2), S. 81-95.
Jan Hacker und Rainer Schommer
Alternativen zur Krankenhausplanung 1
Einleitung
In Deutschland werden Krankenhausinvestitionen seit Einfuhrung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes (KHG) 1972 planwirtschaftlich alloziiert. 824 Jedes Bundesland stellt einen eigenen Krankenhausplan auf und stattet die darin aufgenommenen Einrichtungen mit Investitionskapital aus Steuermitteln aus. Sollten durch die Einfuhrung des KHG ursprünglich Kapazitätsengpässe behoben werden, lässt sich nach fast vier Jahrzehnten ein überwiegend negatives Fazit ziehen. Deutschland hat bei vergleichbarem Outcome (z.B. Entwicklung der Lebenserwartung, Kindersterblichkeit) im internationalen Vergleich außerordentlich hohe Bettenkapazitäten (Abbildung 52).
2.7
2.7
USA
Kanada
• 2,8
GB
3,1
Italien
3,6
Frankreich
Deutschland
Japan
Abbildung 52: Bettenkapazitäten im internationalen Vergleich [Betten in Krankenhäusern der Akutversorgung im Jahr 2007/1.000 Einwohner] Quelle: O E C D Gesundheitsdaten 2 0 1 0
Grund hierfür ist sicher auch die hohe kommunal- und landespolitische Relevanz von Krankenhausinvestitionen. Die Fördermechanismen wurden und werden nicht selten zu einem Instrument des Wettstreites um die Wählergunst. Das Auseinanderfallen von Investitions- und Betriebskostenverantwortung (Krankenkassen) führt unter anderem dazu, dass unnötig viele stationäre Fälle erbracht wer-
824
Dies gilt nur für Akutkrankenhäuser. Rehabilitationskliniken sind von staatlicher Planung weitgehend ausgenommen.
530 den, da die bestehenden Kapazitäten angebotsinduzierte Nachfrage erzeugen 8 2 5 . Gleichzeitig sinkt seit Jahren die Summe der zur Verfugung gestellten Fördergelder als Folge öffentlicher Mittelknappheit.
1995
1996
1997
1998
1999 2000
2001
2002
2003 2004
2005
2006
2007
2008
2009
Abbildung 53: Entwicklung KHG-Mittel 1995-2009 [Mrd. Euro]
Quelle: Umfrage der AOL, Befragung der Landeskrankenhausgesellschaften, Berechnung DKG 2010
Somit sind heute große Teile der Krankenhäuser in einem baulich und technisch insuffizienten Zustand. Der geschätzte Investitionsstau liegt bei € 30—50 M r d . 8 2 6 Problematisch ist auch, dass die Inanspruchnahme von KHG-Mitteln meist die Einhaltung öffentlicher Krankenhausbau- und Vergabevorschriften voraussetzt. D a diese veraltet und dem preisgünstigsten Angebot, nicht der Ablauf- und Gesamtkostenoptimierung, verpflichtet sind, entstehen so häufig ungünstig dimensionierte (z. B. zu wenig O P Fläche, Intensiv Kapazitäten) und im Betrieb vergleichsweise teure Krankenhäuser 8 2 7 . Und schließlich wird der Wettbewerb an den Sektorengrenzen verzerrt, da die angrenzenden Bereiche wie niedergelassene Arzte, Rehabilitationskliniken oder Pflegeheime für ihre Anlageninvestitionen keine bzw. geringere öffendichen Zuschüsse erhalten und deren Abschreibungsraten im Betrieb erwirtschaften müssen. All dies kann als normale und erwartbare Konsequenz einer planwirtschaftlichen Allokation betrachtet werden. Derzeit existieren Bestrebungen zu einer weiteren Ausdehnung der ministeriellen Planungshoheit auf angrenzende Sektoren zur Behebung von sich herausbildenden Versorgungsengpässen vor allem in struktur825
826
827
Quelle: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/026/1702600.pdf, S. 368 (Stand: 17.01. 2011). Quelle: Felder et al. (2008): „Was vorbei ist, ist vorbei": Zum Übergang in die Monistische Krankenhausfinanzierung, in: Klauber J, et al. (Hrsg.): Krankenhausreport 2007, Stuttgart: Schattauer, S. 147. Quelle: http://www.dkgev.de/media/file/2529.125.pdf, S. 16f. (Stand 27.12.2010).
531 schwachen Flächengebieten. Man verweist auf die offenbar gescheiterten, weil nicht aufeinander abgestimmten Planungsprozesse im stationären und durch die Kassenärztlichen Vereinigungen organisierten ambulanten Sektor. So hat die Gesundheitsministerkonferenz am Ol. Juli 2010 eine sektorübergreifende Bedarfsplanung unter Einbeziehung ambulanter und stationärer Leistungserbringer diskutiert. 828 Eine wettbewerbliche Alternative hierzu soll im Folgenden aufgezeigt werden.
2
Status quo der Krankenhausbedarfsplanung
Krankenhausplanung und Investitionsfinanzierung ist Ländersache. Das K H G wird in jedem deutschen Bundesland mit einem eigenen Krankenhausgesetz umgesetzt. Darin werden die konkrete Regelungstiefe und die Antragsverfahren für die Aufnahme in den jeweiligen Landeskrankenhausplan sowie die Beantragung von Fördermitteln geregelt. Vielfach ist die Berechnungsgrundlage die über 60 Jahre alte Hill-Burton-Formel, die den Bedarf aus den Parametern Einwohnerzahl, Verweildauer, Krankenhaushäufigkeit und Auslastungsgrad errechnet. 829 Die jeweiligen Landesnormen unterscheiden sich zum Teil deutlich. Zentralen Verfahren wie in Bayern stehen dezentrale Planungskommissionen wie in Hessen gegenüber, antragsfbrderungsdominierte Systeme wie in Rheinland-Pfalz mittlerweile Pauschalfinanzierungssystemen über DRGs in Nordrhein-Westfalen. Dabei werden angrenzende Bundesländer regelhaft nicht in die Planung mit einbezogen, sodass sich insbesondere an den jeweiligen Grenzen Verwerfungen ergeben können. Auch findet keine Abstimmung mit den im ambulanten Bereich vorgehaltenen Ressourcen statt. So entstehen z. B. gerade in Ballungsräumen im Großgerätebereich oft redundante Strukturen und Überkapazitäten. Dem Versuch des Bundesgesundheitsministeriums 2008, auf ein monistisches Finanzierungssystem umzustellen, wurde bei der Landesgesundheitsministerkonferenz in Plön mit 1 6 : 0 Stimmen eine klare Absage erteilt. Neben inhaltlichen Vorbehalten war hier vermutlich auch der befürchtete Verlust von politischen Gestaltungsmöglichkeiten ausschlaggebend. Insgesamt zeigt das gegeben System alle Symptome, die von einem staatlichen Planungssystem zu erwarten sind, wie Fehlallokationen, Ineffizienzen und Wettbewerbsverzerrungen . 828
829
Quelle: http://www.medcom24.de/content/Sektor%C3%BCbergreifende-Bedarfsplanungist-der-Schl%C3%BCssel-zur-bestm%C3%B6glichen-Versorgung-der-Patien (Stand: 07.09. 2010). Quelle: Schmidt-Rettig, B. (2008): Krankenhausplanung und Investitionsfinanzierung, in: Schmidt-Rettig, B. et al. (Hrsg.): Krankenhaus-Managementlehre, Stuttgart: Kohlhammer, S. 385.
532
3
Sektorübergreifende Bedarfsplanung
Krankenkassen, KBV und einige Landessozialministerien haben nun einen Vorschlag zur Überarbeitung der Bedarfsplanung vorgelegt. Dieser zeichnet sich insbesondere durch zwei Änderungen zum status quo aus. Stationäre und ambulante Bedarfsplanung sollen integriert und gemeinsam beplant werden. Außerdem sollen insb. im ambulanten Bereich die Planungsregionen verkleinert werden, um regionale Bedarfe noch punktgenauer zu erfüllen. Eine Umsetzung dieses Vorschlages hätte vermutlich sowohl positive als auch negative Konsequenzen. Zunächst würde durch eine stärkere Detaillierung wohl keines der grundlegenden Probleme gelöst, die staatliche Planung hervorruft. Allerdings müsste durch eine Verzahnung eine Antwort auf die unterschiedliche Investitionsfinanzierung in beiden Sektoren gegeben werden. Dies in unveränderter Form aufrecht zu erhalten wäre kaum durchsetzbar. Da eine Ausweitung der zur Verfugung gestellten Mittel unwahrscheinlich ist, ist von Kürzungen im stationären Bereich auszugehen, um deren wettbewerbsverzerrende Subventionierung vor allem bei der zuletzt stark geförderten Erbringung ambulanter Leistungen zu beenden. Die kleinste regionale Planungseinheit ist zumeist der Landkreis. Dies fuhrt gerade in Flächenkreisen oft dazu, dass sich Fachärzte stark in den Ballungszentren konzentrieren und die Versorgung in den Randbereichen deutlich weniger dicht ist. Eine kleinräumigere Planung könnte dem theoretisch Rechnung tragen, setzt jedoch die Bereitschaft niedergelassener Ärzte voraus, sich in ländlichen Gebieten niederzulassen. Nach bisherigen Erfahrungen, z. B. in Brandenburg oder Sachsen 8 3 0 , ist dies oft nicht einmal unter Zuhilfenahme finanzieller Anreize umsetzbar. Derzeit konkurrieren für eine sektorübergreifende Bedarfsplanung zahlreiche verschiedene Vorschläge von Bundesländern, Krankenhausgesellschaft und KV, die jeweils unterschiedliche Interessen umzusetzen versuchen. Unabhängig vom gewählten System ist zu vermuten, dass der Planungsprozess komplexer, (berufs-) politisch schwieriger und damit langwieriger würde.
830
Quelle:http://ww. vdek.com/LVen/SAC/Presse/Laenderreport49512/2010-06_LR_Sachsen. pdf, (Stand: 14.01.2011), http://www.kvbb.de/dyn/epctrl/con/kvbbOO 1434/cat/kvbbOOO 191 /mod/kvbb000334/ pri/kvbb, (Stand: 14.01.2011).
533
4
Ausschreibungsmodell
Aus den genannten Gründen spricht viel für eine Abschaffung der Krankenhausbedarfsplanung. Dem wird entgegengehalten, dass dann eine große Zahl insbesondere erwerbswirtschaftlicher Anbieter in den Markt drängen und das Überkapazitätsproblem weiter verschärfen würden. Die Fähigkeit medizinischer Leistungserbringer, angebotsinduzierte Nachfrage zu erzeugen, würde zu einem nicht zu rechtfertigenden und nicht finanzierbaren Versorgungsgrad fuhren. Andererseits würden unattraktive schwach besiedelte Gebiete nicht mehr versorgt, mit den sich daraus ergebenden Problemen für die flächendeckende Notfallversorgung. Daher ist ein System zu entwickeln, dass Angebot und Nachfrage in wettbewerblicher Form zusammenfuhren und dabei Randbedingungen wie eine gewünschte Flächenversorgung integrieren kann. Dies muss in einem Marktmodell realisiert werden, in dem eine überschaubare Anzahl an Nachfragern - derzeit ca. 150 gesetzliche Krankenversicherungen als Agenten ihrer Versicherten - den potenziellen Anbietern (mit hohen Freiheitsgraden in der sektorübergreifenden Organisation der Versorgung) gegenüberstehen. An die Stelle der Krankenhausplanung könnte hier die europaweite Ausschreibung von Krankenhausleistungen durch GKV-Unternehmen oder ihre Verbände treten. Diese müssten zu erwartende Leistungsmengen in definierten Regionen (idR mehrere Landkreise und ggf. auch bundeslandübergreifend) über einen längeren Zeitraum vorgeben. Es böte sich dabei an, sich an der wirtschaftlichen Abschreibungsdauer moderner Krankenhäuser zu orientieren, die mit ca. 10-15 Jahren 831 deutlich kürzer als die steuerlich für die Immobilie angesetzten Werte liegen dürfte. Der Gesetzgeber würde dabei sowohl die Ausschreibungsregionen als auch die notwendigen Randbedingungen (Reservekapazitäten, Notfallversorgung, indikations- und leistungsbezogene Flächenversorgung, Nachweis der fachlichen und wirtschaftlichen Befähigung) vorgeben. Anders als heute sollten auch definierte Qualitätskriterien und deren regelmäßige Prüfung und Veröffentlichung Bestandteil des Kontrahierens sein. Die Leistungsmengen könnten weiterhin in Form des DRG-Systems angegeben werden. Verschiedene Anbieter könnten dann über unterschiedliche Baserates in den Preiswettbewerb treten. Diese hätten einen investiven Anteil zu enthalten (Monistische Finanzierung). Auch müsste der Zeitraum zwischen Ausschreibung und Vertragsbeginn mit mindestens 3 Jahren ausreichend lang gewählt werden, dass noch nicht in der Region vertretene Wettbewerber Krankenhäuser im Zuschlagsfall erwerben oder errichten könnten. 831
Quelle:http://www. rhoen-klinikum-ag.com/rka/cms/rka_2/deu/download/GB_RKA_ 2009_DE.pdf, S. 130 (Stand: 17.01.2011).
534 Lokal bereits etablierte Krankenhausbetreiber hätten in diesem System aufgrund versunkener Kosten einen Wettbewerbsvorteil. Trotzdem sind ihnen in ihrer Preisgestaltung durch potenziellen Wettbewerb und den relativ geringen Anteil von Abschreibungen an den Gesamtkosten eines Krankenhauses Grenzen gesetzt. Somit wird die betriebswirtschaftlich geprägte individuelle Kalkulation von Erlösen- und Kosten der Betreiber und Kostenträger zentrales Entscheidungskriterium und entkoppelt die Gesundheitsversorgung in Teilen von (kommunal)politischen Prozessen.
5
Implikationen fiir das Klinikmanagement
Die für die kommenden Jahre absehbare „politische Großwetterlage" erscheint nach der von Seiten der Konservativ/liberalen Regierung nicht genutzten Chance auf einen wettbewerbsorientierteren Gesundheitsmarkt festgefahren. Das Vertrauen in staatliche Planungskompetenz ist nach den Erfahrungen der Finanzkrise zurückgekehrt, der Ruf nach wettbewerblichen Impulsen vielerorts zu Unrecht verstummt. Auf lange Sicht erwarten wir, dass aufgrund des immensen Kapitalbedarfes und Innovationsdrucks sich marktliche Strukturen durchsetzen, da gerade das hohe Gut Gesundheit keine Mangelwirtschaft duldet. Somit liegt nahe, dass auch die heute in den Kliniken Verantwortlichen ihr Handeln — innerhalb der gesetzlich zulässigen Möglichkeiten - auf wettbewerbliche Parameter hin ausrichten. Ein Aktionsfeld unternehmerischer Innovation und damit Impulsgeber für die Weiterentwicklung im Gesundheitsmarkt zeigt sich vor allem an den Schnittstellen zum „zweiten Gesundheitsmarkt", der sich auch aufgrund des deutlich niedrigeren Regulierungsniveaus in einer rasanten Wachstumsdynamik befindet. Wir sehen folgende Tendenzen, die strategische Gesundheitsunternehmer bereits heute berücksichtigen, um auch in einem mehr wettbewerblich gekennzeichneten Marktumfeld erfolgreich agieren zu können: Nachvollziehbare Qualitätsorientierung: Die transparente Darstellung von (Ergebnis-) Qualität bestehender Versorgungsstrukturen wird ein zentrales Kriterium sein bei der Anbieterauswahl des Kunden. Anbieter, die dieses Transparenzbedürfnis unzureichend erfüllen, werden sich in einem System ohne Kontrahierungszwang nur schwer behaupten können. Die bisherigen Gehversuche in der Versorgungsforschung sowie der z.T. überregulierten gesundheitsökonomischen Evaluation bleiben insbes. bei der Beurteilung neuer Verfahren hinter dem Anspruch eines Gesundheitssystems zurück, das einen Spitzenplatz im internationalen Vergleich anstrebt.
535 Produktdefinition und Prozessorientierung: Die für den Kunden verständliche vergleichende Darstellung der Ergebnisqualität von Gesundheitsdienstleistungen setzt voraus, dass die Anbieter klarer die eigenen Produkte definieren. Neben dieser deklaratorischen Abgrenzung z. B. von Konkurrenzangeboten sollte die Klinik den Leistungsanspruch durch konsequente Prozessorientierung (und -exzellenz) anstreben. Wenn z.B. durch neutrale Validierung glaubhaft dargestellt werden kann, dass die gewählten Qualitätsparameter über die einzelnen Wertschöpfungsstufen hinweg besser sind im Konkurrenzvergleich, ist die Basis zumindest für einen temporären Wettbewerbsvorteil gegeben. Kalkulationspraktiken: Für die Klinikleitungen bedeutet diese verstärkte Kunden* und Prozessorientierung neue Herausforderungen an die interne Kalkulation von Leistungen. Gerade zur Vorbereitung interner Portfolioentscheidungen ist die Darstellung produktbezogener Deckungsbeiträge unentbehrlich und liefert darüber hinaus notwendige leistungs-/prozedurenbezogene Informationen zum Abschluss von Selektiwerträgen (Eine Zusatzvergütung könnte dann der (konkret beschriebenen) Mehr-Leistung folgen und damit weitere Leistungs-/Preisdifferenzierungsmöglichkeiten schaffen. Die Orientierung an Strukturvorgaben (z. B. vorzuhaltender Fachkräfteschlüssel) oder Zuschlagsziffern (z.B. Wahlleistungszimmer) ist hier wenig zielfuhrend, da die Kostenträger die Festschreibung ganz konkreter Leistungskomponenten wünschen, um diese etwa im Rahmen einer Premium-Zusatzversicherung den Versicherten anzubieten. Erweiterte Kundenbasis: Die Kundenstruktur des zweiten Gesundheitsmarktes ist vielversprechend: Neben den Versicherungen sind dort nennenswerte Umsätze mit Firmenkunden (z. B. Präventionsprogramme) oder auch im Endkundengeschäft anzusiedeln. Gleichzeitig erweitert sich das Leistungsversprechen vieler Anbieter vom „Reparaturbetrieb" zum Gesundheitsdienstleister in allen Lebenslagen von der Geburt bis zum Sterbebett. Finde die richtigen Partner: Damit die Klinikbetriebe sich im „Djungel" dieser neuen Möglichkeiten nicht verlieren ist es naheliegend, sich Verbündete aufzubauen. Hier erwarten wir in den nächsten Jahren spannende branchenübergreifende Kombinationen und Leistungsangebote. Erste Anzeichen hierfür sind durch Allianzen z. B. von Technologiefxihrern wie Robert Bosch und Anbietern im Bereich ambient assisted living im Gesundheitsmarkt erfolgreich am Markt präsent. Die deutschen Unternehmen sind in vielen Bereichen Innovationsfiihrer und daher gut aufgestellt, sich Potenziale im Gesundheitsmarkt zu erschließen.
536
6
Fazit
Krankenhausplanung ist auch im deutschen Gesundheitswesen nicht alternativlos, bereits heute können die Kliniken an vielen Stellen, gerade im Bereich des zweiten Gesundheitsmarktes, Innovationskomponenten in das System einsteuern und Wettbewerbsvorteile für sich nutzen. Auch die gewünschten Ergebnisse im Bezug auf Qualität und Verfügbarkeit von Krankenhausleistungen können in einem wettbewerblichen Ausschreibungssystem besser als heute realisiert werden. Vorbehalte wie die Gefahr der Ausnutzung von Marktmacht durch GKV-Unternehmen sind zu prüfen. Hierzu böte sich die Erprobung des vorgeschlagenen Kontrahierungsmodells im Rahmen eines regional begrenzten Modellvorhabens nach § 63 SGB V an. Basierend auf den bereits im Rahmen der Integrierten Versorgungsmodelle entwickelten Vollversorgungsansätzen plädieren wir auch im deutschen Gesundheitsmarkt für eine regionale Vielfalt bei Angebots- und Nachfragestrukturen. Hierzu braucht es Mut der Akteure sowie Vertrauensbeweise durch Verantwortungsdelegation an die Entscheider vor Ort. Es zeigt sich vielerorts, dass diejenigen Kliniken, bei denen sich die Lokalpolitik auf reine Aufsichtspflichten zurückzieht bereits heute -nahezu unabhängig von der Trägerschaft- ordentlich positioniert sind. Uns scheint das Wagnis, den lokalen Kapazitäten vor Ort zu vertrauen mehr Impulse für die Weiterentwicklung der Gesundheitswirtschaft zu verleihen als die in der deutschen Kultur tief verwurzelte Sehnsucht nach staatlicher Vorgabe.
Daniel P. Wichelhaus
Strategiefindung und Umsetzung im Krankenhaus 1
Was ist Strategie?
In der betriebswirtschaftlichen Literatur gibt es keine einheitliche Definition des Strategiebegriffs. Das in unserer Sprache gebräuchliche Wort Strategie leitet sich aus den griechischen Wörtern „stratos" und „agein" ab und bedeutet „ein Heer fuhren". 832 Demnach ist in der Unternehmens- und somit auch in der Krankenhausstrategie das Element der Menschenführung ebenso enthalten wie der richtige Einsatz aller Ressourcen, Techniken und Materialien. Strategie ist die Kunst zu gewinnen. Im stationären Gesundheitswesen bedeutet das, Menschen und Krankenhaus zum Erfolg zu fuhren. Geht man von dieser Bedeutung aus, dann ist klar, dass eine Strategie für sich alleine keinen Wert hat, sondern dass es zwingend eines Zieles, genauer gesagt einer Vision bedarf, auf welche die Strategie ausgerichtet sein muss sowie eines Auftrags oder einer Mission darauf zuzusteuern. Diese Vorbemerkung macht es notwendig auf diese beiden Begriffe, Vision und Mission, einzugehen.
1.1 Die Bedeutung der Vision für die Strategiefindung Das lateinische Wort Vision im Sinne von „gesehen haben" ist etymologisch verwandt mit dem deutschen Wort Wissen. 833 Gesammeltes Wissen wird seit Alters als Weisheit verehrt, weil letztere selten ist. Auch heute sind Visionäre selten. Dabei gilt: „Eine Vision ohne Aktion ist nichts anderes als Träumerei. Eine Aktion ohne Vision ist lediglich ein Zeitvertreib. Eine Vision in Verbindung mit zielgerichteten Aktionen kann die Welt verändern". 834 Im Rahmen der Krankenhausstrategiefindung kommt der Vision eine ganz besondere Rolle zu. Sie liefert die Antwort auf die alles entscheidende Frage: Wohin will das Krankenhaus? Die Entwicklung einer Unternehmensvision ist daher eine Führungsaufgabe. Die Vision ist der ausformulierte vorweggenommene zukünftige Zustand, der beschreibt, was das Krankenhaus langfristig erreicht haben möchte. Eine Vision sollte dabei vier Merkmale aufweisen:
832 833 834
Bibliographisches Institut, Duden Herkunftswörterbuch, (2006). Bibliographisches Institut, Duden Herkunftswörterbuch, (2006). Baker, J: The Power of Vision, (1993).
538 •
Die Vision wird von der Krankenhausleitung vorgegeben.
•
Die Vision wird von der Belegschaft mitgetragen und unterstützt.
•
Die Vision ist verständlich und detailliert formuliert (Was, Warum, Wann, Wie), so dass jeder erkennen kann, worin sein eigener Beitrag zur Erreichung der Vision liegt.
•
Die Vision ist positiv, inspirierend, sinnstiftend und motivierend.
Bei der Formulierung der Unternehmensvision tun sich die verschiedenen Träger von Krankenhäusern unterschiedlich leicht. Krankenhäuser in kirchlicher Trägerschaft haben dabei gegenüber ihren Wettbewerbern einen deutlichen Vorteil. Das Konzept der Nächstenliebe und die sich daraus ableitenden praktischen Dienste am notleidenden und hilfebedürftigen Mitmenschen sind fester Bestandteil unserer christlich abendländischen Kultur. Sie werden von der Bevölkerung verstanden und mitgetragen, auch dann, wenn der größere Teil keiner Kirche mehr angehört. Kirchliche Häuser profitieren somit unmittelbar von gesellschaftlichen Wertevorstellungen, weil sie über den primären Krankenversorgungsauftrag hinaus sinnstiftend sind und von akzeptierten Werten getragen werden. Bei Krankenhäusern in privater Trägerschaft wird von Patienten und deren Angehörigen das Stichwort „Nächstenliebe" in aller Regel nicht an erster Stelle assoziiert. Im Extremfall mag bei manchem sogar ein latenter Vorwurf mitschwingen, man wolle aus seiner Not Kapital schlagen. Hier besteht die Herausforderung u. a. darin, die Unternehmensvision so zu formulieren, dass die berechtigten wirtschaftlichen Interessen des Krankenhauses Positives bei Patienten und Mitarbeitern auslösen, in dem Sinne wie z. B. „mit unseren Patienten wird kein unnötiger Schnickschnack betrieben, sondern es wird effizient und zielstrebig an deren Genesung gearbeitet". Krankenhäuser in kommunaler Trägerschaft können wieder eher von einer positiven Grundeinstellung in der Bevölkerung profitieren, wenn es ihnen bei der Ausformulierung ihrer Vision gelingt Aspekte einzufangen, die eine Identifikation und Zugehörigkeit der ortsansässigen Bevölkerung erleichtern. Wichtig ist hier der direkte örtliche Bezug. Denn zunächst einmal suchen unvorbelastete Patienten Dienstleister im Gesundheitswesen in ihrer unmittelbaren Umgebung auf, bevor sie bei komplizierteren Sachverhalten bereit sind längere Anreisen in Kauf zu nehmen. Das städtische Krankenhaus oder das Kreiskrankenhaus profitiert davon, dass sich der Gesundheitsmarkt in aller Regel lokal/regional abspielt. Universitäre Einrichtungen müssen sich damit auseinandersetzen, dass ein größerer Teil der Patienten zunächst einmal nichts Gutes mit einer Universitätsklinik verbindet. In der Vorstellung vieler Mitbürgerinnen und Mitbürger wird an einem
539 universitären Krankenhaus experimentiert und es kommen nur die schweren Fälle dorthin. Dabei wird „schwer" von manchem auch als „hoffnungslos" gedacht. Die Herausforderung bei der Formulierung der Vision besteht hier darin, das Element der Hoffnung und der Spitzenleistung herauszuarbeiten. Dort, wo alle anderen nicht mehr helfen können, hat das universitäre Krankenhaus noch Handlungsoptionen mit Erfolgsaussichten für den Patienten zu bieten.
1.2 Die Bedeutung der Mission fiir die Strategiefindung Bevor ein Krankenhaus oder eine Klinik eine Strategie erarbeitet, muss es sich Klarheit darüber verschaffen, was es langfristig erreichen möchte. Dazu dient die Formulierung der Vision. Der nächste Schritt besteht darin, sich Klarheit darüber zu verschaffen, wie die aktuelle Ausgangssituation aussieht. Hierbei steht die Beantwortung von zwei Fragen im Vordergrund: •
Warum ist das Krankenhaus da?
•
Wofür ist das Krankenhaus da?
Die beiden Fragen klingen zunächst trivial. Schaut man sich jedoch den deutschen Krankenhausmarkt an, so zeichnet sich schon seit längerem die Entwicklung ab, dass einerseits die Anzahl der kleineren, nicht spezialisierten Häuser eher rückläufig ist, andererseits eine Konzentration der Betten entweder lokal oder in ökonomischen Verbünden zu verzeichnen ist. 8 3 5 Die Beantwortung der beiden Fragen fuhrt zu einem sogenannten Missionsstatement. Betrachtet man ein Krankenhaus, das sich im Speckgürtel einer Großstadt befindet, dann wird deutlich, dass Antworten auf die beiden o. g. Fragen nicht trivial sind. So kann z. B. ein Kreiskrankenhaus im unmittelbaren Münchner Umland die Frage, warum es da ist, nicht mit dem einfachen Verweis auf den Versorgungsauftrag beantworten, denn dafür ist die Krankenhausdichte in München und Umgebung einfach zu hoch. Wenn neben dem Kreiskrankenhaus noch ein kirchliches Haus am Orte ist und gegebenenfalls noch eine Spezialklinik in unmittelbarer Nähe, dann ist die Antwort auf die Frage, wofür es da ist, nicht sofort evident. Wenn man Strategie gleichsetzt mit der Führung zum Erfolg und Vision gleichsetzt mit dem Endziel, an dem man angelangen möchte, dann kommt dem Missionsstatement in diesem Zusammenhang die Aufgabe zu den Ausgangspunkt zu beschreiben. Je klarer diese beiden Beschreibungen von Ist-Zustand und Soll-Zustand ausfallen, desto einfacher lassen sich daraus Strategien zur Zielerreichung ableiten. Von daher ist die Formulierung der Vision und der Mission Vorbedingung für die Entwicklung einer Strategie.
835
DKG, Zahlen Daten Fakten, (2006).
540
1.3 Definitionen des Strategiebegriffs Die Literatur liefert keine einheitliche Definition. Im Folgenden werden einige der gängigsten Beschreibungen des Strategiebegriffs ohne Anspruch auf Vollständigkeit aufgeführt, um die Bandbreite der Interpretation des Strategiebegriffs aufzuzeigen: •
Strategie ist langfristige, nicht unmittelbar erkennbare Führung eines Systems über längere Zeit. 836
•
Bei der Strategiefindung geht es um Abwägungen. Es gilt zu entscheiden, was relevant und was nicht relevant ist. Gäbe es dieses Abwägen nicht, so gäbe es keine Wahlmöglichkeit. Gäbe es keine Wahlmöglichkeit, so bestünde keine Notwendigkeit für eine Strategiefindung. 837
•
Strategie ist Revolution, alles andere ist Taktik. 838
•
Strategie ist ein integraler Bestandteil einer Unternehmung, bestehend aus einer nicht all zu präzise formulierten Vorgehensweise zur Erreichung einer Vision. 839
•
Die Strategie muss mit ins Feld ziehen, um den Einzelnen an Ort und Stelle anzuordnen und für das Ganze die Modifikationen zu treffen. 840
•
Worum es bei der Strategie geht, lässt sich in einem Wort zusammenfassen: Es geht um den „Wettbewerbsvorteil". Es geht darum einen nachhaltigen Vorsprung gegenüber den Wettbewerbern zu erzielen. 841
Die Definition von Ohmae scheint dabei die für den Gesundheitsmarkt am ehesten geeignete zu sein. Denn in dem derzeitigen Verdrängungswettbewerb ist ein langfristiges Bestehen nur möglich, wenn es gelingt, einen für den Patienten deutlich wahrnehmbaren Wettbewerbsvorteil gegenüber den Mitbewerbern herauszuarbeiten. Da der Begriff Strategie aus dem Militärischen kommt und aktuelle Literatur immer wieder Anleihen bei großen Militärstrategen 842 macht, verwundert es nicht, dass die Empfehlungen hinsichtlich der Formulierung von Unternehmensstrategien auf militärische Erfahrungen zurückgreifen. Als Prinzipien militärischer Strategien lässt sich Folgendes benennen:
836 837 838 839 840 841 842
Henderson, B. D.: Harvard Manager 3, (1990). Porter, M. E.: Wettbewerbsstrategie, (1995). Hamel, G.: Wettlauf um die Zukunft, (1995). Mintzberg, H.: Harvard Business Manager 10, (1988). v. Clausewitz, C : Vom Kriege, (1978). Ohmae, K.: The Mind of Strategist, (1982). v. Oetinger, B.: Clausewitz - Strategisch Denken, (2003).
541 •
Die Pläne möglichst einfach halten.
•
Die Auswahl auf entscheidende Ziele beschränken.
•
Die Konzentration der eigenen Kräfte auf einen entscheidenden Punkt fokussieren.
•
Die Wirkung der eigenen Kräfte maximieren.
•
Dem Wettbewerber die Initiative nehmen.
•
Die Geheimhaltung wahren, bis es fiir den Wettbewerber zu spät ist entsprechend zu reagieren.
•
Unerwartete Elemente einsetzen, z. B. Täuschung, Verschleierung, Geschwindigkeit, Kreativität, Wagemut und Verwegenheit.
•
Die Strategie flexibel halten, um sich den gegebenen Umständen anpassen zu können.
Hieraus ergibt sich die Antwort auf die Frage, ob es „die eine" Strategie gibt. Die Antwort hat bereits der römische Feldherr und spätere Kaiser Julianus Apostata gegeben, welche noch heute als Sprichwort geläufig ist: „Viele Wege fuhren nach Rom".
1.4 Die Bedeutung der SWOT-Analyse für die Strategiefindung Wenn Mission und Vision beschrieben sind, wie kommt man dann zur Strategie? Der klassische Weg fuhrt über die Stärken/Schwächen- und Chancen/Risiko Analyse. 843 Diese als SWOT-Analyse bezeichnete Methode, was auf die englische Bezeichnung Strengths/Weaknesses and Opportunities/Threats zurückzufuhren ist, wird dabei im Hinblick auf die Vision durchgeführt. Die Analyse der Stärken und Schwächen beleuchtet dabei die internen Faktoren des Krankenhauses. Dabei geht es um die Frage, wo ist das Krankenhaus bereits heute stark aufgestellt im Hinblick auf die Erreichung der Vision. Entsprechend adaptiert lautet die Frage für die Schwächenanalyse. Die Chancen- und Risiko-Analyse beleuchten das Wettbewerbsumfeld des Krankenhauses. Daher sind SWOT-Analysen immer individuell. An einer SWOT-Analyse sind neben dem Topmanagement weitere Mitarbeiter einzubinden, weil sie die Patienten gut kennen oder die Einweiser, die Lieferanten, die Wettbewerber etc. Üblicherweise wird die SWOT-Analyse in einem Workshop erarbeitet. In aller Regel treten die echten Stärken/Schwächen und Chancen/Risiken zutage, wenn das, was wie aus der Pistole geschossen kommt, hinterfragt wird. Es ist Aufgabe des Moderators nachzuhaken, was sich 843 McNamee, P.B.: Tools and Techniques for Strategie Management, (1985).
542 hinter den oft sehr rasch genannten Stärken und Schwächen verbirgt. Die Erfahrung zeigt, dass es erst nach mehrmaligem Hinterfragen gelingt sich den ursächlich zu Grunde liegenden Sachverhalten nähern. Das Resultat einer SWOT-Analyse sollte darin bestehen, dass die wichtigsten Folgerungen in einer prägnanten Form artikuliert sind. Diese bündigen Sätze sind als strategische Aussagen zu verstehen, aus den sich im nächsten Schritt die einzelnen strategischen Ziele ableiten lassen. Weitere Management-Instrumente zur Strategiefindung, die oft genannt werden, die aber mit in eine SWOT-Analyse einfließen sollten, sind ohne Anspruch auf Vollständigkeit Ergebnisse von Kunden-/Patientenbefragungen, Kunden-/Patientenerwartungen, Krankenhauskernkompetenzen, Portfolioanalysen, Umsätze sowie Differenzierungen gegenüber den Wettbewerbern, Marktanalysen, Marktvolumen, Umweltanalysen, Rahmenbedingungen und aktuelle Branchentrends. Hinsichtlich der Bewertung einer SWOT-Analyse und der Schlüsse, die man aus ihr ziehen kann, gibt es zwei grundsätzlich verschiedene Vorgehensweisen. Der eine Ansatz kommt aus der Erkenntnistheorie und geht davon aus, dass alles Neue und jede Verbesserung letztlich auf einen gemachten, erkannten und analysierten Fehler zurückzufuhren ist. Als Beispiel dafür wird in der Medizin gerne die Entdeckung des Penizillins durch Flemming angeführt, der aus der Betrachtung von ungewollt vergammelten Petrischalen bahnbrechende Schlüsse gezogen hat. Dieser Ansatz legt den Fokus auf das Beheben von Schwächen. Dort, wo etwas nicht gut läuft muss/soll verbessert werden. Der andere Ansatz kommt aus den Erkenntnissen der Erziehungswissenschaften und geht davon aus, dass nur Eigenschaften, die bereits da sind, erfolgreich gefördert und entfaltet werden können und dass die positive Verstärkung von Stärken zu viel größeren Motivationsschüben und Erfolgen fuhrt als das ständige Bekritteln von Schwächen.
1.5 Strategiefindung ist ein Lern- und Entscheidungsprozess In der Praxis läuft der Strategiefindungsprozess selten linear, sequentiell und geordnet ab. In aller Regel gibt es eine geplante Strategie, die sich in Teilen bewährt und in anderen Teilen eben nicht, weil sich Unvorhergesehenes ereignet hat. Daher ist es nur konsequent, wenig erfolgreiche Elemente einer Strategie zu verwerfen und dagegen Chancen, die sich immer wieder auftun zu ergreifen, auch wenn diese nicht expliziter Teil des Strategiepapiers sind. Man hüte sich davor sein Strategiepapier in Stein zu meißeln und sich dadurch den Blick auf unverhoffte erfolgversprechende Gelegenheiten zu verstellen. Nicht zu unterschätzen ist die Tatsache, dass die Mehrzahl derjenigen, die eine Strategie in der Praxis operativ umsetzen sollen, die Unternehmensvision und Strategie entweder nicht richtig kennen oder nicht richtig verstanden haben. Studien zeigen, dass nach einem Durchlaufen von fünf Hierarchieebenen nur noch 20 %
543 der Informationen auf der untersten Stufe angekommen sind. 8 4 4 Die Ergebnisse der Umfrage des Managementmagazins Renaissance C F U Survey 845 zeigen diesen Informationsverlust anhand des Visionsverständnisses auf. Liegt die Kenntnis der Unternehmensvision auf Geschäftsfiihrungsebene schon durchschnittlich bei nur 70 %, so ist es laut dieser Umfrage bei Angestellten in Linienfunktionen nur noch bei 5 % vorhanden. Defacto bedeutet dies, dass nur sehr wenige Angestellte in Linienfunktion noch ein klares Verständnis der Vision haben und daher bereit oder in der Lage sind, die Unternehmensstrategie zu unterstützen. Da Menschen aber in der Regel auf der Suche nach einem Sinn für ihr Handeln sind, überrascht es nicht, dass bei einem solchen Mangel an Kenntnissen hinsichtlich der Unternehmensvision und Strategie sich jeder seine eigene Vision und Strategie zurechtlegt. Daher empfiehlt es sich, dass Führungskräfte frühzeitig, mehrfach, wiederholt und multimedial die Vision und die Strategie des Krankenhauses kommunizieren, damit die Belegschaft die Chance hat, diese kennen zu lernen.
2
Warum scheitern Strategien?
Für das Scheitern von Strategien gibt es mehrere Erklärungsansätze. Ein Ansatz betrachtet die Strategie an sich.
2.1 Falsche Strategie Die gesamte Unternehmung verfolgt eine Vision und eine Strategie, die nichts zum Unternehmenserfolg beiträgt. Ein Beispiel dafür ist das amerikanische Bekleidungsunternehmen GAP. Der Versuch sich in Deutschland im unteren Preissegment anzusiedeln schlug völlig fehl. Die Konkurrenz von H & M, die als erste in Deutschland in diesem Segment waren, wurde völlig unterschätzt, möglicherweise sogar beim europäischen Roll-out, der in Spanien begonnen wurde, völlig übersehen. In der Krankenhauslandschaft gibt es ebenfalls solche Beispiele. So hat die heute erfolgreiche Schön-Klinik-Gruppe zunächst mit dem Bau der als kardiologischer Spezialklinik konzipierten Roseneck-Klinik in Prien am Chiemsee ein finanzielles Desaster erlebt. Erst durch eine völlige Strategieänderung — verbunden mit einer Fokussierung auf Psychosomatische Erkrankungen — konnte schließlich eine erfolgreiche Wendung erreicht werden. 846
Hinterhuber, H.: Strategische Unternehmensfiihrung, (1997). www.im.nrw.de. 846 Niermann, I.: Dieter Schön, Star wider willen, (2006). 844
845
544
2.2 Abgehobenes Management Die Geschäftsführung hat eine Vision und verfolgt eine Strategie, die nicht angemessen kommuniziert, umgesetzt und gemanagt wurde. Das Phänomen taucht häufiger dann auf, wenn das Unternehmen sehr groß ist, die darin vorhandenen Strukturen über Jahrzehnte organisch gewachsen sind und das Management neu oder quer eingestiegen ist. Beobachten kann man dies z. B. bei öffentlichen Unternehmen, die privatisiert werden sollen. Der von Jahr zu Jahr verschobene Börsengang z. B. eines im Personenverkehr tätigen Unternehmens könnte ein Indiz dafür sein, dass es an Nähe zwischen dem Topmanagement und der Belegschaft im Unternehmen fehlt. Im Krankenhausbereich sind solche Phänomene manchmal bei ärztlichen Direktoren zu beobachten, die sich ausschließlich über ihre Kompetenz in der Krankenversorgung definieren und die trotz erheblicher Verlustvorträge des Krankenhauses neue und kostspielige Konzepte hinsichtlich der Leistungserbringung propagieren, aber gleichzeitig die Finanzierung völlig ausblenden.
2.3 Keine Strategie Der Unternehmung fehlen eine Vision und/oder eine klare Strategie, so dass am Ende jeder das macht, wo von er glaubt, dass es das Richtige sei. Ein Beispiel dafür war das heute nicht mehr existierende Arbeitsamt. Im Krankenhausmarkt findet sich dieses Phänomen manchmal bei kleinen Krankenhäusern in kommunaler Trägerschaft, deren Vorstände und/oder Aufsichtsräte zwar aus der lokalen Umgebung, aber nicht aus dem Gesundheitsmarkt kommen und nach z. B. parteipolitischem Proporz ausgewählt wurden.
2.4 Konkurrierende Strategien Verschiedene Gruppen innerhalb der Unternehmung sind sich in Bezug auf Vision und/oder Strategie und also auch deren Umsetzung uneins. Dies dürfte der häufigste Grund für das Scheitern einer Strategie sein. Das Krankenhaus ist traditionell ein Multibranchen-Unternehmen. Dies spiegelt sich schon an Bezeichnungen wider wie z. B. Funktionsdienst, Pflegedienst, ärztlicher Dienst, Verwaltungsdienst. Das System kann noch beliebig kompliziert werden, wenn zusätzlich noch Forschung und/oder Lehre betrieben werden. Weitere Gründe für das Scheitern von Strategien Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien noch ein paar häufige Gründe für das Scheitern einer Strategie genannt:
545 •
Vision und Strategie sind nicht konkret genug formuliert und werden von denen, die sie leben und umsetzen sollen, nicht verstanden oder können nicht in greifbare Ziele übersetzt werden.
•
Die Systeme des Managements gerade auf der mittleren und unteren Managementstufe sind nicht strategisch, sondern auf die Erledigung des Tagesgeschäfts ausgerichtet. Der Zusammenhang zwischen übergeordneten strategischen Zielen und daraus abgeleiteten operativen Maßnahmen wird nicht erkannt.
•
Operative Kernprozesse sind nicht so gestaltet, dass sie eine erfolgreiche Strategieumsetzung wirklich ermöglichen. Ein Beispiel daftir ist das Thema Wartezeit im Krankenhaus.
•
Und nicht zuletzt gibt es bei manchen Mitarbeitern Diskrepanzen zwischen persönlichen Zielen und eigenen Erfahrungen mit der vorgegebenen Strategie.
3
Was macht Strategien erfolgreich?
Erfolgreiche Strategien weisen häufig zwei Merkmale auf. Zum einen stellen sie auf einen überlegenen Wettbewerbsvorteil ab und zum anderen weisen sie ein langfristig konstantes Verhaltensmuster auf. Ein nahezu perfektes Vorbild dafür ist McDonalds: weltweite Verfügbarkeit, schnelle Zubereitung, konstante Qualität, niedrige Preise und sehr kinderfreundlich. Nicht umsonst gehört das McDonalds Logo zu einem der weltweit bekanntesten Markenzeichen. Da im Gesundheitswesen aktive Werbung unüblich ist, sind auch die erfolgreichen Strategien nicht so augenfällig wie in der freien Marktwirtschaft. Nichtsdestotrotz lassen sich hier erfolgreiche Strategien benennen: •
Die Strategie des Komplettanbieters.
•
Die Strategie des Spezialanbieters.
•
Die Strategie des Systemanbieters.
3.1 Die Strategie des Komplettanbieters In der freien Marktwirtschaft kann man zu den Komplettanbietern Unternehmen wie z. B. Amazon zählen. Bei Amazon bekommt man jedes Buch. Im Gesundheitswesen verbergen sich die Komplettanbieter oft hinter großen Not-for-ProfitTrägergesellschafiten wie z. B. den Caritasträgergesellschaften oder den Diakonien. Zu deren Portfolio gehören Akutkrankenhäuser, Rehabilitationseinrichtungen,
546 Alten- und Pflegeheime, mobile Pflegedienste und Hospize sowie weitere Einrichtungen der freien Wohlfahrt wie Kindergärten, Schulen und vieles mehr, eben das komplette Programm „von der Wiege bis zur Bahre".
3.2 Die Strategie des Spezialanbieters Ein typischer Spezialanbieter in der freien Marktwirtschaft war z. B. ein Unternehmen wie Porsche. Ziel der Spezialisierung ist es, sich auf eine Leistung besonders zu konzentrieren und dadurch auf diesem Gebiet das beste Produkt herzustellen beziehungsweise anzubieten. In der Geschichte der Firma Porsche gab es lange Zeit im Grunde nur ein Modell, heute gehört Porsche zum VW Konzern und hat vier Modellreihen. Im Gesundheitswesen gibt es diese Spezialanbieter in drei Varianten. Zum einen gibt es die Spezialkliniken wie z. B. die Herzzentren. Zum zweiten gibt es Klinikketten mit dezidierten Schwerpunkten wie z. B. die Schön-Kliniken auf dem Gebiet der Psychosomatik. Und es gibt Krankenhäuser mit verschiedenen Abteilungen, unter der eben eine oder mehrere von besonderer Leistungsstärke sind. Zum Beispiel ist die Medizinische Hochschule Hannover Weltmarktfiihrer, wenn es um Herz/Lungen- Transplantationen geht. 8 4 7
3.3 Die Strategie des Systemanbieters Ein Beispiel aus der freien Marktwirtschaft für einen Systemanbieter ist Microsoft. Wer ein Microsoft-Betriebssystem auf seinem Rechner installiert hat, der ist fiir den Rest der Zeit an Microsoft gebunden. Im Gesundheitswesen gibt es zwei nennenswerte Akteure, die diese Strategie verfolgen. Zum einen ist dies das RhönKlinikum mit seinen Portalkliniken, zum anderen ist es der Modellversuch im Main-Kinzig-Kreis. Hier ist das Angebot so strukturiert, dass es grundsätzlich die Möglichkeit bietet einen Patienten komplett an das Unternehmen zu binden und ihm dann alle entsprechenden Dienstleistungen auch anbieten zu können. Mit diesen drei Strategien ist das Feld abgesteckt. Die Variante der Kostenfuhrerschaft, die es in der freien Marktwirtschaft gibt und für die ein markantes Beispiel das Unternehmen Aldi ist, gibt es in dieser Form im Gesundheitsmarkt nicht, weil die Preise im stationären Bereich durch die Fallpauschalen und im ambulanten Bereich durch den einheitlichen Bemessungsmaßstab festgelegt sind. Kostengünstiges Wirtschaften wird im Gesundheitsmarkt nicht in Form von Preissenkungen an den Kunden weitergegeben. Auch die Mengen sind nicht frei wählbar, sondern im stationären Sektor Gegenstand der Budgetverhandlung und im ambulanten Bereich sind sie ebenfalls gedeckelt.
847
Schwing, C.: Die Zukunft der Unikliniken, (2007).
547
4
Wie werden Strategien erfolgreich umgesetzt?
„Die Formulierung einer Strategie ist eine Kunst, und das wird immer so bleiben. Die Beschreibung einer Strategie dagegen sollte keine Kunst sein. Wenn es uns gelingt, Strategien in disziplinierter Weise zu beschreiben, erhöhen wir die Wahrscheinlichkeit erfolgreicher Strategierealisierung".848 Auf dieser Basis beruht das Vorgehen beim Aufbau der von Kaplan und Norton entwickelten Balanced Scorecard-Methode (Abbildung 54), die im Folgenden vorgestellt wird.
au einer Balanced Scorecard Quelle: Horváth & Partners, 2004 (modifiziert)
4.1 Die Bedeutung der Strukturierung der Strategie Um eine Strategie zu beschreiben, bedarf es der Erfüllung von drei Voraussetzungen: Eine Vision liegt vor. Eine Beschreibung der Ausgangssituation bzw. das Missionstatement liegt vor. Eine Formulierung der elementaren strategischen Stoßrichtungen z.B. auf der Basis einer durchgeführten SWOT-Analyse liegt vor.
4.1.1. Ableiten der Strategischen Ziele Auf der Basis dieser drei Voraussetzungen lässt sich nun mit der Balanced Scorecard (BSC)-Methode eine Strategie detailliert beschreiben. Die BSC verfolgt dabei in erster Linie das Ziel den Blick auf die fur das Unternehmen relevanten strate848
Kaplan, R. S.: The Balanced Scorecard, (2000).
548 gischen Veränderungen zu fokussieren und blendet die tägliche operative Datenflut aus. Demnach gehören auf die B S C nur jene wenigen, aber entscheidenden Ziele, von deren Erreichung der Erfolg der Krankenhausstrategie abhängt. Die Erfahrung zeigt, dass zur strategischen Steuerung i. d. R. nicht mehr als zwanzig Ziele benötigt werden. Die B S C gliedert sich dabei in Aussagen zu verschiedenen Perspektiven. 849 Die nachfolgenden vier Perspektiven sollten immer berücksichtigt sein: •
Finanzen: Welche Zielsetzungen leiten sich aus den finanziellen Erwartungen unserer Kapitalgeber ab?
•
Kunden: Welche Ziele sind hinsichtlich der Struktur und der Anforderungen unserer Kunden zu setzen, um unsere finanziellen Ziele zu erreichen?
•
Prozesse: Welche Ziele sind hinsichtlich unserer Prozesse zu setzen, um Ziele der Finanz- und Kundenperspektive zu erreichen?
•
Potenzial: Welche Ziele sind hinsichtlich unserer Potenziale zu setzen, um den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen gewachsen zu sein?
Abbildung 55: Balanced Scorecard Quelle: Horvath & Partners, 2004 (modifiziert)
Z u diesen vier Perspektiven können weitere hinzukommen. So findet sich z. B. bei Krankenhäusern in kirchlicher Trägerschaft gelegentlich die Perspektive „Ethischer Auftrag" über der Finanzperspektive. Bei Krankenhäusern in kommunaler- oder 849
Horvath, P.: Balanced Scorecard umsetzen, (2004).
549 Landesträgerschaft kann es eine Perspektive „Versorgungsauftrag" über oder unter der Finanzperspektive geben. Geläufig ist bei Krankenhäusern die Aufspaltung der Kundenperspektive in eine „Kunde-/ Marktperspektive" sowie zusätzlich einer „Patientenperspektive". 850 Unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit können die o.g. vier Perspektiven um eine „Nicht-Markt-Perspektive" 851 unterhalb der Potenzialperspektive ergänzt werden. Hinsichtlich des hierarchischen Aufbaus gibt es unterschiedliche Auffassungen. 852 Allerdings hat sich der o. g. Aufbau, der die Finanzperspektive als oberste und die Potenzialperspektive als unterste Ebene benennt, in der Wirtschaft durchgesetzt. 853 Unter jeder der o. g. Perspektiven erfolgt dann die Benennung einzelner strategischer Ziele. Zu jedem Ziel gehören jeweils eine Messgröße, mindestens ein Zielwert sowie Maßnahmen. Ausgehend von den drei o. g. Voraussetzungen werden die strategischen Ziele in einem Workshop abgeleitet. An dem Workshop sollten dabei leitende Mitarbeiter/innen aus allen Bereichen des Krankenhauses beteiligt sein, d. h. sowohl aus der Verwaltung wie aus der Krankenversorgung und falls vorhanden aus Forschung und Lehre. Der Workshop bietet dabei die Möglichkeit des Meinungsaustausches sowie einer Konsensfindung z. B. über Vision, Strategie, Optionen und Prioritäten. Er eignet sich zur Ideenfindung bei der Benennung geeigneter Maßnahmen und dient der gemeinsamen Entscheidungsfindung, wenn es um die Vergabe von Ressourcen geht. Nicht zuletzt ist der Workshop ein Instrument, um die Akzeptanz der Vision, der Strategie und der B S C bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu steigern. Mit der Benennung der einzelnen strategischen Ziele ist der erste Schritt zu einer detaillierten Strategiebeschreibung i. S. von Kaplan und Norton unternommen. Dabei ist es sinnvoll, die Ziele auf Basis der Diskussion in dem Workshop auszuformulieren. Dadurch wird verhindert, dass es zu einem späteren Zeitpunkt zu den sonst kaum vermeidbaren Fragen oder Aussagen kommt, wie z. B. „Was haben wir damals damit eigentlich gemeint oder erreichen wollen?" oder „Das habe ich damals aber ganz anders verstanden."
4.1.2. Erstellen einer Strategiekarte Erst die Vernetzung der Ziele miteinander beschreibt die Strategie vollständig. Die in der B S C genannten strategischen Ziele unterstützen sich gegenseitig.
850 851 852 853
Greulich, A.: Balanced Scorecard im Krankenhaus, (2005). Schaltegger, S.: Sustainability Balanced Scorecard, (2004). Friedag, H.R.: Balanced Scorecard, (2002). Kaplan, R.S.: Strategy Maps, (2004).
550 Ursache-Wirkungsketten854 beschreiben wie Ziele in den Perspektiven erreicht werden können und helfen so die Strategie der Klinik gegenüber verschiedenen Gruppen von Stakeholdern zu veranschaulichen. Abbildung 56 verdeutlicht das Prinzip. Defizit abbauen
Finanzen
Kunden/Patienten
Prozesse
Kosten senken
Echte Komplikationen und Zwischenfälle senken
Klinische Behandlungspfade einführen
Potentiale/Mitarbeiter
Empowerment und Qualifikation auf allen Ebenen ausbauen
Abbildung 56: Beispiel für eine Ursache-Wirkungskette Quelle: Horvath & Partners, 2 0 0 4 (modifiziert)
Eine Strategiekarte entsteht, wenn letztlich alle Ziele der BSC miteinander in Verbindung gebracht worden sind. Allerdings sollte man es der Übersichtlichkeit halber bei der Darstellung der wesentlichen Zusammenhänge belassen.
4.1.3. Ableiten der Messgrößen Erfahrungsgemäß ist die Benennung der Messgrößen der schwierigste Schritt bei der Erstellung einer BSC. Das liegt zum einen daran, dass es Messgrößen oft noch gar nicht gibt und diese nun im Krankenhaus zum ersten Mal erhoben werden sollen. Ein weiterer Grund liegt darin, dass es spätestens jetzt allen Beteiligten klar wird, dass man ihren jeweiligen persönlichen Beitrag beziehungsweise den ihrer Abteilung zur Zielerreichung und damit zum Unternehmenserfolg konkret messen kann und dieser mit den Beiträgen der anderen vergleichen wird.
854
Kaplan, R.S.: Strategy Maps, (2004).
551 Hilfreich ist es, wenn man sich beim Ableiten der Messgrößen von den folgenden Fragen leiten lässt. •
Woran würde man feststellen, dass ein Ziel erreicht worden ist?
•
Erlaubt die Messgröße eine eindeutige Interpretation?
•
Kann die Messgröße vom Zielverantwortlichen beeinflusst werden?
•
Wird mit der Messgröße das Mitarbeiterverhalten in die gewünschte Richtung beeinflusst?
•
Wird die Messgröße derzeit gemessen, wenn ja, wo und wie und gibt es historische Benchmarks?
Gut gewählte Messgrößen haben die Eigenschaft, dass sie anzeigen, dass ein Ziel erreicht worden ist. In-put-Messgrößen, wie z. B. notwendige Investments, sollten vermieden werden. Zweifellos kann man feststellen, ob eine bestimmte Summe Geld ausgegeben wurde, ob aber die damit getätigte Investition, z. B. die Anschaffung eines 3-Tesla-MRT tatsächlich die erhofften Erträge einspielt, kann man daran nicht ablesen. Von daher sind Out-put-Messgrößen in jedem Fall vorzuziehen, z. B. Anzahl abgerechneter Schnittbildgebungen. Wenn eine Messgröße neu eingeführt werden muss, sollte Klarheit geschaffen werden wie schwierig die Implementierung der Messgröße unter Umständen sein kann. Gegebenenfalls empfiehlt sich eine Kosten-/Nutzenabwägung bezüglich der Implementierung einer neuen Messgröße durchzuführen. Das besondere Wesen einer Messgröße tritt in den geflügelten Controllerweisheiten zu Tage: Was man nicht messen kann, kann man nicht steuern und nur was gemessen wird, wird auch erledigt.
4.1.4. Ableiten der Zielwerte Häufig sind die wesentlichen Erwartungen und Anforderungen an die Zielwerte bereits zuvor von der Unternehmensleitung fixiert worden. Diese sollten dann im Workshop kommuniziert und diskutiert werden. Zielwerte können natürlich spontan aus der Diskussion im Workshop heraus entstehen. Dort, wo es noch keine Zielwerte gibt, hilft die Beantwortung der folgenden Fragen, um sie zu definieren: •
Wie hoch ist der aktuelle Ist-Wert? Beziehungsweise, wenn die Messgröße (noch) nicht erhoben wird: Wie hoch würde dieser Wert heute liegen?
•
Ist dieser Wert — so wie er ist — gerade richtig, zu hoch oder zu niedrig?
•
Um wie viel Prozent sollte sich der Wert in beispielsweise einem Jahr verändert haben?
552 Häufig werden Zielwerte nicht im Workshop, sondern im Anschluss an diesen in Einzel- oder Gruppengesprächen festgelegt, weil dazu eine Recherche notwendig ist. Ist dies der Fall, dann sollten die Zielwerte in einem späteren Workshop nochmals abgestimmt werden. Weitere Hilfestellungen bei der Bestimmung von Zielwerten können aus aktuellen Daten wie z. B. Wettbewerbsanalysen abgeleitet werden. Ein Beispiel für eine Sequenz aus der Patientenperspektive der B S C eines Herzzentrums 855 - bestehend aus strategischem Ziel, Messgröße, Zielwert und Maßnahmen — könnte wie folgt aussehen: •
Perspektive: Patient.
•
Ziel: Eine optimale medizinische Versorgung ist rund um die Uhr garantiert.
•
Messgröße: Zeitspanne in Minuten zwischen Krankenhaus(not)aufnahme und Behandlungsbeginn.
•
Zielwert: < 30 min. bei Herzinfarkt.
•
Maßnahmen: Zeitverzug messen, Prozess analysieren, Verbesserungen ableiten.
4.1.5. Benennung von Maßnahmen Die Erfahrung zeigt, dass es an der Benennung von Maßnahmen nie hapert. Im Gegenteil sollte man bei der Erstellung einer B S C alle bereits im Krankenhaus laufenden sog. „strategischen" Maßnahmen/Projekten daraufhin abklopfen, ob sie in Anbetracht der nun ausformulierten Vision und Strategie überhaupt einen Beitrag zu deren Umsetzung leisten. Auf diese Art und Weise kann es sich ergeben, dass das ein oder andere Projekt stillgelegt wird, wodurch die nötigen Ressourcen freigesetzt werden, die zur Abwicklung neuaufgelegter Maßnahmen und Projekte dringend gebraucht werden. Maßnahmen sind gekennzeichnet durch die folgenden Eigenschaften: •
Start- und Endzeitpunkt sind definiert.
•
Ressourcenverbrauch, Kosten und Zeit sind definiert
•
Verantwortlichkeiten sind definiert.
Hinsichtlich der Priorisierung von Maßnahmen lässt sich Folgendes festhalten. Maßnahmen mit hohem Nutzen zur Erreichung der strategischen Ziele und rela-
855
Greulich, A.: Balanced Scorecard im Krankenhaus, (2005).
553 tiv geringem Aufwand sollten sofort angegangen werden. Hingegen sollten Maßnahmen, die größere Anstrengungen verlangen, zeitlich gestaffelt werden, um deren Umsetzung zu ermöglichen.
4.2 Weitere Aspekte zur Strukturierung der Strategie Von der Motorola University 856 stammt eine Untersuchung, deren Ziel es war Elemente zu benennen, die zu einer erfolgreichen Strategieumsetzung gehören. Als unerlässlich werden dabei die folgenden Elemente benannt: Ziele, Aktionspläne, Ressourcen, Fähigkeiten, Anreize und Information. Lässt man eines dieser Elemente weg, so sinkt die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Strategieumsetzung (Abbildung 57) und es resultieren - je nachdem welches Element fehlt - am Ende Aktionismus, Chaos, Frustration, Angst, geringe Veränderung oder Verwirrung. = Erfolgreiche Umsetzung = Aktionismus = Chaos = Frustration = Angst - Wenig Veränderung = Verwirrung
Abbildung 57: Elemente zur erfolgreichen Strategieumsetzung Quelle: www.competence-site.de
Wenn man die BSC-Methode und die Erkenntnisse von Motorola verknüpfen möchte, dann liefert die B S C bereits die Ziele und Maßnahmen-/Aktionspläne inklusive Messgrößen und Zielwerten. Der noch fehlende Teil Ressourcen, Fähigkeiten, Informationen und Anreize sind dann Elemente, die aus der Mitarbeiterzielvereinbarung stammen. Den Zusammenhang verdeutlicht die Abbildung 58.
856
www.competence-site.de.
554
Leitbild und Werte r [ Feedback^
r [ Feedback
Leitung
Abteilungen il
Vision
Strategiegespräche Zielplanungsworkshops
I [ Mitarbeiterbefragung j
Mitarbeiter Mitarbeiterges p r ä c h l Zielveceinbarungsgespräche
B a l a n c e d S c o r e c a r d P r o z e s s m i l jährlichem Review
strategie Mission
Abbildung 58: Regelkreis zur kontinuierlichen und nachhaltigen Strategieumsetzung Quelle: Eigene Darstellung.
Ziel der Krankenhausleitung muss es sein, die unternehmerischen Ziele mit den individuellen Zielen der Leistungserbringer zu verknüpfen. Ein entscheidendes Element, welches im öffentlichen Dienst lange fehlte, nämlich ein Anreizsystem, ist nun seit kurzem durch den neuen Tarifvertrag im öffentlichen Dienst geschaffen worden. Dadurch lassen sich Maßnahmenpakete, einzelne Projekte und einzelne Aktionen direkt den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen zuordnen. D a s Anreizsystem kann dabei in drei Säulen strukturiert werden. Säule eins sind Maßnahmen, deren Umsetzung alleine v o m Mitarbeiter oder der Mitarbeiterin abhängen, z. B. Schreiben und Veröffentlichen eines Artikels. Säule zwei sind Maßnahmen, die eine Abteilung im Team umsetzen kann, z. B. die Einfuhrung eines Behandlungspfades. Die Säule drei beinhaltet dann Unternehmensziele, z. B. Erzielung eines Jahresüberschusses. Werden die Mitarbeiter durch Zielvereinbarungen in diesen drei Kategorien in die Umsetzung der Unternehmensstrategie eingebunden, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass das Krankenhaus seine Vision erreicht.
5
Fazit
Die erfolgreiche Umsetzung einer Strategie und somit das Erreichen der Vision ist ein iterativer Prozess. Es gilt zunächst die Vision zu formulieren und eine Strategie zu ihrer Erreichung zu entwickeln. Die Strategie kann dann in einer B S C detailliert beschrieben werden. Durch die Darlegung von Ursache-WirkungsBeziehungen eignet sich die B S C , u m die Strategie sowohl nach intern als nach extern zu kommunizieren. Im nächsten Schritt werden die in der B S C benannten
555 Maßnahmen sowohl in die Zielvereinbarungsgespräche mit den Abteilungen als auch in die Mitarbeiterzielvereinbarungen eingebracht und somit die Strategie in der Planung verankert. Durch eine jährliche Revision der B S C und gegebenenfalls eine unterjährige BSC-Berichtserstellung wird sichergestellt, dass notwendige Anpassungen der Strategien an sich verändernde Rahmenbedingungen vorgenommen werden können.
Literatur Baker, J. (1993): The Power of Vision. Charter House International Learning Corporation. Duden (2006): Herkunftswörterbuch. 4. überarbeitete Auflage, Bibliographisches Institut, Mannheim. Friedag, H. R./Schmidt, W. (2002): Balanced Scorecard, Haufe Verlag, München. Greulich, A./Onetti, A./Schade, S./Zaugg, B (2005): Balanced Scorecard im Krankenhaus. Von der Planung bis zur Umsetzung. Economica, Heidelberg. Hamel, G./Prahalad, C. K. (1995): Wettlauf um die Zukunft: Wie Sie mit bahnbrechenden Strategien die Kontrolle über Ihre Branche gewinnen und die Märkte von Morgen schaffen, Wien (Ueberreuter). Henderson, B. D. (1990): Geht es um Strategie - schlag bei Darwin nach, Harvard Manager 3. Hinterhuber, H. (1997): Strategische Unternehmensfuhrung, 2) Strategisches Handeln. 6. Auflage, Berlin. Horvath & Partner (2004): Balanced Scorecard umsetzen, 3. Auflage, Stuttgart. Kaplan, R. S./Norton, D. P. (2000): The Strategy-focussed Organization, how balanced scorecard companies thrive the new business environment, Boston. Kaplan, R. S./ Norton, D. P. (2004): Strategy Maps. Der Weg von immateriellen Werten zum materiellen Erfolg. Aus dem Amerikanischen von P.Horväth, Stuttgart. McNamee, P. B. (1985): Tools and Techniques for Strategie Management, Oxford. Mintzberg, H. (1988): Strategie als Handwerk, Harvard Business Manager 10. Niermann, I. (2006): Dieter Schön, Star wider Willen, kma, 30-33, (10).
556 Ohmae, K. (1982): The Mind of Strategist, McGraw-Hill. Porter, M. E. (1995): Wettbewerbsstrategie, 8. Auflage, Frankfurt a.M. Schaltegger, S. (2004): Sustainability Balanced Scorecard, Controlling, S. 511516, (8/9). Schwing, C. (2007): Die Zukunft der Unikliniken, kma, 488-490, (6). v. Clausewitz, C. (1978): Vom Kriege, 13. Auflage, Rowohlt Tb. v. Oetinger, B./v. Ghyczy, T./Bassford, C. (2003): Clausewitz - Strategisch Denken, dtv. Deutsche Krankenhausverlagsgesellschaft (2006): Zahlen Daten Fakten, mbH.
Internetquellen www.im.nrw.de/inn/seiten/vm/herne_01 /vortraege/schnauber_p. pdf, Suchbegriff CFO Magazine (Abgerufen: 26.07.2007). www.competence-site.de/.. ./BA31B96F26FDFF42C1256BAD0041F54D/$File/ bsc%20in%20marketing%20und%20vertrieb.pdf, Suchbegriff: motorola (Abgerufen: 26.07.2007).
Klaus Hekking
Lean Hospital - Mehr Produktivität im Krankenhaus 1
Einfuhrung - Effizienz im Krankenhaus
Die deutschen Krankenhäuser stehen unter wirtschaftlichem Druck. Das DRGSystem, die Integration von stationärer und ambulanter Versorgung und der zunehmende Wettbewerb zwingen sie, ihre Strukturen und Prozesse effektiver und effizienter zu gestalten. Krankenhausfunktionäre betonen häufig, dass Rationalisierung in den Krankenhäusern nicht mehr möglich seien, weil „die Zitrone ausgequetscht" sei. Dieses Argument überzeugt nicht, denn wie jedes Unternehmen ist ein Krankenhaus kein statisches, sondern ein dynamisches System, in dem sich Inhalte, Prozesse, Strukturen, Personen, Technik und Kosten in steter Veränderung befinden. Entscheidend ist deshalb für den Erfolg im Wettbewerb, wie Management und Mitarbeiter diese Dynamik bewältigen, ob sie sie bewusst gestalten oder ob sie mehr oder minder spontan und unsystematisch „passiert". Wo letzteres der Fall ist, sind unrationelle Strukturen und die Verschwendung wertvoller Ressourcen unausbleiblich. Verschwendung ist in der Regel keine Folge bewussten Handelns sondern resultiert aus Inkompetenz, Nachlässigkeit, Informationsdefiziten, schlechten Gewohnheiten, Betriebsblindheit und mangelnder Reflexion der eigenen Arbeit. Würden alle Krankenhäuser in Deutschland so produktiv arbeiten wie die besten 25 % von ihnen, dann stünden nach einer Studie des Instituts für Gesundheitsökonomik pro Jahr 2 Mrd. € mehr für die stationäre Patientenversorgung zur Verfugung!
2
Die Ziele des Lean Hospital Konzeptes
Allen Lean Hospital Projekten ist die Zielsetzung gemeinsam, die Produktivität des Krankenhauses durch Beschleunigung aller Prozesse, Senkung der Kosten und Abbau der Verschwendung in jeglicher Form zu steigern. Anders als die klassischen Kostensenkungs- und Rationalisierungsprogramme, wie z. B. Total Quality Management, verfolgt das Lean Hospital Konzept jedoch keinen top-down Ansatz, bei dem das Management den Prozess dezidiert steuert, sondern ist darauf ausgerichtet, die Mitarbeiter im Krankenhaus zu befähigen, ihre Arbeit selbst besser zu organisieren.
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3
Kritik am Lean Hospital Konzept
Wie alle auf Veränderung von Verhalten, Prozessen und Strukturen in einer Organisation gerichteten Konzepte stößt auch das Lean Hospital Konzept auf Kritik. Einer der Haupteinwände ist, „Lean" sei ein Konzept, das für die Produktion entwickelt wurde und nicht auf das Krankenhaus übertragen werden kann. Dieses vordergründige Argument vermag nicht zu überzeugen! Eine medizinische Leistung wird nicht dadurch humaner, dass sie unrationell und unter Verschwendung von Ressourcen erbracht wird. So wird z. B. eine Ultraschallaufnahme nicht dadurch besser, dass der Arzt zu viel Gel auf die zu untersuchende Körperpartie aufträgt und die Heilung eines Patienten wird nicht dadurch gefördert, dass er unnötig lange Zeit im Wartezimmer verbringt. Im Gegenteil: Lean Hospital versöhnt Humanität und Ökonomie, indem es die Verschwendung von Zeit, Geld, Fähigkeiten, die durch unrationelle Organisation und zu große Komplexität entsteht, entdeckt und beseitigt und so dafür sorgt, dass die Ressourcen möglichst ungeschmälert dem eigentlichen Kernprozess des Krankenhauses zu Gute kommen: Der Behandlung der Patienten.
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Die sieben Formen der Verschwendung
Lean Hospital hilft, die Verschwendung von Zeit, Geld und Talent im Krankenhaus zu vermeiden. Dazu ist es zunächst notwendig Verschwendung eindeutig zu definieren.
4.1 Unklarheit Die häufigste Form der Verschwendung ist Unklarheit. Sie besteht in unvollständigen oder unpräzisen Informationen und Vorgaben, die beim Empfanger unterschiedlichen Interpretationen darüber ermöglicht, was gewollt ist. Komplexe Organisationen wie Krankenhäuser mit vielen arbeitsteiligen Prozessen, in denen unterschiedliche Berufsgruppen mit divergierenden Sprachcodes und unterschiedlicher Berufsausbildung zusammenarbeiten, sind davon in besonderem Maße betroffen. Dies kann dazu führen, dass ein und derselbe Sachverhalt unterschiedlich kommuniziert und interpretiert wird („ Wir sagen das Gleiche, meinen aber jeder etwas Anderes"). Wird dieses unterschiedliche Verständnis nicht durch einheitliche Sprachregelungen und Verhaltenskodizes koordiniert, entsteht Unklarheit, die zu Fehlinterpretationen über die auszuführende Tätigkeit und ihre Ergebnisse führt. Die Folgen sind Zeitverschwendung, Wiederholungen, Doppelarbeit und im schlimmsten Fall Fehler.
559
4.2 Bewegung Gemeinhin gilt Bewegung in der Arbeitswelt als etwas Positives. Mitarbeiter, die energisch mit schnellem Schritt durch die Flure eines Krankenhauses eilen, strahlen Dynamik und Einsatzfreude aus, beides Eigenschaften, die in der Arbeitswelt positiv besetzt sind. Dennoch ist unnötige Bewegung eine der wesentlichen Quellen für Verschwendung im Krankenhaus. Sie entsteht infolge von unzureichenden Gebäudestrukturen (weite Wege, unrationelle Anordnung von Arbeitsplätzen), ungenügender Koordination von Prozessen oder mangelhafter Arbeitsplanung.
4.3 Warten Warten scheint ein unvermeidbarer Bestandteil des Gesundheitswesens zu sein. In jeder Arztpraxis gibt es Wartezimmer, in Krankenhäusern Wartezeiten, bei Chefärzten Wartelisten. Warten wird im Medizinbetrieb häufig als Indikator für die Bedeutung des betreffenden Arztes oder Krankenhauses interpretiert, dessen Dienstleistung so gefragt ist, dass die Patienten auch Wartezeiten in Kauf nehmen, um von der „Kapazität" behandelt zu werden. Selbstverständlich gibt es im Krankenhaus auch unvermeidbare Wartezeiten, wenn zum Beispiel ein Notfallpatient außer der Reihe behandelt werden muss und dadurch ein elektiver Eingriff verschoben werden muss. Häufig ist Warten jedoch Folge einer mangelhaften Organisation und sollte sowohl von Mitarbeitern, als auch von Patienten nicht toleriert werden.
4.4 Gschaftlhuberei Krankenhäuser sind komplexe, arbeitsteilige Organisationen mit einem hohen Steuerungs-, Koordinations- und Kontrollaufwand. Diese Komplexität, sowie die zunehmende Verrechtlichung des Gesundheitswesens und hohes Sicherheitsdenken fuhren zu einer steigenden Bürokratisierung des Krankenhausbetriebs, die unnötige Routinen, redundantes Arbeiten und Nischen für Scheinaktivitäten fordert. Diese in amerikanischen Krankenhäusern als „work-arounds" bezeichnete Verschwendung von Zeit und Sachgütern soll hier auf gut bayrisch als „Gschaftlhuberei" bezeichnet werden.
4.5 Lagerhaltung Eine wesentliche Quelle der Verschwendung in den Krankenhäusern ist eine überhöhte Lagerhaltung und Bevorratung, da sie unnötig Kapital bindet und damit zu Zinsverlusten fuhrt. Ursachen können ein fehlendes Logistikkonzept, die mangelnde Abstimmung von zentraler und dezentraler Lagerhaltung und die auf Sicherheitsdenken und Bequemlichkeit beruhende „Hamstermentalität" sein („ Wir
560 bestellen mal vorsorglich, was man hat, das hat man"). Erfahrungen zeigen, dass in vielen Krankenhäusern durch ausgeklügelte Logistikkonzepte (wie z. B. Modulsysteme auf Station oder Konsignationslager) bis zu 20 % der Kapitalbindung reduziert und damit erhebliche Zinsvorteile erreicht werden können.
4.6 Fehler Bei Fehlern im Krankenhaus denkt man zunächst an Arbeiten, die zu Schäden an Patienten fuhren, vor allem an ärztliche Kunstfehler. Dies ist jedoch unter dem Aspekt von Lean Hospital ein zu enger Fehlerbegriff. Fehlerhaft sind alle Verrichtungen, die so ausgeführt werden, dass sie nicht zum gewünschten Resultat und deshalb zu keiner Wertschöpfung fuhren.
4.7 Uberversorgung Mitarbeiter in Krankenhäusern haben in der Regel ein sehr hohes Berufsethos, d. h. sie fühlen sich dem Wohl der Patienten in besonderem Maße verpflichtet und wollen dies durch besonderes Engagement und durch möglichst umfangreichen Einsatz des medizinischen Repertoires auch sichtbar machen. Die Patienten sollen das Gefühl haben, dass alles getan wird, um ihnen aktiv zu helfen. Nicht selten fuhrt dies zu medizinischem Aktionismus, der den eigentlichen Genesungsprozess nicht fördert.
5
Stufenkonzept zur schrittweisen Einführung
Um Lean Hospital in einem Krankenhaus einzuführen, empfiehlt es sich, in einem Stufenkonzept vorzugehen. •
Festlegung der Lean Hospital Ziele
•
Eliminierung nicht wertschöpfender Aktivitäten
•
Beschleunigung der Prozesse
•
Stopp der Materialverschwendung
•
Ordnung am Arbeitsplatz und nachhaltige Erfolgssicherung
5.1 Die Festlegung der Lean Hospital Ziele Um Lean Hospital zu einer akzeptierten und damit wirksamen Methode zu machen, bedarf es eines gemeinsamen Arbeitsideals, auf das sich Management und alle Mitarbeiter über die einzelnen Berufsgruppen hinweg einigen (Konvention). Lean Hospital funktioniert nicht, wenn es vom Management top-down verordnet
561 wird, sondern nur wenn alle Mitarbeiter es als „ihre" Methode verstehen und akzeptieren, mit der Strukturen und Prozesse im gesamten Krankenhaus, aber auch in den einzelnen Abteilungen und Stationen optimiert werden sollen.
5.2 Die Eliminierung nicht wertschöpfender Aktivitäten Die grundlegende Ziel des Lean Hospital Konzepts ist es, die Prozesseffizienz zu steigern, d.h. den Anteil an nicht wertschöpfenden Aktivitäten einer Dienstleistung zu reduzieren. Als nicht wertschöpfend werden alle Aktivitäten verstanden, die das mit der Dienstleistung angestrebte Ergebnis nicht unmittelbar fördern, also letztlich für den Erfolg unnötig sind. Beispiele für nicht wertschöpfende Aktivitäten: •
Rückfragen wegen unklarer Information
•
Wiederholung von Tätigkeiten aufgrund fehlerhafter Arbeit
•
Paralleldokumentationen desselben Sachverhalts in der EDV und in Schriftform
•
Unterbrechungen durch Andere
•
Routinebesprechungen ohne konkreten Anlass
• Versendung unnötiger Kopien, CC und BCC in E-Mails
5.3 Beschleunigung der Prozesse Nachdem nicht wertschöpfende Aktivitäten möglichst weitgehend erfasst und eliminiert wurden, geht es nun um die Beschleunigung der Dienstleistungsprozesse. Dadurch wird der Nutzen für die Patienten (mehr verfugbare Behandlungen, weniger Wartezeit, kürzere Behandlungsdauer) und das Krankenhaus (bessere Nutzung der Arbeitszeit der Mitarbeiter, bessere Auslastung der Geräte und Einrichtungen) noch einmal erheblich gesteigert. Mit anderen Worten: Es geht darum, die Erledigungszeit zu verkürzen. Erledigungszeit ist das Zeitvolumen, das benötigt wird um einen Vorgang von der Anforderung bis zum Abschluss zu erledigen.
5.4 Stopp der Materialverschwendung Auch die Sachkosten bedürfen im Rahmen von Lean Hospital besonderer Aufmerksamkeit. Formen der von Materialverschwendung im Krankenhaus •
Überschreitung des Verfallsdatums bei Arzneimitteln
•
Überlagerung von Medical-Produkten
562 • Unsachgemäßer Einsatz von Verbrauchsmitteln • Mangelhafte Bedarfsabklärung und Logistik bei Lebensmitteln • Mangelhafte Energiesparmaßnahmen und Preisgestaltung • Ungenügende Müllvermeidung und -Verwertung • Fehlerhafte Bedienung von Geräten • Uberflüssige Bürokratie in der Verwaltung Ursache für diese Sachkostenverschwendung ist in der Regel ein fehlendes oder unzureichendes Logistikkonzept. Traditionell lösen Krankenhäuser dieses Problem durch Budgetierung und Kontingentierung von Sachmittel, was jedoch häufig ein „Kurieren an Symptomen" ist und zu unbefriedigenden Resultaten fuhrt („Sparen am falschen Ende"). Lean Hospital geht dieses Problem grundsätzlich an, indem es die zentrale Verbrauchssteuerung (Push-Prinzip) durch das KANBAN-System (Pull-Prinzip) ersetzt. Dieses System wurde im Rahmen von Lean Production für die Optimierung des Materialflusses in der Industrie entwickelt, lässt sich aber auch für die Logistik von Krankenhäusern einsetzen.
5.5 Ordnung am Arbeitsplatz und nachhaltige Erfolgssicherung Auch wenn es altmodisch klingt: Schlanke Prozesse beginnen mit der Ordnung am einzelnen Arbeitsplatz. Unaufgeräumte, schmutzige Arbeitsplätze mit defekten Geräten und Einrichtungen machen nicht nur einen schlechten Eindruck auf die Patienten (wenn die Einrichtung schon so unordentlich ist, wie unordentlich ist dann erst die Behandlung?), sie verursachen auch unnötigen Zeitaufwand für das Suchen von benötigtem Material, können die Sicherheit und Hygiene am Arbeitsplatz beeinträchtigen und zu unnötigen Kosten führen. Die gelegentlich an Bürotüren zu findenden Schilder „Nur Dummköpfe halten Ordnung, das Genie beherrscht das Chaos" oder „Ein Griff... und die Sucherei geht los" mögen lustig klingen, von Professionalität des Arbeitsplatzinhabers zeugen sie nicht.
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Erfahrungen mit Lean Hospital
Wie bereits dargestellt, beruht Lean Hospital vor allem auf der Initiative der Mitarbeiter und ihrer Fähigkeit, ihr Arbeitsumfeld und ihre Arbeitsprozesse kontinuierlich zu optimieren. Es gilt, was Masaaki Imai, einer der wichtigsten KAIZENExperten einmal formuliert hat: „Erst wer seine eigenen Probleme erkennt und eingesteht, hat den ersten Schritt zur Lösung getan!"
563 Lean Hospital kann also nicht einfach top-down verordnet werden nach dem Motto: ,Jetzt macht eure Abteilung mal lean", sondern es muss ein Lernprozess initiiert werden, bei dem das Interesse der Mitarbeiter fiir die kontinuierliche Verbesserung geweckt und ihre Fähigkeiten, sie praktisch umzusetzen, entwickelt werden. Dabei spielen die Tradition und die Unternehmenskultur eines Krankenhauses eine ganz wesentliche Rolle. Es kann deshalb keine allgemein gültigen Regeln für die Einführung von Lean Hospital Projekten geben.
6.1 Bewusstsein schaffen Viele Veränderungsprojekte scheitern bereits daran, dass die Mitarbeiter die Notwendigkeit der Veränderung nicht einsehen. Sie haben sich eingerichtet, aus ihrer Sicht funktioniert alles, es gibt keine Beschwerden, jeder ist - zumindest vordergründig - zufrieden. Wieso sollte etwas verändert werden? Es kommt deshalb zunächst darauf an, Problembewusstsein zu schaffen und die Einsicht in die Notwendigkeit, dass Veränderungen nicht nur notwendig, sondern dringlich sind. Gute Anlässe dazu sind Patientenbeschwerden, Versicherungsschäden, Umzüge, schlechte betriebswirtschaftliche Daten, bauliche Restrukturierungen, kurz gesagt: Alle konkreten Ereignisse, die sichtbar und nachweisbar machen, dass die aktuellen Zustände eben „nicht in Ordnung sind". Solche Ereignisse sollten niemals im Rahmen des „business as usual" abgearbeitet, sondern stets zum Anlass genommen werden, um kontinuierliche Verbesserungsprozesse zu initialisieren. Wer es zulässt, dass Patientenbeschwerden abgewimmelt, dass durch Nachlässigkeit der Mitarbeiter eingetretene Schäden an Geräten und Einrichtungen einfach durch die Versicherung reguliert werden, oder dass bei einem Umzug in ein neues Gebäude der ganze alte Kram und die alten Gewohnheiten mitgenommen werden, der versäumt gute Chancen für einen Neuanfang im Sinne kontinuierlicher Verbesserung.
6.2 Interesse fiir Lean Hospital wecken Bei allem Beharrungsvermögen und Widerständen gegen Veränderung dürfen wir doch eines getrost unterstellen: Die allermeisten Mitarbeiter sind sowohl aus Gründen des Selbstwertgefühls, aber auch mit Blick auf die Anerkennung durch andere, bestrebt, gute Arbeit zu leisten, besser zu werden und erfolgreich zu sein. Entscheidend ist, dass das Management dieses Bestreben nicht nur anerkennt, sondern ausdrücklich einfordert und den Mitarbeitern die Möglichkeiten und Freiräume schafft, besser zu werden. Das Lean Hospital Konzept bietet dazu gute Voraussetzungen, weil es den Mitarbeitern nicht die Lösungen ihrer Probleme vom „Grünen Tisch" aus vorschreibt, sondern sich darauf beschränkt, ihnen die Instrumente an die Hand zu geben,
564 diese Lösungen selbst zu erarbeiten und umzusetzen. Der Verbesserungsprozess wird also nicht fremdgesteuert, sondern die Mitarbeiter werden herausgefordert, ihn selbst zu initiieren und durchzufuhren. Es hat sich bewährt, zunächst damit zu beginnen, das Interesse der Mitarbeiter an Lean Hospital zu wecken, indem das Konzept ihnen einfach vorgestellt, erklärt und mit ihnen diskutiert wird, ohne dabei schon eine konkrete Projektzielsetzung festzulegen. Dabei sollten nicht nur die Methoden, sondern auch praktische Referenzbeispiele dargestellt werden. So kann auch Betroffenheit („Komisch, dass uns das nicht selbst aufgefallen ist.") und die Motivation geweckt werden („Dasprobieren wir mal aus!"). Damit ist eine gemeinsame Basis geschaffen, um miteinander Lean Hospital zu lernen und praktische Probleme damit zu lösen. Lean Hospital funktioniert am besten, wenn es freiwillig von den Mitarbeitern akzeptiert wird.
6.3 Mit überschaubaren Projekten anfangen Lean Hospital ist nicht darauf ausgerichtet, kurzfristige Rationalisierungserfolge zu erreichen, sondern darauf, das Bewusstsein der Mitarbeiter für die Notwendigkeit kontinuierlicher, nachhaltig wirksamer Verbesserung zu schärfen und ihre Fähigkeit zu entwickeln, sie praktisch zu erreichen. Es ist deshalb sinnvoll, Lean Hospital anhand von überschaubaren Teilbereichen (Station, Abteilung) und konkreten Problemen (Optimierung eines Prozesses und nicht der ganzen Organisation) und kurzen Zeiträumen (Optimierung innerhalb eines Monats) zu beginnen, damit die Mitarbeiter Lean Hospital theoretisch lernen, praktisch ausprobieren und rasch sichtbare Verbesserungen erreichen können und dies alles, ohne damit allzu viel der wertvollen Arbeitszeit zu binden.
6.4 Die Mitarbeiter coachen Die Leistung des Managements besteht in dieser Phase vor allem darin, Problembewusstsein zu schaffen, Ressourcen und Freiräume für das Lean Hospital Projekt einzuräumen, die Mitarbeiter zu ermutigen, Neues auszuprobieren und das notwendige Know-how, z. B. durch Coaching zur Verfugung zu stellen. Leider sind in Deutschland die Experten für Lean Hospital noch rar gesät. Im Internet gibt es dazu eine Reihe von nützlichen Hinweisen.
6.5 Erfolge und Fortschritte anerkennen und feiern Auch wenn Lean Hospital im Laufe der Zeit zu einem kontinuierlichen Prozess werden muss, um die Nachhaltigkeit der Verbesserung zu gewährleisten („Es gibt immer etwas zu verbessern und wir verbessern es.") ist es am Anfang ein Experiment und ein Wagnis mit ungewissem Ausgang. Es bedarf Lean Hospital Pioniere, die
565 bereit sind, sich und ihre Arbeit kritisch zu hinterfragen, die Neues wagen und die genug Frustrationstoleranz haben, auch Misserfolge und Rückschläge hinzunehmen. Umso wichtiger ist es, dass das Management gerade in der Implementierungsphase erreichte Erfolge nicht als selbstverständlich hinnimmt, sondern öffentlich anerkennt und feiert, um das Selbstvertrauen der Mitarbeiter in die eigene Fähigkeit zur Veränderung und den Stolz auf das Geleistete zu fördern.
6.6 Know-how Transfer organisieren Ein Prinzip von Lean Hospital ist es, „das Rad nicht zweimal zu erfinden", um die Lernkurve zu reduzieren. Aufgabe des Managements ist es deshalb, die Ergebnisse erfolgreicher Lean Hospital Projekte innerhalb des Hauses zu kommunizieren (Intranet, Lean Hospital Konferenzen), damit die Ergebnisse soweit als möglich in andere Abteilungen transferiert werden können. Wichtig ist dabei, dass sich das Management darauf beschränkt den äußeren Rahmen fiir den Transfer zu organisieren und denjenigen die Kommunikation der Erfolge überlässt, die sie erarbeitet haben. Nur so ist die Authentizität gewährleistet und wird die Motivation der Projektbeteiligten gewahrt.
Literatur Deming, W. Edwards: Out of the Crisis. Quality, Productivity and Competitive Position, Cambridge: Cambridge University Press, 1986. George, Michael L.: Lean Six Sigma for Service, New York: McGraw-Hill, 2003. Imai, Masaaki: Gemba Kaizen, New York: McGraw Hill, 1997. Institut fiir Gesundheitsökonomik: Auswertung der Qualitätsberichte 2004. Jimmerson, Cindy: Review. Realizing exceptional Value in Everyday Work, 2005. Ohno, Taiichi: Das Toyota Produktionssystem, Frankfurt: Campus, 2005. Spear, Steven J.: Kliniken optimieren, in: Harvard Business Manager, Januar
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Spear, Steven J.: Bowen, H. K.: Decoding the DANN of the Toyota Production System, in: Harvard Business Review, September 1999.
Jörg Schlüchtermann
Die Aufbauorganisation im Krankenhaus Analyse des Status Quo und Weiterentwicklungsperspektiven 1
Organisationstheoretische Grundlagen
1.1 Aufbau- versus Ablauforganisation Ausgangspunkt jeglicher organisatorischer Gestaltungsmaßnahme ist das Phänomen der Arbeitsteilung. Sobald mehr als eine einzelne Person an der Erfüllung einer vorgegebenen Arbeitsaufgabe beteiligt sind, stellt sich die zunächst trivial anmutende Frage, wer welchen Aufgabenteil übernehmen soll, um — je nach Perspektive - ein möglichst effizientes und/oder effektives Leistungsergebnis zu erreichen. Je größer allerdings die zu analysierende Organisation ist, je heterogener die Fähigkeiten und Fertigkeiten der beteiligten Personen sind, je komplexer die zu bewältigenden Aufgaben sind und je dynamischer die Systemumwelt ist, an die die Organisation sich i. d. R. flexibel anzupassen hat, desto größer wird die Herausforderung, die sich aus der Arbeitsteilung für den Organisator ergibt.
Geschäftsführung
Abteilung A
Abteilung B
Transport
Diagnostik
Abteilung C
Therapie
Verlegung
Entlassung
Abbildung 59: Das Zusammenspiel von Aufbau- und Ablauforganisation Quelle: Eigene Darstellung.
MI
567 Gegenstand der Organisationstheorie ist das planvolle Gestalten der Arbeitsteilung in und ggf. auch zwischen Organisationen. Einen wichtigen Schritt stellt dabei die Unterscheidung in Ablauf- und Aufbauorganisation dar. Gegenstand der Aufbau- oder Strukturorganisation ist die zielgerichtete Strukturierung des Aufgabensystems. Einzelne Aufgaben werden zusammengefasst und Personen oder Stellen zugeordnet. Ergänzend wird festgelegt, welche Zuordnungsbeziehungen zwischen den organisatorischen Einheiten bestehen sollen. Diese umfassen die hierarchische Einordnung der Organisationseinheiten sowie die Informationsbeziehungen zwischen diesen. Üblicherweise lässt sich die Aufbauorganisation eines Unternehmens mit Hilfe von Organigrammen sehr gut darstellen. Demgegenüber gehört zur Ablauforganisation die Festlegung der räumlich-zeitlichen Strukturierung von Arbeitsprozessen. Die Ablauforganisation konkretisiert den durch die Aufbauorganisation vorgegebenen Rahmen. Während die Aufbauorganisation die Struktur einer Unternehmung formt, bestimmt die Ablauforganisation das prozessuale Geschehen. Folgender Vergleich kann zur Illustration herangezogen werden: Wenn die gesamte Organisation eines Unternehmens mit dem Straßenverkehr verglichen wird, ist die Aufbauorganisation das System von Straßen, Kreuzungen, Ampeln u. a. Die Ablauforganisation besteht aus den Verkehrsregeln, den Ampelschaltungen, usw. Aufbau- und Ablauforganisation lassen sich in Theorie und Praxis nicht trennscharf unterscheiden. Sie sind das Ergebnis einer gedanklichen Trennung, durch die ein stufenweises Vorgehen bei der komplexen organisatorischen Gesamtaufgabe möglich wird. Üblicherweise wird so vorgegangen, dass zunächst die Aufbauorganisation und damit die äußere Grundstruktur festgelegt werden. Anschließend erfolgt mit der Ablauforganisation eine Konkretisierung dieser Rahmenvorgabe. Diese Hierarchisierung, bei der die Aufbauorganisation der Ablauforganisation grundsätzlich übergeordnet ist, erfasst aber nicht alle Aspekte organisatorischer Probleme. Die Ablauforganisation ist nicht grundsätzlich die nachrangige Problemstellung, sie hat ihrerseits auch Einfluss auf die Aufbauorganisation. Dieser Zusammenhang lässt sich am besten verdeudichen, wenn gleichzeitig die Frage nach dem Zeithorizont diskutiert wird. Entsprechend der bislang unterstellten hierarchischen Beziehung zwischen Aufbau- und Ablauforganisation werden Ablaufplanungsprobleme prinzipiell zu den kurzfristigen Planungsaufgaben gezählt, während der Aufbauorganisation ein langfristiger, mitunter sogar strategischer Charakter zugeschrieben wird. Dabei darf aber nicht verkannt werden, dass die Stabilität der Aufbauorganisation naturgemäß von der Dynamik der Umweltkonstellationen eines Unternehmens abhängt. Je höher die Dynamik in der Außenwelt ist, desto schneller entsteht in einer Organisation Anpassungsbedarf im strukturellen Aufbau. Der Anpassungsbedarf an die Erfordernisse der Umwelt
568 wird zwar zunächst durch die Ablauforganisation zu erfüllen sein. Je größer dieser Anpassungsbedarf aber ist, desto eher werden sich auch Veränderungen in der Aufbauorganisation ergeben müssen. Die Aufbauorganisation beeinflusst daher nicht nur die Ablauforganisation, sondern es gibt auch den umgekehrten Effekt. Ferner muss festgehalten werden, dass es auch im Rahmen der Ablauforganisation Problemstellungen gibt, die einen langfristigen, mitunter sogar strategischen Charakter aufweisen. So ist z.B. die Entscheidung, innerhalb der Radiologie eines Krankenhauses mit einem computergestützten Terminplanungssystem zu arbeiten, um bessere Ablaufplanungsergebnisse (geringere Wartezeit der Patienten und bessere Kapazitätsauslastung) zu erzielen, eine langfristig Entscheidung mit u. U. erheblichen Konsequenzen auf das Leistungsgeschehen und die daran beteiligten Personen.
1.2 Basistypen der Aufbauorganisation Im Mittelpunkt der Aufbauorganisation steht die Frage, wie die Gesamtaufgabe, der sich eine Organisation annehmen will, schrittweise so auf mehrere organisatorische Teileinheiten und letztlich Individuen aufgeteilt werden kann, dass es zu einer möglichst gelungenen Arbeitsteilung kommt. Es gibt verschiedene Basistypen von Organisationsformen, mit deren Hilfe der gesamte Aufgabenkomplex einer Unternehmung in kleinere Teile gegliedert werden kann. In der Regel zeichnen sich reale Organisationen als gemischte Konfigurationen aus, die verschiedene Basistypen miteinander kombinieren. Für das Verständnis organisatorischer Phänomene ist es daher wichtig, die Basistypen zu verstehen. Jeder dieser Typen besitzt spezifische Vor- und Nachteile, so dass im Einzelfall zu prüfen ist, welche Form in Abhängigkeit von den konkreten Rahmenbedingungen die Vorteilhafteste ist. Die funktionale Organisation ist die traditionelle Organisationsform, die zumindest in Fragmenten wohl in jeder arbeitsteiligen Organisation anzutreffen ist und bei vielen kleinen Unternehmen sogar dominierend ist. Funktionale Organisationen unterteilen die Gesamtaufgabe in betriebliche Teilfunktionen wie Beschaffung, Produktion, Absatz, Rechnungswesen, Personalwesen, u.a. Der zentrale Vorteil dieser Organisationsform besteht in der Ausnutzung von Synergien auf der Ressourcenseite und von Spezialisierungsvorteilen der Mitarbeiter. Die nach wie vor bestehende fundamentale Bedeutung dieses Basistyps der Arbeitsteilung ist nicht zuletzt darin begründet, dass unser gesamtes Ausbildungssystem (von der Gesellenausbildung bis zum Hochschulstudium) darauf ausgerichtet ist. Gerade im Krankenhausbereich wird diese funktionsorientierte Spezialisierung an der traditionellen Einteilung in die drei Berufsgruppen Medizinischer Dienst, Pflegedienst sowie Wirtschafts- und Verwaltungsdienst deutlich.
569 Der zentrale Vorteil einer funktionsorientierten Organisation besteht in dem Ausnutzen von Spezialistenwissen und der damit verbundenen Nutzung von Synergiepotenzialen, Lerneffekten und Effizienzvorteilen. Die markanteste Ausprägung erhielt die funktionsorientierte Arbeitsteilung im Taylorismus der industriellen Produktion: Eine Arbeitsaufgabe wurde in extrem kleine Einzelteile aufgespalten, und diese kleinen Teilaufgaben wurden jeweils einem Arbeitsplatz fest zugewiesen. Bezogen auf die einzelnen Teilaufgaben lassen sich durch diese Art der Arbeitsteilung enorme Spezialisierungseffekte erzielen. Auf diesem Grundprinzip baut die vor über 100 Jahren begonnene Industrialisierung auf, der wir bis heute einen großen Teil unseres Wohlstandes zu verdanken haben. Diese funktionsorientierte Organisation stößt aber immer dann an Grenzen, wenn Schnittstellenprobleme zwischen den Teilaufgaben zu bewältigen sind: Ein Bauantrag benötigt in einer klassischen deutschen Stadtverwaltung mehrere Wochen, obwohl die einzelnen Beteiligten ihre Teilaufgaben möglicherweise jeweils sehr effizient erledigen. Das Problem liegt in den erheblichen Übergangszeiten zwischen den Arbeitsgängen. Nicht selten liegt bei Verwaltungsvorgängen und auch in der industriellen Fertigung ein (Miss-)Verhältnis von 5 bis 20 % Bearbeitungszeiten zu 80 bis 95 % Wartezeiten (jeweils als Anteil an der gesamten Durchlaufzeit) vor. Zudem nehmen die Schnittstellenprobleme mit steigenden Flexibilitätsanforderungen überproportional zu. Der Taylorismus ist konzipiert worden für eine extrem variantenarme Massenfertigung mit verkettetem Materialfluss. In Folge eines kontinuierlichen Marktwandels hin zu einer variantenreichen, kundenindividuellen Kleinserienoder Einzelteilfertigung hat sich unter dem Schlagwort „Lean Management" in den letzten 15 Jahren in der industriellen Produktion ein Paradigmenwechsel vollzogen, der insbesondere auch für die Organisation von Krankenhäusern von Interesse ist: Die extreme Funktionsorientierung des Taylorismus wurde durch die konsequente Ausrichtung an Prozessen ersetzt. Der Gegenentwurf zur funktionalen Organisation ist die divisionale Organisation. Anstelle der Fokussierung auf die internen Ressourcen tritt bei der divisionalen Organisation die externe Marktorientierung, d.h. auf der obersten bzw. zweiten Leitungsebene wird das Unternehmen aufgeteilt nach Produkten, Produktlinien, Sparten oder so genannten strategischen Geschäftsbereichen. Der wesentliche Vorteil einer solchen Organisationsform ist die bessere Ausrichtung auf die spezifischen Markt- und Kundenanforderungen. Eine divisionale Struktur folgt dem Grundkonzept, mehrere „ Unternehmen im Unternehmen" zu haben. Diese werden gebildet von strategischen Geschäftsbereichen, die eigenständig sind und mit individuellen Marktaufgaben positioniert werden. Dadurch benötigt eine divisionale Organisation bei ansonsten vergleichbarer Größe zwar mehr qualifizierte Führungskräfte, im Gegenzug wird aber die Leitungsspitze entlastet und Nachwuchskräfte erhalten bessere Entfaltungsmöglichkeiten. Während
570 funktionale Organisationen aufwändige Koordinationsmechanismen benötigen, weisen divisionale Organisationen weniger Interdependenzen zwischen den Teilbereichen, eine höhere Transparenz und klar getrennte Verantwortungsbereiche auf, die gut einer dezentralen Erfolgskontrolle unterworfen werden können. In vielen Unternehmen ist der Übergang von einer funktionalen zu einer divisionalen Organisation Folge einer typischen strategischen Grundausrichtung, die von dem Historiker Chandler mit der prägnanten Formulierung „structure folhws strategy" umschrieben wurde. 8 5 7 Dahinter verbirgt sich die interessante Diskussion um das Zusammenspiel von Strategie und Organisation. Auch wenn es letztendlich nicht eindeutig geklärt werden kann, ob die Strategie die Aufbauorganisation bestimmt (structure follows strategy) oder es genau umgekehrt ist (strategy follows structure), können eindeutige Aussagen über die Strategie getroffen werden, die hinter der divisionalen Organisationsform steckt. Divisional strukturierte Unternehmen verfolgen die Strategie der Diversifizierung, d. h. der Aufteilung des Risikos auf diverse heterogene Aktivitätsbereiche. Neben der funktionalen und der divisionalen Organisation als den wesentlichen Gestaltungsvarianten gibt es weitere Basistypen der Aufbauorganisation, die aber fast immer nur ergänzend gewählt werden. Dazu zählt zum einen die regionale Organisation. Es leuchtet ein, dass Unternehmen, die ihre Leistungen dezentral in der Fläche erbringen, auch regionale Zuständigkeiten in ihrer Aufbauorganisation zu erfassen haben (z. B. Nord versus Süd oder Inland versus Ausland). Weitere Kategorien können die Fokussierung auf Schlüsselkunden (Key Account-Organisation) und/oder Projekte sein. Eine Ergänzung der Aufbauorganisation um Verantwortliche fur Schlüsselkunden ist immer dann empfehlenswert, wenn das Unternehmen von wenigen Großkunden abhängig ist und diese die Vorteile eines „one-face-to-the customer"-Ansatzes zu schätzen wissen. Projekte sind temporäre organisatorische Strukturen, die für Spezialaufgaben eingerichtet werden und ebenfalls die Aufbauorganisation eines Unternehmens ergänzen können.
857
Vgl- Chandler (2003), das Originalzitat stammte bereits aus dem Jahr 1962.
571
Eindimensionale Formen
Mehrdimensionale Formen
Funktionale Organisation
Matrixorganisation
Divisionale Organisation
Tensororganisation
Regionale Organisation
Key-Account Organisation
Abbildung 60: Basistypen der Aufbauorganisation Quelle: Eigene Darstellung.
Diese Basistypen sind sehr wichtig, um die Spannungsfelder innerhalb der Organisationstheorie zu erkennen, es gibt aber kaum Unternehmen, die diese in Reinform anwenden. Reale Konstellationen sind nahezu immer Mischformen aus diesen Basistypen. Dabei können diese Mischungen auf unterschiedlichen Hierarchieebenen stattfinden. So sind viele divisionale Unternehmen auf der zweiten oder dritten Ebene ebenfalls funktional strukturiert. Von besonderem Interesse sind aber diejenigen Mischformen, bei denen die Mischung gleichzeitig auf der obersten Hierarchieebene passiert. Wir sprechen von einer Matrix-Organisation, wenn zwei der Basistypen gemischt werden. Dreidimensionale Formen bezeichnet man als Tensor-Organisation. Grundsätzlich können in einer Matrix-Organisation verschiedene der Basistypen kombiniert werden, von besonderem Interesse ist aber wiederum die Mischung aus funktionaler und divisionaler Organisation. Intention einer Matrix-Organisation ist es, die Stärken der beiden Ausgangsvarianten zu kombinieren und deren Schwächen zu vermeiden. Allerdings ergeben sich bei dieser Kombination auch neue Probleme. Der zentrale Nachteil einer Matrix-Organisation ist ihre Tendenz zum Bürokratismus und damit ihre Schwerfälligkeit. Jeder Beteiligte in einer solchen Matrixzelle hat „zwei Chefs" und ist dadurch stets der latenten Gefahr von Zielkonflikten ausgesetzt. In der Praxis sind daher selten Matrixorganisationen anzutreffen, die tatsächlich gleichberechtigte Dimensionen aufweisen. Überwiegend wird die Konstruktion so sein, dass eine der beiden Linien die disziplina-
572 rische Verantwortung hat und der anderen Linie lediglich eine Fachverantwortung zukommt. Wie weiter unten noch zu erläutern sein wird, muss bei der organisatorischen Strukturierung von Unternehmen in jedem Einzelfall abgewogen werden, welche Teile eher zentral und welche eher dezentral auszurichten sind. Insgesamt betrachtet erscheint die Matrix-Organisation daher als theoretisch sehr interessante Variante, weil sie eine Balance zwischen der Ressourcenorientierung (funktionale Dimension) und der Marktausrichtung (divisionale Dimension) anstrebt. Die dargestellten Nachteile führen aber dazu, dass sich die praktische Realisierung eher schwierig erweist. Gleiches gilt natürlich umso mehr für die Tensor-Organisation, die drei Dimensionen verknüpfen will und in der Praxis daher kaum anzutreffen ist.
Funktionen
1 U l IIXLIUI I C I 1
Leitung
!
Forschung
Produktion
Absatz
Verwaltung
Divisionen
Pharma
Farben
Kunststoffe
Abbildung 61: Matrix-Organisation Quelle: Eigene Darstellung.
Nachdem wesentliche Grundzüge aus der Welt der Organisationstheorie dargestellt wurden, soll im Folgenden kurz auf die Frage der Evaluation von aufbauorganisatorischen Maßnahmen eingegangen werden. D a sich organisatorische Veränderungen nur über lange Zeiträume hinweg realisieren lassen und finanzielle Kennzahlen immer viele verschiedene Einflussgrößen haben, können Organisationsmaßnahmen nahezu niemals mit monetären Zielgrößen evaluiert werden. Es muss daher auf Ersatzkriterien zurückgegriffen werden. Hierzu haben sich in der Literatur folgende Effizienzkriterien herausgebildet: 858
858
Vgl. Frese (2005), S. 9 ff.
573
Ressourceneffizienz
Möglichst gute Nutzung der vorhandenen Potenzialfaktoren
Markteffizienz
Abgestimmtes Auftreten auf den Beschaffungs- und Absatzmärkten
Prozesseffizienz
Abstimmung interner Leistungsprozesse
Delegationseffizienz
Nutzung der Detailkenntnisse unterer Ebenen und des Uberblicks oberer Ebenen
Motivationseffizienz
Motivation der Mitarbeiter zu unternehmenskonformem Verhalten
Tabelle 19: Teileffizienzen Quelle: Eigene Darstellung.
Die Ressourceneffizienz stellt primär auf die interne Perspektive des Unternehmens ab und fragt danach, in wie weit die vorhanden Potenziale in Form von Geräten, Personen und Wissen möglichst zielfiihrend eingesetzt werden. Wie in der Gegenüberstellung von funktionaler und divisionaler Organisation bereits dargestellt, legt die Markteffizienz demgegenüber den Schwerpunkt auf die externe Sichtweise des Unternehmens. Eine hohe Markteffizienz führt zu gut koordinierten Aktivitäten insbesondere auf den Absatz- aber auch auf den Beschaffungsmärkten der betrachteten Organisation. Für die meisten Unternehmen ist davon auszugehen, dass sie sich mit ihren internen Stärken und Schwächen an die externen Chancen und Risiken anzupassen haben. Die Markteffizienz wird daher möglicherweise wichtiger sein als die Ressourceneffizienz. Andererseits sind Markterfolge ohne Ressourceneffizienz dauerhaft wohl kaum möglich. Genau wie die Kontroverse zwischen funktionaler und divisionaler Organisation spiegelt auch das Zusammenspiel von Ressourceneffizienz und Markteffizienz dieses stetige Ringen in einem Unternehmen um den bestmöglichen „Fit" zwischen externen Rahmenbedingungen und internen Ressourcenverhältnissen wieder. Neben diesen beiden gibt es aber noch weitere Teileffizienzen. Mit der Forderung nach Prozesseffizienz wird hervorgehoben, dass Organisationen ihre internen Aktivitäten so auf einander abstimmen sollten, dass es nicht zu vermeidbaren internen Reibungsverlusten kommt. Der Begriff der Delegationseffizienz betont den wichtigen Zusammenhang, dass die Organisation von Arbeitsteilung immer auch eine Frage von Delegation ist. Im Idealfall wird in einer Organisation so delegiert, dass die richtige Balance zwischen Kompetenz, Detailkenntnis und Betroffenheit eingehalten wird. Als Letztes ist auch die Frage der Motivationseffizienz von Bedeutung. Auch von der Art der Organisation gehen Auswirkungen auf die Motivation und Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter aus. Insgesamt betrachtet bieten diese Effizienzkriterien damit eine gute Grundlage zur Beurteilung alternativer organisatorischer Maßnahmen. Auf dieser Basis kann nun die Aufbauorganisation von Krankenhäusern analysiert werden.
574
2
Darstellung und kritische Würdigung der traditionellen Aufbauorganisation im Krankenhaus
Obwohl Krankenhäuser seit vielen Jahren wenn nicht gar Jahrzehnten einer dynamischen Umwelt ausgesetzt sind, ist ihre Aufbauorganisation in vielen Fällen nahezu unverändert geblieben. So wie auch in fast allen Landeskrankenhausgesetzen vorgegeben, sieht die traditionelle Aufbauorganisation im Grundsatz wie folgt aus: 8 5 9
Medizinischer
Pflegedienst-
Verwaltungs-
Direktor
Leitung
Direktor
Chirurgische Klinik
Station A
Finanzen
Medizinische Klinik
Station B
Materialwirtschaft
Frauenklinik
Station C
Personalwesen
Radiologie
0P
Technischer Dienst
Apotheke
Kreißsaal
Küche
Abbildung 62: Traditionelle Aufbauorganisation im Krankenhaus Quelle: Eigene Darstellung.
Wesentliche Charakteristika dieser Organisation sind einerseits die typische funktionale Ausrichtung sowie die darüber hinausgehende Berufsgruppenorientierung. Die Krankenhausorganisation besitzt drei Säulen den ärztlichen Dienst, den Pflegedienst und den Medizinisch-Technischen Dienst. 8 6 0 An deren Spitzen stehen mit dem Arztlichen Direktor, dem Pflegedirektor und dem Verwaltungsdirektor drei Repräsentanten, die bisweilen primär als Sprecher ihrer Berufsgruppen agieren. Es kommen damit zwei kritische Punkte zusammen, die in dieser Form selten sind. Die funktionale Organisation besitzt die typischen Schnittstellenprobleme und die Fokussierung auf eine Ressourcenorientierung. Ferner fördert die Berufs859 860
Vgl. z.B. Rasch (2008), S. 427, Salfeld/Hehner/Wichels, S. 36 f. In einigen Ländern (z. B. Österreich) kann ab einer bestimmten Größe eine vierte Säule „Technik" mit eigener Leitungsebene vorgesehen werden.
575 gruppenorientierung ein „Tunnel- oder Kastendenken" sowie ein „Klassensprecherverhalten". Die Beteiligten orientieren sich mitunter stärker an den Interessen der jeweiligen Berufsgruppe als an den eigentlichen Unternehmenszielen. Besonders gravierend an dieser Art der Organisation ist zudem, dass es zu einer Separation von ökonomischen und medizinischen Zieldimensionen kommt. In einem modernen Krankenhausmanagement wird die Konzeption verfolgt, dass eine Balance zwischen ökonomischen Formal- und medizinischen Sachzielen anzustreben ist. Mit der traditionellen Aufbauorganisation und ihrer berufsgruppenorientierten Separation der Zieldimensionen wird eindeutig gegen diese Forderung verstoßen. Diese Art der Organisation erleichtert es den medizinischen Professionen, sich lediglich fiir die Sachziele zuständig zu erklären und die Verantwortung für die monetären Formalziele bei anderen zu sehen. Ein weiterer Kritikpunkt ist in der Art und Weise zu sehen, wie Führungsentscheidungen in dieser speziellen Organisationsform zusammen kommen. Die oberste Leitungsebene ist sehr oft als kollegiales Dreiergremium konstituiert, das dem Prinzip der Einstimmigkeit folgt. In Kombination mit der Berufsgruppenorientierung entsteht daraus nicht selten eine fehlende Fokussierung der obersten Leistungsebenen auf die strategisch wichtigen Fragestellungen. In diesem Zusammenhang ist ergänzend darauf hinzuweisen, dass die Position des ärzdichen Direktors oftmals im Rotationsverfahren und nicht als „Fulltime-Job" sondern eher als repräsentative Rolle besetzt wird. Dies schwächt im Normalfall die Managementstruktur. Zudem besitzt der Arzdiche Direktor keine Weisungsbefugnis gegenüber den anderen Chefärzten. Im Einzelfall kann dies zu einem „Konglomerat von Bereichsfiirsten" mit individuellen Zielen und eher dysfunktionalen Anreizmechanismen fuhren. Im Gesamtergebnis erweist sich die traditionelle Aufbauorganisation im Krankenhaus damit als ein einerseits in der historischen Entwicklung nachvollziehbares Gebilde, das andererseits aber gravierende Schwachpunkte aufweist. Zwar liegt eine begrüßenswerte Dezentralität vor, die Delegationseffizienz ist aber dennoch suboptimal, weil „von oben" kaum Führung ausgeübt werden kann. Die Organisation ist einseitig auf Ressourceneffizienz ausgerichtet und weist erhebliche Defizite in der Markt- und Prozesseffizienz auf. Zu vermuten sind auch Nachteile bezüglich der Motivationseffizienz. Im Folgenden sollen die genannten Schwächen der traditionellen Aufbauorganisation im Krankenhaus durch ein kleines anekdotisches Beispiel illustriert werden. Es ist einem realen Fall nachempfunden und in der Literatur 861 dokumentiert: In einem Krankenhaus kam es nach einem Umbau der Nasszellen auf einer Station zu Beschwerden der Patienten gegenüber dem Pflegepersonal, weil Flüs861
Vgl. (in leicht abgewandelter Form) Heimerl-Wagner (1996), S. 147.
576 sigseife und Papierhandtücher ausgegangen waren. Das Pflegepersonal sah darin ein grundsätzliches Problem, weil dies Aufgabe des Reinigungsdienstes und damit „pflegefremde" Tätigkeit sei. Daher musste sich das kollegiale Leitungsgremium auf seiner nächsten Sitzung auf Initiative der Pflegedienstleitung dieses Problems annehmen. Das Leitungsgremium entschied nach kurzer Diskussion im Sinne des Pflegedienstes, dass das Wiederauffüllen der Flüssigseife tatsächlich Aufgabe des Reinigungsdienstes sei. Allerdings kam es nach einiger Zeit wieder zu den gleichen Beschwerden. Hintergrund war, dass der Reinigungsdienst keine kontinuierliche Überwachung dieser Vorräte leisten konnte, da er nur von Zeit zu Zeit in den Patientenzimmern anwesend ist. Den Patienten blieb also nur der Weg der Beschwerde über den Pflegedienst. Dieser reagierte erneut mit einem Antrag an die oberste Leitungsebene. Dort wurde nach intensiver Diskussion festgelegt, dass es zwar grundsätzlich Aufgabe des Reinigungsdienstes sei, die Flüssigseife nachzufüllen, der Pflegedienst aber freundlich aufgefordert wird, sich auch um zwischenzeitliche Engpässe zu kümmern. Das gleiche Problem ging dann noch in mehrere weitere Runden, bis alle Beteiligten endgültig zufrieden waren. Diese kleine Anekdote darf natürlich nicht überbewertet werden. Vermutlich gibt es in den meisten Krankenhäusern Beteiligte, die sich mit sozialer Kompetenz und Hilfsbereitschaft solcher Probleme im Handumdrehen erfolgreich annehmen. Gleichwohl illustriert das Beispiel aber sehr schön die Schwachstellen der traditionellen Aufbauorganisation im Krankenhaus. Diese Art der Organisation hat keinen automatischen Problemlösungsmechanismus für derartige Phänomene. Die Berufsgruppenorientierung fuhrt zu einem „Klassensprecherverhalten", das mitunter den Blick für die eigentlichen Führungsaufgaben verstellt. In Kombination mit der Funktionsorientierung wird in dem Beispiel ein eigentlich banales Problem mehrfach zum Tagesordnungspunkt auf der Sitzung des obersten Leitungsgremiums und verhindert dort die Fokussierung auf strategische Fragestellungen.
3
Das Profit-Center-Konzept und andere Weiterentwicklungsperspektiven
Aufgrund der zuvor dargestellten Nachteile der traditionellen funktionalen und berufsgruppenorientierten Aufbauorganisation soll im Folgenden ein Alternativkonzept vorgestellt und kritisch gewürdigt werden. Wie sich aus dem theoretischen Vorspann vielleicht schon erahnen ließ, folgt dieser Gegenentwurf dem von vielen Unternehmen im Zuge ihrer Entwicklung vollzogenen Wandel von der funktionalen zur divisionalen Organisation. 862 862
Vgl. auch Leatt/Baker/Kimberley (2006), S. 328 ff.
577 Ein möglicher Grobentwurf fur eine divisionale Organisation im Krankenhaus ist der unten stehenden Abbildung 63 zu entnehmen. Diese enthält auf den ersten Blick durchaus bekannte Elemente. Auf der obersten Strukturierungsebene wird die Gesamtorganisation gemäß dem üblichen Vorgehen bei der Divisionalisierung im Wesentlichen nach medizinischen Fachdisziplinen untergliedert. Innerhalb dieser Bereiche sind alle Berufsgruppen und Funktionen vereint. In gewisser Weise ist das Organigramm damit gegenüber der vorherigen Version der traditionellen Aufbauorganisation um 90 Grad gedreht. Der Fokus liegt nicht mehr auf der Ressourceneffizienz, sondern auf der Marktorientierung. Die unternehmerische Verantwortung wird auf „Unternehmen im Unternehmen" dezentralisiert und delegiert. Diese dezentralen Bereiche werden sich zunächst an den klassischen Fachdisziplinen der Kernkompetenz einer Einrichtung orientieren, können sich aber auch weiterentwickeln, z. B. in Richtung organbezogener Centerkonzepte. Unter der Voraussetzung sinnvoller Portfolio-Entscheidungen werden damit Entscheidungen konform zu den Gesamtunternehmenszielen und nicht mehr nach Partikularinteressen getroffen. Umgekehrt ist diese Art der Organisation eine zentrale Voraussetzung, um überhaupt sinnvolle strategische Portfolio-Entscheidungen treffen zu können.
Abbildung 63: Divisionale Organisation im Krankenhaus Quelle: Eigene Darstellung.
Weitere wesentliche Vorteile dieser Art der Aufbauorganisation liegen in der Integration von medizinischen Sachzielen und ökonomischen Formalzielen. Wahrend die funktionale Organisation zu einer Separation dieser Zieldimensionen fuhrt,
578 fördert die divisionale Organisation ein gemeinsames Qualitäts- und Kostenbewusstsein bei allen Berufsgruppen und bildet damit auch die Grundlage fiir ein Controlling dezentraler Einheiten. Strategische und operative Verantwortung werden transparent zugewiesen und damit die Entscheidungsqualität erhöht. Gespiegelt an den oben erläuterten Effizienzkriterien zeigen sich fiiir Krankenhäuser daher einige Vorteile und nur wenige Nachteile dieser divisionalen Organisation gegenüber der klassischen funktionalen Struktur. Die Markteffizienz ist zweifelsohne höher. Die konkrete Ausgestaltung hat so zu erfolgen, dass es nur zu geringen Einbußen in der Ressourceneffizienz kommt. Aufgrund der besseren Ausrichtung an den Kundenbedürfnissen ist aber zusätzlich eine verbesserte Prozesseffizienz zu erwarten. Verbunden mit einer Innenhomogenität der Sparten ist zudem davon auszugehen, dass die Mitarbeitermotivation steigt. Nicht abschließend beantwortet werden kann die Frage nach der Delegationseffizienz. Diese liegt auch daran, dass die obige Abbildung 63 naturgemäß nur eine Rahmenstruktur vorgeben kann, die stets situativ auszugestalten ist. Dabei ist insbesondere zu klären, wie die einzelnen Bereiche in dem in der Organisationstheorie allgegenwärtigen Spannungsfeld von Zentralisierung und Dezentralität zu positionieren sind. In der obigen Abbildung 63 sind dazu bewusst einige offene Fragen produziert worden. So erscheint es unmittelbar nachvollziehbar, dass die Sparten aus den bettenführenden Fachdisziplinen gebildet werden. Damit diese nach innen möglichst homogen und nach außen weitgehend heterogen sind, sollten sie im Zweifelsfall eher umfassender als zu klein zugeschnitten werden. Besondere Herausforderungen ergeben sich darüber hinaus bei der Positionierung der Sekundärbereiche, also derjenigen Leistungsbereiche, die Zulieferer fiir die bettenführenden Disziplinen sind, im Regelfall keine eigenen Erlöse haben aber dennoch unverzichtbar für die eigentliche Leistungserstellung sind. An dieser Stelle können nur wenige allgemeingültige Empfehlungen ausgesprochen werden. Jeder Sekundärleistungsbereich hat seine eigenen Vor- und Nachteile und muss individuell im Kontinuum zwischen Dezentralisierung und Zentralisierung eingeordnet werden. Es gibt aber einige Grundtendenzen. So besteht seit einigen Jahren weitgehende Einigkeit, dass eine Professionalisierung des Einkaufs weitgehend identisch ist mit einer Zentralisierung. Demgegenüber sollte das Controlling eine viel stärker dezentrale Ausrichtung haben, um der oben genannten Forderung nach dezentraler Ergebnisverantwortlichkeit gerecht werden zu können. Für viele andere Sekundärleistungen, egal ob administrativer oder medizinischer Natur, sind solche von der Tendenz her eindeutigen Empfehlungen allerdings nicht möglich. In der obigen Abbildung 63 sind bewusst einige diskussionswürdige Zuordnungen getroffen worden. Die Zuordnung des Ultraschalls zur Medizinischen Klinik ist beispielsweise überdenkenswert. Alternativ könnte eine Zuordnung zur
579 zentralen Radiologie eine bessere Kapazitätsauslastung erzeugen, allerdings mit zu vermutenden Nachteilen in der Prozesseffizienz. Weitere Diskussionspunkte, die sich aus der Abbildung 63 ergeben, sind sicherlich die Zuordnung des Labors und der Apotheke. In den meisten Fällen wird man anstelle der Unterordnung unter eine andere Sparte, diesen Bereichen eine zentrale Eigenständigkeit zubilligen. Bei diesen Sekundärbereichen ist zudem die Frage der Ausgestaltung innerhalb der Divisionalisierung zu diskutieren. Die bettenführenden Abteilungen sollten dezentral und ergebnisverantwortlich gefuhrt werden. In der organisationstheoretischen Literatur hat sich dafür der Begriff des Profit Centers etabliert. Wenn ein Sekundärbereich keine Erlöse hat, könnte er alternativ als Cost Center geführt werden, deren Steuerung über die Einhaltung von Kostenzielen erfolgt. Die Profit Center ihrerseits könnten sukzessive zu Investment Centern weiterentwickelt werden, die auch bei Investitionsentscheidungen eine hohe Autonomie genießen. Unabhängig von dieser Wahl ist aber stets das nicht triviale Verrechnungspreisproblem zu beachten. Vom Standpunkt der Ergebnisverantwortlichkeit ist es zwar sehr gut nachvollziehbar, dass dezentrale Einheiten für empfangene Leistungen über einen Verrechnungspreismechanismus bezahlen. Im Detail ergeben sich aber zahlreiche Schwierigkeiten, diese Verrechnungspreise so zu bilden, dass deren Nachteile die Vorteile nicht überwiegen. Einen besonderen Reiz innerhalb der Diskussion um eine divisionale Organisation im Krankenhaus hat die Frage nach der Besetzung der obersten Leitungsebene. In der Abbildung 63 ist mit der Formulierung „Geschäftsführer" bewusst offen gelassen, wie viele Personen es sind und welche fachliche Ausrichtung diese haben. Tatsächlich sind hierzu viele unterschiedliche Ausgestaltungen denkbar. Wenn es eine Einzelperson sein soll, ist die fachliche Herkunft weniger wichtig als die erforderlichen Kompetenzen: Strategische Führung der Geschäftsbereiche, Branchenkenntnisse und ökonomische Gesamtverantwortung. In vielen Ländern wird man dies am ehesten einem Mediziner zutrauen. Wenn ein Mediziner die singuläre Führungsspitze bildet, sollte es allerdings ein ehemaliger und kein aktiver Mediziner sein. Es ist wohl unumstritten, dass eine solche Aufgabe nicht in Teilzeit übernommen werden kann. In Deutschland kennen wir allerdings auch viele Krankenhäuser oder Krankenhauskonzerne, die erfolgreich von Nicht-Medizinern geführt werden. Offensichtlich ist es für die oberste Führungsposition nicht erforderlich „das Handwerk selbst ausführen" zu können. Von der Ausbildung her erscheint eine ökonomische Ausbildung daher am ehesten auf diese Führungsaufgaben vorzubereiten. Sie allein garantiert aber noch keinen Erfolg und muss auf jeden Fall durch entsprechende Branchenkenntnisse und Führungspersönlichkeit ergänzt werden. Nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist, dass eine singuläre Führungsspitze den beruflichen Hintergrund in der Pflege oder anderen Berufs-
580 gruppen aufweist. Solche Fälle sind allerdings eher selten und zumeist durch eine entsprechende akademische Weiterbildung vorbereitet. Je nach Einzelfall und beteiligten Personen kann anstelle einer singulären Führungsperson auch eine Doppelspitze mit einem medizinischen und einem kaufmännischen Part gebildet werden. In vielen Industrieunternehmen wird in ähnlicher Weise verfahren. Voraussetzungen für ein solches Modell wären klare Kompetenzabgrenzungen und ein partnerschaftliches Zusammenwirken der beteiligten Personen. Abzulehnen wäre aus den oben genannten Gründen aber eine Ausdehnung auf das traditionelle Dreiergremium mit allen Berufsgruppen. Gesetzeskonformität kann auf andere Weise erreicht werden. Auch in einer divisionalen Organisation kann es formal eine leitende Pflegekraft geben, die zentrale Aufgaben wie die Urlaubsplanung übernimmt. Innerhalb der kritischen Würdigung dieses Gegenentwurfs einer divisionalen Organisation sollte auch noch darauf eingegangen werden, ob im Krankenhaus alle Voraussetzungen für diese Organisationsform erfüllt sind. Dies fuhrt einmal mehr zu der Frage nach der richtigen Dosierung von Wettbewerb im Gesundheitswesen. Einer der wichtigen Grundannahmen hinter der Divisionalisierung ist die Idee, den „frischen Wind des Wettbewerbs" in die Organisation hineinzulassen. Diese wohlgemeinte Förderung eines Ressortegoismus darf aber nicht übertrieben werden. Anzustreben ist eine geeignete Balance von Wettbewerbsdruck und gemeinsamer Zielorientierung. Dieses Phänomen ist insbesondere im Krankenhaus von hoher Bedeutung, weil auch bei einem divisionalen Zuschnitt der Organisation nie vollständig separierte Bereiche entstehen. Die interdisziplinären Verflechtungen, die insbesondere bei multi-morbiden Patienten genutzt werden müssen, dürfen nicht vom Ressortegoismus behindert werden („mein Patient", „mein Gerät"). Einmal mehr gilt es daher, den Wettbewerb in der richtigen Dosierung zu verabreichen. In einem ähnlichen Zusammenhang steht auch die Frage nach der Incentivierung der Führungskräfte. Genau wie das Krankenhaus insgesamt, stehen auch die divisionalen Teilbereiche vor der Aufgabe, medizinische Sachziele und ökonomische Formalziele zu harmonisieren. Dies wird durch die Divisionalisierung zwar erst ermöglicht, kann aber nur gelingen, wenn die Incentivierungsmechanismen nicht einseitig ausgerichtet werden. Bei der praktischen Implementierung ist zudem bedenkenswert, dass die Begrifflichkeit „Profit Center" bisweilen Akzeptanzbarrieren hervorruft. Diese sind aber mit ein wenig Kreativität beherrschbar. In einem Fall wurde beispielsweise mit dem Begriff „Solidaritäts-Center" gearbeitet. Viel wichtiger als die Begrifflichkeit ist die dahinter stehende Problematik, dass eine solche Divisionalisierung nur gelingen kann, wenn bei den Führungskräften der Wille vorhanden ist, Führungs-
581 entscheidungen im Gesamtunternehmensinteresse zu treffen und Individualinteressen nicht dominieren zu lassen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass das staatlich administrierte Preissystem einige medizinischen Bereiche finanziell stets besser aussehen lässt als andere und gewisse Ungerechtigkeiten damit immer vorprogrammiert sind. Abschließend kann noch angesprochen werden, dass dieser Vorschlag einer Divisionalisierung in der Aufbauorganisation von Krankenhäusern möglicherweise nicht ganz kompatibel mit dem tradierten Selbstverständnis der deutschen Medizin ist. Die Musterberufsordnung für Ärzte charakterisiert das ärztliche Handeln „in seinem Wesen als freiberuflich". Die Divisionalisierung geht für die Leiter der Divisionen demgegenüber von einem Status als Leitender Manager des Gesamtunternehmens aus. Darin muss kein Widerspruch gesehen werden und die Forderung nach der Freiberuflichkeit ist auch nicht mit Selbstständigkeit gleichzusetzen. Andererseits gibt es in anderen Ländern durchaus Modelle, die dem Belegarztmodell weitgehend entsprechen und damit besser zur Freiberuflichkeit passen als das hier vorgestellte Modell. Es ist aber fraglich, ob solche Belegarztsysteme aufgrund ihrer fehlenden Kohärenz ähnlich gut funktionieren können.
4
Fazit und Ausblick
Trotz einer extrem dynamischen Umwelt mit stetig sich verändernden gesetzlichen Rahmenbedingungen, dramatischen demographischen Verschiebungen und rasantem technischen Fortschritt verharren viele Krankenhäuser in Deutschland bei der traditionellen Aufbauorganisation mit der funktionalen und berufsgruppenorientierten Drei-Säulen-Struktur. Wichtige theoretische Gründe sprechen für eine Weiterentwicklung in Richtung von divisionalen Strukturen mit Profit-Center-Charakter. In anderen Ländern ist bereits zu beobachten, dass auch für Krankenhäuser das alte Chandler'sche Postulat „structure follows strategy" greift und die Strategie der Diversifizierung von einer organisatorischen Divisionalisierung begleitet wird.
Literatur Chandler, A. (2003): Strategy and Structure, in: Foss, N. (Hrsg.): Resources Firms and Strategy, Oxford et al„ S. 40-51. Frese, E. (2005): Grundlagen der Organisation, 9. Aufl., Wiesbaden Heimerl-Wagner, P. (1996): Organisation in Gesundheitsinstitutionen, in: Heimerl-Wagner, P./Köck, Chr. (Hrsg.): Management in Gesundheitsorganisationen, Wien, S. 127-186.
582 Leatt, P./Baker, R.R./Kimberly, J. R. (2006): Organization Design, in: Shortell, St. M./Kaluzny, A. D. (Hrsg.): Health Care Management, 5. Aufl., Delmar, S. 314-355. Rasch, A. (2008): Organisationsformen fur Gesundheitsunternehmen, in: Greiner, W./Schulenburg J.-M. Graf v. d./Vauth, Chr. (Hrsg.): Gesundheitsbetriebslehre, Bern, S. 415-436. Salfeld, R./Hehner. S./Wichels, R. (2009): Modernes Krankenhausmanagement, 2. Aufl., Berlin u. a.
Pharma- und Medizinprodukteindustrie
Jochen Fleischmann
Zur institutionellen Gestaltung der Arzneimittelversorgung 1
Ausgangslage
Die Versorgung mit Arzneimitteln ist ein Kernelement moderner Gesundheitssysteme; es verwundert daher nicht, dass innerhalb der Gesundheitsökonomie die Koordination und Steuerung von Systemen zur Arzneimittelversorgung (oder anders: deren institutionelle Ausgestaltung) ein zentrales Thema ist. Auch Peter Oberender hat sich an dieser Debatte mit mehreren Beiträgen, die sowohl das gesamte Arzneimittelversorgungssystem 863 als auch einzelne Regulierungsinstrumente 8 6 4 betreffen, beteiligt.
863
864 865 866 867
•
Die gesundheitsökonomische Diskussion um die Arzneimittelversorgung ist insofern verständlich, als dort exemplarisch einige derjenigen Probleme auftreten, die die Ökonomik des Gesundheitswesens kennzeichnen (und der Gesundheitsökonomik als solche ihre Daseinsberechtigung schaffen):
•
Die Akteure sind — wie auch die Akteure in anderen Teilsegmenten des solidarisch finanzierten Gesundheitssystems — von Anreizproblemen zur Ubernutzung von Ressourcen betroffen, also von den fiir das Gesundheitswesen typischen Rationalitätenfallen betroffen. 865
•
Ein stetig voranschreitender technischer Fortschritt, gepaart mit der Morbiditätsentwicklung einer alternden Gesellschaft fuhrt zu einer stetigen Ausweitung der Nutzung von Arzneimitteln und zunehmender Kosten. 8 6 6
•
Eine wirkliche sektorübergreifende und effizienzsteigernde Vernetzung des Arzneimittelmarktes mit anderen Teilsegmenten des Gesundheitswesens findet nicht statt. 8 6 7
Vgl. beispielhaft Oberender (1977, 1983, 1984), Oberender, Daumann (1997), Oberender, Zerth, Schmid (2006). Vgl. z.B. Oberender (1986, 1995, 2000), Oberender, Zerth (2001, 2003). Vgl. ausfuhrlich Oberender, Fleischmann (2002). Vgl. Cassel/Wille (2006), Zweifel (2007). Vgl. Wille (2009).
586 Die genannten Phänomene sind Symptome grundlegender Steuerungs- und Koordinationsprobleme im Gesundheitswesen: Die Frage ist nun, wie das System so funktionsfähig gemacht werden kann, dass es (bzw. die Akteure die in diesem System handeln) ohne „Reibungsverluste" auf übergeordnete gesellschaftliche Zielsetzungen ausgerichtet wird? . Hilfestellung dabei bzw. bei der Konstruktion von Koordinations- und Steuerungssystemen spezifischer gesellschaftlicher Teilsysteme werden von der Ordnungs- oder Institutionenökonomik gegeben; „Institutionen" sind dabei Regelmechanismen (das können sehr allgemeine Regeln sein oder auch sehr konkrete Regulierungsinstrumente), die diese (idealerweise) funktionsfähig machen. 868 Die vielfältigen Reformbestrebungen in der Arzneimittelversorgung sind meist von dem Bestreben getragen, die Leistungsfähigkeit von Systemen der Arzneimittelversorgung zu verbessern; allerdings fehlt ihnen häufig ein schlüssiges Gesamtkonzept eines konsistenten Steuerungs- und Koordinationssystems für die Arzneimittelversorgung. Die folgenden Ausfuhrungen nehmen daher in Bezug auf Arzneimittelversorgungssysteme eine institutionenökonomische Perspektive ein. Dabei soll es allerdings nicht darum gehen, ein vollständiges Institutionensystem für die Arzneimittelversorgung zu konzipieren oder einzelne Instrumente der Arzneimittelsteuerung zu bewerten. 8 6 9 Vielmehr geht es um die Fragen, was ein Steuerungs- und Koordinationssystem für die Arzneimittelversorgung grundsätzlich leisten und welche Anforderungen es erfüllen muss. Dabei wird davon ausgegangen, dass das in den Wirtschaftswissenschaften gängigste Steuerungs- und Koordinationssystem, nämlich über Preise gesteuerte Märkte, in der Arzneimittelversorgung nur bedingt zum Einsatz kommen soll. 870 Es geht also abstrakt darum, wie Märkte und Preise ergänzt werden müssen, um Arzneimittelversorgung funktionsfähig zu machen. Folgendermaßen soll dabei vorgegangen werden: In Abschnitt 2 wird neben einem kurzen Uberblick der Entwicklung von Arzneimittelversorgungssystemen ihre Einbettung in das Gesundheitssystem als Ganzes bzw. in die gesundheitswirtschaftliche Wertschöpfungskette entwickelt. Abschnitt 3 zeigt dann — ausgehend von eine funktional orientierten institutionenökonomischen Perspektive - auf, welche Anforderungen ein Institutionen- bzw. Regulierungssystem, das auf den Arzneimittelmarkt ausgerichtet ist, zu erfüllen hat.
868 Vgl z u r Institutionenökonomik z. B. Williamson (2000). 869 Vgl für einen Überblick solcher Instrumente Wille, Cassel (2006). 870
Was nicht heißen soll, dass dies nicht möglich wäre. Vielmehr wird aus vielfaltigen Gründen, insbesondere aufgrund der Einbettung in ein solidarisches Gesundheitssystem, auf Marktsteuerung verachtet, so dass Preise in .Arzneimittelmärkten" häufig nicht dieselben Steuerungsfunktionen übernehmen können wie in „herkömmlichen" Märkten.
587
2
Regulierungsgegenstand
2.1 Entwicklung des Arzneimittelsektors Jedes entwickelte Gesundheitswesen verfugt über einen ausgeprägten Arzneimittelsektor. Grundlegende Funktion der Arzneimittelversorgung ist es, im Falle einer Krankheit, aber auch präventiv Arzneimittel bereitzustellen. Rein quantitativ nimmt in entwickelten Volkswirtschaften der Arzneimittelsektor zwischen 10 und 35 % der Gesundheitsausgaben bzw. zwischen 0,7 und 2,5 % des Bruttoinlandsproduktes ein. 871 Die Ausgaben für Arzneimittel folgen auch im internationalen Vergleich einem deutlich ansteigenden Trend. Abbildung 64 zeigt exemplarisch die Entwicklung der Pro-Kopf-Ausgaben für Arzneimittel in den wichtigsten Ländern der Europäischen Union von 1980 bis 2008. Die Ausgaben in Deutschland sind dabei von 129 US$PPP auf 563 US$PPP pro Kopf angestiegen. Sie bewegen sich damit in 2008 in einer ähnlichen Größenordnung wie in Frankreich (607 USSPPP), Spanien (596 US$PPP) und Italien (527 US$PPP). 872 Die Arzneimittelversorgung wird maßgeblich von der pharmazeutischen Industrie geprägt, deren spezifische Industrieökonomik allerdings nicht Gegenstand der folgenden Ausfuhrungen sein soll. 873 Vielmehr soll die „institutionelle Umgebung", also das Koordinations- und Steuerungssystem, dem die Arzneimittelversorgung unterworfen ist, thematisiert werden. Die Arzneimittelversorgung ist in allen Ländern, aber auch global als ein „komplexes System" 874 zu sehen, in dem zahlreiche Akteure untereinander und mit dem System als solchem zu koordinieren sind. Aus einer Steuerungsperspektive wird daher in keinem Axzneimittelversorgungssystem auf die Reinformen „Markt vs. Staat" gesetzt, sondern es ist stets ein Ineinandergreifen vielfältiger Elemente, die auch eine Breite der Regelwerke in Arzneimittelmärkten erforderlich machen. 875
Vgl. OECD (2008), S. 28. Datenquelle: WHO. 8 7 3 Vgl. dazu Scherer (2007), Schweitzer (2007) oder OECD (2008). 8 7 4 So Herder-Dorneich (1994), S. 573. 875 Y g j d a z u fürs Gesundheitswesen allgemein: Männel (2006). 871
872
588
Abbildung 64: Ausgaben für Arzneimittel pro Kopf im Langzeitverlauf in US$-Kau£kraftparitäten Quelle: Daten aus WHO/Europe, European HFA Database, Stand: Juli 2010
Das Vorhandensein zahlreicher Regulierungsinstrumente in Arzneimittelmärkten und die Existenz einer damit korrespondierenden Innovationsdynamik im regulatorischen Bereich erklärt sich aus dieser Tatsache. Neuere Entwicklungen finden hier vor allem unter den — im Detail durchaus unterschiedliches meinenden — Stichworten „Health Technology Assessment", „Vierte Hürde", „Nutzenbewertung" oder „Comparative Effectiveness" statt. 8 7 6
2.2 Die Arzneimittelversorgung im Wertschöpfiingsprozess Gesundheit Um die Funktionsfahigkeit von Arzneimittelversorgungssystemen bzw. ihres Koordinations- und Steuerungssystems beurteilen zu können, ist es notwendig, eine modellhafte Darstellung dieses Koordinationszusammenhangs zu entwickeln. Die meisten Ansätze konzeptionalisieren die Arzneimittelversorgung dabei als vornehmlich nationales System. 8 7 7 Pies und Hielscher haben eine Betrachtungs-
876
877
Einen Erfahrungsbericht hierzu au Perspektive regulierender Behörden liefern Chaldikou et al. (2009). Das Thema „comparative effectiveness" arbeiten Eichler et al (2010) auf. Vgl. auch die ausfuhrliche Fallstudie Schiander (2007). Vgl. dazu Herder-Dorneich (1994), Oberender, Daumann (1997).
589 weise entwickelt (Abbildung 65), die den rein nationalen Koordinationszusammenhang um eine globale Gesundheitswertschöpfungskette ergänzt, d. h. globale Interdependenzen werden explizit behandelt. 878 Der dabei verfolgte Wertschöpfungsstufenansatz ist geeignet, die oben erwähnte Komplexität der Arzneimittelversorgung adäquat zu beschreiben: es geht hier nicht um (nationale) Einzelmarktregulation, sondern um die Adressierung eines interdependent (und international) verflochtenen Wertschöpfungssystems, in dem die richtigen Mechanismen eingesetzt werden müssen, um am Ende ein sozial erwünschtes Steuerungsergebnis zu erzielen: Das nationale Arzneimittelversorgungssystem ist nicht nur in ein nationales Gesundheitssystem, sondern auch in einen internationalen Koordinationszusammenhang über die dargestellte Wertschöpfungskette eingebunden. Erst wenn dieser Koordinationszusammenhang angemessen adressiert wird, kann die nationale Arzneimittelversorgung funktionsfähig werden.
Output
Wissen über Gesundheit und Krankheit
1 • •
Behandlungstechnologien / Arzneimittel
Aufrechterhaltung Gesundheit / Schutz vor Krankheit
Güterart
Öffentliches Gut
1
Privates Gut
Öffentliche, meritorische, private Güter
Staat / Gesellschaft Wissenschaft
• •
Unternehmen Wissenschaft
Gesellschaft Unternehmen
R • H
Technologie
Versorgung und Anwendung
Akteur
Forschung
Wertschöpfung
Abbildung 65: Der gesundheitswirtschaftliche Wertschöpfungsprozess Quelle: Modifiziert nach Pies/Hielscher (2007)
878 YgJ
¿¿zu Pies, Hielscher (2007). Der Ansatz von Pies und Hielscher ist dabei zunächst darauf ausgelegt, die weltwirtschaftliche Koordination von Arzneimittelmärkten, insbesondere das Problem der Unterversorgung ärmerer Länder mit Arzneimitteln, zu adressieren.
590 Pies und Hielscher unterscheiden drei Wertschöpfungsstufen: Versorgung und Anwendung, Technologie, Forschung. Bei Versorgung und Anwendung handelt es sich um die Strukturen die üblicherweise mit dem nationalen Gesundheitswesen umschrieben werden. 879 Sinn und Zweck ist es, die notwendigen Gesundheitsleistungen bereitzustellen und anzuwenden, um fiir die Erhaltung bzw. Wiederherstellung der Gesundheit einer umschriebenen Bevölkerung zu sorgen. Im Kern steht hier die Arzt-Patient-Beziehung (oder allgemeiner Arzt-Leistungserbringer-Beziehung), in der Gesundheitsleistungen zu einem großen Teil erbracht werden; die dort erbrachten Güter und Leistungen sind im wesentlichen privat und werden in zumindest teilweise privatwirtschaftlichen Strukturen bereitgestellt (Einzelpraxen, Krankenhäuser etc.). Um diese Kernbeziehung herum existiert eine Vielzahl von materiellen wie finanziellen Infrastrukturgütern, u.a. Krankenversicherungssysteme, Sicherstellungsaufträge, die bereitgehaltene Medizininfrastruktur, Informationssysteme oder Distributionssysteme. Die Entscheidung über den Einsatz von Arzneimitteln findet im Rahmen der Arzt-Patient-Beziehung statt. Es kann Strukturen geben, die darüber entscheiden, ob — insbesondere neue — Arzneimittel überhaupt Bestandteil der möglichen Behandlungsalternativen sind; das nationale Arzneimittelversorgungssystem mit all seinen institutionellen Verflechtungen ist also hier angesiedelt. 880 Die mittlere Stufe ist im Falle von Arzneimitteln zentriert auf die Produktentwicklung. Es geht um die Umsetzung von abstraktem Wissen in konkrete Technologie. In der pharmazeutischen Industrie ist dies in der Regel ein global ausgelegter Prozess, der einem eigenständigen Regelsystem unterliegt, aber auf Signale aus den nationalen Arzneimittelversorgungssystemen reagiert und damit mit diesen eng verwoben ist. Auch diese Wertschöpfungsstufe benötigt verschiedene Infrastrukturgüter, unter anderem ein funktionierendes Patentsystem.881 Die erste Stufe in der Wertschöpfung bildet die Grundlagenforschung, in der grundlegende Mechanismen zur Krankheitsentstehung und Optionen zu deren Bekämpfung erforscht werden. Diese findet im Rahmen des Wissenschaftssystems statt, ist öffentlich oder weitgehend öffentlich finanziert und unterliegt den Anreizen des Wissenschaftsbetriebs.882 Auch hier liegt eine enge und interdependente Verknüpfung mit den vorgelagerten Wertschöpfungsstufen vor.
879
880
881 882
Es ist selbstverständlich möglich, die Wertschöpfung in diesem System nochmals zu differenzieren. Im Rahmen des hier gewählten Ansatzes ist das allerdings zunächst unerheblich und bringt keinen weiteren Erkenntnisgewinn. Zur Erfassung der rein nationalen Arzneimittelversorgung vgl. Herder-Dorneich (1994), Oberender, Daumann (1997). Ausfuhrlich zu diesen Prozessen Scherer (2007). Vgl. dazu Lütge (2001).
591
3
Anforderungen an eine rationale Institutionalisierung der Arzneimittelversorgung
Arzneimittelversorgung kann also konzeptionalisiert werden als national wie international komplex verflochtenes System, das einen multiplen Steuerungsansatz notwendig macht. Das bedeutet, dass die Betrachtung von Arzneimittelversorgungssystemen nur als Einzelmärkte, wenn es darum geht, Regelwerke für dieses System zu entwickeln, fast zwangsläufig in die Irre und nicht zu einer rationalen Arzneimittelpolitik fuhrt. In Form der Ordnungs- oder Institutionenökonomik stellen die Wirtschaftswissenschaften einen Ansatz bereit, mit dem eine Annäherung an diese Problemstellung erfolgen kann.
3.1 Grundsätzlich Ökonomik konzipiert als Ordnungs- oder Institutionenökonomik befasst sich mit den Koordinations- und Steuerungsmechanismen, die gesellschaftliche Teilsysteme zusammenhalten. 883 Koordinations- und Steuerungsmechanismen funktionieren dabei über Anreize und Informationen; es geht also (abstrakt) darum, die richtigen Signale an die Akteure in diesem spezifischen Teilsystem bzw. auch über dieses System hinaus zu senden, um alle Akteure dazu zu bringen, im Sinne der Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems zu handeln.. 884 Traditionell hat sich die Ordnungsökonomik sehr stark am Gegensatz der Steuerungs- und Informationssysteme Markt vs. Staat weiterentwickelt. Neuere Ansätze fokussieren allerdings eher auf detaillierte Institutionalisierungs- und Organisationsprobleme jenseits dieses Gegensatzes; insbesondere die sogenannte Neue Institutionenökonomik hat dafür einige wirkungsvolle Analyse- und Konzeptionalisierungswerkzeuge bereitgestellt.885 Auch das Gesundheitswesen kann mit den Mitteln der Institutionenökonomik analysiert werden: Das Gesundheitswesen als gesellschaftlicher Teilbereich ist darauf ausgerichtet, die Erhaltung oder Wiederherstellung von Gesundheit zu gewährleisten. Als solches ist es von vielen Grundkonflikten gekennzeichnet, z. B. in Form der unterschiedlichen Interessenlage von Kranken und Gesunden, die
883
884
885
Anders gesagt: Es geht darum, „Gestaltungswissen zur Stabilisierung und Weiterentwicklung der institutionellen Rahmenordnung, die die soziale Ordnung konstituiert ... (zu) generieren" (Gerecke (1998), S. 268). Ein klassisches Beispiel hierfür ist die Frage, wie Wettbewerbskräfte durch geeignete Regelstrukturen produktiv für die Gesellschaft genutzt werden können. Eine Institution, die dies herbeifuhrt ist die Wettbewerbsgesetzgebung: Sie soll idealerweise einen Rahmen setzen, ohne aber unternehmerische Kräfte zu stark zu beschränken. Vgl. als Überblick und Perspektive Williamson (2000), Ostrom (2010).
592 ursächlich für Verteilungsfragen im Gesundheitswesen und zwischen dem Gesundheitswesen und anderen gesellschaftlichen Bereichen sind. 8 8 6
3.2 Was müssen Steuerungsmechanismen leisten? Das Arzneimittelversorgungssystem ist Teil des Gesundheitswesens und, wie oben dargelegt, Teil der Gesundheits-Wertschöpfungskette. Funktionsfähigkeit erlangt die Arzneimittelversorgung nur dann, wenn innerhalb dieser Wertschöpfungskette die richtigen Signale gesetzt werden, also ein sinnhafter Koordinationszusammenhang hergestellt wird. Das bedeutet, zuallererst muss national eine funktionsfähige Koordination der Arzneimittelversorgung hergestellt werden, z. B. über die vernünftige Institutionalisierung von Marktmechanismen. 887 Üblicherweise spricht man zwar von Arzneimittelmarkt, allerdings handelt es sich in der Regel nicht um reine Markt- und Wettbewerbsmechanismen, die die Steuerung der Arzneimittelversorgung übernehmen, was vor allem aus der Anbindung an solidarisch finanzierte Gesundheitssysteme herrührt. Das hat Folgen für das Informations- und Koordinationssystem: Auf „reinen" Märkten fließen Steuerungsinformationen über Preise; darin sind beispielsweise Knappheitsinformationen oder Konsumentenpräferenzen subsumiert. Ist allerdings ein reiner Markt nicht möglich oder nicht gewünscht, dann müssen Preisinformationen ergänzt werden um weitere Mechanismen. Preise haben in solchen Systemen nicht zwangsläufig den Informations- und Anreizcharakter, den sie auf „herkömmlichen" Märkten einnehmen. Es stellt sich nun die Frage, welchen Inhalt die Anreize und Signale innerhalb der Arzneimittelversorgung haben sollen: Aus der Wertschöpfungsstufe Versorgung müssen die richtigen Signale an die Wertschöpfungsstufe Entwicklung und an die Wertschöpfungsstufe Forschung gesendet werden. Erst dann, wenn diese Information und Anreize richtig gesetzt sind und weiterverarbeitet werden können, ist ein Arzneimittelversorgungssystem auch letztendlich funktionsfähig und rational gesteuert. Damit das Versorgungssystem funktionsfähig bleibt, müssen folgende Aspekte berücksichtigt werden (vgl. Abbildung 66):
886 887
Vgl. dazu Pies (2004), Daniels, Sabin (2008). Vgl. z.B. Oberender, Zerth, Schmid (2006).
593
Forschung
Technologie
Versorgung und Anwendung
Wertschöpfung Nutzen und Patientenpersepktive
Effizienzperspektive
innovationsperspektive
Abbildung 66: Steuerungsinfonnationen im Arzneimittelversorgungssystem Quelle: Eigene Darstellung.
Nutzen und Patientenperspektive Versorgungssysteme und Märkte sollen letztendlich im Dienste ihrer Endnutzer stehen, im Falle der Arzneimittelversorgung im Dienste des Patienten. Es muss also sichergestellt werden, dass die Wünsche und Bedürfnisse der Patienten in Signale, idealerweise in Nutzensignale übersetzt und innerhalb des Systems gesendet werden. Ein zentraler Aspekt des Steuerungs- und Informationssystems der Arzneimittelversorgung ist daher die Art und Weise wie Nutzen definiert und gemessen wird sowie inwieweit Nutzen geeignet ist, die Patientenperspektive abzubilden. Obwohl klar ist, dass Nutzen im Gesundheitswesen grundsätzlich multidimensional und subjektiv ist, gibt es keine allgemein akzeptierte und für Steuerungszwecke nutzbare Definition des Nutzens.888 Grundsätzlich sollte sich die Bewertung von Nutzengrößen an tatsächlichen und potenziellen Patienten orientieren. Ein Spannungsfeld besteht allerdings immer zwischen der Tatsache, dass Patientennutzen immer subjektiv ist, auf der anderen Seite jede politisch regulierende Maßnahme zwingend auf intersubjektive Messgrößen zurückgreifen muss. 889 Die Ableitung eines (objektiven) gesellschaftlichen Nutzens aus dem (subjektiven) Nutzen einzelner Patienten ist daher eines der zentralen Probleme der Institutionalisierung der Arzneimittelversorgung. Es stehen dazu systematische Verfahren, unter ande-
888 889
Vgl. Lesko et al. (2010), S. 729. Vgl. Buyx et al. (2009).
594 rem zur Messung von Patientenpräferenzen,890 zur Verfugung; eine alternative besteht in prozessorientierten Ansätzen zur Einbeziehung von Patientenansichten in Entscheidungen bzw. Nutzenmessungen.891 Jedes Steuerungssystem muss sich daran messen lassen, wie gut es dieses Grundproblem bewältigt. Neben der Art und Weise wie die Patientenperspektive möglichst valide in der Nutzendefinition implementiert wird, ist auch zu beachten, dass die Art und Weise, wie Nutzen gemessen wird und welche Verfahren zur Beweisführung akzeptiert sind, Signalwirkung in dem Koordinations- und Steuerungszusammenhang hat. Das gilt beispielsweise für die als Verfahren der Nachweisführung für Nutzenbelege derzeit vorherrschende evidenzbasierte Medizin. Es ist zu beachten, dass dieser Ansatz bestimmte Voraussetzungen hat, die z. B. die Messbarkeit auf bestimmte Phänomene einschränken, die dann auch als Innovation gewertet werden können. 892 Effizienzperspektive und Systemnutzen Effizienz spielt im Zuge von Überlegungen zur vierten Hürde oder comparative effectiveness-Ansätzen eine zunehmende Rolle in der Arzneimittelversorgung, entweder als technische Effizienz, teilweise im Rahmen von Kosten-Nutzen-Ansätzen auch als allokative Effizienz. Tatsächlich darf aber Effizienz nicht eingeengt auf den Arzneimittelsektor betrachtet werden, sondern es bedarf zwingend einer Systemperspektive, die das sektorübergreifende Zusammenspiel von Arzneimittelversorgung und anderen Versorgungselementen regelt.893 Diese umfassenden Effizienzsignale im Sinne von über den tendenziell individuell orientierten Patientennutzen hinausgehenden Systemnutzen müssen ebenfalls durch ein Steuerungsund Koordinationssystem in geeignete Signale umgesetzt werden. Innovationsperspektive Die Verflechtung des nationalen Arzneimittelversorgungssystems mit der globalen Gesundheitswertschöpfungskette wird dann besonders deutlich, wenn man die Innovationsperspektive einnimmt. Innovationsperspektive bedeutet dabei, dass ein Arzneimittelversorgungssystem nicht nur die Versorgung mit einem gegebenen Bestand an Arzneimitteln sicherstellen soll, sondern auch für ständige Weiterentwicklungen dieser Technologien sorgen soll.
890 891 892 893
Vgl. Mühlbacher et al (2008). Vgl. Porzsolt et al (2010). Vgl. z.B. Raspe (2010). Einige Perspektiven dazu liefert Mangen (2010).
595 Das hat mehrere Detailaspekte. So müssen neben aktuellen auch zukünftige Bedürfnisse mit in die Arzneimittelsteuerung einfließen. Rein auf die nationalen Versorgungssysteme fokussierten Regulierungen neigen dazu, diesenicht zu berücksichtigen, d. h. es werden Preise und Arzneimittelversorgung unter Berücksichtigung aktueller Patienten bzw. Versicherter optimiert, während die zukünftige Versorgung mit Arzneimitteln ausgeblendet wird. Anders gesagt: Es findet statische Wohlfahrtsmaximierung statt, aber keine dynamische Wohlfahrtsoptimierung. 894 Daneben haben Innovationssignale auch eine monetäre Komponente: Preise in nationalen Arzneimittelversorgungssystemen setzen sich in Einkommensrückflüsse, die Rückwirkung auf Forschung und Entwicklung haben. 895 Ein konkretes Institutionen- und Regulierungssystem einer Arzneimittelversorgung muss Mechanismen schaffen, die die beschriebenen Signale enthalten. Welches Gewicht einzelne dieser Signale haben, hängt dabei selbstverständlich auch von gesellschaftlichen Werturteilen in Bezug auf Gesundheitsversorgung ab.
4
Fazit
Systeme zur Arzneimittelversorgung sind Kernbestandteile entwickelter Gesundheitssysteme. Ihre Steuerung im Sinne einer Institutionalisierung bedarf daher sorgfältiger Konzeptionalisierung, sollen diese Systeme auch funktional sein. Dabei darf nicht nur das nationale Arzneimittelversorgungssystem betrachtet, sondern es muss darüber hinaus der globale Wertschöpfungszusammenhang betrachtet werden. In Anlehnung an Pies und Hielscher wurden hier die Wertschöpfungsstufen Versorgung, Technologie und Forschung unterschieden. Ein funktionales Institutionen- und Regulierungssystem muss in diesem Koordinationszusammenhang die richtigen Signale senden. Da Preise als Signalmechanismus im Gesundheitswesen häufig disfunktional sind, müssen sie im Rahmen der Arzneimittelversorgung ergänzt werden um Nutzen- und Patientenpräferenzensignale, um Effizienzsignale und Innovationssignale. Nicht betrachtet wurde hier die konkrete Ausgestaltung von Institutionen- und Regulierungssystemen in der Arzneimittelversorgung, die daran gemessen werden können, wie gut sie diese Signale umsetzen.
Vgl. Jena, Philipsen (2007). 895 Vgl Civan, Maloney (2009), die dies empirisch in eine Preiselastizität von Forschung und Entwicklung umgesetzt haben. 894
596
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Jürgen Schneider
Neuere Entwicklung im Apothekenwesen 1
Ausgangssituation
Der Gesundheitsmarkt ist gerade in hoch industrialisierten und hoch technisierten Ländern, die zumeist auch eine hohe durchschnittliche Lebenserwartung ihrer Bevölkerung auszeichnet, ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Anteil am BIP
Ausgaben je EW in US $ KKP*
Deutschland
10,6%
3.371
Frankreich
11,0%
3.449
Land
Italien
9,0%
2.614
Japan
8,1%
2.578
Dänemark
9,5%
3.362
Schweiz
11,3%
4.311
UK
8,4%
2.760
USA
15,3%
6.714
Tabelle 20: Gesundheitsausgaben 2006 im internationalen Vergleich Quelle: O E C D , Health Data 2008 (Stand: Dezember 2008); Statistics and indicators for 30 countries; Paris; BIP: Bruttoinlandsprodukt, EW: Einwohner, *) KKP: Kaufkraftparitäten (Umrechnungskurse, die die Unterschiede in den Preisniveaus zwischen den einzelnen Ländern beseitigen)
Auf Deutschland bezogen ergibt sich folgende Situation: Wahrend die Gesundheitsausgaben je Einwohner von 1994 bis 2007 um 4 3 , 8 % angewachsen sind (vgl. Tabelle 20), konnte der anteilige ,Ausgabenträger" Arzneimittel je Einwohner im selben Zeitraum um 6 4 , 7 % zulegen (vgl. Tabelle 21). Gesundheitsausgaben
GA je Einwohner
in Mio. €
in % des BIP
in Euro
1994 =100
1992
157.603
9,6%
1.946
91,0%
1994
174.340
9,8%
2.138
100,0%
1997
195.945
10,2%
2.388
111,7%
2000
212.455
10,3%
2.583
120,8%
Jahr
600
2003
233.778
10,8%
2.833
132,5%
2004
233,543
10,6%
2.831
132,4%
2005
239.361
10,7%
2.904
135,8%
2006
244.917
10,5%
2.975
139,2%
2007
252.751
10,4%
3.074
143,8%
Tabelle 21: Gesundheitsausgaben (GA) in Deutschland in Mio. € und in% des Bruttoinlandsproduktes (BIP) sowie je Einwohner in € und auf der Basis 1994 = 100 für ausgewählte Jahre Quelle: Gesundheitsberichterstattung des Bundes (www.gbe-bund.de) und eigene Berechnungen
Diese Entwicklung ist sicher ein Indiz fiir den gestiegenen Arzneimittelbedarf der Bevölkerung aufgrund des höheren Anteils an älteren Personen und des medizinisch-pharmazeutischen Fortschritts, verbunden mit der Möglichkeit, immer mehr Krankheiten medikamentös zu behandeln - und zugleich dem Motto „ambulant vor stationär" folgend. Damit stieg der Anteil des Ausgabenträgers Arzneimittel an den gesamten Gesundheitsausgaben von 1 4 , 4 % (in 1994) auf 1 6 , 5 % (in 2007) an (vgl. Tabelle 22). Arzneimittel (AM)-Ausgaben
AM-Ausgaben je Einwohner
in Mio. €
in % des BIP
in Euro
1994 =100
1992
25.432
16,1%
314
102,0%
1994
25.106
14,4%
308
100,0%
1997
28.174
14,4%
343
111,5%
2000
31.604
14,9%
384
124,8%
2003
36.716
15,7%
445
144,5%
2004
35.528
15,2%
431
139,9%
2005
39.391
16,5%
478
155,2%
2006
39.714
16,2%
482
156,7%
2007
41.699
16,5%
507
164,7%
Jahr
Tabelle 22: Ausgaben für Arzneimittel (AM) in Deutschland in Mio. € und in% der Gesundheitsausgaben sowie je Einwohner in € und auf der Basis 1994 = 100 für ausgewählte Jahre Quelle: Gesundheitsberichterstattung des Bundes (www.gbe-bund.de) und eigene Berechnungen
601 Und der Gesundheits- und Arzneimittelmarkt wachsen weiter. Indikatoren fiir das Wachstum sind: •
Die demographische Entwicklung: Immer mehr Menschen werden immer älter, und mit steigendem Alter nehmen Krankheiten zu.
•
Der wachsende Wohlstand: Wir sind eine „Generation der Erben".
•
Der wissenschaftliche Fortschritt: Immer mehr Krankheiten können (auch medikamentös) behandelt werden.
•
Die Kommunikation: Wissenschaftlicher und technischer Fortschritt werden kommuniziert; darüber erfolgt ein starker Nachfragedruck (sowohl auf Seiten der „Konsumenten" als auch bei den Leistungserbringern im Gesundheitswesen) .
Dieses fiir die Zukunft prognostizierte Wachstum des Gesundheitsmarktes weckt natürlich „Begehrlichkeiten Dritter", die gern an diesem Marktwachstum partizipieren würden.
2
Die Entwicklung der Gesetzlichen Krankenversicherung als Teil der Sozialversicherung in Deutschland
Im Jahre 1881 wurde der Aufbau der Arbeiterversicherung durch die „Kaiserliche Botschaft" Wilhelms I. eingeleitet. Diese Botschaft, die auf eine Anregung Otto von Bismarcks zurückgeht, wird allgemein als die „Magna Charta" oder die „Geburtsurkunde der deutschen Sozialversicherung" bezeichnet. Die Entwicklung der Sozialversicherung: 1881: Magna Charta der deutschen Sozialversicherung 1883: Krankenversicherung; Einführung der ... 1884: Unfallversicherung; Einfuhrung der ... 1889: Rentenversicherung; Einfuhrung der ... 1911: Reichsversicherungsordnung (RVO) 1927: Arbeitslosenversicherung; Einfiihrung der ... 1957: Rentenreform (Einfiihrung der dynamischen Rente) Die in der RVO niedergelegte gesetzliche Grundlage der Sozialversicherung wurde seit 1975 Zug um Zug durch mehrere Sozialgesetzbücher abgelöst. 1989: Sozialgesetzbuch Fünf/GKV
602 Das deutsche Sozialversicherungssystem mit seinen fünf Säulen •
Krankenversicherung (GKV) - SGB V (als SGB seit 1989)
•
Rentenversicherung - SGB VI (als SGB seit 1992)
•
Unfallversicherung - SGB VII (als SGB seit 1997)
• Arbeitslosenversicherung - SGB III (als SGB seit 1998) •
Pflegeversicherung - SGB XI (als SGB seit 1995)
basiert auf dem Gedanken der Solidarität („Stark für Schwach", „Gesund für Krank") unter Berücksichtigung des Generationenvertrages („Jung für Alt"). Mit Inkrafttreten des Sozialgesetzbuches, Fünftes Buch (SGB V), - Gesetzliche Krankenversicherung/GKV - im Jahre 1989, das die Versorgung der Versicherten, die Pflichten (und Rechte) der Beteiligten sowie die Beziehungen zwischen Versicherten, Krankenkassen und Leistungserbringern regelt, sind auch die öffentlichen Apotheken als wichtige Leistungserbringer im Gesetz explizit genannt, aufgeführt. Der guten Ordnung halber sei an dieser Stelle berichtet, dass von 1989 bis 2003 insgesamt neun weitere „Gesundheits-Ergänzungsgesetze" verabschiedet wurden, um die Finanzierung und Leistungsfähigkeit der Gesetzlichen Krankenversicherung zu gewährleisten. Bei diesen Maßnahmen des Gesetzgebers handelt es sich — aus Apothekersicht — durchweg um „Kostendämpfungsgesetze", die die Apotheken zum Teil heftig getroffen haben. Die Wesentlichen seinen kurz genannt: •
Negativliste(n) für Arzneimittel (§§ 34 und 92 SGB V),
•
Festbeträge fiir Arznei- und Hilfsmittel (§ 35 SGB V),
• Änderungen der Zuzahlung der Versicherten (§§ 31 und 61 SGB V), •
Begünstigungsklausel für Importarzneimittel (§ 129 SGB V),
• Ausgrenzung der nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel aus der Erstattung der GKV (§§ 31 Abs. 1 und 34 SGB V), • Ausgrenzung der „life style" Arzneimittel aus der Erstattung der GKV (§ 34 SGB V), • Ausgrenzung der Einzelimporte aus der Erstattung der GKV (aufgrund Rechtsprechung des Bundessozialgerichts), • Arzneimittelrichtlinien (§ 92 SGB V), •
Vertragsärztliche Arzneimittelbudgets (§ 84 SGB V).
603 Bei zehn „Ergänzungsgesetzen" in 14 Jahren im Arzneimittelmarkt der Gesetzlichen Krankenversicherung (von 1989 bis 2003) kann von Planungssicherheit für Apotheken u. a. wohl kaum eine Rede sein.
3
Strukturveränderungsgesetz GMG
Das GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) war Ausfluss der Agenda 2010 der damaligen rot-grünen Bundesregierung. Zur Erinnerung: Hauptziele der Agenda 2010 waren die Verbesserung der „Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und für mehr Beschäftigung" und der „Umbau des Sozialstaates und seine Erneuerung". So wurden mit Inkrafttreten des GKV-Modernisierungsgesetzes (GMG) zum 1.01.2004 viele bisher gewährte Leistungen aus dem Katalog der Gesetzlichen Krankenversicherung gestrichen. Dabei war es zentrale Absicht dieser Gesetzesinitiative, den Durchschnittsbeitrag der Gesetzlichen Krankenversicherung auf etwa 13% des Einkommens zurückzufuhren (am 1. Juli 2003 lag er bei 14,4%). Damit sollten insbesondere die Lohnnebenkosten (Stichwort: Wettbewerbsfähigkeit) unmittelbar gesenkt werden. Waren die Vorgängergesetze des GMG für die Apotheken eher Kostendämpfungsgesetze, so handelte es sich beim GMG - nicht nur aus Apothekersicht - um ein Strukturveränderungsgesetz. Denn seit Inkrafttreten dieses Gesetzes sind die öffentlichen Apotheken in Deutschland gravierenden, strukturellen Veränderungen ausgesetzt. Zu nennen sind: •
Möglichkeit der Filialisierung (§ 2 ApoG; bis zu vier Apotheken [Hauptapotheke und bis zu drei Filialen] je Betriebserlaubnis);
•
Zulassung des Versandhandels mit Arzneimitteln (§ 1 la ApoG, § 17 ApoBetrO);
•
Grundsätzlicher GKV-Erstattungsausschluss von nicht-verschreibungspflichtigen Arzneimitteln (§ 34 i.V.m. §§ 31 und 92 SGB V);
•
Keine staatliche Preisregulierung für nicht-verschreibungspflichtige Arzneimittel außerhalb der GKV (AMPreisV);
sowie, gemäß Artikel 24 GMG, •
Änderung der Arzneimittelpreisverordnung (AMPreisV) für verschreibungspflichtige Fertigarzneimittel (§ 78 AMG, AMPreisV),
die im Zuge der nachfolgenden Gesetzgebung weiter „verfeinert" und ergänzt wurden. So hatten das SGB V, und damit auch die Leistungserbringer öffendiche Apotheken, nach dem GMG bereits sechs weitere wesendiche Ergänzungsgesetze zu
604 erdulden (mit Änderungen wie z. B. Generelles Verbot der Entgegennahme von Naturalrabatten für alle Arzneimittel, Begrenzung von Barrabatten auf verschreibungspflichtige Arzneimittel [§ 7 HWG]; Festsetzung des Kassenabschlags der Apotheken auf 2,05 Euro für die Jahre 2011 und 2012 [§ 130 SGB V], geänderte Packungsgrößenverordnung, Änderung der Arzneimittelpreisverordnung für den Großhandel [AMPreisV] - und deren Auswirkungen auf die Konditionen der Apotheken, usw.), aktuell und (bisher) zuletzt mit Inkrafttreten des Arzneimittelneuordnungsgesetzes (AMNOG) zum 1.01.2011. Auf einzelne Änderungen soll an den entsprechenden Stellen im Rahmen dieses Beitrags noch näher eingegangen werden.
4
EuGH-Entscheidung zum deutschen Gesundheitswesen
Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs hat am 19. Mai 2009 entschieden, dass Gesundheitspolitik innerhalb der Europäischen Union (EU) immer noch eine nationalstaatliche Aufgabe ist. Nach wie vor können die Mitgliedstaaten also selbst bestimmen, auf welchem Niveau der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung zu gewährleisten ist. Damit wurde dem Gesundheits- und Verbraucherschutz Vorrang vor dem Primat der Ökonomie und des „freien" Binnenmarktes innerhalb der EU eingeräumt. Der Grundsatz, dass öffentliche Apotheken in das Eigentum approbierter Apothekerinnen und Apotheker gehören, fand die erkennbare Sympathie des Gerichts. Mit dem Fremdbesitzverbot im Gesundheitswesen - auch im Apothekenbereich — erteilte der EuGH damit der Deregulierung des Gesundheitswesens in der EU eine deutliche Abfuhr. Die Etablierung von Apothekenketten unter fachfremder, Kapitalgestützter Leitung, wurde damit (bisher) verhindert, die Inhabergeführte Apotheke auch insoweit gestützt, als sie zumindest seit diesem Zeitpunkt an dieser Stelle eine gewisse Rechts- und Planungssicherheit genießt.
5
Die Bedeutung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) fiir das Wirtschaftsunternehmen öffentliche Apotheke
Etwa 90 % der Bevölkerung sind in der GKV pflichtversichert oder freiwilliges Mitglied in der GKV. Damit haben die Versicherten aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen (s. § 31 SGB V) [auch] Anspruch auf Versorgung mit (ärztlich verordneten) Arzneimitteln. Und damit sind die gesetzlichen Krankenkassen nach wie vor Hauptumsatzträger der Apotheken.
605 Rund zwei Drittel ihres Umsatzes tätigen die öffentlichen Apotheken mit den gesetzlichen Krankenkassen; dabei sind etwa 50 % aller in den Apotheken abgegebenen Packungen zulasten der GKV verordnet.
6
Versorgungsauftrag der Apotheken
„Den Apotheken obliegt die im öffentlichen Interesse gebotene Sicherstellung einer ordnungsgemäßen i4rz»«z»»'fte/versorgung der Bevölkerung" besagt § 1 Abs. 1 Gesetz über das Apothekenwesen. Und diesem gesetzlich normierten Versorgungsauftrag kommen die öffentlichen Apotheken seit Jahrzehnten in überzeugender Weise nach. Sie sind ubiquitär vertreten, d. h. rund um die Uhr, 365 Tage im Jahr, flächendeckend, leistungsbereit und leistungsfähig. Aus dem Versorgungsauftrag abgeleitet sind für öffentliche Apotheken u. a. die Pflicht zur Vorratshaltung (verbunden mit dem Kontrahierungszwang), die Pflicht zur Beratung von Patienten und Ärzten zu Arzneimitteln sowie die Verpflichtung zur regional geregelten Teilnahme am Not- und Nachtdienst. Dabei ist der Arzneimittelmarkt noch wesentlich stärker reglementiert als allgemein angenommen. Dies ist vom Gesetzgeber auch so gewollt, um die Arzneimittelsicherheit mit Blick auf den Verbraucherschutz, gesetzlich garantieren zu können. Die Abgabe von Arzneimitteln (außerhalb des stationären Bereichs) ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, den öffentlichen Apotheken vorbehalten. Das Arzneimittelgesetz besagt dazu in § 43 ,Apothekenpflicht": • Arzneimittel dürfen (im Einzelhandel, bis auf gesetzliche Ausnahmen), für den Endverbrauch nur in Apotheken und ohne behördliche Erlaubnis nicht im Wege des Versandes in den Verkehr gebracht werden; • Auf Verschreibung dürfen Arzneimittel nur von Apotheken abgegeben werden. Arzneimittel sind also „eine Ware der besonderen Art". Das belegt auch das Verbot der Selbstbedienung (in § 52 des Arzneimittelgesetzes normiert): Arzneimittel ... dürfen •
nicht durch Automaten und
•
nicht durch andere Formen der Selbstbedienung in den Verkehr gebracht werden.
Dabei sind die wenigen Ausnahmen vom Selbstbedienungsverbot im Gesetz abschließend geregelt.
606 Außenstehenden so gut wie nicht bekannt, mag das Verbot der Arzneimittelbeschränkung (in § 10 des Gesetzes über das Apothekenwesen niedergelegt) auf den ersten Blick verwundern: Der Erlaubnisinhaber (Inhaber der Apothekenbetriebserlaubnis) darf sich nicht verpflichten, bestimmte Arzneimittel ausschließlich oder bevorzugt anzubieten oder abzugeben oder anderweitig die Auswahl der von ihm abzugebenden Arzneimittel auf das Angebot bestimmter Hersteller oder Händler oder von Gruppen von solchen zu beschränken. Mit diesem Verbot soll offensichtlich - aus Gründen des Verbraucherschutzes, um dem Missbrauch und dem ungewolltem Mehrverbrauch von Arzneimitteln nicht Vorschub zu leisten - eine rein gewinnorientierte Ausrichtung des Apothekers am Verkauf von bestimmten Arzneimitteln unterbunden werden. Damit ist der Apotheker - mit gewissen „Privilegien" ausgestattet - seiner Grundausrichtung nach ein „freier Heilberuf'. Natürlich sind bei Apotheken dadurch nicht die Gesetze der Betriebswirtschaft ausgesetzt; der Apotheker ist Vollkaufmann (und damit zugleich Pflichtmitglied der IHK), er wird zur Gewerbesteuer herangezogen, und sein Umsatz unterliegt in vollem Umfang der Umsatzsteuer. Angesichts des oben genannten gesetzlichen Versorgungsauftrages ist der Gesetzgeber aber gefordert, die flächendeckende Arzneimittelversorgung der Bevölkerung durch Apotheken zu gewährleisten. Und dies kann nur garantiert werden, wenn die Apotheken und ihre Mitarbeiter für ihre Leistung auch entsprechend honoriert werden. Denn auf Dauer können in unserem Gesellschaftssystem nur rentabel betriebene Apotheken die ordnungsgemäße Arzneimittelversorgung sicherstellen. Ihre kaufmännische Tätigkeit, verbunden mit Versorgungs- und Verbraucherschutzfunktionen, können die Apotheken nur ausfüllen, wenn sie auch „vor Ort" präsent sind (d. h. für jedermann kurzfristig erreichbar).
7
Apothekenzahl
Versorgten Ende 1990, dem Jahr der Wiedervereinigung Deutschlands, 18.029 öffendiche Apotheken die Bevölkerung mit Arzneimitteln, so stieg ihre Zahl bis zur Jahrtausendwende um mehr als 3.560 auf annähernd 21.600 an. Wesendichen Anteil an diesem Zuwachs hatten insbesondere die neuen fünf Bundesländer, in denen ein Nachholbedarf (in der Versorgungsdichte) bestand. Trotz einer weiteren Zunahme der gesamtdeutschen Bevölkerung in den Folgejahren sank die Zahl der öffendichen Apotheken bundesweit bis 2003 um annähernd 300 Apotheken; eine Entwicklung, die in den wesdichen Bundesländern tendenziell schon viel früher eingesetzt hatte.
607
Jahr
Einwohner in 1.000
Öffendiche Apotheken (ab 2004 Betr.stätten)
Zahl der Einwohner je Apotheke/ Apo.-Betr.stätte
Zahl der Vertrags-Ärzte je Apotheke/ Apo.-Betr.stätte
1990
79.753
18.029
4.424
4,93
1994
81.539
20.903
3.901
5,08
1997
82.057
21.457
3.824
5,14
2000
82.260
21.592
3.810
5,30
2003
82.532
21.305
3.874
5,52
2004
82.501
21.392
3.857
5,52
2005
82.438
21.476
3.839
5,53
2006
82.315
21.551
3.820
5,55
2007
82.218
21.570
3.812
5,57
2008
82.002
21.602
3.796
5,58
2009
81.802
21.548
3.796
5,62
Tabelle 23: Einwohner und öffentliche Apotheken* sowie Zahl der Einwohner und der Vertragsärzte** je Apotheke in Deutschland in ausgewählten Jahren (zwischen 1990 und 2009) Quelle: ABDA, KBV, Statistisches Bundesamt; Im Jahre 2004 (in der Tabelle fett herausgehoben) trat das GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) in Kraft, *: jeweils Jahresende, **: einschl. Partner-Ärzte Wie oben bereits dargestellt, besteht seit Inkrafttreten des GKV-Modernisierungsgesetzes ( G M G ) zu Beginn des Jahres 2004 für jeden Apothekeninhaber die Möglichkeit der regional und numerisch begrenzten Filialisierung (neben der Hauptapotheke können bis zu drei Filialen betrieben werden). Und damit ist der zu dieser Zeit erkennbare Trend der Abnahme der Apothekenzahl abrupt gestoppt worden. Zwar nahm die Zahl der Apothekenbetriebserlaubnisse (Stichwort: Hauptapotheke) auch in 2004 und in den Folgejahren stetig ab, so dass auch die Zahl der mittelständische Unternehmer, die in dieser Branche tätig sind, immer weiter sank. Aufgrund der Filialisierung nahm die Zahl der Betriebsstätten jedoch zunächst wieder zu (vgl. Tabelle 24). Sie stieg, trotz einer seit 2004 kontinuierlich abnehmenden Bevölkerungszahl, bis 2008 auf einen bundesdeutschen Höchstwert von über 21.600 Apothekenbetriebsstätten an, um im Jahre 2009 wieder unter den Stand des Jahres 2000 zu fallen (vgl. Tabelle 23). Dabei darf davon ausgegangen werden, dass sich diese negative Entwicklung in den nächsten Jahren weiter fortsetzen wird.
608
Jahr
HauptApotheken
FilialApotheken
Apo.-Betr. Stätten
2004
20.760
632
21.392
2005
20.248
1.228
21.476
2006
19.755
1.796
21.551
2007
19.214
2.356
21.570
2008
18.751
2.851
21.602
2009
18.324
3.224
21.548
Tabelle 24: Zahl der Haupt- und Filialapotheken sowie Apothekenbetriebsstätten insgesamt in Deutschland in den Jahren 2004 bis 2009 Quelle: ABDA; jeweils Jahresende
Während zu Ende des ersten GMG-Jahres 2004 bundesweit 632 Apothekenfilialen existierten, stieg ihre Zahl kontinuierlich, allerdings mit auch absolut abnehmenden Zuwachsraten, bis auf 3.224 (zum 31.12.2009) an. Damit konnte in 2009 rein rechnerisch etwa jeder sechste Apothekeninhaber eine Filiale sein eigen nennen (vgl. Tabelle 24). Wesentliche Gründe für eine Filialisierung: •
Apotheken, die vor 2004 nur schwer verkäuflich waren, sind in den ersten Monaten nach Inkrafttreten des G M G zum Teil als Filialen erworben worden;
•
Vor 2004, also zu dem Zeitpunkt, als eine Filialisierung noch nicht möglich war, hat der eine oder andere Apotheker einen Standort ermittelt, der sich gut für eine (neue) Apotheke geeignet hätte. Nur selbst besetzen konnte man diesen Standort (vor 2004) nicht. Heute versorgt dort eine Apothekenfiliale die Bevölkerung mit Arzneimitteln;
•
Einzelne Apotheker sehen in der Filialisierung eine wichtige Existenzsicherungsmaßnahme;
•
Frühere Einzelapotheken sind aufgrund familiärer Strukturen in einen Filialverbund umgewidmet worden.
Die Vergangenheit hat aber auch gezeigt, dass sich längst nicht jede Filiale betriebswirtschaftlich gerechnet hat. Und dennoch gilt: Mit der durch das G M G eröffneten Möglichkeit der Apothekenfilialisierung (Marktliberalisierung) haben die Apotheker ein höheres Maß an unternehmerischer Gestaltung erhalten. Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Zusammenhang: Im gesamten Berichtszeitraum stieg die Zahl der (ambulant tätigen) Vertragsärzte je Apothekenbe-
609 triebsstätte (vgl. Tab. 23) Jahr für Jahr. Während 1990 noch 493 Vertragsärzte auf 100 öffentliche Apotheken kamen, waren es 2009 bereits 562 Vertragsärzte; eine Zunahme von 1 4 % .
8
Arbeitsplätze in Apotheken
Von den 57.832 approbierten Apothekern, die nach Angaben der A B D A Ende 2009 im Berufsleben standen, übten 48.002 Apotheker, das sind 8 3 % , ihren Beruf als Apothekenleiter oder als approbierter Angestellter in einer öffentlichen Apotheke aus. Selbstverständlich korreliert die Zahl der in Apotheken tätigen Approbierten mit der Zahl der Apothekenbetriebsstätten (vgl. Tabelle 25). Dabei hat die durchschnittliche Zahl der Approbierten je Betriebsstätte in der Zeit von 1994 bis 2009 stetig zugenommen (von 2,01 auf aktuell 2,23); letztlich um gut 1 0 % innerhalb der letzten 16 Jahre. Jahresende
1994
1997
2000
2003
2004
2007
2008
2009
Apotheker
41.959
45.271
46.078
46.140
46.014
47.766
48.030
48.002
Pharm.prakt.
1.573
1.859
1.649
1.387
1.431
1.506
1.327
1.287
Apo.-Ass.l Pharm.ing.
11.417
11.313
10.835
9.600
9.602
8.413
8.196
8.056
PTA
31.244
35.150
39.792
42.385
43.946
49.874
51.907
53.734
Helfer/PKA
38.087
38.814
38.116
37.636
35.812
36.026
36.020
35.769
Insgesamt
124.280
132.407
136.470
137.148
136.805
143.585
145.480
146.848
Tabelle 25: Arbeitsplätze in öffentlichen Apotheken in ausgewählten Jahren (zwischen 1994 und 2009) Quelle: A B D A
Aufgrund des zusätzlichen Bedarfs an qualifizierten pharmazeutischen Mitarbeitern haben die Apotheken (angesichts des Kostendrucks) im „back-office" deshalb ständig investiert (z.B. Kommissionierautomat) und rationalisiert, so dass die Zahl der nicht-pharmazeutischen Mitarbeiter in öffentlichen Apotheken (seit 1997) permanent gesunken ist - und wohl auch weiter sinken wird. Wie in allen Heilberufen ist der Frauenanteil an den gesamten Arbeitsplätzen der Apotheken traditionell hoch; er liegt aktuell bei 8 9 % . Dabei gibt es unterschiedliche Frauenanteile bei den Apothekern und bei den Nicht-Approbierten: Im Jahre 2009 waren rund 69 % aller in Apotheken tätigen Apotheker weiblich; bei den Apothekerleitern lag die Q u o t e bei 47 %. Der Frauenanteil bei den NichtApprobierten lag bei 98 % (Quelle: ABDA). Dabei geht eine Vielzahl der - insbesondere weiblichen — Beschäftigten ihrer Arbeit in Teilzeit nach.
610
9
Umsatz der Apotheken
Die öffentlichen Apotheken sind nicht nur ein wichtiger Arbeitgeber (insbesondere fxir Frauen) in ihrem lokalen Umfeld; sie repräsentieren vielmehr gleichzeitig, wie bereits zu Anfang dargestellt, einen wichtigen Wirtschaftsfaktor in Deutschland. Jahr
1997
2000
2003
2004
2007
2008
2009
Gesamtumsatz mit MwSt.
26,58
31,20
38,98
37,70
43,67
45,10
46,65
24,87
29,12
36,42
34,92
39,39
40,70
42,25
Rx-AM-Umsatz
16,76
21,00
27,96
27,26
33,56
35,11
36,65
apo.-pfl. AM-Umsatz
7,70
7,65
7,66
6,73
5,47
5,24
5,24
4,00
3,56
3,25
1,86
1,43
1,31
1,29
davon: AM-Umsatz insgesamt
davon:
darunter: verordnet nicht-verordnet
3,70
4,09
4,41
4,87
4,05
3,93
3,95
freiverkäufl. AM-Umsatz
0,41
0,47
0,81
0,93
0,36
0,36
0,36
Selbstmedikation
4,12
4,57
5,22
5,80
4,40
4,28
4,28
Krankenpflegeartikel u. a.
0,94
1,13
1,39
1,51
2,02
2,02
2,00
Ergänzungssortiment
0,76
0,95
1,16
1,28
2,26
2,38
2,40
Tabelle 26: Apothekenumsatz insgesamt und Apothekenstruktur (einschl. Mehrwertsteuer) in Mrd. Euro in ausgewählten Jahren (zwischen 1997 und 2009) Quelle: A B D A und eigene Berechnungen
Die frühesten Werte, auf die an dieser Stelle zurückgegriffen wird, stammen aus dem Jahre 1997. Zum damaligen Zeitpunkt (Mehrwertsteuersatz 15 Prozent) setzten die öffentlichen Apotheken in Deutschland gut 26,5 Mrd. Euro (brutto) um. Bis zum Jahre 2009 (Mehrwertsteuersatz 19 Prozent) konnten sie ihren Umsatz auf 46,65 Mrd. Euro erhöhen. Dies entspricht einer Steigerung von 75,5 %. Den stärksten Anstieg verzeichnen in dieser Zeit die verschreibungspflichtigen Arzneimittel (Rx-AM) mit einem Zuwachs von + 1 1 8 , 7 % . Ganz anders sieht es bei den apothekenpflichtigen, nicht-verschreibungspflichtigen Arzneimitteln aus. Die Verluste, die im Rahmen der ärztlichen Verordnung von nicht-verschreibungspflichtigen Arzneimitteln in den Jahren 1997 bis 2003 anfielen, konnten in etwa durch den Umsatzanstieg im Rahmen der Selbstmedikation aufgefangen werden. Mit Inkrafttreten des GKV-Modernisierungsgesetzes zum 1.01.2004 sind rezeptfreie Arzneimittel grundsätzlich aus der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen ausgeschlossen. Und dieser Ausschluss führte in 2004 zu einem Umsatzeinbruch bei den verordneten rezeptfreien Arzneimitteln von etwa 43 %!
611 Die Hoffnung, dass diese nicht-verschreibungspflichtigen Arzneimittel im Rahmen der Selbstmedikation von den Versicherten selbst gekauft werden, hat sich nicht erfüllt (vgl. Tabelle 26).
10 Arzneimittelpackungen aus Apotheken Aus der Entwicklung der Mitarbeiterzahl (2009 zu 1997: + 10,9%) und des Umsatzes (2009 zu 1997: +75,5 %) dürfte man schließen, dass auch die Zahl der Verkaufsabschlüsse, ausgedrückt in der Zahl der abgegebenen Packungen, entsprechend zugenommen hat. Das Gegenteil ist der Fall! Wurden den Apothekenkunden in 1997 noch 1.600 Mio. Arzneimittelpackungen von den Apothekenmitarbeitern ausgehändigt, so waren es 2009 nur noch 1.426 Mio. Packungen. Das entspricht einem Rückgang von fast 11 Prozent. Jahr
1997
2000
2003
2004
2007
2008
2009
Arzneimittel insgesamt
1.600
1.560
1.665
1.496
1.427
1.428
1.426
Rx-Arzneimittel
670
680
758
684
727
757
766
apothekenpflichtige AM
880
830
837
744
650
624
614
verordnet
530
550
568
583
514
495
493
nicht-verordnet
davon:
darunter: 350
280
269
161
136
129
121
freiverkäufliche AM
50
50
70
68
50
47
46
Selbstmedikation
580
600
638
651
564
542
539
Tabelle 27: Absatzstruktur der Apotheken in Mio. Packungen in ausgewählten Jahren (zwischen 1997 und 2009) Quelle: ABDA und eigene Berechnungen
Auch in diesem Fall ist es wieder das GMG, das für diesen Rückgang verantwortlich zeichnet, wie insbesondere der Vergleich der Packungszahlen im Jahre 2004 mit dem entsprechenden Vorjahreswert belegt. Da zudem gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten das Konsumverhalten der Bevölkerung, und damit feststellbar auch der Selbstmedikationsmarkt schwächein, stellt dies für die öffentlichen Apotheken eine fatale Entwicklung dar, die auch in der Rentabilität ihrer Betriebe ihren Niederschlag findet. Selbst wenn der Preis der durchschnittlichen Arzneimittelpackung von 1997 (15,54 Euro) bis 2009 (29,63 Euro) stark angestiegen ist, sich innerhalb von 12 Jahren also fast verdoppelt hat, so ist der Apothekenrohertrag je Arzneimittelpackung nur etwa um die Hälfte angewachsen, wie (u. a.) die Zahlen des Jahresbetriebsvergleichs für Apotheken des Instituts für Handelsforschung an der Universität zu Köln belegen.
612
11 Die neue Arzneimittelpreisverordnung Wie bereits oben dargestellt, tätigen die öffentlichen Apotheken rund Zweidrittel ihres Umsatzes mit der GKV. Von diesem GKV-Umsatz entfallen weit über 90 % auf verschreibungspflichtige Arzneimittel, die der Arzneimittelpreisverordnung (AMPreisV) unterliegen. Auch diese Verordnung wurde im Zuge des G M G für verschreibungspflichtige Fertigarzneimittel (Rx-FAM) umgestellt. Angesichts der angespannten Kassenlage durfte die Änderung natürlich zu keinen Mehrbelastungen für die Krankenkassen fuhren; andererseits musste der Gesetzgeber mit der Umstellung der Preisverordnung aber auch sicherstellen, dass die im öffentlichen Interesse gebotene Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung der Bevölkerung nicht gefährdet wurde. Zugleich sollten mögliche Einbußen bei den Apotheken durch eine heilberufliche Aufwertung des Berufsstandes kompensiert werden, indem die apothekerliche Vergütung für Beratung und Abgabe von verschreibungspflichtigen Fertigarzneimitteln nicht länger ursächlich an den (Herstellerabgabe-) Preis des Medikamentes gekoppelt wurde. Letztlich wurde die AMPreisV in § 3 wie folgt neu geregelt: „Bei der Abgabe von [verschreibungspflichtigen] Fertigarzneimitteln, die zur Anwendung bei Menschen bestimmt sind, durch die Apotheken sind zur Berechnung des Apothekenabgabepreises ein Festzuschlag von 3 Prozent [kaufmännische Komponente] zuzüglich 8,10 Euro [Festzuschlag/Honorar] sowie die Umsatzsteuer zu erheben. . . . " Aufgrund der Umstellung der AMPreisV für verschreibungspflichtige Arzneimittel musste auch § 130 SGB V, der bis dato traditionell einen Abschlag von 5 Prozent auf den maßgeblichen Abgabepreis des verordneten Arzneimittels vorsah, an die veränderte Berechnungssystematik der AMPreisV angepasst werden. „Im Zusammenhang mit der Einführung eines Fixzuschlages für die Abgabe von verschreibungspflichtigen Fertigarzneimitteln durch öffentliche Apotheken wird anstelle der durch das Beitragssatzsicherungsgesetz eingeführten Staffelung des Rabatts ein Abschlag in Höhe von 2,00 Euro je Packung und je abgerechnetem Fixzuschlag eingeführt", so die amtliche Begründung zur Änderung von § 130 SGB V. Die Umstellung war (zunächst) so ausgestaltet, dass die Apotheke im Rahmen der Beratung und Abgabe von Rx-FAM zu 9 0 % mittels Honorar, und zu 10% mittels kaufmännischem Zuschlag vergütet werden sollte. Die Dynamik des Arzneimittelmarktes (vor allem hin zu teureren Packungen), verbunden mit dem Rückgang der Packungszahlen, hat in den letzten Jahren gerade im GKV-Markt bei den Apotheken zu wesendichen Rohertrags- und damit zu Gewinneinbußen gefuhrt. Die zwischenzeidiche Erhöhung des Kassenabschlags von ursprünglich 2,00 Euro auf 2,30 Euro in 2007 führte zu zusätzlichen Ertragsrückgängen. Mit der Entscheidung der
613 Schiedsstelle zur Höhe des Kassenabschlags auf 1,75 Euro für das Jahr 2009 wurde der Mehraufwand der Apotheken im Rahmen der Abgabe von Arzneimitteln zulasten der G K V zunächst einmal - zumindest dem Grunde nach - anerkannt; mit dem A M N O G , das am 1. Januar dieses Jahres in Kraft getreten ist, wurde beim Kassenabschlag de facto wieder auf die Ausgangslage des Jahres 2004 zurückgegangen, ohne dass der Gesetzgeber dabei die völlig veränderte Marktlage berücksichtigt hätte.
12 Der Versandhandel mit Arzneimitteln Der Versand von Arzneimitteln wird zwar von vielen Apotheken angeboten; rentabel zu betreiben ist diese Form der Abgabe nach Einschätzung von Experten auf Dauer aber nur von einer Handvoll Betriebe. Denn der Versandhandel mit Arzneimitteln lohnt nur, wenn ausreichend viele Kunden diese Art des Arzneimittelbezugs nutzen. Dazu benötigt der Betreiber neben entsprechenden Investitionen auch ein ausgeklügeltes Marketingkonzept. Und beides beansprucht reichlich Kapital, über das der mittelständische Unternehmer Apotheker im Regelfall nicht verfugen kann. Aus ordnungspolitischer Sicht muss zudem konstatiert werden, dass es beim Versandhandel mit Medikamenten auch zu gravierenden Wettbewerbsverzerrungen kommt, weil der Versender nur für einen Bruchteil seiner Kunden entsprechende kosten trächtige (Dienst-) Leistungen (wie Not- und Nachtdienst, Herstellung von Rezepturen usw.) vorhalten muss. Die Präsenzapotheke vor Ort hat dagegen für alle ihre Kunden diese Leistungen verfugbar zu halten. An dieser Stelle nicht uninteressant, dass das Europäische Parlament aktuell und mit großer Mehrheit eine Richtlinie zur Bekämpfung von Arzneimittelfälschungen angenommen hat, mit der verhindert werden soll, dass gefälschte Arzneimittel in die legale Lieferkette gelangen. Dabei hielten es die EU-Abgeordneten für notwendig, auch den Verkauf von Arzneimitteln über das Internet (sprich Versandhandel) zu regeln. Schließlich sei das Internet einer der Hauptwege, über den gefälschte Arzneimittel der Bevölkerung angeboten würden.
13 Betriebswirtschaftliche Entwicklung der Apotheken Der Gesundheitsmarkt, und damit auch der Apotheken- bzw. Arzneimittelmarkt wachsen, trotz ständig zunehmender Probleme bei der GKV-Finanzierung. Mit dem Verordnungsausschluss der nicht-verschreibungspflichtigen Arzneimittel aus der Erstattungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen, den zwischen Pharmaherstellern und Krankenkassen geschlossenen Rabattverträgen, der umgestellten Packungsgrößenverordnung und der Möglichkeit der Mehrkostenübernahme durch Versicherte, um die wesentlichen Gründe zu nennen, erhöhte sich der Beratungs-
614 bedarf (und damit der Bedarf an zusätzlichen, qualifizierten Mitarbeitern) in den Apotheken gewaltig. Und natürlich schlägt sich dieser Mehraufwand bei den mittelständischen Dienstleistungsunternehmen öffentliche Apotheken in Kosten nieder. Bisher, das beweisen die Ergebnisse des Jahresbetriebsvergleichs der Apotheken des Instituts für Handelsforschung Köln (IfH) - sowie die Analyse der Entwicklung der Roherträge fiir verschreibungspflichtige Fertigarzneimittel im GKV-Markt seit 2004 - , werden die Apotheken für diesen Mehraufwand nicht adäquat entlohnt. Blickt man auf die Entwicklung des Kassenabschlags (nach § 1 3 0 SGB V), muss man feststellen, dass eher das Gegenteil der Fall ist. Während die Treuhand Hannover, eine Steuerberatungsgesellschaft, die ca. 3.000 Apotheke betreut, das steuerliche Betriebsergebnis der typischen Apotheke für 2009 auf etwa 85.000 Euro (oder rund 6,3% des Nettoumsatzes) beziffert, weist das IfH für die Durchschnittsapotheke ein betriebswirtschaftliches Betriebsergebnis von 0,3 % des Bruttoumsatzes aus.
Abbildung 67: Betriebsergebnis (in% des Bruttoumsatzes) Quelle: Jahresbetriebsvergleich des Instituts fiir Handelsforschung an der Universität zu Köln
Beide Werte sagen von der Größenordnung her dasselbe aus, werden in der Öffentlichkeit allerdings völlig anders wahrgenommen. Die oben genannten Zahlen der Treuhand Hannover wecken Begehrlichkeiten Dritter, Drogerie- und Lebensmittelmärkten, die mit Gewinnmargen von unter einem Prozent auskommen müssen - und im Arzneimittelmarkt riesige Gewinnchancen vermuten. Die Werte des IfH spiegeln die tatsächliche Situation der Branche wider. Denn Apotheker besitzen beim Betrieb einer Apotheke nicht die Möglichkeit der Wahl der Unternehmensrechtsform; öffentliche Apotheken sind als Einzelunternehmen, OHG oder als GbR zu führen. Deshalb muss bei Rentabilitätsbetrachtungen auch stets (zumindest) der kalkulatorische Unternehmerlohn Berücksichtigung finden. Und mit 80.000 Euro p.a. ist dieser sicher nicht zu hoch angesetzt, wäre bei einer Angestelltentätigkeit z. B. als Geschäftsführer von diesem Betrag doch neben dem Arbeitnehmeranteil der Arbeitgeberanteil (von knapp 12.000 Euro) an Sozialausgaben abzuziehen, will man vergleichbare Werte erhalten.
615 Auf Basis dieser Ausgangslage verbliebe dem „angestellten Apotheken-Geschäftsfiihrer" von einem Jahressalär von 80.000 Euro ein Monatsgehalt von 5.658,45 Euro brutto. Und dieses Gehalt müsste wohl auch einem angestellten Apotheker mit voller Personal- und Umsatzverantwortung in vergleichbarer Position bezahlt werden. Folglich kommen sowohl IfH als auch Treuhand Hannover zu dem gleichen Ergebnis, nämlich einem betriebswirtschaftlichem Betriebsergebnis von rund 0,3 % des Umsatzes. Damit verliert die Attraktivität dieser Branche, bezogen auf die Rendite, bei objektiver Betrachtung wahrlich ihren Reiz. Angesichts der betriebswirtschaftlich wenig erfreulichen Situation und mit sorgenvollen Blicken in die Zukunft treten immer mehr Apothekenleiter Kooperationen bei, erhoffen sie sich hiervon doch insbesondere Vorteile im Einkauf und beim Marketing. So existieren zurzeit mehr als 40 Kooperationen bundesweit, mit ganz unterschiedlichen Ausrichtungen, bis hin zu ersten Formen von Franchiseund Konzept-Apotheken. Rund 75 % der Apotheken sind Mitglied in (mindestens) einer Kooperation; etwa ein Viertel davon ist Mitglied in zwei oder mehr Kooperationen. Experten gehen davon aus, dass die Zahl der Kooperationen in den nächsten Jahren rapide abnehmen wird, wobei es sicher auch zu Zusammenschlüssen von Kooperationen kommen wird. Der Erfolg solcher Kooperationen dürfte wesendich davon abhängen, inwieweit die „Einzelkämpfer" Apotheke(r) sich den Vorgaben des „Befehlens und Gehorchens" in Zukunft beugen werden.
14 Das „Gefangenendilemma" oder Fehlende Anreize für Leistungserbringer im System der GKV Die Gesetzliche Krankenversicherung wird wegen fehlender finanzieller Ressourcen nicht zwingend Motor des Wachstums im Gesundheitsmarkt sein. Freiwillige Beiträge, in Eigenverantwortung der Patienten, fiir in Anspruch genommene Gesundheitsleistungen außerhalb des Leistungskataloges der gesetzlichen Krankenkassen, werden vielmehr Impulsgeber für dieses Wachstum werden. Betrachtet man dieses Szenario, stellt sich spontan die Frage, wer in Zukunft noch im Markt der Gesetzlichen Krankenversicherung tätig sein will und wird. Bereits heute fragen Arzte öffentlich, ob sie ihre Zulassung an die Krankenkassen zurückgeben und sich außerhalb der G K V betätigen sollen. Und auch innerhalb der Apothekerschaft nimmt die Diskussion Fahrt auf, ob man sich in Zukunft mehr als Wirtschaftsunternehmen denn als Heilberuf in diesem Markt bewegen müsse. 2004, mit Einfuhrung des G M G , waren die Apotheker mit überwiegender Mehrheit davon überzeugt, dass die apothekerliche Zukunft pharmazeutisch ent-
616 schieden werde. Die Politik hat diese Vorstellungen des Berufsstandes gern aufgegriffen, als sie den Apotheken im Rahmen der Abgabe verschreibungspflichtiger Arzneimittel eine Honorierung hat zukommen lassen. Einzelne Apotheker sprachen allerdings damals schon von einem „Verzicht auf Zukunft". Ohne wenn und aber setzt die Politik bis heute auf die freien Heilberufe, um über die Ausbildung mit Staatsexamen (Approbation) im Gesundheitswesen eine gesicherte Struktur- und Prozessqualität auf hohem Niveau vorhalten zu können. Die Freien Berufe sind die tragende Säule unseres Gesundheitssystems. Sie sind die Triebkraft für medizinischen und pharmazeutischen Fortschritt. Eine Verbeamtung dieses Bereiches würde die Kreativität eher nicht fördern. Auch deshalb ist die Politik gefordert, dafür zu sorgen, dass die Leistungserbringer im Gesundheitswesen ihren Verpflichtungen entsprechend vergütet werden. Also muss die Politik, wenn sie eine ordnungsgemäße medizinische und pharmazeutische Versorgung für Kassenpatienten sicherstellen will, ftir die Beteiligten entsprechende Anreize vorhalten. Sonst gerät das bisher (noch) bewährte Krankenversicherungssystem in eine Schieflage. Wettbewerbsbedingungen sind auch im Markt der GKV notwendig. Dabei sollte das Gut Gesundheit allerdings nicht grenzenlos dem freien Spiel des Wettbewerbs ausgesetzt werden. Er hat sich wohl eher auf den Leistungswettbewerb zu beschränken, solange am Solidarprinzip festgehalten werden soll. Deshalb ist die Politik gefordert, die Verantwortung in diesem Segment nicht aus den Händen zu geben. Denn neben „Innerer und äußerer Sicherheit", „Rechtsprechung" sowie „Bildung" ist „Gesundheit" der Bereich, in dem der Staat die Rahmenbedingungen vorgeben sollte. Eine Studie des IfH aus 2007 beleuchtet ausfuhrlich die künftigen Funktionen der öffentlichen Apotheken als Kontroll- und Beratungsinstanz für Arzneimittel. Sie stellt fest, dass nicht nur die Beratungsfunktion der öffentlichen Apotheken in einer zunehmend alternden Gesellschaft an Bedeutung gewinnen werde, sondern auch ihre unverzichtbare Rolle als oft letzte Kontrollinstanz vor der Arzneimittelanwendung.
Literatur ABDA, Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände, Berlin Ärzte Zeitung (www.aerztezeitung.de/) BMG (www.bmg.bund.de/) Deutsche ApothekerZeitung/ApothekerZeitung Gesundheit + Gesellschaft (AOK-Magazin) IfH Institut für Handelsforschung GmbH, Köln Informationssystem der Gesundheitsberichterstattung des Bundes; (www.gb bund.de) KBV, Berlin OECD, Health Data 2008; Statistics and indicators for 30 countries; Paris PHAGRO (www.phagro.de/) PKV-Geschäftsbericht Rheinisches Ärzteblatt Statistisches Bundesamt, Wiesbaden Wikipedia (http://de.wikipedia.org) (z.B. für Agenda 2010) Diverse Gesetze, wie SGB V, AMG, ApoG, AMPreisV, ApoBetrO, HWG, .
Frank-Ulrich Fricke
Grundprobleme der Kosten-Nutzen-Bewertung von Medizinprodukten 1
Wozu Kosten-Nutzen-Bewertung von Medizinprodukten?
Die Bewertung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden hat in Deutschland eine lange Tradition. Anders als bei Arzneimitteln mussten schon in der Vergangenheit neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden auf ihren diagnostischen und therapeutischen Nutzen sowie ihrer medizinischen Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit überprüft werden, bevor sie im niedergelassenen Bereich zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung erbracht werden durften. Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden schlössen häufig neue, innovative Medizinprodukte ein. Dabei wird für die Bewertung ausdrücklich das Kriterium der Wirtschaftlichkeit nach § 135 SGB V als Basis der Entscheidung über neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden vorgegeben. Hinzu kommt, dass die Unternehmen in der Medizintechnik kreativ sind, wenn man als Indikator für Kreativität die Zahl der Patentanmeldungen beim Europäischen Patentamt zugrundelegt, wie Abbildung 68 zeigt. Danach lag die Medizintechnik im Jahr 2006 mit (15.752) Patentanmeldungen vor anderen Branchen wie der elektronischen Nachrichtentechnik (13.488), der Datenverarbeitung (8.969) und weiteren Branchen wie in Abbildung 68 dargestellt. Die Unternehmen der Medizintechnik geben 9 % ihres Umsatzes für Forschung und Entwicklung aus und ein Drittel aller Produkte sind jünger als 3 Jahre. 896 Folglich schlagen Medizinprodukte auch bei den Gesundheitsausgaben erheblich zu Buche. 22 Mrd. EUR werden jährlich für Medizinprodukte ausgegeben.897 Von diesen Ausgaben entfallen etwa 50 % auf Hilfsmittel, wie in Abbildung 69 zu erkennen ist.
896 897
Vgl. BVMed Infografik, Stand Juli 2007. Vgl. BVMed Infografik, Stand: Mai 2008.
619
MedTech - eine innovative Branche Zahl der Anmeldungen im Jahr 2006 beim Europäischen Patentamt Die Top-Ten auf technischem Gebiet
15 752
Medizintechnik 13.488
Elektr. Nachrichtentechnik Datenverarbeitung Elektrische Bauteile Organische Chemie Messen/Prüfen Fahrzeugtechnik Biochemie/Gentechnik Organ, makro-molek. Verbindg. Maschinenelemente
Investitionen der Medizintechnologie in Forschung und Entwicklung
rund 9 % des Umsatzes
Produkte, die nicht älter als drei Jahre sind
rund ein Drittel der Produkte Quelle: EPA, BVMed
Abbildung 68: Zahl der Patentanmeldungen beim Europäischen Patentamt im Jahr 2006 Quelle: BVMed Infografik, Stand: Juli 2007.
Medizintechnologie in Deutschland eine bedeutende Branche 12000 Unternehmen, davon 1250 mit mehr als 20 Beschäftigten 170000 Arbeitsplätze + 29 000 im Einzelhandel für medizinische und orthopädische Güter + 7 000 Gesundheitstechniker Gesundheitsausgaben für Medizinprodukte' über 22 Mrd. Euro davon 10.9 Mrd. Euro Hilfsmittel
Produktion im Wert von 17,4 Mrd. Euro davon Exportumsatz
11,2 Mrd. Euro
Inlandsumsatz
6,2 Mrd. Euro "ohne Investitionsgüter
sonst, medizinischer Bedarf
9,7 Mrd. Euro
Verbandmittel
ca. 1 Mrd. Euro
Quelle: BVMed. Spectarls, Stat. Bundesamt
Abbildung 69: Gesundheitsausgaben für Medizinprodukte Quelle: BVMed Infografik, Stand: Mai 2008.
620 Neue, innovative Medizinprodukte können die Versorgung von Patienten innerhalb und außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung erheblich verbessern, sie können aber auch schaden. Nicht alles was neu ist, ist auch gut, nicht alles was gut ist, ist auch ökonomisch effizient. So finden sich auch neue Medizinprodukte, deren Nutzen in der Versorgung nur schwer zu belegen ist. Damit fällt es einem kollektiven Sicherungssystem wie der gesetzlichen Krankenversicherung schwer, diese neuen Technologien 898 zu Lasten der Versichertengemeinschaft für gesetzlich krankenversicherte Patienten bereitzustellen. 899 Dies hat in der Vergangenheit dazu geführt, dass eine Reihe von Gesundheitstechnologien von der Versorgung gesetzlich krankenversicherter Patienten im Krankenhaus ausgeschlossen worden sind. Zu diesen ausgeschlossenen Technologien zählen zum Beispiel die autologe Chondrozytenimplantation (ACI) an bestimmten Gelenken, die hyperbare Sauerstofftherapie (HBO) in bestimmten Indikationen, die Protonentherapie bei bestimmten Indikationen und die Positronenemissionstomographie (PET; PET/ CT) bei bestimmten Indikationen. 900 Die Ausschlüsse erfolgten im Wesentlichen mit Hinweis auf fehlende Nutzenbelege. Während fiir die Versorgung gesetzlich Krankenversicherter im Krankenhaus Gesundheitstechnologien explizit ausgeschlossen werden müssen, gilt in der ambulanten Versorgung, dass Methoden, die nicht im Einheitlichen Bewertungsmaßstab explizit gelistet sind, nicht zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung in der ambulanten Versorgung erbracht werden dürfen. Der Gesetzgeber behandelt den ambulanten und stationären Bereich der Versorgung folglich unterschiedlich. Dahinter steht die Vorstellung, dass neue Gesundheitstechnologien am besten über das Krankenhaus und die dort behandelnden Spezialisten in die Versorgung eingeführt werden sollten. 901 Darüber hinaus legt die bisherige Finanzentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung ebenso wie die Berechnungen des Schätzerkreises hinsichtlich der zukünftigen Finanzentwicklung Sparsamkeit im Umgang mit Versichertengeldern 898
899
900
901
Der Begriff der Technologie oder Gesundheitstechnologie wird in dieser Arbeit als Synonym für Gesundheitsgüter und -dienstleistungen eingesetzt. Mit dem Begriff „Technologie" werden also auch Dienstleistungen, Arzneimittel und neue Prozesse erfasst. Siehe dazu beispielhaft die Diskussion und das Grundsatzgutachten des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Gesetzlichen Krankenversicherung über „Roboterunterstützte Fräsverfahren am coxalen Femur bei Hüftgelenkstotalendoprothesenimplantation" vom April 2 0 0 4 . Siehe dazu § 4 der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zu Untersuchungs- und Behandlungsmethoden im Krankenhaus (Richtlinie Methoden Krankenhausbehandlung) in der Fassung vom 18. Februar 2 0 1 0 mit genaueren Angaben zu den Einschränkungen bei Gelenken und Indikationen. Ob diese Vorstellung sachgemäß ist, soll hier nicht weiter verfolgt werden. Zweifel sind jedoch angebracht. Die institutionelle Anbindung von Ärzten muss nicht zwingend mit ihrer Qualifikation zusammenhängen.
621 nahe. So erwartet der Schätzerkreis der gesetzlichen Krankenversicherung für das Jahr 2011 zwar Einnahmen des Gesundheitsfonds in Höhe von 181,1 Mrd. € und voraussichtliche Ausgaben der Krankenkassen von 178,9 Mrd. €. Dabei sind allerdings die Maßnahmen des Gesetzgebers im Rahmen des Haushaltsbegleitgesetzes 2011, des GKV-Finanzierungsgesetzes und des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes bereits berücksichtigt. 902 Mithin ist für die kommenden Jahre immer wieder mit gesetzgeberischen Eingriffen in das System zu rechnen und gleichzeitig bleibt das Ziel eines ökonomisch effizienten Einsatzes von Versichertengeldern in der gesetzlichen Krankenversicherung oberstes Gebot. Aus diesen Gründen ist eine Kosten-Nutzen-Bewertung von Medizinprodukten ebenso wie aller anderen Gesundheitstechnologien unerlässlich. 903
2
Kosten-Nutzen-Bewertung — was ist das?
Kosten-Nutzen-Bewertungen sind nicht neu und erleben derzeit auch mit der Reformgesetzgebung der Obama-Administration in den USA eine Renaissance. 904 Die Diskussion um die Bewertung von Gesundheitsgütern und -dienstleistungen wird national und international seit vielen Jahren gefuhrt. Leider hat die Diskussion nicht immer Folgen für die praktische Gesundheitspolitik gehabt. Wie bereits erwähnt hat die Bewertung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden etwa durch den Bundesausschuss Arzte/Krankenkassen, die Vorläufer-Institution des Gemeinsamen Bundesausschusses, in Deutschland eine lange Tradition. 905 Allerdings haben in der Vergangenheit Wirtschaftlichkeitsargumente kaum eine Rolle gespielt, da in der Mehrzahl der Fälle die klinische Beleglage für unzureichend gehalten wurde. 906 Kosten-Nutzen-Bewertungen vergleichen grundsätzlich zwei oder mehrere Alternativen anhand der mit ihnen verbundenen Kosten und Nutzen. Im einfachsten Fall eines Autokaufs wird man die Kosten der in Frage kommenden Modelle ermitteln und dem subjektiv empfundenen Nutzen gegenüberstellen. Naturgemäß sind dabei die Kriterien, die Menschen beim Kauf eines Autos anlegen, unterschiedlich und abhängig von den individuellen Präferenzen. Beispielhaft ist das Siehe dazu auch die Pressemitteilung des Bundesversicherungsamtes vom 30. September 2010. 9 0 3 Auf die Frage, wer solche Bewertungen durchfuhren sollte, kann an dieser Stelle nicht ausfuhrlich eingegangen werden. Es spricht aber viel dafür, dass es auch bei Kosten-NutzenBewertungen keine „allein seligmachende" Wahrheit gibt. Siehe zu einer Übersicht der „Bewertungsgeschichte" mit einem Schwerpunkt auf der Entwicklung der Gesundheitsökonomie Leidl, R, (1994). 9 0 ' Siehe zur Arbeit des Bundesausschuss Arzte/ Krankenkassen etwa Niebuhr, D et al., (2003). 9 0 6 Siehe dazu Neumann, U et al., (2007). 902
622 in Abbildung 70 anhand der Präferenzen des Verfassers dargestellt. So könnte die aktuelle Entscheidung über ein neues Auto sich am Referenzmodell eines V W Passat Kombi orientieren und als Alternativen kämen ein Lada Kombi oder ein Audi A6 Avant in Frage. Die Einordnung der Fahrzeugmodelle in die Quadranten 2 und 3 basiert auf den Einschätzungen des Verfassers hinsichdich der Kosten und Nutzen der Modelle und auf einem Vergleich mit dem Referenzmodell des V W Passat Kombi. Fahrzeuge, die in den Quadranten 1 einzuordnen wären, kommen nicht in Frage. Wer will schon mehr ausgeben und weniger dafür bekommen? Fahrzeugmodelle, die in den Quadrant 4 einzuordnen wären, bedürften keiner weiteren Abwägung, da jeder vermutlich ein Modell, dass nicht nur weniger kostet, sondern auch mehr individuellen Nutzen „liefert", als dominante Alternative betrachten würde und damit den anderen Modellen vorzieht. 9 0 7
Schlechter und teurer
Besser, aber teurer
1
AUDI
o
X
VW Schlechter, aber billiger
Besser und billiger
LADA | Niedrigerer Nutzen"
Höherer Nutzen
Abbildung 70: Das Grundprinzip einer Kosten-Nutzen-Bewertung Quelle: Eigene Darstellung.
Unklar bleibt allerdings auch in dieser Entscheidungssituation, fur welches Modell sich der potenzielle Käufer entscheiden wird, denn das individuell verfugbare Budget für den Autokauf muss noch berücksichtigt werden genauso wie die individuelle Zahlungsbereitschaft für eine zusätzliche Nutzeneinheit. Vorteilhaft ist in dieser Situation, dass der Autokauf nicht Gegenstand einer solidarischen Mobilitätsversicherung ist, bei der sich der Gemeinsame Bundesausschuss fur die gesetz907
U m an dieser Stelle keine weiteren Diskussionen mit Auto-Experten auszulösen, hat der Verfasser auf die Nennung dominanter (und auch inferiorer) Alternativen verzichtet.
623 liehe Mobilitätsversicherung streng nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Mobilitätsleistung entscheiden müsste, die das Maß des Notwendigen nicht überschreitet. 908 Glücklicherweise gibt es eine solche Versicherung nicht. Ansonsten wäre mit ernsten Konsequenzen für die Vielfalt des Autoangebots und die Befriedigung individueller Präferenzen zu furchten. Der „Volkswagen" als Ergebnis des Wirtschaftlichkeitsgebots in der Gesetzlichen Mobilitätsversicherung würde vermutlich erhebliche Diskussion auslösen. 909 Gesundheitsgüter und -dienstleistungen, die zur Behandlung von gesetzlichen krankenversicherten Patienten eingesetzt werden, müssen gemäß § 12 SGB V wirtschaftlich sein. Kosten-Nutzen-Bewertungen werden eingesetzt, um den Nachweis der Wirtschaftlichkeit zu erbringen. Dabei entsteht naturgemäß eine Diskussion darüber, welche Vorgehensweise in der Kosten-Nutzen-Bewertung die angemessene ist: •
Welche Kosten sind zu berücksichtigen?
•
Welche Parameter werden zur Bestimmung des Nutzens herangezogen?
•
Welche (Zusatz-Kosten)-(Zusatz-Nutzen)-Relation ist akzeptabel?
Ferner stellt sich die Frage, ob der Ausschluss einer Leistung aufgrund einer Kosten-Nutzen-Bewertung im „Ernstfall" überhaupt rechtlich Bestand hat. 9 1 0 Bevor es jedoch soweit ist, ist zu klären, welche Kosten bei der Bewertung berücksichtigt werden sollten. Dabei geht es um die Betrachtungsperspektive, aber auch um die Bewertung der eingesetzten Güter und Diensdeistungen, die aus ökonomischer Sicht zu Opportunitätskosten erfolgen sollte, die aber in der Regel unter Anwendung der verschiedenen Tarifwerke 911 , die in der gesetzlichen Krankenversicherung gültig sind, bestimmt werden. Kosten und Nutzen lassen sich nach ihrem Entstehungsort systematisieren, wie in Abbildung 71 dargestellt ist. 908 909
910
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Siehe dazu § 12 S G B V. Es wäre schön, wenn der Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung dies auch auslösen könnte. Siehe dazu grundsätzlich das so genannte „Nikolaus-Urteil" des Bundesverfassungsgerichts vom 6.12.2005. Danach gilt: „Es ist mit den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 G G in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 G G nicht vereinbar, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfugung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht." (BVerfG, 1 BvR 347/98 vom 6.12.2005) Zu den verschieden eingesetzten Tarifwerken gehören etwa der Einheitliche Bewertungsmaßstab (EBM), die Gebührenordnung für Arzte (GOÄ), das deutsche Fallpauschalensystem (G-DRG) und gegebenenfalls auch der DKG-Nebentarif.
624 Kosten • im Gesundheitswesen • • •
•
•
Arzneimittel Krankenhausaufenthalte Arztbesuche Diagnosen
beim Patienten und seiner Familie • • • •
Nutzen • nicht veranlasste Kosten
Zuzahlungen Fahrtkosten häusliche Anpassungen Arbeits- und Freizeit
• • •
•
im Gesundheitswesen beim Patienten und seiner Familie in anderen Bereichen
Effekte • • •
gewonnene Lebensjahre Nutzwerte Netto-Ergebnisse
in anderen Bereichen • •
Pflegeaufwendungen Rentenzahlungen
Abbildung 71: Kosten und Nutzen einer Krankenbehandlung Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Drummond et al. (2005), S. 32.
Auf Basis dieser oder ähnlicher Systematisierungen können Krankheitskostenstudien zur Bestimmung der Versorgungskosten in einer bestimmten Indikation durchgeführt werden. Die Daten aus solchen Studien können herangezogen werden, um bei unterschiedlichen Vorgehensweisen die durchschnittlichen Kosten der Behandlung von Patienten darzustellen. 912 Kosten und Nutzen lassen sich systematisieren wie in Abbildung 7 1 . Dabei interessiert sich die gesetzliche Krankenversicherung in erster Linie fiir Kosten, die im Gesundheitswesen entstehen. Darüber hinausgehende Kostenbetrachtungen sind für die Verantwortlichen einer Krankenkasse minder relevant. Dagegen interessieren sich andere Sozialversicherungsträger eher für die Aufwendungen, die in ihren Verantwortungsbereich fallen, und aus gesellschaftlicher Perspektive ist eine umfassende Betrachtung unter Berücksichtigung aller Kosten, also auch der Belastungen für Patienten und ihre Familienangehörigen, sinnvoll. Aus diesen interessegeleitet unterschiedlichen Perspektiven entsteht im Einzelfall die Notwendigkeit, eine Analyseperspektive zu wählen. Aus gesellschaftlicher Perspektive muss man eine umfassende Betrachtung aller Kosten und Nutzen fordern. Diese Perspektive wird aber nur selten entscheidungsrelevant für die Gesetzliche Krankenversicherung sein.
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Siehe dazu etwa beispielhaft für einen „Bottom-up-Ansatz", bei dem auf Basis einer Stichprobe von Patienten in der jeweiligen Indikation die Krankheitskosten bestimmt wurden, Ehlken, B et al. (2005).
625 Auch auf der Nutzenseite gibt es Unterschiede bei der Beantwortung der Frage, was als Nutzen zu betrachten ist. So wird aus medizinischer Perspektive häufig auf die Wirksamkeit unter experimentellen Bedingungen verwiesen, mitunter wird auch die Wirksamkeit unter Alltagsbedingungen berücksichtigt. Zu Letzterem ist die Datenlage in Deutschland aber eher beklagenswert als hilfreich, da die Bereitschaft zur Durchfuhrung und Finanzierung von Versorgungsforschung bislang eher gering ausgeprägt ist. 913 Nutzenbewertungen, wie sie bislang in Deutschland etwa vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen durchgeführt werden, konzentrieren sich bislang auf klinische Studien, weil deren interne Validität besonders hoch eingeschätzt wird. 914 Mithin wurden bislang Nutzenbewertungen auch für ausreichend gehalten, um versorgungsrelevante Entscheidungen über den Einsatz von Gesundheitstechnologien zu treffen. Die ökonomisch relevante Perspektive allerdings, die Betrachtung der Relation aus zusätzlichen Kosten zu zusätzlichem Nutzen im Rahmen einer Kosten-Nutzen-Analyse, wird häufig nur von Gesundheitsökonomen eingefordert, ist bislang aber für Allokationsentscheidungen im Gesundheitswesen nicht ausschlaggebend gewesen. Die experimentelle Wirksamkeit hatte in der Vergangenheit einen hohen Stellenwert. Daten aus klinischen Studien (dem Experiment), durchgeführt an ausgewählten Patienten mit ausgewählten Facetten der jeweiligen Erkrankung, unter genauer Vorgabe eines Behandlungsprotokolls im Rahmen des Zulassungsprozesses, waren schon in der Vergangenheit von den Herstellern einzureichen und stehen zur Verfügung, da sie bereits im Zulassungsprozess erforderlich sind. Allerdings ist damit die ,Alltagstauglichkeit" des jeweiligen Produkts noch nicht belegt. Außerdem sind die Fragestellungen, die Zulassungsbehörden interessieren, teilweise andere als die Fragestellungen, die Institutionen interessieren, die die Erstattung von Produkten im jeweiligen Sozialversicherungssystem zu beurteilen haben. 915 Die Bereitstellung von Wirksamkeitsdaten aus dem Versorgungsalltag soll die Frage beantworten, ob das Ergebnis der klinischen Studie (des Experiments) auch unter den Bedingungen des Alltags erhalten bleibt. Dahinter steht die Vorstellung, dass der Effekt im Experiment unter herkömmlichen Umweltbedingungen
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Auf die Gründe hierfür kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Siehe dazu auch Fricke, FU (2003). Dort werden die verschiedenen Handlungsmotive der Akteure im deutschen Gesundheitswesen näher beleuchtet. Dies fuhrt zu der Forderung, dass auch Versorgungsforschung möglichst mit den Methoden der klinischen Studien durchzufuhren ist. Siehe dazu ausfuhrlicher Eichler, HG et al. (2010).
626 allenfalls noch teilweise aufrecht zu erhalten ist. 9 1 6 Damit folgt für die Hersteller von Medizinprodukten die Forderung nach Registerdaten und der Nachverfolgung des Einsatzes von Medizinprodukten im Versorgungsalltag. Schließlich ist aus ökonomischer Sicht von besonderem Interesse, ob neue Technologien im Vergleich zu bereits vorhandenen im Versorgungsalltag nicht nur einen größeren Effekt aufweisen, sondern auch ob die damit verbundenen Kosten aus Sicht des jeweiligen Gesundheitssystems akzeptabel sind. 9 1 7 Dazu werden in der Regel Kosten-Nutzen-Bewertungen vorgenommen, die inzwischen international die Zulassung neuer Technologien ergänzen. Damit ergeben sich bereits drei unterschiedliche Auffassungen zum Nutzen einer neuen Gesundheitstechnologie (Wirksamkeit in der Studie, Wirksamkeit im Versorgungsalltag, Kosten-Effektivität). Hinzu kommt, dass erhebliche Auffassungsunterschiede zwischen den verschiedenen Beteiligten im Versorgungalltag hinsichtlich der Messgrößen des Nutzens bestehen. So werden häufig Surrogatparameter im Rahmen von klinischen Studien zur Darstellung von Sicherheit und Wirksamkeit einer Gesundheitstechnologie eingesetzt, während gerade diejenigen, die Entscheidungen über den Einsatz dieser Technologien auf Kosten der jeweiligen Versichertengemeinschaft oder Gesellschaft treffen, patienten-relevante, klinische Endpunkte fordern. Dabei bezeichnet man als klinischen Endpunkt ein Ereignis oder eine gesundheitliche Veränderung, das oder die den Patienten spürbar betrifft. Surrogatparameter sind hingegen klinische oder labormedizinische Veränderungen, die eine häufig eher künftige gesundheitliche Veränderung ankündigen. Dabei muss zumindest der Zusammenhang zwischen Surrogatparameter und klinischem Endpunkt in Studien belegt sein. 9 1 8
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Diese Vorstellung von einer Einbahnstraße abnehmender Effektivität ist logisch unvollständig. Denkbar ist, auch, dass sich im Versorgungsalltag positive Effekte zeigen, die im Experiment nicht zu erkennen waren. Allerdings können diese Aspekte hier nicht weiter vertieft werden. Akzeptabel hängt von den jeweiligen Rahmenbedingungen des Gesundheitssystems ab. Dabei ist der Wohlstand von Gesellschaften besonders zu erwähnen, der letztlich definiert, welches Ausmaß an Absicherung des Einzelnen durch die Gemeinschaft zur Verfügung gestellt werden kann. Die W H O trägt dem Rechnung, in dem im Rahmen des W H O C H O I C E Programms die Kosteneffektivität von Gesundheitstechnologien daran gemessen wird, ob die Kosten pro Nutzeneinheit das Dreifache des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts nicht übersteigen (siehe dazu weiter unten). Streng genommen muss der Zusammenhang zwischen der Intervention, also der jeweiligen neuen Gesundheitstechnologie, und Surrogatparameter sowie Endpunkt belegt sein. Siehe zu Surrogatparametern und Endpunkt im Detail Manns, B. et al. (2006).
627 Vor diesem Hintergrund der Auffassungsmöglichkeiten des Nutzens fordert der Gemeinsame Bundesausschuss zum Beleg des Nutzens neuer Medizintechnologien den •
Nachweis der Wirksamkeit und der therapeutischen Konsequenz im Vergleich zu anderen Methoden gleicher Zielsetzung und
•
Im Versorgungskontext insgesamt den Nachweis des Nutzens einer Methode durch qualitativ angemessene Unterlagen möglichste der Evidenzstufe l 9 1 9 mit patientenbezogenen Endpunkten (z. B. Mortalität, Morbidität, Lebensqualität). 920
Hat man auf diese oder ähnliche Weise Kosten und Nutzen festgestellt, bleibt trotzdem die Frage offen, welche zusätzlichen Kosten sind durch den zusätzlichen Nutzen einer neuen Gesundheitstechnologie gerechtfertigt? Um diese Frage beurteilen zu können, gibt es in vielen Ländern so genannte Schwellenwerte der Kosteneffektivität wie in Abbildung 72 dargestellt. Diese Schwellenwerte werden als Grenzwerte verstanden, bei deren Überschreitung die jeweilige Gesundheitstechnologie nicht mehr als kosteneffektiv gelten soll. Es handelt sich folglich um ein rein normatives Kriterium, dass bislang allenfalls theoretisch „irgendwie" aus dem gemeinsamen Willen der jeweiligen Gesellschaft oder Versichertengemeinschaft abgeleitet werden kann. 9 2 1 Solche Schwellenwerte zur Bestimmung von Katalogen von Gesundheitstechnologien, die zu Lasten der jeweiligen Gemeinschaft erbracht werden, werden auch von der W H O im Rahmen des WHO-CHOICE-Programms unterstützt. 922 Danach gelten als Schwellenwerte der Kosteneffektivität das Dreifache des Bruttoinlandsprodukts des jeweiligen Landes. Die flexible Ausrichtung solcher Schwellenwerte darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie willkürlich gesetzt sind.
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Studien werden abhängig von der „Versuchsanordnung" in unterschiedliche Evidenzstufen eingeteilt. Zur Evidenzstufe 1 zählt der Gemeinsame Bundesausschuss insbesondere systematische Übersichtsarbeiten randomisierter kontrollierter Studien und randomisierte kontrollierte Studien selbst. Siehe zur Nutzenbewertung aus Sicht des Gemeinsamen Bundesausschusses die Verfahrensordnung desselben vom 27.12.2009, hier insbesondere das 2. Kapitel die Abschnitte 3 und 4. Auf die Problematik zur Bestimmung solcher Schwellenwerte und den damit verbundenen Folgen für den Einzelnen in einer freiheitlichen Gesellschaft kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Siehe hierzu http://www.who.int/choice/costs/CER_thresholds/en/index.html (Zugriff 28.01.2011).
628 Table II. Current thresholds for the cost of an intervention per quality-adjusted life-year gained Country
Threshold cost
Reference
Australia Canada Netherlands Sweden United Kingdom United States
AUS$42 000-76 000 Can$20000-100 000 Euro 20000 S E K 500000 £30000" US$50000-100000
George et al.|6L Laupacis et al. |e] Rutten and Drummond Johannesson National Institute for Clinical Excellence Earleetal.
SEK = Swedish Kroner. "Most products recommended by the National Institute for Clinical Excellence fall below this threshold.
Abbildung 72: Schwellenwerte der Kosteneffektivität von Gesundheitstechnologien Quelle: Jönssen, B (2004), S. 9.
Darüber hinaus werden zur Bestimmung der Kosteneffektivität häufig QALYs als Nutzenparameter eingesetzt. QALY steht für qualitäts-adjustiertes Lebensjahr, das als Konzept in Deutschland umstritten ist. Schwellenwerte kommen als Instrument zur Bestimmung von Leistungskatalogen in Deutschland vor dem Hintergrund des Nikolaus-Urteils des Bundesverfassungsgerichts wie oben bereits angeführt nicht in Frage. Daher ergibt sich die Frage, wie in Deutschland über das angemessene Verhältnis von zusätzlichem Nutzen zu zusätzlichen Kosten diskutiert werden soll. 9 2 3 Auf der abstrakten Ebene wird dies aus heutiger Sicht mangels allgemein in Deutschland anerkannter Instrumente wie Schwellenwerte und QALYs kaum möglich sein. Auf der Ebene des Einzelfalls wird es wohl immer wieder zu Entscheidungen kommen, die in ihrer Gesamtheit möglicherweise Orientierung bieten können. Das wird allerdings stark davon abhängen, ob diese Entscheidungen hinreichend zueinander passen und ein gemeinsames Muster erkennen lassen, das sich als Entscheidungsheuristik eignet. Damit dürfte insgesamt deutlich werden, dass die Bestimmung der Kosteneffektivität von Gesundheitstechnologien schwierig ist. Die Bestimmung der zu berücksichtigen Kosten, die Festlegung des Nutzens und der jeweiligen Messgrößen sowie die Bestimmung eine Schwelle, bei deren Überschreitung Kosteneffektivität nicht mehr gegeben ist, lösen eine Menge von Einzelfragen aus, die je nach Bewertungsperspektive unterschiedlich beantwortet werden.
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Ob dabei die Einlassungen des Deutschen Ethikrats in seiner Stellungnahme „Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen - Zur normativen Funktion ihrer Bewertung" vom 27.1.2011 hilfreich sein können, muss hier offenbleiben. Das bislang diskutierte Effizienzkurvenkonzept des Instituts fiir Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen mit seinen normativen Implikationen bedarf ebenfalls der gesellschaftlichen Diskussion und Legitimation.
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Gibt es bei Medizinprodukten Besonderheiten?
Gibt es Besonderheiten, die zu anderen Regeln für den Umgang mit neuen Medizinprodukten zu diagnostischen oder therapeutischen Zwecken fuhren sollten? Grundsätzlich wird man diese Frage verneinen müssen. Der Beleg der Sicherheit und Wirksamkeit muss auch für Medizinprodukte gefordert werden. Kosten und Nutzen neuer Medizinprodukte sind genauso zu analysieren wie Kosten und Nutzen von Arzneimitteln und weiteren Gesundheitsgütem und -dienstleistungen. Grundsätzlich ist nicht zu erkennen, warum bei den Kriterien zur Aufnahme in den Katalog der Gesundheitsgüter und -dienstleistungen, die zu Lasten des sozialen Sicherungssystems erbrachten werden sollen, zwischen verschiedenen Arten von Gütern und Dienstleistungen differenziert werden soll. Allerdings könnte es im Einzelfall zu Abweichungen von den üblichen Spielregeln kommen, wenn die Eigenarten der jeweiligen Technologie dies erfordern. So sind randomisierte kontrollierte Studien bei Medizinprodukten nicht immer möglich. Mitunter ist die erforderliche Studiendauer zur Erreichung des patientenrelevanten Endpunkts zu lang, die notwendige Stichprobengröße zu groß oder die geeignete Patientenklientel ist nicht in ausreichender Zahl vorhanden. Auch ethische Gründe können gegen die Durchführung einer randomisierten kontrollierten Studie sprechen. Darüber hinaus hängt die Wirksamkeit von Medizinprodukten stärker als die Wirksamkeit von Arzneimitteln von anderen Faktoren als nur dem jeweils eingesetzten Produkt ab. Medizinprodukte müssen oft von Chirurgen und anderen medizinischen Leistungserbringern an den Ort ihrer Wirkung gebracht werden, diagnostische Verfahren und deren Ergebnisse hängen vom Verfahren, dem eingesetzten Produkt (z.B. Kontrastmittel), der Qualität der technischen Durchführung, der Fähigkeit des diagnostizierenden Arztes, das Ergebnis angemessen zu interpretieren, und der Fähigkeit des behandelnden Arztes, das diagnostische Ergebnis angemessen umzusetzen, ab. Dies zeigt die nachstehende Abbildung 73 von Wörz et al. in Anlehnung an Fryback and Thornbury deutlich.
630 Tabelle 11: Hierarchisches Modell der Evaluierung diagnostischer Tests Level 1: Technische Qualität Level 2: Diagnostische Genauigkeit
Level 3: Diagnostischer Impact
Level 4: Therapeutischer Impact Level 5: Nutzen aus der Perspektive des Patienten Level 6:
Demonstration der Korrelation der Diagnose (pathologisch gesichert) mit dem Testergebnis Untersuchung der Inter- und Intra-Rater-Reliabilität Eindeutige Auswertungskriterien für den Test müssen vorliegen Bestimmung von Sensitivität und Spezifität an ausreichend großen Stichproben bzw. mit Hilfe von Metaanalysen Repräsentation eines möglichst breiten Spektrums von Patienten / Krankheitsstadien Etablierung von Referenzwerten Vergleich von zwei Tests bei einem Patienten in zeitlich naher Abfolge und zufälliger Reihenfolge Verbündete (d. h. ohne Kenntnis von Krankheitszustand und Ergebnis des jeweils konkurrierenden Tests) Auswertung der Testergebnisse Vergleich mit Goldstandard Demonstration therapeutischer Konsequenzen im Vergleich mit Hilfe klinischer Studien (vorzugsweise RCTs) Verwendung expliziter Kriterien zur Demonstration des therapeutischen Impacts wie therapeutischer Impact, aber Betonung auf patientenrelevante Endpunkte wie funktioneller Status, Schmerzstatus, Lebensqualität Demonstration mit Hilfe von RCTs, aber auch retrospektiver Studien (ethisch weniger problematisch), Entscheidungsanalyse Nutzen und Kosten-Nutzen aus gesellschaftlicher Sicht
Nutzen aus gesellschaftlicher Perspektive
Abbildung 73: Nutzenaspekte diagnostischer Maßnahmen Quelle: Wörz, M. et al. (2002), S. 93.
Damit dürfte klar sein, dass weder eine pauschale Ablehnung bestimmter Studientypen, etwa randomisierter kontrollierter Studien, noch das pauschale Fordern eines bestimmten Studienstandards weiterfuhrt. Im Einzelfall müssen geeignete Studienformen festgelegt und auch begründet werden. Es gibt folglich Besonderheiten von Medizinprodukten. Aber damit lassen sich keine grundsätzlichen Ausnahmen von der Bewertung begründen. Vielmehr müssen im Einzelfall genauer die einsetzbaren Methoden festgelegt und begründet werden.
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Fazit
Kosten-Nutzen-Bewertungen sind in sozialen Sicherungssystemen unumgänglich. Die Gemeinschaft der Zahler ist nicht unbegrenzt zahlungswillig. Mit begrenzten Mitteln muss möglichst effizient umgegangen werden, um möglichst viele potenzielle Patienten versorgen zu können. Nutzenbelege sind für eine qualitativ hochstehende Versorgung zwingend und bei Mittelkonkurrenz in der GKV unvermeidlich. Aber Kosten-Nutzen-Bewertungen sind lediglich ein Hilfsmittel
631 zur Entscheidungsvorbereitung über die Aufnahme von Gesundheitsgütern und -diensdeistungen in den Leistungskatalog der GKV. Eine Entscheidung ersetzen sie nicht. Dazu bedarf es gesellschaftlicher Abstimmungsprozesse, die mehr Aspekte berücksichtigen als nur Kosten und Nutzen aus ökonomischer Perspektive.924 Auch wenn die Besonderheiten von Medizinprodukten den Nutzenbeleg mitunter erschweren, kann das nicht zum Verzicht auf den Nutzenbeleg fuhren. Künftig wird stärker die Diskussion darüber gefuhrt werden müssen, welche Evidenzanforderungen zu den jeweiligen Eigenarten von Medizinprodukten passen und welche Abweichungen vom Ideal akzeptabel sind. Schließlich fuhren hohe Anforderungen an Nutzenbelege für Medizinprodukte auch zu höheren Kosten. Hohe Versorgungsqualität hat ihren Preis.
Literatur Drummond, M et al. (2005): Methods for the Economic Evaluation of Health Care Programmes, Oxford. Ehlken, B et al. (2005): Krankheitskostenstudie bei Patienten mit atopischem Ekzem in Deutschland, in: Der Hautarzt, Vol. 56, S. 1144-1151. Eichler, H. G. et al. (2010): Relative efficacy of drugs: an emerging issue between regulatory agencies and third-party payers, in: Nature Reviews Drug Discovery, published online 26 February 2010, S. 1-15. Fricke, F. U. (1996): Der Arzt in Zeiten ökonomischer Zwänge, in: Med Klin, Vol 12, S. 809-11. Fricke, F. U. (2003): Zur Politikrelevanz der Gesundheitsökonomie, in: Informatik, Biometrie und Epidemiologie in Medizin und Biologie, Vol. 34, S. 67-80. Jönssen, B. (2004): Changing Health Environment: The Challenge to Demonstrate Cost-Effectiveness of New Compounds in: Pharmacoeconomics, Vol. 22, S. 5-10. Leidl, R. (1994): Gesundheitsökonomie als Fachgebiet, in: Zeitschrift fiir Gesundheitswissenschaften/Journal of Public Health, 2 (2), S. 131-148. Manns, B. et al. (2006): Surrogate Markers in Clinical Studies: Problems Solved or Created? in: American Journal of Kidney Diseases, Vol. 48, S. 159-166.
924
Siehe dazu grundsätzlich Fricke, FU (1996).
632 Neumann, U. et al., (2007): Regulation der Aufnahme von innovativen nichtmedikamentösen Technologien in den Leistungskatalog solidarisch finanzierter Kostenträger, in: Schriftenreihe Health Technology Assessment, Bd. 64, herausgegeben vom Deutschen Institut fiir Medizinische Dokumentation und Information, Köln. Niebuhr, D. et al., (2003): Verfahren und Kriterien zur Konkretisierung des Leistungskatalogs in der Gesetzlichen Krankenversicherung, Arbeitspapier des ZeS Nr. 5/2003. Wörz, M. et al. (2002): Innovative Medizinprodukte im deutschen Gesundheitswesen. Wege und Verfahren der Bewertung im Hinblick auf Regelungen zur Marktzulassung und Kostenübernahme von innovativen Medizinprodukten, Baden-Baden.
Hartwig Bauer
Kooperation zwischen Ärzten und Industrie: Der Umgang mit Interessenkonflikten Interessenkonflikte in allen Bereichen des Gesundheitswesens sind in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der öffendichen Diskussion geraten und haben so auch ihren Niederschlag in den Medien gefunden. 925 In Deutschland hat diese Debatte, theoretisch fundiert auch in der Wissenschaftsethik, vergleichsweise spät eingesetzt.926 Die Kooperation von Ärzten mit der Industrie wird sowohl in der Öffentlichkeit als auch in Fachkreisen in ihren Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung kritisch hinterfragt und dabei entsprechender Handlungsbedarf angemahnt. Die Gefahr vor allem für das ärztliche Urteilsvermögen wurde lange Zeit ungenügend wahrgenommen, zurückzuführen nicht zuletzt auf ein unterentwickeltes Unrechtsbewusstsein, aber auch auf eine in unserem Lande erst verspätet in Gang gekommene straf- und dienstrechtliche Bewertung nicht regelkonformen Verhaltens, das heute als Health Care Compliance in der internationalen Diskussion einen hohen Stellenwert einnimmt. Es geht um einen öffentlich nachvollziehbaren und Vertrauen schaffenden Umgang mit Interessenkonflikten, will man das Ansehen und die gesellschaftliche Stellung des Arztberufes erhalten. 927
1
Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Industrie
Eine enge Kooperation und Zusammenarbeit zwischen Ärzten oder ganz allgemein medizinischem Personal und der Industrie ist unerlässlich. Gemeinsame Ziele sind dabei die Entwicklung, Bewertung und der Transfer von Innovationen, eine kontinuierliche Prozessoptimierung und eine entsprechende qualifizierende Schulung unter dem gemeinsamen Ziel einer Steigerung der Versorgungsqualität.
925
926
927
Schmincke P. Schwarze Schafe im weißen Kittel, in: Financial Times Deutschland 5 . 1 1 . 2 0 1 0 ; Vec M. Wann sind wissenschaftliche Fortbildungen ein Fall von Bestechung?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 1 0 . 1 1 . 2 0 1 0 ; Kunstmann M. Gläserner Professor. Zeigt her eure Kosten, in: DER SPIEGEL 3 . 1 . 2 0 1 1 . http://www.spiegel.de/unispiegel/jobmed beruf/9,1518,736217.00.html; Rögener W. Korruption am Krankenbett. Wie Pharmaindustrie, Apotheker und Ärzte weiterhin alle Gesetzeslücken nutzen, um sich zu bereichern, in: Süddeutsche Zeitung 1 9 . 1 . 2 0 1 1 . Martiny A. (2008): Interessenkonflikte im deutschen Gesundheitswesen. Transparency International Deutschland e.V., in: Scheinwerfer 4 1 ; Heft 13: S.7. Klemperer D. (2008): Interessenkonflikte: Gefahr für das ärztliche Urteilsvermögen, in: Deutsches Ärzteblatt, 105. Jg., Nr. 40, S. 2 0 9 6 - 2 1 0 0 .
634 Deutlich wird das bei einem Blick auf die Unternehmen der Medizintechnik, die insgesamt als hochinnovative Branche, gemessen an der Zahl der Anmeldungen beim Europäischen Patentamt, weit an der Spitze liegt (Abbildung 74). Nach Erhebungen des Bundesverbandes Medizintechnik (BVMed) sind rund ein Drittel der Produkte nicht älter als 3 Jahre. 50 Prozent der Innovationen sind vom medizinischen Personal initiiert oder entwickelt, was die Erfordernis einer engen Zusammenarbeit dieser Partner fiir den medizinischen Fortschritt insgesamt unterstreicht. MedTech — eine innovative Branche Zahl der Anmeldungen im Jahr 2009 beim Europäischen Patentamt Top Ten a u f t e c h n i s c h e m Gebiet
10.
Medizintechnik Elektrische N a c h r i c h t e n t e c h n i k Datenverarbeitung Elektrische Bauteile Organische Chemie Messen/Prüfen B